Kursbuch 183: Wohin flüchten? [183, 183 ed.] 9783867744782, 3867744785

Was bringt Flüchtlinge dazu, ihr ganzes Leben, oftmals mit Arbeit, Familie und Haus, zurückzulassen? Mit welchen Ressent

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German Pages 165 [193] Year 2015

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Kursbuch 183: Wohin flüchten? [183, 183 ed.]
 9783867744782, 3867744785

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https://doi.org/10.5771/0023-5652-2015-183-U1 Generiert durch Universitätsbibliothek Duisburg-Essen, am 09.08.2023, 22:50:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Armin Nassehi

Editorial

»Wohin flüchten?« – das ist derzeit für viele die entscheidende Frage ihres Lebens. In den unterschiedlichsten Regionen der Welt flüchten Menschen vor Verfolgung, Gewalt, Staatszerfall und ökonomischer Hoffnungslosigkeit. Man könnte es sich leicht machen und betonen, dass Flucht, Vertreibung, Wanderung und die Suche nach einem besse­ ren Leben letztlich ein konstitutives Merkmal unseres Gattungslebens sind – und das buchstäblich. Die Ausbreitung des Homo sapiens hat stets damit zu tun, dass die Leute woanders hingegangen sind – und sicher nicht, um die Welt zu besiedeln, sondern um wegzukommen, weil es »zu Hause« nicht mehr passte. Vielleicht ist sogar unser eigener Hefttitel ein akademisches Selbst­ missverständnis – irgendwie an den schönen Narrativen des Menschen als eines suchenden Wesens, als eines Überschreitenden und an Neuem Interessierten orientiert. Die Wirklichkeit ist wohl prosaischer. Man geht nur, wenn die gewohnte Umgebung nicht mehr funktioniert, das heißt, wenn man es sich woanders besser erhofft. Unsere Frage »Wohin flüchten?« ist womöglich nicht die erste Frage, sondern frühestens die zweite. Die erste zielt aufs Gehen. Erst mal weg hier! Und das ist doch das, was Fluchtgründe derzeit hauptsächlich aus­ machen. Die meisten wissen nicht, wo sie landen werden und was sie erwartet – und letztlich ist das ja ein geradezu unnatürliches Verhalten, das Gewohnte aufzugeben und damit die vertraute Lebenswelt zu ver­ lassen. Kritiker von Flüchtlingen tun immer so, als hätten Flüchtlinge unsere Heftfrage bereits beantwortet, dabei gehen sie meistens erst dann, wenn es zu Hause unerträglich geworden ist. Man kann es schön an der Diskussion um die sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« nachverfolgen, etwa am Beispiel der Balkanstaaten,

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die, an der Schwelle zur EU­Mitgliedschaft, so schlecht nicht sein kön­ nen. Und das stimmt sicher zum Teil sogar. Aber womöglich nicht, wenn man ein Roma ist. Oder vielleicht sogar ein Jude in Ungarn, das ja der EU bereits angehört, aber längst nicht mehr hineingehört. In all diesen Fällen ist das Wegkommen die wichtigere Frage als die des Wo­ hin. Und für die Krisenregionen der Levante gilt das erst recht. Wer vor dem IS flüchtet, fragt nicht: »Wohin?« Und wer aus afrikanischem Staatszerfall flüchtet, auch nicht. Und doch gibt es auf das »Wohin?« eine deutliche Antwort. Sie heißt Europa – jenes Europa, das seine internen Fragen der Finanzpolitik, des Handlings unterschiedlich potenter Volkswirtschaften, seine Pro­ bleme einer nur unvollständigen Demokratie und die Utopie eines eu­ ropäischen Staatsvolks als Basis für Transferleistungen und aus dem Nationalstaat bekannte Umverteilungen nicht hinbekommt. In einer Zeit, in der Europa sich selbst krisenhafter sieht denn je, wird es von außen immer attraktiver für Flüchtlinge – trotz der Grunderfahrung, die wohl die meisten Flüchtlinge zunächst machen: dass sie letztlich nicht gewollt und nicht willkommen sind. Der Strand von Lampedusa sagt: Unter humanitären Gesichtspunkten ist es schön, dass ihr nicht ersoffen und verreckt seid, unter politischen Aspekten ist jeder von euch zwei zu viel: du selbst und derjenige, der durch deinen Erfolg mo­ tiviert wird, auch nach Europa zu kommen. Energie wird dann nur noch aufgewandt, dich möglichst schnell über den Brenner zu bekom­ men. Es gibt eine merkwürdige Aufmerksamkeitsökonomie. Brennende Wohnheime, lautstarke Proteste, zweifelhafte Wortwahl im politischen Diskurs und ein merkwürdiger kleinbürgerlicher Hass gegen die an­ geblich privilegierten Flüchtlinge werden derzeit sehr sichtbar und stellen die Toleranzfähigkeit und auch die humanitären Potenziale un­ serer wohlsituierten und satten Region infrage. Unsichtbar bleibt da­ bei die enorme Hilfsbereitschaft an konkreten Orten und in konkreten Projekten, die Bereitschaft vieler, bei Alltagsproblemen zu helfen. Es mag noch keine gesellschaftlichen und politischen Lösungen geben – 2

Armin Nassehi

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Lösungen auf der Ebene der konkreten Interaktionen gibt es sehr wohl, was wieder ein Hinweis darauf ist, dass die meiste Kommunikation, die wir pflegen, Kommunikation unter Anwesenden ist – also das, was wir Soziologen Interaktion nennen. Sobald das Gegenüber konkret wird, werden aus abstrakten Problemen konkrete Probleme. Das »Wohin?« ist zwar eine offene Frage, aber nicht die entschei­ dende. Und doch stellt sich die Frage – und auch wir stellen sie. Die Beiträge in diesem Kursbuch lavieren alle zwischen den Push- und PullKräften zwischen dem Weg und dem Wohin. Und sie weisen allesamt darauf hin, dass die Kategorien der öffentlichen Diskussion über die derzeitigen europäischen Flüchtlingsfragen völlig untauglich geworden sind. Diese Kategorien speisen sich aus zwei Quellen: Zum einen ist es ein stark moralisch aufgeladener Diskurs, zum anderen eine allzu starke Konzentration auf den Asyltatbestand, im deutschen Fall gestützt durch den Artikel 16a des Grundgesetzes. Beides ist wichtig und unverzicht­ bar. Doch das moralische Eintreten für die Interessen von Geflüchteten taugt leider wenig zur Lösung der Fluchtprobleme selbst. Und der Asyl­ tatbestand kann die heutigen Fluchtursachen weder abbilden noch als Algorithmus dienen, um Bleiberegelungen und entsprechende Rechts­ status zu begründen. Das klassische Asylrecht ist nur historisch zu verstehen. Es stammt aus der Zeit und aus der Erfahrung mit den rechten und linken Dikta­ turen des 20. Jahrhunderts. Heutige Fluchtgründe sind komplexer – was heißt Verfolgung, wenn wirtschaftliche und politische Strukturen völlig zusammengebrochen sind, wenn es keine Zukunftsperspektive gibt, wenn man um die eigenen Kinder fürchtet? Die Figur des »wirk­ lich Verfolgten« trifft nur auf wenige zu, die anderen sind die schlichte Realität, und darauf müssen wir uns einstellen. Die Unterscheidung von »wirklich Verfolgten« und »Wirtschaftsflüchtlingen« taugt nicht mehr – menschlich und politisch. Die Wanderungen, die uns bevorstehen, werden eher vormodernen Wanderungen ähneln, werden unkontrollierbarer sein und ganz neue Herausforderungen zeitigen. Wahrscheinlich sind die derzeitigen Aus­

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einandersetzungen um Flucht und Vertreibung Vorboten einer Situa­ tion, in der eine der Kategorien der Nachkriegswelt immer mehr infrage gestellt wird: nämlich die Stabilität von Staaten und staatlicher Ordnung, die wenigstens ansatzweise für eine Bindung von Bevölkerungen an den Raum gesorgt hat. Es war der Ost­West­Antagonismus, der über­ all auf der Welt für relativ stabile Zugehörigkeits­ und Integritätsfor­ men staatlicher Gebilde gesorgt hat, weil kein Fleckchen Erde sich letztlich dem einfachen Algorithmus »wir« oder »die anderen« entzie­ hen konnte. Schon das hat Flüchtlingsströme wie derzeit unwahr­ scheinlicher gemacht. Ab jetzt aber scheint die Bindung an den Boden weniger stabil zu sein, was ganz andere Bevölkerungsbewegungen her­ vorbringen wird – in jedem Falle solche, die mit manchen Selbstver­ ständlichkeiten nationalstaatlicher Ordnungen brechen. Das Kursbuch »Wohin flüchten?« bietet deshalb auch keine klaren Antworten, sondern eher eine Bestandsaufnahme eines Prozesses, der gerade beginnt. Den Beiträgen dieses Kursbuchs kann man mehr als in unseren früheren Ausgaben ansehen und anhören, wie ungeklärt die Gemengelagen um Flucht und Vertreibung sind. Umso mehr danken wir unseren Autoren dafür, sich darauf eingelassen zu haben. Die Herausgeber haben diesmal den »Brief eines Lesers« vergessen, weil beide gedacht haben, der andere hätte sich darum gekümmert. Pi­ lot und Kopilot werden bei großen Fluggesellschaften niemals als feste Teams ins Cockpit geschickt, sondern immer wieder neu gemischt, da­ mit der eine nicht denkt, der andere hätte es schon erledigt. Unsere Kabinencrew hat übrigens auch nichts gemerkt. Dass sich so etwas rächen kann, führen wir Kursbuch­Piloten damit gerade vor. Aber – wir fliegen trotzdem zusammen weiter. Besonders hingewiesen sei auch auf den Kursbogen – mit dem wir eine alte Kursbuch­Tradition wiederbeleben und bestimmt nicht das letzte Mal präsentieren. Und zu guter Letzt auf unsere Medienkooperation mit dem Kölner Migrations­ Audio­Archiv, die auf unserem erstmals produzierten Wickelumschlag abgebildet wird. QR­Codes und Weblinks verweisen auf Flüchtlinge und ihre Lebensgeschichten. Crossmedial zum Hören. 4

Armin Nassehi

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Alfred Hackensberger

Der Tod als Waffe Flüchtlinge und ihre Träume

Jeden Tag fahre ich an ihnen vorbei: auf dem Weg zur Schule, zum Einkaufen, in die Stadt oder zum Strand. Bei jeder roten Ampel klop­ fen sie an meine Fensterscheibe. Junge Männer, die mit leidender Miene die Hand an den Mund führen und sagen, sie haben Hunger. Junge Mütter deuten auf ihre am Rücken festgeschnallten Babys und sagen, sie brauchen Milch. Es sind Menschen aus Nigeria, Kamerun, Mali oder aus dem Tschad, aber auch aus Syrien und Pakistan, die sich zum Heer der professionellen Bettler gesellen, die in Tanger zum Straßen­ bild gehören. Die meisten Flüchtlinge geben offen zu, sie wollten von der marokkanischen Hafenstadt aus nach Spanien. Die wenigen, die be­ haupten, in Marokko Arbeit zu suchen, haben Angst. Das ist verständ­ lich, denn ihr Trip, den sie über die Meerenge von Gibraltar vorhaben, ist illegal, und sie befürchten Probleme mit der Polizei. Die behandelt sie in der Regel wenig zimperlich und kann sie völlig überraschend nach Rabat, Casablanca oder Marrakesch verfrachten. Aber Ausreden ergeben in Tanger wenig Sinn. Sie werden nur mit einem müden Lä­ cheln quittiert. Jeder weiß, wozu die Fremden gekommen sind. Die marokkanische Millionenstadt am Mittelmeer, an der äußers­ ten Nordspitze des afrikanischen Kontinents, gilt seit über 20 Jahren als Sprungbrett für Migranten nach Europa. Es ist die beständigste Route. Momentan ist sie jedoch in Vergessenheit geraten. Im Brennpunkt steht zurzeit Libyen, von dem aus Tausende von Flüchtlingen nach Italien in See stechen und dabei Hunderte von ihnen ihr Leben lassen. Wie lange Libyen allerdings noch Transitland bleibt, hängt vom Verlauf des Bür­

Der Tod als Waffe

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gerkriegs ab. In jedem Fall ist es nur ein temporäres Schlupfloch, so wie das vorher Mauretanien oder der Senegal waren. Auf Druck Euro­ pas machen die lokalen Sicherheitsbehörden irgendwann dicht, und die Flüchtlingsströme sickern aus. In Tanger ist es anders. Denn von hier aus sind es nicht Hunderte Seemeilen, sondern nur 14 Kilometer, die Afrika vom europäischen Kontinent trennen. Marokkos Polizei und Militär verhindern zwar das Auslaufen von Flüchtlingsbooten nahezu vollständig. Aber die kurze Strecke scheint so verlockend, dass nonstop Flüchtlinge anreisen – egal wie groß oder klein die Chancen sind, auf die andere Seite des Mittel­ meers zu gelangen. Laut Registrierung des katholischen Hilfswerks Caritas in Tanger sollen es rund 20 000 Menschen sein, die den Nor­ den Marokkos belagern und auf ihre europäische Chance warten. Wahrscheinlich sind es mehr, denn nicht alle sind bei der Caritas ge­ meldet. Und für die Bewohner von Tanger, einschließlich mir, schei­ nen es so viele zu sein wie nie zuvor. Vor zehn oder 15 Jahren wohnten sie in billigen Pensionen in der Altstadt, und es gab einige Camps außerhalb der Stadt. Heute müssen sie auf die Vorstädte von Tanger aus­ weichen, und dort gibt es unzählige Lager im Freien. Mit ein Grund für den Anstieg: Der Weg über Tanger ist die weitaus weniger gefährliche Route. Libyen ist Bürgerkriegsland, und von dort auf wackeligen, über­ füllten Booten das gesamte Mittelmeer zu überqueren, grenzt beinahe an Selbstmord.

Traum vom Paradies Bei klarem, sonnigem Wetter kann man vom Boulevard Pasteur im Zentrum Tangers aus die Küste der Iberischen Halbinsel deutlich sehen. Sie scheint zum Greifen nahe und nur einen Katzensprung entfernt. Tatsächlich dauert die Fahrt mit der Schnellfähre gerade mal eine halbe Stunde über die Meerenge. Für das Ticket brauchen Passagiere aller­ dings einen westlichen Pass oder ein gültiges Schengen­Visum. Beides 6

Alfred Hackensberger

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haben die Flüchtlinge natürlich nicht. Viele von ihnen beantragten zu Hause ein Visum für Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, bekommen haben sie keines. Und deshalb sind sie in Tanger, um mit einem Schlauchboot über die Meerenge nach Spanien zu rudern. Nicht ungefährlich, aber trotzdem: »Denn dort beginnt alles Gute, ein ande­ res, besseres Leben«, wie sie alle sagen. »Dort gibt es jede Menge Arbeit, eine gute Ausbildung, wer fleißig ist, kann reich werden und eine schöne Frau oder einen wohlhabenden Mann heiraten.« Das ist ihr Traum vom Paradies. Der Traum vom Norden als Ort der unbeschränkten Möglichkeiten, der Disziplin verlangt, jedoch Stabilität und Wohlstand garantiert. Von einer Krise in Europa haben sie gehört, aber, wie der 21­jährige Kerdal aus Kamerun stellvertretend die einhellige Meinung der Flüchtlinge festhält: »Nur wer faul ist, findet keine Arbeit.« Es sind ziemlich ernüchternde Träume – zumindest klingen sie so für uns Europäer. Wir sehen »unseren Norden« weitaus weniger para­ diesisch. Wir beklagen die Leistungsgesellschaft, deren Zwängen und Verpflichtungen wir am liebsten entfliehen würden. Man will raus aus der sterilen Welt, in der alles austauschbar geworden ist, keine Authen­ tizität mehr existiert und sogar das Privatleben von den Gesetzen des Marktes diktiert wird. Jeder wird es nicht so formulieren, aber es ist da, das Gefühl des Unbehagens, das Sehnsüchte der Ferne stimuliert. An­ gesichts der Krise mag sich das in Griechenland, Portugal oder Spanien verändert haben. Dort sind Arbeitslose mittlerweile froh, wenn sie überhaupt eine Anstellung finden, ihre Familie ernähren können und medizinisch versorgt sind. Dafür nimmt man die »kapitalistische Ent­ fremdung« wieder ohne Murren in Kauf, über die man sich vor Jahren noch beschwert haben mag. Für Deutsche, Briten oder Franzosen liegen die Sehnsüchte nach wie vor im »Süden«: in Spanien, Marokko, Thailand oder in der Karibik. Der Süden repräsentiert Sonne, Meer und Strand. Aber noch viel mehr: Temperament, Genuss, Sinnlichkeit, Erotik, Freundlichkeit, Offenheit, Entspannung und was weiß ich nicht noch alles mehr. Es sind die Ingredienzien, die als Werte eines schönen, besseren Lebens gelten. Klar,

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das ist eine Gegenwelt zu den am frühen Morgen überfüllten U­Bah­ nen und Zubringerstraßen, den schlecht gelaunten Chefs, strafzettel­ schreibenden Politessen, dem Sprint durch den Supermarkt nach der Arbeit, dem beständigen Stress und viel zu hohen Raten für die Eigen­ tumswohnung. Sehnsüchte entwickeln sich üblicherweise diametral zur Realität. Man möchte das, was man nicht hat. Was scheinbar fehlt, wird gegenüber dem Alltag erhöht, ja hypostasiert und infolgedessen mit Klischees und Stereotypen bepackt: Der Süden, wo der Wind der Freiheit weht und das Leben noch lebenswert ist – um es etwas überspitzt zu formu­ lieren. Wer dann tatsächlich den Schritt ins sonnige Ausland wagt, wird schnell feststellen, die geschätzten »Ureinwohner« lachen doch nicht den ganzen Tag, zur Arbeit muss man auch hier um sieben Uhr morgens aufstehen, und die Bürokratie ist so korrupt, dass man sich die vormals verhassten deutschen Beamten zurückwünscht. Das Leben im Ausland ist mindestens so schwer oder leicht wie zu Hause. Ich lebe seit über 15 Jahren außerhalb Deutschlands (Libanon, Ma­ rokko, Spanien) und reise beruflich sehr viel – da hat man das Déjà­vu der ersten Desillusionierung hinter sich. Man weiß mittlerweile, wor­ auf man sich einlässt, plant im Voraus und würde nie ein unkalkulier­ bares Risiko eingehen, wie das etwa die Flüchtlinge tun. Viele Dinge sind durch das Leben in unterschiedlichen kulturellen Kontexten längst nicht mehr so wichtig, wie sie früher einmal waren. Ein Traumland existiert nicht. Das Ausland, so exotisch es klingen mag, ist einfach nur anders als zu Hause. Ob man sich wohlfühlt oder nicht, hängt ganz von persönlichen Präferenzen ab. Wir Europäer können leicht sagen: »persönliche Präferenzen«. Für uns ist es einfach, in das ausgewählte Paradies zu kommen. Wir können das Paradies, falls es uns nicht ge­ fällt, auch hinter uns lassen oder es sogar mit einem anderen austau­ schen. Der Pass eines EU­Bürgers macht das möglich.

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Wenn Träume platzen Für die Flüchtlinge in Tanger gestaltet es sich völlig anders. Ihre Reise ist in der Regel eine einmalige Angelegenheit, und ihre gesamte Exis­ tenz hängt davon ab. Die Flüchtlinge riskieren ihr Leben und das Ver­ mögen der Familie. Der Erfolg ihrer Auswanderungsmission hängt stetig am seidenen Faden. Jeden Moment kann es aus sein. Auf dem Weg durch die Wüste können sie ausgeraubt oder noch schlimmer er­ mordet werden. Selbst in Marokko kann ihnen sehr leicht ihr ganzes Hab und Gut geklaut werden. Für Frauen ist die Reise besonders schlimm. Sie werden ständig belästigt und viele vergewaltigt. Am Ende bleibt der letzte große Schritt über das Mittelmeer, der ihnen das Le­ ben kosten kann. Und haben sie alle Hürden genommen, was Jahre dauern kann, was blüht ihnen in Europa? Das Erwachen wird bitter werden, denn die Träume, die die Flücht­ linge im Gepäck mitbringen, haben nichts mit der europäischen Reali­ tät gemein, in die sie hineingeworfen werden. Es folgen lange Monate in Internierungslagern oder Wohnheimen, in denen sie zur Untätigkeit verdammt sind. Danach werden sie vielleicht abgeschoben. Und selbst wenn sie bleiben dürfen, droht die Arbeitslosigkeit. Mit Glück können sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Vielleicht verkaufen sie auf der Straße Imitate von Markentaschen, Musik­CDs und Filme. Oder sie betteln wieder, wie sie es vorher in Tanger machten. Von schlechten Zukunftsperspektiven wollen die Flüchtlinge nichts wissen. Das sind nur Geschichten von »Losern«, von Verlierern, wie sie sagen. Jeder von ihnen glaubt, er mache es viel besser und habe mehr Glück als alle anderen. Es ist immer das Gleiche, das ich von Flüchtlingen seit über 15 Jahren höre. Und es ist trotzdem immer wieder verblüffend – weniger ihr Traum von Europa, viel mehr die Vehemenz, mit der sie die Realität ausblenden. Aber vielleicht muss das sein, um alle Strapa­ zen durchhalten zu können. »Europa braucht Immigration, aber nur qualifizierte Fachkräfte. Die meisten der Menschen, die hauptsächlich aus Afrika kommen, sind

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das nicht«, analysiert Carmen González Enríquez, Migrationsforsche­ rin am Real Instituto Elcano in Madrid. Migranten finden, selbst auf ihrem unqualifizierten, beruflichen Level, kaum einen Job. Sie passen nicht zu den aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes. »Europa hat zwar ein demografisches Problem«, erklärt González Enríquez weiter, die bei Forschungsprojekten zur Immigration im EU­Auftrag mitarbei­ tete. »Nur mit den Flüchtlingen und Migranten, die seit Monaten in Italien und anderswo ankommen, kann das nicht gelöst werden.« An Arbeitsmarktchancen und Demografie denken Flüchtlinge nicht. Europa kennen sie aus dem Internet und Fernsehen. »Was man da in Dokumentationen und in den Serien sieht, das ist schon toll. Das hat mich beeindruckt«, meint Kerdal aus Kamerun mit einem breiten Grin­ sen. Er kann seine Vorfreude auf das gelobte Land kaum zurückhalten. Er grinst über beide Ohren, als wäre morgen Weihnachten. Vor etwa zwei Jahren hatte er entschieden, nach Europa zu gehen. Nicht viel anders, als ein Deutscher etwa, der von den Filmen über Natur und das freie Leben in Kanada so eingenommen ist, dass er dort hinzufah­ ren beschließt. Der 21­Jährige Kerdal erzählt mir, dass sein Vater schon lange tot sei und er keine Geschwister mehr habe. Seine Mutter wäre jetzt alleine auf dem Familienbauernhof in Kamerun. Sie wartet jeden Tag auf seinen Anruf aus Europa, seit er sie vor einem halben Jahr endgültig verließ. »Dieser Tag wird bald kommen«, glaubt der 21­Jäh­ rige, der in Spanien bei Real Madrid Fußballprofi werden will. »Ich bin ein super rechter Außenverteidiger«, erklärt er mir. Mit seinem Fußball­ traum ist Kerdal in einem Flüchtlingscamp in der Nähe des Flughafens von Tanger nicht alleine. Rund 50 Männer und Frauen aus Nigeria, Kamerun, Mali, Gambia, Guinea und der Elfenbeinküste schlafen hier im Freien. Unter einer kleinen Baumgruppe brennt ein Lagerfeuer, daneben stehen große Plastikbehälter mit Wasser, die mühsam von ei­ nem Brunnen in der Nähe herangeschleppt werden. Die wenigsten der Flüchtlinge hier haben eine Matratze. »Im Sommer geht das ohne Pro­ bleme«, meint Kerdal. »Für den Winter brauchen wir so oder so ein Dach über dem Kopf.« 10

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Auch Wael ist Außenverteidiger. »Aber links«, wie der 19­Jährige be­ tont, der ebenfalls aus Kamerun stammt. Er will nicht zu Real Madrid, sondern nach Belgien zum FC Anderlecht. »Ich weiß nicht, warum, aber das war schon immer mein Traumklub.« Dann ist da noch Moham­ med aus Mali, der beim FC Barcelona ein Probetraining absolvieren will. Sofort nach seiner Ankunft in Spanien, so versichert der 17­Jährige, werde er den Zug nach Barcelona nehmen. Und natürlich keine Frage, Mohammed wird augenblicklich vom Klub Lionel Messis unter Ver­ trag genommen. »Das sind keine Träume«, behauptet Mohammed, und auch Kerdal und Wael pflichten ihm bei und scheinen leicht verärgert zu sein. Ich hatte unvorsichtigerweise angemerkt, wie schwierig es sei, einen Vertrag bei Barcelona zu bekommen. »Wir sind alle gut genug, um den Durchbruch als Profis zu schaffen.« Man merkt, ihr Enthusias­ mus für den europäischen Traum – für den Talentierten und Tüchtigen ist alles möglich – ist riesig und nicht im Geringsten zu erschüttern. Ich wage es aber trotzdem: Ist es die Karriere als Profi wirklich wert, das Leben und die Familienersparnisse aufs Spiel zu setzen? »Was ist das für eine bescheuerte Frage«, erwidert Mohammed genervt. »Natür­ lich, sonst wären wir nicht hier.« Sie täten alles für den Erfolg, fügt Kerdal an. Nach einer Weile wird klar, was sie darunter verstehen. Sie denken an schnelle Autos, eine große Wohnung, gutes Essen und viele Fans, wie sie zugeben. Sie haben das Leben eines Fußballstars im Kopf. »Mit vielen Mädchen, versteht sich«, fügt Wael an. Die jungen Männer sind nicht anders als Jugendliche in Berlin, Dortmund oder München. Wir werden umringt von Johnny, Ammadou, Sidi, Moses und Fer­ nando. Keiner von ihnen ist älter als 25 Jahre. In Europa wollen sie Ingenieur, Mediziner, Künstler werden oder als Elektriker und Maurer auf dem Bau arbeiten. Sie wollen nach Frankreich, Deutschland, Hol­ land oder Schweden – je nachdem, wo sie Freunde und Familie haben, wo ihr Lieblingsfußballklub beheimatet ist oder ihre bevorzugte Fern­ sehserie spielt. Ihre Ziele sind relativ beliebig. Hauptsache ist: Europa! Dort sei die Universität besser und kostenlos. Auf dem Bau gebe es jede Menge gut bezahlter Jobs, und als selbständiger Elektriker verdiene man

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in kürzester Zeit ein Vermögen. Johnny und Fernando haben jahre­ lang für die Reise gespart, ebenso wie Jeffrey, ein Englischlehrer aus Nigeria, der jetzt dazukommt. »Wissen Sie, wie hart das ist«, meint Jeffrey. »Das mühsam Ersparte zerrinnt hier zwischen den Fingern.« Erst vor einem Monat wollte er seine Frau und ihr Baby über die Grenze nach Ceuta schmuggeln lassen. Das ist, neben Melilla, die zweite spanische Enklave auf marokkanischem Territorium. Aber sie wurden erwischt. Für einen Platz verlangen Menschenhändler gewöhnlich zwischen 1500 und 2500 Euro. Zuvor hatte Jeffrey mit seiner Familie versucht, auf einem Motorboot nach Ceuta zu kommen. Ein Patrouillenschiff der Guardia Civil, der spanischen Polizei, entdeckte sie und schleppte sie zurück in marokkanische Gewässer. Wie viel das alles zusammen gekostet hat, darüber will Jeffrey nicht sprechen. Es müssen einige Tau­ send Euros sein. Die anderen drei, Ammadou, Sidi und Moses, haben ihr Reisegeld vom Vater, einem Bruder und einem Onkel bekommen. Alle mussten etwas verkaufen, eine Herde oder ein Haus. Moses’ Vater hat einen Kredit auf ein Grundstück aufgenommen. »Alles ist teuer«, sagt Sidi. »Alleine die Reise nach Tanger kostete über 300 Euro. Dann kommt der ganze Aufenthalt dazu, und wenn man noch einen Schmuggler bezahlen muss, wird es richtig teuer.« Sie alle geben für ihren Traum viel Geld aus. Die einen zahlen 3000, andere 10 000 Euro. In jedem Fall wäre es genug, um sich in ihren Heimatländern eine neue Existenz aufzubauen. Es sind nicht die Ärmsten der Armen, wie man sich das gemeinhin so vorstellt, die sich auf den Weg nach Europa machen. »Das war noch nie so«, bestätigt die spanische Migrationsspezialistin González Enríquez. »Die Ärmsten könnten sich die teure Reise gar nicht leisten.« Es ist auch nicht so, wie ebenfalls in Europa oder im Westen vermutet wird, dass es einen di­ rekten Zusammenhang zwischen Armut und Migration gibt und dass die meisten Migranten aus den ärmsten Regionen stammen. Das Ge­ genteil ist der Fall. Je mehr sich ein armes Land entwickelt, desto mehr Menschen emigrieren – nicht umgekehrt. »Sehen Sie«, erklärt Gonzá­ lez Enríquez, »je entwickelter ein Staat, desto mehr ›Kapital‹ bekommen 12

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Menschen, das sie in einem anderen Land einsetzen können. Dazu ge­ hören handwerkliche Fertigkeiten, Kenntnisse von Fremdsprachen oder ein Studium. Es gibt mehr Bildung, mehr Informationen, mehr Net­ working und vor allen Dingen auch mehr Geld, um die Reise zu be­ zahlen. Diejenigen, die nichts haben, können nicht reisen. So einfach ist das.« Im Camp in der Nähe des Flughafens wird jetzt über Schlauchboote diskutiert. Sie gelten als Schlüssel zum Glück. »Ich brauche ein Schlauch­ boot, ein Schlauchboot«, ruft Kerdal euphorisiert, als hätte er einen Schnaps zu viel getrunken. »Und schon bin ich drüben, und alles ist gut!« Fernando, Mohammed, Sidi und alle anderen nicken eifrig und murmeln: »Ja, Mann, so geht das.« Die Rede ist nicht von professionel­ len, hochseetauglichen Booten, sondern von Freizeitbooten, die man in jedem größeren Supermarkt in Tanger kaufen kann. Sie kosten um­ gerechnet etwa 80 Euro. Aber der Kauf ist für Schwarzafrikaner schwie­ rig. Jeder weiß, dass sie damit aufs Meer hinauswollen. Manchmal wird die Polizei gerufen. Das Maximalgewicht für Passagiere beträgt 250 Kilogramm. Auf dem Weg ins europäische Paradies wird darauf keine Rücksicht genommen – bis zu sieben Personen finden dann Platz. Draußen auf dem Meer hofft man, den Trick anwenden zu können, auf den alle setzen. »Man ruft das spanische Rote Kreuz an und fordert Hilfe in Seenot«, erklärt Kerdal. »Das ist doch ganz einfach.« Nur der »Trick« hat einen Haken, das Rote Kreuz hat nur ein Schiff für den Küstenstreifen und ist nur selten in der Nähe. Stattdessen fischt die marokkanische Marine die Flüchtlinge auf und bringt sie zurück aufs Festland. Glück im Unglück kann man sagen. Denn wenn ihnen nie­ mand hilft, driften sie leicht auf den Atlantik ins offene Meer hinaus, und dann ist alles vorbei. Aber das ist ihnen egal. »Tod oder Europa« ist ihre Devise, wie sie alle sagen. Das Rote­Kreuz­Schiff ist und bleibt die große Hoffnung von allen, die die waghalsige Tour übers Mittel­ meer machen.

Der Tod als Waffe

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Eine menschliche Tragödie Alle Flüchtlinge in Tanger glauben, es sei nur eine Frage der Zeit und des persönlichen Geschicks, bis sie durchs Nadelöhr ins Paradies schlüp­ fen. Dabei ist alles ganz anders. »Sie stecken in einer Sackgasse und können weder vor noch zurück«, wie Santiago Agrelo Martínez im son­ nigen Innenhof der Erzdiözese von Tanger betont. Der Erzbischof kennt das Schicksal der Flüchtlinge nur zu gut aus der Arbeit der Caritas. Sie ist im Souterrain der Kathedrale untergebracht und kümmert sich seit Jahrzehnten um Flüchtlinge. »Es gibt fast keine Möglichkeit mehr, auf die Iberische Halbinsel zu kommen«, versichert der Geistliche. Vor Jahren sei das anders gewesen. Martínez meint damit die Zeit, als es noch einen organisierten Menschenschmuggel gab. Das war ein brei­ tes Netzwerk von Kriminellen und Polizeibeamten. Aber damit ist es vorbei, seit auf beiden Seiten der Meerenge von Gibraltar aufgerüstet und die Korruption bekämpft wurde. Spanien hat alleine in den letzten fünf Jahren rund 250 Millionen Euro für die Grenzsicherung ausgegeben. Und Marokko erhielt Gelder der EU, um die Grenzen dichtzumachen. Von 2007 bis 2010 waren das alleine 68 Millionen Euro. Heute patrouillieren marokkanische Marine­ schiffe entlang der Mittelmeerküste. An jeder auch noch so kleinen Bucht sind Militärposten stationiert, um ein Auslaufen von Booten zu verhindern. Und die Maßnahmen greifen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen registrierte von Januar bis Juni dieses Jahres nur 920 Immigranten, die in ganz Spanien eingetroffen sind. Zum Ver­ gleich: In Italien zählte man im gleichen Zeitraum 54 000 und in Grie­ chenland 48 000 Flüchtlinge. In Libyen gibt es so gut wie niemanden, der die Flüchtlingsboote am Auslaufen Richtung Italien hindert. In Griechenland kommen die meisten Flüchtlinge über die Türkei. Die griechischen Inseln sind unübersichtlich und zum Teil in unmittelba­ rer Nähe zur türkischen Küste. Die Behörden der Türkei taten bisher sehr wenig, um den Menschenschmuggel zu kontrollieren.

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Alfred Hackensberger

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Täglich erreichen neue Flüchtlinge Marokko, obwohl die Chancen aussichtslos sind, ihrem Traum auch nur ein kleines Stück näher zu kommen. Wer goldene Träume hat, will von der Realität nichts wissen. »Manche bleiben zehn Jahre«, erzählt Erzbischof Martínez. »Sie ver­ suchen es immer und immer wieder.« Aber Umkehren, zurück in ihre Heimat, das komme nicht infrage. »Keiner will die Schande auf sich nehmen, ein Versager zu sein«, so der Kirchenmann weiter. »Der so­ ziale Druck ist zu groß, nachdem die Familie ihre Schafherde verkau­ fen oder einen Kredit aufnehmen musste.« Und wer tatsächlich nach Hause wolle, habe in der Regel kein Geld mehr dafür. »Es ist eine tra­ gische Situation«, hält der Geistliche abschließend fest »Diese Men­ schen nehmen alle nur erdenklichen Strapazen auf sich und riskieren ihr Leben.« In Libyen ist das anders. Dort besteht zumindest die reale Möglich­ keit, nach Italien zu gelangen. Dafür ist das Risiko wesentlich höher, auf See zu sterben. Zudem sind die Strapazen und das Leiden größer. Wer den Fahrpreis von 1000 bis 2000 Euro bezahlt hat, wird mit den anderen Passagieren interniert. Je nach Volumen des Schiffes können das 100 oder auch 500 Menschen sein. Sie werden in leer stehende Häuser oder Lagerhallen gesperrt: Männer, Frauen und Kinder – alle zusammengepfercht. Dort müssen sie auf die Abfahrt warten. Das kann Tage, aber auch Wochen dauern. Es hängt vom Wetter und den Patrouillen vor der Küste ab. Für die Internierten gibt es einen Fernse­ her und mit Glück mehr als nur eine Toilette, die gleichzeitig als Bad funktioniert. Dreimal am Tag wird Essen gebracht. »Nach einer Woche habe ich das Tor nur noch mit meinem Dober­ mann aufgesperrt«, erzählte mir dort einer der Schmuggler, der über Jahre einige Dutzende von Booten Richtung Italien schickte. »Mit der Zeit knallten die alle durch und wollten nur noch raus, raus. Aber das ging natürlich nicht.« Der Schmuggler hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt. Radikale Islamisten hätten sich in »sein Geschäft« eingemischt und 50 Prozent am Gewinn abkassiert.

Der Tod als Waffe

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Alle im Camp in der Nähe des Flughafens von Tanger glauben, dass sie besondere Fähigkeiten haben, die in Europa gefragt seien. Ange­ fangen bei den »exzellenten« Fußballern über die Studenten, die den­ ken, sie seien »überdurchschnittlich intelligent«, zu den Handwerkern, die glauben, niemand könne so gut arbeiten wie sie. Alle verweisen auf das Fernsehen. Dort hätten sie gesehen, dass man sie braucht, dass je­ der seine große Chance bekäme. »In Europa ist das so«, behauptet Ammadou. »Ich habe mit Deutschen, Franzosen und einem aus Nor­ wegen im Internet gechattet. Alle sagten mir, es sei nicht einfach, aber mit Einsatzwillen und Kraft könne man alles erreichen.« Ammadou versichert mehrfach: »Ich werde bis zum Umfallen arbeiten, und wenn es 24 Stunden am Tag sind.« Niemand könne ihn aufhalten. Er sei sich sicher, dass ihm die Menschen in Europa helfen werden und er dort sein Glück finde. Was ist das? Naivität, Dummheit, Informationsmangel? Letzteres bestimmt nicht. Jeder hat Zugang zu Internet und Fernsehen, wie der Rest der Welt. Aber was bringt Ammadou, Kerdal und alle anderen dazu, ihr ganzes Leben zurückzulassen? Sie hatten alle Arbeit, eine Fa­ milie, ein Haus oder eine Wohnung. Sie waren nicht reich, aber hatten zu essen, ein Dach über dem Kopf. Die Kinder konnten zur Schule gehen. Aber plötzlich ist dies alles nichts mehr wert. Sie machen sich auf und treten eine mehrere Tausend Kilometer lange Reise an. Unter ihnen sind schwangere Frauen, Babys und heranwachsende Kinder. Einige werden bedroht und bestohlen, Frauen vergewaltigt. Und sie wissen vorher, dass das alles passieren kann. In Tanger leben sie dann in winzigen Räumen mit vier oder mehr Personen unter fragwürdigen hygienischen Verhältnissen. Wer weniger Glück hat, lebt unter freiem Himmel. Tag für Tag betteln sie auf der Straße. Jederzeit können sie von der marokkanischen Polizei aufgegriffen werden. Sie wissen nie, ob sie je in Europa ankommen werden. Doch halten sie weiter fest an ihrem Traum. González Enríquez, die Migrationsexpertin, nennt sie »Wirtschafts­ flüchtlinge, die nach Europa wollen, um zu arbeiten und um mehr Geld 16

Alfred Hackensberger

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als daheim zu verdienen«. Das mag zutreffen, selbst auf die Syrier, die hier in Tanger sind. »Wir sind vor dem Bürgerkrieg in die Türkei ge­ flüchtet«, erzählt mir Jussef aus Aleppo an der Strandpromenade der marokkanischen Hafenstadt. Aber die Türkei habe ihnen nicht gefallen. »Sicherheit vor Krieg ist gut, aber wir wollen mehr«, so der 35­jährige Familienvater weiter. »Meine Kinder sollen eine gute Ausbildung be­ kommen, und ich möchte ein ansprechendes Gehalt, um meiner Fa­ milie eine gute Zukunft bieten zu können. Koste es, was es wolle!« Jussef lebt weder in einem Lager unter Bäumen noch in den winzigen Apartments ohne Strom und Wasser, wie das Schwarzafrikaner tun. Er lebt im Hotel, und bald will er mit seiner Familie in Ceuta sein. »Der Schmuggler ist sehr teuer, aber gut. In Ceuta beginnt dann unser neues Leben.« Jussef weiß, eine syrische Familie bekommt in Spanien Asyl – etwas, das für normale Schwarzafrikaner nicht möglich ist. Sie haben zwar den gleichen Traum wie Jussef, aber den falschen Pass. Libyen war dem Familienvater aus Aleppo zu gefährlich, und deshalb ist er, wie einige Tausend seiner Landsleute, nach Marokko gekommen. »Ein Flug von der Türkei nach Algerien«, erklärt Jussef. »Das ist der normale Weg.«

Alles opfern Keine Frage, man kann sie alle als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Aber diese Erklärung greift zu kurz. Natürlich suchen sie Arbeit und wollen mehr Geld als zu Hause verdienen. Aber da ist noch etwas an­ deres. Sie folgen einem Traum, so wie andere Menschen auch – unrea­ listisch und mit Klischees beladen. Das ist ihr gutes Recht. Es ist ihre Sehnsucht, für die sie bereit sind, alles zu opfern. Für uns Europäer ist das kaum nachzuvollziehen. Wir nehmen einfach unseren Pass und erfüllen unsere Wünsche. Wir fliegen nach Jamaika, Kenia, Kambod­ scha, Australien, Brasilien oder auf die Virgin Islands. Dort können wir tun und lassen, was wir wollen: Kiffen, Sex, Sightseeing, Safari,

Der Tod als Waffe

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Surfen, eine Flussfahrt auf dem Amazonas. Für normale Menschen aus Niger, dem Tschad oder Sudan ist das unmöglich. Aber sie wollen das auch haben und nicht nur davon träumen. Die reiche Elite ihres Lan­ des kann es, sie reist nach Paris, London oder New York. Die Flüchtlinge akzeptieren nicht mehr, verdammt zu sein, in Afrika zu leben, das ihnen keine Möglichkeiten bietet. »Wir können ackern, wie wir wollen«, erklärt mir Jimmy aus Nigeria in einer Pension in Tanger verärgert. »Meine Frau ist Krankenschwester und verdiente 100 Dollar im Monat. Damit kann man gerade überleben, aber nicht mehr. Von meinem Gehalt als Kellner will ich gar nicht sprechen.« Beide sind nun in Tanger, um das zu ändern. »Ich möchte eines dieser tollen Gehälter in einem der britischen Krankenhäuser«, erklärt Karin, seine Frau. »Dann kann man an Kinder denken.« Das Ehepaar fühlt sich um seine Zukunft betrogen, ausgeschlossen von allem Guten und Schönen dieser Welt. Mit ihrer Auswanderung wollen sie sich endlich das aneignen, was ihnen verwehrt wird. Es ist ein Akt der Revolte, und das gleich auf mehreren Ebenen. In Europa nimmt man sie nur auf, wenn sie poli­ tisch verfolgt werden oder vor einem bewaffneten Konflikt flüchten. Nur als Menschen, die einfach dorthin reisen, wohin sie wollen, werden sie nicht akzeptiert. Dieses Recht der Bewegungsfreiheit wird ihnen ver­ weigert. Als Opfer einer Notsituation könnte man sie noch verstehen. Denn das passt in das eurozentrische Stereotyp: Afrikaner müssen lei­ den, damit man ihnen helfen kann. Alles andere sprengt den Wahr­ nehmungsrahmen. Ohne Not und Elend sind sie für europäische Gutmenschen nicht apart genug und sollen dann gefälligst zu Hause bleiben. »Wo kämen wir da hin, wenn ganz Afrika zu uns kommt«, kann man in Deutschland nicht nur von ausgemachten Rassisten hö­ ren. Die Proteste von aufgebrachten Bewohnern von Stadtteilen, in denen Wohnheime für Migranten untergebracht werden sollen, spre­ chen Bände. »Neger« und Araber dürfen eben nicht reisen und schon gar nicht dort arbeiten, wo sie gerne möchten. »Ja, wo kämen wir da hin?« 18

Alfred Hackensberger

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Aber der überwiegende Teil der Flüchtlinge sind keine akut Notlei­ denden. Sie nehmen sich einfach ihr Recht. Koste es, was es wolle. Und das ist ihre Waffe. Sie besteigen ohne Rücksicht auf Leib und Leben abgehalfterte Kähne, auf die kein vernünftiger Mensch je einen Schritt wagen würde. Man muss dabei betonen: Die Flüchtlinge sind nicht von »ihrem hoffnungslosen, armen Schicksal« getrieben, wie das oft in der Presse zu lesen ist. Nein, sie manövrieren sich freiwillig in diese Situation und sind dafür verantwortlich. Sie wissen von Anfang an, dass sie sterben können, wie sie auch wissen, dass ihnen allerspätestens in Europa das Geld ausgeht. Und das ist die nächste Provokation. »Eu­ ropa muss uns helfen«, sagen Ammadou und Kerdal in Tanger, als wäre dies das Normalste der Welt. Warum eigentlich? Ein Europäer kann darüber nur ungläubig den Kopf schütteln. Ich würde heute nie ins Ausland reisen, wenn von vornherein sicher ist, mir ginge das Geld aus. Und ich würde auch nie auf den Gedanken kommen, von der tür­ kischen, belgischen oder kenianischen Regierung Geld und Hilfe zu erwarten oder gar zu fordern. »Nein, Europa trägt nicht die Allein­ schuld an unserem Elend in Afrika«, erklärt mir Ammadou. Daran seien auch die afrikanischen Regierungen schuld. »Wir werden syste­ matisch ausgeschlossen und wollen nur das, was uns zusteht.« Die Flüchtlinge brechen Konventionen. Die Botschaft ist klar: Wir sind alle gleich, und behandelt uns gefälligst als normale Menschen, so wie ihr das untereinander in Europa macht! Wir haben die gleichen Rechte! Also rettet uns gefälligst, wenn wir uns auf See in Lebensge­ fahr begeben. Unterstützt uns gefälligst, wenn wir an Land sind, um ein neues Leben aufzubauen. Das ist ein Narrativ, das nicht gern ge­ hört wird. Die Flüchtlinge haben Europa ein Stück weit hilflos ge­ macht. Was soll die EU mit den vielen Tausenden von Einwanderern machen? Nichts scheint den Strom der Flüchtlinge aufzuhalten, die obendrein bereit sind – fast in Kamikaze­Manier –, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wie groß die europäische Hilflosigkeit derzeit ist, zei­ gen die Erwägungen, nach Libyen Eingreiftruppen zu schicken und dort sogar zu bombardieren. Die Schmugglernetzwerke und ihre Flot­

Der Tod als Waffe

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ten sollten unschädlich gemacht werden. Nur diese durchorganisier­ ten Schlepperdienste, die für den ganzen Flüchtlingsschlamassel ver­ antwortlich gemacht werden, gibt es gar nicht. Keiner der Flüchtlinge in Tanger hat Schmuggler bezahlt, die sie in ihrem Heimatland überre­ deten, auf einen Lkw zu steigen und ihr Glück in Europa zu suchen. Das ist eine Erfindung, mit der man die wahren Gründe der Einwan­ derung verschleiert. Statt sich selbst und der Öffentlichkeit etwas weis­ zumachen, sollten Politiker konzedieren: Wir haben es mit Menschen zu tun, die die gleiche Freizügigkeit genießen wollen, wie Europäer es tun. Das wäre schon ein erster entscheidender Schritt. Dann könnte man überlegen, wie man darauf reagiert. Alleine mit Bomben oder im­ mer höheren Grenzzäunen stoppt man keine Träume. Nach Tagen haben Kerdal und Wael eine Lösung für ihr Schlauch­ bootproblem gefunden. Ein Marokkaner will eines für sie im Super­ markt Marjane kaufen. Sie hoffen, dass er das auch macht und mit ihrem Geld nicht einfach verschwindet. Sobald er das Boot geliefert hat, soll es losgehen. Vom Kap Spartel aus, dem Punkt, an dem Atlan­ tik und Mittelmeer zusammenstoßen, wollen sie in See stechen. Pad­ del für die fünf weiteren Passagiere haben sie schon besorgt. Wenn sie erwischt werden, kann ihnen nicht viel passieren. Sie kommen aufs Polizeirevier, man stellt ihre Personalien fest, und nach zwei, drei Stun­ den sind sie wieder frei. Und dann geht das gleiche Spiel wieder von vorne los. Wie bekommen Kerdal und Wael ein neues Schlauchboot?

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Jochen Oltmer

Der lange Marsch Europa im globalen Wanderungsgeschehen

Migration bildete von Beginn der Geschichte der Menschheit an ein zentrales Element gesellschaftlichen Wandels. Deshalb ist die Vorstel­ lung ein Mythos, räumliche Bevölkerungsbewegungen – auch über weite Distanzen – seien erst eine Erscheinung der Moderne oder gar der Gegenwart. Und nicht erst im Kontext der Entwicklung der heutigen Massenverkehrsmittel lassen sich globale Migrationen enormer Dimen­ sion ausmachen. Der Mensch der Vormoderne war ebenso wenig grund­ sätzlich sesshaft wie der Mensch der Moderne. Einen Mythos bildet auch die Auffassung, in der Vergangenheit habe Migration einen linearen Prozess dargestellt – von der dauerhaften Abwanderung aus einem Raum zur dauerhaften Einwanderung in einen anderen: Rückwande­ rungen, Formen zirkulärer Migration und Fluktuationen kennzeich­ nen die lokalen, regionalen und globalen Wanderungsverhältnisse in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Weder heute noch früher gingen Migranten in eine völlig unbekannte Fremde, vielmehr bildet die Bewegung innerhalb von Netzwerken ein tragendes Element der Geschichte und Gegenwart von Migrationen. Deren grundlegende Be­ dingungen und Formen haben sich in den vergangenen Jahrhunderten kaum verändert.1 Von globaler Migration kann in größerem und großem Umfang seit dem Beginn der weltweiten politisch­territorialen, wirtschaftlichen und kulturellen Expansion Europas im 15. Jahrhundert gesprochen wer­ den. Die Abwanderung von Europäern in andere Teile der Welt blieb vom 16. bis in das frühe 19. Jahrhundert in ihrem Umfang noch mo­

Der lange Marsch

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derat, führte aber in der Folgezeit bis in das frühe 20. Jahrhundert hin­ ein zu einem weitreichenden Wandel in der Zusammensetzung der Be­ völkerungen vor allem in den Amerikas, im südlichen Pazifik, aber auch in Teilen Afrikas und Asiens. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr­ hunderts, auf dem Höhepunkt der Abwanderung von Europäern, begann dann zugleich die Geschichte Europas als Zuwanderungskontinent. Die Historische Migrationsforschung hat seit den späten 1980er­Jah­ ren eine enorme Vielfalt von Wanderungsvorgängen der Vergangenheit erschlossen und ist heute in der Lage, Jahrzehnte und Jahrhunderte überblickende Entwicklungslinien zu verdeutlichen. Ihre Berücksich­ tigung ist nötig, um die migratorischen Prozesse und Strukturen der Gegenwart zu verstehen und zu erklären. Die folgende Skizze gilt den Bedingungen, Formen und Folgen der räumlichen Bevölkerungsbewe­ gungen, die seit dem 16. Jahrhundert von Europa ausgingen. Sie fragt zudem nach den Hintergründen für die Transformation Europas zu einem Zuwanderungskontinent. Auf diese Weise möchte der Beitrag das Gewicht Europas für das globale Migrationsgeschehen der Neuzeit aufzeigen und zugleich deutlich machen, dass umfangreiche und weit­ räumige Migrationen eine historische Normalität darstellten.

Aufbruch mit weitreichenden Folgen Der Begriff »Migration« verweist auf räumliche Bewegungen von Men­ schen. Er meint jene Muster regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden hatten und aus denen Veränderungen sozialer Institutionen resultierten. Migration kann das Überschreiten politisch­territorialer Grenzen mit der Folge des Aus­ schlusses aus einem beziehungsweise der Inklusion in einen anderen Rechtsverband meinen. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines politisch­territorialen Gebildes können als Migration aufgefasst werden. Sie verweisen Migrantinnen und Migranten darauf, sich mit (erheblich) anderen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, 22

Jochen Oltmer

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kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinanderzusetzen sowie Teilhabe in den verschiedenen gesellschaft­ lichen Funktionsbereichen zu erreichen oder zu erringen. So bildeten beispielsweise die räumlichen Bewegungen im Rahmen der Urbanisie­ rung, insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert, zwar meist nur einen Wechsel des Ortes innerhalb eines Territoriums beziehungsweise eines Staates. Dennoch ergaben sich für die Migranten weitreichende Herausforderungen hinsichtlich der Integration in andere wirtschaft­ liche Segmente und Sektoren (Industrie oder Dienstleistungsbereich anstelle von Landwirtschaft) und mündete die Wanderung in verän­ derte Lebensformen (urban statt rural), Einstellungen und Orientie­ rungen. Migration konnte unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasste aber nicht selten auch Zwischenziele beziehungsweise Etappen, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Wei­ terreise dienten. Weil der Migrationsprozess grundsätzlich ergebnisoffen blieb, stellte die dauerhafte Ansiedlung andernorts nur eine der mög­ lichen Ergebnisse von Migrationsbewegungen dar: In der Bundesrepublik wuchs der Umfang der aus dem Ausland zugewanderten Erwerbsbe­ völkerung von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 von circa 550 000 auf rund 2,6 Millionen an. Das Wanderungsvolumen war dabei erheblich: Vom Ende der 1950er­Jahre bis 1973 kamen rund 14 Millionen aus­ ländische Arbeitskräfte nach Deutschland, etwa elf Millionen, also fast 80 Prozent, kehrten wieder zurück.2 Migrantinnen und Migranten strebten häufig danach, durch den dauerhaften oder temporären Aufenthalt andernorts Erwerbs­ und Siedlungsmöglichkeiten zu erschließen sowie Bildungschancen zu ver­ bessern. Die räumliche Bewegung sollte ihnen also in solchen Fällen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. Migration verband sich sehr oft mit (erwerbs)biografischen Wendepunkten und Grundsatzent­ scheidungen wie Partnerwahl und Familiengründung, Eintritt in einen Beruf oder Wahl von Arbeits­, Ausbildungs­ und Studienplatz; der überwiegende Teil der Migranten waren folglich Jugendliche und jun­

Der lange Marsch

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ge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung bedingten spezifische sozial relevante Merkmale, Attribute und Ressourcen von Individuen beziehungsweise Angehörigen von Kollektiven (Familien, Haushalten, Gruppen, Bevölkerungen), darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale (Stände, Schichten) und berufliche Stellung so­ wie die Zuweisung zu »Ethnien«, »Kasten«, »Rassen« oder »Nationalitä­ ten«, die sich nicht selten mit Privilegien und (Geburts­)Rechten verbanden. Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomi­ schem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erwiesen sich damit die Autonomiegrade von Migranten als Individuen beziehungsweise in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozes­ ses in Familien, in Familienwirtschaften und Haushalten oder in Netz­ werken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen strebten keineswegs im­ mer nach einer Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden »Rück­ überweisungen« oder anderen Formen des Transfers von Geld die öko­ nomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Eine zentrale Bedingung dafür, dass solche translokalen ökonomischen Strategien funktionierten, bildete die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen länger­ fristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wurde, hing entscheidend ab vom Wissen über Migrationsziele, ­pfade und ­möglichkeiten. Damit Arbeits­, Ausbildungs­ und Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und 24

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eine gewisse Dauer erreichten, bedurfte es kontinuierlicher und verläss­ licher Informationen über das Zielgebiet. Ein zentrales Element bildete die mündliche oder schriftliche Übermittlung von Wissen über Beschäf­ tigungs­, Ausbildungs­, Heirats­ oder Siedlungschancen durch voraus­ gewanderte (Pionier­)Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein ho­ her Informationswert beigemessen wurde. Sie etablierten Kettenwan­ derungen, bei der Migrantinnen und Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgten. Herkunftsräume und Zielgebiete von Migration waren mithin in der Regel über Netzwerke – Verwandtschaft, Bekanntschaft, Herkunftsge­ meinschaften – miteinander verbunden. Loyalität und Vertrauen bildeten zentrale Bindungskräfte solcher Netzwerke. Die Bedeutung der Infor­ mationsvermittlung mithilfe verwandtschaftlich­bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht überschätzt werden: Mindestens 100 Millionen private »Auswandererbriefe« sind beispielsweise zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland geschickt worden und kursierten in den Herkunftsgebieten im Verwandten­ und Bekanntenkreis.3 Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungs­ entschlusses zureichende Informationen standen potenziellen Migran­ ten häufig nur für einen Zielort beziehungsweise für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Erwerbsbereiche zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen unter­ schiedlichen Zielen nicht gegeben waren. Die migratorische Hand­ lungsmacht des Einzelnen blieb damit zwar einerseits beschränkt, andererseits aber beherbergte das Zielgebiet umfangreiche verwandt­ schaftlich­bekanntschaftliche Beziehungen, die Risiken minimierten und Chancen offerierten: 94 Prozent aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen, suchten zum Beispiel zuerst Verwandte und Bekannte auf,4 verringerten damit ihre Verwundbarkeit und erhöhten ihre Handlungsmacht vor Ort. Migrantennetzwerke boten einerseits translokal Wissen über Chan­ cen und Gefahren der Ab­ und der Zuwanderung, über sichere Verkehrs­

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wege sowie über psychische, physische und finanzielle Belastungen der Reise. Am Zielort garantierten Migrantennetzwerke Schutz und Orientierung im fremden Raum, vermittelten Arbeits­ und Unter­ kunftsmöglichkeiten, halfen auch bei Kontakten mit Obrigkeiten so­ wie staatlichen und kommunalen Institutionen. Je umfangreicher ein Netzwerk war und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netz­ werkes gepflegt wurden, desto mehr ökonomische und soziale Chan­ cen bot es – die Attraktivität eines Migrationszieles bemaß sich an der Größe des Netzwerkes, auf das Migranten am Zielort rekurrieren konnten, und an der Intensität der im verwandtschaftlich­bekannt­ schaftlich konstituierten Netz gepflegten sozialen Beziehungen. Des­ halb erhöhte ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfand. Vielmehr konstituierte es auch Wan­ derungstraditionen und beeinflusste damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung, die über lange Zeiträume und zum Teil über Generationen existierte. Die Migrantennetzwerke wurden nicht nur durch Kommunikation und durch den Austausch von Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrecht­ erhalten, sondern reproduzierten sich insbesondere auch durch (nicht selten translokal und transkontinental ausgehandelte) Eheschließungen, durch die Etablierung von Vereinen und Verbänden, eine spezifische Geselligkeitskultur, aber auch gemeinsame ökonomische Aktivitäten. Schutz und Chancen, die Migrantennetzwerke boten, bedeuteten für den Einzelnen immer auch soziale Zwänge und Verpflichtungen. Die Auf­ rechterhaltung des Netzwerkes, das im Kontext der Migration existen­ zielle Bedeutung haben konnte, forderte Loyalität und die mit Leistung und Gegenleistung verbundene Akzeptanz kollektiver Verantwortung. Migrantinnen und Migranten wurden genötigt, spezifische Normen, Handlungsrationalitäten und Handlungsziele zu teilen, Mitglieder der Netzwerke unterlagen wegen der Geschlossenheit der verwandtschaft­ lich­bekanntschaftlichen Verbindungen enger sozialer Kontrolle, selbst über Tausende von Kilometern Entfernung hinweg. Vertrauen wurde erzwungen, Sanktionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen gab 26

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es viele: Verlust von Reputation aufgrund des Schwundes von Vertrau­ enswürdigkeit, Entzug von Leistungen, soziale Isolation und Exklusion, die im Kontext der Migration die soziale Verletzbarkeit und die Risiken enorm erhöhten sowie die Wahrnehmung von Chancen durch räum­ liche Bewegungen minimierten. Im Kontext von Entsendungen als spezifischer Migrationsform er­ setzte eine Organisation beziehungsweise Institution (Handelsfilialen oder multinationale Unternehmen, diplomatischer Dienst, Streitkräfte) das verwandtschaftlich­bekanntschaftliche Netzwerk. Entsendungen waren in der Regel auf begrenzte Aufenthalte andernorts zur Beschäf­ tigung in Unternehmensfilialen, Tochter­ oder Drittunternehmen aus­ gerichtet. Sie waren Ausdruck langfristiger Unternehmensstrategien, die auf die konstante Präsenz von Spezialisten in den verschiedensten Unternehmensstandorten zielten, und rahmten den Aufenthalt andern­ orts durch spezifische Infrastrukturen: Schulen, Klubs, Vereine, Ver­ bände. Während in einem solchen Kontext die Handlungsmacht des Ein­ zelnen zur Umsetzung eines Migrationsprojekts sehr hoch war, galt das für andere Konstellationen weit weniger; denn Migration stellte auch eine mögliche Reaktion auf Krisenkonstellationen dar, etwa dort, wo Abwanderung das Ergebnis von Umweltzerstörung oder akuter wirtschaftlicher und sozialer Notlage bildete. Darüber hinaus konnten Steuerungs­ und Regulierungsanstrengungen institutioneller (staatli­ cher) Akteure die Handlungsmacht und damit die Freiheit und Freizü­ gigkeit von Einzelnen oder Kollektiven so weit beschränken, dass es keine realistische Handlungsalternative gab. Die Menschen flohen vor Gewalt, die ihr Leben und ihre Freiheit direkt oder erwartbar bedrohte, zumeist aus politischen, ethno­nationalen, rassistischen oder religiö­ sen Gründen. Zwangsmigration konnte aber auch gewaltsame Vertrei­ bung, Deportation oder Umsiedlung bedeuten, die sich oft auf ganze Bevölkerungsgruppen erstreckte.

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Europäische Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert Mit der spanischen und portugiesischen Eroberung der Amerikas seit dem Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert verbanden sich zunächst nur in einem relativ geringen Umfang Bewegungen von Europäern. Ihre neuen Territorien verstanden die spanischen und portugiesischen Herr­ scher nicht als Siedlungsgebiete, sondern als Kolonien zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung. Voraussetzung für die dafür erforderliche »Inwertsetzung« der überseeischen Besitzungen durch Erschließung und Abbau der Bodenschätze oder die Produktion von Agrargütern war eine große Zahl von Arbeitskräften. An ihnen aber mangelte es, da die Eroberungen zu einem immensen Rückgang der einheimischen Be­ völkerung geführt hatten. Hintergrund waren die hohen Todesraten in den Kämpfen zwischen Einheimischen und Konquistadoren. Noch we­ sentlich stärker aber wirkte ein weiterer Faktor: Afrika, Asien und Eu­ ropa waren aufgrund von Wanderungen, Handels­ und Reiseverkehr über die Jahrtausende auch epidemiologisch verbunden geblieben, nicht aber Australien und die Amerikas, sodass nach dem Eintreffen der Europäer in der Neuen Welt Epidemiewellen die einheimische Bevöl­ kerung dezimierten. Viele der Bakterien und Viren, die die Eroberer mitbrachten und gegen die sie immun waren, wirkten für die Einhei­ mischen tödlich. Die Gesamtbevölkerung im spanischen Süd­ und Mittelamerika der vorkolumbianischen Zeit von vielleicht 40 Millio­ nen soll bis 1570 auf rund neun Millionen und bis 1620 auf nur mehr vier Millionen zurückgegangen sein. Dieser hier nur grob skizzierte Zusammenhang bildete vom späten 15. bis in das frühe 19. Jahrhundert einen zentralen Hintergrund glo­ baler Wanderungsbewegungen: Überschlägige Berechnungen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass circa zehn Millionen Menschen in den mehr als drei Jahrhunderten zwischen dem Eintreffen Kolumbus’ in der Karibik 1492 und dem Jahr 1820 in die Amerikas zogen. Davon kamen rund zwei Millionen aus Europa und etwa acht Millionen als Sklaven aus Afrika.5 Europa verließen neben den für die Etablierung 28

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und Aufrechterhaltung der Herrschaft nötigen Soldaten und Beamten auch zahlreiche Missionare. Europäer stellten darüber hinaus Kauf­ leute, Plantagenbesitzer und ­betreiber, aber auch städtische Handwer­ ker, Bauern sowie zu vielleicht einem Drittel Arbeitskräfte, die als Unfreie auf den Doppelkontinent gekommen waren. Außerhalb der Amerikas unterhielten Europäer um 1800 zwar rund 500 bis 600 Han­ dels­, Verwaltungs­ und Militärstützpunkte in Afrika, Ozeanien und Asien (ohne Sibirien), darunter aber gab es nur vier dauerhaft beste­ hende Ansiedlungen mit mehr als jeweils 2000 Europäern: das portu­ giesische Goa an der Westküste des indischen Subkontinents und das spanische Manila auf der philippinischen Hauptinsel Luzon sowie die niederländischen Niederlassungen Batavia (heute Jakarta) auf der in­ donesischen Insel Java und Kapstadt an der Südspitze Afrikas.6

Rasche Globalisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Seit dem frühen 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der Menschen rapide an, die Europa den Rücken kehrten. Die Phase beschleunigter kolo­ nialer Erschließung der Welt und ökonomischer Globalisierung in den letzten 30, 40 Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs bildete dann den Höhepunkt. Der kleinere Teil der europäischen Interkontinental­ wanderer nahm Pfade über Land und siedelte sich vornehmlich in den asiatischen Gebieten des Zarenreichs an. Der überwiegende Teil über­ wand die maritimen Grenzen des Kontinents: Von den 55 bis 60 Mil­ lionen Europäern, die zwischen 1815 und 1930 nach Übersee zogen, gingen mehr als zwei Drittel nach Nordamerika, wobei die USA ge­ genüber Kanada mit einer um mehr als das Sechsfache höheren Zu­ wandererzahl eindeutig dominierten. Rund ein Fünftel wanderte nach Südamerika ab, circa sieben Prozent erreichten Australien und Neu­ seeland. Nordamerika, Australien, Neuseeland, das südliche Südame­ rika sowie Sibirien bildeten als europäische Siedlungsgebiete Neo­ Europas.7

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Die Besiedlung der Neo­Europas bedeutete eine Verdrängung der einheimischen Bevölkerung in periphere Räume und zeigte nicht selten genozidale Tendenzen. Sie führte zu einer weitreichenden Marginali­ sierung oder sogar völligen Beseitigung der überkommenen ökonomi­ schen und sozialen Systeme, Herrschaftsgefüge und kulturellen Muster. Den zentralen Anstoß für eine verstärkte europäische Zuwanderung bildete im 19. Jahrhundert in allen Fällen die beschleunigte Einbin­ dung der Siedlungsräume in den Weltmarkt. Die europäische Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln sowie der Investitionsschub durch den Kapitalexport aus Europa erzeugten einen hohen Arbeitskräftebe­ darf in einzelnen Teilen der Welt und ließ neue Migrationsziele für Eu­ ropäer entstehen. Die Zuwanderung von Europäern wiederum führte dort zur Etablierung von Massenmärkten für europäische Fertigwaren, die die wirtschaftlichen Interdependenzen weiter verstärkten. Wesent­ liche Voraussetzung für den Anstieg der europäischen Überseemigra­ tion bildete die bereits seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten bestehende migratorische Verflechtung zwischen Europa und den überseeischen Zielen: Pioniermigranten lieferten Informationen über Möglichkeiten, Pfade und Risiken der Abwanderung nach Übersee. Erleichtert wur­ den Fernwanderungen zudem durch die im Zuge der Industrialisie­ rung wesentlich verbesserte Verkehrssituation in Europa, nach Übersee und in den Zielgebieten – Raum verdichtete sich. Dadurch verminderte sich nicht nur der zeitliche Aufwand für eine Reise. Auch die Kosten sanken erheblich. Ein enormer Anstieg der europäischen Zuwanderung in die USA setzte schon in den 1820er­Jahren ein: Rund 152 000 Europäer erreich­ ten die USA, in den 1830er­Jahren dann bereits um die 600 000. Der Zeitraum von den 1840er­ bis zu den 1880er­Jahren bildete dann eine Hochphase der Einwanderung mit insgesamt circa 15 Millionen Eu­ ropäern, die hauptsächlich aus dem Westen, dem Norden und der Mit­ te des Kontinents kamen: Über vier Millionen Deutsche, drei Millio­ nen Iren, drei Millionen Engländer, Schotten und Waliser sowie eine Million Skandinavier erreichten die USA, deren Bevölkerung in die­ 30

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sem halben Jahrhundert von etwa 17 Millionen auf 63 Millionen an­ wuchs. In Nordamerika stellte sich trotz der starken und anwachsenden Zu­ wanderung und trotz des hohen Bevölkerungswachstums keine Dis­ krepanz im Wachstum von Bevölkerung und Erwerbsmöglichkeiten ein – im Gegenteil: Der Bedarf an Arbeitskräften wuchs weiter. Hinter­ grund war ein agrar­ und industriewirtschaftlicher Boom. Das wirt­ schaftliche Wachstum stand in einer engen Wechselbeziehung mit der permanenten territorialen Expansion über die 13 Gründungsstaaten der USA hinaus. Das Territorium der USA verfünffachte sich inner­ halb nur weniger Jahrzehnte. 1820 lebten noch fast drei Viertel der Gesamtbevölkerung der USA in den Staaten der Ostküste, und nur ein Viertel lebte westlich der Appalachen. 1860 hatten interkontinentale Einwanderung und interregionale Migration in den USA dazu geführt, dass bereits die Hälfte der US­amerikanischen Bevölkerung westlich der Appalachen zu finden war. Diese Westbewegung von Millionen von Menschen europäischer Herkunft in die neu erschlossenen nord­ amerikanischen Räume kann unter den Begriff der »Grenzkolonisa­ tion« gefasst werden. Diese fand in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihr Ende und mündete in eine Phase expansionis­ tischer Politik der Überseekolonisation der Vereinigten Staaten. Die koloniale Expansion der USA, Japans und vor allem europäi­ scher Staaten erreichte in den drei bis vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in der Phase des Hochimperialismus ihren Zenit. Die von den großen europäischen Imperien in den vorangegangenen Jahr­ zehnten zumeist bevorzugte informelle politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle über asiatische, pazifische, afrikanische oder la­ teinamerikanische Räume mündete in eine Situation zunehmender imperialistischer Konkurrenz in die fortschreitende Verdichtung for­ meller Kolonialherrschaft. Die Phase verstärkter kolonialer Expansion bildete zugleich eine Zeit beschleunigter internationaler ökonomischer Vernetzung, die weitreichende wirtschaftliche Transformationen her­ vorrief. Die bereits erwähnte Verkehrs­ und Kommunikationsrevolu­

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tion des 19. Jahrhunderts führte vor allem im Übergang zum 20. Jahr­ hundert zu einem weiteren beachtlichen Rückgang der Transportkos­ ten. Immer mehr Menschen und Waren überwanden immer größere Distanzen. Kommunikationsverbindungen wurden rasch ausgebaut (re­ gelmäßiger Postverkehr; Telegrafie, Telefon ab 1878). Zeitungen ent­ wickelten sich zur billigen Nachrichtenquelle für jedermann aufgrund der rasanten Zunahme von Zahl und Auflage. Damit verbesserten sich auch die Möglichkeiten der Information über Ansiedlung und Job­ chancen andernorts. Der beschleunigte Ausbau von Verkehrs­ und Kommunikationsverbindungen erleichterte zudem die Marktbildung im Migrationsbereich: Die global agierenden und untereinander kon­ kurrierenden Schifffahrtsgesellschaften Europas und Nordamerikas erschlossen mithilfe modernster Werbemethoden und eines weit aus­ gebauten Systems von Agenten immer neue Abwanderungsregionen, um ihre Dampfschiffe mit Migranten zu füllen. Die Phase beschleunigter kolonialer Erschließung der Welt und öko­ nomischer Globalisierung in den letzten 30 bis 40 Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs bildete den Höhepunkt der globalen Fernwande­ rungen der Europäer im 19. Jahrhundert. Durchschnittlich 50 000 Men­ schen hatten zu Anfang des 19. Jahrhunderts jährlich Europa über das Meer verlassen. Die 1840er­Jahre bildeten eine Zäsur: 1846 bis 1850 gab es im Durchschnitt Jahr um Jahr bereits über 250 000 Transatlantik­ wanderer, davon gingen rund 80 Prozent in die USA und 16 Prozent nach Kanada. Zwischen 1851 und 1855 stieg diese Zahl auf 340 000 und da­ mit auf das Siebenfache des Jahresdurchschnitts der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Weiterhin dominierten die USA mit 77 Prozent als wichtigstes Ziel gegenüber neun Prozent, die sich nach Kanada, und vier Prozent, die sich nach Brasilien wandten. Mit der Weltwirt­ schaftskrise der späten 1850er­Jahre und dem Amerikanischen Bürger­ krieg 1861 bis 1865 ging zwar die europäische Zuwanderung in die USA deutlich zurück, sie überstieg mit dem Ende des Sezessionskriegs aber sogleich wieder das Niveau der frühen 1850er­Jahre, um in der Welt­ wirtschaftskrise der 1870er­Jahre erneut abzusinken. Seit den 1880er­ 32

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Jahren folgten die Höhepunkte der europäischen überseeischen Migra­ tion. In der zweiten Hälfte der 1880er­Jahre umfasste die europäische Überseemigration durchschnittlich fast 800 000 Menschen pro Jahr, immer noch ging der Großteil in die USA. Spitzenwerte erzielte sie in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als durchschnittlich jährlich mehr als 1,3 Millionen Europäer die Alte Welt verließen. Häufig wird übersehen, dass transatlantische Migration von Euro­ päern nie eine Einbahnstraße war: Je stärker im 19. Jahrhundert die lange dominierende Familienmigration zwecks landwirtschaftlicher An­ siedlung an Gewicht verlor und die individuelle Arbeitsmigration in industrielle Beschäftigungsverhältnisse anstieg, desto höher lag die Rück­ wanderung. 1880 bis 1930 kamen vier Millionen Menschen aus den USA nach Europa zurück mit enormen Unterschieden zwischen den einzel­ nen Gruppen: Nur fünf Prozent der jüdischen Transatlantikmigranten, aber 89 Prozent der Bulgaren und Serben kehrten zurück. Bei den Mit­ tel­, Nord­ und Westeuropäern lag der Durchschnitt bei 22 Prozent. Vor allem die Abwanderung über das Meer aus Ost­, Ostmittel­ und Südeuropa, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert dominierte, be­ deutete immer seltener definitive Auswanderung und immer häufiger Rückkehr und zirkuläre Migration. Die Hälfte der Italiener beispiels­ weise, die zwischen 1905 und 1915 Nord­ und Südamerika erreichten, kehrte nach Italien zurück. Gegenüber Nordamerika gewannen andere Neo­Europas an Ge­ wicht, darunter vor allem Australien, Brasilien und Argentinien, aber auch Neuseeland, Uruguay oder Chile. Vor 1850 hatten die USA circa vier Fünftel aller Europäer aufgenommen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es circa drei Viertel, seit der Jahrhundert­ wende noch rund die Hälfte. Der Bedeutungsgewinn der Ziele außer­ halb Nordamerikas war vornehmlich ein Ergebnis der Öffnung großer neuer Siedlungszonen für europäische Landwirte und der Entdeckung von Rohstoffvorkommen, deren Erschließung viele Arbeitskräfte er­ forderte.

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Neben die Ansiedlung von Europäern in den kolonialen Räumen traten die vielgestaltigen und umfangreichen Migrationen insbeson­ dere von Afrikanern und Asiaten als unmittelbares oder mittelbares Ergebnis der globalen politisch­territorialen Expansion Europas und der von Europa ausgehenden wirtschaftlichen Globalisierung: Sie wa­ ren als Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung Ergebnis der Aufrich­ tung und Durchsetzung von Kolonialherrschaft. Sie waren als Depor­ tation Ergebnis des in vielen Kolonialgebieten praktizierten Zwangs zum Anbau marktförmiger Produkte oder der weitreichenden Etablie­ rung von Plantagenwirtschaften, die auf längere Sicht auf zahlreiche (Zwangs­)Arbeitskräfte angewiesen blieben. Sie waren als Arbeitswan­ derungen Ergebnis der Veränderung ökonomischer Strukturen, dar­ unter insbesondere der Exploration und raschen Ausbeutung von für die europäische Industrialisierung wichtigen Rohstoffvorkommen, der Umstellung der Landwirtschaft auf Handelspflanzen, des Wachs­ tums urbaner Wirtschaftsräume oder des Ausbaus der Infrastruktur (Eisenbahn­, Kanal­ und Hafenbau). Oder sie waren als landwirtschaft­ liche Siedlungswanderungen Ergebnis der meist gewaltsamen Erschlie­ ßung und Eroberung neuer Siedlungszonen und ­gebiete.

Europa als Ziel der Zuwanderung seit dem späten 19. Jahrhundert Im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts lief die europäische Trans­ atlantikmigration als Massenphänomen aus, die das globale Migra­ tionsgeschehen des »langen« 19. Jahrhunderts geprägt hatte. In den 1920er­Jahren erreichte die europäische Überseewanderung nicht mehr als die Hälfte der durchschnittlichen Jahresraten des Vorkriegs­ jahrzehnts. In den 1930er­Jahren sanken die Ziffern angesichts der Weltwirtschaftskrise noch weiter ab: Zwischen 1931 und 1940 waren europaweit nur mehr 1,2 Millionen Überseemigranten registriert wor­ den. Die Durchschnittsziffer von jährlich 120 000 Menschen bildete den niedrigsten Wert der gesamten 100 vorangegangenen Jahre. Der Beginn 34

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des Zweiten Weltkriegs ließ dann die transatlantische Migration völlig auslaufen. Nach dem Krieg gab es zwar in den 1950er­Jahren einen Aufschwung der europäischen Transatlantikmigration, der Umfang der 1920er­Jahre oder gar der Hochphase des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber wurde bei Weitem nicht mehr erreicht: Staaten wie Großbritan­ nien, die Niederlande oder (West­)Deutschland, die lange wichtige Herkunftsländer der Abwanderung aus Europa gewesen waren, ver­ zeichneten nun meist höhere Zu­ als Abwanderungsziffern. Und die Migrationsströme anderer ehemals bedeutsamer Herkunftsländer der Transatlantikwanderung wie Italien, Spanien, Portugal oder Griechen­ land richteten sich jetzt weitgehend auf die expandierenden Arbeits­ märkte der nord­, west­ und mitteleuropäischen Industrieländer aus. Europa als Hauptakteur kolonialer Expansion und als Hauptexpor­ teur von Menschen nach Amerika, Afrika, Asien und in den Raum des südlichen Pazifiks war lange nur selten Ziel interkontinentaler Zu­ wanderungen gewesen. In Großbritannien, dem Zentrum des weltweit größten Imperiums, stieg zwar bereits im Zuge der Expansion des 17. bis 19. Jahrhunderts die Zahl der Menschen afrikanischer oder asia­ tischer Herkunft an. Sie blieb aber relativ klein. Für 1770 sind beispiels­ weise 10 000 Menschen in Großbritannien ermittelt worden, die aus dem subsaharischen Raum stammten, London beherbergte die Hälfte von ihnen. Andernorts in Europa lebten wesentlich weniger außer­ europäische Zuwanderer. Dies änderte sich langsam in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als der Umfang der Bevölkerung außereuropäischer Herkunft stärker anwuchs. Anders als häufig ver­ mutet wird, kamen hierbei keineswegs nur Angehörige der koloniali­ sierten Unterschichten. Ein zentraler Migrationskanal (gate of entry) von Pioniermigranten nach Europa bildete vielmehr der Erwerb akademischer Qualifikatio­ nen im Kontext des Kolonialismus: Funktionsfähig erwies sich koloniale Herrschaft nur aufgrund eines umfangreichen Apparates einheimischer Verwaltungsbeamter, mit der zunehmenden Verdichtung kolonialer

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Herrschaft seit dem späten 19. Jahrhundert wuchs dieses Heer von Kol­ laborateuren stark an. In der Zwischenkriegszeit gelangten immer mehr einheimische Verwaltungsbeamte und Offiziere, die nicht selten in den europäischen Metropolen ausgebildet worden waren, an die Spitze der kolonialen Verwaltungen. Und bei Weitem nicht alle Bildungsmigran­ ten aus den Kolonien kehrten wieder in die Herkunftsgebiete zurück. Die Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg ließ diese bil­ dungspolitisch motivierten Bewegungen im Raum keineswegs auslau­ fen: Viele ehemalige Kolonialmächte verstanden die Bildungsmigration aus den nun formal unabhängigen Staaten als eine Gelegenheit, künf­ tige Führungskader an die ehemalige Kolonialmacht zu binden und mit ihrer Hilfe weiterhin Einfluss auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der neuen Staaten zu nehmen. Aus der Ausbildung von kolonialen Kollaborateuren ergab sich mithin nicht nur ein zentraler Kanal der Zuwanderung nach Europa, vielmehr entwickelten sich spe­ zifische Muster globaler Bildungsmigration, die zum Teil bis heute fortwirken und immer wieder auch zu Daueraufenthalten in Europa führten. 1949/50 gab es beispielsweise 2000 Studierende aus den sub­ saharischen Kolonien in Frankreich, drei Jahre später hatte sich ihre Zahl verdoppelt und war mit circa 8000 am Ende des Jahrzehnts er­ neut auf das Doppelte angestiegen. Rund ein Zehntel aller Schülerin­ nen und Schüler höherer Schulen aus diesen Regionen soll in den 1950er­Jahren seinen Bildungsweg in Frankreich weiterverfolgt haben. In Fortsetzung dieser Tradition zählten die französischen Universitä­ ten im Akademischen Jahr 2000/2001 schließlich um die 30 000 Stu­ dierende allein aus dem subsaharischen Afrika, die rund ein Fünftel aller ausländischen Studierenden stellten. Daneben bildete die Schifffahrt einen weiteren frühen gate of entry der Zuwanderung von außerhalb Europas. Die im Zuge der Globalisie­ rung rasch wachsenden europäischen Handelsmarinen rekrutierten seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend häufiger asiatische und afrika­ nische Männer für die körperlich anstrengenden und gesundheitlich belastenden Tätigkeiten unter Deck. Diese erreichten die europäischen 36

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Hafenstädte, wo vor und nach dem Ersten Weltkrieg erste kleine Sied­ lungskerne von Afrikanern und Asiaten entstanden.8 Aus Westafrika stammende Seeleute aus der Gruppe der Kru wurden beispielsweise seit dem späten 19. Jahrhundert Teil der Bevölkerung Liverpools, Lon­ dons oder Cardiffs und blieben bis in die 1970er­Jahre mit der Schiff­ fahrt verbunden. In Britisch­Indien warb die Handelsmarine seit den 1880er­Jahren Heizer an, einige Hundert arbeiteten bald in den briti­ schen Häfen oder verdienten ihr Geld in den Niedriglohnbereichen der Textilindustrie. Chinesische Seeleute kamen nach London, Hamburg oder Rotterdam, arbeiteten dort weiter im Transportgewerbe oder grün­ deten die ersten chinesischen Lokale und Restaurants. Eine weitere und damit dritte Gruppe von Asiaten, Afrikanern oder Westindern, aus der Pioniermigranten in Europa hervorgingen, bildeten die von den Kolonialmächten rekrutierten Soldaten auf den europäischen Kriegs­ schauplätzen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, von denen einige Tausend nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa blieben.9 Die eigentliche Massenzuwanderung auf den europäischen Konti­ nent begann aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, geför­ dert vor allem vom Prozess der Dekolonisation: Die Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einer massiven »Rückwanderung« von europäischen Siedlern nach Europa. Darüber hinaus wurde im Prozess der Dekolonisation die Zu­ wanderung kolonialer Kollaborateure in die ehemaligen »Mutterlän­ der« zugelassen, die als Verwaltungsbeamte, Soldaten oder Polizisten die koloniale Herrschaft mitgetragen hatten oder den Einheimischen als Symbole extremer (politischer) Ungleichheit in der kolonialen Ge­ sellschaft galten. Vor allem das Ende der globalen Imperien der Nie­ derlande (in den späten 1940er­Jahren), Frankreichs (in den 1950er­ und frühen 1960er­Jahren) sowie Portugals (Anfang der 1970er­Jahre) brachte umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1980 kamen wohl insgesamt fünf bis sieben Millionen »Europäer« im Kontext der Deko­ lonisation aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten auf den europäischen

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Kontinent, darunter viele, die weder in Europa geboren waren noch je in Europa gelebt hatten.10 Nach dem Ende der Kolonialherrschaft in Indochina und dem Be­ ginn des Unabhängigkeitskriegs in Algerien 1954 nahm Frankreich bei­ spielsweise innerhalb eines Jahrzehnts 1,8 Millionen Menschen auf, die im Zuge der Dekolonisationskonflikte entwurzelt worden waren. Als noch umfänglicher erwies sich – im Verhältnis zur Bevölkerungs­ zahl des »Mutterlandes« – die Zuwanderung im Prozess der Dekoloni­ sation nach Portugal: Beginnend im Herbst 1973 kamen innerhalb nur eines Jahres fast eine halbe Million »Retornados« aus den ehemaligen portugiesischen Besitzungen in Afrika (Mosambik, Angola, Kap Verde, Guinea­Bissau, São Tomé und Príncipe). Angola dominierte als Her­ kunftsland. Mitte der 1970er­Jahre stellten die »Retornados« nicht we­ niger als fast sechs Prozent der portugiesischen Bevölkerung. Aus der starken Migration im Kontext der Auflösung der europäischen Kolonial­ besitzungen ergab sich ein Paradoxon der Geschichte der europäischen Expansion: Die europäischen Kolonialreiche waren in den europäischen Metropolen nach der Dekolonisation präsenter als davor. Darüber hinaus prägten sich umfangreiche postkoloniale Zuwande­ rungen ehemaliger Kolonialisierter nach Europa aus, weil wegen der zum Teil weiterhin bestehenden engen Verbindungen zwischen ehe­ maligen kolonialen Metropolen und in die Unabhängigkeit entlasse­ nen Staaten privilegierte gates of entry bestanden. Das galt unter den großen europäischen Zuwanderungsländern vor allem für Frankreich und Großbritannien, aber auch für die Niederlande und Belgien: Großbritannien bot seit dem British Nationality Act von 1948 allen Bewohnern der Kolonien beziehungsweise des Commonwealth eine einheitliche Staatsangehörigkeit sowie freie Einreise und Arbeitsauf­ nahme in Großbritannien. Diese offene Regelung wurde erst seit den 1960er­Jahren schrittweise zurückgenommen.11 In den wirtschaftlich führenden Staaten Europas war die Zahl der Zuwanderer aus anderen Teilen Europas bereits im Zeichen von Hoch­ industrialisierung und Agrarmodernisierung im späten 19. und frühen 38

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20. Jahrhundert stark gestiegen. In der ökonomischen Rekonstruktions­ periode der ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Welt­ kriegs mit ihren hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten und stark expandierenden Arbeitsmärkten kam es erneut und in noch wesent­ lich stärkerem Maße zur grenzüberschreitenden Fluktuation von Ar­ beitskräften im Rahmen eines spezifischen Migrationsregimes. West­, Mittel­ und Nordeuropa bildeten das Ziel von Zuwanderern, die zu­ meist aus Anrainerstaaten des Mittelmeers kamen.

Voraussetzung für Migration: finanzielle Ressourcen Globalisierung als Verdichtung sozialer Interaktionen und Vernetzun­ gen zwischen Menschen, Gesellschaften, Ökonomien und kulturellen Systemen veränderte in dem vergangenen halben Jahrtausend die Welt grundlegend. Räume, in denen sich besonders dynamische Prozesse der globalen Vernetzung ausmachen ließen, können sehr häufig auch als Zentren ausgeprägter Zuwanderung beschrieben werden; denn Migra­ tion ist ein Element und ein Kennzeichen der Verdichtung von sozia­ len Interaktionen, sie ist Voraussetzung und Bestandteil der Vernetzung von Individuen und Kollektiven. Darüber hinaus tragen Migrationen zu Transformationsprozessen als Ergebnis der Globalisierung bei – sie veränderten die Zusammensetzung von Bevölkerungen, modifizierten ökonomische und soziale Strukturen, religiöse Praktiken oder künstle­ rische Ausdrucksformen. Migration war in den vergangenen Jahrhun­ derten ein zentrales Element der Globalisierung, ist es in der Gegenwart und dürfte es auch in Zukunft bleiben. Die Vorstellung, in den vergan­ genen Jahrhunderten seien in der Regel vor allem die Menschen zu Migranten geworden, die besonders arm und bedürftig gewesen seien, ist ein Mythos. Tatsächlich bildeten finanzielle Ressourcen nicht erst in der Gegenwart eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts: Formalitäten für Ein­ und Aus­ reisen mussten auch in der Vergangenheit bezahlt werden, erhebliche

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Reise­ und Transportkosten kamen hinzu, Agenten oder Vermittler galt es in der Regel (teuer) zu bezahlen. Meist konnte nicht sogleich nach dem Eintreffen eine bezahlte Tätigkeit aufgenommen werden, zum Teil erwiesen sich Anfangsinvestitionen als nötig, Sparkapital wurde ver­ braucht, Geld musste geliehen werden. Für die Allerärmsten war die Umsetzung eines solchen Migrationsprojekts immer schon illusorisch. Unzählige Studien belegen: Armut schränkte die Bewegungsfähigkeit bereits in der Vergangenheit massiv ein. Häufig werden Teile der Wanderungsgeschichte eines Kollektivs (wie beispielsweise die Transatlantikmigration aus dem Europa des 19. Jahrhunderts) als Beleg für die Tatkraft und den Wagemut der eige­ nen Vorfahren herangezogen und Teile der Zuwanderungsgeschichte als Beleg für Offenheit, Toleranz und Weitsicht (wie beispielsweise die Migration der Hugenotten oder der »Ruhrpolen«). Selten allerdings gehen derlei Geschichten ein in die je aktuelle Aushandlung dessen, was als Migration und unter Migration verstanden wird. Diese Debatte bleibt weiterhin ganz einseitig geprägt durch eine Sicht, die Migration als Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten sieht und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand sowie gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der restriktiven politischen Vor­ und Nachsorge bedarf. Wanderungserfahrungen und (geschichts)wissenschaftliche Erkennt­ nisse über abgeschlossene Wanderungsvorgänge werden in der Regel nicht als Ressource verstanden, gesellschaftliche Gelassenheit im Um­ gang mit dem Thema Migration zu gewinnen.

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Jochen Oltmer

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Anmerkungen 1 Oltmer, Jochen: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München 2012. 2 Münz, Rainer et al.: Zuwanderung nach Deutschland. Frankfurt am Main 1997, S. 35–42. 3 Helbich, Wolfgang et al. (Hg.): Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930. München 1988. 4 Hoerder, Dirk; Lucassen, Jan; Lucassen, Leo: »Terminologien und Konzepte in der Migra­ tionsforschung«. In: Bade, Klaus J. et al. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Paderborn 2010, S. 28–53, hier S. 35. 5 Boogaart, Ernst van den; Emmer, Pieter C.: »Colonialism and Migration«. In: Emmer, Pieter C. (Hg.): Colonialism and Migration. Indentured Labour before and After Slavery. Dordrecht 1986, S. 3–17, hier S. 3. 6 Schmitt, Eberhard: »Globalisierung der Erde? Gedanken über die europäische Expansion und ihre Folgen«. In: Denzel, Markus A. (Hg.): Vom Welthandel des 18. Jahrhunderts zur Globalisierung des 21. Jahrhunderts. Stuttgart 2009, S. 15–24, hier S. 19 f. 7 Datenquelle für die Angaben hier und im Folgenden: Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000, S. 121–168. 8 Amenda, Lars: »Globale Grenzgänger. Chinesische Seeleute und Migranten und ihre Wahr­ nehmung in Westeuropa 1880–1930«. In: Werkstatt Geschichte. Essen 2009, S. 7–27. 9 Koller, Christian: »The Recruitment of Colonial Troops in Africa and Asia and their Deployment in Europe during the First World War«. In: Immigrants & Minorities 26 (2008), S. 111–133. 10 Hierzu und zum Folgenden siehe die einzelnen Beiträge in: Smith, Andrea L. (Hg.): Europe’s Invisible Migrants. Amsterdam 2003. 11 Schönwälder, Karen: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Essen 2001, S. 367–495.

Der lange Marsch

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Roger Zetter

Angstgetrieben Wie die Furcht vor dem Fremden die europäische Einwanderungspolitik bestimmt

Glaubt man der politischen Rhetorik der europäischen Mitgliedsstaa­ ten und der Europäischen Kommission, dann steckt Europa mitten in einer »Einwanderungskrise«. Das Sinnbild: Zehntausende Migranten, die das Mittelmeer in nicht seetüchtigen Booten überqueren; Tausende Migranten, die auf der Überfahrt ertrinken; Zehntausende Migranten ohne Papiere allein in Deutschland; das Lager in Calais, wo sich Migran­ ten versammeln und darauf hoffen, nach Großbritannien zu kommen; die Vehemenz, mit der das Thema »Einwanderung« in den Wahlkämp­ fen auf nationaler und europäischer Ebene behandelt wird. Und so weiter, und so weiter. Natürlich, es stimmt: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Einwanderer stark gewachsen; gleichzeitig scheint Eu­ ropa sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene unfähig zu sein, den Strom von Einwanderern und Flüchtlingen zu steuern. Das alles hat zu einem außergewöhnlich starken politischen Diskurs rund um das Thema »Flucht und Einwanderung« geführt und zu ganz unterschiedlichen Reaktionen im politischen System. Die »Festung Europa« ist ein gewaltiges Konstrukt aus unterschied­ lichen politischen Programmen sowie diversen Instrumenten und Maß­ nahmen, um die Grenzen zu sichern und illegale Einwanderung zu verhindern. Ganz offensichtlich gelingt dies aber nicht. Deswegen ist das Thema »Einwanderung« mittlerweile ganz oben auf der politischen Agenda angelangt. Die unterschiedlichen Antworten auf die »Einwan­ derungskrise« enthüllen tiefe Zerwürfnisse zwischen den europäischen 42

Roger Zetter

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Mitgliedsstaaten. Deshalb stelle ich an dieser Stelle ausgehend von mei­ nen Forschungsarbeiten der letzten Zeit (Zetter 2014, 2015) die folgen­ den Fragen: Warum gibt es diese Krise? Was ist ihre Dimension, was ihre Dynamik? Und schließlich: Warum hat sich die Krise trotz allerlei politischer Intervention bislang nicht lösen lassen? Ich werde versuchen, diese Fragen in vier Abschnitten zu behan­ deln. In den ersten beiden Teilen beleuchte ich den Hintergrund der europäischen Einwanderungspolitik und liefere anschließend aktuelle Zahlen zur Einwanderung. Der dritte Abschnitt widmet sich dann der eigentlichen These meines Beitrags: Den Kern der Einwanderungskrise bildet die Politik der »Festung Europa«. Wir haben es also nicht mit einer Einwanderungskrise zu tun, sondern mit einer Krise der Politik. Diese ist unfähig, die Einwanderer ausreichend zu schützen und eine schlüssige und humanitäre Antwort auf ein globales Problem zu finden; wir müssen sogar von einem kollektiven Versagen sprechen, Flüchtlinge und Einwanderer so zu schützen, wie es das internationale Recht vor­ schreibt. Mein Schlussteil setzt schließlich diese Erkenntnisse in Be­ zug zum aktuellen Ziel europäischer Politik: der »Securitisation of Mi­ gration«, also der sicherheitspolitischen Aufladung des Themas »Mi­ gration«. Für meine Analyse sind zwei Prämissen wichtig. Einerseits haben Staaten ein legitimes Interesse, ihre Grenzen zu kontrollieren und die Einreise auf ihr Hoheitsgebiet zu steuern; sie haben auch ein legitimes Interesse, die internationalen Flucht­ und Wanderbewegungen sinnvoll zu kontrollieren. Andererseits werden genau diese Kontrollen wegen der aktuellen Dynamik von Flucht und Migration immer schwieriger. Zwar sind nicht alle Migranten, die Europa auf irregulärem Wege er­ reichen, Asylsuchende (auch wenn die Mehrheit berechtigte Gründe nennt), aber alle haben ein Recht auf Schutz. Und dieses Recht auf Schutz wird ihnen zunehmend verweigert.

Angstgetrieben

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Hintergründe der Einwanderungskontrolle Die Ursprünge und die aktuellen Ausprägungen der europäischen »Krise der Migration« haben mit vier Aspekten der Europäisierung der Ein­ wanderungspolitik zu tun (Guild 2006). Dazu müssen wir erstens fast 30 Jahre zurückgehen, zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, dem Maastricht­Vertrag von 1993 und dem Schengener Abkommen aus dem Jahr 1985. Diese Initiativen stehen für das europäische Konver­ genzprojekt, das die europäische Sozial­ und Wirtschaftspolitik harmo­ nisiert und – für diesen Kontext hier wichtig – die Freizügigkeit von Personen, aber auch von Dienstleistungen, Gütern und Kapital im ge­ samten europäischen Raum ermöglicht hat. Zweitens hatte dieses Europa ohne Grenzen unmittelbare und para­ doxe Auswirkungen auf Einwanderung und Asylpolitik. Der Kern der Debatte war eigentlich nicht, wie man die Reisefreiheit von Angehöri­ gen der europäischen Staaten innerhalb der Grenzen Europas hand­ haben sollte – auch wenn beispielsweise Großbritannien hier Einwände hatte und noch hat. Vielmehr brachte ein Europa ohne Grenzen die viel größere Herausforderung mit sich, wie man a) die Bewegung von Drittstaatenangehörigen innerhalb und außerhalb der europäischen Grenzen kontrollieren könnte und wie b) europäische Staaten die Auf­ nahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden mit Blick auf Integration und sozialen Zusammenhalt handhaben sollten. All diese Fragen stell­ ten sich zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Asylgesuche in den euro­ päischen Mitgliedsstaaten im Jahr 1992 plötzlich einen Spitzenwert von 672 000 erreichte, damals war im Übrigen Deutschland das Haupt­ aufnahmeland. Gegenwärtig sind es fast 60 Millionen Flüchtlinge und Staatenlose (UNHCR 2015), die weltweit durch Krieg und Konflikte ihre Heimat verloren haben. Der Druck, der von all diesen Schutzsu­ chenden ausgeht, ist nun besonders stark. Drittens hat die damalige Dominanz der Asylfrage nach wie vor Fol­ gen für die jetzige Haltung zur Einwanderung und zur Einwanderungs­ politik. Die unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedsländer auf das 44

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Asylproblem haben gleichzeitig den Konvergenzprozess unterminiert, die Harmonisierung von Einwanderungs­, Asyl­ und Integrationspo­ litik. Die Folge war, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, das Scheitern des Dubliner Übereinkommens von 1990 (mittlerweile sind wir bei Dublin III angelangt).1 Viertens sollte mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 die Flüchtlings­ und Asylpolitik von der dritten intergouvernemental aus­ gerichteten Säule in die supranationale erste Säule transferiert werden. Tatsächlich haben aber gerade diese Bemühungen um Konvergenz, man spricht auch von »neo­functional convergence« (Geddes 2008), tiefe politische Konflikte enthüllt. Diese Konflikte sind sowohl Ursache als auch Folge der gegenwärtigen »Einwanderungskrise«. Auf der einen Seite war der »Gesamtansatz Migration und Mobili­ tät« (GAMM) von 2005 ein frühes Ergebnis dieser Konvergenzbemühun­ gen. Und tatsächlich soll der GAMM einen »einwandererorientierten Ansatz« verfolgen, um auf der Grundlage gemeinsamer politischer Prinzipien und des Grundsatzes der Solidarität die Herausforderun­ gen und die Chancen von Einwanderung und Asylsuche in Europa zu gestalten. Vor dem Hintergrund einer Globalisierung der Migration ist eines der Ziele des GAMM so denn auch, die Einwanderung in die Eu­ ropäische Union über legale Wege zu organisieren und zu erleichtern. Dies ist begrüßenswert, weil ohne gut funktionierende Regelungen für reguläre Einwanderung die irreguläre Einwanderung unweigerlich zu­ nimmt. Immer ging es dabei darum, eine Balance zu finden zwischen dem europäischen Arbeitskräftebedarf einerseits und einer Integrations­ politik andererseits, die den vermeintlichen Einfluss von Einwanderern auf den »sozialen Zusammenhalt« und die nationale Identität steuern könnte (Zetter/Griffiths/Sigona, 2005; Zetter 2006). Insofern definiert der GAMM eine Strategie für eine EU­Politik des Dialogs und der Ent­ wicklungszusammenarbeit mit Nicht­EU­Ländern. Auf der anderen Seite haben die EU­Mitgliedsstaaten immer darum gerungen, die Prinzipien der gemeinschaftlichen Konvergenz mit den unter Druck geratenen souveränen Staatsinteressen zu versöhnen. Es

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brauchte zehn Jahre, bis das Gemeinsame Europäische Asylsystem im Jahr 2013 verabschiedet wurde. Es definiert gemeinsame Standards für die Aufnahme von Asylsuchenden sowie gerechte und effiziente Ab­ läufe bei der Anerkennung eines Flüchtlingsstatus. In der Praxis bietet das Gemeinsame Europäische Asylsystem aber wenig Gemeinsamkei­ ten, auch von einem wirklichen System oder von einem umfassenden Asyl für die, die es brauchen, kann nicht die Rede sein. Tatsächlich führt die Krise der Einwanderung dazu, dass die Mauern um die Fes­ tung Europa noch höher gezogen werden: Abschiebung von Einwan­ derern, Abwicklung von Asylgesuchen außerhalb des EU­Territoriums, mangelnde Zusammenarbeit mit Nicht­EU­Partnerstaaten an den Au­ ßengrenzen der Union.

Zahlen im Ein-Prozent-Bereich Bevor wir uns dem Kern des Arguments zuwenden, noch einige aktu­ elle Zahlen, die ein Licht auf das Ausmaß der aktuellen Krise werfen. Basierend auf einer noch jungen Erhebung (Triandafyllidou/Dimitriadi 2013) und unter Berücksichtigung verschiedener Zeitreihen lässt sich sagen, dass in der Europäischen Union die jährliche Einwanderungs­ quote (regulär, irregulär und im Rahmen von Asylverfahren) bezogen auf eine EU­Gesamteinwohnerzahl von 500 Millionen Menschen kaum mehr als ein Prozent ausmacht. 2013 lag die reguläre Einwanderung bei 1,2 Millionen Menschen, also ungefähr 0,2 Prozent der EU­Bevöl­ kerung. Die irreguläre Migration (2008) zwischen 1,9 und 3,8 Millio­ nen beziehungsweise 0,25 und 0,8 Prozent (Triandafyllidou 2009); dazu kamen 2013 in die EU 450 000 Asylsuchende, 136 000 erhielten die eine oder andere Form des Schutzes, was bezogen auf die euro­ päische Gesamtbevölkerung einen Anteil von 0,02 Prozent ausmacht (Eurostat 2014).2, 3 Die Zahl irregulärer Einwanderer scheint anzusteigen. Im ersten Halbjahr 2015 kamen beispielsweise 102 000 Migranten über das Meer, 46

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vor allem nach Italien und Griechenland (IOM 2015).4 Eine Stichprobe aber zeigt, dass ungefähr 75 Prozent dieser Migranten aus den Haupther­ kunftsländern von Flüchtlingen stammen wie Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan und Sudan oder aus Staaten mit schwelenden Konflikten wie Nigeria und Mali. Diese Zahlen sind aufschlussreich, weil sie zeigen, dass bei aller po­ litischen Rhetorik, Migranten nur einen äußerst geringen Teil der ge­ samten EU­Bevölkerung ausmachen und dass es sich bei der Mehrheit dieser Migranten eben nicht um »Scheinasylanten« oder Wirtschafts­ flüchtlinge handelt, sondern um Menschen mit einem wohlbegründe­ ten Anspruch auf Asyl.

Aufbau eines Abschottungsregimes Nachdem ich nun die Hintergründe beleuchtet habe, komme ich zum Kern der Argumentation: Die »Krise der Einwanderung« ist eine poli­ tische Krise. Die europäischen Staaten haben versucht, die Normen eines globalen Schutzsystems an die aktuelle politische Agenda bezie­ hungsweise an die politische Wirklichkeit anzupassen. Aber dieses Kon­ zept passt nicht zu der momentanen Einwanderungsdynamik und zu den Schutzbedürfnissen der Flüchtlinge. Entsprechend ist der Schutz­ raum für Einwanderer innerhalb der EU und an den Grenzen der EU stark geschrumpft. Dieses Zusammenspiel von Einwanderungsma­ nagement und nachlassendem Schutz behandle ich nun in vier Unter­ abschnitten. Zunächst geht es noch einmal um den Gesamtansatz Migration und Mobilität; im zweiten Schritt widme ich mich dem eu­ ropäischen Grenzschutz; den dritten Punkt bilden die neuen Grenz­ ziehungen in Europa, die Strategien von de­bordering und re­border­ ing; der vierte Punkt stellt das Gemeinsame Europäische Asylsystem dar.

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Der GAMM bietet einen umfasssenden migrationspolitischen Rahmen, aber in seinem Kern geht es nur um eine technokratische Behandlung des Flüchtlingsproblems, es geht nicht um eine normative Begründung des Schutzes von Flüchtlingen, die auf der Höhe der Zeit wäre. Die ganze Ambivalenz wird an der Art und Weise deutlich, wie der GAMM umstrittene politische Themen angeht: irreguläre Migration einschrän­ ken, Kampf gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel intensi­ vieren, EU­Außengrenzen stärken. Konkret sind das der Ausbau der Task Force for the Mediterranean, deren Handlungen darauf abzie­ len sollen, Einwanderer daran zu hindern, die gefährliche Fahrt nach Europa überhaupt erst anzutreten, und irreguläre Einwanderer schnell abzuschieben. Im Grunde offenbart der GAMM, unter welcher Span­ nung Einwanderungspolitik ganz generell steht. Diese ist stets hin­ und hergerissen zwischen verschiedenen Interessen. Natürlich muss der Schutz von Flüchtlingen eingebettet sein in eine einwanderungspoli­ tische Strategie. Gleichzeitig besteht jedoch immer die Gefahr, dass Einwanderungspolitik nur aus der Perspektive der Abwehr von irregu­ lären Einwanderern gesehen wird. Kurz gesagt: Wir opfern den Wert des Schutzes dem Interesse der Einwanderungskontrolle. So wie andere große Einwanderungsländer, die sich mit der neuen Dynamik internationaler Migration auseinandersetzen müssen – etwa USA oder Australien5 –, hat auch Europa ein starkes »Abschottungs­ regime« aufgebaut. Dieses Regime wird als »Festung Europa« bezeich­ net, als »Verstärkung« der europäischen Außengrenzen (Geddes 2008; Levy 2010), als sicherheitspolitisches Framing der EU (Zetter 2014a). Dieses Regime hat die Möglichkeiten des Schutzes für Flüchtlinge, Asyl­ suchende und Opfer erzwungener Auswanderung stark eingeschränkt. Die prekäre Situation von Einwanderern, die das Mittelmeer überque­ ren, sowie die mediale Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzun­ gen und für jene Flüchtlinge, die auf der Flucht ertrinken, haben auf dramatische Weise die Dilemmata der Abschottungspolitik gezeigt. Die­ ses Regime greift auf eine ganze Reihe von Maßnahmen und Instru­ menten zu, um die Sicherheit der gemeinsamen Außengrenzen zu ge­ 48

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währleisten. Dazu gehören etwa die Begründung und der Unterhalt von Frontex (European Agency for the Management of Operational Co­ operation at the External Borders of the Member States of the Euro­ pean Union), von EUROSUR (European External Border Surveillance System), des EASO (European Asylum Support Office) und der Task Force for the Mediterranean. Weitere Maßnahmen sind strengere Grenzkontrollen sowie die Errichtung von Grenzzäunen in Griechen­ land und Bulgarien. Diese realen und symbolischen Instrumente ge­ hen einher mit Versuchen, die Asylpolitik der EU­Länder durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) und das Dubliner Ab­ kommen einander anzugleichen. Dieses ganze Maßnahmenbündel stellt eine bemerkenswert umfas­ sende und konsequente Abschottungspolitk dar. Auch straft es die Be­ hauptung der EU Lügen, dass GEAS und GAMM schutzverstärkend wirken. Tatsächlich werden die Flüchtlinge in Gefahr gebracht; Men­ schenwürde, Menschenrechte und der Anspruch auf Schutz verlieren an Bedeutung. Unter diesen Umständen wird sich die Schutzkrise an den europäischen Grenzen noch ausweiten. Der Schutz für Einwande­ rer und Flüchtlinge ist in Gefahr. Gerade Ausmaß und Intensität dieser Abschottungsmaßnahmen zeigen, dass die EU nicht die Mittel hat, um irreguläre Einwanderung effektiv einzudämmen oder zu verhindern. Das ist schon deswegen unmöglich, weil es nicht ausreichend legale Möglichkeiten gibt, um nach Europa zu gelangen. Noch dazu hat die EU nicht die passenden Mittel, um zwischen unterschiedlichen Kategorien von Einwanderung und Flucht zu unterscheiden und um die jeweils angemessene Form des Schutzes zu gewähren. Weil die Einwanderer auf illegale Einreise­ wege ausweichen müssen, setzen sie sich lebensgefährdenden Risiken aus, werden zu Opfern von Menschenhandel und Ausbeutung (IFRC 2013). Kurz: Irreguläre Einreisen und ihre Gefahren sind intrinsisch verbunden mit der Politik der Abschottung. Als Folge werden Einwan­ derer immer schlechter geschützt, und zwar besonders jene, die einen berechtigten Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus haben.

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Die ständigen Änderungen im Bereich des Grenzschutzes der EU sind Ausdruck eines tiefen Dissenses unter den europäischen Mitgliedsstaa­ ten, was die Krisenbewältigung angeht. Widersprüchliche Standards beim Flüchtlingsschutz sind die Folge; sie gefährden die Einwanderer noch mehr. Nach der Katastrophe auf Lampedusa im Oktober 2013, bei der mehr als 360 Einwanderer im Mittelmeer ertranken, wurde die Mare­Nostrum­Initiative unter der Führung der italienischen Regie­ rung ins Leben gerufen. Die Idee der Abwehr und der Abschiebung wurde aufgegeben zugunsten der Idee der Rettung und der sicheren Ankunft in Europa. Dies hat den Schutzaspekt zumindest zeitweise aufgewertet. Mit dem Argument, dass Mare Nostrum bloß den Men­ schenschmuggel anheize, und alarmiert von der Sekundärmigration über Italien und Griechenland in das europäische Kernland, haben sich dann allerdings einige Mitgliedsstaaten der EU schon bald für eine Rückkehr zum strengeren Vorgehen aus der Zeit vor Mare Nostrum ausgesprochen. Dass Mare Nostrum durch die Operation Triton er­ setzt wurde, hat nicht die Zahl der Einwanderer gesenkt, aber die Zahl der Todesfälle auf See erhöht, weil die Einwanderer wegen der geringe­ ren Schutzstandards im südlichen Mittelmeer nun höhere Risiken auf sich nehmen mussten. Deshalb wurde im Frühjahr 2015 wiederum die Operation Triton gelockert und durch Such­ und Rettungsmaßnahmen ergänzt. Es ist allerdings fraglich, ob diese wenigen Anstrengungen schon ausreichen. Nötig wäre es vielmehr, noch einmal grundsätzlich über den Wert von Asyl und Schutz nachzudenken. Ungeachtet aller Bemühungen um Einwanderungskontrolle sorgt eine Vielzahl von Migranten ohne Papiere für eine Überlastung der nach­ geordneten Verwaltungsstellen, weil die Aufnahme, die Zulassung, die Statusbestimmung und die Einreiseprozeduren mit der Menge der Ein­ wanderer nicht Schritt halten können. Noch bedeutsamer ist aber, dass Mare Nostrum und Operation Triton die politischen Spannungen zwi­ schen den Mitgliedsstaaten wieder verstärkt haben. Italien etwa argu­ mentiert, dass es als »Grenzland« die Hauptlast trage, aber zu wenig Unterstützung durch andere europäische Mitgliedsstaaten erhalte. An­ 50

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dererseits argumentieren die Nordländer, dass auch sie die Last großer Einwandererzahlen trügen, die aus Italien angereist kämen. Diese könn­ ten sie nicht nach Italien zurückschicken, wie eigentlich von Dublin III vorgesehen, weil Italien die notwendige Personenregistrierung – etwa durch Fingerabdrucknahme – nicht streng genug vornehme. Radikale Vorschläge der Europäischen Kommission vom Mai 2015 für eine quotengeregelte Umverteilung von 40 000 kürzlich eingereisten Ein­ wanderern mit einer 75­prozentigen Chance auf Asyl6 stießen deshalb wenig überraschend auf Widerstand bei den Mitgliedsländern (Tray­ nor 2015). Deutschland, Schweden und Österreich sind die Haupt­ unterstützer dieses Vorschlags, andere Länder, die wie Großbritannien nur wenig Einwanderer aufnehmen, stimmen dagegen. Die Gemein­ same Europäische Asylpolitik betont den Wert der Solidarität und des Lastenausgleichs, es ist jedoch fraglich, wie nachhaltig diese Prinzipien sind.

Europas neue Grenzen Während die EU ihre Außengrenzen verstärkt hat, hat sie zugleich einen Prozess vorangetrieben, den man mit den Begriffen »Entgrenzen« und »Begrenzen« bezeichnen könnte, de­bordering und re­bordering (De Giorgi 2010; Harding 2012). Zu nennen sind hier Mobilitätspart­ nerschaften und bilaterale Vereinbarungen mit Drittstaaten und Tran­ sitländern bezüglich Arbeits­ und Flüchtlingsmigration (European Commission 2007). Die Ziele hier sind die Verbesserung des Einwan­ derungsmanagements, damit »Einwanderung und Mobilität sowohl für die EU als auch ihre Partner nutzbringend sind« (Europäische Union 2011), sowie die Verbesserung von Schutz und Asyl in denjenigen Ländern, in denen es um Menschenrechte schlecht bestellt ist.7 Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Mobilitätspartnerschaf­ ten wenig mit echter Mobilität zu tun haben. Es geht vielmehr dar­ um, die Verantwortung und Verpflichtung, Menschen zu schützen, auf

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Drittländer mit geringer Immigrationsquote abzuwälzen und in das europäische Einwanderungsregime einzubinden. Diese Partnerschaf­ ten ermöglichen es, Migranten frühzeitig abzufangen und abzuschie­ ben und abgelehnte Asylbewerber schneller zurückzuführen. Die »Partnerschaften« sind also eine weitere Waffe im Rahmen der euro­ päischen Aufrüstung der Einwanderungskontrolle. Diese extraterri­ toriale Handhabe der Einwanderungskontrolle verhindert außerdem, dass nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisa­ tionen, wie etwa das European Council on Refugees and Exiles (ECRE), die Prozedur beobachten können. So wird die demokratische Kon­ trolle des Flüchtlingsschutzes reduziert. Sogar wenn es funktionieren sollte: Eine Stärkung des Schutzes in den Transitländern ist kein Er­ satz für einen Schutz innerhalb der EU. Die Mobilitätspartnerschaf­ ten verweigern das in der Flüchtlingskonvention von 1951 verankerte Recht, wonach jeder Flüchtling im Land seiner Wahl Schutz suchen darf. Zudem werden durch diese Politik drei völlig unterschiedliche Aspekte der Einwanderungsfrage vermischt: das Einwanderungsma­ nagement, die Stärkung der europäischen Grenzkontrolle und das Recht auf Schutz.

Schutz innerhalb Europas – das Gemeinsame Europäische Asylsystem Welchen Schutz können Einwanderer in Europa erwarten? Die Leitge­ danken eines möglichen Schutzes werden etwa durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem und das Post­Stockholm­Programm8 definiert. Nach mehr als einer Dekade des Verhandelns – allein diese Zeitspanne ist schon Ausdruck der Spannungen unter den europäischen Mitglieds­ staaten – wurde das GEAS im Juni 2013 eingerichtet. Es umfasst einen Katalog von Direktiven und Regulierungen,9 die die Minimalstandards für die Aufnahme, die Weiterleitung und die Auslegung von Asyl in der EU beinhalten, damit eine einheitliche Handhabung bei allen Mit­ gliedsstaaten erreicht wird. 52

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Ein funktionierendes Asylsystem der europäischen Mitgliedsstaaten ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem effektiven Schutz von Flücht­ lingen. In dem Versuch, gerechte und effiziente Abläufe zu schaffen, dominiert der Effizienzgedanke. In vierfacher Hinsicht zeigt das GEAS, wie sich der Schutzraum in Europa verringert hat. Das erste und wichtigste Problem ist, dass die Straffung der Asylpro­ zedur zu einem schlechten Schutz von Flüchtlingen führt. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum Menschen aus ihrem Heimatland fliehen müssen; man kann gezwungen sein, die Heimat zu verlassen, ohne ein politischer Verfolgter im Sinne der klassischen Flüchtlings­ definition zu sein. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem trägt die­ ser Komplexität nicht im Geringsten Rechnung. Das zweite Problem ist der Mangel an Konsistenz und Kohärenz in der Schutzgewährung durch die EU­Mitgliedsstaaten, obwohl doch gerade die Harmonisierung eines der Hauptziele des GEAS war. Tat­ sächlich hält der jüngste »Eurodac Report« fest: »Es gibt sehr große Unterschiede im Umgang mit Asylanträgen innerhalb der EU­Mit­ gliedsstaaten. Dies steht womöglich mit der Staatsbürgerschaft der Antragsteller in Zusammenhang und ist zudem Ausdruck der unter­ schiedlichen Asyl­ und Einwanderungspolitiken, die in den Ländern zur Anwendung kommen« (Eurostat 2014). Ausdruck dieser vielen Unterschiede (etwa bei der Aufnahme, dem Zugang zur Asylprozedur und der Statusbestimmung, der Nationali­ täten­ und Altersbestimmung, der Möglichkeit, Widerspruch gegen einen negativen Bescheid erheben zu können, der Abschiebepolitik) sind nicht zuletzt die Anerkennungsraten bei Asylverfahren. Während 2013 in Griechenland nur vier Prozent und in Frankreich 18 Prozent aller Asylverfahren in erster Instanz positiv beschieden wurden, lag die Rate in Italien bei 60 Prozent, in Schweden bei 53 Prozent und in der Schweiz bei 40 Prozent (Eurostat 2014). Das dritte Problem ist, dass zwar vorgeblich – wie in vielen anderen Politikfeldern auch – eine Harmonisierung, Solidarisierung und das Prinzip des Lastenausgleichs angestrebt wird, tatsächlich wird diese

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Idee im GEAS mantraartig wiederholt. Doch diese Harmonisierung harrt tatsächlich immer noch der Umsetzung. Und das hat Folgen für den Schutz der Einwanderer und Flüchtlinge. Lastenverteilung und Solidarität sollten für gleiche Standards und Verfahren sorgen. In der Praxis tun sie das aber nicht. Paradoxerweise führte gerade der Wegfall der Grenzen im europäischen Innenraum infolge des Schengen­Pro­ zesses einerseits zu einer Verstärkung der Außengrenzen der EU und andererseits zu weniger Solidarität und weniger Lastenausgleich in­ nerhalb der EU. Die Dubliner Übereinkunft war ursprünglich als ex­ plizit EU­weite Antwort auf den Anstieg der Asylbewerberzahlen konzipiert gewesen. Tatsächlich hat sie zu dem paradoxen Ergebnis geführt, dass die nationalen Interessen der nordwesteuropäischen Mitgliedsstaaten (dem Haupteinreiseziel für Asylsuchende ohne Papie­ re und andere Einwanderer) gestärkt wurden. Diese Staaten schicken eine wachsende Zahl von Asylbewerbern an die Staaten der Peripherie zurück, wohin die Mehrheit der Einwanderer zuerst gekommen war (dabei handelt es sich vor allem um Italien und Griechenland, aber auch andere europäische Grenzstaaten wie Spanien, Rumänien und Zypern). Besorgniserregend ist schließlich viertens, dass wegen der Dominanz der Asylfrage der größere Zusammenhang der Einwanderungspolitik aus dem Blick gerät, und zwar vor allem in den Mitgliedsstaaten, die politisch unter dem Druck stehen, die Asylfrage und die Einwanderungs­ krise zu »lösen«. Das GEAS kann jedoch nur im Rahmen eines euro­ päischen Einwanderungsprogramms wirklichen Schutz bieten. Dieses Programm müsste einen leichteren Zugang für Flüchtlinge beinhalten, einen verbesserten Schutz sowie eine stimmige Regelung der Arbeitsmi­ gration, was wiederum den Druck von der irregulären Einwanderung nehmen könnte. Wenn man Einwanderung nur unter dem Blickwin­ kel der Asylfrage sieht, gerät zweierlei aus dem Blick: die größeren Ziele der Einwanderungspolitik und der Schutz, den jene brauchen, die nicht eindeutig den definieren Flüchtlingskriterien entsprechen.

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Das sicherheitspolitische Framing der Einwanderung Neben dem vor allem volkswirtschaftlich geprägten Diskurs eines eu­ ropäischen Arbeitskräftebedarfs und den Herausforderungen, vor de­ nen sich die europäischen Mitgliedsstaaten durch die internationale Migration sehen, gibt es eine neue politische Rhetorik. Was die Men­ schen in der »Festung Europa« nunmehr umtreibt, ist die »Securitisation of Migration«, also die sicherheitspolitische Aufladung, das sicher­ heitspolitische Framing des Themas »Migration«. Einwanderung im Allgemeinen sowie Asylsuche im Besonderen werden zunehmend als Aspekt der Terrorgefahr in Europa beschworen. In der Vorstellung eu­ ropäischer Politiker wird dieses neue Paradigma vor allem durch die Ereignisse des 11. Septembers gerechtfertigt, durch die Bombenatten­ tate in Madrid und London in den Jahren 2004/2005, durch den An­ griff auf Charlie Hebdo in Paris 2015 sowie durch die gesellschaftlichen Konflikte, an denen Migrantengruppen beziehungsweise ethnische Min­ derheiten beteiligt waren, so etwa in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Italien. Ohne alle diese Ereignisse verharmlosen zu wollen, ist doch die Gefahr, die heraufbeschworen wird, nicht immer real (Buzan/Waever/Wilde 1998). Es gibt eben vor allem eine gefühlte Bedrohung unserer Wertesysteme. Dass eine große Zahl von Asylbe­ werbern irregulär einreist, verstärkt dieses Gefühl noch einmal, ganz unabhängig von der Tatsache, dass viele dieser Einwanderer berechtig­ ten Anspruch auf Schutz haben. Der Diskurs der Bedrohung zeigt noch einmal die widersprüchlichen Dynamiken in der europäischen Einwanderungspolitik. Viele der Län­ der, die für ein hohes Flüchtlingsaufkommen verantwortlich sind, etwa Afghanistan, Syrien, Irak, Somalia und Eritrea, sind zugleich jene Länder, deren mangelnde Sicherheitsstandards als größte Gefahr für die europäische Sicherheit ausgemacht werden. Ironischerweise sind es aber wiederum genau jene mangelnden Sicherheitsstandards im Her­ kunftsland – schwache Regierungen, die Unfähigkeit, für den Schutz vor Verfolgung und Gewalt zu sorgen –, die doch eigentlich einen An­

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spruch auf Asyl begründen würden. Diese Flüchtlinge werden also mit einer »Identität des Schreckens« versehen, was wiederum ihre Chan­ cen auf Asyl verringert. Gerade jene Menschen, die am meisten unse­ ren Schutz bräuchten, bekommen ihn nicht, weil man ihnen unterstellt, sie seien eine Gefahr für die Sicherheit. Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, auf legalem Weg nach Europa zu gelangen. Europa bietet immer weniger humanitären Schutz, es ist schwieriger geworden, Familienmitglieder nachzuholen. Verschärfte Visabestimmungen, die Kriminalisierung der Fluchthilfe, verstärkte Pass­ und Grenzkontrollen tun ein Übriges. Alles führt da­ zu, dass die Betroffenen zunehmend auf irreguläre Einreisewege aus­ weichen müssen. Die Klischeevorstellung großer, gut organisierter Schmugglernetzwerke dient dazu, vor Einwanderern zu warnen; und sie dient auch als Rechtfertigung, um die Grenzen immer schärfer zu überwachen. Die gefühlte Bedrohung wird noch durch eine Kultur der Ignoranz (Robinson 1999) verstärkt, die irreguläre Einwanderer kriminalisiert. Das Bild des »illegalen Migranten« oder »Scheinasylanten« bestärkt das Sicherheitsparadigma. Der Einwanderer wird zum Schreckgespenst, weil er das Recht auf Schutz und den Anspruch auf Sozialleistungen ausnutzt. Aber irreguläre Einwanderung ist keine illegale Einwande­ rung. Irreguläre Einwanderung ist kein Verbrechen. Und es ist doch vor allem die Abschottungspolitik, die Einwanderer zwingt, auf unkon­ ventionellem Weg Schutz zu suchen. »Illegalität« ist eine Konstruktion, kein objektiver Zustand. Erst konstruieren wir Asylsuchende als Op­ fer, doch wenn sie diesem Stereotyp nicht entsprechen (Zetter 2007), wenn sie ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich entscheiden, »il­ legal« einzureisen, dann erklären wir sie zu Opportunisten, die keinen Anspruch auf Schutz haben, wozu wir eigentlich moralisch verpflich­ tet wären. Vorstellungen von Asylsuchenden als »illegal«, irgendwie heimlichtuerisch und kriminell finden ihren Widerhall im öffentlichen Umgang mit Asyl und Migration. Dieser konstruierten Gefahr wird 56

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dann wiederum begegnet, indem man das Einwanderungsthema si­ cherheitspolitisch auflädt und sich noch weiter abschottet. Die europäische Einwanderungspolitik ist vor allem von der Idee getrieben, die nationalen Bevölkerungen vor Fremden schützen zu müs­ sen. Daneben geht es auch darum, für gute »Nachbarschaftsbeziehun­ gen« unter einer wachsenden Zahl ethnischer Gruppen zu sorgen so­ wie die einheimischen Arbeitsmärkte zu stabilisieren. Weniger wichtig ist das Recht auf Schutz (Geddes 2003, 2008; Lavenex 2001; Zetter 2014a). Je mehr über »Einwanderung als Sicherheitsrisiko« gesprochen wird, desto restriktiver werden staatliche Maßnahmen – und genau das ist in der EU mit dramatischen Folgen geschehen. Das Sicherheits­ paradigma hat die Rechte von Flüchtlingen und ihren Anspruch auf Schutz eingeschränkt (Huysmans 2006; Zetter 2015). Dadurch aber wird die Vision einer Europäischen Union als Ort der Freiheit und Gerechtigkeit (European Commission 2001) einem einzigen Interesse geopfert: dem der Sicherheit. Aus dem Englischen von Christina Knüllig und Jakob Schrenk.

Anmerkungen 1 Im Dubliner Übereinkommen werden die Anträge auf Asyl auf das Erstaufnahmeland be­ schränkt, im Fall eines innereuropäischen Transits kann der Asylsuchende dorthin zurückge­ schickt werden. 2 Die UNHCR nennt 398 200 registrierte Asylbegehren für 2013 (UNHCR 2014). 3 Hinzu kommt: Vier Prozent der EU­Bevölkerung, also 20,4 Millionen Menschen, sind Ange­ hörige von Drittstaaten. 4 Andere Schätzungen verweisen auf 220 000 illegale Einwanderer, die 2014 Italien und Grie­ chenland erreicht haben (Traynor 2015). 5 Australien bearbeitet Asylanträge auf Nauru, auf der Insel warten gegenwärtig mehr als 1100 Asylsuchende in Auffanglagern. 6 Vor allem Eritreer und Syrer.

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7 Partnerschaften bestehen zu Moldawien, Georgien, Armenien, Marokko, Tunesien, Mali und dem restlichen Afrika (mit der ILO als Partner), bilaterale Abkommen zwischen Italien und Libyen, Frankreich und Tunesien sowie zwischen Tunesien und Spanien beziehungsweise Spanien und Marokko. 8 Das Stockholm­Programm (2009–2014) bildet den Rahmen für die Harmonisierung des CEAP. Das Post­Stockholm­Programm bezieht sich auf Umstellung und Implementierung des Asyl­acquis, um bestehende Lücken im Schutz auszufüllen und zu verrechtlichen. 9 Qualification Directive 2011/95/EU (in ihrer Anwendung vom 21.12.2013), Reception Condi­ tions Directive 2013/33/EU (vom 20.07.2015), Asylum Procedures Directive 2013/32/EU (vom 20.07.2015), Dublin III Regulation 604/2013 (vom 01.01.2014), Eurodac Regulation 603/2013 (vom 20.07.2015).

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Abschiebungen Verdeckungsversuche und Legitimationsprobleme eines Gewaltakts

Wer als ethnografisch forschender Soziologe Roma­Siedlungen im Ko­ sovo und in Serbien besucht, macht eine erstaunliche Erfahrung: Es gibt keinerlei sprachliche Verständigungsprobleme. Denn in diesen informel­ len Siedlungen, von denen einige den Slums aus dem globalen Süden ähneln, die wir alle aus den Medien kennen, gibt es zahlreiche Men­ schen, die Deutsch sprechen. Es handelt sich dabei um Abgeschobene. Sie kamen als Flüchtlinge nach Deutschland, haben hier einige Jahre ge­ lebt, als Kinder und Jugendliche deutsche Schulen besucht und finden sich nunmehr in einer durch Armut und Diskriminierung geprägten Elendssituation vor. Die Anwesenheit eines Deutschen erregt Aufmerk­ samkeit, und sehr bald wird man gebeten, sich die deutschen Abschiebe­ dokumente anzuschauen und eine Antwort auf die Frage zu geben, ob es eine Chance auf Rückkehr nach Deutschland gibt. In besonderer Weise im Wortsinn »ver­rückt« ist die Situation derjenigen Kosovo­Albaner, kosovarischen, montenegrinischen und serbischen Roma, die in Deutsch­ land geboren und aufgewachsen sind, aber nach langjährigem Schulbe­ such mit ihren Familien abgeschoben wurden: Zur Armut und Dis­ kriminierung kommt für sie die Herausforderung dazu, sich auf eine Gesellschaft und Kultur einzustellen, deren Standards in den Bereichen Bildung, Gesundheitsfürsorge, Sozialhilfe und Wohnen weit unter den in Deutschland üblichen liegen, in der Korruption ebenso verbreitet ist wie traditionelle patriarchalische Strukturen. Was das heißt, wurde in einem Gespräch mit A., erfolgreiche Absolventin des Gymnasialzweigs einer deutschen Gesamtschule, deutlich: A., eine in Deutschland auf­ 60

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gewachsene Kosovo­Albanerin, berichtet, dass sie ihr Studium nicht abschließen konnte, weil von ihr sexuelle Dienstleistungen erwartet wur­ den, damit sie einen Prüfungstermin erhält – und dies sei keineswegs ungewöhnlich. Sie wollte und konnte diese Erwartung auf Unterwer­ fung für sich nicht akzeptieren und zur Durchsetzung ihres Interesses auch nicht auf die lokal einflussreichen informellen Netzwerke zurück­ greifen. Abschiebungen stellen nicht nur in diesem Fall einen staatlichen Eingriff in individuelle Lebensführung mit gravierenden Folgen dar. Während die fatalen Auswirkungen der Abschottung der europäischen Außengrenzen inzwischen in umfangreicher Weise dokumentiert und skandalisiert werden, geschehen Abschiebungen routiniert und in erheb­ lichem Umfang, aber gewöhnlich nahezu unbemerkt und unkritisiert.1 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie es gelingt, die­ se Praxis der Abschiebungen zu verdecken und zu legitimieren.

Unsichtbarer Gewaltakt Deportationen umfassen unterschiedliche Zwangsmaßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, Ausländer, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen, aus dem nationalstaatlichen Territorium zu entfernen. In ih­ nen konvergieren zwei zentrale Prinzipien moderner Staatlichkeit: die Kontrolle über den Zugang und den Aufenthalt auf dem Territorium als konstitutives Element staatlicher Souveränität sowie die Monopoli­ sierung der legitimen physischen Gewalt. Denn Deportationen sind dadurch gekennzeichnet, dass staatliche Gewalt zur Beendigung eines als illegal definierten Aufenthalts angewandt und dadurch Staatlich­ keit hergestellt wird. Entsprechend heißt es im Aufenthaltsgesetz: »Ein Ausländer ist zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assozia­ tionsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht« (§ 50).

Abschiebungen

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»Der Ausländer ist abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint« (§ 58). Die Anwendung polizeilicher Gewalt zur Durchsetzung von Ausreise­ verpflichtungen erzeugt ein eigentümliches Legitimationsproblem. Denn moderne Gesellschaften des mittel­ und nordeuropäischen Typus neh­ men ein unaufrichtiges Verhältnis zu der für ihre Funktionsfähigkeit unabdingbaren physischen Gewalt ein.2 Sie zeigen ihre organisierte Ge­ waltfähigkeit gewöhnlich nicht mit kriegerischem Stolz vor, sondern versuchen möglichst unsichtbar zu machen, dass sie zur Aufrecht­ erhaltung ihrer Ordnung auf die Androhung und auch Anwendung von organisierter staatlicher Gewalt angewiesen sind. Ihr Ideal ist die Gewaltfreiheit. Deshalb ist die Anwendung der zur Ordnungssiche­ rung unabdingbaren legalen Gewalt legitimationsbedürftig, und diese Gewalt wird ungern beim Namen genannt.3 Die Fallzahlen der durch die Androhung oder Anwendung psy­ chischen Zwangs herbeigeführten Deportationen sind erheblich: In den zurückliegenden 20 Jahren wurden 421 748 Personen aus Deutschland in ihr Herkunftsland abgeschoben, 260 023 aus Deutschland in ein Durchreiseland des Schengen­Raums4 zurückgeschickt und 415 874 zur sogenannten »freiwilligen Ausreise« gezwungen. Die Gesamtzahl der Deportationen – der rechtlich legitimierten Praktiken, durch die Men­ schen aus dem Staatsgebiet geschafft werden – betrug damit in diesem Zeitraum über eine Million. Nach einem deutlichen Rückgang nach dem Jahr 2000 lag sie zuletzt bei über 20 000 pro Jahr und ist aktuell ansteigend. Im ersten Halbjahr 2015 wurden bereits über 21 000 Men­ schen zur Ausreise gezwungen. Die Verdeckung des realen Geschehens beginnt bereits bei der Be­ zeichnung: Während der Terminus »Abschiebungen« noch deutlich an­ zeigt, dass es sich um eine Zwangsmaßnahme handelt, suggeriert die Rede von »freiwilliger Ausreise«, dass diese nicht gegen den Willen der 62

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Betroffenen geschieht. Das ist jedoch keineswegs der Fall: Die soge­ nannten freiwilligen Ausreisen sind lediglich eine letzte Möglichkeit, auf einen polizeilichen Zugriff und Zusatzsanktionen zu verzichten. Wer abgeschoben wird, dem wird eine bis zu fünfjährige Wiederein­ reisesperre in den Schengen­Raum auferlegt, und er ist verpflichtet, die Kosten der Abschiebung zu erstatten. Dies kann vermieden werden, wenn man sich selbst außer Landes schafft, also dem Zwang »freiwil­ lig« folgt. Die Bemühungen, Deportationen möglichst unbemerkt zu vollzie­ hen, sind keineswegs auf solche Sprachpolitik begrenzt, sondern betref­ fen auch den Vollzug: Die Durchführung von Abschiebungen geschieht gewöhnlich durch nächtliche Zugriffe der Polizei, mit denen Einzelne und Familien in Gewahrsam genommen und zu einem Abschiebe­ transport gebracht werden. Wer abgeschoben werden soll, darüber wird der politischen und medialen Öffentlichkeit ebenso jede Infor­ mation vorenthalten wie über den Zeitpunkt von Abschiebungen. Ent­ sprechende Anfragen von Initiativen, aber auch der Presse und von Landtagsabgeordneten, werden von den zuständigen Ministerien und Behörden abschlägig beschieden. Begründet wird dies wiederkehrend mit dem Vorrang polizeilicher Taktiken vor dem öffentlichen Informa­ tionsinteresse. Bürgergesellschaftliches Engagement in der Form von Protesten, die den Vollzug von Abschiebungen stören könnten, soll eben­ so vermieden beziehungsweise erschwert werden wie eine kritische Berichterstattung durch die Presse. Denn was erst gar nicht sichtbar wird, muss nicht legitimiert werden. Öffentlich bekannt und zum An­ lass von Protesten werden konkrete Einzelfälle nur dann, wenn die Be­ troffenen selbst oder ihre Rechtsanwälte vorab in Kenntnis gesetzt wurden. In solchen Fällen wird versucht, Kontakte zu zivilgesellschaft­ lichen Initiativen – sofern diese im lokalen Kontext vorhanden sind – sowie zur Presse herzustellen. Initiativen versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, widerständige Aktivitäten in die Wege zu leiten. Um auch dies zu vermeiden, werden Abschiebungen beim zweiten Versuch den Betroffenen und ihren Anwälten nicht mehr angekündigt.

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Auch die Form der Abtransporte ist auf Unsichtbarmachung ausge­ richtet. Sie geschehen überwiegend durch Charterflüge von Kleinflug­ häfen aus, so etwa vom Baden­Airpark bei Karlsruhe, von dem aus bundesweite Sammelabschiebungen in die Westbalkanstaaten erfolgen. Mit der Durchführung beauftragt ist hier die Bulgaria Air. Die Ter­ mine und Zielflughäfen finden sich nicht auf den im Flughafen und im Internet öffentlich zugänglichen Abflugplänen. Denn regelmäßige Char­ terflüge, zum Beispiel vom Baden­Airpark nach Priština/Kosovo oder Skopje/Mazedonien, wären leicht als Flüchtlingsdeportationen zu er­ kennen. Trotz dieser gezielten Unsichtbarmachung werden sie immer wieder bekannt.5 Dies führt zu punktuellen Protesten, die jedoch nur geringe Resonanz finden.

Vollzugsdefizite, Widerstände, Kontingenz Trotz der vielfältigen Bemühungen, die Durchsetzbarkeit von Abschie­ bungen zu gewährleisten, werden durch staatliche Institutionen Vollzugs­ defizite beklagt. So stellte die AG Rück – eine gemeinsame Arbeits­ gruppe des Innenministeriums, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Bundespolizei und der obersten Landesbehör­ den – bereits 2011 fest, dass eine nachweisbar erfolgreiche Beendigung von Aufenthalten durch Abschiebungen oder Ausreise »2009 lediglich in einer Größenordnung von 15,9 Prozent und in 2010 von 14,8 Pro­ zent« der angestrebten Fälle stattgefunden habe.6 Die Anlage des Berichts entspricht der von Zygmunt Bauman darge­ stellten »Moral der Funktionalität«: »Die Bürokratie lenkt die Aufmerk­ samkeit der Funktionsträger vom Schicksal der Betroffenen ab und lenkt moralische Überlegungen in eine andere Richtung: die Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, und deren perfekte Erledigung.«7 In einer ausführlichen Betrachtung der Ursachen wird dort unter an­ derem beklagt, dass auch »rechtlich einwandfreie Maßnahmen« nicht einfach hingenommen werden, sondern zu Interventionen sowie zu 64

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Protesten führen, was für die behördlichen Sachbearbeiter und Poli­ zeibeamten demotivierend sei: »Die aufgezeigten Phänomene sind aus Sicht der Praktiker das Er­ gebnis der Situation, dass häufig Entscheidungen in einem rechtlich und menschlich schwierigen Gebiet bei komplexen, sich ständig ver­ ändernden Sachverhalten getroffen werden müssen und dass die damit verbundenen aufwendigen Bemühungen immer wieder durch kurz­ fristige neue Sachverhalte (Krankheiten, Eheschließung, neue Anträge, Petitionen, öffentlicher Druck für ›humanitäre‹ Entscheidung und vie­ les mehr) letztlich konterkariert werden. Besonders demotivierend für die Bearbeitung künftiger Fälle ist die häufig anzutreffende Situation, dass auch rechtlich einwandfreie Maßnahmen (durch alle Instanzen bestätigt) in den Medien öffentlich skandalisiert werden, ohne dass die Rechtslage und der gesetzgeberische Wille und das entscheidungs­ erhebliche Verhalten der Betroffenen gewürdigt werden.«8 Dass hier von einem »rechtlich und menschlich schwierigen Ge­ biet« die Rede ist, erstaunt nicht. Denn für die Rechtfertigung gravie­ render Eingriffe in die Lebensführung ist es hier wie in anderen Fällen von entscheidender Bedeutung, dass klare Entscheidungsgrundlagen und nachvollziehbare Entscheidungsprozesse behauptet werden kön­ nen. Moral und Recht verlangen nach Eindeutigkeit. Kontingenz oder gar Beliebigkeit untergraben dagegen die Legitimierbarkeit: Es darf er­ sichtlich nicht zufällig sein, wer abgeschoben wird und wer nicht. Schon bei etwas näherer Betrachtung der gesetzlichen Vorgaben und der Praxis der Rechtsprechung in Asylverfahren zeigt sich jedoch, dass die Situation der von Abschiebung Bedrohten weniger durch Eindeu­ tigkeit als durch die Unvorhersehbarkeit der Entscheidungen gekenn­ zeichnet ist. Deutlich wird dies bereits bei der Lektüre der komplexen Gemengelage der relevanten europäischen und nationalen Rechtsnor­ men sowie der einschlägigen rechtlichen Kommentare.9 Befragt man weiter ausländerrechtlich spezialisierte Anwälte nach den Erfolgsaus­ sichten eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Abschiebeschutz in jeweiligen Einzelfällen, dann ist eine häufige

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Reaktion ein Schulterzucken in Verbindung mit der Mitteilung, dass es keine verlässlichen Erfahrungswerte gebe. Recht vorhersehbar sind zwar die Bescheide des BAMF als erster zuständiger Behörde. Aber mit wel­ cher Verzögerung dann Gerichte auf Klagen gegen diese Bescheide reagieren – es kann sich durchaus um mehr als ein Jahr handeln – und wie gerichtliche Entscheidungen ausfallen, entzieht sich jedoch viel­ fach jeder Prognostizierbarkeit. Denn anders, als gewöhnlich angenommen wird – auch politische Repräsentanten liegen hier gerne falsch –, ist nicht allein das Vorliegen staatlich­politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts ein rechtlich anerkennungsfähiger Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingssta­ tus und damit für den Schutz vor Deportation. Auch Verfolgung durch nicht staatliche Akteure, geschlechtsspezifische Verfolgung sowie eine Diskriminierung von Minderheiten kann unter bestimmten Bedin­ gungen zur Anerkennung als Flüchtling führen.10 Folglich müssen in gerichtlichen Entscheidungen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland gewürdigt werden. Auf welche Informationsquellen da­ bei Bezug genommen wird – zum Beispiel nur auf Berichte des Aus­ wärtigen Amts und Einschätzungen des BAMF oder auch auf Analysen von Nichtregierungsorganisationen –, obliegt dabei ebenso der Ent­ scheidung der Einzelgerichte wie die Bewertung der Qualität solcher Berichte sowie der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Antragsteller.11 Die Unvorhersehbarkeit der Entscheidung resultiert zudem auch aus dem Erfordernis der Würdigung von Abschiebehindernissen. Denn auch dann, wenn kein Aufenthaltsrecht zuerkannt wird, verbietet das gel­ tende Recht Abschiebungen bei drohender Gefahr für Leib und Leben. Dies öffnet einen weiten Spielraum für die Würdigung oder Nicht­ Würdigung ärztlicher Einschätzungen gesundheitlicher Gefährdungen. Gerichte müssen sich zum Beispiel mit der Frage auseinandersetzen, ob gravierende Krankheiten in den Herkunftsländern angemessen be­ handelt werden können oder ab wann die Abschiebung dorthin im Fall einer Schwangerschaft zumutbar ist. Hinzu kommt als ein weiterer folgenreicher Unsicherheitsfaktor die sehr ungleiche Bereitschaft von 66

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Herkunftsstaaten und Durchreisestaaten, deportierte Flüchtlinge auf­ zunehmen. Ob eine Abschiebung tatsächlich vollzogen werden kann, hängt also keineswegs allein davon ab, ob die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen wird oder nicht, sondern auch an den ganz praktischen Schwierigkeiten, Abschiebung zu realisieren. Wer nicht anerkannt wird, aber aus den genannten Gründen nicht abgeschoben werden darf oder kann, der wird zum Geduldeten.12 Diese Schwierigkeit, Abschiebungen zu realisieren, wird durch die widerständigen Praktiken und Proteste von lokalen Initiativen und Kir­ chengemeinden sowie von überregionalen NGOs (insbesondere Pro Asyl) direkt und indirekt erhöht: In direkter Weise geschieht dies durch unterschiedliche Praktiken, mit denen die polizeiliche Durchführung von Abschiebungen erschwert werden kann, zum Beispiel Sitzblocka­ den, mit denen in einigen Fällen Abschiebungen verhindert wurden und die zumindest den erforderlichen personellen Aufwand der Poli­ zei erhöhen.13 Indirekt wird die Durchsetzbarkeit von Abschiebungen in dem Maß erschwert, wie der politische Preis dafür erhöht werden kann. Hier wird eine einfache Logik des politischen Systems bedeutsam: Je mehr politisch Verantwortliche daran glauben, dass eine relevante Zahl ihrer potenziellen Wähler Deportationen ablehnt, desto geringer ist das politische Interesse, diese durchzusetzen. Auch hier greifen im hegelschen Sinn zufällige, das heißt keinem vernünftigen Prinzip folgende Einflussfaktoren: Widerständige Prakti­ ken haben lokale Schwerpunkte, und der politische Einfluss von Flücht­ lingsinitiativen und NGOs ist regional unterschiedlich. In manchen Groß­ und Universitätsstädten können von Deportation Bedrohte mit Unterstützung durch lokale Initiativen, medialem Interesse und fachlich kompetenten Anwälten rechnen, in vielen ländlichen Regionen nicht. Aufgrund der skizzierten Aspekte ist eine Situation gegeben, in der die Legitimierbarkeit von Deportationen sehr weitgehend infrage ge­ stellt ist. Denn bestritten werden kann nicht allein die moralische Le­ gitimität von rechtlich zulässigen Abschiebungen in Länder, in denen Betroffenen Armut und Verelendung drohen. Zwar kann das von zivil­

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gesetzlichen Initiativen und NGOs wiederkehrend vorgetragene mo­ ralische Argument, dass man niemanden in Elend abschieben darf, im politischen Diskurs mit dem Verweis darauf zurückgewiesen werden, dass Armut kein rechtlich anerkennungsfähiger Fluchtgrund ist. Damit wird die Legitimationsfrage rechtspositivistisch gewendet und in der Folge zu einer Frage nach der Legitimität des Verfahrens. Wenn auf diese Weise eine moralische Kritik an rechtlichen Prinzipien neutra­ lisiert wird, entsteht jedoch ein anderer Ansatzpunkt der Kritik: Wenn die flüchtlingsrechtlichen Verfahren begründet unter den Verdacht ge­ stellt werden können, selbst den gängigen Standards rechtlicher Ent­ scheidungsfindung (Rechtssicherheit, Willkürverbot, Zugang zu ange­ messener anwaltlicher Vertretung) nicht gerecht zu werden, dann ist auch diese Legitimationsgrundlage brüchig. Die Unberechenbarkeit der Chance, im Land bleiben zu dürfen oder deportiert zu werden, wird von Kritikern der herrschenden Flüchtlings­ politik thematisiert und zur Infragestellung ihrer Legitimität verwen­ det. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass der Durchsetzung von Abschiebungen nichts anderes zugrunde liegt als wirtschaftsna­ tionalistische und sozialstaatsnationalistische Konstruktionen eigener Interessen.14 Aber auch von konservativer Seite werden die herrschen­ den Zustände inzwischen massiv beklagt. Die Formel von der »Aus­ höhlung des Asylrechts«, mit der 1992 die massive Einschränkung des Grundrechts kritisiert wurde, gewinnt in diesem Kontext eine gänzlich andere Bedeutung: »Das Asylrecht, wird es nicht rechtsstaatlich konsequent verwaltet, wird dermaßen ausgehöhlt, dass nichts mehr von ihm übrig bleibt. In der Praxis entscheidet sich das an der Rückführung (›Abschiebung‹) abgelehnter Asylbewerber, für die andere, zeitlich befristete Aufenthalts­ titel nicht in Frage kommen. Wird sie gar nicht oder nur widerwillig praktiziert, und dafür steht mittlerweile jedes zweite Bundesland, war­ um gibt es dann überhaupt ein Asylrecht? […] Die Bund­Länder­Ar­ beitsgruppe über die Mängel der Abschiebepraxis hat das schonungslos offengelegt: Nur die ›Dummen‹ unter den abgelehnten Asylbewerbern – 68

Albert Scherr

https://doi.org/10.5771/0023-5652-2015-183-60 Generiert durch Universitätsbibliothek Duisburg-Essen, am 09.08.2023, 22:50:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

das sind groteskerweise die Bewerber, die sich ans Gesetz halten – las­ sen sich abschieben. Alle anderen nutzen die Lücken, die das deutsche Verfahren bietet.«15

Kreative Politik: drei Legitimationsstrategien Auf die skizzierte zweiseitige Legitimationsproblematik wird seitens der EU und nationalstaatlicher deutscher Politik gegenwärtig vor al­ lem mit drei Strategien reagiert: Erstens soll Legitimität durch den performativen Akt erzeugt werden, der bestimmte Staaten zu »sicheren Herkunftsstaaten«16 promoviert. Die westlichen Balkanstaaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien, aus denen eine große Zahl politisch unerwünschter »Wirt­ schaftsflüchtlinge« nach Deutschland kommt, sind mittels einer politi­ schen Entscheidung zu Staaten erklärt worden, in denen keine politi­ sche Verfolgung und keine allzu gravierende Diskriminierung stattfindet. Für Albanien, Kosovo und Montenegro ist eine solche Festlegung in Vorbereitung. Als sichere Herkunftsstaaten gelten selbstverständlich auch alle EU­Mitgliedstaaten, also auch Ungarn. Gelingt es, der Öffent­ lichkeit, zuständigen Verwaltungsbeamten sowie Richtern und Staats­ anwälten einzureden, dass Anträge aus diesen Ländern offenkundig unbegründet sind, da es in diesen Ländern per definitionem keine Verfolgung gibt, dann ermöglicht dies eine moralische und rechtliche Verschiebung. Legitimationsbedürftig sind dann nicht mehr die Praxis der Verweigerung des Flüchtlingsstatus und die Deportation in diese Länder, sondern die Flüchtlinge, die behaupten, subjektiv zwingende so­ wie moralisch, rechtlich und politisch anerkennungsfähige Gründe für ihre Flucht zu haben. Dass es sich bei diesen Flüchtlingen überwiegend um Roma handelt, hat dabei einen paradoxen Effekt: Die umfassende Diskriminierung von Roma ist für diese Herkunftsländer vielfach doku­ mentiert worden. Das Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten steht damit auf tönernen Füßen. Gleichzeitig kann so aber an verbreitete

Abschiebungen

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antiziganistische Ressentiments angeknüpft werden. Denn wem ist ein Asylmissbrauch leichter zuzuschreiben als denjenigen, denen seit Jahr­ hunderten eine unehrbare Lebensführung zugeschrieben wird? Zweitens ist kürzlich in Deutschland im Deutschen Bundestag eine Reform des Aufenthaltsgesetzes beschlossen worden, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Auf der einen Seite wird durch eine Ände­ rung des Bleiberechts dafür gesorgt, dass diejenigen, die man nach lang­ jährigem Aufenthalt ohnehin nur noch gegen erhebliche Widerstände abschieben kann, unter bestimmten Bedingungen einen Aufenthalts­ titel erhalten; dies allerdings nur, wenn sie zahlreiche Voraussetzungen erfüllen. Indem die Bereitschaft dargestellt wird, rechtskonforme und am Arbeitsmarkt erfolgreiche Flüchtlinge aufzunehmen, wird somit ein moralisch positives Signal gesetzt. Auf der anderen Seite wurde im gleichen Gesetzgebungsakt eine Verschärfung von Sanktionen gegen diejenigen beschlossen, die aus dem Kreis der moralisch Rechtschaffe­ nen ausgeschlossen werden sollen. Dies betrifft insbesondere die zahl­ reichen Gründe, die nunmehr zu einer Inhaftierung von Flüchtlin­ gen führen können. Hier wird im Prinzip alles, was ein Flüchtling tun muss, um nach Deutschland zu gelangen, zu einem Delikt erklärt, zum Beispiel die Umgehung von Grenzkontrollen und Geldzahlungen an Schlepper. Das dahinter stehende Kalkül – das auch für die Unterbrin­ gung in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften folgenreich ist – nimmt an, dass Flüchtlinge dann leichter abgescho­ ben werden können, wenn sie moralisch abgewertet sind und sozial isoliert werden, also keine persönlichen Kontakte aufbauen können. Die sozialwissenschaftliche Einsicht, dass die Akzeptanz von und »die Bereitschaft zur Grausamkeit steigt, je größer die Distanz zu mutmaß­ lichen Opfer empfunden wird«17, wird damit praktisch gewendet: Eine Steigerung sozialer Distanz in Verbindung mit einer Kontrolle des Aufenthaltsorts soll die konsequentere Durchsetzbarkeit von Abschie­ bungen ermöglichen. Drittens zielen einige Maßnahmen darauf, das Spannungsverhältnis von Politik und Recht in eigentümlicher Weise aufzulösen. Da Politik 70

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in modernen Gesellschaften rechtliche Entscheidungsprämissen nicht einfach umschreiben kann, schränken rechtliche Vorgaben und Ent­ scheidungen auch im Fall des Umgangs mit Flüchtlingen das politisch Durchsetzbare ein. Deportationen werden in zahlreichen Fällen durch gerichtliche Entscheidungsprozesse erheblich verzögert und vielfach auch verhindert. Dies kann dadurch umgangen werden, dass man Flüchtlinge daran hindert, in den Geltungsbereich des deutschen natio­ nalen Rechts sowie des europäischen Rechts zu gelangen. Wer erst gar nicht aufs eigene Territorium gelangt, dessen Rechte muss man nicht prüfen und den muss man gegebenenfalls auch nicht abschieben. Ent­ sprechend ist es erklärter Teil der EU­Strategie zur Bekämpfung des Migrationsdrucks, nordafrikanische und osteuropäische Staaten zu be­ fähigen und zu motivieren, die Zugangswege zu den Außengrenzen der EU zu blockieren.

Sind Abschiebungen verzichtbar? In der preußischen Ausländerpolizeiverordnung von 1932 findet sich folgende Festlegung: »Jeder Ausländer ist zum Aufenthalt im preußi­ schen Staatsgebiet zugelassen, solange er die in diesem Gebiet geltenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften befolgt.« Auf dieser Rechtsgrund­ lage waren Deportationen nur als eine Form der Strafverfolgung von Ausländern erforderlich, der im Fall von Inländern die Inhaftierung entspricht. Moderne Gesellschaften können sich aus zwei Gründen keine solch liberale Festlegung des Aufenthaltsrechts leisten. In wohlfahrtsstaatlich verfassten Gesellschaften begründet der Aufenthalt auf dem Territo­ rium erstens Rechtsansprüche auf staatliche Leistungen, zum Beispiel ein Recht auf schulische Bildung, also auf Leistungen, die nicht belie­ big vermehrt werden können. Nur in Gesellschaften ohne Wohlfahrts­ staatlichkeit sind staatliche Aufenthaltsregulierungen dagegen verzicht­ bar. Das Prinzip ist dann: Wer bleiben will, kann bleiben, solange er

Abschiebungen

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die Gesetze einhält und sein Überleben sichern kann; er kann daraus aber keinerlei Ansprüche ableiten.18 Zweites erzeugt der Prozess der Glo­ balisierung unter Bedingungen internationaler Ungleichheiten zahl­ reiche Migrationsmotive und schafft Migrationsmöglichkeiten. Die Zahl der potenziellen Migranten ist deshalb hoch. Dies veranlasst Ge­ fährdungsszenarien. Die Lösung der offenen Grenzen für alle ist inso­ fern wenig plausibel. Um nicht missverstanden zu werden: Benannt sind damit keine ab­ soluten Grenzen der Aufnahmefähigkeit, sondern Gesichtspunkte, die in politischen Auseinandersetzungen nicht ignoriert werden können. Dabei gilt es, die folgende Einsicht zu beachten: Dass nicht alle nach Deutschland oder Europa kommen können, die gute Gründe dafür haben, heißt keineswegs, dass gar niemand kommen kann. Auch leiten sich Antworten auf die Frage, wer als Flüchtling anerkannt und wer deportiert werden soll, nicht aus selbstverständlichen, gewissen Prin­ zipien ab. Sie sind moralisch, politisch und rechtlich entscheidbar und damit zu verantworten. Solche Verantwortlichkeit kann zwar mit dem Verweis auf national definierte Kollektivinteressen und durch einen »ge­ wöhnlichen Nationalismus«19 abgelehnt werden. Die Grenzen der Na­ tion sind dann die Grenzen der eigenen Moral und Verantwortung. Wer sich der Verantwortung für Flüchtlinge auf diese Weise entzieht – und dies gilt für individuelle wie für kollektive Akteure gleichermaßen –, kann aber gleichzeitig keine Anwaltschaft für die Menschenrechte oder für globale Gerechtigkeit beanspruchen. Daraus folgt: Die Legitimationsproblematik von Abschiebungen auch in Regionen, in denen zwar keine staatliche politische Verfolgung geschieht, aber absolute Armut und Diskriminierung gegeben sind, ist nicht auflösbar. Die faktische Aufkündigung des Selbstverständnisses Deutschlands in der EU als den Menschenrechten verpflichtete Wertegemeinschaft ist keine unwahrscheinliche Variante des künftigen Umgangs mit die­ ser Problematik. Sofern dies eintritt und es dann »als ohnehin normal empfunden wird, daß Menschenrechte überall unberücksichtigt blei­ 72

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ben«20, kann problemlos abgeschoben werden. Aber nur dann. Bis auf Weiteres sind Abschiebungen in einem komplexen Konfliktfeld von Moral, Recht und Politik situiert. Es ist eine bedeutsame Aufgabe für eine kritische Öffentlichkeit, dies zu thematisieren und dafür zu sorgen, dass Deportationen nicht länger unbemerkt geschehen.

Anmerkungen 1 Skandalisierung mit medialer Resonanz: Fall der Familie Ametovic, http://www.freiburger­ forum.net/2015/01/aktuelles­zu­fam­ametovic/, dort unter dem Link Presse. 2 Vgl. Scherr, Albert: »Ordnungsstiftende und illegitime Gewalt. Perspektiven reflexiver Gewalt­ forschung«. In: Soziale Passagen 2 (2010), S. 169–181. 3 So führt es bei öffentlichen Veranstaltungen zur Empörung, wenn Abschiebung als Gewaltakt benannt wird und die Polizei als eine auf Gewaltandrohung und Gewaltanwendung speziali­ sierte Organisation bezeichnet wird. 4 Zum Schengen­Raum mit gemeinsamer Visa­ und Grenzsicherungspolitik gehören die Staa­ ten der Europäischen Union (mit Ausnahme von Großbritannien, Irland und Zypern) sowie Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein. 5 Dem Verfasser sind Hinweise bekannt, dass Behörden Whistleblower in den eigenen Reihen vermuten. 6 AG Rück: Vollzugsdefizite. Ein Bericht über die Probleme bei der praktischen Umsetzung von ausländerbehördlichen Ausreiseaufforderungen. Trier 2011. 7 Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Hamburg 1992, S. 174. 8 Ebd., S. 14. 9 Instruktiver Überblick bei Tiedemann, Paul: Flüchtlingsrecht. Heidelberg 2015. 10 Vgl. Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011, http://eur­lex.europa.eu/legal­content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32011L0095&from=DE 11 Vgl. Scherr, Albert: »Wer soll deportiert werden? Wie die folgenreiche Unterscheidung zwi­ schen den wirklichen Flüchtlingen, den zu Duldenden und den Abzuschiebenden hergestellt wird«. In: Soziale Probleme 2 (2015). 12 Duldungen sind Mitteilungen, dass auf eine Abschiebung bis zu einem gewissen Zeitpunkt, in der Regel drei oder sechs Monate, verzichtet wird; sie stellen keinen Aufenthaltstitel dar. Dul­ dungen werden häufig zu Kettenduldungen, die sich über mehrere Jahre erstrecken. 13 Bei einschlägigen Aktivisten gibt es über andere mögliche Vorgehensweisen Insiderwissen, das hier aus forschungsethischen Gründen nicht weitergegeben wird. 14 Vgl. Scherr, Albert: »Offene Grenzen? Migrationsregime und die Schwierigkeiten einer Kritik des Nationalismus«. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 171 (2013), S. 335–349.

Abschiebungen

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15 Altenbockum, Jasper von, FAZ vom 19.05.2015: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ kaum­noch­abschiebungen­warum­ueberhaupt­noch­ein­asylrecht­13601100.html 16 Das Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten ist keine deutsche Eigenheit, sondern hat Ent­ sprechungen in anderen europäischen Ländern, in Kanada und den USA. In der kanadischen Liste der »designated countries of origin« sind jedoch weder Mazedonien noch Serbien zu finden und auch nicht die EU­Länder Bulgarien und Rumänien, vgl. http://www.cic.gc.ca/ english/refugees/reform­safe.asp 17 Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Hamburg 1992, S. 169. 18 Die Situation der de facto akzeptierten Illegalität in den USA entspricht weitgehend diesem Prinzip. 19 Vgl. Pogge, Thomas: Weltarmut und Menschenrechte. Berlin/New York 2011. 20 Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1993, S. 578.

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Albert Scherr

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Miltiadis Oulios

Die Grenzen der Menschlichkeit Warum Abschiebung keine Zukunft hat

Am 15. Juli 2015 machte Angela Merkel etwas richtig. In einer Rosto­ cker Schule traf sie im Rahmen des sogenannten Bürgerdialogs auf Ju­ gendliche, um mit ihnen über das Thema »Gut leben in Deutschland« zu diskutieren. Und sie traf dabei auf die 14­jährige Schülerin Reem Sahwil. Ein Mädchen palästinensischer Herkunft, das vier Jahre zuvor mit seinen Eltern aus dem Libanon geflohen war. Auch sie würde gerne »gut leben in Deutschland«, sie repräsentierte sogar das, was gemein­ hin als gut integrierte Ausländerin verhandelt wird. Gutes Deutsch, gut in der Schule. Aber Reem Sahwil stand schon mal kurz vor der Ab­ schiebung, und auch nach vier Jahren im Land hatte sie kein Bleibe­ recht. Ihr Leid teilte sie unter Tränen der Kanzlerin im Bürgerdialog mit, ebenso wie ihren Wunsch, es endlich einmal so einfach zu haben wie ihre Mitschüler, studieren, das Leben genießen können, statt in Angst vor der Abschiebung zu leben. Die Jugendliche hat sich damit faktisch zur Bürgerin dieses Landes gemacht, ohne dies von Rechts wegen zu sein. Sie hat die Rolle, die ihr zugewiesen wird, nämlich die des Flüchtlings und sonst nichts, zurück­ gewiesen. Merkel entgegnete ihr trocken, dass der Libanon ja nicht als Land gelte, »das direkt einen Bürgerkrieg hat«, und dass Deutschland eben nicht sagen könne, »ihr könnt alle kommen«, ehe sie sie auf die Reform der Bleiberechtsregelung verwies und ihr vermittelte, dass Po­ litik »manchmal hart« sei. Dann ging sie zu dem weinenden Mädchen und versuchte, es etwas ungelenk zu trösten, indem sie es vor laufen­ der Kamera streichelte.

Die Grenzen der Menschlichkeit

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Diese Szene verbreitete sich nach einem Fernsehbericht rasend schnell in den sozialen Netzwerken, und insbesondere unter dem Hashtag #merkelstreichelt wurden im Internet der Politikerin Kälte, Heuchelei und Herzlosigkeit attestiert. Das war einer der wenigen Momente in Deutschland, in denen die CDU­Frau in dieser Art massiv kritisiert wurde, während sie es ansonsten schafft, ein »Mutti«­Image zu kreieren, das ihr häufig genau diese Kritik vom Leib hält. Merkel hat ungewollt eine Maske fallen lassen, und schon dafür müsste man ihr danken, auch wenn das nicht in ihrem Sinne wäre. Sie hat aber in einem noch viel wichtigeren Punkt etwas richtig gemacht. Sie hat die Fallstricke der humanitären Argumentation verdeutlicht. Denn sachlich betrachtet hatte Merkel recht. Tatsächlich genügen viele Menschen wie Reem und ihre Familie, die über das Asylrecht nach Deutschland migriert sind, dessen engen Anforderungen nicht, weswe­ gen sie abgeschoben oder zumindest jahrelang in einem Zustand der Entrechtung hingehalten werden. Und der Dialog zwischen dem Mäd­ chen und der Kanzlerin hat einmal mehr vor Augen geführt, dass es im Zusammenhang mit Abschiebungen nicht reicht, bloß an die Mensch­ lichkeit zu appellieren. Denn diese hat Grenzen. Nicht nur die »Mensch­ lichkeit«, sondern der Diskurs, der sich auf diesen Begriff stützend Rechte für die von Abschiebung Betroffenen begründen will. Das libanesisch­palästinensische Mädchen in Rostock hätte etwas sagen können, was sie nicht sagen kann, weil sie sich damit zwar näher an die Wahrheit, aber an die Grenzen des öffentlich legitimierten Diskur­ ses begeben hätte. Sie hätte sagen können, dass selbst wenn die deut­ schen Behörden versuchen, sie und ihre Familie abzuschieben, sie es nicht schaffen werden. Und selbst wenn sie es in ihrem Fall schaffen, werden sie in vielen anderen Fällen scheitern. Wahrscheinlich hätte sie damit den Goodwill verspielt, der in ihrem Fall dazu führte, ihrer Fa­ milie eine Aufenthaltsgenehmigung in Aussicht zu stellen. In manchem Einzelfall mag der Appell an die Menschlichkeit eine Waffe gegen eine drohende Abschiebung sein, in der Masse der Fälle ist es aber die Macht des Faktischen und der notgedrungenen Subversion. 76

Miltiadis Oulios

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Die, die trotzdem bleiben Als im Jahr 1998 die Bundesregierung beschloss, dass Bundespolizis­ ten außerhalb des klassischen Grenzraums, also auch auf Bahnhöfen und in Zügen verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen dürfen, lag die Zahl der entdeckten unerlaubten Einreisen nach Deutschland bei etwa 40 000. Seitdem führen die Beamten millionenfach solche Kon­ trollen durch, um abschiebbare Ausländer aufzuspüren. Die enorme Kontrolldichte konnte jedoch nicht verhindern, dass spätestens seit 2014 aufgrund der zunehmenden Krisen, die Menschen zur Flucht zwingen, die illegalen Einreisen nach Deutschland zunehmen. Allein im ersten Halbjahr 2015 griff die Bundespolizei über 60 000 unerlaubt eingereis­ te Personen auf. Nach über einem Jahrzehnt abnehmender Zahlen werden in Deutsch­ land seit 2009 und insbesondere seit 2013 wieder mehr Asylanträge ge­ stellt, im Jahr 2014 etwas über 200 000. Im selben Zeitraum wurden circa 43 000 Anträge abgelehnt. Das sind Menschen, denen weder po­ litisches Asyl noch eine andere Form des Schutzes oder des Abschiebe­ verbots aus humanitären Gründen zuerkannt wurde. Diese Menschen werden zur Ausreise aus Deutschland innerhalb 30 Tagen aufgefordert, und ihnen wird die Abschiebung angedroht. Bei Menschen, deren An­ trag als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt wird, wie dies bei Ge­ flüchteten aus den westlichen Balkanstaaten der Fall ist, beträgt die Ausreisefrist nur eine Woche. Nichtsdestotrotz fanden im Jahr 2014 lediglich circa 14 000 Ab­ oder Zurückschiebungen aus Deutschland statt. Davon sogar die Hälfte in EU­ oder Schengen­Staaten. In letzteren Fällen werden Menschen mit einem hohen Aufwand unter Zwang von einem europäischen Land in ein anderes gebracht, das für ihr Asylverfahren zuständig sein soll. So oder so – faktisch wird höchstens jeder Dritte derjenigen Menschen, denen die deutschen Behörden sagen: »Dich wollen wir hier nicht ha­ ben«, von Bundespolizisten gegen seinen Willen aus Deutschland her­ ausgebracht.

Die Grenzen der Menschlichkeit

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Kurz nachdem die Asylanträge wieder zunahmen, beklagten Mitar­ beiter der Innenministerien in Deutschland, dass nur etwa 15 Prozent der ausreisepflichtigen Asylbewerber tatsächlich ausreisen oder abge­ schoben werden. Ende 2014 lebten fast 155 000 solcher Menschen, die eigentlich Deutschland verlassen müssten und kein Aufenthaltsrecht besitzen, in der Bundesrepublik. Über zwei Drittel davon geduldet, fast ein Drittel sogar »unmittelbar und vollziehbar ausreisepflichtig«, wie es im Behördenjargon heißt. Viel mehr, als tatsächlich abgeschoben wer­ den können. Diese Menschen sind anderen Menschen in diesen Status gefolgt, die vor ihnen nach jahrelanger Duldung zum Teil ein Bleiberecht erreichen konnten – als Folge der Kämpfe darum und der gesetzlichen Bleiberechtsregelungen, die es immer wieder gab. Ende 2014 lebten in Deutschland über eine halbe Million abgelehnte Asylbewerber – da­ von hatten rund 47 Prozent mittlerweile eine unbefristete Aufenthalts­ erlaubnis und 38 Prozent eine befristete. Die Zunahme der Asylanträge lässt annehmen, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die sich nicht abschieben lassen (im dop­ pelten Wortsinn), in Zukunft steigen wird. Dies ist die materielle Basis einer Aushebelung der Abschiebepolitik. Und es ist zugleich der Grund, weshalb die Bundesregierung die westlichen Balkanstaaten zu soge­ nannten sicheren Herkunftsstaaten deklariert hat und Bundesinnen­ minister Thomas de Maizière mit der Reform des Aufenthaltsgesetzes höhere Abschiebezahlen erreichen möchte.

Wo sind die Lebenden? Unter dem Titel »Die Toten kommen« inszenierte das Politkunst­Kol­ lektiv Zentrum für Politische Schönheit am 21. Juni 2015 eine Aktion, die auf das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer als Folge europäi­ scher und deutscher Politik aufmerksam machen wollte. Tausende Men­ schen nahmen daran teil, marschierten auf die Grünfläche vor dem Reichstag in Berlin und hoben 100 symbolische Gräber aus, um mit der 78

Miltiadis Oulios

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ebenso symbolischen Beerdigung an die vielen Tausend Ertrunkenen zu erinnern. Um gegen das massenhafte Sterben von ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer zu protestieren, fanden auch Ende April 2015 in mehre­ ren deutschen Städten Aktionen von flüchtlingspolitischen Gruppen statt. Zentrales Motiv war dabei eine Performance auf öffentlichen Plät­ zen: Aktivisten legten sich regungslos auf den Asphalt. Ein Bild, das die Menschen symbolisieren sollte, die die europäischen Regierungen ertrinken ließen, weil ihnen der sogenannte Schutz der Grenzen wichti­ ger sei. Diese Aktionen, diese Bilder sollen die Öffentlichkeit schockie­ ren, um ihr Mitgefühl zu erregen und ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten zu erhöhen. Im vergangenen Jahr sind laut Vereinten Nationen über 3400 Men­ schen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, gestorben. Gelungen ist dies aber im selben Zeitraum mindestens 214 000 Menschen. Das sind die offiziellen Zahlen, denen auf beiden Seiten eine Dunkelziffer von Menschen gegenübersteht, die nicht ent­ deckt und registriert wurden. Es ist nicht zynisch, darauf hinzuweisen, dass sehr viel mehr Men­ schen illegalisiert über die Grenze gelangen als bei dem Versuch ums Leben kommen. Im Gegenteil, die Menschen, die dies tun, wissen nicht nur um das Risiko, sondern auch um die Erfolgschancen. Dies ist ein rationaler Grund, weshalb sie sich dem Risiko einer solchen Überfahrt aussetzen und dabei Leid in Kauf nehmen. Das Recht auf Migration, das Recht auf Bewegungsfreiheit entsteht noch vor seiner politischen Institutionalisierung durch die Praxis derjenigen, die es sich nehmen, auch wenn es ihnen von offizieller Seite nicht zugestanden wird. Oder sollten wir sagen noch nicht? Die Toten produzieren Mitleid oder, seien wir ehrlich, auch Schul­ terzucken, aber offenbar bisher keine nachhaltig andere Politik. Alle ver­ antwortlichen Politiker in Europa, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière, wussten sicher­ lich, dass die Weigerung, sich finanziell an der italienischen Seenot­Ret­

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tungsoffensive »Mare Nostrum« zu beteiligen, bedeutete, dass wieder mehr Geflüchtete ertrinken würden. Das hielt sie offenbar nicht davon ab, auf das Ende von »Mare Nostrum« zu drängen. Und auch nach den jüngsten Tragödien im Februar und April 2015 stehen in den EU­Be­ schlüssen, die das Massensterben künftig verhindern sollen, nicht die Flucht­ und Migrationsinteressen der betroffenen Menschen im Vor­ dergrund, sondern die Bekämpfung der »Schleuser« und der Schutz der Grenzen. Welche Wirkung kann also in diesem Zusammenhang das Bild der symbolischen Leichen produzieren? Es ist eine bestimmte Form der politischen Sprachlosigkeit, die aus der defizitären Beschreibung re­ sultiert. Das Einfordern von bloßen Menschenrechten und Mensch­ lichkeit als Grundlage der politischen und emanzipatorischen Arbeit. Die Viktimisierung als Ausgangspunkt des Protests gegen Rassismus. Dieser Ansatz bleibt problematisch, weil er die Artikulation der Ohn­ macht in den Vordergrund rückt, wo doch die Fähigkeit zur Selbst­ ermächtigung die Grundlage der Emanzipation und der Bekämpfung von Rassismus darstellt. Diese Selbstermächtigung praktizieren all jene Bürgerinnen und Bürger dieser Welt, die sich vom unerlaubten Grenz­ übertritt nicht abhalten und die sich in der Folge auch nicht abschie­ ben lassen. Die schwierigen Umstände, unter denen sie das tun, sollten nicht davon abhalten, eben diese Selbstermächtigung in den Vorder­ grund zu rücken. Die Menschen, um die es geht, geben sich in der Praxis eben nicht nur mit den Menschenrechten und dem Menschsein, der bloßen Ret­ tung ihres menschlichen Lebens zufrieden, sondern verlangen etwas, das über den Horizont der bloßen Menschlichkeit hinausgeht, das letzt­ lich nicht humanitär, sondern nur politisch begründet werden kann. Nur ein Bürger kann nicht abgeschoben werden. Nur der Status eines Bürgers erlaubt es einem Menschen, im gegebenen Kontext nicht be­ gründen zu müssen, weshalb er an einen Ort ziehen oder dort bleiben will. Sie praktizieren damit unter prekären Bedingungen ein transna­ tionales, mithin sogar ein Weltbürgerrecht, das es offiziell noch nicht 80

Miltiadis Oulios

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gibt. Der Begriff der »Menschlichkeit« erlaubt solch einen politischen Zugang nicht. Er entpolitisiert die Anliegen und den Konflikt um das Recht auf den Zugang zu Rechten, zum Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Flucht, auf Migration, auf Bleiberecht. Menschen, die abschiebbar sind und sich dagegen wehren, verlassen sich praktisch gesehen nicht auf den Begriff der »Menschlichkeit«, sondern nehmen das Recht auf Migra­ tion selbst in die Hand. Ein Recht, das ihnen der humanitäre Diskurs und die Menschenrechte nicht bieten können. Die Allgemeine Erklä­ rung der Menschenrechte artikuliert zwar das Recht, seinen Staat zu verlassen, aber nicht das Recht, in einen anderen einzuwandern, ohne das das Recht auf Flucht aber in der Praxis nicht realisiert werden kann. Der Politik der Abschiebung und Abschreckung steht damit die relative Autonomie der Migration gegenüber, in dem Sinne, dass die herrschende Politik viele Abschiebungen nicht durchsetzen und viele illegale Einreisen nicht verhindern kann.

Die Vorhut einer neuen Ordnung? Welche Utopie steckt nun in der Praxis der Menschen, die illegalisiert die EU­Grenzen überschreiten, die sich in Deutschland gegen ihre Aus­ grenzung und Abschiebung wehren oder die sich mit den Betroffenen solidarisieren und dadurch Abschiebungen in zahlreichen Fällen auch verhindern? Sie setzen damit implizit den Anspruch auf globale Rechte für alle auf die politische Agenda. Viel wichtiger aber: Sie können als Vorhut einer neuen Ordnung gelesen werden und sollten sich auch selbst so darstellen. Einer Ordnung, in der eine neue Form von grenz­ überschreitender Bewegungsfreiheit garantiert wird, die über die jetzi­ gen Formen hinausgeht. So wie die Reise­ und Niederlassungsfreiheit in der erweiterten EU, die heute zur Normalität gehört, einst eine Utopie war und ihren An­ fang auch in den Freiheits­ und Migrationsbewegungen der Menschen

Die Grenzen der Menschlichkeit

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aus Osteuropa genommen hat. Eine Utopie aber, deren Realisierung wir in unserer Lebenszeit real erlebt haben. Verdrängt ist heute, dass in den 1990er­Jahren Menschen aus Polen zeitweise die größte Gruppe der aus Deutschland Abgeschobenen ausmachten. Oder Menschen aus Ru­ mänien – im Jahr 1994 haben deutsche Behörden über 14 000 Men­ schen nach Rumänien abgeschoben. Diese Zeiten sind vorbei. Die EU­ Freizügigkeit für diese Menschen wurde von Konservativen lange Zeit als Schreckgespenst an die Wand gemalt, und sie wird es immer noch, wenn man an die Kampagne der CSU gegen die sogenannte Armuts­ zuwanderung denkt. Abschiebungen sind in diesem Sinne der Ort, an dem der Kampf um die beschriebenen Rechte am augenscheinlichsten und gewaltsams­ ten ausgetragen wird, und sie markieren nicht nur die Stärke, sondern auch die Schwäche beziehungsweise das relative Scheitern des Staates. Denn er versucht, indem er an einigen ein Exempel statuiert, bestimm­ ten Kategorien von Menschen das Recht auf einen Ort zu verweigern, das diese sich schon längst genommen haben. Nach Angaben der EU­ Kommission kann zum Beispiel nur jede dritte Ausweisungsverfügung tatsächlich umgesetzt werden. »Nach einem Jahr hat mich das Ausländeramt wieder nach Trier geschickt, um mit mir einen Sprachtest zu machen, ob ich wirklich aus dem Irak stamme oder nicht. Und die Sprachanalyse ergab, dass ich nicht aus dem Irak bin. Ich könnte aus der Türkei oder aus Syrien stammen, aber auf keinen Fall aus dem Irak. Die haben mir gesagt: ›Sagen Sie uns, woher Sie kommen, weil, Sie werden eh abgeschoben, also besser jetzt als später‹. Nicht jeder, der lügt, um nach Deutschland zu kommen, denkt daran, etwas zu klauen oder etwas Schlechtes zu machen. Wenn ich erzählt hätte: Ich hatte in Georgien kein Leben, ich hatte Hunger, ich hatte keine Arbeit – das alles hilft nicht. Man muss unbedingt politisch verfolgt sein, um anerkannt zu werden. Ich habe gelogen, weil ich wusste: Wenn ich sage, dass ich aus dem Irak komme, werde ich mehr Chancen haben, als wenn ich zugebe, dass ich 82

Miltiadis Oulios

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aus Georgien bin. Man kann sich auch aufgrund einer Lüge das Glück beschaffen. Wenn man weiß, dass man in das Land abgeschoben wird, wo man nichts anfangen kann, dann, denke ich, ist es besser, wenn man lügt.« Omari ist ein Georgier, der in Russland mit seinen Eltern aufwuchs und schon zehn Jahre in Deutschland lebte, als er abgeschoben werden sollte. Es ist ein Leben in Unsicherheit, und dennoch zog er es vor, alles zu tun, um nicht abgeschoben zu werden. Er tauchte unter, reiste aus, kam wieder und versuchte mit einem Anwalt, so aussichtslos es schien, sich zu legalisieren. Die Geschichten der Menschen, die davon erzählen, wie sie die staatli­ chen Kontroll­ und Abschiebeversuche unterlaufen, bilden jene Realität, die auf eine zu realisierende Utopie hinweist. Es sind die Geschichten jener, die sich nicht abschieben lassen oder nach der Abschiebung wie­ derkommen. Und vor allem jener, die, um nicht abgeschoben werden zu können, ihre Identität nicht preisgeben oder ihren Pass vernichten oder versteckt halten. Das mag passiver Widerstand sein, der mit massiver Entrechtung ein­ hergeht, aber diese Praxis bildet die Grundlage der Realisierung eines Migrations­ und Bleiberechts, das anders für diese Menschen nicht zu realisieren wäre. Sozusagen die prekäre Verwirklichung der Utopie einer für alle Menschen geltenden Bewegungs­ und Niederlassungs­ freiheit. Behörden und Innenpolitiker beklagen, dass ein Großteil der Antragsteller in Asylverfahren keine Passpapiere vorlege und dieser »Asylmissbrauch« der häufigste Grund sei für das Scheitern von Ab­ schiebungen. Gerade Betroffene, die das nötige Selbstbewusstsein besitzen, ver­ treten jedoch ihr Recht auf Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung als Recht auf Widerstand gegen ihre Abschiebung. So wie Nuryana, die in der Organisation Jugendliche ohne Grenzen aktiv ist: »Die Ausländerbehörde behauptet, dass ich ihr nicht dabei helfe, mich selber abzuschieben. Das bedeutet, ich muss einen Pass vorlegen, ich muss

Die Grenzen der Menschlichkeit

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bei der Botschaft vorsprechen. Solche Sachen halt. Warum soll ich der Behörde helfen, mich abzuschieben? Weshalb bin ich denn hierhergekommen? Um zurückzugehen? Nein, ich bin hergekommen, weil ich Schutz brauche.« Menschen wie Nuryana schaffen es häufig nach jahrelangem Kampf, aus dem Status der Duldung und der Abschiebbarkeit herauszutreten. Sie machen eine Ausbildung, bemühen sich dann doch um einen Pass und gelangen zu einer legalen Aufenthaltsperspektive. Der neue Ge­ setzentwurf der Bundesregierung sieht eine Vereinfachung des Bleibe­ rechts für junge Menschen mit einer Duldung vor, und er trägt damit der vorangegangenen Praxis Rechnung. Gleichzeitig jedoch sieht er massive Verschärfungen vor. Ausländerbehörden sollen ein Aufenthalts­ verbot aussprechen können, wenn jemand der Ausreisepflicht nicht nachkommt, was in vielen Fällen die Möglichkeit des Bleiberechts aus­ hebeln könnte. Mehr noch: Neue Gründe für die Abschiebehaft sind geschaffen worden: Wer für seine Flucht einen Schleuser bezahlt hat, kann aus diesem Grund in Abschiebehaft genommen werden. Bei je­ mandem, der gezwungenermaßen für seine Einreise nach Deutschland Geld bezahlt hat, weil es keine andere legale Möglichkeit gibt, sei die Wahrscheinlichkeit des Untertauchens, um der Abschiebung zu entge­ hen, höher, weil bei einer Abschiebung das Geld für den Schleuser um­ sonst aufgewendet worden ist, so die Logik des Bundesinnenministers.

Freiheit statt Mitleid Veränderungen entstehen, wenn Migranten und Geflüchtete nicht mehr Empfänger von Mitgefühl sein wollen, sondern sich selbst zum politi­ schen Subjekt machen. In den vergangenen drei Jahren ist es in diesem Sinne in Deutschland zu zahlreichen Protesten gekommen. Seien es der »Refugee Struggle«, der von iranischen Asylbewerbern in Bayern ausging, mit Protestmärschen durch Bayern und die ganze Republik; 84

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seien es die »Lampedusas«, die für ihr Recht auf Weiterreise innerhalb der EU in Hamburg auf die Straße gehen; seien es die Proteste auf dem Berliner Oranienplatz, bei dem letztlich die Geflüchteten über den Tisch gezogen wurden. Sie hatten ihren Protest eingestellt und dem Senat vertraut, der dann aber Anfang 2015 bei fast allen der fast 500 Betrof­ fenen gegen ein Bleiberecht entschied. Sie alle setzen aber jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzung und der jeweiligen Einzelfälle eine wichtige Frage auf die politische Tagesordnung, die selten so zur Sprache kommt. Dürfen wir als Bürger dieser Welt selbst frei entscheiden, wo wir auf diesem Globus leben? Auch wenn wir nicht zu den Privilegierten gehören? Dieses Recht wird in den beschriebenen Kämpfen praktiziert. Mit Abschiebungen mar­ kieren Staaten, dass sie dieses Recht so nicht anerkennen. Ihnen stehen die Menschen gegenüber, die das Recht des Staates nicht anerkennen, ihnen Bewegungsfreiheit zu verwehren. So wie es der iranische Akti­ vist Arrash Dosthossein aus Deutschland ausdrückt: »Ich glaube, dass Grenzen dafür gemacht sind, dass die Menschen sie überwinden. Es leben viele Milliarden Menschen auf dieser Welt. Wer ist gefragt worden, dass wir überhaupt diese Grenzen haben wollen?« Gegen eine optimistische Sichtweise wird die Kritik formuliert, dass die fortschreitende biometrische Kontrolle und die Digitalisierung des Datenaustausches der europäischen Migrationskontrollbehörden das Kräfteverhältnis zwischen Migranten und Geflüchteten auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite zugunsten des Letzteren funda­ mental verändern. Die massenhafte Speicherung der Fingerabdrücke von Visa­Antragstellern und der Austausch der Daten im Visa­Infor­ mationssystem verschließen zunehmend die Möglichkeiten, mehrfach Visa­Anträge in unterschiedlichen Konsulaten zu stellen, wenn schon einmal ein Antrag abgelehnt wurde. Auch die Identität all jener Men­ schen, die zur Verhinderung ihrer Abschiebung ihre Identität für sich behalten, dürfte durch die biometrische Erfassung zunehmend rück­

Die Grenzen der Menschlichkeit

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verfolgbar sein, und zwar auch ohne die Mitwirkung der Betroffenen. Dadurch würde einer wichtigen Strategie der Autonomie der Migra­ tion der Boden entzogen. Es ist fraglich, ob dann überhaupt noch die These der Autonomie aufrechterhalten werden kann, konstatiert der Londoner Flüchtlingsforscher Stephan Scheel. Das ist ein berechtigter Einwand. Die entscheidende Frage aber ist, ob die dank der Biometrie engmaschigere Kontrolle der »Unerwünsch­ ten« tatsächlich die irreguläre Überschreitung der Grenzen verhin­ dern und den politischen Handlungsdruck verschwinden lassen kann. Zwei Beispiele sollen illustrieren, weshalb dem vielleicht nicht so ist. In Deutschland gab es unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges in Syrien gerade einmal etwa 1500 Asylanträge von Syrern. Nach Kriegs­ ausbruch haben sich die Zahlen vervielfacht. Allein im Jahr 2014 stellten fast 40 000 Syrerinnen und Syrer Asylanträge in Deutschland. Die meisten dieser Menschen sind auf eigene Faust, über illegalisierte Fluchthilfe nach Deutschland gekommen. Trotz Frontex, trotz Abschot­ tung, trotz der Toten im Mittelmeer. Ein zweites Beispiel liefert der Kosovo. Nach dem Rückübernahme­ abkommen mit der kosovarischen Regierung im Jahr 2009 schiebt Deutschland Familien dorthin ab, die schon lange in Deutschland leb­ ten, aber nie ein reguläres Aufenthaltsrecht erhalten haben – vor allem Angehörige der Roma. Fünf Jahre später sind von den 12 000 betroffe­ nen ausreisepflichtigen Personen nur noch oder besser immer noch etwa 7000 in Deutschland. Und das Signal dieser Abschiebungen scheint auch im Kosovo nicht angekommen zu sein. Denn während deutsche Behörden mit viel Auf­ wand in Deutschland heimisch gewordene Kosovaren abschieben, dar­ unter viele Jugendliche, die nach der Abschiebung überdurchschnitt­ lich häufig depressiv werden und Selbstmordgedanken hegen, sorgt die schlechte wirtschaftliche Lage im Kosovo dafür, dass seit Novem­ ber 2014 ein Exodus stattfindet, und zwar diesmal mehrheitlich von ethnischen Kosovo­Albanern. Von 50 000 Menschen war die Rede, die illegal die Grenze zu Ungarn überschritten mit dem Ziel, einen meist 86

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aussichtslosen Asylantrag in Deutschland oder Österreich zu stellen. Über 20 000 Asylanträge von Menschen aus dem Kosovo wurden in den ersten drei Monaten des Jahres 2015 in Deutschland gestellt – die größte Gruppe noch vor syrischen Geflüchteten. In einer konzertierten Aktion wurden daher diese Anträge beschleu­ nigt bearbeitet und in der Mehrzahl abgelehnt. Die Antwort der In­ nenpolitiker lautet: schnellere Abschiebeverfahren. Und sie bleibt doch nur eine Ohnmachtsgeste, auch wenn zunächst die Asylanträge von Kosovaren wieder zurückgegangen sind. Denn sie lenkt nicht nur von der Frage ab, welche Entwicklungsperspektive für dieses Land existiert, sondern auch, dass Menschen aus dem Kosovo, aber auch aus Serbien, Bosnien, der ehemals jugoslawischen Republik Mazedonien oder Alba­ nien offenbar das gegenwärtige Migrationsregime in Europa nicht an­ erkennen und auf eigene Faust zu unterlaufen versuchen. Es ist die Frage, wie lange den Menschen aus dem westlichen Balkan die europä­ ische Freizügigkeit noch verwehrt werden kann. Dasselbe gilt selbst­ redend auch für illegalisierte Migrantinnen und Migranten aus außer­ europäischen Staaten.

Eine politische, keine humanitäre Frage Das Vorhaben, Menschen Freizügigkeitsrechte vorzuenthalten, ist nicht so einfach durchzusetzen und erscheint häufig naiver als die Forde­ rung nach der Anerkennung und Legalisierung der Freizügigkeits­ rechte, die sich Menschen schon nehmen, obwohl sie es nicht dürften. Der Verweis auf das Leid kann diesen Perspektivwechsel nicht leisten. Selbst auf die Toten in den Abschiebegefängnissen und im Mittelmeer hinzuweisen, reicht offenbar nicht. Die Lebenden sind es, die Politik produzieren, schon vom ersten Zeitpunkt an, an dem sie da sind. Sie praktizieren eine Utopie, die es politisch zu realisieren gilt. Der Ausgangspunkt einer politischen Auseinandersetzung um diese Frage sollte daher nicht bloß das Einfordern von Menschlichkeit sein, son­

Die Grenzen der Menschlichkeit

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dern der Hinweis darauf, dass kosmopolitische Rechte von den Be­ troffenen schon unter Opfern praktiziert werden und die herrschende Politik dies bekämpfen, aber nicht verhindern kann. Was im Raum steht, ist damit die Forderung nach der Institutionalisierung dieser Rechte. Die »Politik der Abschiebung« und das Leid, das sie produziert, lassen sich nur überwinden, indem der Kreis der Menschen, denen Rechte auf Reise­, Bewegungs­ und Niederlassungsfreiheit zustehen, erweitert wird. Auch hier beginnt der längste Marsch mit dem ersten Schritt.

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Jürgen Ebach

Ethik aus Erinnerung Biblische Perspektiven auf Flüchtlinge und Fremde

Biblisches im Kursbuch?! Oft zu einer Worthülse politischer Rhetorik wird die Bekundung, Deutschland sei ein christlich­jüdisch geprägtes Land. Die ebenso üb­ liche wie auch fragwürdige Bindestrichfloskel »christlich­jüdisch« wird spätestens dann fatal, wenn sie eingesetzt wird, um den Islam von die­ ser Grundprägung abzusetzen. Etwas ganz anderes wäre es, in konkre­ ten Feldern politischer Praxis christliche und jüdische Normen ernst zu nehmen und beim Namen zu nennen. Was hieße es, im sozialen und politischen Verhalten gegenüber Flüchtlingen und Fremden biblische Erinnerungen Praxis werden zu lassen? Was hieße es, biblische Normen und Erzählungen als zentrale Elemente politischer Kultur wahrzuneh­ men und ihre Inhalte nicht auf gottesdienstliche Predigten oder »Wor­ te zum Sonntag« zu beschränken? Die folgenden Beobachtungen und Reflexionen sind ein Plädoyer für eine politische Kultur, in der bib­ lische Erinnerungen ebenso ihren Ort haben wie die politischen und sozialen Perspektiven der klassischen Antike oder die der Aufklärung und des demokratischen Sozialismus.

»Du sollst die Fremden nicht bedrücken!« Dieses Gebot wird in den biblischen Rechtstexten so oft und so nach­ drücklich eingeschärft wie kaum ein anderes. Bei diesen Fremden (he­ bräisch ger, im Plural gerim) handelt es sich um Menschen, die aus einem anderen Stamm oder aus einem anderen Land gekommen und

Ethik aus Erinnerung

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oft von dort geflohen sind und die in das soziale Gefüge ihrer neuen Orte in Israel integriert werden. Ebenso zentral wie diese Rechtsnorm ist ihre regelmäßig wiederkehrende und nur leicht variierende Begrün­ dung: »Du sollst die Fremden nicht bedrücken und bedrängen, ihr selbst wart Fremde in Ägypten« (2Mose 22,20); »Ihr wisst doch, wie es dem Fremden zumute ist, ihr selbst wart ja Fremde in Ägypten« (2Mose 23,9); »Ihr sollt die Fremden lieben, auch ihr seid ja Fremde gewesen in Ägypten« (5Mose 10,19); »Wie ein Einheimischer unter euch soll euch der Fremde sein, der bei euch als Fremder wohnt; du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn Fremde seid ihr im Land Ägyp­ ten gewesen« (3Mose 19,34). Wie im wenige Verse zuvor stehenden Gebot der Nächstenliebe geht es an der letztgenannten Stelle nicht in erster Linie um ein Gefühl der Liebe, sondern um eine konkrete recht­ liche und soziale Praxis. In dieser Linie fordert 4Mose 15,15 »dasselbe Recht für euch und die Fremden«. Die an den genannten und manchen weiteren Stellen immer wieder eingeschärfte Begründung der Forderung von Gerechtigkeit und Soli­ darität gegenüber den Fremden und Flüchtlingen besteht in der Erin­ nerung an das eigene Leben als Fremde und Flüchtlinge in Ägypten: »du selbst warst ger«, »ihr selbst wart gerim«. In diesem »du selbst« lassen sich Menschen ansprechen, die in ihrer persönlichen Biografie nie als Fremde in Ägypten gelebt haben, für die Israels Leben als Fremde in Ägypten jedoch zur kollektiven Erinnerung und zu einem zentralen Element der kollektiven Identität geworden ist. Die ethische Norm lebt aus dieser Erinnerung. Das 1949 verfasste Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hatte eine vergleichsweise sehr liberale Asylgesetzgebung. Nicht we­ nige von denen, die es formulierten, waren in der NS­Zeit selbst Exi­ lanten und Asylanten in anderen Ländern. Ihnen war ein solches »du selbst« leibhaftig präsent. Und auch für die unter den Vätern und Müt­ tern des Grundgesetzes, die das nicht selbst erlebt und überlebt hatten, wurde es zu einer Erfahrung, die das Leben unter der neuen Verfas­ sung prägen sollte. Dass diese weitgehenden Rechte für Asylsuchende 90

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inzwischen weithin ausgehöhlt bis beseitigt sind, ist auch die Folge eines Erinnerungsverlustes. Die Erinnerung, aus der in der Bibel jene Normen und deren Weiter­ gabe von Generation zu Generation leben, aktualisiert die Erfahrung des eigenen Fremd­ und Flüchtling­Seins in einer doppelten Fokussie­ rung. Sie zielt auf Wiederholung und auf Abbruch. Das wird deutlich, wenn man sich die in jener kollektiven Erinnerung ins Bild gesetzte Situation der »Fremden in Ägypten« vor Augen führt. Auf der einen Seite sind da die – gleich noch etwas genauer zu betrachtenden – Er­ zählungen von Müttern und Vätern Israels, die in Notzeiten ihr Land verlassen mussten und in Ägypten als Fremde aufgenommen und ver­ sorgt wurden. In dieser Perspektive zielt das erinnernde »du selbst« auf die Wiederholung der Rettungserfahrung im Umgang mit den jetzt im eigenen Land lebenden Fremden und Flüchtlingen. Aber Ägypten er­ scheint im Alten Testament in einer doppelten Gestalt, nämlich einer­ seits als Rechtsstaat, der Fremden Zuflucht gewährt, dann aber auch als das Land, das Fremde bedrückt und versklavt. Dieses eigene Ge­ schick als unterdrückte Fremde in Ägypten soll im Umgang mit den Fremden in Israel nicht wiederholt werden. Die Logik ist gerade nicht: Fremde dürft ihr bedrücken, euch ist es ja schließlich auch nicht an­ ders ergangen, als ihr Fremde in Ägypten wart. In dieser Linie also zielt die Erinnerung auf den Abbruch des selbst Erfahrenen und nicht auf die ewige Wiederkehr des Gleichen. Biblische Ethik im Umgehen mit Fremden und Flüchtlingen lebt in beiderlei Hin­ sicht aus der Erinnerung, aus der Erinnerung an das, was wiederholt werden, und an das, was nicht wiederholt werden soll.

Ethik aus Erinnerung

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Politisch verfolgt, Wirtschaftsflüchtling? Kein Unterschied! Den genannten und entsprechenden weiteren Rechtstexten der hebrä­ ischen Bibel korrespondiert eine große Zahl von Erzähltexten im Alten und im Neuen Testament, die von Flüchtlingen und ihrem Geschick handeln. Auch wenn das je im Einzelnen Erzählte in den meisten Fällen keine historische Faktizität beanspruchen kann, tradiert es den­ noch literarisch verdichtete Erfahrungen. Der für gegenwärtige Dis­ kussionen vielleicht wichtigste Zug jener Geschichten besteht in einer Nicht­Unterscheidung. Nicht unterschieden wird nämlich in biblischen Flüchtlingserzählungen zwischen politisch Verfolgten und Wirtschafts­ flüchtlingen, und vollends kommen Letztere nicht als – wie es heute oft denunzierend heißt – »Scheinasylanten« in den Blick. Wirft man einen Blick auf biblische Flüchtlingsgeschichten, so kom­ men ohne eine Wertungsdifferenz ganz unterschiedliche Gründe der Flucht ins Bild. Da sind Menschen, die ihre Heimat in einer Hungers­ not verlassen mussten und in einem anderen Land Zuflucht fanden. Das gilt für Abraham und Sara in 1Mose 12, für Isaak und Rebekka (1Mose 26), für Jakob und seine Familie in der »Josefsgeschichte« (1Mose 37­50) und für eine Frau im Umkreis Elischas, die auf Weisung des Gottesmannes in einer Hungersnot ihr Land verließ und viele Jahre bei den Philistern lebte (2Könige 8). So ist es aber auch bei Elimelech und seiner Frau Noomi am Beginn des Buchs Ruth. Sie verlassen in einer Hungersnot ihren Heimatort Betlehem und finden in fremdem Land, in Moab, Zuflucht. Nach dem Ende der Hungersnot kehrt Noomi, die inzwischen zur Witwe geworden ist und deren Söhne ebenfalls ge­ storben sind, nach Betlehem zurück. Ruth, ihre moabitische Schwie­ gertochter, geht mit ihr, und sie, die Fremde, heiratet nach mutigen und risikoreichen Aktionen in Betlehem einen Israeliten. Die Schlussno­ tiz des Buchs nennt sie als Urgroßmutter Davids, und das erste Ka­ pitel des Neuen Testaments führt sie betont als Vorfahrin Jesu auf (Matthäus 1). Gerade das Buch Ruth und dessen neutestamentliche Rezeption verbinden das Flüchtlingsthema mit dem Thema der Inte­ 92

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gration einer Fremden, die gleichwohl ihre Identität und ihre Würde als Fremde behält. Biblische Flüchtlingsgeschichten handeln aber auch von Menschen, die vor politischer Verfolgung fliehen müssen. So ist es in 2Mose 2, wenn Mose, der einen ägyptischen Aufseher der hebräischen Zwangsarbeiter erschlagen hat, vor dem Pharao flieht. Kommt Mose hier als rechtsstaat­ lich zu verfolgender Terrorist ins Bild oder als – zunächst scheiternder – Freiheitskämpfer? Das ist, offenkundig nicht nur in diesem Fall, eine Frage des Standorts. Um eine Flucht vor einem Machthaber, der in der Bibel seinerseits als terroristischer Herrscher dargestellt ist, handelt es sich bei Jesus und seinen Eltern, die vor Herodes nach Ägypten fliehen (Matthäus 2). Und da gibt es schließlich auch Erzählungen von Men­ schen, die einem unerträglichen Leben als Sklavinnen und Sklaven entfliehen wie die ägyptische Sklavin Hagar in 1Mose 16, die vor den Demütigungen ihrer Herrin Sara (Sarai) flieht. In dieser Erzählung von Hagars Flucht gibt es in Vers 8 einen Einzel­ zug, der einen genaueren Blick lohnt. Der geflohenen Sklavin begegnet in der Wüste ein Gottesbote und spricht sie an: »Hagar, du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin gehst du?« Auf die Frage nach dem Woher antwortet die entlaufene Sklavin klar und offen. Sie sagt: »Weg von Sarai, meiner Herrin! Ich bin auf der Flucht.« Auf die Frage nach dem Wohin scheint sie nicht zu antworten. Oder ist das »Weg von Sarai« auch darauf die Antwort? Dazu möchte ich einen kurzen Text Franz Kafkas einspielen: »Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall. Sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: ›Wohin reitet der Herr?‹ ›Ich weiß es nicht‹, sagte ich, ›nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.‹ ›Du kennst also dein Ziel‹, fragte er. ›Ja‹, antwortete ich, ›ich sagte es doch. Weg von hier – das ist mein Ziel.‹«

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Diese Kafka­Parabel unter der Überschrift »Der Aufbruch«1 mag auf ihre Weise zeigen, dass Hagars »Weg von Sarai, meiner Herrin!« auch auf die Frage nach dem Ziel antwortet. Nicht der Weg ist hier das Ziel, das Ziel ist das bloße »Weg!«. Und so könnte die womöglich zu­ treffendste Antwort vieler Flüchtlinge auf die Titelfrage dieses Kursbuchs – Wohin flüchten? – lauten: »Weg von hier.« Von der Flucht eines Sklaven handelt eine ganze Schrift des Neuen Testaments, nämlich der Philemonbrief, in dem Paulus die Rückkehr des Sklaven Onesimos mit der Forderung an dessen Herrn Philemon ver­ bindet, sein Verhalten gegenüber dem Sklaven entschieden zu verändern. In was für ein Land und in welche Lebensbedingungen für Deklas­ sierte in diesem Land werden nicht asylberechtigte Flüchtlinge abge­ schoben? Was muss sich da ändern, damit eine Rückführung men­ schengerecht ist? Auch das kann zur Frage werden in der Erinnerung an eine neutestamentliche Position, in der – für uns heute schwer nach­ vollziehbar, doch im Kontext antiker Sozialordnung verstehbar – nicht der Sklavenstatus an sich das Problem ist, umso mehr aber die Frage nach dem menschlichen, in der Sprache des Paulusbriefes dem brü­ derlichen Verhältnis von Herr und Sklave. Nähme Philemon wahr und ernst, was Paulus ihm nahelegt, hätte das freilich letztlich auch Folgen für die Sozialstruktur selbst. Zur Flucht aus einem Sklavenhaus gehört aber auch und vor allem der schon genannte Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, von dem mit seiner Vorgeschichte 2Mose 1­15 erzählt. Dieser Exodus ist ein im engsten Wortsinn theologischer Ursprung Israels. Am Beginn des De­ kalogs, der »Zehn Gebote«, steht als Gottes Wort: »Ich bin Adonaj, bin dein Gott, weil ich dich aus Ägypten, aus dem Haus der Sklavenarbeit befreit habe« (2Mose 20,2; 5Mose 5,6). Israels Gott erweist das eigene Gott­Sein darin, den aus der Knechtschaft entflohenen Sklavinnen und Sklaven zum Gott der Befreiung geworden zu sein. Allen auf diesen Pro­ log folgenden einzelnen der »Zehn Gebote« ist von daher eingeschrie­ ben, dass sie unter dem so markierten Vorzeichen vor der Klammer als Aufforderung zur Bewahrung dieser Befreiung zu verstehen sind.2 94

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Erinnerte Geschichte als »identity marker« Die Erinnerung an die eigene Geschichte und dabei daran, selbst Fremde und Flüchtlinge gewesen zu sein, kommt in der hebräischen Bibel noch an einer anderen markanten Stelle zum Ausdruck. Wenn beim Herbstfest die Erntegaben zum Altar gebracht werden und die Menschen Israels so etwas wie ein Glaubensbekenntnis sprechen, könnte man erwarten, dass sie Gott vor allem für die Gabe der Ernte oder womöglich für die ganze Schöpfung danken. Stattdessen lesen wir dort in 5Mose 26,4­11 zunächst etwas anderes: »Der Priester nimmt den Korb aus deiner Hand und legt ihn vor dem Altar Adonajs, deiner Gottheit, ab. Dann antwortest du vor Ado­ naj, deiner Gottheit, und sprichst: ›Ein umherirrender Aramäer war mein Vater. Er stieg hinab nach Ägypten und lebte dort als Fremder in der Minderheit. Dort wurde er zu einem zahlreichen, großen und star­ ken Volk. Die in Ägypten behandelten uns schlecht und demütigten uns. Sie drückten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu Ado­ naj, der Gottheit unserer Vorfahren. Adonaj hörte unsere Stimme und sah den Druck, unter dem wir standen, unser Elend und unsere Qua­ len. Adonaj führte uns mit starker Hand, mit ausgerecktem Arm, durch große Schrecknisse, durch Zeichen und Wunder aus Ägypten heraus und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig überfließt. Und jetzt: Ich bringe da die ersten Erträge des Ackerbodens, den Adonaj mir gegeben hat.‹ – Leg sie vor Adonaj, deiner Gottheit, nieder und wirf du dich nieder vor Adonaj, deiner Gottheit! Freu dich an all dem Guten, das Adonaj, deine Gott­ heit, dir und deiner Familie zukommen lässt – du und der Levit und der Fremde, der in deiner Mitte wohnt!« Abermals also eine Erzählung der Geschichte Israels, einer Geschich­ te, an deren Anfang mit der Erinnerung an den Stammvater Jakob die eigenen Vorfahren als Fremde und Flüchtlinge ins Bild kommen. Die Fremden und die Flüchtlinge sind in dieser Perspektive nicht »die an­ deren«, Fremde und Flüchtlinge waren Israels Mütter und Väter selbst.

Ethik aus Erinnerung

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Die ersten überhaupt in der Bibel genannten Fremden sind Abrahams Nachkommen (1Mose 15,13). Doch nicht ohne Grund schließt die zi­ tierte Passage aus 5Mose 26 mit der Erwähnung des Fremden (ger), der in Israel lebt und der sich wie der Landbesitzer und der selbst landbe­ sitzlose Levit an den Gaben des Landes erfreuen soll. Die stetige Erin­ nerung an die eigenen Erfahrungen in fremden Ländern und ihre je neue Aktualisierung im Blick auf die Fremden im nun eigenen Land wird zu einem bleibenden Merkmal der Identität Israels. Gerade im Verhalten zu Fremden und Flüchtlingen zeigt sich die Stärke oder die Schwäche der eigenen Identität. Schwach ist sie da, wo sie sich vor allem in der Abgrenzung und der realen oder auch ideolo­ gisch instrumentalisierten Furcht vor Überfremdung manifestiert. Wie sehr es da um Konstruktionen von Wirklichkeit geht, zeigt sich unter anderem in den Pegida­Demonstrationen, die besonders da stark waren und immer noch sind, wo es die wenigsten Ausländer und Flüchtlinge gibt – strukturell verwandt mit der sich immer wieder be­ stätigenden Tatsache, dass der Antisemitismus keineswegs der Begeg­ nung mit realen Juden bedarf.

Entronnene – Überbringer der Hiobsbotschaften Wie schon erwähnt wird sowohl in den alttestamentlichen Rechts­ als auch in den Erzähltexten zwischen Fremden (gerim) und Flüchtlingen begrifflich nicht scharf getrennt. Deutlich ist aber, dass jene gerim in vielen Fällen aus unterschiedlich begründeten Fluchtbewegungen in die Orte kamen, in denen sie Zuflucht, Schutz und soziale Integration fanden.3 Es gibt jedoch noch ein anderes Wort, das in bestimmten Kon­ texten ebenfalls einen Flüchtling bezeichnen kann, nämlich palit – »der Entronnene«. Es meint Überlebende einer Katastrophe (4Mose 21,29; Jeremia 44,14 und öfter) und es verbindet sich mehrfach mit der Mög­ lichkeit und der Aufgabe der wenigen Überlebenden, von jener Kata­ strophe erzählen zu können. So kommt es in Ezechiel 33,21 ins Bild, 96

Jürgen Ebach

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aber auch, wenngleich ohne einen Flüchtlingskontext, bei den Über­ bringern der »Hiobsbotschaften«. Geradezu stakkatohaft ist in Hiob 1 zu lesen: »Ich allein bin entronnen, es dir zu erzählen.« Das Erzählen aus dem Entronnen­Sein können diese Boten als ihre Aufgabe wahr­ nehmen; das aufmerksame, von compassion getragene Hören auf das, was die Entronnenen zu erzählen haben, ist uns aufgegeben.4 Noch ein weiterer biblischer Aspekt wäre kritisch erinnernd und positiv bestärkend in gegenwärtige Diskurse über Fremde und Flücht­ linge einzubringen. Im Gegenüber von Fremden und Einheimischen begegnet einem nicht selten die Vorstellung oder die Sprachfigur, da kämen jetzt welche hinzu zu uns, die wir da »immer schon« wohnten. Die vorgeblich Autochthonen, die da »immer schon« wohnten, sind in aller Regel ja nur die, deren Vorfahren etwas früher eingewandert sind als die jeweils später Hinzugekommenen. Im Gegensatz zu einem Hei­ matbegriff der vorgeblich Autochthonen schärfen grundlegende bib­ lisch­literarische Konzeptionen immer wieder ein, dass Israel nicht »immer schon« im Land lebte. Israels Heimat ist das Land, in das man kam, kommt und kommen wird. Die berühmten Schlussworte in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung leben (auch) aus diesem Geist: »… etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Hei­ mat.«

Asyl – Praxis der Gastfreundschaft Viele Kulturen und Religionen seit dem Altertum kennen ein Asyl­ recht. Tempel, Altäre, Kirchen oder eigens dazu bestimmte Orte kön­ nen zu Schutzräumen werden. Die hebräische Bibel nennt bestimmte Asylstädte (unter anderem in 4Mose 35 und Josua 20). Dabei ist zu beachten, dass es dort nicht um ein allgemeines Asyl für Flüchtlinge geht, sondern um einen Zufluchtsort für Menschen, die ohne Vorsatz einen anderen Menschen getötet haben und die an diesen Orten vor der Blutrache geschützt sein sollen. Gleichwohl wurde der Gedanke des

Ethik aus Erinnerung

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Asyls von den Synoden der Alten Kirche bis zur gegenwärtigen Praxis des Kirchenasyls auf den Schutz von Flüchtlingen überhaupt übertra­ gen. Hier liegt keine strikte rechtsgeschichtliche Anknüpfung an das biblische Asylmodell vor, wohl aber eine in der Linie biblischer Nor­ men ethisch begründete Praxis des Schutzes und der sozialen und auch juristischen Unterstützung von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Ich sehe darin im Neuen Testament eine besonders weitgehende Praxis der philoxenia, der Gastfreundschaft – zum Beispiel im Hebräerbrief (13,2).

Glaubensflüchtlinge – traurige Errungenschaft der Neuzeit Von verschiedenen Gründen, aus denen Flüchtlinge ihre Heimat ver­ lassen mussten, war im Blick auf biblische Rechts­ und Erzähltexte die Rede, das heißt von politisch Verfolgten, von Wirtschaftsflüchtlingen und von denen, die einer unerträglichen sozialen Lage entfliehen. Eine große Gruppe gegenwärtiger Flüchtlinge begegnet uns in der Bibel nicht, nämlich die derjenigen, die wegen ihrer Religion und ihres Glaubens verfolgt werden. Es gab in der Antike zwar oft harte Sanktionen gegen­ über Menschen, die sich einem offiziellen Staatskult verweigerten, doch sie zielten nur in wenigen Fällen auf die Vertreibung von Menschen eines bestimmten Glaubens. Selbst die vom römischen Kaiser Claudius verfügte Ausweisung von Juden (oder Judenchristen) aus Rom, auf die Lukas (Apostelgeschichte 18,2) anspielt, erfolgte nicht aus religiösen Gründen, sondern zur Herstellung der öffentlichen Ordnung, die durch innergemeindliche Konflikte gestört schien. Die großen Zahlen von Glaubensflüchtlingen sind mithin eine trau­ rige Errungenschaft späterer Zeiten und vor allem, jedenfalls was Eu­ ropa betrifft, der Neuzeit. Am Beginn der Neuzeit steht die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) und dann auch die der noch im Land verbliebenen Muslime (1502). Jüdinnen und Juden flüchteten in ver­ schiedene europäische Länder und nicht zuletzt ins Osmanische Reich. 98

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Zur »Judenreinheit« als identity marker des neuzeitlich­modernen Spa­ niens kamen bald in der Folge der Konfessionalisierung Europas die Vertreibungen jeweils andersgläubiger Christen. Im 16. und 17. Jahrhun­ dert gab es zum Beispiel mehr als 100 000 protestantische Flüchtlinge aus österreichischen Ländern. Die Geschichte der USA ist geprägt von Glaubensflüchtlingen vor allem aus England. Die in Preußen aufgenom­ menen hugenottischen Flüchtlinge (réfugiés) trugen nicht wenig zur Förderung von Kultur und zum wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes bei. Das gilt auch für Städtegründungen im Zuge von Flüchtlingsbe­ wegungen wie zum Beispiel Glückstadt oder Neuwied. Die Flüchtlinge erwiesen sich in sehr vielen Fällen als Bereicherung der Zufluchtslän­ der und keineswegs als Bedrohung oder gar Schädigung ihrer Identi­ tät. Insgesamt lässt sich eine deutliche Relation zwischen Toleranz und Wohlstand feststellen. Ein solidarischer, gerechter und menschenge­ rechter Umgang mit Flüchtlingen und Fremden, wie er in biblischen Normen und Erzählungen eingeschärft wird, kam mithin auch denen zugute, die diesen Umgang übten. Sich und andere in ganz konkreten Themenfeldern an die Bibel zu erinnern, verlangt keineswegs das Auf­ geben eigener Interessen und keinen strikten ethischen Altruismus. »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«, sagte einst Erich Kästner.5 Wenn das Gute auch mir selbst zugutekommt, spricht das nicht dagegen. Mit dieser ebenso vorsichtigen wie zuversichtlichen Perspektive schließe ich mein Plädoyer für die Wahrnehmung biblischer Normen und Ge­ schichten in einem Kursbuch für eine menschenfreundliche politische Kultur.

Ethik aus Erinnerung

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Anmerkungen 1 Kafka, Franz: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Frankfurt am Main 1983, S. 86. 2 Vgl. Crüsemann, Frank: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive. Gütersloh 1998. Zur Bedeutung des Exodusmotivs im westlichen politischen Gedankengut: Walzer, Michael: Exodus and Revolution. New York 1985 (dt. Ausgabe: Exodus und Revolution. Berlin 1988). 3 Vgl. Ebach, Ruth: Das Fremde und das Eigene. Die Fremdendarstellungen des Deuteronomiums im Kontext israelitischer Identitätskonstruktionen. Berlin/Boston 2014. 4 Vgl. Dabag, Mihran; Platt, Kristin: Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Paderborn 2015. 5 Kästner, Erich: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. München 1998, S. 277.

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Armin Nassehi

»Die arbeiten nichts« Eine kleine Polemik gegen den »Wirtschaftsflüchtling«

Das Asylrecht der Bundesrepublik kann nur historisch verstanden wer­ den. Was politische Verfolgung ist, das wussten die Väter und Mütter des Grundgesetzes ziemlich genau – schon weil viele Deutsche wäh­ rend der NS­Zeit selbst, teils erfolgreich, teils vergeblich, Schutz in an­ deren Ländern Europas oder in Übersee gesucht haben. Das Asylrecht hat viel mit der Entwicklung freiheitlicher Demokratien zu tun, aber auch viel mit der Differenz von Bürger­ und Menschenrechten. Das Asylrecht ist für diejenigen gedacht, denen Bürgerrechte verwehrt wer­ den und die deshalb menschenrechtlichen Schutz woanders suchen. Asylgründe sind politische Gründe – und nach dem Nationalsozialismus hat sich bis spätestens 1990 der politische Fluchtgrund als ein beson­ ders hohes Gut während des Kalten Krieges erhalten. Jeder Flüchtling aus dem Osten war ein Gewinn für den Westen, war eine Abstimmung für die Freiheit, war ein Beweis für die zivilisatorische Unterlegenheit der sowjetisch gestützten Regime. Und, bitte, das ist keine Polemik, sondern schlicht der Kontext, unter dem das Asylrecht seine Plausibili­ tät hatte und erhielt. Wirtschaftliche Erwägungen spielten hier keine Rolle. Ein Flüchtling aus dem Osten mag seine ökonomischen Bedingungen mit der Flucht nach Westen zumeist verbessert haben, aber schon seine Herkunft machte ihn zu einem politischen Flüchtling. Unter anderem vor diesem Hintergrund muss man den heute zumeist pejorativen Gebrauch des Begriffs »Wirtschaftsflüchtling« verstehen. Der Begriff meint: Es sind ja schlicht subjektive, nachgerade egoistische Gründe, die jemanden aus

»Die arbeiten nichts«

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wirtschaftlichen Gründen flüchten lassen, während politische Gründe letztlich eine objektive Weltordnung widerspiegeln, die durchaus positiv zu wenden sind: Wer aus politischen Gründen zu uns kommt, bestätigt unsere zivilisatorische Überlegenheit, wer nur aus wirtschaftlichen Er­ wägungen kommt, wird dagegen ein Konkurrent, auch noch einer, der staatliche Zuwendungen für Wohnung, Nahrung und Telekommunika­ tion erhält, während wir uns dies selbst erarbeiten müssen. Politische Freiheit ist ein sich selbst erneuerndes Gut, wirtschaftliche Güter dage­ gen sind knapp. Diese Differenz bestätigt übrigens auch die Genfer Flüchtlingskon­ vention, die letztlich jeden Flüchtling, der aus ökonomischen Gründen oder um dem Elend zu entgehen kommt, zum illegalen Einwanderer macht. Illegalität ist gewissermaßen die kleine ökonomische Schwester der Legitimität des politischen Flüchtlings.

»Nur wer arbeitet, soll auch essen« Dem Wirtschaftsflüchtling wird die Ernsthaftigkeit abgesprochen, weil er als Konkurrent auf Augenhöhe kommen will und möglichst daran gehindert werden soll. Der politische Flüchtling dagegen demonstriert schon, dass seine Herkunft nicht auf Augenhöhe mit uns ist, deshalb ist er als Symbol der eigenen Überlegenheit willkommen – oder wenigs­ tens prinzipiell willkommener. In der Bundesrepublik wurden im Jahre 2014 nicht einmal zwei Pro­ zent der Antragsteller nach Artikel 16a Grundgesetz als Asylbewerber anerkannt, jedoch wurde knapp der Hälfte der Bewerber ein nach unter­ schiedlichen Rechtsfiguren definierter Aufenthaltsstatus gewährt. Wenn man die Polemiken und den Hass gegen Flüchtlinge richtig versteht, geht es zumeist gar nicht in erster Linie um kulturelle Differenzen oder Ähnliches. Das kann man schon daran erkennen, dass man sich vor Islamisierung am meisten dort fürchtet, wo es fast keine Muslime gibt. Das ist ähnlich manisch wie die Furcht vor der Christianisierung des 102

Armin Nassehi

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Morgenlandes, die einen Teil der muslimischen Extremistenbewegun­ gen im nahen und doch so fernen Osten motivieren. Was wohl stärker im Vordergrund steht, ist jene angebliche Privilegierung von Flücht­ lingen, die staatliche Leistungen erhalten, ohne etwas dafür zu tun. Es lohnt sich schon, O­Töne der Debatte zu beobachten – und zwar nicht diejenigen diskursgeübter Mittelschichten, sondern O­Töne jener, die weder in der Verständnissemantik geübt sind noch zu den faschistoiden Schlägern und Zündlern gehören, die Wohnheime attackieren und Unzitierbares skandieren. Das normale, kleinbürgerliche Ressentiment ist weniger ein kulturelles, schon weil man es mit der eigenen kulturel­ len Identifizierbarkeit nicht gar so kunstvoll hinbekommt. Das Res­ sentiment besteht eher darin, dass man bei den Flüchtlingen einen Mechanismus außer Kraft gesetzt wähnt, der zur ureigenen Selbstbe­ schreibung gehört: dass man das, was man besitzt und worüber man verfügen kann, durch eigene Arbeit oder aus Arbeit resultierender An­ spruchsberechtigung bezieht. Es ist dieser Mechanismus, der insbe­ sondere in jenen Schichten eine besondere Rolle spielen dürfte, in denen Arbeit weniger Eigensinn hat als Zweck ist – was sich der mit­ telschichtsorientierte Diskursfähige nicht vorstellen kann. Dort ist man ja inzwischen daran gewöhnt, dass die einstige Grundformel gewissens­ basierter Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich nicht nur klaglos zu tun, was man soll, sondern zugleich auch noch zu wol­ len, was man soll, die Basis aller postfordistischen Koordinationsarbeit geworden ist. Zu wollen, was man soll, entkoppelt zwar nicht Arbeit und Leistung von Einkommen, hält diesen Zusammenhang aber nicht für den entscheidenden Sinngehalt der Tätigkeit. Für diese Gruppen ist die Anspruchsberechtigung des Flüchtlings mit Aufenthaltsstatus – und wenn es nur die Zeit zwischen einem Asylan­ trag und seiner Ablehnung ist – weder eine konkrete Konkurrenz, noch spielt es sich auf einer irgendwie vergleichbaren Ebene ab. In diesen Arbeitsformen geht es eher um die Arbeit an der eigenen Person, am eigenen Vermögen, letztlich um das, was die linke Entfremdungskritik heute mit dem Schimpfwort des Arbeitskraftunternehmers belegt. Von

»Die arbeiten nichts«

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diesen ist der Flüchtling weit entfernt – und für diese ist der Flüchtling kein Konkurrent und auch keine Bedrohung. Im Gegenteil: Von dieser Perspektive aus ist man vor allem an qualifizierten Flüchtlingen inte­ ressiert, denen Augenhöhe zu gewähren damit zusammenhängt, dass unsere Volkswirtschaft exakt jene Leute braucht, die unternehmerisch denken oder verwendbar sind. Um es klar zu sagen: Dagegen polemi­ siere ich nicht. Im Gegenteil, man kann klar davon ausgehen, dass Eu­ ropa und speziell eine auf Fachkräfte angewiesene Volkswirtschaft wie die deutsche auf dieses Humankapital bald angewiesen sein wird. Die­ sen Schatz zu heben, kann nur von Vorteil sein. Darüber könnte man viel sagen – und darüber wird viel gesagt, aber diese Gruppen sind es nicht, die Adressaten von Hass und Ressentiments sind. Vielleicht sind es die gleichen Personen, aber nicht das, wofür sie symbolisch stehen. Der Hass, besser: der laute Hass stammt wohl eher von denen, für die Knappheitsmanagement sich vor allem daran festmacht, knappe Arbeit und knappe Entgelte miteinander in Einklang zu bringen – Knappheit in dem Sinne, dass es bei Arbeit vor allem um dieses Knapp­ heitsmanagement geht. Die Würde des Arbeiters bestand einmal darin, dass er der Entfremdung seiner Tätigkeit dadurch getrotzt hat, dass er sie trotzdem gemacht hat und damit die Hauptbedeutung darin lag, dem produzierten Mehrwert so viel abzutrotzen, dass gutes Leben möglich war. Wie in den bürgerlichen Schichten Selbstbewusstsein und Selbst­ erzeugung durch die Narrationsfähigkeit des eigenen Lebens ermög­ licht wurden, war es in den arbeitenden Schichten der Zusammenhang von harter Arbeit und Ertrag. Nur wer arbeitet, soll auch essen – dieses Credo hat sich tief in dieses Selbstverständnis eingebrannt und macht auch in sozialdemokratischen Milieus so etwas wie bedingungsloses Grundeinkommen eher unplausibel. Dass umverteilt werden muss, ist hier selbstverständlich, aber dann soll dies fast ausschließlich nach Algorithmen geschehen, die ihren Takt aus der Stellung des Anspruchs­ berechtigten zur Erwerbsarbeit gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist der Flüchtling eine nachgerade extreme Bedrohung: Er kommt nach Deutschland, unvorhergesehenerweise, und 104

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wird, so lange er nicht im Schatten der Illegalität verschwindet, völlig unabhängig von Arbeit versorgt – nicht dass er wirklich gut versorgt würde, aber es erscheint den Ressentimentgeladenen als exakt das: Hil­ fen, die ansonsten nur an Arbeit, an Beiträgen, die aus Arbeitserträgen generiert werden, oder an Ansprüchen auf Lohnersatzleistungen (sic!) orientiert sind, werden völlig entkoppelt von jeglicher Arbeitsleistung gewährt. Es erscheint dann wie eine Privilegierung von Unterprivilegier­ ten, die Ansprüche haben und nicht erworben haben müssen. Exakt aus diesem Holz sind die O­Töne geschnitzt, die das Ressentiment we­ niger auf die geflüchteten Personen selbst als auf die Logik der eigenen Anspruchsberechtigungen richten. Typische Sätze lauten: Die bekommen dies und jenes (Kleidung, Wohnung, Lebensmittel, Schulgeld und so weiter), ohne etwas dafür getan zu haben. Der Hass sieht aus wie ein Hass darauf, wie mühsam Subsistenz dann doch erscheint – insbesondere im Vergleich zu jener Art von Arbeit, die man auch noch wollen soll. Vielleicht ist der Hass auf Flüchtlinge nur die andere Seite des Res­ sentiments gegen »die da oben«, die auch als Privilegierte erscheinen, weil sie aus der unmittelbaren subsistenzorientierten Form des Knapp­ heitsausgleichs enthoben erscheinen. Der Ruf, den man auf den ent­ sprechenden Demonstrationen stets zu hören bekommt, es seien alles Illegale, meint eigentlich, es seien alles Illegitime – ebenso illegitim wie »die da oben«, die mit Privilegien ausgestattet werden, die letztlich nicht wirklich leistungsadäquat sind. Meine Argumentation ist eine Überzeichnung – aber dass sich das Ressentiment insbesondere gegen jene richtet, die doch »nur« wirtschaft­ liche Interessen haben und damit Wirtschaftsflüchtlinge sind, ist kein Zufall. Bis in die Papiere von Pegida und die AfD kann man kaum et­ was gegen die »wirklich Verfolgten« sagen, dafür umso mehr über die Wirtschaftsflüchtlinge, die den klassischen Mechanismus der Inklusion in die Gesellschaft außer Kraft setzen: Arbeit als Subsistenzmittel. Es ist nicht leicht, so zu argumentieren. Denn wer wollte in Zweifel ziehen, dass ökonomische Werte in erster Linie durch produktive Arbeit erzeugt werden, und wer wollte in Zweifel ziehen, dass nur das verteilt

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werden kann, was zuvor erarbeitet wurde? Diese Suggestivfragen mö­ gen naiv erscheinen, denn gerade kritische Geister interessieren sich eher für Distributionsfragen als für die Wertschöpfung und ihre Be­ dingungen. Aber der Flüchtling jedenfalls ist geradezu ein Symbol für eine Existenz, die Subsistenz schon symbolisch von Arbeit trennt – im Übrigen etwas, das systematisch miterzeugt wird, denn arbeiten darf der Flüchtling erst dann, wenn er einen entsprechenden Aufenthalts­ titel erworben hat.

Vormoderne Wanderungen? Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass wir ihnen nicht wie in festen Gruppen zugehören. Gesellschaften sind weder Kollektive noch Gruppen, sie sind keine Gemeinschaften und auch keine Organisationen mit klar definierten Mitgliedschaftsrollen. Men­ schen gehören Gesellschaften nicht einfach an. Vielmehr müssen sie ganz unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen mehr oder we­ niger selbst miteinander koordinieren. Dass wir davon sprechen, dass Leben geführt werden müssen, hat damit zu tun, dass Gesellschaften modernen Typs den Menschen weitgehend unterbestimmt lassen. Im­ mer weniger wird ein menschliches Leben eindeutig durch soziode­ mografische Merkmale bestimmt. Immer weniger ist im Moment der Geburt das, was in den darauffolgenden Jahrzehnten geschieht, eindeu­ tig festgelegt, wenn auch die Möglichkeitsspielräume ungleich verteilt sind. Von Personen wird verlangt, die Organisation und Koordination von Andockstellen an die Gesellschaft weitgehend selbst in die Hand zu nehmen – insbesondere durch Entscheidungen und Zufälle, die dann wie Entscheidungen zugerechnet werden. Eine dynamische, schnelle, pluralistische, nicht zentral gesteuerte Gesellschaft ist geradezu darauf angewiesen, Menschen weitgehend unterbestimmt zu lassen und so für vielfältige Rekombinationen zu sorgen. Dass dies zu kulturellen Konflikten führt, darf nicht verwundern. So dürften diejenigen Kultu­ 106

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ren politisch, ökonomisch, wohl auch wissenschaftlich und rechtlich ins Hintertreffen geraten, denen es nicht gelingt, sich auf die Unter­ bestimmung des Menschen und damit die Pluralisierung seiner Mög­ lichkeiten einzulassen. An der Varianz oder Enge etwa religiöser oder traditioneller Vorgaben für gelungenes Leben lässt sich dies deutlich messen. Die Art und Weise, wie wir Gesellschaften zugehören, ist voraus­ setzungsreicher, als es erscheint. Als Normalfall moderner Vergesell­ schaftung erschien spätestens seit dem 19. Jahrhundert die exklusive Zugehörigkeit zum Nationalstaat – weswegen man auch so etwas wie kollektive Gruppenexistenzen imaginieren konnte, die die lose Kopp­ lung zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen fast unsichtbar machen konnten. Jedenfalls war die Zugehörigkeit zu (National­)Staaten geradezu alternativlos. Der Status der Staatenlosigkeit war – als Kategorie wohlgemerkt! – schwerer zu ertragen als Arbeits­ losigkeit, Rechtlosigkeit, religiöse Heimatlosigkeit, Bildungslosigkeit und Unwissenheit oder Familienlosigkeit. In dieser Gemengelage ist der klassische Migrant der Moderne vor allem jemand, der einen national­ kulturellen Raum verlässt – von einem Land in ein anderes, von einem nationalstaatlich organisierten Rahmen in einen anderen. Das gilt ana­ log auch für den Flüchtling – ein Flüchtling wechselt den politischen Bestimmungsraum, was dann politische Gründe zu paradigmatischen Fluchtgründen macht, oder besser: zu legitimierbaren. Deshalb gibt es ein Recht auf politisches Asyl, vielleicht noch auf ein religiöses, wenn es dem Herkunftsstaat nicht gelingt, Religionsfreiheit zu garantieren. Es gibt aber kein Bildungs­ und Wissensasyl, auch kein Familienasyl – und schon gar kein Recht auf ökonomisches Asyl. Ich will das hier nicht beklagen, sondern lediglich den Sinn dafür schärfen, warum in unserem Kategorienapparat letztlich nur politische Fluchtgründe vorkommen, obwohl man die Gründe empirisch in vie­ len Fällen gar nicht unterscheiden kann. Zerfallene oder autoritäre Staa­ ten korrelieren oft mit ökonomischer Impotenz und ökonomischer Zukunftslosigkeit, mit maroden Rechtssystemen und der Unfähigkeit,

»Die arbeiten nichts«

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die eigene Bevölkerung zu versorgen. Wer vor den religiös codierten Konflikten im Nahen Osten flieht oder vor den Folgen des Staatszerfalls des ehemaligen Jugoslawien geflohen ist, hat immer auch wirtschaft­ liche Gründe. Die Flucht aus afrikanischen Staaten ohne angemessene Infrastruktur hat in den allermeisten Fällen auch eine ökonomische Dimension. Die Flucht aus Afghanistan und aus dem Irak ist selbstver­ ständlich auch ökonomisch motiviert, nicht nur politisch oder religiös. Man kann heutige Fluchtgründe nicht mehr so eindeutig politisie­ ren, wie wir es aus der klassischen Gemengelage der autoritären euro­ päischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts und vor allem aus den Zeiten des politischen Antagonismus des Ost­West­Konfliktes ken­ nen. Fluchtgründe und Fluchtformen ähneln heute eher vormodernen Zeiten, als man es etwa in ganz Europa oder Nordamerika mit erheb­ lichen Bevölkerungsbewegungen zu tun hatte, für die stets so etwas wie multikausale Push­ und Pull­Faktoren für das Verlassen der alten Heimat galten. Viele Regionen Europas leben geradezu davon, be­ stimmte Gruppen angezogen oder abgewehrt zu haben. Man hat mit Migration Bevölkerungspolitik betrieben – und die Ungleichheit der Regionen hat dazu geführt, dass es zu Wanderungsbewegungen kam. Zwischen Flucht und Migration konnte man gar nicht so genau unter­ scheiden – und letztlich gilt das heute wieder, zumal sich Migration von außen nach Europa fast nur in Fluchtform darstellt. Diese Diagnose enthält keine Lösung – sie plädiert nicht naiv und romantisch für einen Wegfall aller Grenzen und völlige Freizügigkeit, sie wirbt aber dafür, die Kategorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen, was ja faktisch letztlich schon dadurch geschieht, dass mit der sehr engen Definition des politischen Asyls in Deutschland eben nur circa zwei Prozent als Asylberechtigte anerkannt werden, die nor­ mative Kraft des Faktischen aber dauerhafte Migration vollzieht. Der Hass auf den Wirtschaftsflüchtling hat viel mit der als prekär erlebten Inklusion von Autochthonen in eine komplexe Gesellschaft zu tun – er hat aber womöglich auch damit zu tun, dass die böse Dia­ gnose vom »Asylbetrug« nicht ganz falsch ist. Wohlgemerkt: Nicht in 108

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dem Sinne, dass diejenigen, die kommen, in betrügerischer Absicht kommen, sondern in dem Sinne, dass unsere unpassenden Kategorien in Europa Gestrandete dazu zwingen, irgendwie illegal zu sein. Unsere Kategorien bestätigen also die Vorurteile derer, denen wir das Recht gegen ihre Ressentiments entgegenhalten – eine ausweglose Situation. Dabei geht es gar nicht um betrügerische Motive, sondern um trüge­ rische Metaphern und Kategorien.

Ein Kleinbürgerproblem? Zum Ende meiner Überlegungen muss ich noch einer Gefahr vorbeu­ gen. Es hört sich so an, als sei das Problem der Ablehnung von Asylbe­ werbern und Flüchtlingen ein bloßes Problem der Kleinbürger, nicht aber der gebildeten Mittelschichten. Das ist freilich nicht der Fall, wie der Widerstand gegen entsprechende Einrichtungen in den »besseren« Vierteln zeigt. Es stehen hier nur geübtere Formen des Protests und des Widerstands zur Verfügung, Ressourcen, die eben viel mit Bildungs­ kapital, Zugang zu rechtlichen Formen der Auseinandersetzung und nicht zuletzt zivilisierteren Umgangsformen zu tun haben. Allerdings gilt in diesen Milieus das, was ich anfangs entwickelt habe, nämlich dass hier die Codierung von Arbeit eine andere ist und damit die Figur des Wirtschaftsflüchtlings abstrakter sein dürfte. Nicht unerwähnt lassen sollte man aber, dass es einen ganz beson­ deren Typus des gebildeten Engagierten gibt, gerne im Zusammenhang mit Hochkulturinstitutionen wie dem Theater oder mit kirchlicher Be­ teiligung, die geradezu darum kämpfen, dem Flüchtling etwas vom Status des politischen Sonderlings und kulturell Interessanten zurück­ zugeben. Es werden Begegnungen organisiert, Kulturen und Religio­ nen treffen aufeinander, es ist viel von Praxis die Rede, man möchte etwas von persönlichen Schicksalen hören und mehr Gemeinschaft­ lichkeit und Gemeinsamkeit erzeugen, als es einer modernen Gesell­ schaft womöglich guttut. Ich jedenfalls habe hier den Eindruck, dass

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die hochkulturelle Vereinnahmung des Flüchtlings in solchen Projekten den »sprechenden Flüchtling« hervorbringen soll, der mehr von sich preisgibt, als es Autochthone je müssten. Der sprechende Flüchtling wird damit zum funktionalen Äquivalent für den klassischen politi­ schen Flüchtling, der immer schon eine Geschichte mit sich herumge­ tragen hat, allerdings eher eine kollektive Geschichte. Jetzt werden die Flüchtlinge zwangsauthentisiert, womit sich vielleicht ein engagiertes Milieu eher Distinktion von den pöbelnden Kleinbürgern vor Flücht­ lingsunterkünften verschafft als Lösungen für Flüchtlinge. Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Es ist gar nichts gegen Engagement zu sagen – und alles, was sich von den Pöblern dis­ tanziert, ist zu begrüßen. Aber die Kategorien, mit denen da gearbeitet wird, sind oftmals untauglich. Überall sprießen Initiativen, die auslo­ ten, wie man »gemeinsam« leben kann und die Leute dann zum Reden bringt. Es wird dann eine gemeinsame Sprache entwickelt, doch wie­ der ein Container, in dem wir drin sein sollen, obwohl die faktische Lebensform – auch und gerade von Flüchtlingen – anders aussieht. Die engagierten Milieus sind geübt darin, große Sätze zu sprechen und andere zum Sprechen zu bringen – was freilich nottut, sind unaufge­ regte Formen der Inklusion, arbeitsrechtliche und – praktische Arran­ gements, schulische Initiativen, Sprachförderung vor allem für Kinder und so weiter. Ich frage mich manchmal, wie es aus der Perspektive von Flüchtlingen wohl aussieht, einerseits gegen ein schwieriges Gewirr von Ämtern und Instanzen um Inklusionsmöglichkeiten zu kämpfen, andererseits als kulturelle Form herhalten zu müssen, das ganz andere sein zu sollen. Am besten, das wissen wir aus klassischen Einwande­ rungsländern, geht es Migranten (welcher Art auch immer), wenn sie möglichst wenig erzählen müssen. Erst dann entstehen ganz neue Ge­ schichten.

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Carlo Kroiß

Und sie bewegen sich doch Über Ankommen und Auskommen in Deutschland

Asylbetrüger, Asylanten, Asylbewerber, Flüchtlinge, Geflüchtete – es gibt zahlreiche Erzählungen über Flucht: von kriminellen Schlepperban­ den und ihren skrupellosen Machenschaften, von ungebremsten Flücht­ lingsströmen und Asylbetrug oder von Krieg, Verfolgung, Elend und der rettenden Flucht. Doch dies sind alles Erzählungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft über Menschen, die geflüchtet sind. Die Geschich­ ten der Geflüchteten selbst taugen maximal als Grundlage für rührse­ lige Einzelfallporträts in der Zeitung oder als Teil einer Fallakte in einer Schublade der deutschen Ausländerbehörden. Dabei haben die Betrof­ fenen viel zu berichten. Nicht nur von der Flucht selbst, sondern ins­ besondere auch vom Ankommen in Deutschland. Im Rahmen meines Promotionsprojektes habe ich offene Interviews mit Asylbewerbern geführt. Manche sind erst seit kurzer Zeit in Deutsch­ land und manche schon seit Jahren. Einige haben inzwischen einen fes­ ten Aufenthaltsstatus, andere müssen sich immer noch jeden Monat bei der Verlängerung ihrer Duldung vor der Abschiebung fürchten. Ihre Geschichten bieten interessante Einblicke in das deutsch­europäische Asylregime und darüber hinaus etwas, das sonst nirgends zu finden ist: einen Blick auf Deutschland, der auf dem Grat zwischen Innen und Außen wandert. Die prekäre Lage der Flüchtlinge erlaubt Beschreibun­ gen über inkludierende Exklusion beziehungsweise exkludierende Inklu­ sion,1 die eine verfremdende und damit neue Perspektive auf vermeint­ lich Bekanntes eröffnet.

Und sie bewegen sich doch

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»Wenn ich das gewusst hätte« – Begegnung mit dem deutschen Asylverfahren Roman2 lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft in Niederbayern. Seine Flucht aus Afghanistan und sein Weg nach Europa sind von Gewalt ge­ prägt. Das Ziel ist für Roman klar: »Und ich will jetzt gar kein Krieg. […] wo ich wohne, ich will in Ruhe leben.« Vor der Ruhe steht in Deutschland für Flüchtlinge aber immer das Asylverfahren. In diesem bürokratischen Vorgang soll überprüft werden, ob tatsächlich Fluchtgründe vorliegen und welcher Aufenthaltsstatus dementsprechend zugewiesen werden kann. Romans Asylverfahren endete negativ. »Über meine Geschichte glauben die hier nicht.« Er legte Widerspruch ein, aber auch das zweite Verfahren wurde negativ beschieden. Aus seiner Sicht wurden ihm fehlende Dokumente, die seine Verfol­ gung belegen könnten, zum Verhängnis: »Die sagen jetzt: Bringst du deine Dokumente oder Fotos oder so. Ich hab keine – ich kann nicht mitnehmen. Wenn so etwas Schlimmes passiert ist, niemand kann überlegen über Dokumente. Ich dachte das nicht, wenn ich nach Deutschland komme, dann die fragen nach meinen Dokumenten. Wenn ich das gewusst hätte, dann (lacht).« Nun lebt er als geduldeter Flüchtling in Deutschland und wundert sich: »Das ist mein Leben? Ich verstehe nicht, was ist mein Zukunft?« Die Verwunderung ist nachvollziehbar. Roman kann keine Ausbildung be­ ginnen oder sich Arbeit suchen. Eigentlich ist dies selbst nach weni­ gen Monaten Aufenthalt bereits im Asylverfahren möglich, aber seine fehlende Mitwirkung, Ausweisdokumente für seine Abschiebung beizu­ bringen, bedeutet einen Verstoß gegen § 15 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) und dies wird in seinem Fall mit dem Entzug der Arbeitser­ laubnis sanktioniert. »Wenn ich meine afghanische Pass bringe oder beantrage, dann die schick nach Afghanistan. Wenn die nach Afghanistan schicken, kann ich nicht mehr leben. Ich will bis am Ende leben.« Er weiß nicht einmal, wie lange er bleiben kann: »Vielleicht zwei Jahre, vielleicht zehn Jahre, vielleicht acht Jahre.« 112

Carlo Kroiß

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Als geduldeter Asylbewerber unterliegt er weiterhin dem Asylbewer­ berleistungsgesetz (AsylbLG). »Und die Landratsamt gibt 280 Euro. Wir können nicht Kleidung kaufen. Manchmal die gebt Schein für Kleidung. […] Dann kaufen wir einfach billiger Kleidung. Wenn zwei-, dreimal waschen wir, dann schon kaputt. So Kleidung wir so anziehen so. Und die gibt auch nicht für uns zu Essen viel Geld.« 280 Euro sind knapp bemessen, um Essen, Kleidung, Hygieneartikel und so weiter zu kau­ fen. Roman möchte aber auch Fußball spielen und mit Freunden seine Freizeit verbringen. »Wenn wir spielen, dann können wir nicht essen«, ist seine Schlussfolgerung. Daher ärgert es ihn umso mehr, wenn das Landratsamt nicht einmal für die Grundausstattung in der Unterkunft aufkommt. »Die Kiste oder Decke oder so die andere Sache – Kühlschrank. […] Müssen wir zwei-, dreimal anrufen und zwei-, dreimal selber sagen. Dann die sagt: Okay. Aber die denkt: Nein. Aber manchmal die sagen auch: Selber kaufen, kaufen Sie selber. Wenn wir selber die Sache kaufe, wir können nicht essen.« Roman ist Anfang 20 und unterliegt deswegen in Bayern der Be­ rufsschulpflicht. In ein­ bis zweijährigen Kursen werden Flüchtlinge hier für einen Beruf oder weitere Bildungsmöglichkeiten fit gemacht. »Aber jetzt habe ich verstanden, was bedeutet Schule. Ja, ich will weiter studieren. In der Schule bin ich Erste. Ja, zwei-, dreimal die Prüfung wir haben gehabt und zwei-, dreimal war Note Eins. Aber wenn so die Landratsamt sagt: Nein, du darfst nicht Ausbildung machen. Jetzt ich kann nicht überlegen.« Für Roman ist regelmäßiger Schulbesuch etwas, das er aus Afghanistan kaum kannte und das ihm hilft, seinen Alltag zu strukturieren. »Schule ist – wenn morgen früh aufsteh, das ist für Kopf auch gut.« Umso begeisterter erzählt er von seinen Erfolgen. Auf Deutsch lesen, schreiben und kommunizieren zu können, gibt ihm neue Hand­ lungsmöglichkeiten, und er fühlt sich auch für eine berufliche Zukunft gerüstet. Seine Pläne sind dabei fast spießig: »Wenn ich Ausbildung mache weiter oder die Schule am Ende mach ich, dann will ich ein gut Job haben. Ich will hier in Deutschland auch eine Familie haben. Ich will auch Kinder. […] Aber wenn so ist, geht nicht.«

Und sie bewegen sich doch

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Seine Inklusion in die schulische Bildung eröffnet ihm Möglichkei­ ten, die er nun nützen möchte, aber nicht darf. Die Schranke seiner Wünsche ist das Landratsamt in Person von Sachbearbeitern, die durch Dokumente und Anweisungen sein Leben bestimmen. »Wenn Deutschland sagt – äh Landratsamt sagt, machen Sie bitte da, dann wir machen. […] Wir sind wie von Landratsamt Kinder oder Sohn. Landratsamt unsere Vater.« Der Kommandogewalt der deutschen Behörden fühlt sich Roman existenziell ausgeliefert. »Wenn Gott sagt: Passt. Dann passt. […] Wenn die sagt: Ja, kannst du nach Afghanistan gehst, kannst du weiter leben. Ich kann nicht weiter leben. Für mich ist ganz schwer das alles.« Die Unsicherheit über die eigene Zukunft wird so belastend, dass das Leben als solches infrage zu stehen scheint. Die Begegnung mit der deutschen Asylbürokratie ist aus der Sicht von Roman ambivalent. Einerseits nimmt er begierig die angebotenen Bildungsmöglichkeiten wahr, knüpft soziale Kontakte beim Sport und in der Gemeinde. Andererseits ist er mit Verfahrensergebnissen kon­ frontiert, die seiner Selbstwahrnehmung als Verfolgter absolut wider­ sprechen und seine Inklusionsmöglichkeiten drastisch einschränken. Er sieht Chancen und darf sie nicht ergreifen – seine Inklusion als Ge­ duldeter exkludiert ihn von anderen Möglichkeiten. »Aber das wissen wir nicht, warum die macht so« – Roman erlebt den Umgang der Asyl­ bürokratie mit sich wie K. seinen Prozess: existenziell betroffen und dem Verfahren ausgeliefert.

»I’m an educated person« – Bildung, Gemeinschaft und Normalität Für Bilal stellen sich die Dinge ganz anders da. Auch er wohnt in Nie­ derbayern in einer Gemeinschaftsunterkunft. Er ist allerdings aus Pa­ kistan mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen und kann hier auf die Unterstützung seiner Gemeinde zählen. Das Bundesamt für Mi­ gration und Flüchtlinge (BAMF) kooperiert mit der Religionsgemein­ 114

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schaft. Deren Mitglieder »haben alle computerized Karte. In ganze Welt kann man sehen und dann in database kann man finden«. Die Gemein­ schaft überprüft auf Anfrage des BAMF, ob der Asylbewerber tatsäch­ lich Mitglied der Gemeinde ist, »und dann schickt ein Zertifikat zum Bundesamt: Ja, er ist unsere Gemeinde und von Pakistan.« Da seine re­ ligiöse Verfolgung gut dokumentiert ist und die Gemeinde die not­ wendigen Bescheinigungen beigebracht hat, hat Bilal kurz vor unserem Interviewtermin seinen festen Aufenthalt bekommen. Nun steht er in den Startlöchern, um sein unterbrochenes Studium aus Pakistan hier in Deutschland wieder aufzunehmen: »So jetzt, ja, ich möchte hier weiter studieren. Weil ich hab ungefähr 14 bis 15 Jahre studiert. So ist alles sinnlos für mich, wenn ich nicht ein Abschluss machen.« Für Bilal ist klar, dass er studieren möchte, bevor er sich eine Arbeit sucht, damit er einen guten Job bekommt. Seine Hauptsorge ist daher: »Wie kann ich studieren in Englisch und so was und wie kann ich studieren anfangen?« Obwohl sein Asylverfahren positiv abgeschlossen ist, stehen ihm weitere Verfahren bevor: Er muss seine Hochschulreife in Deutschland anerkennen lassen, Zulassungsvoraussetzungen an den deutschen Unis recherchieren, die notwendigen Dokumente besorgen und sich schließlich immatrikulieren. Welche Universität passt am bes­ ten zu ihm? Wie ist die Situation mit Studiengebühren? Welche Aus­ wahlkriterien muss er bei einer Bewerbung beachten? Da kommt ein Interviewtermin mit einem deutschen Nachwuchswissenschaftler ge­ rade recht: »Sie verstehen so gut, weil Sie sind Deutscher […]. Vielleicht Sie mir auch helfen?« Um die Zeit bis zur Aufnahme des Studiums sinnvoll zu nutzen, hat Bilal mit dem theoretischen Unterricht für den Führerschein begonnen und plant seinen Auszug aus der Gemein­ schaftsunterkunft. Bilal hat großes Zutrauen zu Deutschland, das sich kaum erschüttern lässt. »Ich hier in Deutschland, ich fühle mich sicher [...]. Ja. Mein medical sehr gut. […] Die Leute sind sehr nett.« Selbst von einem Brand und falschen Verdächtigungen in der Zeitung lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen: »Wir aufgewacht und dann seht wie alle Leute: tock, tock, tock

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machen, klopfen die Zimmer und so. Wenn Türe offen, gebrannt. Alles gebrannt.« Zum Glück können alle Bewohner rechtzeitig das Gebäude verlassen. Bilal hatte davor mehrfach seine Verlegung beantragt und hatte deswegen Angst: »Und jetzt Haus gebrannt. Vielleicht erst mal denken alle Leute, ja, vielleicht die Leute hat das gemacht.« Und tatsäch­ lich erzählt er davon, dass die Lokalzeitung in einem ersten Bericht den Verdacht äußerte, Bewohner könnten die Unterkunft selbst angezün­ det haben. »Die Frau, die Interview gemacht, hat geschrieben, die Pakistani-Leute so gemacht. Vielleicht sie hat das gedacht.« Der Verdacht war aus Bilals Sicht vollkommen unbegründet: »Kein witness, Zeugen, ja. Keine. […] Aber wenn niemand hat falsch gesagt, warum sie hat falsch geschrieben?« Ein Brandgutachten der lokalen Feuerwehr kommt aller­ dings zu dem Ergebnis, dass es sich um einen technischen Defekt ge­ handelt hat, sodass die Angelegenheit geklärt werden kann. Trotz solcher Episoden dominieren in dem ganzen Interview seine Zukunftspläne. Auch explizit auf schlechte Erfahrungen angesprochen betont er seine positiven Erfahrungen mit Land und Leuten. Auch die Unterbringung im Mehrbettzimmer stört ihn nicht, weil er weiß, dass »das ist nicht mein Wohnung. Das bekomm ich von Regierung. Und ist nicht permanent, is temporary. Muss ich aushalten.« Vor dem Hinter­ grund seines festen Aufenthaltsstatus erscheinen abgelegene Unter­ künfte und andere Probleme retrospektiv als temporäre Belastungen, die man ertragen kann beziehungsweise sich auflösen. Auch mit den Behörden pflegt Bilal ein gutes Verhältnis. Er erklärt sich die Probleme, die andere mit dem Landratsamt oder anderen staatlichen Stellen haben, mit deren Fehlverhalten: »There are a lot of uneducated persons. If they want something they say: Okay, we need this. The Landratsamt said: No. They want to fight with them.« Während diese Leute die deutschen Gesetze nicht verstehen und deswegen in Konflikt mit den Behörden geraten, reklamiert Bilal für sich ein reflektierteres Verhältnis. »I’m an educated person. I know what is right or is wrong.«

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»Besseres Leben finden« – Diskriminierung, Offenheit und Unterstützung Eine weitere Interviewpartnerin, Hala aus Somalia, lebt in München. Auch sie hat inzwischen einen festen Aufenthalt und versucht derzeit, ihren Mittelschulabschluss in einer Münchner Projekteinrichtung zu machen. Wegen des Bürgerkriegs aus Somalia geflohen, auf ihrer Flucht in der Ukraine inhaftiert, stellt sie eines heraus: »Deutschland zuerst erleben Sicherheit.« Die Ordnung in Deutschland findet Hala deswegen auch ausgesprochen gut. »Sicherheit und Ordnung gefällt mir sehr, weil das ist sehr wichtig.« Seit sie in München ist, hat sie bereits gearbeitet, macht jetzt ihren Schulabschluss und sucht parallel nach einem Ausbildungsplatz. »Und ich mache die Prüfung Juli. Aber dieses Jahr ich – auf jeden Fall ich suche eine Ausbildungsplatz zu finden.« Ihre Prioritäten liegen dabei auf medi­ zinischen Ausbildungsberufen, die sie bereits bei Praktikumseinsätzen kennengelernt hat. Bisher hat Hala aber trotz intensiver Suche keine Ausbildungsstelle gefunden und vermutet, es liegt an ihrem Kopftuch: »Und manche sagen kein Platz und manche indirekt oder direkt, die sagen das: Du musst das einfach weglassen.« Einerseits kann Hala ver­ stehen, dass manche Menschen von ihrem Kopftuch irritiert sind, an­ dererseits möchte sie ihren Glauben nicht verleugnen und verweist auf das Beispiel anderer Frauen: »Ich kenne mehrere Frauen, viele Frauen hier in München – sie machen alles Ausbildung. Sie tragen doch Kopftuch.« Im Gegensatz zu den Schwierigkeiten bei der Ausbildungsplatzsuche begegnet ihr keine Ablehnung im Alltag: »Nein, nein, überhaupt nicht. Das überhaupt in meinem Leben gar nicht so was gesehen.« In München erlebt sie vielmehr Offenheit und eine Vielfalt an Optionen, um ihr Leben zu gestalten. »Die große Stadt finden sie alles Möglichkeit. Arbeit. Schule. Ausbildung.« Sie wohnt in einer Wohngruppe zusammen mit einer anderen jungen Flüchtlingsfrau und hat durch Schule und Prak­ tika ausländische und deutsche Bekannte und Freunde. »Ich kenne viele

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Bekannte unterschiedliche – nicht nur deutsch. Bekannte unterschiedliche Länder. Hab ich kennen hier gelernt.« In scharfem Kontrast dazu steht ihre Zeit in einer nordbayerischen Stadt zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland. In der Asylbewerberunterkunft in einem Mehrbettzim­ mer war sie von der Gesellschaft isoliert: »Ich hatte keine Kontakte, weil ich besuche keine Schule. […] Und ich wohne nur Heim und da gibt es nur die Ausländer – die Flüchtlinge Leute – nicht Deutsche.« Keine Schule, keine Chance auf einen Ausbildungsplatz, kein Kontakt außer­ halb der Unterkunft. Erst der Transfer nach München und ihr fester Aufenthaltsstatus haben Zukunftschancen eröffnet. »Seit ich Asyl wohne, das damals ich habe keine Schule bekommen. Überhaupt gar nix. Ich muss bis meine Aufenthalt bekomme, dann hab ich erste Deutschkurs besucht.« Der Aufenthaltstitel verleiht Zuversicht, weil sie sich nun ab­ gesichert und unterstützt fühlt. »Auch wenn man kriegt Aufenthalt, kriegst du auch irgendwas Unterstützung, natürlich, in der Stadt so was. Wenn du arbeitslos bist oder wenn du in die Schule bist.« Ein bisschen ist sie aber noch von der Eigenständigkeit überfordert: »Und Nachteil ist echt: Man muss alles alleine machen.« Dabei plant Hala sorgfältig ihre Karriereschritte: »Erste Schritt ist die Abschluss, Mittelschulabschluss. […] Und dann Schritt für Schritt von Ausbildung.« So möchte sie sich ein neues Leben aufbauen. Auf die Frage, was die wesentlichen Bedürfnisse für Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind, ant­ wortet sie sofort, dass man »auch eine Möglichkeit braucht, ein bessere Leben zu finden. Arbeit, lernen. […] Ich glaube, das ist sehr wichtig.«

»Darf ich Wettkampf machen?« – Sport, Heimweh und Langeweile Bei Walid läuft das Asylverfahren noch, obwohl er zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit über einem Jahr in Deutschland lebt. Seine Flucht aus Afghanistan stoppte in Deutschland, weil »Deutschland Polizei hat gesagt, musst du hier leben, ist sicher«. Prinzipiell findet er auch, dass »Deutschland ist richtig gute Land«. Deswegen lernt er seit sechs Mo­ 118

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naten in einem Deutschkurs die Sprache. Aber seit einigen Wochen fällt es ihm immer schwerer, »weil ich habe zu viel Problem mit mein Kopf. Immer ich denke über meine Familie.« Ein Arzt verschreibt ihm Pillen, ohne die er inzwischen gar nicht mehr schlafen kann. Er selbst möchte sich auf den Deutschkurs und andere Dinge konzentrieren. »Ich will nicht denke, aber meine Kopf selber denke«, beschreibt er seine Belastung. Seine Gesundheit geht ihm über alles, weshalb er bereits kurz nach seiner Ankunft in einer Gemeinschaftsunterkunft in Niederbay­ ern das örtliche Sportangebot sondiert: »Ich hab gefragt mit Leute, so viel Leute, wo ist der Sport, wo ist der Sport?« Seitdem ist er erfolgreicher Kickboxer, nimmt an Turnieren teil und gewinnt Trophäen für seinen Verein. Sein Kopf belastet ihn aber auch hier: »Weil in Wettkampf hab ich gedenkt meine Familie und bam (macht eine Schlagbewegung). Geschlagen hier.« Sein Veilchen hat ihn aber nicht aufgehalten, und er holt trotzdem den ersten Platz. Stolz zeigt Walid die errungenen Pokale und Medaillen auf seinem Fernseher. Der Sport hält ihn körperlich fit, kann ihm aber nicht die traumatischen Erinnerungen und die Angst um seine Familie nehmen. Seine Lebenssituation ist ansonsten recht trostlos. Er würde gerne arbeiten, aber davor muss er erst sein Deutsch verbessern. So lange muss er die Langeweile in der Asylunterkunft ertragen. »Ich mag nicht essen, schlafen, essen, schlafen, ohne Arbeit.« Aber bisher hatte er noch nicht einmal seine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Sein Asylverfahren kommt nicht voran, und die innere Unruhe wächst: »Ja, ich bin nicht sicher, kann ich hier bleiben oder kann ich nicht hier bleiben.« Viele seiner Bekannten aus der Sammelunter­ kunft haben Ähnliches erlebt und wurden nach jahrelanger Wartezeit schlussendlich als Asylbewerber abgelehnt. »Sowieso zwei, drei Jahre, dann negativ kommt, sowieso man verrückt.« Wie viele andere möchte Walid sich ein neues Leben aufbauen: »Ich hoffe, ich später vielleicht – wir arbeiten oder wir machen eine Ausbildung oder so und dann vielleicht besser, ich hoffe besser.« Denn Aus­ bildung und Arbeit bedeuten auch eine Perspektive auf finanzielle

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Unabhängigkeit. 280 Euro erhält Walid nach dem AsylbLG monatlich. Davon muss er seine Lebensmittel, Hygieneartikel und anderen persön­ lichen Bedarf bezahlen. Er wurde beim Schwarzfahren erwischt, »weil meine Kopf funktioniert nicht, habe ich gegangen beim Zug«, und muss seither seine Strafe in Monatsraten abbezahlen. Daneben hat er hohe Handykosten, weil er mit seiner Familie in Afghanistan in Kontakt blei­ ben möchte. Von den 280 Euro bleiben faktisch nur 150 Euro übrig. »Das Geld ist nicht genug, wirklich. 150 Euro ich muss essen, trinken, Shampoo for Dusching kaufen. Alles ich muss kaufen. Denken Sie bitte etwas. Man kann mit 150 Euro alles kaufen?« Ein erster Schritt ist ein Praktikum, das ihm ein Bekannter aus dem Sportverein besorgt hat. »Ist auch ohne Geld, vier Wochen. Und dann später vielleicht Arbeit ich suche, eine Arbeit oder eine Ausbildung, schau mal, was ist besser dann.« Zur Untätigkeit verdammt und auf die finan­ zielle Unterstützung durch den deutschen Staat angewiesen zu sein, behagt Walid gar nicht. »Ich hab verletzt. Landratsamt bezahlt. Meine Zimmer Landratsamt bezahlt. Ich gehe zum Arzt. Landratsamt bezahlt. Mein Wasser, mein Nebenkosten. Alles Landratsamt. Das geht nicht! Ich muss selber arbeite. Nicht ich – alle Leute muss selber arbeite, selber bezahle, selber alles des. Ich glaube, das ist besser als Asylheim.« Neben den begrenzten finanziellen Möglichkeiten stört Walid ins­ besondere seine Residenzpflicht. Er darf sich in Deutschland nicht frei bewegen, sondern muss dafür eine Sondererlaubnis beantragen: »Unser Ausweis, wir kann nicht 30 Kilometer übergehen.« So sitzt er mit über 100 weiteren Asylbewerbern in der Unterkunft. »Das ist wirklich in Asylheim, das ist Problem. […] Zum Beispiel gestern Abend eine Mann drinking Alkohol hier […] alle Leute kann nicht schlafe.« Mit all diesen Problemen auf sich alleine gestellt, fällt sein Urteil dementsprechend negativ aus. Auf die Frage, was ihm hier in Deutschland am besten gefällt, antwortet er: »Wir haben keine Beste. […] Mein Beste passiert ist, darf ich Wettkampfe machen, das ist mein Bestes bisher. Da ich mag Wettkampf.«

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Der alles entscheidende Rechtsstatus Die Geschichten der vorgestellten Asylbewerber unterscheiden sich in vielen Punkten. Die Gründe der Flucht, die Erlebnisse auf ihrem Weg nach Europa, aber auch persönliche Wertvorstellungen und Erfahrun­ gen in Deutschland sind sehr verschieden und trotzdem nur ein klei­ ner Ausschnitt aus der Vielfalt der Erzählungen der ankommenden Geflüchteten. Dass individuelle Differenzen wie beispielsweise der Bil­ dungshintergrund große Unterschiede für die Lebenschancen bedeuten, ist so offensichtlich wie banal. Dies ist auch in der deutschen Mehr­ heitsgesellschaft nicht anders. Die entscheidende Differenz ist der pre­ käre Rechtsstatus. Flüchtlinge sehen die Möglichkeiten der deutschen Gesellschaft und sind trotzdem häufig davon ausgeschlossen, weil ihr Aufenthaltsstatus wie ein Filter den Zugang reguliert. Bildung, Arbeits­ markt und damit zusammenhängend soziale Kontakte, Partizipations­ möglichkeiten am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sind vom Ausgang des Asylverfahrens abhängig. Wenn Hala betont, dass sie »noch nicht echte Probleme gekriegt [hat] von der Gesellschaft, von Deutschland« und Bilal alle Einschränkungen klaglos akzeptiert, weil sie nur temporär sind, dann muss man dies als retrospektive Erzählungen vor dem Hintergrund des nun bestehenden sicheren Aufenthaltsstatus ver­ stehen. Eigentlich sind alle vier Erzählungen Erfolgsgeschichten: So drama­ tisch einzelne Episoden sind, so elendig die Lage auch teilweise scheint, bisher haben sich alle sehr erfolgreich behaupten können und schmieden Zukunftspläne in Deutschland. Sie beschreiben sich als handlungsfä­ hige Akteure, die sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lassen und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen. Bildung ist hierzu der Schlüssel, weshalb das Thema bislang in jedem einzelnen von mir geführten Interview – auch jenseits der vier vorgestellten – einen zen­ tralen Platz eingenommen hat. Hier sind Inklusionserfolge trotz des oft sehr prekären Rechtsstatus innerhalb kürzester Zeit sichtbar – so­ wohl für die Mehrheitsgesellschaft als auch für die Betroffenen selbst.

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Die Hindernisse für solche Erfolgsgeschichten sind aber ebenso sicht­ bar. Erfolge können nur dort erzielt werden, wo Inklusionsmöglichkeiten gegeben sind. Wer keinen Platz in einer Bildungseinrichtung bekommt, kann auch keine Bildungserfolge erzielen, wer keine Arbeitserlaubnis erhält, kann sein Leben nicht selbst finanzieren, und wenn soziale Kon­ takte und Deutschkurse fehlen, dann bleibt nur kommunikative Isola­ tion von der Mehrheitsgesellschaft. Insbesondere die teils jahrelange Unsicherheit über den Rechtsstatus fungiert als exkludierende Inklu­ sion, die den geflüchteten Menschen zwar einen prekären Platz in der deutschen Gesellschaft zuerkennt, sie aber gleichzeitig von den grund­ legendsten Partizipationsmöglichkeiten ausschließt. Das Asylverfahren, das den Rechtsstatus klären soll, muss dabei die Fluchtgründe bewerten. Neben den Erzählungen der Geflüchteten wer­ den dabei insbesondere Dokumente oder andere Belege herangezo­ gen, die die Geschichten validieren oder falsifizieren können. Wie sich an den vorgestellten Personen zeigt, können solche Nachweise das Ver­ fahren nicht nur beschleunigen, sondern das Fehlen solcher Belege kann auch einen negativen Ausgang bedeuten. Aber auch ohne eine formale Anerkennung als Asylberechtigte könnte Flüchtlingen ein fester Auf­ enthaltsstatus zuerkannt werden beziehungsweise muss auch eine be­ fristete Duldung nicht zwingend einen Ausschluss aus Bildung oder Arbeit bedeuten. Hier ist viel Spielraum für regional teilweise sehr un­ terschiedliche Auslegungen von Soll­ und Kann­Bestimmungen in den Asylgesetzen und Verordnungen. So wird mit der Interpretation, aber auch mit Debatten über Reformen der Asylgesetzgebung deutsche Innenpolitik gemacht. Unterbringung in Sammelunterkünften in Mehr­ bettzimmern oder Unterbringung in eigenen Wohnungen? Ausgabe von Essenspaketen oder Bargeld, um selbst im Supermarkt einkaufen zu gehen? Lockerung der Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt oder restriktiver Ausschluss? Willkommenskultur oder rasche Abschiebung? Eine jetzt beschlossene Asylrechtsverschärfung erleichtert insbe­ sondere die Inhaftierung von »illegal Eingereisten« oder Asylbewer­ bern, die auffällig geworden sind aufgrund fehlender oder falscher 122

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Angaben zu Herkunft und Pass. Die Haft als Form der Inklusion ex­ kludiert von allen anderen Inklusionschancen und macht deutlich, was der deutschen Innenpolitik als Problem erscheint: Asylbewerber könnten sich bei der Einreise oder im Land den europäischen Verfah­ rensvorschriften entziehen, verweigern oder diese umgehen. Die Liebe zum ordentlichen Verfahren als präventiver Haftgrund. Die andere Seite der Medaille sind ganze Heerscharen von Helfern, die professionell oder ehrenamtlich Geflüchteten Deutschkurse anbie­ ten, bei Rechtsproblemen oder der Jobsuche unterstützend tätig werden oder einfach nur einen netten Spielenachmittag für Flüchtlingskinder organisieren. Die guten und wirklich anerkennenswerten Absichten fol­ gen dabei aber oft dem Bild vom Asylbewerber als hilflosem Opfer, das man an der Hand nehmen und in das neue Leben einführen müsste. Keine Frage: Viele dieser Hilfsangebote machen das Ankommen leich­ ter beziehungsweise füllen wesentliche Lücken in der staatlichen Be­ treuung und Versorgung. Für viele geflüchtete Menschen sind solche Kontakte sehr wertvoll und eröffnen Beziehungen und Möglichkeiten – Voraussetzung für die Inklusion in Bildung, Beruf oder soziales Leben. Aber es besteht auch die Gefahr eines paternalistischen Verhältnisses, das Flüchtlinge nicht als potenzielle neue Mitbürger ernst nimmt, son­ dern als Projektionsfläche für die eigenen guten Absichten missver­ steht. Zwischen den Polen der helfenden Hand und der Abschiebehaft be­ wegt sich die Diskussion in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die schrillsten Debattenbeiträge kommen dabei aus einem nationalisti­ schen und rechtskonservativen Lager, das sich im Abwehrkampf für ein christliches Abendland wähnt und noch jedes Gerücht nutzt, um mit Ressentiments gegen Asylbewerber Politik zu machen. Doch egal, welche Position man zu Fragen der Einwanderung nach Deutschland bezieht, die ganze Debatte krankt an einem offensichtlichen Bias: Es wird mit Vorliebe über und nicht mit den Geflüchteten gesprochen. Dabei würden gerade hier große Potenziale liegen. In den Inter­ views wurde deutlich, dass Asylbewerber die Art und Weise, wie mit

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ihnen umgegangen wird, sehr reflexiv verarbeiten. Erfahrungen in ver­ schiedenen Ländern werden miteinander verglichen, die Unterbrin­ gungssituation in den Unterkünften wird differenziert bewertet, und auch die Notwendigkeit, eigene Anstrengungen für eine umfassende Inklusion zu unternehmen, ist allen bewusst. Absurditäten wie Flücht­ linge in der Berufsschule auf den Eintritt in ein Ausbildungsverhältnis vorzubereiten, nur um ihnen dann ebendieses vorzuenthalten, werden selbstbewusst thematisiert und kritisiert. Aus meiner Sicht liegt hier das entscheidende Potenzial für Kritik. Wenn statt Flüchtlingsabwehr eine wie auch immer geartete Willkommenskultur Einzug halten soll, dann müssen wir auf die Berichte derjenigen hören, die man zu Recht als Experten ihrer selbst beschreiben kann: die Asylbewerber, die wis­ sen, wo der Schuh drückt.

Nicht drinnen – nicht draußen »Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernach­ tet, wohnt oder übernachtet gewissermaßen im Schloß. Niemand darf das ohne gräfliche Erlaubnis. Sie aber haben eine solche Erlaubnis nicht oder haben sie wenigstens nicht vorgezeigt.«3 Mit dieser Nachricht wird K. von einem Boten auf seinen prekären Aufenthaltsstatus in den gräflichen Ländereien aufmerksam gemacht. Dass gewissermaßen im Schloss eben nicht im Schloss ist und welche Zumutungen eine un­ durchsichtige bürokratische Klärung des eigenen Aufenthaltsstatus be­ deutet, wird wohl nirgends so meisterhaft beschrieben wie in diesem Werk von Kafka. Das Gefühl, weder wirklich drinnen noch wirklich draußen zu sein, einer übermächtigen Bürokratie ausgeliefert zu sein und gleichzeitig alles in den eigenen Möglichkeiten Liegende zu tun, um die eigene Existenz zu sichern und eine Zukunft zu entwerfen, dürfte charakteris­ tisch für viele Geflüchtete sein. Europa und damit auch Deutschland, die massive – auch militärische – Mittel aufwenden, um Flüchtlinge 124

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am Betreten des Binnenraums zu hindern, gerieren sich nach außen wie eine Festung und nach innen wie das kafkasche Schloss. Die Geschichten der Flüchtlinge, die von diesen Erfahrungen der Gratwanderung zwischen Innen und Außen berichten, sind nicht nur politisch bedeutsam, sondern besonders. Sie bieten einen Blick auf Deutschland, der einem als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft sonst nicht zugänglich ist. Die Erzählungen irritieren so manche ver­ meintliche Selbstverständlichkeit und beleuchten die fast unsichtbaren Voraussetzungen unserer »Normal«­Inklusion in eine moderne Ge­ sellschaft. Ähnlich wie Kafkas Romane ermöglichen die Flüchtlings­ narrationen uns, ein Gespür für die Ambivalenzen der derzeitigen Vergesellschaftungsform zu entwickeln – wir müssen nur zuhören.

Anmerkungen 1 Nassehi, Armin: »Inklusion/Exklusion«. In: ders.: Geschlossenheit und Offenheit. Frankfurt am Main 2003, S. 100–106. 2 Alle Namen und biografischen Angaben in den Interviews sind so verändert, dass die Anony­ mität meiner Interviewpartner gewahrt bleibt. Die Interviews wurden im Rahmen meines Promotionsprojektes zwischen Herbst 2014 und Sommer 2015 geführt und transkribiert. 3 Kafka, Franz: Das Schloß. Frankfurt am Main 2003, S. 9.

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Friedrich Kiesinger

Empowerment von unten Aufsuchende Flüchtlingshilfe in Berlin

»Berlin schließt Zeltlager nicht mehr aus« – so lautet die Schlagzeile des Tagesspiegels am 4. August 2015. Noch vor wenigen Tagen war die Stadtpolitik stolz, alle beschlagnahmten Sporthallen geschlossen zu haben und mittels neuer Containeranlagen und anderer Einrichtungen dem Problem der immer häufiger nach Berlin strömenden Flüchtlinge Herr zu werden. Alleine im Juli kamen über 4100 neue Flüchtlinge nach Berlin, was eine Vervierfachung der Zahlen gegenüber dem Vorjahres­ monat darstellte.1 Bis Ende des Jahres werden über 30 000 Flüchtlinge erwartet. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) campen inzwischen viele Flüchtlinge schon lange vor der offiziellen Öffnungszeit, und im Straßenbild der Stadt wird immer deutlicher sichtbar, dass nicht nur laufend mehr Touristen in die deutsche Haupt­ stadt strömen, sondern Berlin für viele geflüchtete Menschen ein zen­ trales Ziel im Land geworden ist. Nur der momentanen Sommerzeit ist es zu verdanken, dass sich die Problemlage nicht noch mehr zuspitzt. Der Berliner Flüchtlingsrat warnt indes vor der bevorstehenden Gefahr massiver Obdachlosigkeit bei den geflüchteten Menschen, und erste Äußerungen von Verantwortlichen sind zu hören, dass es nicht so schlimm sei, im Freien zu übernachten. Das zeigt die veränderte, sich zuspitzende Situation. Außerdem werden kurzfristig Stadtteilzentren und Nachbarschaftseinrichtungen aufgefordert, vorübergehende Über­ nachtungsmöglichkeiten anzubieten, während gleichzeitig, lähmend langsam, Angebote zur dauerhafteren Unterbringung in den zuständi­ gen Behörden bearbeitet werden. 126

Friedrich Kiesinger

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Meist liegen der aktuellen Debatte Diskussionsstränge zugrunde, deren Haupttenor darauf ausgerichtet ist, was man mit den Flüchtlin­ gen machen soll. Zu kurz kommen dabei Überlegungen, wie man den hier ankommenden Menschen Handlungsspielräume eröffnet, sodass sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten und sich in die Gesellschaft ein­ bringen können. Daher muss ein Empowerment der Flüchtlinge statt­ finden. Denn langfristige Selbständigkeit und damit eine gute Inte­ gration kann vor allem erreicht werden, wenn die Möglichkeiten der Menschen verbessert werden, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu übernehmen. Der US­amerikanische Verhaltens­ und Sozialpsycholo­ ge David McClelland2 sieht die Bedingung dafür, dass Menschen Macht über ihr eigenes Leben gewinnen, darin, dass sie Zugang zu In­ formationen über sich selbst und ihre Umwelt haben und willens sind, mit anderen daran zu arbeiten, sodass eine Veränderung einsetzen kann. Sie müssen die Möglichkeiten haben und erkennen können, selbstbestimmt innerhalb der Organisationen und Institutionen, die sie umgeben, zu handeln. Vor allem während der langen Wartezeiten auf die Entscheidung, ob Asyl gewährt wird, sind die Flüchtlinge aber zum Nichtstun verurteilt. Obwohl sich die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag vom Novem­ ber 2013 das Ziel gesetzt hat, Asylanträge innerhalb von drei Monaten zu bearbeiten, betrug die durchschnittliche Wartezeit auf eine Entschei­ dung im Jahr 2014 gut sieben Monate, bei manchen Herkunftsländern, wie zum Beispiel Afghanistan, länger. Wie Dietrich Thränhardt feststellt, »bedeutet [dies] für die Flüchtlinge eine extreme Belastung sowie eine lange Zeit in Unsicherheit und ohne Perspektive. Auch kann die Warte­ zeit bisher nur in fünf Bundesländern mit einem Sprachkurs über­ brückt werden, da die Öffnung der Sprach­ und Integrationskurse durch das Bundesministerium des Innern bisher noch abgelehnt wurde.«3 Zudem sind die Hürden, eine Beschäftigung aufzunehmen, für Flücht­ linge hoch, obwohl die deutsche Bevölkerung sowie der Bund deutscher Arbeitgeber mehrheitlich für eine schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt sind. Sich wandelnde rechtliche und politische Grundla­

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gen, wie die Verkürzung der Sperrzeit zur Arbeitsaufnahme auf drei Monate (zuvor waren es neun) seit November 2014 und die Streichung der Vorrangprüfung bei der Aufnahme von Praktika, bieten zwar Chan­ cen für eine bessere Integration. Viele weitere Beschränkungen, wie die Vorrangprüfung bei regulärer Beschäftigung, bleiben aber beste­ hen, und die Wartezeiten für Flüchtlinge, die sich im Asylverfahren befinden, sind lang. Auf eine »blaue Karte« dürfen nur die wenigsten hoffen. 2014 wurden laut einer Erfassung des Ausländerzentralregisters noch nicht einmal 12 000 verteilt. Dabei sind die meisten Asylbewer­ ber zwischen 18 und 34 Jahre alt, also im erwerbsfähigen Alter.4

Wartezeit nutzen Die Integration Schutz suchender Menschen in unsere Gesellschaft ist ein zentrales politisches und gesellschaftliches Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Menschen auf beiden Seiten aufeinander zuge­ hen und sich darum bemühen, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten. Um eine solche Begegnung ermöglichen zu können, müssen sich die Beteiligten aber ihrer eigenen kulturellen Normen und Werte sicher sein. Viele Menschen, die aus Krisenregionen nach Europa kommen, haben stark belastende Lebenserfahrungen gemacht, welche die eigene kulturelle Identität mitunter infrage stellen können. Seelische Belastun­ gen können dazu führen, dass die Handlungsfähigkeit als eingeschränkt empfunden und das selbstbewusste Zugehen auf eine neue Umgebung zusätzlich erschwert wird. Deshalb muss ein wichtiger Bestandteil der Integrationsbestrebungen das Empowerment der Flüchtlinge sein. Die derzeitige Situation der Flüchtlinge aber ist in Strukturen eingebettet, die es für sie quasi unmöglich machen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zuständig für die Erstaufnahme der Flüchtlinge sind Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen. Zuständigkeiten und Pflich­ ten müssen zunächst oft lange ausgehandelt und Kompromisse ge­ schlossen werden. Der Mut zu einer großen Lösung war bisher nicht 128

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zu erkennen. Die bestehenden politischen Strukturen sind noch zu un­ flexibel. Nicht nur im Bereich der Arbeitsvermittlung müssen flexiblere Lösungen gefunden werden. Der Bürokratieaufwand, der im Gesund­ heitsbereich betrieben wird, ist beispielsweise enorm und bindet Res­ sourcen des LAGeSo, der Bezirksämter und der amtsärztlichen Dienste, die ohnehin schon überlastet sind. Erst Asylberechtigte, die mehr als 15 Monate in Deutschland leben, erhalten eine Versichertenkarte. Da­ vor wird die Versorgung über Papierkrankenscheine geregelt. Diese werden durch das LAGeSo ausgegeben, das mit der Bearbeitung über­ lastet ist, sodass es zu einer Unterversorgung im gesundheitlichen Be­ reich kommt. Bremen und Hamburg haben bereits die Gesundheits­ versorgung Asylbewerberleistungsgesetz­Berechtigter auf Krankenver­ sichertenkarten umgestellt. Berlin sollte nachziehen. Eine radikalere Lösung wäre die sofortige Aufnahme geflüchteter Menschen, die eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit haben, in die gesetzliche Krankenver­ sicherung mit allen Rechten und Pflichten. Neuere Untersuchungen belegen, dass durch die Aufnahme in das Regelsystem die Kosten ge­ genüber einer Versorgung in Sonderbereichen sinken würden.5

Vorhandene Strukturen einbeziehen Es gibt vielfältige Initiativen und Vorschläge zur Verbesserung aus Kreisen von NGOs, Sozialunternehmen und freien Trägern. Mit ihren flexiblen Strukturen, ihrer großen Erfahrung in der aufsuchenden So­ zialhilfe und ihrer interdisziplinären Arbeit können sie Vorreiter bei der innovativen Entwicklung neuer Konzepte im Bereich der Integra­ tion von Flüchtlingen sein. Und auch die bereits vorhandenen Struktu­ ren ihrer niedrigschwelligen Angebote in Berlin können besser als bisher genutzt werden. So bieten alle bisherigen Betreiberkonzepte von Flüchtlingsunter­ künften in Berlin zum Beispiel keine psychosoziale Betreuung der ge­ flüchteten Menschen vor Ort an. Aufsuchende Konzepte, die seit über

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einem Jahr von Trägern wie Albatros in Flüchtlingseinrichtungen an­ geboten werden, gehen mit interdisziplinären muttersprachlichen Teams, die zudem noch von ehrenamtlich tätigen Flüchtlingen flankiert werden, direkt in die Einrichtungen, bieten regelmäßige Sprechstun­ den vor Ort an, begleiten die Ratsuchenden konstant bei den erforder­ lichen Schritten und koppeln immer wieder zusätzliche rechtliche, medizinische und psychotherapeutische Hilfen an. Hierbei ergibt sich ein direktes Begleiten und Hinführen zu den Basiseinrichtungen der Stadt. So werden Sonderstrukturen eher verhindert und die Einbezie­ hung der breiten Infrastruktur besser ermöglicht. Es gibt zahlreiche niedrigschwellige Angebote, die schnelle Unter­ stützung anbieten können. Allein im Stadtgebiet sind es 25 psychosoziale Kontakt­ und Be­ ratungsstellen, 22 Selbsthilfekontaktstellen, 15 Kontaktstellen für Frei­ willigenarbeit sowie circa 100 Stadtteil­, Kultur­ und Nachbarschafts­ zentren, Bürger­ und Jugendtreffs, sozialkulturelle Zentren und so weiter. Diese Strukturen zu nutzen, kann dabei helfen, den Flüchtlin­ gen schnelle Angebote an die Hand zu geben, auch wenn ihr Status noch nicht abschließend geklärt ist, und die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung sinnvoll zu koordinieren. Damit werden den Flüchtlin­ gen auch während der Wartezeit Möglichkeiten gegeben, sich han­ delnd zu orientieren. Erste Schritte in diese Richtung hat der Berliner Senat auf den Weg gebracht, indem er einzelnen, nahe gelegenen Stadtteilzentren eine halbe zusätzliche Stelle zur Integration und För­ derung der Willkommenskultur zugestanden hat. Dieser Prozess muss unbedingt weitergeführt werden.

Qualifikationen von Flüchtlingen erkennen Ein entscheidender Bestandteil des Empowerments von Flüchtlin­ gen ist die Integration durch Arbeit. Flüchtlinge bringen Kompetenzen und Qualifikationen mit. Nach Daten des Bundesamtes für Migration 130

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und Flüchtlinge »verfügen 90 Prozent der Flüchtlinge über Schulbil­ dung, […] 16 Prozent […] gingen nach eigenen Angaben auf ein Gym­ nasium [und] 15 Prozent waren auf einer Hochschule«.6 Aufgrund der besonderen Situation, in der sich die Flüchtlinge befinden, liegen diese Kompetenzen und Qualifikationen meist brach, gehen eventuell verlo­ ren oder werden, vor allem bei jungen Menschen, gar nicht erst ausge­ bildet. Hier können Sozialunternehmen und freie Träger unterstützend einwirken. So hilft das Projekt T.E.S.A. aus München Flüchtlingen, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zertifizieren zu lassen und ihre Quali­ fizierung zu erweitern. In Berlin engagiert sich ARRIVO, eine gemein­ same Initiative der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, der Handwerkskammer Berlin und dem Berliner Netz­ werk für Bleiberecht »bridge«. Sie vermitteln Praktikumsplätze an Flüchtlinge und ermöglichen so, dass sich Arbeitgeber und potenzielle Arbeitnehmer kennenlernen können und die Flüchtlinge ihre Fähig­ keiten und Interessen erproben. Ein weiteres Beispiel für Empower­ ment im Bereich Arbeit stellt in Berlin eine Initiative dar, die das Hotel Utopia betreiben will, und dies maßgeblich durch Flüchtlinge.

Interkulturellen Dialog voranbringen Zudem kann die Initiierung von Theaterprojekten oder das Bereitstel­ len von Möglichkeiten, die eigene Kultur zu pflegen und nach außen darzustellen, dabei helfen, die kulturelle Identität der Flüchtlinge, die durch Flucht­ und Krisenerfahrung sowie durch eventuelle Ausgren­ zung geschwächt sein kann, wieder zu stärken. Solche Projekte wurden bereits in vielen deutschen Städten gegrün­ det und erfolgreich der Öffentlichkeit vorgestellt. Weltweit sind Projekte, die mit Kunst­ und Kulturarbeit daran mitwirken, die kulturelle Iden­ tität von Gemeinschaften und Individuen zu stärken, gegründet wor­ den. Performative Künste bieten einerseits die Chance, eigene Gefühle zum Ausdruck zu bringen, andererseits geben sie den Ausführenden

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die Möglichkeit, an eigene kulturelle und künstlerische Traditionen an­ zuknüpfen, diese lebendig zu halten und sie anderen zu vermitteln. So können sich positive Effekte dadurch einstellen, dass ein neuer Zugang zu Emotionen und Erlebnissen freigelegt wird, aber auch dadurch, dass die eigene Herkunftskultur und ihre Werte auf positive Weise In­ teressierten vor Augen geführt werden und damit ein Dialog zwischen den Kulturen eröffnet werden kann. Auch die Einbindung in Sportver­ anstaltungen und ­vereine wird bereits durch Projekte und ehrenamt­ liche Initiativen ermöglicht.

Gesundheitliche Versorgung vereinfachen Neben der Stärkung der genannten Bereiche gilt es auch, die psychi­ schen und gesundheitlichen Bedingungen der Flüchtlinge zu beden­ ken. Die Menschen haben oft sowohl in ihrem Heimatland als auch auf der Flucht stark belastende Lebenserfahrungen gemacht. Studien aus anderen Ländern zeigen, dass Flüchtlinge eine vergleichsweise hohe Rate an psychischen Erkrankungen aufweisen. Circa 63 bis 84 Prozent der Flüchtlinge zeigen Symptome von Angst und Depression, 41 bis 54 Prozent haben posttraumatische Erkrankun­ gen,7 und über 50 Prozent haben Erkrankungen der Atmungssysteme, Muskel­ und Skeletterkrankungen sowie weitere Schmerzsymptome, die sich unbehandelt zu chronischen und damit teuren Erkrankungen verstetigen.8 Neben der Stärkung spezialisierter Zentren, die allerdings eine be­ schränkte Aufnahmekapazität haben, könnte man zum Beispiel durch eine Anbindung und Vermittlung an im Rahmen der ambulanten psy­ chosozialen Versorgung bereits in jedem Bezirk finanzierte Kontakt­ und Beratungsstellen mit ihrem niedrigschwelligen Angebot gegen den Versorgungsengpass gegensteuern. Hierfür müssten jedoch zusätzliche Mittel im Haushalt freigegeben werden.

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Obdachlosigkeit vermeiden Durch die stark angestiegenen Zahlen der nach Deutschland kom­ menden Asylbewerber ist auch die Unterbringung eine Herausforde­ rung. Bis zum Jahresende werden in Berlin wohl mindestens 8000 neue Wohnplätze gebraucht.9 Derzeit werden zahlreiche Neubauten errich­ tet, weil dem Senat landeseigene Häuser für die Unterbringung fehlen. In der Zwischenzeit wurde und wird mit Provisorien wie Zeltstädten, Containerdörfern oder der Unterbringung in Turnhallen eine Situa­ tion geschaffen, die einer Integration im Wege stehen kann. Im Bereich des Wohnens ist durch freie Träger und ehrenamtliche Helfer viel Ar­ beit zu leisten. Einerseits können sie in den Erstunterkünften den Kon­ takt zu den Ankommenden knüpfen und ihre Bedürfnisse erfassen sowie sie in der Suche nach den für sie passenden Schritten bei der Integration unterstützen. Andererseits wirken sie als Vermittler, wenn es für die Asylanten darum geht, eine eigene Wohnung zu finden. Sie können helfen, das Angebot an Wohnungen zu sichten und die Kom­ munikation mit dem Vermieter zu erleichtern. Diese Angebote existie­ ren ohnehin bereits in der aufsuchenden sozialen Arbeit. Angesichts der prekären Situation wirken diese wichtigen Maßnah­ men jedoch wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. So warnt der Flüchtlingsrat vor steigender Obdachlosigkeit, denn auch die letz­ ten Hostels, in die sich junge Backpacker nicht mal für eine Nacht wa­ gen würden, sind inzwischen zu stattlichen Tagessätzen voll belegt. So besteht die Gefahr, dass in Berlin das illegale Geschäft mit der Unter­ bringung von Flüchtlingen in leer stehenden Objekten Blüten treibt, wie erste polizeiliche Ermittlungen ergeben haben. Derzeit können nur große Aufnahmezentren mit Campus­Modellen Abhilfe schaffen. Wichtig ist dabei, dass diese Zentren mit den lokalen Akteuren und Communitys gut vernetzt werden, um frühzeitig wichtige Integra­ tionsschritte einzuleiten. Die Zielgröße der Verbleibezeiten in solchen Zentren muss dabei stets im Auge behalten werden. Oft finden Schutz­ suchende auch nach einem Jahr Aufenthalt keinen Weg aus der Ge­

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meinschaftsunterkunft, weil Berlin auch ohne Flüchtlinge unzureichend über Wohnraum für Menschen mit niedrigem Einkommen verfügt. Während der soziale Wohnungsbau zu lange auf Eis gelegt wurde, ver­ silberte der Liegenschaftsfonds landeseigene Grundstücke, die nicht selten mit Luxuswohnhäusern bestückt wurden. Inzwischen findet zwar ein Umdenken zum Wohle der städtischen Wohnungsbaugesell­ schaften statt, das flexible und innovative Potenzial von Sozialunter­ nehmern bleibt aber bei der Vergabe von landeseigenen Grundstücken bis heute außen vor. Inzwischen wurde erkannt, dass die geförderten Mietpreise nicht realistisch sind, und zum 1. Juli 2015 eine überarbeitete Ausführungs­ verordnung Wohnen eingeführt, die auch Preissteigerungen beinhal­ tet, die jedoch weiterhin bei Neubauten beziehungsweise sanierten Gebäuden unwirtschaftlich sind. Um auch die Potenziale dieser Woh­ nungstypen zu nutzen, könnte ein Pooling­Verfahren eingesetzt wer­ den. Demnach werden mehrere Wohnungen in einem Wohnhaus oder mehrere nahe beieinander stehende Wohnhäuser in einen Pool einge­ bracht, der – ähnlich wie eine Gemeinschaftsunterkunft – etwa von freien Trägern und/oder Sozialunternehmen verwaltet wird. Die Einfüh­ rung der Wohnungspools kann Gemeinschaftsunterkünfte entlasten und die Integration der Schutzsuchenden vorantreiben. Zudem wäre es möglich, sozialarbeiterische und psychosoziale Betreuungsleistungen an die verschiedenen zusammengefassten Wohnungen anzudocken und finanziert zu bekommen.

Ehrenamt sinnvoll einbinden Viele Menschen wollen ehrenamtlich helfen, Flüchtlinge in der Gesell­ schaft willkommen zu heißen und ihnen die Integration zu erleich­ tern. In vielen Städten gibt es Begegnungscafés, in denen zum Beispiel Sprachkurse gegeben werden oder sich die Menschen einfach kennen­ lernen und austauschen. Zahlreiche ehrenamtliche Lotsen sind im 134

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Bundesgebiet beteiligt, Flüchtlingen die Ankunft in der neuen Gesell­ schaft zu erleichtern, indem sie diese zu Ämtern oder zum Arzt beglei­ ten oder auch interkulturelle Hürden zu beseitigen suchen. In Berlin gibt es in bürgerlich geprägten Stadtvierteln inzwischen Initiativen aus mehreren Hundert engagierten Menschen, die gerne direkt bei der Flüchtlingsarbeit helfen wollen. Sie verebben jedoch teil­ weise, weil viele Betreiber nicht wollen, dass anspruchsvolle Ehren­ amtliche mitbekommen, was für Zustände in den Einrichtungen vor­ herrschen, und das Verwalten der Flüchtlinge durch »unkoordinierte« Initiativen und Einzelpersonen gestört wird. Wir haben von Willkom­ mensnetzwerken gehört, die trotz hohen Engagements keinen einzigen direkten Kontakt zu Flüchtlingen herstellen konnten und enttäuscht sind. Die Initiativen und Projekte bieten eine vorhandene Infrastruktur innerhalb Berlins und zeigen, dass viele Menschen daran beteiligt sein wollen, die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Allerdings werden die einzelnen Stellen und ehrenamtlichen Helfer bisher nicht hinreichend miteinander vernetzt und koordiniert.

Potenziale, Bedürfnisse, Maßnahmen An dieser Stelle soll das neue Projekt eines Verbundes greifen, das wir, die Sozialunternehmer von Albatros, zusammen mit zahlreichen Part­ nern initiierten. Die Idee ist es, bereits bestehende Erfahrungen und Strukturen, die sich die einzelnen Projektpartner über Jahre hinweg aufgebaut haben, auf die Flüchtlingsthematik anwendbar zu machen. Das Projekt soll als Ausgangspunkt zur Einbindung und Vermittlung der Flüchtlinge in die unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft dienen. Zentral ist das persönliche Gespräch mit den Flüchtlingen in den Notaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. Dort werden Potenziale und Bedürfnisse festgestellt und individuelle Maß­ nahmen ergriffen sowie vermittelt.

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Je nach Fähigkeiten der geflüchteten Menschen bekommen sie die Möglichkeit, anderen Flüchtlingen in ihren Einrichtungen beizustehen. Die Projektpartner greifen auf bereits in anderen Bereichen bewährte Strukturen und Erfahrungen zurück. In Berlin kümmern sich viel­ fältige Initiativen und Träger um die Förderung von Potenzialen be­ nachteiligter Menschen und können nun ihr niedrigschwelliges An­ gebot auf die Arbeit mit Flüchtlingen ausweiten. So kümmert sich der Verein Albatros zum Beispiel seit 1984 um das Empowerment von Menschen für eine bessere Integration. Er ging aus einer Selbsthilfe­ vereinigung hervor, die aus Psychologiestudenten, Angehörigen und suizidgefährdeten Betroffenen bestand. Heute betreiben Albatros und seine Tochtergesellschaften psychosoziale Kontakt­ und Beratungs­ stellen, Zuverdienstfirmen und Integrationsprojekte für arbeitslose Menschen mit sogenannten multiplen Problemlagen, des Weiteren Ta­ gesstätten, betreute Wohnformen für psychisch Beeinträchtigte und von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen, Pflegestützpunkte sowie Mehr­ generationenprojekte, Stadtteil­ und Selbsthilfezentren, interkulturelle Mädchen­ und Frauenprojekte und damit verbundene Kitas und Schul­ sozialarbeit. Über diese langjährige Arbeit bestehen zahlreiche Kontakte und Strukturen, die beim Empowerment von Flüchtlingen zum Tragen kom­ men können, und über die Stadtteilzentren besteht unmittelbarer Kon­ takt zu den Schutz suchenden Flüchtlingen in den Aufnahmeeinrich­ tungen. Folgerichtig wurde die Arbeit von Albatros auch in diesen Bereich ausgedehnt. So betreut Albatros bereits in Berlin­Buch im so­ genannten Bürgerhaus eine Gemeinschaftsunterkunft, in der 480 Flücht­ linge untergebracht sind. In Reinickendorf unterstützen Integrations­ lotsen Flüchtlinge und Migranten bei der Überwindung von sprachlichen und bürokratischen Barrieren, beim Gang zum Arzt, zum Jobcenter, zur Beratungsstelle und zur Behörde. Bei der Ausweitung seiner Arbeit auf den Flüchtlingsbereich kann Albatros auf die Strukturen der Pegasus GmbH zurückgreifen, die seit 1998 das Ziel verfolgt, psychisch beeinträchtigte, langzeitarbeitslose 136

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Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, und nicht nur selbst als gewerbliche Gesellschaft Menschen mit Beeinträchtigungen einstellt, sondern auch seit jeher versucht, andere Unternehmen zu ermutigen, Menschen mit besonderen Schicksalen zu beschäftigen. Um soziale Innovation zu fördern, beteiligt sich das Unternehmen an zahlreichen Modell­ und Entwicklungsprojekten in Kooperation mit Politik, Verwaltung, Arbeitsagentur, Universitäten, Wohnungsbauge­ nossenschaften und Sozialunternehmen. Dieses Netzwerk sowie die Strukturen einer erfolgreichen Arbeits­ integration können bei Integration und Empowerment von Flüchtlin­ gen zum Tragen kommen. Zudem können Erfahrungen aus vorherigen Projekten in diesen Bereich übertragen werden. So wird zum Beispiel auf Erfahrungen aus dem Projekt »Integrationslotsen Reinickendorf« zurückgegriffen. In diesem Projekt wurden Arbeitsplätze für sozial be­ nachteiligte Migranten geschaffen, die dann als Integrationslotsen tätig wurden. Diese wurden so ausgebildet, dass sie Zuwanderungsfamilien aufsuchend in der jeweiligen Muttersprache begleiten konnten. So werden Kommunikation und Teilhabe hergestellt und die Familien an bestehende Hilfs­ und Unterstützungssysteme herangeführt. Die Inte­ grationslotsen begleiten die Familien bei Arzt­ und Behördenbesu­ chen und informieren sie über Angebote, so findet gleichzeitig eine Vernetzung statt, und die Möglichkeit der Beteiligten wird gestärkt, aktiv am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen und die Spielregeln einer demokratischen Gesellschaft zu lernen. Durch die Vermittlung der Integrationshelfer werden Informationen über Gestaltungsmög­ lichkeiten des eigenen Lebens zudem wesentlich leichter zugänglich, und den in das Projekt eingebundenen Familien wird somit die Mög­ lichkeit an die Hand gegeben, in weit höherem Maße als zuvor beste­ hende Angebote für sich nutzbar zu machen. Diese Projekte, die sich seit 2006 in Zusammenarbeit mit dem zu­ ständigen Jobcenter und durch EU­Förderungen entwickelten, haben zu weiteren strukturellen Entwicklungen geführt. So sind neben dem ursprünglichen Stadtteilzentrum und interkulturellem Mädchen­ und

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Frauentreff nunmehr auf einem circa 5000 Quadratmeter großen Ge­ lände eine interkulturelle Kita mit weiterem Ableger für zugezogene Migranten­ und Flüchtlingskinder, ein Mehrgenerationenhaus, ein zeitweilig durch die EU finanziertes Familienzentrum, Schulstatio­ nen in umliegenden Schulen sowie ein Zentrum für mehrsprachige Integrationslotsen entstanden. Nachdem diese zunächst lediglich in­ termittierend mit entsprechender Fluktuation vom örtlichen Jobcenter mitfinanziert wurden, gelang es durch langjährige Lobbyarbeit mit an­ deren ab 2013 flächendeckend in allen Berliner Bezirken sogenannte Integrationslotsen (in Neukölln mit eigener Tradition auch Stadtteil­ mütter genannt) im ersten Arbeitsmarkt, gefördert durch die zuständige Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, zu erkämpfen und über mehrere Jahre im Haushalt zu verankern. Nachdem erste Mo­ dellversuche erfolgreich waren, werden nunmehr in jedem Berliner Bezirk zwei aufsuchende Stellen zur Arbeit in Flüchtlingseinrichtun­ gen finanziert. Ende des Jahres werden so insgesamt etwa 100 Inte­ grationslotsen mit Teilzeitstellen in Berlin aus diesem Programm im Einsatz sein. So selbstbestimmt wie möglich Unter Berücksichtigung der Chance, die eine bessere Koordination und Nutzbarmachung bereits bestehender Strukturen und Angebote im Bereich der Flüchtlingsthematik bietet, wird das Verbundprojekt auf viele solcher bewährten Projekte zurückgreifen. Als Ausgangspunkt wird das aufsuchende Gespräch mit dem Einzelnen im Mittelpunkt stehen. Dabei sollen ihm Hilfestellungen an die Hand gegeben werden, sein Leben so selbstbestimmt wie möglich zu gestalten. Im Rahmen eines Modellversuchs setzen Albatros und Pegasus der­ zeit ein breit qualifiziertes, interdisziplinäres Team zur Unterstützung der Schutzsuchenden bei der Arbeitsaufnahme, der Wohnungssuche und weiteren vielfältigen und individuellen Problemlagen ein. Wichtig und besonders ist hierbei, dass das Team aufsuchend in die Erstauf­ 138

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nahmeeinrichtungen und die Gemeinschaftsunterkünfte verschiedener Berliner Bezirke und deren diverser Betreiber geht, regelmäßige mut­ tersprachliche Sprechstunden auf Arabisch, Russisch, Serbokroatisch und weiteren Sprachen anbietet und nach der Methode des Case­ Managements die jeweiligen Hilfesuchenden und ihre Familien zu den erforderlichen Behörden und Einrichtungen begleitet. Dabei gelang es bereits, ehrenamtlich engagierte Ärzte und weitere fachkundige Perso­ nen, die selbst in den Flüchtlingseinrichtungen lebten, für eine gemein­ same Tätigkeit zu gewinnen. Diese Methode ermöglicht es zudem, viele geflüchtete Menschen in unsere Regeleinrichtungen zu integrie­ ren und den Austausch und die Integration außerhalb der isolierten Flüchtlingseinrichtungen zu fördern sowie dringend erforderliche psy­ chosoziale Betreuungsleistungen für traumatisierte und seelisch er­ krankte geflüchtete Menschen in Zusammenarbeit mit zum Beispiel psychiatrischen Institutsambulanzen und weiteren Fachzentren zu er­ möglichen. Zusammen mit der BBI Gesellschaft für Beratung Bildung Innovation mbH und weiteren Partnern starten wir des Weiteren ein Projekt, das auf die konkreten Bedürfnisse, Fähigkeiten und Motiva­ tionen des Einzelnen hinsichtlich seiner Vermittlung in Beschäftigung und Ausbildung abgestimmt ist. Wir wollen in aufsuchenden Gesprächen direkt in den Unterkünf­ ten unter anderem die Kompetenzen und Motivationen erfragen und feststellen, um die Integration der Flüchtlinge in eine entsprechend pas­ sende Ausbildung beziehungsweise Arbeit zu erleichtern und zu be­ schleunigen. Nach dem Beispiel der Integrationslotsen und ­helfer, die bereits erfolgreich seit vielen Jahren bei uns Migranten und verstärkt geflüchtete Menschen begleiten, werden einige der Flüchtlinge selbst zu Lotsen ausgebildet, sodass zeitgleich die Grundlage für eine Hilfe zur Selbsthilfe gelegt wird. Unter Einbindung ehrenamtlicher Helfer und Fachmitarbeiter sollen Schwierigkeiten wie beispielsweise fehlende Zeugnisse oder Sprach­ kenntnisse eruiert und individuell angegangen werden. Zudem soll in Zusammenarbeit mit der Handwerkskammer, der IHK und Betrieben

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festgestellt werden, welche Qualifizierungsmaßnahmen die bereits vor­ handenen Kompetenzen sinnvoll ergänzen. In einer Datenbank werden unter Berücksichtigung der gesetzlichen Rahmenbedingungen freie Stellen, Ausbildungsplätze, gemeinnützige Tätigkeiten und vielfältige andere bezirkliche und städtische Angebote zusammengetragen. Bei einem professionellen Coaching werden so­ wohl kurz­ als auch langfristige Perspektiven erarbeitet. Das Projekt wird als Schnittstelle zu ehrenamtlichen Helfern die­ nen. Sie können den Flüchtlingen zum Beispiel helfen, sich bei Behör­ den und Ämtern zurechtzufinden, Deutsch zu lernen, eine Wohnung zu finden oder sie bei der Hinführung zu medizinischen Angeboten zu unterstützen. Insgesamt kann so das brachliegende Potenzial wesent­ lich schneller und individueller erkannt und genutzt werden. Die Ein­ bindung in Beschäftigung und Ausbildung leistet einen großen Beitrag zur Integration und zum Empowerment der Flüchtlinge und ermög­ licht den Aufbau von Beziehungen auch außerhalb der Gemeinschafts­ unterkünfte. Bei dem aufsuchenden Gespräch in den Gemeinschaftsunterkünf­ ten werden gleichzeitig auch gesundheitliche Themen angesprochen. Bisher existieren in Deutschland noch keine regelhaften Instrumente, um Traumafolgestörungen bei neu zugewanderten Flüchtlingen und Asylbewerbern zu erfassen. Zudem liegen keine aktuellen Daten aus Deutschland über die Arten psychischer Erkrankungen von Schutz­ suchenden vor. Die EU­Aufnahmerichtlinie sieht das Erkennen be­ sonderer Schutzbedürftigkeit bei Asylbewerbern vor. Dazu gehört auch das Diagnostizieren psychiatrischer Traumafolgeerkrankungen. Um einen besseren Zugang zu den relevanten Daten zu erlangen, wird in Zusammenarbeit mit der Charité Berlin eine Studie initiiert. Bei den Erstgesprächen mit den Flüchtlingen in den Unterkünften kann er­ fragt werden, wer von ihnen durch die Teilnahme an der Studie zur Gewinnung dieser relevanten Daten beitragen möchte. Überdies werden im Rahmen eines Projekts in Zusammenarbeit mit der international tätigen Organisation Ipso gGmbH zunächst in min­ 140

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destens einer Asylbewerberunterkunft in Berlin Sozialmoderatoren ausgebildet. Bei den Sozialmoderatoren handelt es sich um Asylsu­ chende aus den Asylbewerbergruppen, die eine hohe Wahrscheinlich­ keit aufweisen, dass ihnen tatsächlich Asyl gewährt wird, und die in ihren Heimatländern bereits als Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen oder in artverwandten Berufen gearbeitet haben. Die Aufgabe dieser Sozialmoderatoren wird es sein, Gruppendialoge innerhalb ihrer Peer­ group in den Flüchtlingseinrichtungen direkt zu organisieren. Im Rah­ men dieser Gruppendialoge wird biografieorientierte, narrative Arbeit geleistet, bei der die eigenen Lebenserfahrungen gemeinsam reflektiert werden. Bei dieser Arbeit der von uns begleiteten sogenannten Social Agents werden zudem geeignete Personen mit entsprechender Vorerfah­ rung identifiziert, die in einem einjährigen Ausbildungsprozess durch erfahrene Ausbilder geschult werden. Nach einem dreimonatigen In­ tensivkurs und einer direkt anschließenden neunmonatigen super­ vidierten Begleitung direkt im Geschehen werden diese psychosozialen Counsellors mithelfen, Resilienzen zu stärken, Psychiatrisierungen zu vermeiden und Selbsthilfepotenziale, die nicht nur in den jeweiligen Kulturen, sondern auch in der Aufbruchsituation in Deutschland lie­ gen, zu stärken und Selbsthilfe und Engagement der Betroffenen zu wecken und zu begleiten. Dieser psychosoziale Beratungsansatz wurde für das afghanische Gesundheitssystem der Ipso gGmbH entwickelt, für andere Kulturen angepasst, mehrfach über zehn Jahre hinweg in verschiedenen Kul­ turen erprobt und evaluiert. Ziel ist es, die Selbstwirksamkeit der Men­ schen frühzeitig zu stärken, damit aus den schwierigen Lebenserfah­ rungen keine weitreichenden Belastungsstörungen erwachsen. Diese psychosozialen muttersprachlichen Beratungen sind auch über eine Online­Videoplattform (ipso­ecare.com) der Ipso gGmbH und eine dazugehörige App abzurufen. Bei dieser präventiven Maßnahme wird weder im Kontext der mo­ derierten Gruppen noch im Zusammenhang mit den psychosozialen Beratungen klassische psychotherapeutische Arbeit geleistet. Sollte im

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Rahmen dieser präventiven Maßnahmen der Verdacht entstehen, dass sich bereits Belastungsstörungen manifestiert haben, sollen die Betrof­ fenen an approbierte Psychotherapeuten beziehungsweise Fachzentren verwiesen werden. Mit diesem Vorgehen können jedoch die knapp be­ messenen muttersprachlichen Ressourcen der entsprechenden Einrich­ tungen besser gesteuert werden. Parallel zu dieser Arbeit wird es ein Angebot geben, das eine kultu­ relle Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Werten ermög­ licht und daran anschließend einen kulturellen Dialog eröffnen will, einerseits zwischen den verschiedenen Kulturen der Herkunftsländer der Flüchtlinge, andererseits auch mit interessierten deutschen Mit­ bürgern. Dieses Konzept wurde von der Ipso gGmbH bereits in Afgha­ nistan und Haiti erfolgreich umgesetzt. Redaktionelle Mitarbeit: Anina Paetzold und Djamilia Djusupova.

Anmerkungen 1 Beikler, Sabine; Scheffer, Ulrike: »Berlin schließt Zeltstädte nicht mehr aus«. In: Tagesspiegel vom 04.08.2015. 2 McClelland, David Clarence: Power. The Inner Experience. New York 1975. 3 Thränhardt, Dietrich: Die Arbeitsintegration von Flüchtlingen in Deutschland. Humanität, Effektivität, Selbstbestimmung. Gütersloh 2015. 4 Eurostat: Alter und Geschlecht von Asylbewerbern in der EU, 2014. 5 Vgl. Bozorgmehr, Kayvan; Razum, Oliver: »Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum­Seekers and Refugees: A Quasi­Experimental Study in Germany, 1994–2013«. In: PLOS ONE 10 (7) 2015. 6 »Fakten statt Vorurteile«. In: tagesschau.de vom 29.07.2015. 7 Vgl. hierzu Zahlen aus der Schweiz: Heeren et al.: »Psychopathology and resident status – com­ paring asylum seekers, refugees, illegal migrants, labor migrants, and residents«. In: Comprehensive Psychiatry 55 (4) 2014, S. 818–825. 8 Vgl. Gesundheitsamt Bremen (Hg.): Das Bremer Modell – Gesundheitsversorgung Asylsuchender. Bremen 2011. 9 Heine, Hannes: »4000 neue Bewerber: Flüchtlingsrat warnt vor Obdachlosigkeit.« In: Tagesspiegel online vom 28.07.2015.

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Friedrich Kiesinger

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Wolfgang Bauer, Philipp Ruch

Die Flüchtlinge und wir Ein Gespräch über falsche Betroffenheit, Ignoranz und echtes Mitgefühl

Sind die Deutschen hartherzig oder nur sehr dumm? Wolfgang Bauer: Wie kommen Sie auf diese Frage? Ich habe den Eindruck, dass Sie sich beide am gleichen Problem abar­ beiten: Wie gelingt es, die Deutschen für die Situation der Flüchtlinge zu interessieren? Sie wenden dabei drastische Methoden an. Sie, Wolfgang Bauer, haben sich als Flüchtling ausgegeben und versucht, mit syrischen Flüchtlingen über das Meer von Ägypten nach Europa zu gelangen. Das Ergebnis dieser Recherche ist als Buch bei der edition suhrkamp erschienen: Über das Meer – Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Sie, Philipp Ruch, ziehen viel Aufmerksamkeit mit den Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit auf sich. Sie haben etwa auf einer gefakten Homepage des Familienministeriums behauptet, der Bund würde im Rahmen eines Soforthilfeprogramms 55 000 syrische Kinder aufnehmen. Das Familienministerium musste dementieren – und war als hartherzig entlarvt. Zuletzt haben Sie die Leichen von Flüchtlin­ gen, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, gestorben sind, wie­ der ausgegraben und in Berlin neu bestattet. Sie haben auch davon gesprochen, dass man das Herz der Deutschen mit der Brechstange öffnen müsse. Solche starken Mittel braucht man doch nur, wenn man es mit einem Publikum zu tun hat, das entweder wenig Ahnung hat oder sehr gleichgültig ist. Philipp Ruch: Die Deutschen sind weder dumm noch hartherzig. Ich halte es mit Rupert Neudeck, der seit den 1980er­Jahren wieder und wie­

Die Flüchtlinge und wir

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der betont hat, dass er auf »sein« deutsches Volk nichts kommen lasse. Wir sind etwas zu satt und selbstbezogen vielleicht, aber alles in allem ist die Bevölkerung sicherlich klug, gebildet, mitfühlend. Viel klüger, gebildeter und mitfühlender, als die Politiker sich »den Stammtisch« imaginieren. Es mag allerdings sein, dass es manchmal an konkretem Wissen fehlt. Bei mir hat es Schockzustände ausgelöst, als ich Ende 2013 zwei Menschen über Syrien reden hörte: »Alles Terroristen!« Das war die Initialzündung für die Kindertransporthilfe des Bundes, mit der wir vorübergehend wenigstens ein Prozent aller betroffenen Kinder aus der syrischen Apokalypse als Pflegekinder in Deutschland unter­ bringen wollten. Bauer: Die Leute sind nicht dumm. Ich würde sagen, dass es einigen Menschen in Deutschland an etwas fehlt, das ich emotionales Wissen nennen würde. Die Menschen, die vor Asylbewerberheimen demonstrie­ ren, die vielleicht sogar Brandanschläge verüben, die haben keine Ah­ nung davon, wer die Flüchtlinge sind und was sie erlebt haben. Die Flüchtlinge sind keine Schmarotzer, das sind Menschen, deren Leben in vielen Fällen bedroht war. Wer das weiß, wer da ein wenig emotio­ nale Nähe aufbringt, der kann ganz einfach nicht wollen, dass die Flüchtlinge wieder in den Krieg zurückkehren müssen. Denken Sie also, dass Sie so etwas wie einen emotionalen Bildungsauf­ trag haben? Bauer: Ich bin Journalist, nicht Aktivist. Ich bin ein Geschichtenerzäh­ ler, und ich versuche, so genau und – wenn man so will – auch so wahr­ haftig zu erzählen, dass sich der Leser in meine Protagonisten einfühlen kann, dass er wirklich glaubt, in ihren Körpern, in ihren Köpfen zu stecken. Es ist wichtig, diese Einzelschicksale zu zeigen, begreiflich zu machen, warum Menschen fliehen und was sie hier erhoffen. Das kann im Journalismus nur die Form der Reportage. Und dafür muss man als Reporter vor Ort sein. Ich gehe bei meiner Themensuche selten von Thesen aus, sondern von den Geschichten Einzelner. Die mich nicht 144

Wolfgang Bauer, Philipp Ruch

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mehr loslassen. Die mich vielleicht auch weiterbringen bei den vielen Fragen im Leben, mit denen ich mich selber herumplage. Ruch: Günther Anders nannte es die moralische Fantasie des Men­ schen, die es zu formen gelte. Die Künste haben ganz klar einen emo­ tionalen Bildungsauftrag, und der zielt darauf, dass sich Menschen mit mehr beschäftigen als dem, was in ihrem Vorgarten passiert. Das Auf­ brechen der Selbstbezogenheit ist eine vordringliche Aufgabe. Herr Bauer, hat die Reportage als Darstellungsform nicht auch Nach­ teile? Man sieht nur Einzelschicksale, ist dann vielleicht empört oder gerührt, und dann legt man die Zeitung weg und weiß eigentlich gar nicht viel mehr als zuvor. Bauer: Nicht jede Reportage ist gut. Ich ärgere mich manchmal über Geschichten von Kollegen, in denen die Protagonisten nur als edle Op­ fer vorkommen. Das scheint mir fast eine Entmenschlichung zu sein. Diese Betroffenheitsgeschichten werden mit den besten Absichten ge­ schrieben, ich glaube aber, sie schaden diesen Absichten, weil diese romantische Perspektive nur dazu führt, dass die Leser den Journalis­ ten misstrauen und sie verdächtigen, eine Agenda zu verfolgen. Ich glaube, man muss wahrhaftig sein, man darf Flüchtlinge nicht nur als nett, höflich und sympathisch beschreiben. Da gibt es auch unange­ nehme Leute darunter, und das muss sich in den Texten über sie auch widerspiegeln. Menschen auf der Flucht sind keine niedlichen Schmuse­ katzen für gerührte Frühpensionäre, das sind erwachsene Menschen mit Ecken und Kanten. Warum sind Sie selbst sogar in die Rolle eines Flüchtlings geschlüpft? Ging es darum, sich ganz mit einem Flüchtling zu identifizieren? Bauer: Die Idee war, wirklich auf einem Boot mitzufahren, das von Ägypten aus das Mittelmeer überquert. Ich hätte das lieber als Journa­ list gemacht, ich hätte lieber mit offenen Karten gespielt. Aber mir wurde gesagt, dass das nicht möglich ist. Die Schmuggler hätten das

Die Flüchtlinge und wir

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nicht akzeptiert. Und auch die anderen Flüchtlinge nicht. Auf so einem Boot sind auch Menschen mit dunklen Geheimnissen unterwegs. Auf so einem Boot herrscht viel Misstrauen. Deswegen haben wir selbst die Identität von Flüchtlingen angenommen. Ich glaube, dass es wichtig war, dieses Wagnis einzugehen. Die Realität war noch viel chaotischer, bedrückender, anstrengender, als es mir zuvor von den Flüchtlingen hier in Deutschland erzählt worden war. Herr Ruch, Sie kritisieren oft auch die Medien. Würden Sie sagen, dass deutsche Zeitungen und Fernsehsender zu wenig über Flüchtlinge be­ richten? Ruch: Ich denke, es hat eher etwas mit Selektion zu tun: Welche Nach­ richten werden im Themensalat auserkoren, dabei zu sein, welche nicht? Worüber wird als Erstes berichtet? Saul Bellow nennt es die täg­ liche Raubtierfütterung mit Informationen. Diese Fütterung macht et­ was mit und aus uns. Sie beschäftigt das kollektive Gedächtnis, die Unterhaltung – von den Redaktionsstuben über die Theaterbühnen bis in die Kaffeehäuser und Supermärkte. Bauer: Allerdings habe ich doch das Gefühl, dass sehr viel über Flücht­ linge geschrieben wird. Es ist neben der Griechenlandkrise das domi­ nierende politische Thema. Ich glaube auch, dass die Medien auf sehr gute Weise berichten: Spiegel, Zeit, die überregionalen Zeitungen, aber auch viele Lokalzeitungen. Ruch: Aber wir haben möglicherweise auch ein Problem mit dem An­ satz des »objektiven« Journalismus. Mit Objektivität begreifen Sie weder die Fluchtgründe noch die menschlichen Schicksale, geschweige denn die Abgründe der Täter. Manchmal stelle ich mir vor: Wie hätte eine objektive Berichterstattung über den Nationalsozialismus ausgesehen? Daran lässt sich zeigen, wie schnell ein moralisch scheinbar integrer Anspruch zerbricht. Dass Journalisten ernsthaft versuchen, »objektiv« über die syrische Apokalypse zu berichten, ist ziemlich unreflektiert. 146

Wolfgang Bauer, Philipp Ruch

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Noch etwas: Wenn Sie die »Tagesschau« vor 20 Jahren mit den Ausga­ ben von heute vergleichen, lässt sich unschwer erkennen, dass sich das Verhältnis von 80 Prozent Außenpolitik zu 20 Prozent Innenpolitik verkehrt hat. Heute sind 80 Prozent der Themen innenpolitisch, und das, obschon hier eigentlich rein gar nichts passiert im Vergleich zu Ländern wie Libyen oder Syrien. Woran liegt diese Verkehrung? Es ist in meinen Augen das Ausmaß an Selbstbezogenheit. Die Griechen hielten sie für eine Krankheit – und belegten sie mit dem Namen mikropsychia – Kleingeistigkeit. Warum sich alle Menschen auf einen SPD­ Politiker einschießen, der in seinen sehr vagen Aussagen noch nicht einmal annähernd das gesagt hat, was ihm jetzt unterstellt wird, näm­ lich dass die SPD keinen Kanzlerkandidaten aufstellen solle, hat viel mehr mit Hysterie und Kleingeistigkeit zu tun als mit einer weltpoli­ tisch veränderten Lage. Die Nachrichtensendezeit hätte man lieber da­ für benutzt, ein 16­jähriges Mädchen in einem Flüchtlingslager nach ihren Erwartungen für den nächsten SPD­Kanzlerkandidaten zu fra­ gen. Was ist genau das Problem? Berichten Journalisten absichtlich oder böswillig über das Falsche? Ruch: Ich glaube, es ist ein Problem der Aufbereitung. Was will und kann ich mit der Information anfangen, dass die Türkei nicht gegen Assad vorgeht? Ich denke, dass in vielen Fällen das Medium der Kunst das geeignetere Medium für die Aufbereitung von Informationen und Nachrichten ist. Im Theater ist zum Beispiel wesentlich mehr Refle­ xionskraft möglich als in einem Nachrichtenmagazin. Theaterstücke können wahre Trutzburgen gegen die Globalisierung der Gleichgültig­ keit sein. Es geht hier um einen neuen Informationskrieg vielleicht. Literatur, Poesie, Theater und Musik als Zitadellen im Kampf gegen öffentliche Abstumpfung und Abgeklärtheit.

Die Flüchtlinge und wir

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Sehen Sie auch das Problem der öffentlichen Abstumpfung und Abge­ klärtheit, Herr Bauer? Bauer: Es gibt die Leute in Deutschland, von denen wir eingangs ge­ sprochen haben. Die Ignoranten oder gar die Übergriffigen. Ich glaube aber, insgesamt gibt es heute eine ganz andere Stimmung als etwa Mitte der 90er­Jahre. Damals habe ich angefangen, als Journalist für das Schwäbische Tagblatt zu arbeiten, eine Lokalzeitung im Raum Tübin­ gen. Auch damals habe ich schon über Flüchtlinge berichtet. Zu der Zeit gab es nur eine ganz kleine Gruppe von Menschen, die sich hier in der Region für Flüchtlinge einsetzte. Das ist mittlerweile ganz anders. Die Menschen sind sehr engagiert, egal ob es darum geht, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen, Kleider zu spenden oder die Flücht­ linge beim Gang aufs Amt zu begleiten. Ich habe in einem kleinen schwäbischen Dorf – Gomadingen – aus meinem Buch vorgelesen. Das ist ein kleines Dorf von vielleicht 3000 Menschen, in dem 90 Flücht­ linge leben. Die Leute kümmern sich auf großartige Weise um die Flüchtlinge, das hat das Dorf wirklich geeint. Ich glaube, dass das da­ mit zu tun hat, dass die Deutschen weltoffener geworden sind. Wir, die Deutschen, sind mittlerweile ein Konglomerat aus Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern stammen. Wir wurden zu einem Vielvölkerstaat. Wir Deutschen sind weniger deutsch, und die Nachfahren der Türken, die herkamen, sind weniger türkisch. Wir reisen häufiger in andere Kulturen. Wer konnte sich vor 30 Jahren schon eine Fernreise leisten? Die meisten Leute haben begriffen, dass die Ge­ schichte der Einwanderung eine Erfolgsgeschichte war, die unser Land positiv verändert war. An meinem Wohnort Reutlingen ist in der Kern­ stadt der Ausländeranteil mittlerweile bei 60 Prozent, und das ist groß­ artig. Die Stadt ist durch die Einwanderer lebenswerter geworden. Man sitzt mittlerweile in der Fußgängerzone von Reutlingen draußen im Straßencafé. Das gab es früher kaum. Wir haben schon über die Arbeitsweise von Wolfgang Bauer gesprochen. Wie würden Sie, Herr Ruch, denn Ihren Anspruch, Ihr Vorgehen, Ihre 148

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Ziele beschreiben? Wenn ich es richtig verstanden habe, bezeichnen Sie sich als Künstler, nicht etwa als Menschenrechtsaktivisten, was doch auch naheliegen würde. Ruch: Wir haben mit Aktivismus nicht viel zu tun. Aktivisten stürmen irgendwelche Podien und brüllen ihre Forderungen in die Menge. Das interessiert uns wenig. Uns interessieren die leiseren Operationen, die Selbstauseinandersetzung dieser Gesellschaft, die Selbsterkenntnis, die Auseinandersetzung mit den Kräften, die diese Gesellschaft formieren. Insbesondere in einer Zeit, in der die Kunst besser in der Lage ist, die Gesellschaft zu verändern, als, sagen wir, das »heute­journal«. Was werfen Sie den klassischen Menschenrechtsorganisationen vor? Ruch: Sie sind nur an den Spendengeldern interessiert und besitzen eine tiefe Furcht vor radikalen Maßnahmen im Namen der Mensch­ heit. Sie haben Angst, dadurch Spender zu verlieren, und veranstalten dann frisierte Online­Petitionen, die jeder auf Facebook teilen kann. Billig gekaufte Zustimmung, so sehen die radikalsten Aktionen von Menschenrechtsorganisationen heute aus. In einer Zeit, die uns unsere Rechte verfassungsmäßig zusichert, insbesondere das Recht auf die Freiheit der Künste, ist es schändlich, weniger getan zu haben als zu den Zeiten, in denen es diese Rechte überhaupt nicht gab, wo Menschen für das Verteilen von Flugblättern eingesperrt oder sogar erschossen worden sind. Warum wurde zum Beispiel Familienministerin Manuela Schwesig als »Objekt« der Adoptionskampagne ausgewählt? Für die Aufnahme von Flüchtlingen ist ihr Ministerium ja ganz bestimmt nicht zuständig.  Ruch: Nein, aber wir haben damals keinen anderen Hoffnungsträger in der SPD gesehen, und insbesondere ihr Ministerium wäre ja dafür zu­ ständig, 55 000 Kinder aus Syrien auf deutschem Staatsgebiet unterzu­ bringen. Die Kindertransporthilfe des Bundes, wie die Aktion hieß, ist eine irrsinnige Aktion. Keine Menschenrechtsorganisation der Welt würde sich so eine Aktion leisten und die Kindertransporte des Jahres

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1938 und 1939 mit aller unmoralischen Härte an der Gegenwart nach­ spielen. Die Kindertransporthilfe beweist, dass die Kunst nicht nur im rechtlichen Sinne frei ist, sondern auch in der Wahl ihrer Mittel, ihrer Dramaturgie und – eben – ihrer Protagonisten. Hätte Schwesig den Akt politischer Schönheit in die Wirklichkeit durchgezogen, wäre sie Kanz­ lerkandidatin der SPD 2017 geworden. So steht ihre Partei nur vor dem Abgrund. Das Zentrum für Politische Schönheit verfolgt einen »aggressiven Huma­ nismus«. Was bedeutet das? Ruch: Es bedeutet, hartnäckig zu bleiben, also für seine Überzeugung einzustehen und sich auch nicht vertreiben zu lassen. Wer genau ist eigentlich der Adressat der Aktionen: die Politik, die Me­ dien, die Bürger? Was soll eigentlich genau erreicht werden? Ruch: Bei unserer Aktion »Die Toten kommen« ging es darum, Eu­ ropa vor sich selbst zu erschrecken. Wir sind nicht so human und integer, wie wir uns immer einbilden. An unseren Grenzen verschar­ ren wir Menschen. Und zwar unter Missachtung aller Bestattungs­ gesetze und Anordnungen. Durch unsere Außengrenzen sterben jähr­ lich Zehntausende Menschen. Niemand tut was dagegen, schon gar nicht die Politik. Aber in erster Linie geht es bei »Die Toten kom­ men« darum, dass zwei unfassbar mutige Menschen so beerdigt wer­ den, wie sie es verdient haben – in Würde und mit der Anteilnahme der Öffentlichkeit. Eine Geste der Schönheit, nachdem unsere Politik ihnen alles genommen hat, was sie besaßen: ihre Würde, ihren Atem, ihr Leben. Sie operieren stark mit moralisch aufgeladenen Kategorien wie Ehre, Schuld, Feigheit. Thomas de Maizière sei ein »Verbrecher«. So entsteht das Bild einer politischen Elite, die besser handeln könnte, wenn sie nur wollte. Wenn nur alle ihr Herz entdecken, sind unsere Probleme gelöst. Ist es wirklich so einfach? 150

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Ruch: Thomas de Maizière erinnert mich sehr an einen Schreibtisch­ täter, wie wir ihn im 21. Jahrhundert nicht mehr hervorbringen woll­ ten. Die Nachwelt wird ihn unbestritten als das sehen, was er ist: ein Massenverbrecher sondergleichen. Wie konnte er auch noch stolz dar­ auf sein, die Rettungsoperation Mare Nostrum auf dem Mittelmeer ge­ stoppt zu haben? Das hat er sich öffentlich hoch anrechnen lassen wollen. Die Abschottungspolitik der Europäischen Union ist das Werk des mächtigsten EU­Innenministers – dem aus Deutschland. Wissen Sie, obwohl die Bundesrepublik auf das Menschenrecht vereidigt wurde und das Grundgesetz nichts anderes als die Achtung des Einzelnen lehrt, bezeichnet sich die derzeit größte deutsche Volkspartei nicht als »Menschenrechts­«, sondern als »christliche« Partei. Das als menschen­ verachtenden Affront zu begreifen ist wichtig. Ich kann mich gut erin­ nern, wie die Bundeskanzlerin regelrecht aufschrie, als in Ägypten Christen verfolgt wurden. Sie müssen im politischen Berlin die rich­ tige Hautfarbe besitzen und der richtigen Religion zugehören, um eine Stellungnahme zu ergaunern. Mehr gibt es von demokratisch gewählten Politikern für die Menschenrechte ohnehin nicht. Das ist das Grund­ problem des 21. Jahrhunderts: Wir haben die Furcht vor Diktaturen verlernt. Hätte Churchill diese Furcht nicht seiner pazifistischen Ge­ sellschaft eingetrieben, stünde Europa noch heute unter der Flagge des Hakenkreuzes. Bauer: Es ist sehr richtig, dass viele politische Probleme komplex und schwierig zu lösen sind. Bei der Flüchtlingsthematik aber liegen mei­ ner Meinung nach die Karten auf dem Tisch. Wir dürfen diese Men­ schen, die zu uns wollen, nicht im Meer sterben lassen. Wofür hätten wir seit der Aufklärung und dem Beginn des Humanismus gekämpft? Wenn all diese Werte plötzlich nichts mehr gelten? Wir können sie hier aufnehmen, wir sind eine reiche Gesellschaft. Ich glaube, dass die Große Koalition auch deswegen so eine restriktive Politik verfolgt, weil sie meint, auf die Ängste in der Bevölkerung Rücksicht nehmen zu müssen. Vermutlich fürchten sich die Politiker auch selbst vor den Frem­

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den. Ich denke, es gibt in Deutschland gerade einen Kampf zwischen den Menschen, die sich von der Angst lenken lassen, und denen, die ihren Mut zusammennehmen. Sehen Sie das Problem, dass die Menschen links reden, aber rechts le­ ben? Natürlich versteht sich jeder als Humanist und Universalist, der Flüchtlinge und Einwanderer willkommen heißt. Im Alltag sieht das dann oft anders aus, und man schickt sein Kind doch lieber auf die Privatschule, wo es keine Migranten gibt. Bauer: Ich sehe das Problem noch genereller. Man lebt lieber in Kreuz­ berg in Berlin oder in Schwabing in München unter seinesgleichen als in der ostdeutschen Provinz, weil man keinen Bock auf »Nazis« hat. Wir gehen in die hippe Bio­Kneipe, weil es in der Arbeiterkneipe kein veganes Essen gibt. Die politische Entflechtung unserer Gesellschaft schlägt sich immer mehr auch geografisch nieder. Das ist auf Dauer ein Riesenproblem. Wenn wir über Rassismus im Osten reden, reden wir über ein fernes fremdes Land. Das merkt man auch der Bericht­ erstattung darüber an. Ich kenne nur wenige Kollegen, die in der ost­ deutschen Provinz leben. Glauben Sie, die Deutschen wären bereit, wesentlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen? Es gibt ja auch historische Vorbilder, etwa die Aufnahme der Vertriebenen nach 1945. Bauer: Ich glaube: sehr wohl. Meine 87­jährige Tante in Neumünster, die nicht sehr politisch, dafür sehr rüstig ist, meinte neulich fassungs­ los: »Nach dem Krieg hatte man doch auch nicht lange gefragt. Da gab es bei uns eine Einquartierung.« Wir haben, meine ich, außerdem gar keine Wahl. Diese Menschen, die vor Krieg und Krise fliehen, werden kommen. Die lassen sich nicht abhalten. Nur wenn man sie an der Grenze erschießen würde. Was wir hoffentlich nicht wollen. Wir müs­ sen sie bei uns – wenigstens zeitweise – unterbringen, und die Politik muss die Leute hier darauf vorbereiten.

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Wolfgang Bauer, Philipp Ruch

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Der Ärzte­Sänger Farin Urlaub wird gerade mit Lob überhäuft für seine Reaktion auf die Ereignisse in Freital. Urlaub sagt: »Solange es Leute gibt, die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben, wird es auch Rassismus geben. Denn auch diese Leute wollen sich gut fühlen und auf irgendetwas stolz sein. Also suchen sie sich jemanden aus, der anders ist als sie, und halten sich für besser.« Natürlich ist es schrecklich, was in Freital passiert. Aber es ist doch auch seltsam, dass immer die das große Wort führen, die ganz bestimmt nicht in Gegen­ den wohnen, in denen Flüchtlinge wohnen sollen, und die sich ganz bestimmt keine wirtschaftlichen Sorgen machen müssen. Es wäre ja möglich, dass die Menschen in Freital die Flüchtlinge tatsächlich als Konkurrenten um knappe Ressourcen erleben. Ist das Problem schon gelöst, wenn man es »den Rassisten« nur argumentativ wirklich ge­ zeigt hat? Bauer: Wir brauchen große umfangreiche Integrationsprogramme vor Ort. Von der ersten Woche an muss es Deutschkurse für Neuankömm­ linge geben. Und Englischkurse für kleine Gemeinden mit großen Aufnahmelagern. Englischkurse für Deutsche. Mit Anreizen. Es braucht arroganzfreie Begegnungsprogramme. Für Gemeinden wie Freital be­ deutet die Ankunft der Flüchtlinge eine der einschneidendsten Ver­ änderungen seit der Wiedervereinigung. Seither sind viele Leute aus den ostdeutschen Provinzstädten gegangen, in den Westen. Jetzt, plötz­ lich, kommen neue Menschen. Das darf von der Politik nicht als reiner Verwaltungsakt verstanden werden. Sonst kommt es zu diesen Brand­ anschlägen. Das war vorherzusehen. Diese Brandanschläge hat die Re­ gierung Merkel auch mit zu verantworten – durch Nichtstun. Eine große Frage, Herr Bauer: Was kann ein Journalist überhaupt er­ reichen? Bauer: Alles und nichts. Und meistens etwas dazwischen. Ich finde es schön, wenn es mir manchmal gelingt, Einzelschicksale zu beeinflus­ sen. Ich bin skeptisch, was eine Wirkung angeht, die darüber hinaus­ geht. Natürlich hoffe ich, dass meine Artikel von Leuten gelesen wer­

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den, auf deren Meinung es ankommt oder einmal ankommen wird. Aber es ist schon ein großer Erfolg, wenn ein Leser auf der Straße einem Flüchtling begegnet und ihn mit anderen Augen anschaut, weni­ ger ignorant, mit mehr Mitgefühl. Besteht nicht die Gefahr, dass man immer nur die erreicht, die ohnehin schon überzeugt sind? Bauer: Ja, bei meinem Buch ist das so. Da merke ich, dass es Leute anspricht, die mir ohnehin recht geben, die auch oft in dem Bereich der Flüchtlingshilfe schon aktiv sind, die aber vielleicht die Dinge noch etwas genauer wissen wollen, die Hintergründe erfahren wollen. Die vielleicht auch einfach nur ein bisschen besser verstehen wollen, was sie da eigentlich tun. Anders ist das bei den Zeit­Artikeln. Die Zeit hat ein sehr gemischtes Publikum. Ich glaube, dass ich hier Menschen erreichen kann, die ambivalentere Positionen zur Flüchtlingsfrage ha­ ben, die skeptisch oder misstrauisch sind. Wenn man große Reportagen zum Thema liest, wenn man die Aktio­ nen des Zentrums für Politische Schönheit verfolgt, dann scheint das auch immer darauf abzuzielen, ein schlechtes Gewissen zu machen. Man fühlt sich irgendwie schuldig. Ist das eigentlich eine gute polit­ pädagogische Strategie? Ginge es nicht auch darum, Formen des Hel­ fens zu befördern, die ohne Schuldmotive auskommen? Bauer: Das ist eine Frage für Kampagnenmanager. Ich habe für mich beim Flüchtlingsthema keine PR­Strategie. Ich glaube, es ist einfach so. Wir laden Schuld auf uns, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, obwohl wir sie retten könnten. Besteht eine Gefahr von emotional aufgeladenem Protest, von emotio­ nal vorgebrachter Kritik nicht darin, dass die Energie schnell verpufft? Man schlägt die Zeitung zu, ist betroffen – und dann passiert nichts. Man hat ein starkes Motiv, man erregt sich, aber dieses Gefühl verschwindet dann auch schnell wieder, und der Alltag geht weiter wie gehabt. 154

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Bauer: Die Gefahr besteht immer. Bei jeder Form von Kritik. Ob emo­ tional oder kühl nüchtern, wie es im deutschen Fernsehen gängige Schule ist. Was ist aber die Alternative? Ruch: Da kenne ich andere Beispiele für Protest, die eben durchaus eine Wirkung haben. Ich mag es aber nur für die Kunst entscheiden: Sie dringt tief in die Seele ein, bleibt da. Kunst bleibt unter der Haut. Wir alle schleppen sie dann in unserem Alltag mit uns herum. Sie lässt einen nicht mehr los, und irgendwann verändert sie einen. Die Kunst ist vielleicht das ideale Gefäß für den aggressiven Humanismus.

Das Gespräch wurde im Juli 2015 von Jakob Schrenk geführt.

Die Flüchtlinge und wir

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Ferdinand Haenel

Flüchtiges Glück Warum Deutschland kein guter Ort für Folteropfer ist

Wohin flüchten, wenn im eigenen Land Krieg herrscht? Das Haus zer­ bombt, die Familie getötet oder man selbst von Folterknechten ge­ quält wurde, mitunter monatelang, jahrelang. Ist Deutschland da ein guter Zufluchtsort? Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Die Ge­ schichte von Herrn F. Als er zu uns in die Tagesklinik im Berliner Be­ handlungszentrum für Folteropfer gebracht wurde, konnte er sich an seine Vorgeschichte nicht erinnern. Nur seinen Namen wusste er und sein Herkunftsland. Sonst nichts. Er hatte sein Gedächtnis verloren. So schien es. Er lächelte stereotyp, wirkte abwesend mit in die Ferne gerichtetem Blick. Er war ohne Affekt, antriebslos, verlangsamt. Wie ein kleiner Junge ließ er sich von seinen Begleitern an der Hand führen, nahm folgsam den angebotenen Platz im Behandlungszimmer ein, gab sehr zeitverzö­ gert und verlangsamt Antworten mit knappem »Ja« oder »Nein«. Auf die Frage des Psychiaters nach »Stimmenhören« reagierte er nachdenklich konzentriert, als suche er seine Erinnerungen ab, und schüttelte schließ­ lich den Kopf. Noch eh er im Laufe der Behandlung seine Erinnerungen wieder­ fand, zeigte er im Garten der Tagesklinik große Aktivitäten und Fertig­ keiten im Umgang mit den Gartengeräten, war begeistert dabei und wollte sogleich auf dem kleinen Gartengelände Obstplantagen anlegen und Kühe zur Viehzucht anschaffen. Viel später erst stellte sich heraus, dass Herr F. im Kaukasus auf einem Bauernhof gelebt hatte. Offenbar waren ihm seine motorischen Fertigkeiten geblieben, während seine 156

Ferdinand Haenel

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Erinnerungen an seine biografische Vorgeschichte verloren gegangen waren. Die Umstände, wie Herr F. nach Berlin gekommen war, hören sich fast unglaublich an. Eines Tages im Jahre 2008 klingelte bei Frau E., einer russischen Emigrantin, die bereits seit vielen Jahren in Berlin lebt, das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frau, sie war sehr aufgeregt, sprach schnell und auf Russisch, ihren Namen wollte sie nicht nennen, sie bat eindringlich Frau E., ihren kranken Sohn bei sich aufzunehmen. Frau E. hatte keine Zeit, »Ja« oder »Nein« zu sagen, da wurde auf der anderen Seite der Hörer schon wieder aufgehängt. Und als es drei Tage später an ihrer Haustüre klingelte, stand Herr F. da mit einem unbekannten Begleiter, der auch gleich unter knappem Gruße wieder verschwand und den anderen einfach vor der Türe ste­ hen ließ. Weiß Gott, auf welchen Wegen der Schlepper den Herrn F. vom Kaukasus nach Berlin gebracht hat. Frau E. entschied sich in die­ sem Augenblick, den vollkommen verwirrten Herrn F. erst einmal bei sich aufzunehmen, obwohl sie berufstätig und alleinerziehende Mutter zweier Kinder im Kindergartenalter war. Und brachte ihn sofort zu uns.

Tschetschenien? Kein Deutsch? Ach so! Man kann sagen: Da hatte Herr F. Glück gehabt. Nicht nur weil eine Frau sich bereit erklärte, ihn – einen wildfremden Mann von knapp 30 Jah­ ren – bei sich aufzunehmen. Wie oft kommt so etwas vor? Sondern auch, dass er gleich und ohne Umwege zu uns ins Behandlungszent­ rum für Folteropfer kam – und nicht erst in eine normale psychiatrische Klinik, die in der Regel nicht auf die Bedürfnisse von traumatisierten und gefolterten Flüchtlingen eingestellt ist. Das fängt schon bei der Sprache an – um den Flüchtling aufnehmen zu können, muss erst ein Dolmetscher einbestellt werden, der im Laufe der Behandlung dann einmal die Woche, maximal zweimal vorbeikommt, um zwischen Pa­

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tient und Arzt zu vermitteln. Frau K. aus Tschetschenien, eine ehema­ lige Patientin von uns, schilderte einmal den Stationsablauf wie folgt: Man kann mit niemandem sprechen, also sitzt man die meiste Zeit nur rum. Zwischen Mitpatienten, denen man ansieht, dass sie schwer psy­ chiatrisch erkrankt sind. Das macht Angst, schüchtert ein. Vormittags kommen Ärzte und Schwestern zur Visite, kurzer Blick, Tuscheln – aus Tschetschenien? Kein Deutsch? Ach so! – und gehen weiter. In der Nacht ritzt sich die Bettnachbarin den Unterarm auf, Blut tropft zu Boden. Das macht noch mehr Angst. Weil die rote Pfütze an die marodieren­ den Banden des tschetschenischen Präsidenten erinnert, an die Über­ fälle, die Leichen. Bei Behandlungsbeginn wirkte Herr F. abwesend und verlangsamt in allem, was er tat. Einfachste Fragen nach Kindheit und Familie ver­ loren sich in verständnislosem, zeitlupenhaftem Kopfschütteln, auch wenn er sich sichtbar anstrengte, in seinem Kopf Antworten zu finden. Medizinisch gesprochen lag eine komplexe dissoziative Symptomatik vor mit einer offenbar fast vollständigen dissoziativen Amnesie für das biografische Gedächtnis. Merkfähigkeits­ und Orientierungsstörungen schränkten seine Fähigkeiten zur eigenständigen Alltagsbewältigung erheblich ein. So konnte er zum Beispiel nicht alleine ohne Hilfe durch die Stadt gehen, weshalb er anfangs von Frau E. oder einem ihrer Freunde täg­ lich zur Tagesklinik gebracht und wieder abgeholt werden musste. Oder er zeigte auch wenig Eigeninitiative und lief im tagesklinischen Wo­ chenprogramm zunächst einfach nur mit. Ließ sich morgens nach sei­ ner Ankunft um neun Uhr fügsam an den gemeinsamen Frühstückstisch platzieren und nahm willig am vormittäglichen Deutschtraining teil, obwohl er in Konzentration und Merkfähigkeit eingeschränkt immer wieder in Abwesenheit abdriftete und deshalb vom Unterricht selbst wenig Nutzen hatte. Immerhin befand er sich in einer Gruppe, die äl­ teren, russisch sprechenden Frauen schlossen ihn nach anfänglicher Scheu in ihr Herz und nahmen ihn an der Hand mit zu den jeweiligen Gruppenangeboten des täglichen Therapieplans. Herrn F. tat das sicht­ 158

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lich gut. Allmählich begann sich seine affektive Erstarrung zu lockern, doch in den therapeutischen Einzelsitzungen blieb er zunächst weiter vergebens bemüht, auf Fragen nach seiner Vorgeschichte zu antworten. Blasse Vignetten kamen nur stückweise als einzelne schwer einzuord­ nende Mosaiksteinchen seiner Vorgeschichte unter hilflosem Kopfschüt­ teln zutage. Im Kontakt und Umgang mit den Mitpatienten machte Herr F. in der Folgezeit Fortschritte. Er wurde gesprächig, zeigte sich freundlich und aufgeschlossen. Unter den Patienten war er beliebt. Ebenso wie er nichts oder nur wenig von seiner Vergangenheit wusste, schien er sich auch wenig um seine Zukunft zu kümmern. Ungesicherter Aufenthalt, obligate Unterbringung im Aufnahmeheim (wo seinerzeit Herr F. zwar gemeldet war, tatsächlich aber in der Familie E. lebte), geringere Sozial­ hilfeleistung, eingeschränkte Gesundheitsversorgung und fehlende Frei­ zügigkeit – von der Fülle der sehr belastenden sozialen und rechtlichen Umstände, unter denen üblicherweise unsere Patienten als Asylbewer­ ber in der Bundesrepublik leiden, schien Herr F. gänzlich unberührt. Fragen nach seinem Verbleib in Deutschland belasteten ihn nicht. Den Begriffen »Asyl« oder »Aufenthaltserlaubnis« stand er verständnislos und kopfschüttelnd gegenüber. Von kränkender und zurücksetzender Behandlung durch Behördenmitarbeiter, worüber andere Patienten oft in der Gruppentherapie klagen, war bei ihm nie die Rede. Seiner Wahr­ nehmung nach verlief mit den Behördenvertretern, denen er angstfrei und arglos gegenübertrat, alles glatt und ohne Probleme. Es schien, wer keine Vergangenheit hat, müsse sich auch keine Sorgen um seine Zu­ kunft machen. Herr F. lebte im Hier und Jetzt. Auf der gemeinsamen Suche nach positiven und stützenden Episo­ den aus seiner Vorgeschichte kamen ihm allmählich in den Therapiesit­ zungen Erinnerungen, weniger an den früh verstorbenen Vater, dafür aber umso mehr an die Mutter, mit der er während seiner Schul­ und Gymnasialzeit den elterlichen Bauernhof mit Tierzucht bewirtschaftete, sowie an Freunde, Mitschüler, Lehrer und an den wunderbaren Schul­ ausflug ins Kobantal zur Feier des bestandenen Abiturs. Auch Namen

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einiger russischer Schriftsteller, die ihm aus früherer Lektüre bekannt waren, konnte er mittlerweile nennen. Auf Ermunterung seines The­ rapeuten hin holte er sich aus einer Stadtbibliothek einen russischen Erzählband Tolstois. Aber sobald sich das Gespräch auch nur andeu­ tungsweise auf die traumatischen Erfahrungen richtete, verstummte Herr F., sein Blick richtete sich nach innen, und er geriet in einen Zu­ stand vollständiger Abwesenheit, in dem er längere Zeit über die The­ rapiestunde hinaus verharrte. Daher blieben die Behandlungsstunden weiter auf emotional unverfängliche und wenig belastende Themen seiner Vorgeschichte beschränkt, bis Herr F. spontan depressiver wur­ de, sich zunehmend von seiner Umgebung zurückzog, physisch in den Therapieangeboten zwar anwesend war, aber teilnahmslos blieb, und nun häufiger darum bat, sich in den Ruheraum zurückziehen zu dür­ fen, was bislang nie der Fall gewesen war. Auch klagte er jetzt über Schlafstörungen und berichtete von nächtlichen Albträumen, angstvoll und schweißgebadet wache er daraus auf und könne nicht mehr ein­ schlafen. Offensichtlich begann Herr F. erst jetzt, einen Leidensdruck wahrzunehmen.

Folter hört nie auf Folterüberlebende können – wie andere durch extreme lebensbedroh­ liche Ereignisse traumatisierte Personen auch – unter plötzlich auftre­ tendem szenischem Wiedererleben ihrer lebensbedrohlichen Erfah­ rungen stehen. Es sind dabei nicht nur Gedanken, sondern visuelle oder auch akustische Wahrnehmungen, in denen die erlittenen trau­ matischen Ereignisse wiederkehren, so wie in einem Film. So wird es auch von den Betroffenen oft beschrieben. Aber zugleich sind sie mit­ unter die Akteure in diesem Film, die mit Angst, Schmerz und Not solche Szenen nacherleben, sozusagen erneut wieder durchlaufen oder durchleben müssen. Die Folter ist nicht vorbei, sie wird immer wieder nacherlebt. Auch und vor allem nachts in Albträumen, wenn sich das 160

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kontrollierende Wachbewusstsein zur Ruhe gelegt hat. Schweißgeba­ det beim Erwachen müssen die Betroffenen oft auch das nasse Bett­ laken wechseln. Aus Furcht vor erneuten Albträumen getrauen sie sich dann oft nicht mehr, einzuschlafen. Dass solcherart quälendes Nach­ hallerleben oft ausgelöst wird durch situative Hinweisreize, die einen Aspekt der traumatischen Erfahrungen beinhalten oder mit ihnen assoziativ in Verbindung stehen, führt oft zu vermeidendem und so­ zial pseudophobischem Rückzugsverhalten der Betroffenen im Alltag, mit Hoffnungslosigkeit, Misstrauen und Depression. Dabei stehen die Betroffenen unter einer ständig erhöhten Erregungsanspannung mit Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz, Schreckhaftigkeit, Reizbar­ keit. Nicht selten: anfallsartige Impulsdurchbrüche gegen andere oder auch gegen sich selbst, indem sie zum Beispiel ihren Kopf gegen die Wand schlagen und sich dabei verletzen. Herrn F.s Leiden dagegen war ein stilles Leiden. Er litt förmlich wie ein Hund und musste gehalten werden. Allmählich wurde seine trau­ matische Vorgeschichte deutlicher: Bei der Rückkehr von der Viehweide wurde er eines Morgens von Unbekannten niedergeschlagen und in einem Kleintransporter verschleppt und unter unwürdigsten Lebens­ umständen wie ein Tier in einem Waldverlies gehalten und zum Aus­ heben von Gräben und Erdlöchern wohl zur Einrichtung geheimer Magazine gezwungen. Durch Zufall konnte er den Geiselnehmern, offen­ bar Kriegsteilnehmer im benachbarten Kaukasusstaat, zusammen mit zwei anderen Mitgefangenen nach drei Jahren entkommen. Zurück bei der Mutter im Heimatort wurde er wiederholt von der örtlichen Poli­ zei mitgenommen, verhört und gefoltert, weil man ihm seine Angaben zur dreijährigen Geiselhaft nicht abnahm, sondern ihn der insgeheimen Zusammenarbeit mit Rebellen verdächtigte. Es war augenscheinlich: Je mehr Herrn F.s Erinnerungen wiederkehr­ ten, umso depressiver wurde er. Denn seine anfängliche dissoziative Symptomatik mit Gedächtnisverlust, Affektarmut und Abwesenheits­ zuständen lässt sich psychodynamisch als Abwehrform unerträglicher Erinnerungen und Gefühle erklären. Frei nach Friedrich Nietzsche:

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»So ist es gewesen, sagt mein Gedächtnis – so kann das nicht gewesen sein, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich – endlich gibt das Ge­ dächtnis nach.«1 Nimmt nun das Gedächtnis wieder zu, beginnt das Leiden. So paradox es klingen mag: Nach dem unbekümmerten Hans­ im­Glück­Stadium war für uns als Therapeuten Herrn F.s zunehmen­ der Leidensdruck Zeichen des therapeutischen Fortschritts, insofern, als er sich zu erinnern begann. Und jetzt erst begann Herr F., an den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer schweren depressiven Episode zu leiden. Dabei äußerte er auch Suizid­ gedanken. Angstvorstellungen und paranoide Befürchtungen von er­ neuter Nachstellung durch die Banditen begleiteten ihn auf seinen Wegen durch die Stadt. Unterwegs musste er sich ständig umdrehen, um sich vor vermuteten Verfolgern abzusichern. Deshalb auch unter­ nahm er nur die allernotwendigsten Gänge und blieb stattdessen, wenn er nicht in der Tagesklinik war, lieber zu Hause in seiner mittlerweile eigenen Wohnung, die er schon einige Monate zuvor mithilfe Frau E.s und ihres Bekanntenkreises gefunden hatte. Sechs bis acht Wochen hatte diese Krise gedauert. Nach ihrer Überwindung – auch mit medi­ kamentöser Hilfe – konnten wir Herrn F. eine ehrenamtliche Tätigkeit in einem Kinderbauernhof in der Stadt vermitteln. Dort wurde er nach anfänglichen Berührungsängsten (»O Gott – Folteropfer, worauf müs­ sen wir da achten?«) sehr gut aufgenommen. Und mit welch schier un­ glaublichen Begeisterung er dort anpackte, war zu spüren, wenn er in seinen Therapiestunden davon berichtete. Ganz euphorisch erzählte der vor Kurzem noch so verzagt ängstliche und depressive Herr F. von den Kühen, Schafen, Ziegen und Ponys – alles so wie bei ihm zu Hause. Zum Ende der Behandlung hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Herrn F.s Asylantrag noch nicht entschieden. Es war also noch nicht sicher, ob er in Deutschland bleiben konnte oder wieder zurückmusste in seinen Heimatort im Kaukasus. Unsere ärztliche Stel­ lungnahme bezüglich der Art und Ausprägung seiner Erkrankung und ihrer vermuteten Entstehung veranlasste das Amt aber, zusätzlich ein externes Gutachten bei einer Kollegin andernorts einzuholen. Nach­ 162

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dem diese in ihrem Gutachten zum gleichen Ergebnis gekommen war wie wir, erhielt Herr F. die Aufenthaltserlaubnis nach § 60.1 Aufenthalts­ gesetz, das sogenannte »kleine Asyl«. Das »große Asyl« nach Artikel 16a des Grundgesetzes erhält ohnehin nur ein schwindend geringer Prozentsatz von ein bis zwei Prozent der Asylantragsteller, seit Anfang der 90er­Jahre infolge Novellierung des Asylrechts unter Konsens aller großer Fraktionen im Bundestag die sogenannte »Drittstaatenregelung« eingeführt worden war, nach der nur noch demjenigen das Recht auf Asyl zugesprochen wird, der nachweisen kann, dass er direkt und nicht über einen sogenannten sicheren Drittstaat in die Bundesrepu­ blik Deutschland eingereist ist. Mit dem Ruder­ oder Segelboot über die Nordsee beispielsweise. Denn das vom Schlepper besorgte Flugticket mit falschem Namen und Pass wird gewöhnlich von demselben nach Durchschreiten des Gates im Zielflughafen wieder eingesammelt. Immerhin hatten damals Asylantragsteller beim Bundesamt eine Chance auf Asyl nach Artikel 16a, wenn sie genaue Angaben zu Flughäfen, Flugzeiten und Interieur der Maschine machen konnten. Doch heute kommen Flüchtlinge zu­ meist über den Landweg, und im Grunde ist vermittelst der sogenannten Drittstaatenregelung das Recht auf Asyl in der Bundesrepublik Deutsch­ land seit 1993 abgeschafft. Der damit vom Gesetzgeber artifiziell her­ beigeführte schwindsüchtige Prozentsatz der Asylanerkennung nach Artikel 16a von etwa ein bis zwei Prozent wird gerne von Behörden gegenüber der Presse verkündet – und dabei unterschlagen, dass um die 30 Prozent der Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund subsidiären Schutzes (§ 4.1 AsylVfG) oder infolge von Abschiebehinder­ nissen aus humanitären und gesundheitlichen Gründen (§ 60.2­7 Auf­ enthG) erhalten. Das ist irreführend und gibt populistischen Politikern des rechtsna­ tionalen Spektrums immer wieder die Gelegenheit, in TV­Talkshows gebetsmühlenhaft damit zu argumentieren, wie niedrig doch die Aner­ kennungsrate für Asylbewerber bekanntermaßen sei, was doch beweise, dass die meisten der in der Bundesrepublik eintreffenden Flüchtlinge

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(»um die 98 Prozent«) ungerechtfertigt Asylanträge stellten und damit »Scheinasylanten« seien. Herr F. hingegen hatte schon wieder Glück, denn immerhin nach nur etwa zwei Jahren wurde sein Antrag auf Asyl positiv beschieden, und er bekam eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit, zu arbei­ ten oder eine Berufsausbildung zu beginnen. Viele andere Antragsteller müssen länger warten. Bis zu zehn Jahre mit langwierigen Klageverfah­ ren bei Verwaltungsgerichten. Inzwischen ist es etwa fünf Jahre her, seitdem Herr F. aus der Tages­ klinik entlassen wurde. Ihm geht es gut. Schon lange hat er eine feste Arbeitsstelle in einem Parkettlegebetrieb. Neulich war er da mit Geburtsurkunde und anderen Unterlagen, er brauchte für das Standesamt eine Übersetzung durch einen beeidigten Dolmetscher und unseren Rat. Grund: Er wollte heiraten.

Angst, Trauma, Depression Herr F. gehörte zu den knapp 30 000 Flüchtlingen, die 2008 in der Bun­ desrepublik Deutschland einen Asylantrag stellten. In einer epidemio­ logischen Untersuchung der Psychiatrischen Abteilung des Städtischen Klinikums Nürnberg an knapp 300 Asylantragstellern konnte bei zwei Dritteln eine behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankung dia­ gnostiziert werden, überwiegend Angst­ und Traumafolgestörungen und an zweiter Stelle depressive Störungen.2 Eine schon etwas länger zurückliegende Untersuchung der Universität Konstanz kam bei 76 Asyl­ erstantragstellern auf eine Prävalenzrate für die posttraumatische Be­ lastungsstörung von 40 Prozent.3 Nun braucht man nur noch auf die aktuellen Zahlen des Bundesamtes mit 173 000 Erstanträgen im Jahr 2014 sowie 125 000 im Zeitraum von Januar bis Mai 2015 zu schauen, um das außerordentliche Ausmaß an psychiatrisch­psychotherapeuti­ schem Behandlungsbedarf für ausländische Flüchtlinge abzuschätzen. 164

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Dieser in die Aberzigtausende reichenden Größenordnung stehen Be­ handlungsplätze von knapp 30 mit Dolmetscher arbeitenden Behand­ lungseinrichtungen für Flüchtlinge gegenüber, von denen die größte unter ihnen, unser Berliner Behandlungszentrum, jährlich etwa 500 Pa­ tienten behandeln kann. Man muss feststellen: Auch nicht im Gerings­ ten ist das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland dem Ansturm der derzeit aus Kriegsgebieten wie Syrien und Tschetsche­ nien stammenden und psychisch infolge Folter­ und Bürgerkriegs­ folgen traumatisierten Flüchtlingen gewachsen. Zumal die meisten Behandlungseinrichtungen für Folteropfer als Vereine auf Zuwendun­ gen der öffentlichen Hand oder der EU oder Spendengelder angewie­ sen sind. Diese müssen Jahr für Jahr mitunter mühsam neu akquiriert und in einer Art Patchworkhaushalt zusammengestellt werden, und vielen Mitarbeitern dort geht es dann ebenso wie ihrer Klientel, wenn sie nicht wissen, ob sie mittelfristig bleiben können: die einen an ihrem Arbeitsplatz, die anderen in der Bundesrepublik Deutschland. Wobei die Flüchtlinge im Moment ja nicht einmal eine menschen­ würdige Aufnahme und Unterkunft bei uns finden. In Berlin sind die Flüchtlinge derzeit zum Teil zusammengepfercht in Hallen, wo verstell­ bare Trennwände oder aufgehängte Leintücher nur notdürftig für die Aufrechterhaltung einer Intimsphäre sorgen. Andernorts in Deutschland werden Unterkünfte schon vor ihrer Öffnung von kriminellen Brand­ stiftern abgefackelt. Hinzu kommen vielerorts ausländerfeindliche Pa­ rolen und Demonstrationen rassistischer Populisten und sogenannter »besorgter« Bürger. Das ist Willkommenskultur in Deutschland, einem Land, welches aufgrund seiner Prosperität und Freiheitsordnung welt­ weit einen guten Ruf genießt. Aber nur für den, der aus der Ferne schaut. Ist der Flüchtling erst einmal im Land, so muss er sich wundern, was aus der so in der Ferne gepriesenen Freiheit geworden ist: einge­ schränkte Bewegungsfreiheit und über Jahre währende Asylverfahren mit der Angst, wieder ins Herkunftsland abgeschoben zu werden. Da­ zu täglich Signale der Unerwünschtheit und Feindseligkeit in Behörden oder unterwegs in Bus und Bahn durch Passanten. Schlechte Unter­

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künfte, eingeschränkte Sozialhilfe, unzureichende Gesundheitsversor­ gung. Zwar werden in Deutschland nach dem Asylbewerberleistungsge­ setz Krankenbehandlungen für akute Krankheiten und Schmerzzustände gewährt, doch für chronische Erkrankungen in der Regel nicht, insbe­ sondere nicht für Zahnersatz und Prothesen. Das erinnert an einen be­ sonders krassen Fall zweier Brüder aus Nusaybin in Südostanatolien, die in den 1990er­Jahren zu uns ins Behandlungszentrum kamen. Beide trugen Unterschenkelprothesen als Folge von Verletzungen während eines Granatangriffes auf das Haus ihrer Familie anlässlich der Unru­ hen am Newrozfest 1992. Sie wohnten in einem Heim weit außerhalb Berlins in Brandenburg, in einem abgelegenen Wald. Um in einen Supermarkt oder zu den Behörden zu gelangen, mussten sie mehrere Kilometer zurücklegen – aufgrund der vielen alten und frischen Druck­ stellen, Schwielen und Blasen an den Stümpfen ein recht schmerz­ volles Unterfangen. Unsere Sozialabteilung musste eindringlich und wiederholt intervenieren, damit das örtliche Sozialamt die mehrfach gestellten Kostenübernahmeanträge für neue Prothesen letztendlich doch bewilligte.

Das Körperempfinden schwindet Keine Frage: Die lange Periode des Friedens hat die üblen Tage der nationalsozialistischen Vorepoche in Deutschland vergessen lassen. Folter? Was ist das? Wer will das noch wissen? »Das vorsätzliche und gezielte Zufügen von psychischem oder physi­ schem Leid an Menschen durch andere Menschen, um eine Aussage, ein Geständnis, einen Widerruf oder eine Information zu erhalten oder um den Willen und den Widerstand des Betroffenen zu brechen«, sagt die UNO. Und was sagte mir einst Herr A.? Herr A., Kurde aus der Tür­ kei, hatte neun Jahre lang, fast ein Drittel seines bisherigen Daseins als politisch Verfolgter in verschiedenen türkischen Gefängnissen zu­ gebracht, bevor er in die Bundesrepublik kam und im Berliner Behand­ 166

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lungszentrum für Folteropfer psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung erhielt. Er sagte einmal: Folter, das ist schließlich nichts, keine Art von Kunst oder Fertigkeit, worüber sich sprechen oder schreiben lässt. Wenn man ihn fragt, wie lange er da so an der Decke hing, wie soll er das sagen können? Ein Empfinden von Ort und Zeit gibt es da nicht mehr. Wenn zwischendurch einer kommt, die Hoden zu quetschen oder zu schlagen, weiß man nicht, wo und wann. Man kann die einzelnen Körperteile nicht mehr empfinden und zuletzt nicht mehr den ganzen Körper. Man hängt und hängt, und nach einer Zeit hat man den Eindruck, der Körper ist nicht mehr da. Was einen dann quält, ist nicht mehr Körperliches, sondern Seelisches. Und es braucht auch längere Zeit, bis sich das Körperempfinden wieder einstellt. Das Einzige, was man zunächst feststellt, dass die Hände angeschwol­ len sind, die Finger oder die Füße. Zurück in der Gefängniszelle be­ kommt man alle zwei bis drei Tage etwas zu essen. Aber keine richtige Mahlzeit, sondern so etwas wie ein Frühstück mit Brot, ein paar Oli­ ven und etwas Käse. Aber die Finger sind viel zu steif und geschwollen, die Motorik ist noch nicht vorhanden, sodass es unmöglich ist, zu es­ sen. Dies sind Umstände, die kann man nicht beschreiben, die versteht nur, wer das selbst erlebt hat. Gefoltert wird mit allem, was an Methoden vorstellbar ist. Zualler­ erst natürlich Tritte und Schläge auf alle Körperteile. Besonders beliebt sind Schläge auf die Fußsohlen, genannte Falakka oder Falanga. Sie werden angeblich allein schon bei Überführungen oder Verlegungen in Strafgefängnisse dem normalen Strafgefangenen in der Türkei ver­ abreicht, als Begrüßungsritual, sozusagen. Weil man dort aber nur wahllos ungezielt draufloshaute, wäre diese Art von Begrüßung lange nicht so schmerzhaft wie im »DAL« (Derin Arastirma Laboratuvar), was übersetzt in etwa »Laboratorium für Tiefenforschung« heißt. Ein unterirdisch gelegenes Untersuchungsgefängnis für politische Häftlinge in Ankara. Dort würden besonders geübte Schläger gezielte Schläge auf die Fußsohlen verabreichen, die Schmerzen sollen höllisch sein, kaum erträglich.

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Auch mit elektrischen Stromstößen wird gefoltert – an den Genita­ lien zum Beispiel oder an den Brustwarzen, oder durch Abspritzen mit hartem Kaltwasserstrahl auf die bloße Haut, Kälteexposition, Hoden­ quetschungen, Ziehen von Finger­ und Zehennägeln, Aufhängen an nach hinten zusammengebundenen Händen, sodass die Zehenspitzen ge­ rade nicht mehr den Boden berühren. Sexualisierte Folter. Vergewalti­ gungen jeglicher Form. Demütigungen, Erniedrigungen, Drohungen, Scheinhinrichtungen.

Heimlich oder medial inszeniert »Nirgendwo wird gefoltert.« Denn in kaum einem Staat geben die Re­ gierungen das offen zu. Eine schlichte, politisch ganz allgemein übliche Verleugnung, welche zur Folge hat, dass es im Bewusstsein der meisten Menschen Folter nicht gibt, allenfalls ganz am Rande in Berichten und abstrakt wirkenden Zahlen von Amnesty International. Somit – und das ist auch eine Strategie der Täter – fällt es den Opfern schwer, Glau­ ben zu finden für das, was ihnen widerfahren ist. Niemand schenkt den Opfern Gehör, keiner möchte mit Folter etwas zu tun haben. Die Rea­ lität des Alltagslebens läuft getrennt an der verleugneten, geheimen Realität der Folterkeller vorbei, ohne dass diese von jener Kenntnis nehmen will. Demnach gehört es auch zur Strategie der Täter, beim Überlebenden möglichst keine physischen Folterspuren zu hinterlassen. Narben in­ folge von Folter finden wir daher nicht allzu oft bei der körperlichen Untersuchung. So führt das Schlagen mit sandgefüllten Schläuchen zu keinen Verletzungen der äußeren Haut, sondern zu Zerstörung und Absterben von Muskel­ und Bindegewebe im Inneren. Nach Abklin­ gen der Schwellungen bilden die äußerlich nicht sichtbaren Nekrosen einen besonders guten Nährboden für sehr schmerzhafte, immer wie­ derkehrende bakterielle Entzündungen (Erysipel). Infolge der Fußsoh­ lenschläge schwellen Füße und Unterschenkel an und verfärben sich 168

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tiefdunkel, auberginenfarben. Nach Rückbildung von Schwellung, Ver­ färbung und Akutschmerz bleibt das Fußbett irreversibel zerstört zu­ rück. Denn das besonders angeordnete elastische Stützgewebe der Fußballen wird ersetzt durch normales Bindegewebe, welches weich und bis auf die leicht zu tastenden Mittelfußknochen eindrückbar nach längerem Gehen brennende Schmerzen verursacht. Was die einen heimlich hinter verschlossenen Kerkertüren tun, prä­ sentiert die Terrorgruppe im Vorderen Orient, die sich »Islamischer Staat« nennt, in aller Öffentlichkeit. Sie verherrlicht ihre Verbrechen im Internet. Eine elektronische Ver­ vielfältigung des Grauens. Begonnen wurde damit allerdings schon, als man die Hinrichtung Saddam Husseins im Internet zeigte. Noch heute kann man sie dort an­ sehen. Präsentationen von Hinrichtungen und Folterungen auf öffent­ lichen Plätzen fanden in Europa im Mittelalter statt und heute noch in Saudi­Arabien. Auch im Iran. Vielleicht da, wo Folterung nicht poli­ tisch, sondern religiös motiviert ist? Um etwaige Zweifler und Ketzer zu beeindrucken? Vielleicht aus Angst vor dem eigenen Zweifel an Gott müssen Abtrünnige abgeschlachtet werden? In der Öffentlichkeit vor aller Augen? Die Frage nach Gott birgt schließlich die Frage nach Sinn der eigenen Existenz. Daran darf absolut nicht gezweifelt werden. Nicht einen darf es geben, der zweifelt. Müssen deshalb alle erreicht werden? Wurden vielleicht deshalb im Mittelalter die Menschen auf die öffent­ lichen Plätze getrieben, die Grausamkeiten einer öffentlichen Folter oder Hinrichtung mit ansehen zu müssen? Und ist nicht das Internet mit seinen sozialen Netzwerken der größtmöglich denkbare öffentliche Platz? Mit Sicherheit ist er das. Und was passiert mit denen, die sich Tag für Tag diese grausamen Szenen ansehen? Inwieweit kann sich das auf die Betrachter emotional auswirken? Eine schwierige Frage, auf die es noch keine abschließende Antwort gibt, was Langzeitrisiken und Nebenwirkungen angeht. Allerdings ist schon seit den Erfahrungen mit Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager und deren Familien bekannt, dass Angehörige von Folterüberlebenden mit­

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telbar mitbetroffen werden können durch sogenannte stellvertretende oder sekundäre Traumatisierung, einer Art »emotionale Ansteckung«, in welcher den nächsten Angehörigen Folgen der existenziell erlebten traumatischen Erfahrungen übermittelt oder »transmittiert« werden. Denn wer durch Folter­ oder Kriegserfahrungen bleibende Existenz­ angst hat und Misstrauen gegenüber seinen Zeitgenossen hegt, sucht nicht nur sich, sondern auch seine Familienangehörigen von Umge­ bung und Gesellschaft abzuschotten. Ein akribisches Kontrollbedürfnis sorgt dafür, dass niemandem unter den nächsten Angehörigen etwas Schlimmes geschieht. In solchen Familien herrscht der Eindruck einer permanent drohenden, unsichtbaren Gefahr vor der Außenwelt mit der Folge der sozialen Abschirmung und Isolierung. Oder der Fami­ lienvater, der neun Jahre lang den sowjetischen Gulag unter quälen­ dem Hunger überlebt hatte, bei ihm musste der Kühlschrank immer randvoll gefüllt sein, er konnte schier ausflippen und prügelte seine Kinder durch, wenn sie ihre Mahlzeiten nicht aufaßen. Kinder von Konzentrationslagerüberlebenden berichteten, dass entweder großes Stillschweigen über die traumatischen Erlebnisse eines oder beider Elternteile in der Familie herrschte oder dauernd bei alltäglichsten Dingen darüber geredet wurde. Eine harmlose Bemerkung über das Wetter konnte dann zu einer Situation auf dem Appellplatz im Lager führen. Oder Flüchtlingskinder aus den ehemaligen deutschen Ostgebie­ ten berichteten, wie bis in die 1950er­Jahre hinein des Nachts neben ihrem Bett ein mit dem Allernotwendigsten fertig gepackter Rucksack stand, in dem auch ganz offensichtlich die Furcht ihrer Eltern mit ein­ gepackt war, von einer Stunde zur anderen wieder wegzumüssen und erneut vertrieben zu werden. Erlebte Bedrohung sensibilisiert für mögliche Gefahren, auch wenn sie gar nicht vorhanden sind. Die Vul­ nerabilität von Folter­ und Kriegsüberlebenden wird weitergegeben an die nächste Generation. Vor diesem Hintergrund betrachte man das grauenvolle Medienspektakel im Internet, wo durch offen gezeigte Folter­, Hinrichtungs­ und Enthauptungsszenen die Seelen der Schau­ enden erschüttert werden. Die Folgen: entweder Abstumpfung, Verro­ 170

Ferdinand Haenel

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hung mit Zunahme des Gewaltpotenzials im Alltag oder Reaktuali­ sierung und Wiederaufflammen alter traumatischer Erfahrungen und ihrer Folgen. Alte Wunden werden wieder aufgerissen. Zurück zu Herrn F. und der Frage: Ist Deutschland ein guter Zu­ fluchtsort? Wenn das Haus zerbombt, die Familie getötet oder man selbst von Folterknechten gequält wurde, monatelang, jahrelang. Für Herrn F. ja, für ihn ist die Bundesrepublik Deutschland ein guter Ort, er hatte unwahrscheinlich viel Glück. Für die meisten traumatisierten Asylbe­ werber und Flüchtlinge leider nein. Es sind zu viele und die Behand­ lungsplätze der knapp 30 spezialisierten Behandlungseinrichtungen zu wenig. Und unser Gesundheitsversorgungssystem ist auf die beson­ deren Erfordernisse der psychiatrisch­psychotherapeutischen Behand­ lung traumatisierter Flüchtlinge aus anderen Kulturen und anderer Sprache keineswegs vorbereitet. Diese Behandlungen bedürfen einer besonderen Expertise der behandelnden Ärzte und Psychologen, was aber in den Ausbildungs­ und Weiterbildungsgängen nicht weiter be­ rücksichtigt wird. Wer von den Kollegen Karriere machen will, hält sich am besten fern. Die Behandlungen sind sehr kosten­ und zeitauf­ wendig. Und Kosten für Dolmetscher werden von den Krankenkassen ohnehin nicht übernommen. Dazu kommen widrige psychosoziale Umstände wie die lange Wartezeit auf Aufenthalt mit der quälenden Ungewissheit, ob man nicht doch wieder von den deutschen Behörden zurückgeschickt werde, fehlende Arbeits­ und Ausbildungsmöglich­ keit, damit verbunden die Abhängigkeit von Sozialhilfe, die viele als demütigend wie Almosen erleben, wo sie doch in ihren Herkunfts­ ländern einen Beruf hatten, in Lohn und Brot standen und ihre Ar­ beitskraft gebraucht wurde. Das schwer durch Folter, Kriegs­ und Fluchterfahrungen ohnehin gekränkte Selbstvertrauen wird hierdurch weiter unterhöhlt.4 Ein Leben im Wartesaal. Ohne Perspektive und Planungsmöglichkeit. Nicht einmal ein Deutschkurs ist offiziell erlaubt. Stumpfsinniges Herumsitzen in den Unterkünften. Wer krank ist, wird da noch kränker, und wer es zuvor nicht war, der wird es.

Flüchtiges Glück

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Anmerkungen 1 Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse«. In: Kritische Studienausgabe, Band 5. Berlin 1980, S. 86. 2 Richter, Kneginja; Lehfeld, Hartmut; Niklewski, Günter: Abschlussbericht für Gutachterstelle zur Erkennung von psychischen Störungen bei Asylbewerberinnen und Asylbewerbern – Zirndorf. Nürnberg 2012, http://www.pgasyl.de/cms/images/stories/PGAsyl/abschlussbericht%20zirndorf %20endfassung%2029.10.2012.pdf 3 Gäbel, Ulrike et al.: »Prävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung und Möglichkeiten der Ermittlung.« In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 35 (2006), S. 12–20. 4 Haenel, Ferdinand: »Psychisch reaktive Kriegs­ und Folterfolgen – Die Einflüsse sozialer und rechtlicher Umstände auf die psychotherapeutische Behandlung von Folterüberlebenden.« In: Psychotherapeut 47 (2002), S. 185–188.

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Wilhelm Bartsch

Geistergeschichten »… und während ich dies nun schreibe, wird mir bewußt, daß ich schon an diesem ersten Tag durch ein Loch in der Erde rutschte, daß ich landete, wo ich nie zuvor gewesen war.« Paul Auster, Hinter verschlossenen Türen

»… hier liegen ungeheure Haufen alter Enden, die drehe zusammen; aber hüte dich: wenn du saumselig spinnst, oder der Faden reißt, so schlingen sich die Fäden um dich her und ersticken dich.« Novalis, Heinrich von Ofterdingen

Charlottenburg Amerikatz hatte ihn verkehrt herum aufgehängt und sofort gesehen, dass er dadurch viel mehr war als Kunst. Nämlich die Einladung, je­ mand ganz Bestimmten sehr tief unter die Erde zu bringen, und zwar auf die grausige Weise der alten Cherokee. Ein schnurgerader dunkler Blitz schießt auf ihrem nächtlichen Schnappschuss von der Brooklynbridge aus tief hinab und wird sich, so fühlt man es gleich, unterwegs mit allen Stufen der Finsternis aufla­ den. Der abgrundtiefe Fall Luzifers zeige nur, was in uns allen, wirklich in uns allen stecke, hatte Amerikatz später zu mir gesagt. Es wäre wie eine düstere Erleuchtung im Sekundenbruchteil gewesen, eine Gewiss­ heit, die da längst keine Worte mehr gebraucht hätte. Der nächtliche Schnappschuss zeigt die fahl erleuchteten Brücken­ seile auf der Manhattanseite. Verkehrt herum aufgehängt verbreiten die Stahlseile jedoch eine Titanicstimmung wie in die Tiefe sinkende Gelän­

Geistergeschichten

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der oder das Netz eines Spinnenungeheuers. Was dahinter ja eigentlich den Nachthimmel abbildet, erscheint hier zwingend als ein nach unten hin abnehmendes Licht, und das weht einen sofort an wie eine Nahtod­ erfahrung, während aus dem oberen Bildrand das strahlende Märchen des Lebens verschwindet. In diesem Fall sind es das New York World Building und Verizon, der dickste Freund der NSA, mit seinem oben an der Fassade rot strahlenden Haken, als wäre auch dieses Gebäude bereits erledigt. Mit dem Dreher eines Fotos also, ob nun versehentlich geschehen oder nicht, hatte der ganze Fall seinen fatalen Lauf genommen, wie ich heute weiß. Jan Untied, den ich im Auftrag seines Vaters suchte, war ja in der Nähe von Amerikatz und somit immer auch in der Nähe des unheimlichen evangelikalen Milliardärs Deodat Increase Mason zu vermuten gewesen. Jan hatte den Namen Amerikatz allerdings nicht erfunden. Wer denn dann? Deodat? Boris? Archag? Oder etwa ich? Ich werde es beim Aufschreiben all des Unglaublichen mit meinem Parker­51­Füller in die drei großen Moleskine­Hefte schon noch her­ ausfinden. Wenn nicht, soll es auch egal sein. Also ein berühmter alter amerikanischer Füller. Gleich in meinen Apple gehe ich nämlich keines­ falls, ein frisch gebranntes Kind scheut das Web, sogar die eigene Fest­ platte. Amerikatz, das ist Jensie Immakoolee Stone, inzwischen eine Meis­ terin der Land & Body Art. Sie stammt von den Cherokee ab wie Johnny Depp, Jimi Hendrix und Elvis Presley. Wer Jensie Amerikatz nennt, weist also vielleicht sogar unbeabsichtigt nicht nur auf etwas mehr als nur Uramerikanisches, nämlich Präkolumbianisches hin, son­ dern auch darauf, dass Jensie ein Puma, eine Berglöwin, also ein Cou­ gar ist, nämlich eine ältere taffe Frau. Dabei ist Jensie noch gar nicht alt, aber ihr Haar könnte das durchaus vermuten lassen. Ihre Haarpracht wiederum passt ja auch zu Jensies Cherokee­Namen Immakoolee, der Wasserfall bedeutet. Übrigens hatte auch eine ihrer ersten Arbeiten in der Landschaft, mit der sie Aufmerksamkeit erregte, mit dieser ameri­ 174

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kanischen Großkatze zu tun, denn sie trug den tscherokesischen Titel Tiv Da Tsi, also Puma. Ich würde jetzt weiter von Amerika und Amerikatz erzählen, um es hin­ ter mich zu bringen, aber dies hier ist vermutlich auch eine Doppel­ gängergeschichte, also nicht nur der Fall Jan, sondern zugleich der Fall Micah Macrobius. Und das bin ich. Ich bin wohl ein ziemlich absonderlicher Detektiv, und ich lasse mich, wenn es sein kann und sein darf, auch gefühlsmäßig, ja sehr persön­ lich in einen Fall verwickeln. Einer, der mittendrin ist, kriegt bei einem Job, wie ich ihn mache, oft mehr mit als ein Außenstehender. Das hat bisher meinen Erfolg ausgemacht, und zwar seit 1991 als Ein­ zeltäter und seit 1995 als Adele von Strauchs Partner in der Detektei Micah & Adele, Berlin­Charlottenburg, Knesebeckstraße. Meine Spe­ zialstrecke ist die Suche nach Vermissten in den USA. Der Fall Jan Untied begann damit, dass der angekündigte Bote von Boris Untied bei uns in der Detektei auftauchte. Ich hörte metallbeschla­ gene Schuhe im Treppenhaus. Der Heraufeilende nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, er hatte also keine Zeit für den eigensinnigsten Fahr­ stuhl auf Erden. Ich klickte die Website von »Zombie Boy und seine Kollegen« weg und erwartete nun wirklich so einen Kollegen. Es gab also auch komplett unbeschädigte Zombies in tadellosen An­ zügen, die sich morgens, mittags und abends anscheinend eine halbe Stunde lang die Zähne putzen. Dieser hatte einen silbernen Knopf im Ohr, war aber nicht von Steiff, sondern wohl eher von Grill & Gel. Der Mann war eine lackierte Mohrrübe aus dem Oderbruch, so etwas sehe ich, denn ich stamme selber zu drei Vierteln aus dem Osten der Mark Brandenburg. Er überreichte mir eine auf der Rückseite von Boris Untied beschriebene Visitenkarte mit dem in der Form einer Bitte ver­ steckten Befehl, ich solle am besten der Mohrrübe schon zusagen, dass ich die Sache übernähme, denn dann werde er sich als noch großzü­ giger beim Honorar erweisen. Ich kritzelte ein »charascho!« in russi­

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schen Buchstaben und den Termin gleich am nächsten Tag auf meine Visitenkarte und ließ sie von dem lackierten Zombie Boy zurückappor­ tieren. Es geschah allein aus Gier nach Geld, unter anderem wegen der Miete und wohl auch in einem Anfall von blöder triebhafter Neugier. Kaum war die Mohrrübe raus, fing ich meinen Federstrich schon an zu bedauern. Aber da war was, grübelte ich gleich weiter, da war doch mal was … Abends zu Hause blätterte ich die zwei Kisten mit den in meinem Auf­ trag für mich kopierten Dokumenten der BStU durch, im Volksmund Stasi­Akten. Ich stieß dort auf ein Dokument, das ein Berliner Stasi­Oberst namens Ungerer von der Abteilung XX, Kunst und Kultur, gezeichnet hatte. Ich wollte schon aufgeben, da kam mir die Idee, das genannte Blatt noch einmal vorzunehmen und nach den Verteilern zu sehen. Links oben als Dritter von fünfen stand er: Generalmajor Untied. Es muss also ein OV, ein Vorgang mit ziemlich hoher Priorität gewesen sein, den ich da tangiert hatte. Gegenstand war eine Hinterhoflesung in Pankow gewesen, eine Lesung jedenfalls jenseits der Prenzlauer­ Berg­Szene. Es ging da auch nicht um Literatur en vogue, sondern um einen biografischen, zeitgeschichtlichen Text, dessen Titel der dort nicht fehlen dürfende Horch & Guck kennerisch mit »Nicht im Regen, aber in der Traufe« angab. Ich erinnerte mich auch dunkel an einen unansehnlichen, zusam­ mengekauerten Mann, der ständig vor sich hin hüstelte und den man mehrmals zum Wiederholen des nuschelnd Vorgelesenen ermuntern musste. Ich erinnerte mich auch daran, dass ich dem Mann, der im KZ Buchenwald gesessen hatte, aber nicht von 1939 bis 1945, sondern von 1945 bis 1947, trotz all meiner Sympathie nicht so recht hatte glauben wollen. Aber nicht das interessierte mich jetzt. Ich hatte so eine Ahnung da­ von, dass damals neben mir irgendjemand gesessen haben muss, den ich gekannt habe. Ich kenne freilich viel zu viele Leute, doch ich wollte mich 176

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über diesen Unbekannten näher an den Generalmajor Boris Untied herangrübeln und schlief dabei ein. Im Traum war mir dann ein Stasi­ Häuptling mit markantem Kinn erschienen, der spielte mit beiden Händen in seinen Hosentaschen mit seinen Orden. Es klang wie knis­ terndes, schließlich undeutlich flüsterndes Lametta. Es war kein halb­ wegs säuberlich in Strähnen aufgehängtes Lametta, sondern es waren eher kurze und chaotisch auf dem Baum verteilte Fäden, die sich noch bewegten wie alte Enden längst vergessener Fäden von Erzählungen. Am nächsten Tag stieg ich wieder einmal in den eigensinnigsten Fahr­ stuhl auf Erden, um mich inspirieren zu lassen bei meinem Da­war­ doch­noch­was. Eigentlich liebte ich ihn, aber ich fürchtete mich auch ein bisschen vor ihm. Dieser Fahrstuhl hat anscheinend Verstand und Stimme, jedenfalls für mich, denn es war mir oft genug so vorgekom­ men, besonders wenn ich etwas übermüdet war, als sei jemand oder etwas bei mir zugestiegen, um mir manchmal sogar mit meiner eige­ nen Stimme etwas zuzuraunen, meistens ein Stichwort, das mich dann oft auf eine wichtige Spur gebracht hatte. Das war mir da drin schon passiert, noch ehe ich erfahren hatte, dass ihn schon mein Lieblings­ lügenbold Karl May und der armenische Mörder und Nationalheld Soghomon Tehlerjan benutzt hatten, die beide hier in der Knesebeck denselben Rechtsberater konsultierten, Karl May wegen seiner Schei­ dung und dann noch wegen seinem Privatklageprozess gegen den Sen­ sationsjournalisten Rudolf Lebius vor dem Amtsgericht Charlottenburg. Die Scheidung klappte, aber den Prozess hat er verloren. Von da an durfte er auch weiterhin ungestraft »ein geborener Verbrecher« genannt werden. Karl Mays Skandalruhm in der Kaiserzeit hatte damals selbst den von Wilhelm Voigt übertroffen, dem »Hauptmann von Köpenick«. Und jetzt kommt’s: Eines Tages fand ich im Fahrstuhl Karl Mays selte­ nes Buch Lichte Höhen aus der olivgrünen Werkausgabe. Jemand hatte es aufgeschlagen dort liegen gelassen, und merkwürdige Gedichtzeilen über den Tod, der stets unter meinen Füßen droht, sprangen mich an. Ich wusste gar nicht, dass Karl May auch ein Dichter gewesen war.

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Ich schätze mich als eher unterdurchschnittlich abergläubisch ein, ich glaube auch nicht an höhere Komplotte, ich glaube noch nicht ein­ mal an Gott. Dennoch hielt ich damals wie heute so was wie mit dem Karl­May­Gedicht nicht ganz für puren Zufall. Wahrscheinlich muss man Dichter oder wenigstens Detektiv wie ich sein, um bestimmte Ver­ knüpfungen in der Wirklichkeitsfülle dieser Welt ein bisschen ernster im Augenwinkel zu behalten als jemand, der zu wissen glaubt, wie der Hase läuft. Aber ich bin quasi ein Bartenwal und lebe von Krill. Und wie soll ich mir das mit Soghomon Tehlerjan erklären? Hatte nicht schon Karl May gereicht? Ich bin nämlich selber ein bisschen Armenier! Na gut, wenn auch bloß zu einem mir immer lieber werdenden Viertel. Soghomon Tehlerjan jedenfalls erkundigte sich im Frühjahr 1921 hier im Haus bei vermut­ lich demselben Anwalt wie Karl May, wie er sich im Fall einer Anklage wegen Mord verhalten solle. Der Mord stünde aber noch aus. Tehlerjan war ein Armenier, der als Mittäter der Aktion »Nemesis« den früheren türkischen Innenminister Talaat Pascha umbringen sollte, der im Hotel gleich vorne an der Ecke zur Hardenbergstraße logiert hatte und haupt­ verantwortlich am Genozid an den Armeniern ab 1915 gewesen war. Tehlerjan, ein stolzer, glutvoller, schöner Mann, wie man auf Wiki­ pedia sehen kann, mit einer geraden und langen und sehr filigranen Nase, die in seinem Gesicht stand wie Gottes gelungenste Schöpfung aus Lehm, hatte beim Genozid seine gesamte Familie verloren und selbst nur schwer verletzt überlebt. Ich sehe vor mir, wie am frühen Vormittag des 15. März 1921 ein bartloser und unauffälliger, aber etwas dunklerer Herr das Hotel vorne an der Ecke zur Hardenbergstraße verließ und die Knesebeckstraße über­ querte. Etwas später ging auch Tehlerjan ohne Gewese wie ein Preuße diesen Weg. Wenig später waren die Schüsse zu hören. Sie mussten in der Nähe der Kreuzung Hardenberg­ und Fasanenstraße gefallen sein. Soghomon Tehlerjan wurde in einem der aufsehenerregendsten Pro­ zesse des 20. Jahrhunderts am Kriminalgericht Berlin drüben in Moabit aus psychiatrischen Gründen freigesprochen vom Mord an Talaat Pascha, 178

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und Franz Werfel beschloss, einen Roman zu schreiben, der später un­ ter dem Titel Die vierzig Tage des Musa Dagh weltweites Aufsehen er­ regte. Soghomon Tehlerjan aber wanderte aus nach Amerika. Ich war ebenfalls seit mehr als zwanzig Jahren sehr oft in Amerika gewesen und fühlte mich bis vor Kurzem dort auch noch so unterneh­ mungslustig wie ein Auswanderer. Doch zurück zu jenem Tag, als ich wieder einmal den Fahrstuhl be­ nutzte, ehe Boris Untied kam und kraft seiner Bedeutung eine Bugwelle erzeugte, die mich mehr als 25 000 Kilometer auf der Nordhalbkugel und irgendwie auch durch die halbe und sehr untote Geschichte der Menschheit geschleudert hat. Es ist ein äußerst langsam fahrender Holzkäfig aus der Kaiserzeit mit roten Samttapeten, einer roten Decke, mit einem roten Teppich und mit klickernden Messingscherengittern. Uralter vergoldeter Feinstaub lag wie immer in der Luft und schärfte meine Nase. Ich setzte mich da drin auf die rot gepolsterte Bank. Aber diesmal kam keine Einflüs­ terung, obwohl ich noch müde war von zu wenig Schlaf und durchge­ dreht von der Stasi­Scheiße. Ich hatte das dumme Gefühl, mich auflö­ sen zu müssen, als ich mich, auf unserer Etage angekommen, wieder erhob und in den Spiegeln ringsum sah, wie ich mich, wenn dort auch verhundertfacht, in einer dunklen Unendlichkeit verlor. Außerdem zog es merkwürdig kalt herauf. Da hatte ich an diesem Tag doch noch eine Einflüsterung. Foggy Gellhorn, mein Cousin und Mitarbeiter aus Iowa, raunte ein kleines Wörtlein in mein Ohr, nämlich »dissen«. Wen sollte ich denn dissen? Oder war bloß »dis« gemeint? Ich rief gleich Foggy in Dubuque an. Er war ja immer zu Hause und auch nachts wach. »Was heißt ›dis‹, Foggy? Geschrieben mit d, dann i und s.« »Spielst du denn neuerdings auch? Meinst du die City of Dis?« »Was für ein Spiel denn, Foggy?« »Na, Dantes Inferno, Visceral Games von 2010. Hab ich auf PSP.«

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»Antworte mir, dann kannst du dich wieder hinlegen zu deinem PC.« »Dis ist die Eishölle, wo du dich wappnen musst mit großer Stärke.« »Und wo liegt die?« Foggy sagte nach einer Weile: »Etwa minus 666. Etage.«

Charlatanburg Ich arbeite als Detektiv, überführe aber nicht, denn das macht ohnehin nur die Polizei. Ich ermittle noch nicht einmal vollständig. Ich vermittle am liebsten wie in meinen meisten Fällen Anfang der neunziger Jahre, vorausgesetzt natürlich, die Gesuchten sind noch am Leben. Freilich habe ich auch Fälle, es sind inzwischen sogar die meisten, wo ich eher nur ein Schnüffler bin und zu berichten habe, was diese oder jener so alles macht. Am meisten hasse ich die Shoppen­und­Ficken­Jobs, wo ich meist jüngere Frauen beobachten und, wenn es sein muss, auch steuern oder von was abhalten soll. Dergleichen würde ich eigentlich ablehnen, aber leider nicht, wenn es in New York ist. Adele jedenfalls hat sich ziemlich gut und schnell auf meine anfangs für sie noch sehr seltsamen Klienten eingestellt. Dann hatte es schon in den Neunzigern nachgelassen mit diesen seltsamen Ossis in Amerika, und zwar in dem Maß, wie die Aufträge für das Arbeitsfeld Shoppen und Ficken zugenommen hatten. Aber der größte Brocken aller Zei­ ten aus meinem Arbeitsfeld »Ossis in Amerika« sollte erst noch kom­ men. Es war bereits am späten Nachmittag des Tages nach dem Besuch der lackierten Mohrrübe. Als ich den seltsamsten Fahrstuhl der Welt kli­ ckernd kommen und dann das leise Beben seines Stopps spürte, freute ich mich nicht gerade. Ein eher düsteres Vorgefühl kam in mir auf. Ich erwartete feste, regelmäßige Schritte. Aber Generalmajor a. D. Boris Untied trat auf leisen Sohlen ein, sah mich und stutzte, aber sogleich wurde seine Mimik wieder nichtssagend. Er trug eine graue und ge­ 180

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wiss nicht billige Lederjacke. Sie sah fast so aus wie meine. Ich konnte den Kerl schon jetzt nicht leiden. »Barriess Untieed!«, brummte er wie der russische Bär persönlich, quetschte meine Hand und zog mich da­ bei dicht an seinen Wanst heran. Ich kannte dergleichen Penetranz noch irgendwoher von früher. »Ah!«, rief er und wies auf meine vollgestopfte Bücherwand. »Das ist wohl Ihre Fachliteratur?« »Könnte man so sehen«, sagte ich. »Da hat er doch tatsächlich auch den kompletten Leo Tolstoi vom Verlag Rütten & Loening in der DDR!«, nickte er anerkennend. Dieser Mann war vielleicht doch kein Zyniker durch und durch. Vielleicht träumte er immer noch einen Traum des Kampfes gegen die Ungerechtigkeit? Überzeugungstäter waren mir unheimlich. Ich fand sie eher krank als böse und wollte von jeher als Nichtmediziner solche Nüsse nicht zu knacken haben. Untied hatte jedenfalls noch einen Glutkern von früher dabei, spürte ich, wie er gerade jetzt da und dort gebraucht werden mochte, sei es beim FSB, sei es bei der CIA oder sonst wo. Wenn ich den also näher an mich heranließe, könnten meine guten Karten in den USA bald die allerschlechtesten werden. »Sind Sie sich im Klaren darüber«, fragte ich so scherzhaft und ah­ nungslos wie möglich, »dass Sie mir, falls wir uns wirklich mit Ihrer Angelegenheit beschäftigen sollten, alle Fäden übergeben müssten, die Sie da in Ihren verschränkten Händen versteckt halten?« Untied stand auf und streckte mir seine offenen Hände hin. »Bitte bedienen Sie sich. Sie dürfen alle Fäden nehmen. Ich habe aber, gestehe ich, auch noch einige davon zu Hause gelassen.« »Also, was wollen Sie, Herr Untied?« »Micah & Adele ist in meiner Angelegenheit die beste aller Detek­ teien. Wundert Sie das? Ich suche jemanden.« »Wie kommen Sie nur darauf, dass wir das besser könnten als Sie?« Dieser Mann da war quasi ein Kampftaucher und, wie ich längst re­ cherchiert hatte, nicht nur einst Chef einer geheimen Abteilung bei den Grenztruppen der DDR gewesen, die die Amerikaner »Iron Curtain

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Cleaners« getauft haben, sondern soll auch später eine bis heute sehr undurchsichtige Rolle als Verbindungsmann zum KGB der Sowjet­ union und ganz persönlich zu Juri Andropow gespielt haben, durch den der Aufstieg von Gorbatschow erst ermöglicht wurde. »Ich weiß, ich werde nur Schwierigkeiten bekommen mit Ihnen, Micah Macrobius!«, lachte Untied mit dem Charme eines Schwertrans­ porters aus dem Ural. »Über Geld müssen Sie aber mit mir gar nicht reden. Stellen Sie einfach, sagen wir mal, kluge Rechnungen, und ich zahle sofort! Natürlich auch im Voraus. Wissen Sie, warum ich Ihnen so vertraue? Sie haben armenisches Blut in sich, und Sie haben gleich nach der Wende einem Major der DDR­Grenztruppen und einem Panzerhauptmann der NVA geholfen.« »Von meiner armenischen Verwandtschaft mal abgesehen, können Sie das eigentlich gar nicht wissen.« »Ich finde auch Ihren Kompagnon und Cousin Foggy Gellhorn in Iowa gut.« Spätestens jetzt musste er meine Verblüffung spüren. »Wollen Sie mich mit etwas beauftragen oder mich zur Strecke brin­ gen?«, fragte ich. »Ich bearbeite durchweg harmlose, rein menschliche Fälle und habe leider nur noch fünf Minuten für Sie, Herr Untied.« »In fünf Minuten«, sprach der Haifisch so ganz nebenbei, »bin ich mit Sicherheit noch da.« Er packte eine Mappe aus und legte sie auf meinen Tisch. »Weil ich Ihnen viel mehr bezahlen werde als bereits angekündigt, sollten Sie etwas weniger harmlos als sonst arbeiten. Aber nur keine Bedenken, Micah Macrobius! Ich werde darauf achten, dass Sie sich möglichst immer auf den üblichen Bahnen des Privatdetektivs bewegen können!« Wieder sah er mich so seltsam wie anfangs an, als ob wir uns schon einmal irgendwo begegnet wären. Außerdem schien der Stasi­Gene­ ralmajor a. D. Boris Untied wirklich in der Bredouille zu stecken. »Ich muss Sie nochmals fragen: Was wollen Sie, Herr Untied?« »Meinen Sohn finden«, sagte Untied, kaum dass ich meine Frage beendet hatte. »Warum?« 182

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»Rein persönlich. Andere Gründe spielen keine Rolle.« »Sind aber vorhanden?« »Falls ja«, sagte Untied, »klären Sie mich auf.« »Wie heißt er?« »Jan Untied«, sagte er irgendwie bedeutungsvoll und sah mir in die Augen. »Warum wollen ausgerechnet Sie das und kein anderer aus der Fa­ milie?« Boris Untied hielt meinem Blick nicht richtig stand. Und auch ich konnte seinen Blicken nicht folgen. Buschige Leonid­Breschnew­Augen­ brauen hatten sich darübergewölbt. Die verbargen, wenn mich meine Gefühle nicht trogen, einen Vater voller Kummer. »Ich bin neben Jan noch der Einzige in der Familie. Er scheint schwer krank zu sein. Es gab immer Streit zwischen uns, bis er mit mir gebro­ chen hat, aber der Jan bleibt nun mal mein Sohn. Er mag vielleicht doch ein guter Dichter sein, aber ich passe besser ins Leben.« »Okay. Wo in den USA sollte ich Ihrer Meinung nach Jan Untied am besten oder zuerst suchen?« »Es passierte da, wo auch die CIA zu Hause ist, in Virginia. Dort ist meinem Sohn einiges geschehen. Bis er schließlich verschwinden musste.« »Wegen der CIA?« »Oder wegen dem Heimatschutzgesetz der USA? Lesen Sie das Ding da auf dem Tisch und stellen Sie mir erst danach Ihre Fragen!« Ich blickte hin zu Boris Untieds Mappe. »Was ist das?« »Lesen Sie’s später, dann werden Sie es schon merken«, sagte Boris Untied und erhob sich zu seiner mich erneut überraschenden Unter­ setztheit. »Rufen Sie mich an, wenn Sie damit fertig sind!«, befahl er. »Aber bitte Beeilung, Maestro!« »Untied! Ich bin nur ein kleiner Detektiv mit Aufträgen aus der All­ tagswelt der Leute. Setzen Sie sich doch noch mal kurz hin. Wieso

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eigentlich machen Sie diesen Job nicht gleich selbst? Außerdem haben Sie doch sicherlich Freunde vom FSB oder von sonst wem in Langley, Virginia, wie auch vor allem in Berlin, Moskau und Kabul?« »Junge«, knurrte mich der Stasi­Bär leise an. Er war natürlich ste­ hen geblieben. »Das fehlte noch! Hast du denn rein gar nichts ge­ schnallt?« »Doch. Ich hab nur ein Problem. Ich kann einfach nicht für einen wie Sie arbeiten!« Und tschüss, Mietenzahlung, dachte ich noch. »Das hab ich doch schon mal gehört«, überlegte Untied. »Ach ja, das war von dem, den wir beide suchen wollen. Apropos Kabul: Ich war vor einiger Zeit mal da. Ich sag Ihnen jetzt mal was wegen früher und heute, so viel Zeit muss sein: Kennen Sie diesen – von und zu, na den, der bis vor Kurzem noch ein Ranghoher bei den Grünen gewesen ist? Ich hab den in meine Hotellobby in Kabul hereinkommen sehen. Er hatte gleich sieben Leibwächter mit, die sich augenblicklich nach allen Seiten ver­ drückten. Einer davon blinzelte mir erstaunt zu. Ich kannte den näm­ lich! Er war einst bei der rumänischen Securitate. Die verkaufen sich ja auch nur im Pack, diese Kollegen. Die ehemaligen Leute von der Secu­ ritate sind heute noch heiß begehrt auf dem Markt – ponimaj? Was – Micah – sagt Ihnen das?« »Na schön, Untied. Es sagt mir, dass wie üblich die Rotfedern und die Karpfen aufgefressen werden, aber die Haifische weiterhin ungehudelt herumschwimmen. Das kann man übrigens noch halbwegs verstehen. Natur eben. Rotfedern und Karpfen wachsen halt nach. Und die Haifi­ sche sind Fachleute und werden gerade heute anscheinend dringender gebraucht als Suppenfische. Wie ist es jedoch mit Folgendem? Gleich nach der Wende wollte ich mal einen Job in einer westdeutsch geführ­ ten Firma antreten«, erzählte ich, um gerade nicht vor Untied als Ker­ zen schwenkender Idealist und Menschenliebhaber dazustehen. »Die Personalchefin war freundlich und offen. Sie sagte, dass sie einen, der schon vor der Wende unter Honecker auch innerbetrieblich aufge­ muckt hätte, lieber doch nicht einstellen würden.«

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Da lachte der Haifisch: »Das war doch aber richtig, nicht wahr? Ge­ nau das meinte ich auch mit meiner Geschichte! Also von welcher Wende sprechen Sie eigentlich?« Jetzt wurde ich richtig sauer. »Von folgender Wende«, sagte ich in einem Ton, den ich erst recht nicht bei mir ausstehen konnte – ich dozierte: »Früher hat meine Mut­ ter Arbeit gesucht, kriegte aber in der DDR keine, nur Scheißjobs oder Billigjobs oder dann Kneipe. Wir wohnten in einer Scheißbude. Meine Mutter und ich fuhren manchmal mit dem Fahrstuhl in einem Hoch­ haus der Leipziger Straße bis nach ganz oben, um nach Westberlin rü­ berzublicken. Tief im Grün da drüben, sagte meine Mutter jedes Mal, fängt Charlottenburg an. So heißt nämlich heutzutage das Paradies, Micky Mäuschen, hat sie gesagt. Und jetzt? Ich habe ein Büro in Char­ lottenburg. Ist Ihnen das Wende genug? Ich denke, unser Büro wird Ihre Sache nicht übernehmen können, Herr Untied!« Ich erhob mich, Untied griff nach der Mappe, aber eine andere Hand legte sich darauf, um den Zugriff zu verhindern. Es war meine. Auch der Körperverstand kann sich mal irren. Oder auch nicht. »Rufen Sie mich nach dem Lesen an, am besten gleich morgen früh, und kommen Sie dann gleich zu mir«, sagte Untied in der Tür und sah mich noch einmal aus einem ganz anderen Augenwinkel an. »Mir geht es übrigens auch so, dass ich mich an die allermeisten Mädels und Jungs aus der Parallelklasse nie erinnern kann.« Ich drückte mir die Daumen, dass er schnell runterging. Er benutzte natürlich den Fahrstuhl. Ich horchte ihm wohl eine Ewigkeit nach. Jan Untied. Ich war also, wahrscheinlich sogar mehrmals, dem Sohn eines Stasi­Generals begegnet. Natürlich! Man vergaß doch keinen, der so einen Vater hat! Ich habe eher zufällig neben ihm bei der Vorlesung in Pankow ge­ sessen, und jetzt, ganz jäh, hörte ich die schrille Stimme wieder, noch viel länger her war das als die Vorlesung mit dem Buchenwaldopfer, eine Stimme auf dem Schulhof. Wahrscheinlich haben wir Jungs da­

Geistergeschichten

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mals gerade den Film Der elektrische Reiter mit Robert Redford im Kino gesehen. Der mit der schrillen Stimme machte gerade einen gro­ ßen Fehler, denn er versuchte, das noch zu toppen, und erzählte, dass er in Wandlitz schon oft auf dem elektrischen Pferd von Erich Mielke geritten sei. Jan Untied hatte es vermutlich nie in eine Clique geschafft. Nun aber war mir etwas geschehen. Ich ahnte, dass es vor allem et­ was war, das ich damals noch gar nicht begreifen konnte, und mit Jans Vater hatte es auch nicht viel zu tun. Ein wahres Verhängnis nenne ich etwas, das nicht kommt, sondern zu dem man hingeht, hingehen muss. Man benutzt dazu Wege, die auf keiner Karte stehen, und so ergibt sich durchaus eine gar nicht folgerichtige Geschichte. Denn erst wenn man überhaupt die Chance hat, diese Geschichte halbwegs zu überblicken, sind wirklich zusammengehörige Muster zu erkennen. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil wir selber es so wollen. Ich konnte nun nicht mehr vor mir selber verleugnen, dass mich diese Sache sehr zu interessieren angefangen hatte. »Kommt der Lederrusse etwa wieder?«, hatte Adele geschimpft. Sie stand hinter der Türschwelle und wollte sie anscheinend keines­ falls überschreiten. Das tat sie sonst immer, wenn ich an meinem Mac saß, schon um vielleicht herauszubekommen, welche meiner Favoriten ich diesmal auf dem PC durchklickte: Botoxmonster, Outfit des Grau­ ens oder Zombie Boy und seine Kollegen. Mein größter Liebling war immer die Mutti von Sylvester Stallone. »Nein«, sagte ich, »kommt er nicht, aber ich könnte morgen hinge­ hen und danach gleich zur Bank.« »Ich hoffe, deine Seele ist wenigstens fünfstellig!«, rief Adele beim Davonstöckeln. Sie ließ meine Tür weit auf. »Gibt’s eigentlich ein Zweitexemplar bei Teufelspakten?«, rief sie aus ihrem Büro. »Und zieh dich an! In fünf Minuten gehen wir rüber ins Bogota!« »Ich wohl lieber doch nicht?!« 186

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»Und wehe, du nimmst diese Stasi­Akte da auf deinem Tisch zum Lesen mit!« »Adele! Ich bleib hier bei der Stasi­Akte!« »Dann kuckste eben ein bisschen rein, wenn wir Mädels was bespre­ chen!« »Okay, Nervensäge!« Ich steckte die Akte ein. »Aber du kommst sowieso nicht dazu, Micah!« »Also gut, dann noch ein Spritzerchen von Adeles Herrenwasser«, murmelte ich. Eulenohr Adele hörte es dennoch. »Mach’s lieber nicht! Meine Kandida ist, wie ich dir schon erzählt habe, eine gefährliche Dame!« »Dieses Zeug von Penhaligon’s schützt mich ja auch davor«, log ich. »Übrigens – wie viel?«, sagte sie und hakte sich bei mir unter. »Wenigstens fünfstellig. Ach ja. Einen Vertrag gibt es noch nicht. Bei der Blutentnahme durch den Teufel rollen meine Adern doch im­ mer erst mal weg.« »Bei dir klappt es doch generell nicht bei der Blutentnahme«, sagte Adele. Ein größerer Vertrag wie der womöglich anstehende war allerdings notwendig geworden, denn die nicht gerade niedrige Miete und eine beträchtliche Steuernachzahlung standen ziemlich dramatisch an. Es wäre also sehr gut, wenn das schon einen Tag später hätte erledigt wer­ den können. Aber ich wollte diesen Klienten noch nicht wirklich, und Adele merkte mir das an. So war das eben manchmal, wenn man völlig zu Recht in der wun­ derbaren Knesebeckstraße in Berlin­Charlottenburg sein Kanzlei­Wig­ wam errichtet hatte. Adele und ich waren in unserer Firma zugleich der Boss, die Tippse und die Putze. Auf diese Weise überlebt man viel­ leicht in Wladiwostok, aber nicht in Charlottenburg. Deshalb mussten wir bei sich bietender Gelegenheit wie schwindelfreie Mohawks diesen oder jenen Stahlträger oben in die Berliner Luft einziehen. Berlin hat zumindest eine virtuelle Skyline, aber weil sich alle beteiligten Bauher­

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ren und Mohawks meist auch ohne Absprachen ständig von Neuem irgendwie auf die relative Höhe der Vorhaben und Träume einigen, ist diese Skywalkerszene halbwegs real, was die dabei herausspringenden Summen betrifft – auch für den Beruf des Sittenschnüfflers. Es gibt rein gar nichts Abwertendes über Adele und ihre Arbeit zu sa­ gen, und was die Sitten betrifft, so hat gerade Adele sie ja nicht in Ber­ lin oder anderswo eingeführt. Ich war nur sehr selten mal bei ihr zu Hause gewesen, meist bloß, wenn ich sie abholte. Von ihren Beziehun­ gen zu Männern weiß ich so gut wie nichts, weil sie davon allenfalls karge Andeutungen macht und schnell eingeschnappt ist, wenn ich nachbohre. Allerdings war sie einmal bei mir gewesen – ooops! »But it was a wrong time for somebody new.« Seitdem vermeiden wir meine Höhle. Ich glaube, dass Adele im Gegensatz zu mir so etwas wie neu­ lich nur sehr selten passiert. Bis an einen gewissen Rand aber geht sie schon. Sie hat das Zeug und die Lust dazu. Einmal, als ich sie vom Coiffeur Savan am Savignyplatz abholen sollte, sah ich sie von draußen durch die Schaufensterscheibe ausge­ rechnet mit der Bunten vorm Gesicht. Für heute ist Schluss mit Arbei­ ten, hatte ich im Laden zu ihr gesagt und wollte die Zeitschrift aus ihren Händen entsorgen, aber Adele hielt sie fest, und ich musste mit ansehen, wie sie den Artikel zu Ende las mit einer sehr süßen Zornes­ falte auf ihrer Stirn. Adele Nachtfalter ist oft auch noch bis tief nachts unterwegs, manchmal bin ich auch dabei und staune immer wieder, wie viele Leute sie kennt. Adele ist trotzdem keine Sittenschnüfflerin. Sie hat allerdings eine feine Witterung und die filigrane Nase dazu – ältere Herrschaften haben sie schon für Uta von Naumburg gehalten, und wenn sie dazu noch ge­ bildet waren, auch für Reglindis vom Naumburger Dom. Beides ist wohl nicht ganz unrichtig. Adeles Erscheinung am nächsten kam jener Mann, der sie mal angeschwärmt hatte als Uta mit dem Lächeln von Reglindis, aber dies mit echt Berliner Grübchen. Auch an ihrer Kleidung wollen die meist Neureichen in Halbseide eher eine wohlhabende Stifterin er­ 188

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kennen, aber Adele entstammt den Mietskasernen und schneidert sel­ ber. Nur für ihren Schmuck verausgabt sie sich ein bisschen. Er ist ihr eigentliches Markenzeichen, und die schrägen Silberbroschenfrösche, Möwenringe, Schlangenarmreife und Colliers aus Holzfischen, schöns­ ten Silberknoten oder Spiralen stammen allesamt von Dorothea Prühl. Das ist erste Liga, und wenigstens ein Stück von der ist immer an ihr zu erblicken. Die Kundschaft dreht sich jedenfalls oft vor der Erscheinung Adele von Strauch wie vor einem Spiegel. Sie adelt noch die allerschmudde­ ligste Angelegenheit und lädt sie mit Bedeutung auf. Jeder Drecklappen findet sich bei Adele hochkultiviert und hip. Wie sie doch ihre Ur­ berliner Schnauze, wenn es sein muss, durch eine kultivierte Stimme ersetzen kann. Eine multiple Persönlichkeit könnte das nicht besser. Ohne Adele im Gespann hätte ich längst einen anderen Beruf, und sie auch, denn wir beide sind vielleicht ja eher Künstler und Geisterbe­ schwörer, als dass wir Detektive sind. Aber eben das macht zuweilen unseren Erfolg aus. Anfangs hatte sie mich noch Winnetou genannt wegen meiner Fahr­ stuhlabenteuer. Außerdem hat sie wie ich in der Jugendzeit Karl May verschlungen. Als die Spottdrossel, die sie gern ist, meint sie mit Win­ netou, wenn sie mich so nennt, immer jenen unkenntlichen Indianer im achten Kapitel von Krüger Bei. Sie hat mir einmal, um mich auf den Arm zu nehmen, daraus vorgelesen, nämlich die Stelle, wo sich Old Shatterhand zurückverwandelt in einen biederen Sachsen der Lie­ dertafel. Dann tauchte schließlich Winnetou auf – im Anzug! Er hatte einen Zylinder auf, in den er alle seine Häuptlingshaare gestopft hatte. Auf seinen Spazierstock gestützt, begann er bald zu schluchzen, weil das deutsche Lied erklang. Winnetou hatte seine berühmte Silberbüchse, seinen Federschmuck und den Tomahawk im Dresdner Hauptbahnhof bei der Gepäckaufbewahrung abgegeben. Zu den wenigen, die Adeles Witze dieser Art schätzen können, gehört ihre beste Freundin Kandida Goytia, die ich bisher immer verpasst

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habe, wenn sie aus Kolumbien kommend natürlich im Bogota abge­ stiegen ist. Kandida ist der einzige Mensch, von dem Adele nicht »in Aus­ drücken«, sondern schwärmerisch und auf Hochdeutsch redet. Das geschieht zwar nicht oft, aber es fällt mir auf, weil Adele, außer dass sie sich eher selten unnachahmlich schräg über ihre Kundschaft äußern kann, von den Leuten nie denunzierend, aber auch nicht gerade warm­ herzig redet. Wenn wir aber mal auf meine immerhin fünfundzwanzigprozentige armenische Abstammung kommen, dann berlinert sie stärker als sonst, und ihre Witze werden gröber, aber sie kommen ihr aus dem Herzen.

© Wilhelm Bartsch: »AMERIKATZ. Ein abgrundtiefer Fall.« Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Osburg Verlags, Hamburg 2015.

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Die Autoren Wilhelm Bartsch, geb. 1950, ist Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Er ist Mitglied des PEN und der Sächsischen Akademie der Künste. Zuletzt erschien Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Wolfgang Bauer, geb. 1970, ist Reporter für die Zeit und lebt in Reut­ lingen. Zuletzt erschien Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Djamilia Djusupova, geb. 1985, ist Diplom­Rehabilitationspädagogin und hat einen Diplomstudiengang in interkultureller Kommunikation und Übersetzungswissenschaften/Linguistik für Russisch und Englisch absolviert. Jürgen Ebach, geb. 1945, war von 1996 bis 2010 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments und biblische Hermeneutik an der Evangelisch­Theologischen Fakultät der Ruhr­Universität Bochum. Alfred Hackensberger, geb. 1959, ist Journalist und Autor. Er lebt in Tanger und arbeitet unter anderem als Korrespondent für die Welt. Zuletzt erschien Letzte Tage in Beirut.  Ferdinand Haenel, geb. 1953, ist Arzt für Psychiatrie und Psycho­ therapie sowie Leiter der Tagesklinik des Behandlungszentrums für Folteropfer Berlin. Zuletzt erschien Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Friedrich Kiesinger, geb. 1952, ist Psychologe und Psychotherapeut. Er gründete 1998 zusammen mit seiner Frau Andrea das Berliner So­ zialunternehmen Pegasus und leitet zudem seit Jahren den gemeinnüt­ zigen Verein Albatros und die zugehörige Tochtergesellschaft. Carlo Kroiß, geb. 1985, promoviert am Institut für Soziologie der Lud­ wig­Maximilians­Universität in München bei Prof. Armin Nassehi zu Prekäre Inklusion. Zur Subjektivierung von Asylbewerber_innen in Bayern. Er ist Promotionsstipendiat der Hans­Böckler­Stiftung.

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Armin Nassehi, geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig­ Maximilians­Universität München. Zuletzt erschien Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Jochen Oltmer, geb. 1965, lehrt Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universi­ tät Osnabrück. Zuletzt erschien Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. Miltiadis Oulios, geb. 1973, ist freier Journalist und arbeitet unter an­ derem für den WDR­Hörfunk und den Deutschlandfunk. Zuletzt er­ schien Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären. Anina Paetzold, geb. 1981, studierte Musikwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt­Universität zu Berlin. Derzeit ar­ beitet sie an einer Doktorarbeit in Musiksoziologie/­ethnologie. Philipp Ruch, geb. 1981, ist Theatermacher und »Chefunterhändler« des Zentrums für Politische Schönheit. Er lebt in Berlin und promo­ viert bei Herfried Münkler über Ehre und Rache. Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts. Albert Scherr, geb. 1958, ist Professor für Soziologie an der Pädagogi­ schen Hochschule Freiburg und Vorstandsmitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Zuletzt erschien Diskriminierung. Wie Unterschiede und Ungleichheiten gesellschaftlich hergestellt werden. Jakob Schrenk, geb. 1977, lebt in München und arbeitet für das Journa­ listenbüro Nansen Piccard. Zuletzt erschien Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen. Roger Zetter ist emeritierter Professor für Refugee­Studies an der Uni­ versity of Oxford. Zuletzt erschien Protection in Crisis. Forced Migration and Protection in a Global Era.

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