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German Pages 334 [336] Year 1975
Frithjof Trapp »Kunst« als Gesellsdiaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger 64 (188)
W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1975
»Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann
von
Frithjof Trapp
w DE
G
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1975
Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin e. V.
ClP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Trapp, Frithjof »Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker: N . F . ; 64 = 188) ISBN 3-11-005968-1
D 188
© 1975 by Walter de Gruyter & C o . , vormals
G.
J.
Gösdien'sdie
Verlagshandlung
• J.
Guttentag,
Verlagsbuchhandlung
• Georg
Reimer
K a r l J . Trübner • Veit & Comp., Berlin 30 • Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrücklidie Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf fotomedianisdiem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Presse-Drude
Augsburg
Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit . . . 1 . 1 . »Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik . . . 1.2. Die Gestalt einer Wirklichkeitsdarstellung durch »Kunst« . . 1.3. Aspekte der Rezeptionsgeschichte 1.4. Die Zielsetzung und Anlage der Arbeit: ein Versuch zur Klärung der Forschungssituation 2. »Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft im Bild der europäischen Dekadenz 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10.
Wirklichkeitsbezug und dargestellte Wirklichkeit Der Kapitalismus als geistige Macht Köpf - die »Originalität« von Andreas' Aufstieg als Parodie Der Kapitalismus als Phänomen . . Das Komödiantentum . . . . . . . . . . Andreas Zumsee . . . . . Politisches Komödiantentum Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz« . . . Ästhetische Erscheinungsformen der Dekadenz Die »reelle Pöbelherrschaft«
3. »Lidice«: Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis . . . . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8. 3.9. 3.10. 3.11. 3.12. 4.1. 4.2.
Bewußtseinsformen innerhalb der dargestellten Wirklichkeit. Naturalistische Gesellschaftsanalyse
29 3$ 35 40 45 49 54 60 64 67 75 81 84
Der analytische Charakter der ästhetischen »Sprache« . . . . Das Romanthema und die Form seiner Behandlung . . . . Das Bild des Dorfes Lidice . . . Die opake Wirklichkeit Die Erkenntnisproblematik Die Bedeutung der »Maske« im Widerstandskampf . . . . Die Schauspielerthematik . . . . 1 Milo Sdiatzova - die Primadonna . . . . . . . . Pavel Ondracek - der Nationalheld Die politisch-psychologische Problematik von Pavels Rolle . . Pavels Schlußansprache und die Auflösung der »Maske« . . . Heydrich - Hauptmann Krach - Franticek Eger . . . .
4. »Professor Unrat«: Empirische Wirklichkeit und Komödiantentum
i i 10 20
84 87 94 99 102 107 1 0 115 119 123 127 133
.
139
.
139 143
VI
Inhaltsverzeichnis
4.3. 4.4.
Unrat und Lohmann Differierende Darstellungsformen innerhalb der Romanwirklichkeit .
4.5.
Die empirische Fundierung der Gestalt Unrats: a) sein Selbstbewußtsein — die Schule . . . b) sein Menschenhaß - der »Name« . . . . Unrats Begegnung mit der Künstlerin Fröhlich Unrats Triumph und Sturz . . Komödiantentum . . .
4.6. 4.7. 4.8.
149 1J4 160 165 170 174 178
. .
5. »Die Armen«: Dargestellte Historizität des Bewußtseins .
186
J.I.
Reflexion der Wirklichkeit und Werkgestalt . . . .
186
j.2. 5.3.
Der historische Bezugspunkt des Romans »Die Armen« Gesellschaftliche Mythologie und mythologisierende Bewußtseinsformen Das Bild der Selbstentfremdung Die Problematik der Gesellschaft als »Innenwelt« Balridis: der Bildungsprozeß . Die Disjunktion von Realität und Bewußtseinswelt: das Beispiel Leni . . . Die Irrenanstalt Die Eigengesetzlichkeit der dargestellten Wirklichkeit als ästhetischer Wirklichkeit Theater, Komödiantentum und Formelemente des Schauspiels
192
5.4. J.J. 5.6. 5.7. 5.8. 5.9.
6. »Der Atem«: Abschied von einer Zeitepoche
198 203 .
208 213 219
.
224 226
.
233
Der Gesellschaftsroman als Dokument einer Zeitepoche Der Synarchismus und das Bild der Synarchen Der »Synarchismus« als Depravation des »ewigen Frankreichs« Die geschichtlich-politische Vorstellungswelt des Romans . . . Differierende Wirklichkeiten: die Bäckerei der Y v o n n e Vogt Kobalts Rückkehr ins Spielkasino von Monte C a r l o . . . . Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis: die Liebe . . Die Funktion des Theaters
233 238 247 255 262 265 273 280
7. Schlußbetrachtung: Aspekte des »Realismus« von Heinrich Manns Werk 7 . 1 . Die »ästhetische Wirklichkeit« als moralistischer Spiegel der empirischen Wirklichkeit 7.2. Die »Form« als unmittelbarer Träger historischer Authentizität 7.3. Die dargestellte Wirklichkeit als Gestalt eines politischen Urteils 8. Exkurs über Aspekte von Heinrich Manns Rezeption des Naturalismus Literaturverzeichnis
287
6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.j. 6.6. 6.7. 6.8.
288 292 296 300 320
i. Einleitung: Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit i . i . »Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik Heinrich Manns Romane sind - bevor sie Aussagen zu zeitgenössisch-politischen Themen sind und damit Dokumente zum Bild einer jeweiligen Gesellschaft 1 - zunächst Kunstwerke und sind als Kunstwerke, keinesfalls bloß als Darstellungen empirischer Realität, konzipiert. - In dieser Feststellung kommt eine Kritik an der augenblicklichen
Heinrich-Mann-Forschung 2
zum
Ab-
schluß, die nicht bloß immanent, im Rahmen der vorhandenen und erkennba1
2
Hier wäre das bekannte Wort Heinrich Manns zu zitieren: »Mit fünfundzwanzig Jahren sagte ich mir: >Es ist notwendig, soziale Zeitromane zu schreiben. Diese deutsche Gesellschaft kennt sich selbst nicht. Sie zerfällt in Schichten, die einander unbekannt sind, und die führende Klasse verschwimmt hinter WolkenDu hältst dich zu lange bei der Kritik der Wirklichkeit aufAber du wirst schon auch noch zur Kunst gelangend Zur Kunst? Aber Kritik des Wirklichen, plastischen Moralismus, eben dies empfand ich als Kunst, und ich verachtete die programmatisch ruchlose Schönheitsgeste, zu der die Tugend von heute mich damals ermutigen wollte« (in: Thomas Mann: Politische Schriften und Reden. Erster Band. Betrachtungen eines Unpolitischen. - Frankfurt a. M./Hamburg 1968 [ = Thomas Mann: Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hrsg. von Hans Bürgin. Moderne Klassiker. Fischer Bücherei. Bd. 1 1 6 , S. 402]). 11 Die einzig umfangreichere Studie über das Verhältnis der beiden Brüder zueinander, die Arbeit von André Banuls: Thomas Mann und sein Bruder Heinrich,
»Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik
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12
»Kunst« besteht. Zudem sagt Heinrich Mann , wenn auch bedeutend später, wobei er sich deutlich gegen naturalistische Beobachtungstheorien wendet - er nennt Champfleury - , daß »Kunst« keineswegs glaubhaft im Sinne empirischer Wirklichkeit sein müsse, wenn sie wirklichkeitsgetreu sein wolle. Insbesondere hierdurch ist eine Brücke abgebrochen, die von der empirischen Wirklichkeit zur dargestellten Wirklichkeit des »Kunstwerks« führen könnte. Wäre sie vorhanden, könnte sie auf kaum etwas anderem als auf Beobachtung oder allgemein einsehbarer Glaubhaftigkeit des Dargestellten beruhen. Stattdessen sagt Heinrich Mann, daß »Kunst« »überrealistische Wirklichkeit« darstelle. Er versteht darunter, wie an dieser Stelle deutlich wird, keine von der empirischen Wirklichkeit verschiedene Wirklichkeit, erst recht nicht einen mystischen Kern der Wirklichkeit, sondern die Form der individuellen, höchst realen Lebenserfahrung aller Personen einer Wirklichkeit. »Überrealistisch« wird diese Wirklichkeit wohl deshalb genannt, weil sie eine zwar allgemeine, aber nicht objektive Erfahrung ist. Das macht dann die Wirklichkeit der Kunst und die Wirklichkeit der empirischen Welt zu verschiedenen Formen eines Identischen. Um zu der Bemerkung, die gegenüber dem Bruder gemacht worden ist, zurückzukommen: »Kunst« wird dabei offenbar erst dann möglich, wenn die Ebene empirischer Wirklichkeitserfassung grundlegend überschritten wird. Damit ist »Kunst« dann metaphysisch der empirischen Wirklichkeit als der »Welt« übergeordnet 18 . Trotzdem sind die Romane Heinrich Manns sicherlich »Bilder« der empirischen Realität, darauf deuten Daten, Orts- und Personenangaben hin. Ein enger Bezug des Kunstwerks zur empirischen Wirklichkeit ist also nicht zu leugnen, ebenso nicht, daß in ihm eine politische Aussage zur angesprochenen außerkünstlerischen Wirklichkeit enthalten ist. Das ergibt sich bereits aus dem Uberordnungsverhältnis von »Kunst« und »Wirklichkeit«. Ist aber der Zugang zur dargestellten Wirklichkeit von der Seite der empirischen Wirklichkeit her verstellt - weil das Dargestellte »überrealistisch« ist und nicht die objektive Erscheinungsform der empirischen Wirklichkeit aufweist - , so bleibt noch immer die Möglichkeit bestehen, daß die dargestellte Wirklichkeit von der Wahrnehmung her als Bild der empirischen, geschichtlichen Wirklichkeit zu
1! 13
>eine repräsentative Gegensätzlichkeit^ - Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968 (Reihe: Sprache und Literatur), ist auf diesen Unterschied bezeichnenderweise nicht eingegangen. Eine neuere, sehr informative Studie über die Brüder Heinrich und Thomas Mann liegt von Herbert Lehnert vor (H. L.: Die Künstler-Bürger-Brüder. Doppelorientierung in den frühen Werken Heinrich und Thomas Manns. - In: Thomas Mann und die Tradition. Hrsg. von Peter Pütz. - Frankfurt/M. 1971 ( = Athenäum Paperbacks. Germanistik, S. 1 4 - 5 1 ) . In: »Die geistige Lage«, S. 352 f. Hier dürfte eine Brücke zu Heinrich Manns Nietzsche-Verständnis liegen.
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Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
verstehen ist. Nicht das Wissen des Autors konstituierte dann die »Wirklichkeit«, sondern allein die Wahrnehmung des Lesers, sein Wissen und seine Kommentierung des Wahrgenommenen. Wir hätten es in diesem Fall mit einer Wahrnehmungsästhetik zu tun, wie sie von Flaubert her bekannt ist, zudem ganz ähnlich auf dem Prinzip der Autonomie der Kunst als einer »zweiten Wirklichkeit« aufbauend 1 4 . Tatsächlich lassen sich die Romane Heinrich Manns von der Wahrnehmung her als Bilder der empirischen Wirklichkeit konsistent erschließen, und es ist nachweisbar, daß sie auf eine solche Art der Erschließung hin auch angelegt sind. Zwar erhält der Leser nicht unmittelbar ein Bild empirischer Wirklichkeit, aber es ist so, daß mit seinem Wissen und seiner Interpretation sich aus dem Dargestellten ein solches Bild formt - ja, am Ende eines Erkenntnisprozesses kann als Ergebnis stehen, daß der Leser das durch das Kunstwerk vermittelte Bild schließlich sogar als das Bild der »wahren« oder »eigentlichen« Wirklichkeit zu begreifen beginnt. Der populäre Erfolg des »Professor Unrat« oder des »Untertans« ist d a f ü r der Beweis. - Diese Überlegungen zeigen auch, wo in Wahrheit im Roman Heinrich Manns die Dimension des politischen Urteils liegt. Es ist in die »Rückkoppelung« eingeschlossen: in das »erkennende Urteil«, das dem Leser abverlangt wird, will er in der dargestellten, »ästhetischen« Wirklichkeit das Bild der empirischen Wirklichkeit »wiedererkennen«. Auf dem Wege dieses Urteils, zu dem der Leser hingeführt wird und das die Voraussetzung dafür ist, daß der Leser das Dargestellte als sinnvolle Darstellung tatsächlicher Gegebenheiten überhaupt erkennt, fließen politische Vorstellungen und Überzeugungen des Autors in das Kunstwerk ein. Der Autor ist dabei unmittelbar jedoch ausschließlich f ü r das Gesamtbild, das sich aus dem Dargestellten ergibt, verantwortlich - wie für die Intentionen, die mit der Vermittlung der aus diesem Bild resultierenden Erkenntnisse verbunden sind; das Detail dagegen muß in seiner Bedeutung zunächst aus der Konstellation heraus, innerhalb der es im Gesamtzusammenhang des Dargestellten steht, bestimmt werden. Hier bestimmte, besonders auffällige Erscheinungen sofort mit Urteilen des Autors zu identifizieren ist nicht möglich. Das entspricht dem 14
Ausführungen zur Wahrnehmungsästhetik insbesondere Flauberts findet man in: Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1 9 6 7 ( = Konstanzer Universitätsreden. 3. Hrsg. von Gerhard Hess), vor allem auf S. 6 6 f f . - Ferner zur Ästhetik Flauberts: Marianne Kesting: Politik und Ästhetik. Das Beispiel Flauberts. - In: M . K . : Vermessung des Labyrinths. Studien zur modernen Ästhetik. - Frankfurt a. M . 1 9 6 $ ( = Fischer doppelpunkt. 20), S. 9 - 3 0 . - Zum allgemeinen Problem des Verhältnisses von Kunst und außerkünstlerisdier Wirklichkeit: J a n Mukarovsky: Das dichterische Werk als Gesamtheit von Werten. - In: J . M . : Kapitel aus der Poetik. - Frankfurt a. M . 1967 ( = edition suhrkamp. Bd. 230), S. 3 4 - 4 3 . - A u f Flaubert beruft sich Heinrich Mann auch in »Die geistige Lage«, S. 3 5 3 .
»Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik
7
Prinzip, daß das Kunstwerk in sich eine »zweite«, autonome Wirklichkeit darstellt. Man könnte den Gesellschaftsroman Heinrich Manns bis zu einem gewissen Grade als einen Spiegel auffassen, bei dem - darin dem »Bildnis« aus Oscar Wildes Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« vergleichbar - auf der Seite des Objekts die ästhetisch schöne Gestalt der »natürlichen« menschlichen Wirklichkeit stünde, in dem jedoch tatsächlich die ästhetische Form der moralischen Gestalt erschiene, die die »schöne Wirklichkeit« in der jeweiligen Form ihrer historischen Realisierungen besitzt. Das Kunstwerk wäre - als ästhetisch-autonomes Gebilde - ein moralistischer Spiegel der Wirklichkeit; es bewahrte damit zugleich die Erinnerung an die zerstörte Einheit des Schönen und des Guten. 15 - Anregungen dieser Art aus der Kunst des Fin-de-si^cle haben sicher zu einem ganz wesentlichen Teil dazu beigetragen, den Roman Heinrich Manns in seinen besonderen Eigenarten zu prägen. Hinzu kommen sicherlich die direkten oder - durch den französischen Roman des 19. Jahrhunderts vermittelt - die indirekten Einflüsse der französischen Moralisten. 18 Eine solche Deutung, vorerst mehr eine gedankliche Konstruktion als ein durchgeführter Beweis, allerdings bereits praktische Überlegungen zum Werk Heinrich Manns einbeziehend, würde ein völlig neues Licht auf den Künstler Heinrich Mann werfen, der bislang hinter dem politischen Schriftsteller beinahe völlig verschwunden, ja in seinem Ansehen von ihm abhängig war. Zunächst würden zahlreiche Werke von der Dominanz eines politischen Verstehens befreit, das sie nur als künstlerisch mißlungen abwerten kann. Dazu gehören die Romane, die während der Weimarer Republik entstanden sind. 17 Betroffen sind aber ebenso die meisten Romane des Spätwerks, einschließlich des 15
16
17
Der Zusammenhang von Heinrich Manns Werk mit der Literatur des Fin-de-siecle beginnt erst in jüngster Zeit durch die Arbeiten von Lea Ritter-Santini und Renate Werner erforscht zu werden; der hier angesprochene engere Zusammenhang ist dabei noch nicht berührt worden. Daß Heinrich Mann diesbezügliche Kenntnisse besessen hat, ist nicht zu bezweifeln; zu erinnern ist nur an seine Rezension von Emerich Ranzonis Buch »Religiöse Kunst« in »Das Zwanzigste Jahrhundert« (Jg. 6, H . 8, Mai 1896, S. 201-205), in der sogar in dezidierter Form Naturalismus und Präraffaelitentum parallel gesetzt werden. Vgl. hierzu Hanno König, passim. - König berücksichtigt allerdings zu wenig die Einflüsse, die Heinrich Mann hier durch den französischen Roman erhalten hat, z . B . durch Vermittlung Stendhals. - Zu: Stendhal vgl. Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal, Balzac, Flaubert. 2. Aufl. - Frankfurt a. M. 19JO. Anzuführen wäre hier vor allem das immer wieder zitierte Urteil von Alexander Abusch, daß in der Weimarer Republik »manche schon vor 1918 fortschrittlichen Schriftsteller, wie Heinrich Mann, ideologisch in eine Krise, künstlerisch in eine Sackgasse« geraten seien (in: A . A.: Zur Geschichte und Gegenwart unserer sozialistischen Literatur. - In: Neue Deutsche Literatur 1957, S. 135). Ganz ähnlich lautet jedoch auch das Urteil von Klaus Schröter: »Waren es Un-
Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
8
weitgehend unbeachtet gebliebenen Romans »Lidice*16,
und einige Romane des
»ästhetischen« Frühwerks 19 - insgesamt die Hälfte aller erschienenen Romane. Ist es nicht mehr bindend anzunehmen, daß die dargestellte Wirklichkeit der Romane unmittelbar das jeweilige politische Denken Heinrich Manns spiegelt, so daß von der scheinbar irrationalen Phantastik mancher Darstellungen auf die »Phantastik« der Wirklichkeitserfassung geschlossen werden müßte, von der politischen Glaubwürdigkeit des Dargestellten auf die künstlerische Qualität der Darstellung, wie es gegenüber einem »Realisten« getan wird, dann verlieren
die
abwertenden,
bisherigen
Urteile
ihre
theoretische
Fundierung.
Gleichzeitig wird das Dargestellte neuen Betrachtungsweisen zugänglich. Es bleiben zwar noch die grundsätzlichen Zweifel bestehen, die in Zusammenhang einiger dieser Romane an der Fähigkeit Heinrich Manns geäußert worden sind, im modernen Sinne »politisch« zu denken 20 , auch eine Kritik an der Sicherheit eigener Anschauungen, der Wille zur Versöhnlichkeit angesichts unversöhnlicher sozialer Diskrepanzen, der Wunsch, Hoffnung zu wecken, ohne sie zu teilen - jedenfalls schon in den >Armen< und stärker noch im >Kopf< treten die Ausdrucksmittel Heinrich Manns oft widersprüchlich auseinander. Und dieser Mangel an integrierender Formkraft bewirkte bis weit in die zwanziger Jahre hinein bei den Lesern seiner neuesten Romane ein >Befremden< ( . . . ) « (in: Heinrich Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Klaus Schröter. - Reinbek 1967 [ = rowohlts monographien. Hrsg. von Kurt Kusenberg. Bd. 12$, S. 90]). Beispielhaft aber ist vor allem die Argumentation Ulrich Dietzels. E r setzt sehr voreilig die Tatsache, daß die unmittelbar nach dem »Untertan« entstandenen Romane beim heutigen Lesepublikum zum größten Teil vergessen sind, gleich mit einem Beweis »literarischen Niedergangs« (S. 122) und sagt dann etwas später, wobei er sich auf den Roman »Der Kopf« bezieht, daß »die Grenzen des Bewußtseins seines Autors ( . . . ) auch die Grenzen des Romans« seien. Festzustehen scheint, daß damit künstlerische Grenzen gemeint sind. Auf dem Wege eines konstatierten literarischen Mißerfolges ist damit ein bestimmter Maßstab der politischen Bewertung - der als solcher durchaus fruchtbar sein kann - ohne jede vermittelnde Reflexion zu einem Maßstab der literarischen Bewertung geworden. Diese Tendenz geht sogar soweit, daß Dietzel in einer hypothetischen Formulierung über den Roman »Die Armen« vom »>aliterarische(n)< Element in Heinrich Manns >ArbeiterUntertans« vorträgt. Buck faßt dort in einer Charakterisierung Heßlings 24
25
20
V g l . hierzu die mit Recht völlig indiskutable, »konservative« Kritik bei E d g a r Lohner (E. L . : Heinrich Mann. - I n : Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. S t r u k turen und Gestalten. Hrsg. v o n Hermann Friedmann und O t t o Mann. 4. A u f l . Bd. 2. - Heidelberg 1 9 6 1 , S. 8 0 - 1 0 0 ) und, in etwas schwächerer Form bei Siegfried Sudhof (S. S . : Heinrich Mann. - In: Deutsche Dichter der Moderne. Ihr Leben und W e r k . Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. v o n Benno von Wiese. Berlin 1 9 6 5 , S. 9 2 - 1 1 1 ) . In einem abschließenden Kapitel dieser Arbeit w i r d auf die Z o l a - und FlaubertRezeption näher eingegangen werden. Die einzelnen Komponenten der Darstellungsweise werden ausschließlich zu heuristischen Z w e c k e n voneinander unterschieden, in der realen Gestalt des D a r g e stellten bilden sie offensichtlich eine für Heinrich Mann absolut unproblematische Einheit.
Die Gestalt einer Wirklidikeitsdarstellung durch »Kunst«
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gleichsam die Darstellungsweise Heinrich Manns zusammen und gibt ihr eine theoretisch abstrahierende, argumentative Form. E r sagt: »>Die Papierfabrikanten neigen heute dazu, sich eine Rolle anzumaßen, für die sie nicht fabriziert sind. Zischen wir sie aus! Sie haben kein Talent! Das ästhetische Niveau unseres öffentlichen Lebens, das vom Auftreten Wilhelms II. eine so ruhmreiche Erhöhung erfahren hat, kann durch Kräfte wie den Zeugen Heßling nur verlieren . . . Und mit dem Ästhetischen, meine Herren Richter, sinkt oder steigt das Moralische. Erlogene Ideale ziehen unlautere Sitten nach sich, dem politischen Schwindel folgt der bürgerlidie.Die kleine Stadt'. Ihre Häuser und Gassen stehen auf der Bühne, ihre Menschen sind Schauspieler der Bühne des Lebens, spielen sich selbst und bedeuten zugleich das Größere, für das sie dastehen: die Welt und alles Leben« (K. L.: Heinrich Mann und das Theater. - In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift. 23 [1968], S. 9).
Die Gestalt einer Wirklidikeitsdarstellung durch »Kunst«
i j
An der beinahe unbemerkten Einführung der »Oper« in die naturalistisch»typische« Wirklichkeit wird erkennbar, daß sich Heinrich Mann für seine »ästhetische Wirklichkeit« - und damit auch für die Entfaltung der ihr eigenen Themen - geschickt eines Spielraumes bedient, der in Bezug auf die »Wahrscheinlichkeit« dessen, was in dem angesprochenen Milieu möglich ist, vorhanden ist. In einer italienischen Kleinstadt des dargestellten Typus erscheint der Besuch einer Operntruppe als ein absolut selbstverständliches Ereignis. Als ebenso selbstverständlich erscheint, daß durch diesen Besuch eine euphorische Hochstimmung ausgelöst wird wie latente Konflikte verschärft und zu explosionsartigem Ausbruch gebracht werden 35 . Was dadurch im Medium des Besuches der Operntruppe und der davon mittelbar und unmittelbar ausgelösten Ereignisse zutage tritt, ist eine »lebendige«, gleichgewichtige Spannung zwischen der physisch-emotionalen Konstitution der dargestellten Gesellschaft und ihrer politisch-sozialen, in diesem Falle: liberalen Konstitution 36 . Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Aufweis und die Zeichnung dieser Spannung - stärker noch als die vielfältigen Merkmale der politischen Verfassung dieser Kleinstadt - die Grundlage für Heinrich Manns Aussage sind, »Die kleine Stadt« sei »politisch zu verstehen, als das Hohe Lied der Demokratie« 37 . Der Roman ist ein tatsächliches »Bild« für das Walten eines demokratischen »Geistes«; es schließt sicherlich ein, daß Heinrich Mann mit dem »Geist« dieses politischen Lebens sympathisierte, jedoch nicht, daß Heinrich Mann es in allen seinen Einzelheiten als verpflichtendes Vorbild verstanden wissen wollte. — Andererseits darf bei der Analyse der Kunstgestalt dieses Romans auch nicht übersehen werden, daß zu seiner spezifischen Wirkung die zu erkennenden Diskrepanzen zwischen der ästhetischen »Darstellungsform« und der naturalistisch-»wahrscheinlichen« Wirklichkeit gehören. So treten bei einer Gelegenheit sozialistische Arbeiter auf, die einen Umzug mit Mandolinen und Gitarren veranstalten (S. 2 1 1 f.). Sie erscheinen als »Musikgruppe«, wie es der dargestellten Vermischung von »Kunst« (Oper) und »Leben« adäquat ist. Dies hat bei den Interpreten häufig Mißverständnisse ausgelöst, indem sie meinten, Heinrich Mann idyllisiere die Arbeiterschaft - in Wahrheit
36
36
37
M a n denke an die Gewalttätigkeiten und Aggressionen, die während der Opernaufführung sichtbar werden. Eine ebensolche spannungsreidie Beziehung zwischen der psydiisdi-physisdien Konstitution des Helden und der politisch-sozialen Konstitution, die er f ü r F r a n k reich schaffen will, besteht auch in den Henri-Quatre-Romanen und ist dort ein durchgängiges, in zahllosen Wiederholungen wiederkehrendes M o t i v . Brief an René Schickele v o m 2 7 . Dezember 1909. Zitiert in: Heinrich Mann. 1 8 7 1 bis 1 9 5 0 . Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Hrsg. v o n der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin anläßlich der Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag. - B e r l i n / W e i m a r 1 9 7 1 (im weiteren zitiert als »Katalog«), S. 1 1 2 .
16
Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
j e d o c h resultiert dieses D e t a i l n u r aus d e n B e s o n d e r h e i t e n d e r
Ȋsthetischen
Konstruktion«38. B e i diesen E i g e n t ü m l i c h k e i t e n m a g d e r E i n d r u c k entstehen, d a ß d e r R o m a n v o n der A n l a g e seiner H a n d l u n g her, d e m d a r g e s t e l l t e n M i l i e u u n d
dessen
K o n f l i k t e n w i e v o n der P r o b l e m a t i k der d a r g e s t e l l t e n W i r k l i c h k e i t als »ästhetischer K o n s t r u k t i o n « h e r » u n p o l i t i s c h e r « k o n z i p i e r t sei als a n d e r e H e i n r i c h M a n n s , z . B . als der »Untertan«.
Werke
Dies t r i f f t nicht zu. D i e auftreten-
den s o z i a l e n K o n f l i k t e i n n e r h a l b der S t a d t sind v i e l m e h r k l a r u n d
scharf
m o t i v i e r t ; sie z e i g e n z u d e m einen w a c h e n B l i c k f ü r die s p e z i e l l e n E i g e n a r t e n der p o l i t i s c h e n S i t u a t i o n Italiens. D a n e b e n ist es w i c h t i g z u sehen, d a ß s p e z i f i sche S c h w ä c h e n der b e i d e n p o l i t i s c h e n H a u p t g e s t a l t e n m i t g e r a d e z u p r o v o k a torischer S c h ä r f e e n t l a r v t s i n d ; das t r i f f t s o w o h l a u f d e n A d v o k a t e n z u , der in seiner s e l b s t g e f ä l l i g e n G e s c h w ä t z i g k e i t g e r a d e z u g r o t e s k w i r k t , w i e a u f d e n P r i e s t e r , der aus u n t e r d r ü c k t e m L i e b e s v e r l a n g e n B r a n d s t i f t u n g b e g e h t . I n beid e n F ä l l e n w i r k e n die G e s t a l t e n d e s h a l b j e d o c h n u r » m e n s c h l i c h e r « , w a s ein ü b e r z e u g e n d e r e s P l ä d o y e r f ü r die V o r b i l d l i c h k e i t des d u r c h dieses »ästhetische B i l d « d a r g e s t e l l t e n p o l i t i s c h - s o z i a l e n »Geistes«, der » n a t ü r l i c h e n « M o r a l d i e ser G e s e l l s c h a f t , ist als j e d e a p o l o g e t i s c h e V e r k l ä r u n g 3 9 . 38
39
Ulrich Weisstein hat darauf hingewiesen, daß Heinrich Mann die Absicht hatte, »Die kleine Stadt« verfilmen zu lassen, und dabei einen »Opernfilm« im Auge hatte, w o alle Schauspieler zugleich Sänger sein sollten. Dieses Detail fügt sich in die nunmehr aufgedeckten Zusammenhänge höchst beziehungsreich ein. - V g l . Ulrich Weisstein: Heinrich Mann. Eine historisch-kritische Einführung in sein dichterisches Werk. Mit einer Bibliographie der von ihm veröffentlichten Schriften. - Tübingen 1962, S. 100. V o n den hier erörterten Problemen ist bedauerlicherweise nichts in der letzten Arbeit von Manfred H a h n zu finden, vgl. M . H . : N a c h w o r t . - I n : Heinrich Mann: Die kleine Stadt. — Leipzig 1969 ( = Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 217), S. 393 bis 406. »Die kleine Stadt« ist wahrscheinlich das geschlossenste Kunstwerk unter den Romanen Heinrich Manns, der vollkommenste Ausdruck einer ästhetischen »Sprache«, in der das Ausgesagte im wesentlichen Teil der Aussageweise ist. In diesem Roman gibt es im Grunde kein eigentliches »materiales Thema«, das der Roman darstellte: A l l e seine verschiedenen Handlungselemente: die Belotti-CamuzziRivalität, die N e l l o - A l b a - H a n d l u n g u. a., sind bereits im höchsten M a ß formalisiert und integrale Bestandteile des »Milieus«, das nur durch sie erst zum »Milieu« wird. - Der Roman als ganzes stellt eine in sich geschlossene Formstruktur dar. Deutlich erkennen w i r verschiedene Ebenen, auf denen diese Formstruktur in jeweils unterschiedlicher Weise repräsentiert w i r d : die Ebene des vordergründig dominierenden Sozialgeschehens, die Ebene der »individuellen« Kunstform, die das Dargestellte als »Oper« ist, die Ebene einer »allgemeinen« Kunstform, die sich aus einem Symbolgeflecht v o n Anspielungen auf Erscheinungen der nationalen italienischen Kunst ergibt, und schließlich die Ebene der sprachlich-sinnlichen Repräsentation der Formgestalt. A l s ästhetisch »schönes«, harmonisches Gebilde verkörpert der Roman in dieser Weise eine politisch positive Aussage.
Die Gestalt einer Wirklidikeitsdarstellung durch »Kunst«
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In den außerordentlich weiten Fragenkreis der Differenz zwischen »ästhetischer« und empirischer Wirklichkeit gehört auch das Problem, wie die daraus resultierende Verschiedenartigkeit der Darstellungen historischer »Wahrheit« zu erklären bzw. zu überwinden ist. Uneinsichtig ist ja zunächst, daß die »ästhetische Wirklichkeit« ebenso »wahr« wie die empirische Realität sein soll, obwohl sie, zumindest teilweise, nicht »glaubhaft« wie diese ist. Das Problem taucht immer dort auf, wo Heinrich Mann, wie es häufig der Fall ist, seine Darstellungen auf historisch identifizierbare Ereignisse und Gesellschaftszustände bezieht. - Ein Hinweis, wie das Problem gelöst ist, der zugleich auch wiederum die Denkweise Heinrich Manns veranschaulicht, findet sich in der Einleitung seiner Besprechung von Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig«. Dort setzt Heinrich Mann eine emphatische Berufung auf Zola und den Rougon-Macquart-Zyklus an den Anfang seiner Analyse. Er sagt: »Was ist früher, Wirklichkeit oder Gedicht? Wenden nicht die Dinge sieb so, wie der Sinn der literarischen Kunst es verlangt? Als Zola seine große Gesellschaftsgeschichte des zweiten Kaiserreiches nur erst entworfen hatte, das Land die Jagdbeute von Abenteurern, die Orgien der Gier, die Feerien der Spekulation, ein nie wieder erhörter, hemmungsloser Höhenrausch der bourgeoisen Kultur samt ihrem Hinabrasen durch jenen Schlamm von Gold, Geschlecht, Schande und Blut bis zum Zusammenbruch, bis zum geistgewollten, von der Logik eines Buches gewollten Zusammenbruch des Regimes: - da brach es wirklich zusammen. Wer hätte es geahnt. Noch gestern herrschte es über Paris und die Welt.« (Hervorhebungen - F. T.)40 An der Interpretation wird deutlich, daß Heinrich Mann das Beispiel Zolas ganz im Sinne seiner Kunsttheorie anführt und versteht. Kunst und empirische Wirklichkeit sind danach mindestens gleichberechtigte Formen von »Wahr-
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Daß Heinrich Mann sich vorgeformter ästhetischer Mittel als »Form« des Dargestellten bedient, hat zuerst Banuls erspürt (S. 302 f.), wenn es auch bei einem sehr ungefähren Eindruck geblieben ist: Er weist auf die Affinität der Romane der Weimarer Republik zu den Darstellungsweisen des Films hin. Zu einer theoretischen Verarbeitung dieser Beobachtungen gelangt Banuls jedoch nicht. - Dieser Ansatz ist dann fortgeführt von Wolfram Schütte (in: W. S.: Film und Roman. Einige Notizen zur Kinotechnik in Romanen der Weimarer Republik. - In: Heinrich Mann. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. - München 1971 [Sonderband von »Text + Kritik«; im weiteren zitiert als »Text + Kritik«], S. 70-80). - Auf konsistente Form-Motiv-Ketten weist schließlich Michael Neriich in Bezug auf die HenriQuatre-Romane hin, allerdings ebenfalls, ohne diesen Ansatz auszuführen (a.a.O., S. 228, Anm. 56). Heinrich Mann: Der Tod in Venedig. Novelle von Thomas Mann. - In: Thomas Mann - Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Zweite (. . .) Aufl. Redaktion und Nachwort: Ulrich Dietzel (im weiteren zitiert als: »Briefwechsel [Dietzel]«). - Berlin/Weimar 1969, S. 296.
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Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
heit«; aus der Möglichkeit, daß das Kunstwerk der geschichtlichen Wirklichkeit vorangehen kann, wird zudem deutlich, daß »Kunst« unabhängig von empirischer Wirklichkeit historisch »wahr« sein kann. Deshalb spricht Heinrich Mann sogar vom »geistgewollten, von der Logik eines Buches gewollten« Zusammenbruch des Kaiserreiches: Er macht also nicht einmal die material vermittelten Kenntnisse von empirischer Wirklichkeit zur Grundlage der Darstellung geschichtlicher Wahrheit, sondern gibt zum Ausdruck, daß die Struktur des Kunstwerkes als dessen »Logik« bereits die »Form« der Wahrheit selber ist. »Kunst« ist damit in jeder Gestalt Form geschichtlicher Wahrheit. 41 Diese Erkenntnis führt kein an sich neues Element in die Überlegungen ein; für das Verständnis von Heinrich Manns »Realismus« ist sie jedoch so wesentlich, daß es zweckmäßig ist, auf einige Folgerungen, die sich aus ihr ergeben, genauer einzugehen. Wenn das Erscheinungsbild der dargestellten Wirklichkeit, wie es dem Leser entgegentritt, nicht das Bild der tatsächlichen Wirklichkeit ist noch eine Beschreibung ihrer bereits vollzogenen Geschichte, sondern eine antizipierende »Konstruktion« von Wirklichkeit, die von sogenannten »Gesetzen des Kunstwerks« geleitet ist, dann sind im Kunstwerk, zumindest grundsätzlich gesehen, weder »glaubhafte« Abbildungen der empirischen Wirklichkeit zu erwarten noch Darstellungen ihrer tatsächlichen Gesetzlichkeiten, sondern »ästhetische« Gebilde und »ästhetische« Gesetzlichkeiten. Wie wir bereits am »Untertan« oder der »Kleinen Stadt« gesehen haben, schließt das jedoch nicht aus, daß solche »ästhetischen Gebilde« — wie der »untalentierte« Schauspieler Heßling oder die »kleine Stadt« in ihrer »ästhetischen« Spannung von »Leben« und »Kunst« - zugleich auf politisch-soziale Zusammenhänge verweisen: daß sie also entweder politisch-sozial motiviert sind oder unmittelbar Phänomene des politischen Lebens sind. - Ferner ist zu verstehen, daß Heinrich Mann von seinem Denken her durchaus legitimiert ist zu sagen - wir führen hier nur ein hervorstechendes Beispiel an - , der Conte Pardi aus dem 1907 erschienenen Roman »Zwischen den Rassen* sei Faschist und der Autor habe mit dieser Gestalt den italienischen Faschismus bereits vor 41
Es ergibt sich hier eine höchst aufschlußreiche Beziehung zu den Kunstauffassungen Oscar Wildes. Wolfgang Pehnt schreibt in einem Nachwort zu einer Sammlung von Erzählungen des Fin-de-siecle: »Kunst war für Wilde unabhängig vom Leben, nicht aber das Leben unabhängig von der Kunst. Weder Holbein noch Van Dyck, heißt es in dem Essay >The Decay of Lyingmecbanisch< auf seine intensive Nietzsche-Lektüre zurückzuführen sein, ist andererseits aber gerade tiefster Ausdruck des Ringens um neue Positionen, bei dem er sich nicht umsonst mit dem extremen Künstler/Außenseiter-Denken Nietzsches und damit der Schauspielerproblematik auseinandersetzt...« (a.a.O., S. 89, Hervorhebung - F. T.).
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K r i t i k der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
sämtliche »artistischen« Züge des Werkes völlig negierte und zudem der durchgängigen Schauspieler-Motivik mit erstaunlicher Naivität gegenüberstünde 57 . Damit das eintritt, müssen neben die spezifischen historischen Bedingungen, die, wie wir gezeigt haben, die »Untertan«-Rezeption beeinflußt haben, noch andere Umstände getreten sein. Wir versuchen, sie anhand einer Analyse der Entwicklung, die die Auflagen der verschiedenen Werke Heinrich Manns genommen haben, genauer zu bestimmen58, um so zu den eigentlichen Grundlagen der heutigen Heinrich-Mann-Rezeption wie des heutigen Heinrich-Mann-Bildes zu gelangen. - Die Gesamtentwicklung der Heinrich-MannRezeption zerfällt zunächst in zwei sehr deutlich unterschiedene Phasen, wobei der Einschnitt in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges liegt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Heinrich Manns Werk eine niedrige, allerdings auffällig konstante Auflagenhöhe, die in der Regel eine Erst- und Zweitauflage von je zweitausend Exemplaren umfaßte. Zu dieser Phase gehören insgesamt sechs Romane, unter ihnen auch »Professor Unrat«. Der geringe Erfolg ist dabei keineswegs als ein unbedingt negatives Publikumsurteil zu bewerten — manches spricht sogar dafür, daß Heinrich Manns literarisches Ansehen gerade zu dieser Zeit am höchsten war; Kurt W o l f f z. B. stellte ihn damals noch, wohl aufgrund dieses Ansehens, über seinen Bruder Thomas 59 - , vielmehr weist die A r t der Rezeption: Konstanz und niedrige Auflagenhöhe, eher auf eine Besonderheit der Rezeption hin: Augenscheinlich handelte es sich hier um ein ausgesprochen »literarisch« interessiertes Publikum. 60 Das wird auch durch viele zeitgenössische Urteile bestätigt. 61 - A b 1916 steigt die Auflage sprunghaft an. Man erkennt das zuerst daran, daß sich die Neuauflagen der früher erschienenen Romane erhöhen, wenn auch nur in geringem Umfang. Der erste ungewöhnliche Erfolg ist der Roman »Die Armen« (1917) mit einer Erstauflage von 30 000 bzw. 50 ooo 62 Exemplaren. Bahnbrechend und innerhalb des Gesamtwerkes absolut einmalig ist dann der Erfolg des »Untertans« (19,18), von dem - lt. Angabe Heinrich Manns 63 — in sechs Wochen 100 000 Exemplare verkauft wurden. 58
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Hierbei stützen wir uns auf die: Heinrich-Mann-Bibliographie. Werke. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Bearbeitet von Edith Zenker. Weimar/Berlin 1967. V g l . K u r t W o l f f : Briefwechsel eines Verlegers. 1911-1963. Hrsg. v o n Bernhard Zeller und Ellen Otten. - Frankfurt a. M . 1966, S. X X X f. und X X V I I . So sah es auch Heinrich Mann. In einem Brief über die Aufnahme v o n »Im Schlaraffenland« schreibt er an Albert Langen: »Die gegen 30 Recensionen, die ich bisher gesehen habe, bekunden glaube ich so etwas wie einen literarischen Erfolg, über den ich mich freue« (Hervorhebung v o n H . M . ; Katalog, S. 84). V g l . hierzu nur die bekannten Urteile Rilkes und Benns über Heinrich Mann. Das 31. bis 50. Tsd. folgen noch 1917. Brief an A l f r e d K a n t o r o w i c z v o m 3. M ä r z 1943, abgedruckt bei Banuls, S. 618-620. Dieser Brief ist als Beurteilung des eigenen literarischen Wirkens außerordentlich
Aspekte der Rezeptionsgesdiichte
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Der Erfolg verschaffte Heinrich Mann eine außergewöhnliche Publizität und trug damit aller Wahrscheinlichkeit nach dazu bei, daß die Auflagenhöhe sich während der Weimarer Zeit insgesamt in beachtlicher Höhe hielt. Sie lag stets über der der Zeit vor 1914. Andererseits ist nunmehr ein für Heinrich Mann völlig neuartiges Phänomen zu beobachten, das für die Beurteilung der heutigen Rezeption äußerst wichtig ist. Es ist zu erkennen, wie seit dem » Untertan« die Auflagenhöhe bei Neuerscheinungen konstant fällt. Der letzte in der Weimarer Republik erschienene Roman »Ein ernstes Leben« (1932) hat bereits nur eine Erstauflage von 12 000 Exemplaren. Hinzu kommt, was noch gravierender ist, daß diese Werke kaum Neuauflagen erleben. — Diese Entwicklung setzt sich nach dem zweiten Weltkrieg verstärkt fort. 64 Sicherlich sind hierfür die Verfemung durch den Nationalsozialismus und die Emigration als Gründe von Bedeutung. Trotzdem wiederholen sich hier nur Erscheinungen, die bereits in der Weimarer Republik zu beobachten sind. Die Ausnahme bilden einzig die Henri-Quatre-Romane. Gleichzeitig aber ist zu beobachten, was ebenfalls in der Weimarer Republik bereits ins Auge fällt, daß bestimmte Teile des vor 1914 entstandenen Werkes, die damals keine besondere Beachtung gefunden hatten, so vor allem »Professor Unrat«, nun erst zu eigentlicher Popularität gelangen. Zusätzlich fällt ins Auge, daß ein wesentlicher Teil des früheren Werkes, auf dem vor dem Krieg besondere Schätzung lag - repräsentativ stehen dafür »Die Göttinnen« - als »ästhetizistisch« beinahe völlig aus der Rezeption ausgeschieden wird. 85 All diese Fakten deuten nun darauf hin, daß während der Zeitspanne, die diese Rezeption umfaßt, sich ein grundlegender Wandel in der Art der Rezeption vollzogen hat, die sich von einer kontinuierlichen Schätzung aller erschienenen Werke zu einer selektiven Bevorzugung einiger Werke ganz verschiedener Zeitabschnitte verändert hat. Diese letzteren Romane repräsentieren allenfalls 66 die Hälfte des Gesamtwerkes. Unter dem Einfluß dieser neuen Rezep-
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interessant. - Vgl. zu diesen Fragen ebenso den Briefwechsel Heinrich Manns mit Karl Lemke (in: Heinrich Mann: Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus. Hamburg o. J., passim). »Der Kopf« und »Mutter Marie« sind nach dem Zweiten Weltkrieg nicht noch einmal aufgelegt worden, »Die Armen« nur in einer unrepräsentativen Ausgabe. »Lidice«, der Emigrationsroman, wurde nur in Mexiko verlegt, »Empfang bei der Welt« erst 1956, »Der Atem« in Deutschland sogar erst 1962. So sind die beiden Romane »Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy« und »Die Jagd nach Liebe«, wie bereits erwähnt, nur außerhalb der von Alfred Kantorowicz besorgten »Ausgewählten Werke in Einzelausgaben« erschienen, wenn auch in gleicher Aufmachung. In der B R D sind sie sogar erst gut zehn Jahre später neu erschienen. Diese Aussage ist nur schwer zu präzisieren. Als repräsentativ für das heute gültige Heinrich-Mann-Bild kann im allgemeinen noch immer die Ausgabe der »Ausge-
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Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
tionsform scheint sich nun auch erst die heute allgemein akzeptierte Gliederung von Heinrich Manns Werk herausgebildet zu haben, die eine frühe, »ästhetizistische« Phase unterscheidet, dann eine Entwicklung Heinrich Manns zum »Realisten« des *Untertans« hin, dann eine Phase politischer Desorientiertheit und dadurch bedingter künstlerischer Schwäche während der Weimarer Republik, dann eine erneute Aufgipfelung des künstlerischen Vermögens während der Zeit der Volksfrontpolitik, repräsentiert durch die beiden Henri-Quatre-Romane, und schließlich ein endgültiges Abklingen. Nicht zu verkennen ist dabei allerdings, daß wegen der extremen und daher unwahrscheinlichen Schwankungen, die diese Gliederung impliziert, zur Zeit wiederum die Tendenz besteht, die Unterschiede der Wertschätzung auszugleichen und dafür die Kontinuität im Werk Heinrich Manns zu betonen. 67 Es liegt auf der Hand, daß genau diese Gliederung des Gesamtwerkes und das Heinrich-Mann-Bild, das ihr entspricht, jenen Zerfall des Gesamtwerkes in heterogene Teile repräsentieren, von dem wir eingangs gesprochen haben. Wo aber liegen die Gründe dafür, die nunmehr zu erkennen sein müssen? Man wird sie in einem grundlegenden Wechsel des Publikums zu suchen haben, der kurz vor oder mit Erscheinen des »Untertans« erfolgt sein muß. Auf einen qualitativ anderen, literarisch-»artistisch« weniger informierten Leserkreis als in der Phase der früheren Rezeption deutet die allmählich immer stärker hervortretende Diskontinuität hin. Die abnehmende Schätzung der aktuellen, zeitnahen Romanproduktion bei zunehmender Schätzung zurückliegender, beinahe »historisch« anmutender Werke 68 weist zudem darauf hin, daß die
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wählten Werke in Einzelausgaben« gelten. Sie umfaßt 8 Romane (dazu zwei Ergänzungsbände außerhalb der Ausgabe) von insgesamt 17 Romanen. »In einer Familie« ist dabei nicht mitgezählt. Der Grad, in dem diese Romane in der Forschung erwähnt werden - u. a. ein Maßstab für die Wertschätzung - ist dabei aber höchst unterschiedlich: »Eugenie oder Die Bürgerzeit« und »Ein ernstes Leben«, also zwei Romane, die in der Weimarer Republik entstanden sind, werden dabei so gut wie nie erwähnt, »Zwischen den Rassen« wird fast ausschließlich nur als Werk im Übergang zwischen »Professor Unrat« und der » K l e i n e n Stadt« behandelt. Als Beispiel hierfür kann gelten, daß die Herausgeber der neuen Heinrich-MannWerkausgabe, die Deutsche Akademie der Künste, allmählich von einer Auswahl, die noch immer an der Kantorowicz-Ausgabe orientiert war, laut mündlicher Mitteilung zu einer Ausgabe nunmehr aller Romane Heinrich Manns übergehen. Vgl. hierzu noch die frühere Ankündigung von Sigrid Anger: Über den Plan einer neuen Heinrich-Mann-Ausgabe. - In: Neue Texte. Almanach für deutsche Literatur. Herbst 1963. - Berlin ( D D R ) 1963, S. 398-406. Wir haben auf den »Dokument«-Charakter von »Professor Unrat« und dem »Untertan« bereits hingewiesen; ebenfalls wäre noch »Im. Schlaraffenland« zu nennen. In diesem Rahmen - als »historische Romane« - sind aber auch die Henri-Quatre-Romane rezipiert worden, was sie aber von ihrer »artistischen« Gestalt her, trotz der historischen Thematik, auf keinen Fall sind. Aus diesem allerdings naheliegenden Mißverständnis - auch Flauberts »Salammbo«, das V o r -
Die Zielsetzung und A n l a g e der Arbeit
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Rezeption zeitungleich zur Entwicklung des Autors geworden ist. Aus beidem kann man nur folgern, daß das Publikum des »Untertans« den Roman nicht nur im Sinne der Situation von iyijl 18 »miß«-verstanden hat, sondern die Bedingungen dieses Mißverständnisses auch in Bezug auf alle anderen Romane Heinrich Manns konserviert und Heinrich Mann auf diese Weise von seinem genuinen, literarisch-geschichtlichen Hintergrund getrennt hat. — Wie die tendenzielle Gleichartigkeit der Rezeption während der Weimarer Republik und in der Nachkriegszeit beweist, bewegt sich das heutige Publikum im wesentlichen noch immer im Erwartungshorizont der damaligen Rezeption. Von historischen Bedingungen ausgelöst, die das Werk Heinrich Manns aktualisierten, ist sein Verständnis - in literaturwissenschaftlichem Sinne - »unhistorisch« geworden. Ein historisch angemessenes Verständnis Heinrich Manns wieder herzustellen wird die Hauptaufgabe dieser Untersuchung sein.
1.4. Die Zielsetzung und Anlage der A r b e i t : ein Versuch zur Klärung der Forschungssituation Die vorliegende Arbeit ist aus einer Untersuchung hervorgegangen, die die dargestellte Wirklichkeit von Heinrich Manns Romanen der Frage unterworfen hat, nach welchen Mitteln sozialwissenschaftlicher Erkenntnis in ihr empirische Wirklichkeit erfaßt werde. Diese Fragestellung hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Sie zeigte sofort, daß die Mittel begrenzt sind und das Dargestellte in hohem Maße formalisiert ist, so daß »Formalisierungen« als die eigentlichen Bausteine angesehen werden müssen, aus denen Heinrich Mann die besondere »Wirklichkeit« seine Romane baut. D a ß somit nicht mehr die empirische Wirklichkeit, sondern die künstlerische, »ästhetische« Wirklichkeit das engere Thema der Untersuchung sein müsse und die subjektiven Voraussetzungen der Wirklichkeitserfahrung durch Heinrich Mann nur noch eine untergeordnete Bedeutung im Hinblick auf die Eigengewichtigkeit dieser »ästhetischen Wirklichkeit« haben könnten, war die sich daraus ergebende Folgerung. - Nunmehr war die wesentlichste Aufgabe, die formal-theoretische Kohärenz von Heinrich Manns Werk zu erschließen. Teilweise davon abhängig, teilweise aber auch als Voraussetzung dazu fand eine Bestimmung der Werkästhetik Heinrich Manns in ihrer Stellung zu den historisch-literarischen Traditionen statt. Bereits diese Frage konnte naturgemäß nur in geringen Aspekten behandelt werden. Ihre gültige Beantwortung hätte zur Vorausset-
bild aller »artistischen« Romane, w u r d e anfangs ausschließlich als historischer R o m a n rezipiert - erklärt sich der Publikumserfolg. D a s Publikum »mißversteht« hier die Werke im Sinne der künstlerisch einfacheren Form.
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Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
zung gehabt, daß zuvor die Werkgestalt Heinrich Manns erfaßt und beschrieben gewesen wäre. Unter diesen Voraussetzungen ist die Arbeit in ihren wesentlichsten Teilen eine analytische Deskription ihres Gegenstandes: der dargestellten »Wirklichkeiten« in den Romanen Heinrich Manns. Ihr Ziel ist dabei, die Kategorien, unter denen dieser Gegenstand erfaßt werden muß, zu erarbeiten und sie gleichzeitig in der Analyse zu erproben. Damit ist diese Untersuchung auf dem Gebiet der Werkanalyse eine Vorarbeit — die allerdings einen Teil der späteren Ergebnisse bereits vorwegnimmt - , die als solche dazu beitragen soll, eine sowohl geschichtlich-gesellschaftliche als auch ästhetische Bestimmung des Ortes zu ermöglichen, den Heinrich Mann mit seinem Werk in Deutschland einnimmt.69 Daß der Anteil, den diese Arbeit dazu leistet, allein auf dem Gebiet der literarischen Analyse liegt, erklärt sich ausschließlich aus den Gegebenheiten der Forschungssituation und aus dem allgemeinen Zustand der heutigen Heinrich-Mann-Rezeption. Es kann einfach nicht übersehen werden, daß ein wesentlicher, wenn nicht der größte Teil des Werkes von Heinrich Mann, ohne Zweifel einem der bedeutendsten politischen Autoren Deutschlands, dem Verständnis des heutigen Lesers verborgen ist, sei es, daß politischgesellschaftliche Umstände dazu beigetragen haben, sein Werk zu verschütten, sei es, wie ich der Meinung bin, daß es vor allem Gründe der Werkästhetik waren - die aber als solche auch ihren politischen Hintergrund haben. 70 Hier Heinrich Mann Gerechtigkeit zukommen zu lassen ist ein Ziel dieser Arbeit. Wir solidarisieren uns an dieser Stelle bewußt mit dem Interesse des bedeutendsten Teiles der bisherigen Forschung an Erkenntnis über die politische Person Heinrich Manns und kritisieren daher diese Forschung ausschließlich aufgrund ihres methodisch falschen Ansatzes. Im Hintergrund steht die Uberzeugung, daß nur politische Fragestellungen in bezug auf Heinrich Mann augenblicklich von allgemeinem Interesse sind. Bei Heinrich Mann aber ist das, dem Stand der Forschung nach, die Frage nach den Eigentümlichkeiten der von ihm verwandten künstlerischen Technik, die einer bestimmten politischen Aussage, die uns aufgrund des vorliegenden biographischen Materials bereits besser erfaßbar ist, als »Form« dient. Allein wenn diese Frage beantwortet ist, werden uns künstlerische Gestaltungen zugänglich, die auch für das 89
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Zu den hier angeschnittenen methodischen Fragen vgl. Werner Krauss: Über den Anteil der Buchgeschichte an der literarischen Entfaltung der Aufklärung. - In: W. K.: Aufsätze zur Literaturgeschichte. 2. Aufl. - Leipzig 1968 ( = Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 199), S. 206-325, darin insbesondere den Einleitungsabschnitt »Die Fragestellung der Literaturgeschichte«, S. 206-209. In welchem Rahmen diese Hintergründe zu suchen sind, zeigen z. B. die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, die zu einem ganz wesentlichen Teil auch eine »innere« Auseinandersetzung mit der Ästhetik von Heinrich Manns Werk sind.
Die Zielsetzung und A n l a g e der Arbeit
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Verständnis der jetzigen gesellschaftlichen Situation von Bedeutung sein könnten. Gerade wegen der Einschränkungen unterliegt die Arbeit auch Begrenzungen. Weitgehend unberücksichtigt muß bleiben, inwieweit die so eruierte »formale« Gestalt von Heinrich Manns W e r k als solche auf allgemeinere Züge der Gesamtgesellschaft, z. B. auf ihre Sehnsüchte, Ängste, Triebverdrängungen u. ä., hinweist. Dies wäre beim Schöpfer großartiger »sozialer Psychologien« hier ist nicht nur an U n r a t und H e ß l i n g zu denken, sondern an zahlreiche andere Gestalten - v o n außerordentlichem Interesse. Ebenso ist es nicht möglich, die Ästhetik Heinrich Manns - die ja auch keineswegs ein monolithisches Gebilde ist, sondern zahlreichen Veränderungen unterliegt - u n d die formalen Gestaltungen seiner Werke auf die »soziale Biographie« Heinrich Manns zu beziehen. H i e r müssen wir uns darauf beschränken, das Beobachtete in den Zusammenhang der weitgehend bekannten politischen Biographie zu stellen, wobei wir uns bewußt sind, d a ß damit nur Teilaspekte der in Frage kommenden Probleme behandelt sind 71 . Die Folge ist, d a ß auch eine eigentlich »politische« Kritik an den »politischen Äußerungen« Heinrich Manns, die seine Dichtungen ja sind, noch nicht möglich ist. Ein weiterer Mangel erwächst aus der gewählten formalen Methode, die im Grunde nur im Zusammenhang einer historischen Fundierung sinnvoll ist 72 . Diese k a n n z w a r teilweise durch die »literarische Biographie« des Autors gegeben werden; eine solche reicht aber niemals auch nur annähernd aus, alle hier in Frage kommenden Probleme zu beantworten. Auch ist diese »literarische Biographie« allenfalls in Umrissen f ü r uns greifbar. D a aber im Augenblick zu diesen Fragen noch kein genügend spezifisches Untersuchungsmaterial vor71
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Z u r politischen Biographie gibt es teilweise ausgezeichnete Vorarbeiten, v o r allem den A u f s a t z v o n M a n f r e d H a h n : Heinrich Manns Beiträge in der Zeitschrift »Das Z w a n z i g s t e Jahrhundert« (in: Weimarer Beiträge 1 3 , 1 9 6 7 ) , S . 9 9 6 - 1 0 1 8 ; dann sind zwei Dissertationen zu nennen: Werner Middelstaedt: Heinrich Mann in der Zeit der Weimarer Republik - die politische Entwicklung des Schriftstellers und seine öffentliche Wirksamkeit. - Potsdam, P ä d . Hochschule, Phil. Diss. 1 9 6 4 , und: Werner H e r d e n : D e r W e g Heinrich Manns an die Seite der deutschen Arbeiterklasse im Spiegel seiner essayistischen Bemühungen v o n 1 9 3 3 - 1 9 3 9 . — Berlin, Institut f ü r Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D , Phil. Diss. 1 9 6 5 , jetzt als Buchausgabe in erweiterter Form unter dem Titel vorliegend: Geist und Macht. Heinrich Manns W e g an die Seite der Arbeiterklasse. - Berlin/Weimar 1 9 7 1 . Ebenso ist zum speziellen T h e m a der Volksfrontpolitik der A u f s a t z von H a n s A l b e r t Walter zu nennen: Heinrich Mann im französischen E x i l . - I n : T e x t + Kritik, S. 1 1 5 - 1 4 0 . D e r Begriff »formale Analyse« w i r d hier stets verstanden im Sinne des russischen Formalismus. V g l . Texte der russischen Formalisten. Hrsg. von J u r i j Striedter. B d . 1 . - München 1 9 6 9 ( = Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. B d . 6. H a l b b d . 1 ) .
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Kritik der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
liegt, die Spezifika sich hingegen auch erst ergeben, wenn der Untersuchungsgegenstand: das literarische Kunstwerk, gesichert ist, ist es notwendig, sich an dieser Stelle mit dem verfügbaren Material zu behelfen. D a ß von hier aus späterhin Korrekturen an unserer Arbeit notwendig werden, ist in unsere Überlegungen mit einbezogen. In bestimmten Bereichen haben w i r aus diesem Grund auch verzichtet, allzu spezielle interpretatorische Aussagen zu machen,
da
diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entweder modifiziert werden müßten oder aber durch Argumente bekräftigt würden, die an Stichhaltigkeit den unseren weit überlegen sind. Hier späteren Untersuchungen die vermuteten Ergebnisse leichtfertig vorwegzunehmen, erschiene uns als wissenschaftlich unredlich. In Hinblick auf die Anlage der Arbeit muß immer wieder berücksichtigt werden, daß die Heinrich-Mann-Forschung noch immer in ihren Anfängen steht. Z w a r ist bereits eine erhebliche Forschungsarbeit geleistet worden, der auch die vorliegende Arbeit verpflichtet ist; von einzelnen, geschlossenen abgehandelten Fragestellungen einmal abgesehen 73 , sind diese Untersuchungen jedoch zumeist unter Kategorien erstellt worden, die zuerst selber der Kritik 73
Hier ist es vor allem nötig, den Aufsatz von Lea Ritter-Santini zu nennen: Die weiße Winde. Heinrich Manns Novelle »Das Wunderbare« (in: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende [Fs. W o l f dietrich Rasch]. Hrsg. von Renate von Heydebrand und Klaus Günther Just. Stuttgart 1969, S. 1 3 4 - 1 7 3 ) , der f ü r eine angemessene ästhetisch-historische Betrachtung Heinrich Manns richtungweisend sein könnte, wenn die Autorin nicht dem Fehler verfallen wäre, das auf sehr schmaler Basis gewonnene Urteil - eine einzige, zudem sehr frühe Novelle - allzu stark auszuweiten und zu verallgemeinern. Trotzdem weist diese Arbeit Bezüge auf, die in der bisherigen Forschung vollkommen übersehen worden sind. - Eine andere solche Arbeit ist die Diss. von Henriette Bartl: Heinrich Manns Spätwerk. Studien zur Erzähltechnik in den Romanen »Empfang bei der Welt« und »Der Atem«. - Hamburg, Phil. Diss. 1970. Obwohl ausschließlich auf formale Analysen hin angelegt und daher in der Aussagekraft begrenzt, ö f f n e t diese Arbeit erstmals einen Blick auf die Komplexität der Darstellungstechniken Heinrich Manns und belegt auf diese Weise eindeutig, daß von Heinrich Mann ein Verstehenshorizont intendiert ist, der weit über den E r wartungshorizont der bisherigen Interpreten hinausreicht. Der Nachweis der K o m plexität der Darstellungstechniken bedeutet daher im Grunde auch die Rechtfertigung f ü r den methodischen Ansatz der vorliegenden Arbeit, die Mittel der G e sellschaftsanalytik Heinrich Manns zu den verwandten Darstellungstechniken in Beziehung zu setzen und so zu einer umfassenden Analyse der »formalen« Gestalt von Heinrich Manns Gesellschaftsdarstellungen zu gelangen. N a c h Abschluß meiner Arbeit 1 9 7 1 ist in Einzelbereichen der Forschungsstand erheblich erweitert worden, so daß bei manchen Fragen, die mir erhebliche Probleme stellten, heute bereits größere Klarheit besteht. Das betrifft vor allem Renate Werners Arbeit über den frühen Heinrich Mann - obwohl die hier dominierende literaturhistorische Herleitung der Werke Heinrich Manns manchmal die Prägnanz der politischen Aussage dieser Werke in den Hintergrund drängt - und den Teil
Die Zielsetzung und Anlage der Arbeit
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unterzogen werden müßten. Auch ist ein ganz wesentlicher Teil des Gesamtwerkes von der detaillierten Gestalt dessen her, was in ihm dargestellt ist, durch die Forschung noch nicht einmal registrierend zur Kenntnis genommen worden. Infolgedessen steht ein zwar umfangreiches, im Grunde aber völlig ungeordnetes und ungleichmäßig erschlossenes Material vor uns, das neu gesichtet, systematisiert und ergänzt werden muß. Diese Arbeit kann diese Lükken nicht schließen; andererseits aber ist sie gezwungen, zu ganz wesentlichen Aspekten der »literarischen Biographie« Heinrich Manns: etwa in bezug auf die Entstehung des »Dilettantismus«, die Nietzsche-, Flaubert- und ZolaRezeption, mit möglichster Klarheit Stellung zu nehmen. Dies wirft außerordentliche Schwierigkeiten bei der Darstellung auf. Zur Explikation unserer grundlegenden Intention dient eine Analyse der dargestellten Wirklichkeit von fünf Romanen Heinrich Manns: »Im Schlaraffenland« (1900), »Lidice« (1943), »Professor Unrat« (1905), »Die Armen« (1917) und »Der Atem« (1949). Es handelt sich hierbei zu etwa gleichen Teilen um bekannte wie unbekannt gebliebene Werke Heinrich Manns. Diese Auswahl verschiedenartiger Werke wurde getroffen, um zu zeigen, daß - falls die Analyse nur detailliert genug durchgeführt wird - zu erkennen ist, daß die Probleme und Eigenarten dieser Werke grundsätzlich die gleichen sind. Die Behandlung dieser Werke folgt systematischen, nicht biographischen Gesichtspunkten - obwohl hier eine Kongruenz teilweise einfach vom Gegenstand her gegeben ist; sie erhebt aber auf keinen Fall den Anspruch auf Vollständigkeit. Es wurde vielmehr darauf geachtet, das Problem der Werkästhetik Heinrich Manns von jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln anzugehen; Aspekte, die in einem zuvor besprochenen Werk ausführlich zur Sprache gekommen waren, wurden daher bei späteren Werken bewußt ausgeklammert. Ebenso wurden bestimmte Problemkreise grundsätzlich ausgeschlossen, hier vor allem Fragen der sprachlidien Repräsentation der Formstruktur. Ebenso wurden einige spezifisch »artistische« Züge nicht weiterverfolgt, insbesondere die Formen der Bezugnahme auf Werke der bildenden Kunst, und die dargestellte Wirklichkeit als »Wirklichkeit eigener Art«, eben als »ästhetische Wirklichkeit«, hingenommen, ohne die spezifischeren Formen des inhärierenden Wirklichkeitsbezuges genauer zu untersuchen. D a ß das eine methodisch höchst wesentliche Einschränkung ist, die sich auf die gewonnenen Ergebnisse auch auswirkt, steht außer Frage. der Arbeit von Ekkehard Blattmann, der Heinrich Mann als »homo religiosus« darstellt: eine momentan kaum zu übertreffende Herleitung der geistesgeschiditlichen Quellen von Heinrich Manns Denken. Punktuell ist in einzelnen Bereichen damit die Forschungslage bereinigt worden, obwohl auch die genannten beiden Arbeiten zur Kritik herausfordern - insgesamt aber sind w i r noch immer von einer zureichenden und ausgewogenen Beurteilung von Heinrich Manns Gesamtschaffen weit entfernt.
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K r i t i k der Forschung und Zielsetzung der Arbeit
Die Anordnung der Romane, die bewußt mit dem Prinzip der biographischen Kontinuität bricht und dafür die systematische Kontinuität betont, wurde gewählt, um drei verschiedene Problembereiche herauszustellen: einmal die Herausbildung einer stark formalisierten, »ästhetisch« charakterisierenden »Sprache der Wirklichkeit«, dann die Formen der Darstellung von »milieumäßigen« Analysen von (sozialer) Wirklichkeit, zuletzt die Darstellung von Bewußtseinsformen sozialer Individuen durch die Darstellung der Inhalte sozialer Bewußtseinswelten. Insgesamt wird damit angestrebt, die Analytik der dargestellten Wirklichkeit, wie sie sich in einer bestimmten »formalen« Gestalt des Dargestellten niederschlägt, in einem möglichst weitgespannten und nach verschiedenen Fragestellungen aufgegliederten Rahmen zu erfassen. D a die Herausarbeitung dieser Fragestellungen sehr intensive theoretische Reflexionen erfordert, die teilweise den Charakter eines interpretatorischen Neuansatzes haben, wurde auf eine kontinuierliche Abhandlung der zu untersuchenden Romane verzichtet. Die Kontinuität ergibt sich allein vom Gegenstand her; die Einheit der Untersuchung erschließt sich letztlich erst durch den Gesamtzusammenhang. An ihrem Ende wird noch die Behandlung von einigen Aspekten der Naturalismus-Rezeption Heinrich Manns stehen. - Abschließend ist noch zu sagen, daß aus arbeitstechnischen Gründen als vergleichende Beispiele zu den analysierten Werken im wesentlichen nur Romane herangezogen wurden, Novellen nur in einigen wenigen Fällen, Dramen gar nicht. Dies erklärt sich allein aus dem Bestreben, den bereits sehr vielfältig gestalteten interpretatorischen Ansatz nicht noch weiter aufzugliedern.
2. »Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft im Bild in der europäischen Dekadenz 2.1. Wirkliclikeitsbezug und dargestellte Wirklichkeit »Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten« (1900) gehört ohne Zweifel zu den in ihrer Struktur überschaubaren Romanen Heinrich Manns. Dieser Vorteil ist jedoch bislang von der Forschung kaum genutzt worden Anstatt daß an dem Roman ein systematischer Ansatz erprobt worden wäre, der eine Hilfe hätte sein können, tiefer in die subtileren Probleme von Heinrich Manns Romanen einzudringen, sind zumeist nur Teilprobleme angegangen worden. Unbefriedigend ist auch die Charakterisierung, die der Roman gemeinhin in der Forschung erhält: Er wird als eine satirische Darstellung der Welt des deutschen Großkapitals in der nachbismarckschen Ära verstanden. Der Wert dieser Aussage ist gering. Die Wirklichkeitsbezüge, auf die sie sich stützt, vor allem die Zeitangabe: Winter 1893, u r | d die Ortswahl: Berlin, haben, untersucht man ihre Funktion innerhalb der dargestellten Wirklichkeit, kaum Gewicht. Weitgehend ebenso verhält es sich mit den Faktenbezügen. Weder für den Handlungsverlauf noch innerhalb einer Analyse der deutschen Gesellschaft von 1893 - beides Kriterien für die Bestimmung ihres Aussagecharakters - haben sie irgendeine tiefere, spezifische Bedeutung. Diese Erkenntnis korrespondiert zudem mit einer charakteristischen Eigenart dieses Romans, die die Forschung zwar registriert, aber sehr unpräzise als »Begleiterscheinung« der satirischen Darstellungsweise bestimmt hat: Die im Roman dargestellte Gesellschaft wirkt ebenso künstlich wie unwirklich. Nur bei einem vereinfachenden Satirebegriff kann eine solche Beobachtung kommentarlos übergangen werden. Es scheint demnach eine deutliche Diskrepanz vorzuliegen zwischen dem 1
Außer den bereits zitierten Arbeiten sind hier noch ein Aufsatz von Manfred Hahn zu nennen: Zum frühen Schaffen Heinrich Manns (in: Weimarer Beiträge 12 [1966], S. 363-406), eine überarbeitete Zusammenfassung des ersten Teils seiner Diss., Hans Wolffheims Nachwort zu der Ciaassen-Ausgabe von »Im Schlaraffenland«/ »Professor Unrat« (S. 5 7 5 - 5 9 7 ) , ferner Norbert Schöll: Vom Bürger zum Untertan. Zum Gesellschaftsbild im bürgerlichen Roman. - Düsseldorf 1973 ( = Literatur in der Gesellschaft. Bd. 17), insbesondere S. 70 ff., und die genannte Arbeit von Renate Werner, S. 74 ff.
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»Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
durch die Verweise exakt definierten Wirklichkeitsbezug und dem Ort der Handlung, wie er im Roman tatsächlich in Erscheinung tritt. Vergleichbare Phänomene treten in den Werken Heinrich Manns an zahlreichen Stellen auf, in besonders aufschlußreicher Weise in den Romanen des Spätwerks, hier vor allem in » E m p f a n g bei der Welt«r 2 . »Empfang bei der Welt« spielt allerdings mit Absicht, so nach der Schlußbemerkung Heinrich Manns, in einer national nicht identifizierbaren Gesellschaft 3 , wodurch gerade wegen der zahlreichen, realistisch-präzisen Wirklichkeitsbezüge, die hier den Leser nur verwirren, sofort der Eindruck von Phantastik entsteht. Trotzdem handelt es sich hier nicht um eine fiktive Gesellschaft. Der Titel gibt vielmehr einen deutlichen Hinweis auf die damit verfolgte Intention. Nicht ein namentlich lokalisierbares Land oder eine Stadt sind der Ort der Handlung, sondern ausschließlich der Salon des Opernagenten Arthur, ein geographisch nicht lokalisierter Ort. Hier findet der »Empfang« statt; hier konstituiert sich im Zusammentreten der verschiedenen Personen die »Welt«. Alle anderen, nicht genauer bestimmbaren Schauplätze, die neben dem »Salon« ebenfalls noch in Erscheinung treten, sind nichts anderes als anonyme Aufenthaltsräume der Gesellschaft, wie sie im »Salon« zusammengetreten ist. Wir haben hier das zunächst überraschende, dann aber plausible Faktum vor Augen, daß eine dargestellte Wirklichkeit in ihrer historisch-gesellschaftlichen Individualität nicht von empirischen Umständen her bestimmt ist, sondern allein von der Personengruppe her, die im Zentrum der Darstellung steht, die aber in ihrer Gesamtheit keineswegs ein historisch-geographisch einheitliches Gebilde ist. Was ist nun diese »Welt«? Keineswegs verweist die hier versammelte Gesellschaft schon von ihrer Zusammensetzung her über sich hinaus - dies, obwohl sie »monde« und »demi-monde« in sich vereint. Dazu müßten die Personen viel stärker »Typen« sein. Sie sind aber sehr konkret gefaßte Individualitäten: Einzelpersonen aus unterschiedlichen Weltteilen mit einem ganz individuellen Antlitz. Sie sind gekommen, um mitzuhelfen, ein Opernhaus zu gründen; sie verfolgen darin aber sehr unterschiedliche, individuelle Eigeninteressen. Die russische Fürstin Babiline z. B. erscheint als Frau einer bestimmten Altersstufe, die allein deshalb den Empfang besucht, weil sie im künftigen Opernhaus die 2
3
Wegen der zeitlichen Differenz beider Romane - » E m p f a n g bei der Welt« wurde 1945 abgeschlossen - könnte eine solche Parallele unerlaubt erscheinen. Die späteren Analysen werden jedoch zeigen, daß beide Romane wahrscheinlich, was die Milieukomposition betrifft, ein gemeinsames Vorbild haben: Paul Bourgets Roman »Cosmopolis«. Empfang, S. 370. - Henriette Bartl hat dagegen versucht (a. a. O., S. 6 ff.), den Zeitpunkt der Handlung genauer zu lokalisieren. Sie kommt dabei zu dem Schluß, daß der Roman »um 1930/40« spiele. Sie meint damit, eine exaktere Angabe zu machen. Was sie jedoch damit tatsächlich bestimmt, ist nur die genauer umrissene Zeitepoche, die sich im Bild der dargestellten Gesellschaft niederschlägt.
Wirklichkeitsbezug und dargestellte Wirklidikeit
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Carmen singen will und bereit ist, dafür das Opernhaus mitzufinanzieren. Dieser Wunsch erwächst aus ihrem Alter und dem daraus resultierenden Gefühl zunehmender Vereinsamung. Mit einer für ihre soziale Stellung typischen Handlungsweise will sie dieser Vereinsamung entfliehen. - Die Fürstin repräsentiert in dieser Handlungsweise eine charakteristische Ausprägung »menschlichen« Verhaltens, wie es sich unter den Bedingungen einer bestimmten Gesellschaftsordnung herausgebildet hat. In der praktischen Verfolgung ihres Ziels jedoch unterscheidet sie sich dabei von niemandem der hier Anwesenden: Sie versucht, sich ihr Glück zu »erkaufen«. Dies ist neben der Individualität aller Einzelpersonen das zweite Merkmal der hier zusammengetretenen Gesellschaft: Alle Personen bewegen sich, auch in Verfolgung ihrer individuellunterschiedlichen Ziele, im Rahmen gleicher Bedingungen, nämlich denen der kapitalistischen Wirtschaftskonkurrenz. Arthur, der Hausherr und Opernagent, sucht durch die Gründung des Opernhauses Beschäftigungsmöglichkeiten für seine Agentur; Melusine, seine Verbündete und Leiterin eines Bankhauses, will durch diese Unternehmung ihre Bank vor dem drohenden Bankrott retten. Selbst dort, wo diese H a l t u n g abgelehnt w i r d : bei den jungen Leuten ist zunächst keine eigenständige Alternative vorhanden, sondern eine bloße, inhaltsleere Negation des Vorgegebenen. Dies verleiht der Gesellschaft, trotz aller Unterschiedlichkeiten, eine gleichförmige Physiognomie. Wir haben hier die politisch-soziale Moral einer bestimmten, vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft vor uns. - Eine solche Gruppe stellt im Sinne der Ästhetik des französischen Naturalismus einen »Milieukreis« dar 4 . Der »Milieukreis« ist im Grunde eine Ausweitung des naturalistischen Milieu-Begriffes. Während der Milieu-Begriff im wesentlichen natürliche gesellschaftliche Gruppierungen erfaßt, wie sie sich unter den wechselnden Bedingungen von Landschaft, Klima, Staatsform, aus den Bedingungen der ökonomischen Situation, der sozialen 4
Es ist hier unbedingt notwendig, auf den Naturalismus als die ursprüngliche, auch in dieser Form der Darstellung noch zugrunde liegende Theorie zurückzugehen, denn bereits diese kurze Analyse macht hinreichend deutlich, daß es sich bei dem Dargestellten um einen nach den Gesetzen der historisch-empirischen Wirklichkeit erstellten Realitätsausschnitt handelt, der zudem mit einer unverkennbaren individuellen Physiognomie als Form »moralischer Wirklichkeit« versehen ist. Die empirische Soziologie spräche hier nicht von einer »Gruppe«, sondern von einem »Gruppenindividuum«. Vgl. auch die (naturalistische) Milieudefinition bei René König (a. a. O., S. 102): »Ein Milieu konstituiert sich in einer sozialen Vielfalt von Menschen, die ( . . . ) einem bestimmten Ordnungsschema unterworfen ist und in einer bestimmten Umgebung sich befindet, temperature physique< und >température morale< schließen sieb im >Milieu< zusammen.« - Zur Genese und zu den Komponenten des Milieu-Begriffes im französischen Roman des 19. Jahrhunderts vgl. ebenfalls: Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 4. Aufl., Berlin/München 1967, Kap. X V I I I : Im Hotel de La Mole, S. 422-459, passim.
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Stellung, der Wohn- und Arbeitsverhältnisse u. a. »aufbauen« - dieser Begriff ist tatsächlich angemessen, man erinnere an die naturalistische Vorstellung der »chimie sociale« - , erfaßt der »Milieukreis« »Gesellschaften«, wie sie sich unter dem Einfluß abstrakterer Bedingungen bilden: allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen, zeitbezogener Geistesströmungen, modischer »Zeitkrankheiten« u. ä. Solche »Gesellschaften« sind naturgemäß »synthetische« Produkte, wie sie die Intentionen des Autors oder die Gesetze einer künstlerischen Technik erfordern. In ihren Details sind sie nichtsdestoweniger ebenso realistisch-»naturgetreu« wie eine »natürliche« »Gesellschaft«5. Unter einem Aspekt sind sie freilich auch »natürliche« »Gesellschaften«: Sie gehen aus von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen als sozialer Individuen; darin orientieren sie sich an der (naturalistischen) Idee einer homogenen, solidarischen Menschheit. Dies ist eine grundlegende anthropologische Voraussetzung, die in die gesamte naturalistische Soziologie eingegangen ist. Ein solches »künstliches« Produkt ist also auch das »Schlaraffenland«, die zentrale Personengruppe des Romans. Daß überhaupt ein bestimmter Ausschnitt einer größeren gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einem eigenen Namen bezeichnet werden kann, deutet bereits an, daß diese »Welt« deutlich mit eigener Physiognomie ausgestattet ist. Der sicherste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist jedoch die Romanhandlung. Aufstieg und Fall von Andreas Zumsee, die der Roman darstellt, setzen in der Eigentümlichkeit ihres Ablaufes die Existenz eines »Schlaraffenlandes« mit Notwendigkeit voraus. So wäre nirgendwo anders eine »Bestrafung« Andreas Zumsees denkbar, die ihn mit Absicht aus den gewohnten Lebensumständen nicht entfernt, sondern ihn gerade darin verbleiben läßt. Dieses Faktum wird noch weiter bekräftigt durch die Existenz des »Experimentators« »Köpf«, der von der inneren Zusammengehörigkeit von Zumsee und dem Schlaraffenland offensichtlich weiß und daher mit ironischer Voraussicht Zumsee auf den »richtigen« Weg lenkt. Es ist die Konstellation Köpf - Zumsee - Schlaraffenland, die auf die Homogenität der Schlaraffenland-Gesellschaft als eines Gruppen-Individu5
D e r Begriff »Gesellschaft« (in Anführungsstrichen) w i r d von hier an, allerdings nur in bezug auf den Schlaraffenland-Roman, konsequent als Charakterisierung des naturalistischen Gruppen-Individuums v e r w a n d t . D e r Gesellschaftsbegriff der modernen Sozialwissenschaft darf hiermit nicht verwechselt werden. - W i r v e r meiden hier bewußt, eine K r i t i k der naturalistischen Wirklichkeitserfassung zu geben. Dies geschieht auch deshalb, weil Heinrich M a n n selber den Naturalismus einer strikten Kritik unterzogen hat. Unverkennbar aber scheint uns zu sein, daß Elemente »naturalistischer Wirklichkeit« mit den ihnen zugrunde liegenden theoretischen V o r aussetzungen von Heinrich M a n n im wesentlichen unverändert in seine Darstellungen gesellschaftlicher Wirklichkeit übernommen worden sind und allein a u f grund ihrer Eigengewichtigkeit diese Darstellungen auch in ganz wesentlichen Momenten prägen.
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ums verweist.6 Verweist das »Schlaraffenland« von den Prinzipien seines Aufbaus bereits auf den französischen Roman, so variiert der Handlungsablauf des Romans nur einen sozialtypischen Entwicklungsgang, wie er im französischen Roman des 19. Jahrhunderts immer wieder auftaucht: den Weg des jungen, hoffnungsvollen, aber armen Studenten in die Großstadt, w o er aus der Bahn geworfen wird, aber das in ihm schlummernde literarische Talent entdeckt, w o er in die großstädtische Zeitungsmaffia gerät, die ihm seine moralische Unschuld als Künstler raubt, bis er schließlich avanciert und in das Milieu der Börsenspekulanten und politischen Intriganten gerät, die hinter den Zeitungen stehen. Das ist im Schlaraffenland-Roman der Salon Türkheimer. Diesem »Klischee«, das jedem literarischen Kenner des 19. Jahrhunderts bis zum Überdruß bekannt sein muß, entspricht auch, daß ein Andreas Zumsee zum Geliebten der Frau Türkheimer wird. Ebenso konventionell ist, daß er seine reiche Geliebte zu betrügen beginnt und daher zu guter Letzt aus seinem Glück stürzt. »Neu« ist nur, daß Heinrich Mann diesen Handlungsgang sichtlich ironisiert: daß er sidi des »Klischees« bewußt bedient, um zu zeigen, daß es allenfalls Literaten sein können, die über einen solchen Handlungsverlauf lächeln können - daß er aber in Wirklichkeit voll und ganz dem Denken und der Vorstellungswelt des bürgerlichen Menschen dieser Epoche entspricht. So wird dieses scheinbare Klischee dann zum tatsächlichen Spiegel des Bewußtseins der dargestellten Epoche, die durch diesen Spiegel in ihrer »wahren« Gestalt erscheint7. — Das ist auch an dem »Wissen« von Andreas Zumsees Mentor 6
7
Die »Individualität« des »Schlaraffenlandes« als einer »Welt mit eigenen Gesetzen« bedeutet jedoch nicht, daß in dieser Welt andere als die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus einer bestimmten Epoche herrschten. »Naturalistisch« ist vielmehr gerade, daß sich im Dargestellten Individualität und allgemeine Gesetzlichkeit zugleich niederschlagen. Ulrich Weisstein hat als erster in einem Aufsatz: »Bei-Ami im Schlaraffenland. Eine Studie über Heinrich Manns Roman >Im Schlaraffenlands (in: Weimarer Beiträge 7 [1961], S. 5J7-570), auf die zunächst plagiathaft erscheinenden Ähnlichkeiten zu Maupassants »Bei ami« hingewiesen. Diese Beobachtungen werden jedoch dadurch in ein anderes Licht gesetzt, daß man zu jedem Abschnitt von Zumsees Werdegang ein berühmtes literarisches Vorbild auffinden kann. Erst hier enthüllt sich dann die deutlich parodistische Absicht. Es handelt sich um »idées reçues«, wie sie Flaubert in »Bouvard et Pécuchet« aneinandermontiert. - Dieser Absicht ist auch Hans Wolffheim zum Opfer gefallen, wenn er von »absichtsvoll gesetzte(n) Huldigungen an den Geist des französischen Romans« spricht (im »Nachwort«, S. 579). Dies trifft auch auf die ähnlichen Argumentationen von Manfred Hahn zu (in dem oben zitierten Aufsatz, S. 375 f.). Überhaupt erinnern die vielen, sehr ernsthaften Kommentare zum Werdegang von Andreas Zumsee an eine Stelle aus Flauberts Briefwechsel, die Marianne Kesting zitiert: »Ich habe eine Tirade Homais' über Kindererziehung (die ich gerade schreibe) und die, wie ich glaube, wird lachen machen. Aber ich, der ich sie grotesk finde, bin ohne Zweifel hereingefallen, denn für den Bourgeois ist sie vollkommen vernünftig« (a. a. O., S. 29).
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Köpf zu erkennen, der allein durch die Tatsache, daß er als Mentor vorhanden ist, Zumsees scheinbare Naivität als Borniertheit entlarvt. Was daher in der dargestellten Wirklichkeit erscheinen kann, ist keineswegs das Deutschland der nachbismarckschen Ära - es ist allenfalls dessen »Geist«, gezeigt aber in einem »Spiegel«, der durch und durch aus vorgeformten, bereits literarisch geprägten Elementen besteht. Zeit- und Ortsangabe dienen ausschließlich dazu, daß die Gesellschaft sich in diesem Spiegel wiedererkennt - Garanten für die Glaubhaftigkeit der dargestellten Wirklichkeit als einem Bild der empirischen Wirklichkeit sind sie nicht.8
2.2. Der Kapitalismus als geistige Macht Bislang sind die Interpreten zumindest indirekt stets davon ausgegangen, eine Kritik am Kapitalismus erfordere zunächst eine kritische und vor allem ausführliche Darstellung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Sie sahen daher im Anwachsen von Darstellungen, die unmittelbar einer ökonomischen Analyse durch den Interpreten zugänglich sind, auch ein Anwachsen der ökonomischen Kritik Heinrich Manns9. Am Schlaraffenland-Roman ist zu zeigen, daß diese Annahme auf falschen Voraussetzungen beruht. Besonders illustrativ ist hierfür die Szene, in der sich Andreas Zumsees bisherige Gönner beraten, wie sie sich an ihm rächen können. Andreas hat zuvor Türkheimer dessen Geliebte, die »kleine Matzke«, abspenstig gemacht und hat dadurch gleichzeitig Frau Türkheimer, seine eigene Geliebte, betrogen. Die Türkheimers wollen nun Andreas seinen Verrat vergelten, wissen aber zunächst nicht, wie sie das tun können. Da kommt ihre Tochter Asta auf den Gedanken, Andreas eine kleine Stelle als Redakteur zu verschaffen und die beiden Delinquenten einfach zu verheiraten. Sie verspricht sich davon »Rache« genug. Türkheimer versteht die Absicht noch nicht ganz, er vermißt das eigentlich rächende Moment an dem Plan, so daß Asta ihre Vorstellungen noch einmal erläutern muß. Sie sagt:
8
W i e sehr Heinrich M a n n in der Überzeugung lebte, die Literatur einer Epoche sei deren wahrer Spiegel - so daß er später in seiner eigenen künstlerischen Produktion »Literatur« bewußt als ein Grundelement der Gesellschaftsdarstellungen verwenden konnte - , zeigt ein Brief an L u d w i g E w e r s v o m 8. 2. 1 8 9 0 , in dem es heißt: » W e r Heine gründlich studiert hat, der kennt jene ganze Zeit mit all ihrem rauschenden Freiheitsenthusiasmus und all ihrer bitteren, >arretierten< V e r z w e i f l u n g . U n d w e r Geibels Heroldsverse und übrige Zeitgedichte gelesen, der ist eingeweiht in jene ganze Periode voll erwartungsvoller Sehnsucht nach einem neuen deutschen Kaiserreich« (zitiert bei U l r i c h Dietzel, a. a. O., S. $ 7 ) .
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V g l . M a n f r e d H a h n : Z u m frühen S c h a f f e n . . ., S. 3 9 0 f.
Der Kapitalismus als geistige Macht
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»>(...) Kannst du dir nicht vorstellen, was es für eine Ehe werden wird? Mit seiner feinen Karriere ist es zu Ende, mit ihrer erst recht. Er hat ein Gehalt, das für einen ledigen Menschen mit kleinbürgerlichen Gewohnheiten zur Not ausreicht, dreihundert Mark meinetwegen. Darauf ruht der Hausstand, und mit einer so sparsamen, ordnungsliebenden, an geregeltes Leben gewöhnten Hausfrau, wie die kleine Matzke eine ist, kann es gar nicht fehlen. Nach einem Jahre ist ein skrofulöses Kind da. Die Eltern sind vertrottelt, zänkisch, voll verschämter Bettelgelüste. Wir begegnen ihnen im Tiergarten. Der Vater schiebt den Kinderwagen, hinterher schleppt das zerrissene seidene Kleid der Mutter. Sie trägt Stiefeletten mit Gummizug und einen wollnen Regenschirm.« (S. 354 f.) Diese A r t der »Rache«, die von allen unmittelbaren ökonomischen Pressionen bewußt absieht, absehen kann, weil sie weiß, daß die grundlegende ökonomische Pression, der die Gesellschaft stets unterliegt, ihre Wirkung nicht verfehlen wird, die sogar eine relativ sichere Versorgung gewährleistet - sie enthüllt schlagartig, daß die oberflächliche Gestalt der ökonomischen Situation gar nicht wesentlich ist, da die ökonomischen Bedingtheiten der gesellschaftlichen Situation zu einem wesentlichen Teil überhaupt nicht mehr in Erscheinung treten. Der ökonomisch Abhängige lebt stets - selbst wenn er sich unabhängig fühlt - unter einem Druck, der ihn als Menschen entstellt und der es dem Kapitalisten ermöglicht, sich in seiner persönlichen Rache befriedigt zu sehen.10 Daraus ist zu folgern, daß der Schlaraffenland-Roman von einer geschichtlichen Situation ausgeht, wo der ökonomische Druck des Kapitalismus für den einzelnen bereits nicht mehr spürbar zu sein braucht, weil er schon zur V o r aussetzung der allgemeinen, bereits als »normal« empfundenen Lebensbedingungen geworden ist. - Belege dafür, inwieweit das Individuum sich einem Druck ausgesetzt fühlt, den es aber gar nicht mehr als ökonomischen Druck empfindet, finden wir an mehreren Stellen, so zu Beginn des Romans. Andreas überlegt dort, welche Aussichten ihm sein Studium eröffnet, und kommt zu dem Ergebnis, daß er, weil er völlig mittellos ist, nur Hilfslehrer in seiner Heimatstadt Gumplach werden kann. Seine individuellen Fähigkeiten werden also völlig ungenutzt bleiben. Erst dieser Gedanke veranlaßt ihn, sein Studium aufzugeben und sich damit dem »Schlaraffenland«• zu nähern: »Sein zukünftiges Erbteil ging bei seinem Studium im voraus darauf. Merkwürdigerweise schloß Andreas hieraus nicht, daß er um so schneller auf das Examen loszuarbeiten habe, sondern daß seine Anstrengungen gar zu wenig lohnend seien.« (S. 5) 10
Diese Einsicht hat zur Folge, daß gerade auch die gesamte ideologisch-kulturelle Gestalt des »Schlaraffenlandes« als Ausfluß der ökonomischen Struktur interpretiert werden muß. Heinrich Manns Gesellschaftskritik, die in diesem Roman im wesentlichen tatsächlich ideologisch-kulturelle Kritik ist, ist deshalb keineswegs durch diese »Beschränkung« in ihrer Tragweite eingegrenzt, wie Manfred Hahn sagt (s. o.), sondern zeigt vielmehr ihre Bedeutung gerade dadurch, daß sie von der relativ groben Kritik der ökonomischen Basis zu der viel subtileren, bedeutungsvolleren Kritik des Überbaus in seiner Abhängigkeit von der Basis vorgeschritten ist.
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Dieser Gedanke ist nun keineswegs »merkwürdig«, sondern in der gegebenen Situation durchaus verständlich. Es sind die als unüberwindlich empfundenen allgemeinen ökonomischen Bedingungen, die den einzelnen in Lethargie und Passivität stürzen und ihm den Mut nehmen, sein Leben selbst zu bestimmen. Seine Unfreiheit ist eine Folge des Kapitalismus. 11 Die Schlaraffenland-Welt ist gleichzusetzen mit der geistigen Anpassung an die bestehenden ökonomischen Bedingungen; sie schließt ein, daß der Mensch von sich aus auf den Anspruch verzichtet, »Mensch« zu sein. - Die dominierende geistige Bedeutung des Kapitalismus wird besonders anschaulich in den Momenten, wo die selbstverständliche Anerkennung der bestehenden Ordnung durchbrochen wird. So hat Andreas zu Beginn seiner Laufbahn im Schlaraffenland das Glück, eine für ihn bedeutende Geldsumme zu gewinnen. Er steht in dem Konflikt, ob er mit dem Geld weiterspielen soll, wie es in dieser Welt offenbar üblich ist, oder ob er den Gewinn sichern soll: »Mußte es denn sein? O f f e n b a r w a r es wenig vornehm, den G e w i n n sogleich in die Tasche zu schieben und davonzugehen. Es konnte ihn hier unmöglich machen oder doch sein Ansehen vernichten. A l l e würden darauf aufmerksam werden. Es mußte also wohl sein. A b e r das Ganze? Unsinn! Plötzlich kam eine große Nüchternheit über ihn, seine Familiennüchternheit gewann rechtzeitig die Oberhand, die Nüchternheit seines Vaters, des Weinbauern, der jeden Groschen dreimal umgewendet hatte, bevor er ihn ausgab, und der froh gewesen war, wenn die Reben, die er gepflegt hatte wie Säuglinge, alle sieben Jahre einmal gut trugen. Zweitausend M a r k gutes erworbenes G e l d auf eine Nummer setzen, das heißt zum Fenster hinauswerfen? So dumm mochten die Berliner sein. D a hörte jede gesellschaftliche Rücksichtnahme auf.« (S. 7$ f.)
Die Entscheidung, die Andreas hier trifft, hat prinzipielle Bedeutung. Sie bedeutet, daß er zumindest ahnungsweise sich bewußt wird, daß die Schlaraffenland-Welt eine depravierte Form von Lebenswirklichkeit ist. Dieses Bewußtsein kommt als eine Erinnerung an die ererbte Sparsamkeit seiner Vorfahren, der Weinbauern. Das Pathos, mit dem Heinrich Mann diesen Moment ausfüllt, beweist, daß er emphatisch diese noch geordnete, ständische Welt - als Welt einer lebendigen Verwirklichung von Normen — bejaht 12 . Die Schlaraf11
M a n kann an dieser Stelle bereits erkennen, daß die Gesellschaftskritik Heinrich Manns, obwohl sie sehr stark von sozio-ökonomischen Analysen getragen ist, in ihrem K e r n stets idealistisch bleibt. Sie gipfelt nämlich in der gerade aufgewiesenen Problemstellung: der Frage, ob das Einzelindividuum sich »opportunistisch« den überpersönlichen »Zwängen« anpaßt und damit auch die Orientierung an überhistorischen Wertvorstellungen aufgibt oder ob es sich entschließt, im »Kampf« gegen diese Bedingungen - das Beispiel dafür ist Henri Quatre - die Gültigkeit dieser Wertvorstellungen z u beweisen. So kommt es dann zu dem in sich widersprüchlichen, deterministisch-indeterministischen Denken, das Manfred H a h n in dem zitierten A u f s a t z »Heinrich Manns B e i t r ä g e . . . « (insbesondere S. 1008 ff.) u. E. richtig analysiert.
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Deutliche Belege finden w i r in Heinrich Manns Beiträgen zu der Zeitschrift »Das Zwanzigste Jahrhundert« (vgl. dazu den zitierten A u f s a t z v o n Manfred Hahn),
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fenland-Welt ist dagegen dieser Wirklichkeit »entwurzelt« . Was Andreas aber nicht erkennt, ist, daß er sich durch den Entschluß zur Sparsamkeit keineswegs der Schlaraffenland-Welt grundsätzlich entzieht; vielmehr bejaht er sie in einem ganz grundlegenden Prinzip: der Anerkennung der ökonomischen Rationalität. Kein Wunder deshalb auch, daß sein Handeln im »Schlaraffenland« Anerkennung findet. Das erklärt auch, warum dieses Handeln für sein eigenes Bewußtsein folgenlos bleibt: Er rebelliert, aber vergißt, daß diese »Tugend« zum sparsamen Denken einer Welt entstammt, die sich nur durch sie gegen den Kapitalismus ihre Selbstbehauptung erkämpft. Macht er die Tugend nun selber wieder zu einer Geste, nicht zum Inhalt seiner Selbstbestimmung, dann unterwirft er sich damit wieder der Geltung des Kapitalismus. Die Welt seines Vaters versinkt in diesem Augenblick. In engster Verbindung damit steht ein besonders eindrucksvolles Phänomen, das vielfach in Romanen Heinrich Manns zu beobachten ist. Es ist möglich, daß allein schon die Berührung mit der Welt der Arbeit die Personen in ihrem Empfinden verändert. So irrt Frau Türkheimer, nachdem sie Andreas mit der kleinen Matzke überrascht hat, völlig hilflos in einer einfachen Droschke durch die Arbeiterviertel Berlins. Der Gedanke taucht auf, sich an Türkheimer - nicht dem geliebten Andreas - zu rächen und die Scheidung zu verlangen. In diesem Augenblick, wo Denken, Liebe und Gefühl ganz verschmelzen, läßt sie die Droschke wenden und fährt nach ihrem Zuhause in die Hildebrandtstraße. Dort zeigt sich dann eine erneute Veränderung: » A b e r als ihr müdes G e f ä h r t die Potsdamer Straße erreicht hatte, begann sie das U n ternehmen schwieriger zu finden. In der Königin-Augusta-Straße hatte sie beinahe schon auf die Scheidung verzichtet. W a s hätte A s t a zu den Streichen ihrer Mutter gesagt? A s t a hätte recht gehabt. U n d v o r ihrer Haustür, den Finger auf dem K o p f des Läutwerks, sagte Adelheid sich, daß man unter den Fabrikschlöten und Arbeiterkasernen, woher sie kam, anders fühlte und dachte als in der Hildebrandtstraße. E s w u n derte sie, daß sie sich v o n Leidenschaften hatte forttreiben lassen, die in ihrer H e f t i g keit beinahe volkstümlich w a r e n ; sie schämte sich ein wenig.« (S. 3 4 4 )
Während nun im Schlaraffenland-Roman diese Veränderung eines Menschen unter dem Einfluß der Arbeitswelt beschrieben wird, wird sie in »Professor Unrat« unmittelbar dargestellt. Dort ist es die Hafenkneipe, der »Blaue
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aber auch in den späteren Romanen noch, man denke nur an das Auftauchen der lübischen Kaufleute in den Henri-Quatre-Romanen. U . E . kann kein Z w e i f e l bestehen, daß Heinrich M a n n »Les déracinés« ( 1 8 9 7 ) v o n Barrés, entgegen der anderslautenden Meinung v o n Banuls (S. 2 5 , A n m . 39), gekannt hat. - V g l . zum Aspekt der europäisch-übernationalen Bildung, die sich Heinrich Mann schon in jungen Jahren angeeignet hat und aus der heraus solche Beziehungen ohne weiteres zu erklären sind, den A u f s a t z v o n Bengt A l g o t Sorensen: D e r »Dilettantismus« des Fin de siècle und der junge Heinrich Mann. - I n : Orbis litterarum X X I V ( 1 9 6 9 ) , S. 2 5 1 - 2 7 0 .
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E n g e l « , die b e w i r k t , d a ß der T y r a n n u n d M e n s c h e n f e i n d »abrüstet« u n d sich in den e i n f a c h e n , u n g e s c h l a c h t e n M e n s c h e n -
wenigstens f ü r M o m e n t e -
zu-
r ü c k v e r w a n d e l t , der er u r s p r ü n g l i c h e i n m a l w a r . I n b e i d e n F ä l l e n steht die Welt
der
Arbeiterviertel
in
bewußtem
Gegensatz
zum
bürgerlichen
Milieu.14'15 D a s schlimmste Beispiel f ü r die d e p r a v i e r e n d e K r a f t des K a p i t a l i s m u s aber ist, d a ß A n d r e a s Z u m s e e l e t z t l i c h die R a c h e des S c h l a r a f f e n l a n d e s g a r nicht w a h r n i m m t . I n seiner S t e l l u n g als R e d a k t e u r des »Berliner N a c h t k u r i e r s « , in der er schließlich v e g e t i e r t , g l a u b t er sich a m Z i e l seines L e b e n s w e g e s : »>Berliner Nachtkurierc So hieß die erste Haltestelle auf seiner Fahrt durch das Schlaraffenland, und so hieß die letzte. D i e Reise w a r beendet. Zuweilen, wenn er über den Gegenstand nachdachte, stellte er sich die Frage: >Wozu?< Er antwortete darauf: >Wie o f t bedienen sich N a t u r und Schicksal großer Mittel, um ein verhältnismäßig unbedeutendes Resultat zu erzielen. Ich bin Modelöwe, Berühmtheit und, meinen Renditen nach, fast schon Millionär gewesen und habe jetzt dreihundert Mark monatlich. A b e r die höhere Absicht in dem allen w a r : ich sollte nicht ein wissenschaftlicher Hilfslehrer am Progymnasium zu Gumplach werden, sondern Redakteur des >Nachtkurier< - was denn doch ein Unterschied ist.Ich denke, w i r kehren umSie sind gallig und unglücklich, mein Lieber, wie Ihre Satire - und die stimmt nicht mal. Ihr Held geht inmitten der Jobberweiber unter. J a , meinen Sie, daß jemand, der wert war, zu leben, überhaupt untergeht? Ohne Unbescheidenheit: Bin ich selbst denn untergegangen? Man unterhält sich, man läßt sich der Wissenschaft zuliebe mit den Leuten im Schlaraffenland ein, man sammelt Dokumente über sie. Himmel, was für Dokumente und was für Leute!Kennen Sie das, Kokott? Machen Sie mal Ihre Judenfratze!< >Geben Sie mir Ihren Klemmer, Herr Generalkonsul, erwiderte Kokott. Er drückte sich das Glas auf die plötzlich plattgewordene Nasenspitze, schob die Lippen wulstig vor und zog die Stirn in schmutzige Falten. Sein Gesidit bekam unversehens einen schlaff gierigen, besorgten und hinterhältigen Ausdruck. Türkheimer schüttelte sich. >Bravo Kokott! Sie haben ein schönes Talent.< >Ich habe viel Talent, aber leider kein Geld.Oh, Herr Generalkonsul, ich schulde Ihnen viel, viel mehr, als Sie selbst wissen können. Was die Bekanntschaft eines Genies der Tat wie Sie für einen Dichter wert ist, das läßt sich gar nicht ausrechnen! Von gefälschten Preßnachrichten, Irreführung der öffentlichen Meinung und ausgeplünderten Bevölkerungsmassen zu faseln, das überlasse ich den Moralisten. Für mich überwiegt in Ihrer Individualität und in Ihrer Wirksamkeit das Ästhetische. Sie vergönnen uns geschwächten Modernen, einen Eroberertypus, einen Renaissancemenschen zu schauen!«« (S. 2J4) »>Eine Laune, ein Wink von Ihnen, und der oder jener ist ruiniert, eine Unmasse Familien geraten ins Elend oder werden glücklich, je nachdem es Ihnen gefällt; notleidende Stände gehen ganz zugrunde oder dürfen ihr Dasein fristen, und die soziale Unzufriedenheit nimmt ab oder wächst. Wenn Sie eine ausgestopfte Uniform tragen würden, Herr Generalkonsul, mit vielen goldenen Tressen, Schnüren, Knöpfen und Quasten und einen Helm mit wild wehendem Federbusch auf dem Haupte, dann würden alle sehen, wo die Macht sich befindet. So aber traut der blöde Pöbel sie noch immer jenen anderen, Buntgekleideten zu, die bloß Theater spielen. Reden halten, Orden verleihen, feierlich frühstücken und Ehrenjungfrauen auf die Stirne küssen, öffentlich beweihräuchert und hinterrücks verulkt, von der Presse geärgert und von Anarchisten ermordet werden: das alles käme tatsächlich Ihnen zu, Herr Generalkonsul!«« (S. 2j6) 28
In dem zitierten Aufsatz. - Das Mißverständnis, den »Renaissancemenschen« Türkheimer als ein Idol Heinrich Manns zu verstehen, zieht sich durch die gesamte Forschung. Allein Manfred Hahn macht hier eine Ausnahme. Dadurch wird »Im Schlaraffenland« beinahe völlig mißverstanden und so die Schärfe der Kritik am Kapitalismus in ihren wesentlichsten Ausgipfelungen gar nicht wahrgenommen. Der »Renaissancemensch« ist keine Idol Heinrich Manns - obwohl dieser sicherlich einen »natürlichen«, »gesunden« Menschen zu dieser Zeit, aber auch später, verehrt hat - , sondern der »Schwache«, in diesem Fall Andreas Zumsee, aber viel ausgeprägter z. B. Heßling, projiziert seine »Schwäche« auf das ihm überlegene, zumeist vitalere Gegenüber und verehrt dieses Gegenüber als den »Starken«. So kommt es zu den höchst eigentümlichen, wechselseitigen Bezogenheiten des »Starken« und des »Schwachen« in Heinrich Manns Romanen, ein Phänomen, das besonders stark in »Die Jagd nach Liebe« ausgeprägt ist. Wenn daher die Verehrung des »Starken« die dominierende Ideologie in Heinrich Manns Romanen ist, so daß man meint, hier eine Uberzeugung Heinrich Manns zu erkennen, dann deshalb, weil ein großer
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»Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
Hier sind ganz verschiedene Aussagen miteinander verknüpft. Einmal handelt es sich um die Richtigstellung, daß die Macht im Staate nicht dort liegt, wo ein höfischer Prunk entfaltet wird, sondern bei Männern wie Türkheimer. Der Prunk des Hofes ist nach Aussage Heinrich Manns also auch eine Form der Komödie. - Vor allem aber mischen sich in Andreas' Worte Züge einer unverhohlenen, vitalistischen Bewunderung der Macht. Abgesehen von »In einer Familie« ist es das erste Auftreten der Dialektik von stark/schwach, die vielen Werken Heinrich Manns ihr besonderes Gesicht verleiht. Nach den Worten des Nietzsche-Essays liegt dem zugrunde, daß der »Schwache« als »Kranker« in der bloßen Gesundheit bereits die »Vollendung« sieht, zu der die Zeit nicht fähig ist; die angebliche »Stärke« des Gesunden ist daher ein Symptom der empfundenen Schwäche. Im »Untertan« wird in dieser Hinsicht von der »romantische(n) Prostration vor einem Herrn« (S. 216) gesprochen und damit die Erscheinung politisch, d. h. geschichtsphilosophisch, gesehen. Heßling vor allem ist der typische Vertreter des »Schwachen« in der deutschen Gesellschaft, der das vitale Leben (Mahlmann, Wulckow u. a.) bewundert wie fürchtet, masochistische Selbstqual sucht und aus dem ambivalenten Verhältnis zur Stärke deshalb gegenüber den Schwächeren selber gewalttätig wird. Ein charakteristisches Indiz für diese »Schwäche« von Andreas Zumsee, das er mit Heßling gemein hat, ist z. B. seine Furcht vor der backfischhaft-kokettierenden Natürlichkeit junger Mädchen (S. 219 f.) 29 . Das Wort vom »Renaissancemenschen« und »Genie der Tat« Türkheimer stellt daher auf keinen Fall die Meinung Heinrich Manns über Türkheimer dar. Andreas Zumsee gebraucht es, und in einer Weise, die für den »Schwachen« charakteristisch ist, ästhetisiert er mit ihm die brutale Machtentfaltung des Kapitalismus. Hier liegt in Wahrheit eine ausgesprochen klare Absage Heinrich Manns an den Ästhetizismus der Schlaraffenland-Gesellschaft vor. Auch könnte Türkheimer im Sinne Heinrich Manns niemals der »wahre Machthaber« sein, als der er hier apostrophiert wird. Nach Heinrich Mann liegt die »Macht« des Kapitalismus in ihm als ökonomisch-sozialem System begründet. Selbst der Kapitalist ist daher nur ein Verwalter dieser Macht. Der äußere, »ästhetische« Ausdruck dieser Tatsache ist das Komödiantentum des Kapitalisten. Als bloßer »Verwalter« der Macht weiß der Kapitalist von sei-
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Teil der Romane aus der Perspektive des »Schwachen« geschrieben ist und der Leser sich von diesen irreführenden Wertungen erst befreien muß, will er zur »Objektivität« des Dargestellten und damit zu den Ansichten Heinrich Manns gelangen. Sogar die Lebensführung der Violante von Assy, einer Gestalt, die Heinrich Mann sicherlich bewundert, ist nicht ohne weiteres mit den Überzeugungen Heinrich Manns gleichzusetzen. Wäre es nicht so, würde es sich erübrigen, von Heinrich Mann als einem »Moralisten« zu sprechen. Untertan, S. 234 ff., 238.
D a s Komödiantentum
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ner tatsächlichen »Schwäche«; um sie sich nicht einzugestehen, flüchtet er in ein Komödiantentum, das ihm, aufgrund des Beifalls, den er erhält, die Illusion der Macht verleiht. Andreas Zumsees Worten fehlt also in Wirklichkeit jede tatsächlich kritische Pointe. Er hat nichts Grundsätzliches gegen das Komödiantentum in dieser Gesellschaft einzuwenden; er will es nur dort haben, wo es ihm persönlich angemessener erscheint: nicht beim antiquierten Königtum, sondern bei den Vertretern der »Moderne«, bei den Bankiers und Industriellen. Es zeigt sich damit, daß »Komödiantentum« und »Schwäche«, zwei in Heinrich Manns Romanen immer wieder auftretende Erscheinungen, keineswegs isolierte Phänomene sind, wie es immer wieder, zumindest indirekt, unterstellt worden ist.30 Es sind für Heinrich Mann »Krankheitssymptome« der Gesellschaft, Erscheinungsformen einer umfassenden Krise der Individualität, wie sie durch die Industrialisierung, also durch die volle Entfaltung des Kapitalismus, heraufgeführt worden ist. Die »ästhetische« Kritik ist in Wirklichkeit Kritik an der bedingenden Ursache: historische Kritik. - Dieser tiefere Zusammenhang, der für das Verständnis von Heinrich Manns Romanen ungemein wichtig ist, wird vor allem in zwei Gesprächen deutlich, die im »Untertan« Wolf gang Buck mit Heßling führt. Buck, als ein »dilettantischer« Analytiker 31 selber eine charakteristische Gestalt des »Komödiantentums«, zeigt, daß die Entfaltung des Kapitalismus im Grunde die Epoche des historischen Individualismus beendet und das »Schauspielen« als Ausweg aus der entstandenen »Determinierung« des Individuums eröffnet hat. - Wie Zumsee geht Buck in seiner Argumentation dabei zuerst auf die realen Veränderungen der Machtstruktur ein. Er setzt an bei dem Ressentiment, das Wilhelm II. ursprünglich sogar gegenüber den Reichen empfunden hatte: »>Erinnern Sie sich nicht, wie er (Wilhelm II. - F . T.) Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärischen Schutz entziehen? E r hat, wenigstens anfangs, grade solche Ranküne gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter wenn auch natürlich aus abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, daß auch andere M a c h t haben.«< (S. 7 2 )
Dieses Ressentiment hat seinen Ursprung in einer, wie es Buck - mit Heinrich Mann - darstellt, objektiven Tatsache: daß nämlich durch die neu entstandene Machtstruktur die Einzelperson nicht mehr eine historisch entscheidende Kraft 30
W i r zitierten hierzu bereits das W o r t v o n Michael Neriich, das Komödiantenmotiv könne auf eine »mechanische« Nietzsche-Lektüre zurückgehen.
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D e r Begriff »Dilettantismus« hat sich in der Forschung in einer etwas unklaren Terminologie als Zusammenfassung bestimmter psychischer Merkmale einer in Heinrich Manns W e r k zentralen Personengruppe eingebürgert. Die entsprechende analytische Theorie für dieses Phänomen hat Heinrich Mann v o r allem von Paul Bourget entlehnt. W i r werden auf dieses Problem an anderer Stelle noch genauer eingehen. - V g l . Banuls, S. 1 5 f f . , und Sorensen, a. a. O., S. 2 5 1 f f .
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»Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
sein könne 32 . Bismarck und Lassalle, Protagonisten zweier völlig verschiedener Machtgruppierungen, seien heute beide nicht mehr möglich, weil einmal, wie es etwas später heißt (S. 73), das Volk sich selber organisieren könne, und zum anderen ein Krieg nie mehr stattfinden werde. Trotzdem, so sagt Buck, wolle die heutige Generation sich »ausleben«: »> ( . . . ) jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. ( . . .) ( . . . ) Unsere Zeit, bester Zeitgenosse, ist nicht tatbereit. Um seine Erlebensfähigkeit zu üben, muß man vor allem leben, und die Tat ist so lebensgefährliche« (S. 187)
Das gefundene Surrogat ist die »Sensation«, vor allem nach dem französischen Sprachgebrauch als »Empfindung« verstanden. Die »Empfindung der Tat« tritt daher an die Stelle der tatsächlichen Tat. Damit ist dann das Schauspielertum historisch etabliert. Wo die Tat gespielt wird, verwandelt sich die geschichtliche Wirklichkeit in eine Bühne, wo der Handelnde ein »Darsteller« ist und der Nichthandelnde das für den Darsteller notwendige »Publikum«. »Darsteller« und »Publikum« bedingen sich wechselseitig: »> ( . . . ) Auch der Fall Lück ist nur wieder eine Geste. Sinkt die Hand, ist alles wie zuvor: aber Darsteller und Publikum haben eine Sensation gehabt. Und nur darauf, mein lieber Heßling, kommt es uns allen heute an. ( . . .)'n B a f f z e ! N e e , w a s f ü r 'n B a f f z e . Immer schöne Worte, wenn er einem begegnet, und hinterm Rücken nichts als grober U n f u g . H a b ich ihn nicht aufgefüttert? ( Z u seiner Frau hin - F . T.) S a g es selbst, habe ich ihn nicht eigenhändig aufgefüttert? M i t 'ner gewissen Liebe sogar. U n d das habe ich nu von meinen Gefühlen. S o 'n ärmlicher Mensch, w a s ist er denn? Dich hat er amüsiert, midi hat er amüsiert, alle Leute hat er amüsiert, und jetzt meint so 'n B a f f z e , er dürfte sich im Ernst benehmen wie 'n feiner M a n n und junge Mädchen verführen. H a t ihn denn jemand ernstgenommen? H a s t du ihn ernstgenommen? H a b ich ihn ernstgenommen? E r muß doch wissen, w e r er ist, so 'n Spaßmacher, so 'n Bajaz, so 'n magerer Zeitvertreib! « (S. 349 f.) 36
Hier liegt einer der wesentlichsten Fehler der bisherigen Forschung: Sie identifizierte bestimmte künstlerische Schöpfungen mit politisch-gesellschaftlichen A u f f a s -
Andreas Zumsee
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Das ist nicht nur ein Lamento von Menschen, die sich hintergangen fühlen: Sie wissen tatsächlich nicht, wen sie vor sich gehabt haben. Der Grund ist darin zu suchen, daß sie wohl ein Bild von seiner Funktion haben, nicht aber von ihm selber: Er ist ein »Zeitvertreib«, er »amüsiert«, eine Art »Bajaz« also ein Spielzeug dieser Gesellschaft. Die Perfidie dieser Gestalt, seine absolute UnZuverlässigkeit ist ihnen entgangen. Die anderen Gestalten haben mehr Gesicht, sind harmloser und gutmütiger. Türkheimer strahlt sogar Bonhomie aus. Kaum jemand ist ein absolut »schlechter« Mensch. Andreas ist das. In ihm tritt jene »Irrationalität« des Schlaraffenlandes in Erscheinung, scheinbar ohne Prinzip einmal Belohnungen, einmal Strafen zu verteilen, der aber tatsächlich eine strenge Regelmäßigkeit zugrunde liegt. In Andreas wird deutlich, daß die Schlaraffenland-Gesellschaft nach ingeniös beobachteten Prinzipien konstruiert ist. Das Wort »Bajaz« erinnert an eine Charakterisierung, die mehrere Personen in ähnlicher Formulierung auf Andreas anwenden: Sie nennen ihn einen »Pulcinell«37. Der Schriftsteller »Klempner« entdeckt die Ähnlichkeit bei einem Vergleich mit einer Plastik. Er trägt daraufhin einen ganzen Vortrag über die Eigentümlichkeiten der Pulcinella-Figur vor: »Klempner begann sogleich seine weinselige Beredsamkeit über die Bedeutung zu v e r breiten, die der Pulcinella-Figur in der Geschichte der Menschheit zukam. E r sah in ihr den komisch aufgefaßten T y p u s des reinen Naturkindes, das ohne moralisches Vorurteil an die Dinge herantritt, zu Niederträchtigkeiten in seiner Unschuld ebenso geneigt wie zu Heldentaten, und er verglich sie mit Parsifal und Siegfried, die denselben Charakter von der tragischen Seite darstellen. Sein Blick glitt verschleiert und unsicher zu Andreas hinüber, er schien plötzlich eine Entdeckung zu machen und rief aus: >Sie, mein Lieber, haben eigentlich w a s davon! ( . . . ) W ä r e das noch eine Macht, die nicht bedroht wäre? Erst wenn es einen U m sturz gibt, fühlt man sich. W a s würde aus ihm (Wilhelm II. - F . T.), wenn er sich sagen müßte, daß die Sozialdemokratie gar nicht ihn meint, sondern höchstens eine etwas praktischere Verteilung dessen, w a s verdient wird.erstklassige< Behandlung den Reichen vorbehalten sein. Die deutsche Sozialdemokratie sieht v o n diesen Bedingungen allzu leicht ab; bei ihr ist von Gleichheit so bedauerlich wenig die Rede wie v o n Freiheit. Ihre A r t , zu sein, und ihre K r a f t , zu wirken, hängen zusammen mit der Kasernenzucht. In der chauvinistischen und reaktionären Geistesperiode, mit der Deutschland noch fertig werden soll, ist auch sie befangen genug, um ein W o r t der Anerkennung zu finden f ü r ein rückständiges Regime, das eine annehmbare soziale Gesetzgebung zuläßt. K a n n sie das Königthum sich nutzbar machen, so verliert es für sie den Stachel. Sie ist hypnotisiert v o n der Geldfrage, v o n der A r b e i t e r - G e l d f r a g e ( . . . ) Sie wissen selbst: eine geschickte Tyrannei kann fette Unterthanen haben; aber immer nur Unterthanen« (in: Die Z u k u n f t . Berlin. J g . 1 3 , N r . 2, 8. Oktober 1904, S . 67 f., wiederabgedruckt in: K a t a l o g , S. 7 8 f.).
Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz«
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tisch« dieses Vorbild Napoleons erreichen wollten. »Komödiantentum« wäre demnach eine überhistorische ästhetische Kategorie, um ein historisch besonderes Verhalten moralisch-sinnlich zu qualifizieren. Es gehörte einem Ensemble ähnlicher »Formen« an, die dazu dienen, eine Wirklichkeit ästhetisch zu bezeichnen. Es ist in einer ersten Periode der Heinrich-Mann-Forschung lange Zeit vermutet worden, Heinrich Mann würde in seinem frühen Werk bereits von einem linkskritischen Standpunkt seine zeitgenössische Umgebung beurteilen. Tatsächlich ist dieser Standpunkt jedoch rechtskritisch und bleibt es in wesentlichen Momenten auch in späteren Teilen des Werkes, wenn in diesem Standpunkt auch bereits von Beginn an wesentliche »linke« und liberale Positionen beinhaltet sind. - Zur Kennzeichnung dieses Standpunktes sei eine Passage aus »In einer Familie« zitiert. Sie ist besonders aufschlußreich, weil darin zwei Angelpunkte angesprochen werden, die auch für die politische Beurteilung des im Schlaraffenland-Roman Dargestellten von Bedeutung sind: die Pöbelherrschaft des Geldes und die sog. »reelle Pöbelherrschaft«: »Wellkamp seinerseits war in der That »Reaktionärs und zwar in der besonderen Weise, wie diese Richtung der Gesinnungen neuerdings Leute, welche die mehr verborgenen Zeitströmungen zu fühlen, seelische Organe besitzen, nach sich zieht. Die Reaktionäre dieser A r t werden häufiger, je mehr in neuer Zeit der Liberalismus seinen ehemaligen Ruf, die Partei der Gebildeten zu sein, verliert. Vor dem Niedergang des Liberalismus nun, seiner Auflösung in die Pöbelherrschaft des Geldes, schrecken jene feiner organisierten und meist ästhetisierenden Menschen ebenso heftig zurück, als vor dem Hereinbrechen der ihre Instinkte nicht weniger verletzenden reellen Pöbelherrschaft. Dabei trifft sie, mit ihren Sympathien für eine vornehme, größer gesinnte Zeit, der Fluch der seltsamen Ironie, daß ihre aus eben dem Liberalismus, den sie bekämpfen, hervorgewachsene Bildung ihnen nicht gestattet, an die Möglichkeiten zu glauben, als würde sich die Welt heute, mit einer willkürlichen Unterbrechung ihres unvermeidlichen Entwicklungsganges, auf einen einmal überwundenen Kulturzustand zurückführen lassen. So sind sie nichts weniger als ursprüngliche, geborene Konservative. Ihr Verhältnis zu diesen letzteren wird vielmehr dadurch bezeichnet, daß sie nicht >nochaufs neue< konservativ sind.« (S. 6 1 )
2.8. Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz« Mit der Behandlung des »politischen Komödiantentums« haben wir die Darstellung der Phänomene, die für die Beurteilung der Schlaraffenland-Gesellschaft analytisch bedeutsam sind, im wesentlichen abgeschlossen. Es ist nunmehr möglich, genauer auf die Gesamtgestalt der dargestellten Gesellschaft einzugehen. Dabei steht naturgemäß die Frage im Vordergrund, was in diesem Roman der eigentliche künstlerische und politische Gegenstand der Darstel43
So in »Ein Zeitalter wird besichtigt«. Ganz entsprechend lautet auch die Wertung über Napoleon III. in »Eugenie oder Die Bärgerzeit«•.
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»Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
lung sei. Diese Frage ist normalerweise, was die späteren Romane angeht, von geringem Interesse, weil sie sich dort im Rahmen einer viel spezifischer angesprochenen historisch-gesellschaftlichen Situation von alleine beantwortet. Für den Schlaraffenland-Roman, wo das nicht zutrifft, muß hier noch eine Antwort gefunden werden. Es ist hier zuerst notwendig, auf den »artistischen« Aspekt des Werkes einzugehen. - Die individuelle »Gestalt« des »Schlaraffenlandes« tritt als ein Ensemble verschiedenartiger, jedoch sinnvoll aufeinander bezogener »Formen« zutage. Diese »Formen«, Manifestationen von moralisch zu beurteilenden Anomalien der menschlichen Erscheinung oder des menschlichen Verhaltens: »Komödiantentum«, psychisch-physische »Schwäche« u. a., spiegeln auf verschiedenen Ebenen in einer jeweils spezifischen Weise, die zudem der Besonderheit dieser Gesellschaft als dem Medium der Darstellung angepaßt ist, einmal die Gleichartigkeit der Depravation von allem, was im »Schlaraffenland« lebt und geschieht, zum anderen aber auch die gleichgeartete Bedingtheit all dieser Depravationen. Sie veranschaulichen damit die Tatsache, daß es sich um Auswirkungen einer besonderen, historisch-gesellschaftlich fixierten Konstellation handelt. Das letztere wird dadurch ersichtlich, daß die verschiedenen Phänomene untereinander in konsistentem Zusammenhang stehen, individuelles »Komödiantentum« z. B. ebenso ein »Resultat« psychischer Erkrankung wie ökonomische Pression wie moralischer Korruption sein kann. - Die gleichartige Bedingtheit aller Erscheinungen weist auf die historische Gesetzlichkeit hin, die der Darstellung zugrunde liegt; die Gleichartigkeit der ästhetischen »Formen«, die das so Bedingte aufweist, zeigt die gleichgeartete moralische Beurteilung, der diese Wirklichkeit als Gesamtheit unterliegt. Analytisch deutbare Darstellungsweise und moralische Charakterisierung sind auf diese Weise zu einer ästhetisch-moralischen »Sprache« verbunden, die keineswegs bloß Wirklichkeit beschreibt und analysiert, sondern völlig autonom Wirklichkeit auf analytische Weise darstellt. Der Eigenart dieser »Sprache« gemäß bilden Form, Inhalt und moralische »Gestalt« des Dargestellten eine erkennbare Einheit. - Wir sind auf diesen Tatbestand bereits im Eingangskapitel eingegangen. 44 Es stellt sich nichtsdestoweniger die Frage, was die erkenntnismäßige Basis für die so eruierte, mit prägnanten Zügen in Erscheinung tretende »Gestalt« 44
Die Überlegungen machen deutlich, daß »Im Schlaraffenland« keineswegs ausschließlich wahrnehmungsästhetisch aufgebaut ist, also nur die moralische Gestalt der darzustellenden Gesellschaft ästhetisch »abbildet«, sondern aus einer sehr subtilen Mischung »darstellender« und »kommentierender« Elemente besteht, wobei in bezug auf den Gesamteindruck und die Grundelemente der Komposition die »darstellenden« Elemente überwiegen. Das notwendig globale Urteil im Einleitungskapitel wird damit im Fall des Schlaraffenland-Romans relativiert.
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Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz« der moralistisch-analytisch
betrachteten
sozialen Wirklichkeit ist, die im
Roman als das »Schlaraffenland« bezeichnet ist. Kein Zweifel kann nämlich nach den soeben durchgeführten Überlegungen bestehen, daß Kapitalismus, psychisch-physische »Schwäche«, »Komödiantentum« und anderes, das hier genannt werden müßte, nicht die Ursachen des »Schlaraffenlandes« sind, sondern ausschließlich seine äußeren Merkmale. - Die Antwort auf diese Frage wird dadurch erleichtert, daß eines der genannten »Symptome« der Schlaraffenland-Gesellschaft, die Theorie von der psychischen »Schwäche« des modernen Menschen, in seiner Herkunft genauer bestimmt werden kann, ebenso die Herkunft des moralischen Urteils, daß die diagnostizierte »Schwäche« ein soziales »Krankheitssymptom« sei: Heinrich Mann entlehnt beides der Dilettantismus-Theorie Paul Bourgets. In Heinrich Manns Jugendroman »In einer Familie«, der Paul Bourget gewidmet ist und der sich offenkundig weitgehend auf dessen Repertoire analytischer Techniken und Theorien stützt, finden wir eine ausführliche Erläuterung dieser »Krankheit«, von der der Held des Romans, Wellkamp, befallen ist: »Wenn zu gleicher Zeit der Egoismus seiner (i. e. Wellkamps - F. T.) Lebensführung nur immer noch rücksichtsloser wurde, so zeigte dies, daß auch bei ihm eine Krankheit des Willens zum offenen Ausbruch gelangt war. Nur außergewöhnliche Charaktere werden in unserer unfruchtbar kritischen und zu schlichten Handlungen unfähigen Zeit ganz frei von dieser seelischen Krankheit sein, welche in ihren Opfern die Empfindsamkeit gegen sich selbst, die Selbstkritik zu immer schwächlicherer Verfeinerung ausarten läßt, während zugleich die Fähigkeit, ihre Handlungen nach ihrer besseren Einsicht zu lenken und zu regeln, in ihnen immer mehr erlahmt. Bei weicheren, von vornherein zur Reflexion und zum Empfindungsdilettantismus bestimmten Naturen pflegt die Krankheit des Willens zu einem vollständigen Aufgeben der Initiative zu führen; die Selbstkritik nimmt eine so virtuose Vielseitigkeit an, daß die einfachste Entscheidung nach einer bestimmten Seite hin dem Betroffenen unmöglich wird und sein Leben sich in einer ewig schwankenden Ratlosigkeit verliert.« (S. 130 f.) Diese Beschreibung könnte sich - in leicht variierter Weise - bereits auf spätere Gestalten Heinrich Manns beziehen: auf Claude Marehn
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wie auf Heß-
ling oder Wolfgang Buck, immer vorausgesetzt, daß es in diesen Romanen solche kommentierenden, auktorial erzählten Passagen gäbe. Kein Zweifel aber kann bestehen, daß hier der Ursprung zur Darstellung dieser Gestalten liegt.46 45 46
Claude Marehn: die Hauptgestalt von »Die Jagd nach Liebe«. Diese Tatsache ist auch von der Forschung gesehen worden; nicht oder nur ungenügend ist jedoch erkannt worden, daß in diesen Bereich ein zweites Problem hineinreicht, wodurch, wie so oft bei Heinrich Mann, die Tatbestände noch weiter kompliziert werden: Es ist das allgemeine Problem der energetischen Psychologie. Der »Dilettant« ist eine eindeutig nach einer energetischen Psychologie analysierte Gestalt, indem seine charakteristische »Schwäche« auf einen Verlust von Willensenergien und ein Überwiegen von Gefühlsenergien zurückgeht. - Heinrich Mann kennt in seinem Werk aber nicht nur den »Dilettanten« als Beispiel einer
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»Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
W a s aus der zitierten Passage noch nicht in vollem Maße deutlich w i r d : der »Dilettantismus« als Krankheit der Psyche erwächst aus dem unmittelbaren Einwirken als zeittypisch erkannter Bewußtseinsströmungen wie Kritizismus, »Empfindungsdilettantismus« und Fin-de-si^cle-Stimmungen. A l s solche korrespondiert er mit anderen »Krankheiten« der Gesellschaft: mit Kapitalismus, Wissenschaftsgläubigkeit - gedacht ist z. B. an den Darwinismus als Prinzip einer umfassenden, »wissenschaftlichen« Erklärung der Formen menschlichen Zusammenlebens - und entsprechenden anderen, »materialistischen« Geistesströmungen. D i e Dilettantismus-Theorie basiert also bei Bourget - und so auch bei Heinrich Mann in »In einer Familie« - auf einer umfassenden Zeit- und Gesellschaftskritik. A u f den Roman angewandt, wird sie nun in der H a n d des analysierenden und seinen Gegenstand auch kommentierenden allgegenwärtigen Autors z u m zentralen Vehikel seiner Gesellschaftskritik, indem dieser sie sowohl bei der Beschreibung seiner Personen verwendet als auch bei deren Beurteilung in seinen Kommentaren. Der Roman Bourgets ist - mit Außen- und
solchen energetischen Psychologie; auch alle anderen wesentlichen Gestalten sind nach solchen Prinzipien gebildet. Da sind die verschiedenen Künstlergestalten: Ute, Flora Garlinda oder die Branzilla, die ihre gesamten Gefühlsenergien auf die Kunst konzentrieren, oder die »menschlichen« Gestalten wie der Advokat Belotti, die Franchini oder Henri IV, deren gesamte Persönlichkeit von ihrem Liebesverlangen und ihrer Liebesfähigkeit her gesteuert wird. Der für Heinrich Manns Werk charakteristische Gegensatz von stark/schwach ist ein energetischer Gegensatz. Diese Gestalten hat Heinrich Mann aber nicht mehr nur Bourget entlehnt; viel wahrscheinlicher ist ein Einfluß Balzacs und, zumindest indirekt, Stendhals. Beide Autoren waren energetische Psychologen. Allein Klaus Schröter hat diesem Problem genauere Aufmerksamkeit zugewandt (Schröter, S. 120 ff.). Er kommt dabei zu einigen sehr wichtigen Aufschlüssen, vor allem, was die Probleme der »Macht« und der Macht-Geist-Antithetik bei Heinrich Mann betrifft. Allerdings sieht er das Problem zu sehr von der Genese der Personendarstellung her als von der moralistisch-analytischen Funktion, die mit ihr untrennbar verbunden ist. Er kommt deshalb zu dem Schluß, daß Heinrich Mann wesentlich von Balzac beeinflußt worden sei. U. E. wird dadurch der Tatbestand grundlegend verzerrt. Was schon anläßlich der Zola-Rezeption gesagt worden ist: daß nämlich Elemente des Zolaschen Werkes bei Heinrich Mann in Zusammenhängen stehen, die von der Art der Verwendung her Flaubert nahestehen, trifft auch auf die Balzac-Rezeption zu. Heinrich Mann entnahm Balzacs Werk offenbar sehr markante »Typen« - oder bildete Gestalten Balzacschen Typen nach - , und zwar gemeinsam mit der vielfältigen Verankerung, in der sie sich im jeweiligen Werk zur dargestellten Gesellschaft befanden. Wie Bausteine setzte Heinrich Mann dann diese »Typen« samt ihren Leidenschaften, Herrschaftsansprüchen u. a. in seine eigenen Romane ein und ließ sie dort zu Angelpunkten der moralistischen Gestalt des Dargestellten werden. - Lassen sich deshalb Elemente des Balzacschen Werkes in Heinrich Manns Romanen finden, so stehen sie funktional und ästhetisch in grundlegend anderen Zusammenhängen. Sie sind zunächst vor allem Geschöpfe von Heinrich Manns Moralismus, dann erst Gestalten des Balzacschen Werkes.
Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz«
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Binnenhandlung - zudem noch so ingeniös angelegt, daß er zugleich auch noch eine »experimentelle« Erforschung des Dilettantismus im Sinne des »roman expérimental« darstellt. - Nach dem Vorbild des analytischen, psychologischen Romans Bourgets verwendet Heinrich Mann den »Dilettantismus« in seinem eigenen Erstling, in »In einer Familie In ganz anderer Weise erscheint der »Dilettantismus« im SchlaraffenlandRoman. Er tritt dort als Mittel der Wirklichkeitsanalyse und der Zeitkritik überhaupt nicht mehr direkt in Erscheinung, ebenso nicht mehr als Hilfsmittel des Autors, den Leser zu einem angemessenen Verständnis des Dargestellten zu führen. Er ist ausschließlich ein Hilfsbegriff, der eine Anzahl objektiver, »phänomenaler«, ästhetisch-moralistischer Beschreibungsmerkmale der dargestellten Personen und Personenkonstellationen umfaßt. Das ist die unmittelbare Folge der Tatsache, daß der Autor aus dem Roman herausgetreten ist, aber seine kritische, moralistische Intention, die er mit der Darstellung verbindet, noch weiter aufrechterhält. Die Theorie ist in der Romanwirklichkeit allerdings noch immer insofern präsent, als die Darstellungsweise auf analytische Erkenntnis hin angelegt ist, also durchaus auch für den Leser ein einsichtiger Zusammenhang z. B. zwischen der »Schwäche« des »Dilettanten« und seinem Komödiantentum bestehen muß. Der Unterschied ist nur, daß diese Theorie nunmehr vom Leser erarbeitet werden muß, und zwar über den Umweg einer Kritik des Dargestellten, zu der ihn die Art der Darstellung und ihre besondere, »ästhetische« Gestalt zwingen. Dieser Autor ist also Moralist wie der Autor von »In einer Familie«, aber sein Moralismus tritt nicht in Meinungen und Kommentaren, sondern ausschließlich durch das Dargestellte als Kunstwerk in Erscheinung.47 Es wird auf diese Weise deutlich, daß zwar der Erkenntnisstandpunkt des Autors gegenüber den analytischen Problemen der empirischen Wirklichkeit grundsätzlich derselbe geblieben ist48, daß sich aber seine Meinung, in welcher Weise Kunst auf das Publikum zu wirken habe, entscheidend geändert hat. 47
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Eine Hilfe für eine analytisch adäquate Erfassung des Dargestellten gibt der Autor allerdings: Fehlt auch der unmittelbare Autorenkommentar, so gibt es doch vielfältige Formen eines indirekten Kommentars, so etwa durch die Ausführungen Wolfgang Bucks über den »Schauspieler« als die »repräsentative Gestalt des Jahrhunderts«. Nur theoretisch bleibt bei einem solchen Umschwung der Erkenntnisstandpunkt derselbe. Es kann einfach nicht ohne Folgen für die angewandten analytischen Mittel bleiben, wenn wissenschaftliche Erkenntnis nicht, wie zuvor, das eigentliche Ziel der Darstellung ist, sondern nur ein Mittel, das allein einem höheren Zweck dient: der ästhetisch-moralischen Erkenntnis. Wir werden diese Veränderung auf eine zunehmende »Entpolitisierung« der angewandten analytischen Mittel hin an den Romanen Heinrich Manns auch beobachten. Allerdings gibt es auch eine von der politischen Biographie Heinrich Manns begründete, dazu konträr verlaufende Linie.
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Im Schlaraffenland«: Der Kapitalismus als bestimmende Kraft
Damit sind dann die wesentlichen Merkmale dieses Umschwunges mit genügender Klarheit herausgearbeitet. Es ist jedoch noch nötig, die auslösende U r sache dieser Veränderung zu bestimmen. Obwohl es durchaus möglich und wahrscheinlich ist, daß auch literarische Einflüsse diesen Wechsel im Stil und in der Auffassung vom Wesen der Kunst bei Heinrich Mann ausgelöst haben - man kann hier an Maupassant oder Hermann Bahr denken, f ü r deren Einfluß es direkte Belege gibt, 49 oder an Flaubert selber, die überragende Gestalt des 19. Jahrhunderts - , liegt doch die Vermutung nahe, daß die Abwendung vom analytisch-naturalistischen Roman vom Typus Bourgets vor allem unter dem vermittelnden Einfluß der Philosophie Nietzsches vonstatten gegangen ist. H i e r f ü r spricht die äußere Form der Gesellschaftskritik im Schlaraffenland-Roman. Kapitalismus, psychische und physische Schwäche, Komödiantentum, »Materialismus«, Fin-de-siecle-Stimmung u. a. sind nicht allein Merkmale der Gesellschaftskritik Bourgets, sondern vor allem Phänomene der Dekadenz im Sinne Nietzsches 50 . D a ß diese Phänomene so dargestellt werden, daß sie durch »Kunst« entlarvt werden, spricht ebenfalls f ü r den Einfluß Nietzsches. Entscheidend aber scheint zu sein, daß die Nietzschesche Philosophie in ihrer Kritik der Dekadenz gerade zu dem »artistischen« Moralismus führt, den wir in bezug auf den Schlaraffenland-Roman festgestellt haben. Daß die Dekadenz nur durch die Kunst überwunden werden könne - diese Forderung Nietzsches müßte f ü r Heinrich Mann um so überzeugender gewesen sein, als er selber erkannt hatte, daß die Zeitkritik Bourgets entweder ineffektiv werden oder künstlerisch mißlingen müsse, sich also einer Bewertung des Dargestellten enthalten oder zu Tendenzkunst herabsinken müsse 51 . Hier bietet tatsächlich nur der »Artismus« Nietzsches, der auch der Flauberts ist, einen Ausweg. Man braucht nicht darüber zu streiten, wieweit die Philosophie Nietzsches Heinrich Mann negativ beeinflußt hat: einem antikapitalistischen sozialkritischen Engagement stand sie schon zur Zeit des Schlaraffenland-Romans nicht im Wege 52 . - Von hier aus läßt sich der politische Gegenstand des Schlaraffenland-Romans klar bestimmen: Das Schlaraffenland ist der »Milieukreis der Dekadenz«.
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Vgl. den Schlußteil der Arbeit. Klaus Schröter (S. 22) hat auf die Ergebnisse der Nietzsche-Forschung hingewiesen, die die enge Abhängigkeit Nietzsches von Bourget nachweisen. Die Wahrscheinlichkeit, daß Nietzsche den Umschwung zu einem »künstlerischen Moralismus« bei Heinrich Mann ausgelöst hat, wird dadurch also nur größer. L. H . Mann: Bourget als Kosmopolit. - In: Die Gegenwart. Berlin. Bd. 45, N r . 4. 27. Januar 1894, S. j3—58. Klaus Schröter sagt hier mit dankenswerter Klarheit: »Heinrich Mann übernimmt Nietzsches >Diagnose< eines allgemeinen kulturellen >Verfalls< in der Form von Nietzsches Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft« (S. 73).
Das »Schlaraffenland« als »Gesellschaft der Dekadenz«
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Den wichtigsten Beleg für das Nietzsche-Verständnis des jungen Heinrich Mann liefert der Essay »Zum Verständnisse Nietzsches.«• von 1896 53 . Dieser Essay ist in vielem außerordentlich mißverständlich angelegt; es bedarf daher einer genauen Analyse, um keinen Fehlinterpretationen anheimzufallen. Bemerkenswert ist zunächst, daß Heinrich Mann Nietzsche nicht als den Philosophen der Dekadenz, sondern als den kritischen Analytiker der Dekadenz versteht. Gerade die Inanspruchnahme Nietzsches durch die Dekadenz ist es, was Heinrich Mann dazu führt, Nietzsche von Beginn an gegen seine Anhänger in Schutz zu nehmen. »N i e t z s c h e ist noch zu sehr Modephilosoph, um ganz gerecht beurteilt und ohne Voreingenommenheit verstanden zu werden. Der Beifall derer, die ihn zu lieben vorgeben, die mit ihm prunken, sich auf ihn berufen, flößt uns leicht Mißtrauen ein. In dem dilettantischen, nach flüchtigen und möglichst künstlichen Reizungen girrenden Großstadtgeiste scheint sein Gedanke Triumphe zu feiern, von einer grundsatzlos ästhetisierenden, internationalen Litteratur wird er als Bannerträger ausgerufen.« (S. 245, kursive Hervorhebungen F.T.) Im weiteren nennt Heinrich Mann Nietzsche dann den »genialen Sohn dieser Zeitkrankheit« - eindeutig gemeint ist damit die Dekadenz - , in dem »schon die Blüte jener besseren Zukunft vorzeitig und wie im Traum aufgegangen ist« (S. 247). Nietzsche und die Dekadenz werden also als verwandte Phänomene gesehen - was übrigens ganz einem »naturalistischen« Verständnis entspricht, wie es z. B. bei Taine in Erscheinung tritt: Die Person und ihre Zeit werden aus der Einheit eines »Milieus« verstanden - ohne daß deshalb aber der Gegensatz geschmälert würde: Nietzsche wird zugleich auch immer als der vorausahnende Überwinder der Dekadenz gesehen. - »Naturalistisch« ist auch Heinrich Manns Verständnis des »Übermenschen«. Er sieht in ihm nicht einen Einzelmenschen, sondern das Symbol einer erneuerten, offensichtlich von der Dekadenz befreiten Rasse: 54 »Der soviel mißverstandene >Übermensch< kann in Wahrheit keine Einzelpersönlichkeit sein: Das Evangelium von ihm würde in einem Zeitempfinden, das ganz und gar der Masse gehört, nur in ihr und mit ihr schlägt, nicht den allerschwächsten Widerhall finden. D e r >ÜbermenschÜbermenschObermensch< ist in gewissem Sinne, wie wohl mit Berechtigung gesagt worden ist, einfach der gesunde Mensch. Aber er hat sie doch empfunden, der Philosoph, der fortwährend gegen sich selbst anphilosophiert, - diese Kontrastwirkung zu sich selbst: die »blonde BestieVermenschlichung(. . .) Bei diesem Coucher sieht jemand durchs Schlüsselloch. Die Dame nestelt gerade ihr Kleid auf, da klopft es: ein Liebhaber, der nicht warten kann. Aber sie ist unentschlossen, sie streift den Rock ab. E r lärmt stärker, beginnt zu schelten; sie findet das brutal und macht sich an ihrem Korsett zu schaffen. Plötzlich wird es still, man hört durch das Schlüsselloch seine keuchenden Atemzüge. Sie fängt an, ein heftiges Vergnügen zu empfinden. Sehr begreiflich, nicht wahr? Sie löst ihr Haar, geht daran, sich zu waschen - E r fleht hinter der Türe, ganz windelweich. Dann wieder ein Wutausbruch, er versucht, das Schloß zu erbrechen; umsonst, und er weint, herzzerreißend. Auf einmal stirbt er! J a wirklich, er stirbt! Man hört ein widerwärtiges Röcheln. Sie lächelt glücklich ins Publikum und zieht sich langsam und mit Genuß das Hemd über die Schultern. Sehr fein, finden Sie nicht?Was wollen Sie? Unsereiner führt doch ein Zweiseelenleben. Wir möchten uns wohl den Erscheinungen hingeben, möchten wie die andern genießen und bewundern. Aber unser Literatentum, die Kritik, mit der wir vollgesogen sind, zeigt uns immer wieder das Unerquickliche, Kleine an den Dingen. Haben Sie es nicht auch schon bemerkt? Wir leiden unter dem zweifelhaften Vergnügen, die Menschen zu durchschauen. (. . .)«< (S. 264)" Zugleich ästhetisiert der Literat die Situation, in der er sich befindet. Weil sein Vermögen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, nicht mit einer moralischen Bewertung des so Erkannten verbunden ist, wird es zu einem Element narzißtischer Selbstbespiegelung. Der Erkenntnisvorgang wird mit Bewußtsein als Form geistiger Korruption wahrgenommen, und gerade dieses Wissen bedeutet in der dekadenten Gesellschaft das höchste Raffinement. Der Literat ist daher in dieser Form der reinste Ausdruck der gesellschaftlichen Negativität: »>(. . .) Ich besitze, fast möchte ich sagen leider, ein zu empfindliches Organ für den kaum erst wahrnehmbaren Hauch des Zeitgeistes. Ah! wie wenige sind wir im Grunde, in ganz Europa verstreut, die es besitzen. Wir bilden sozusagen einen Geheimbund, mit der Absicht, zu fühlen, was keiner fühlt, die erst zu erfindenden Verfeinerungen, den noch ungeborenen Kitzel einer hohen geistigen Korruption. Fühlen, das ist alles. Was bedeutet es, Gedichte zu verbrechen oder einen Roman zu schreiben?Man ruhig Blut, DoktorManchmal findt so 'n Weib auch einen, wo sie merkt, da ist nichts zu machen, und frißt ihm aus der Hand. Nöh, wir müßten ja woll was mit 'n Stock haben.< Matthacker knallte nur mit der Peitsche, daß es durch den Wald schallte. >Die Frau in meiner Klinik ist nicht böse, ahnt auch gar nichts von der Funktion, die sie ausgeübt hat. Es ist eben eine Naturgewalt, die Frau. Das Alter, das sich lästig macht, totschlagen -< >Wir wollen ihr woll helfen!* schrie Panier. >Und was nie lebensfähig war, ausrotten - sie tut es, ohne darum zu wissen. Wir haben sie nicht zu beurteilen, nur hinzunehmen und zu verehren, weil's die Natur ist.Geldsack ist gut Wissen Sie, woran es mich erinnert? An die Dubarry, als sie ihren König mit La France anredete.< >La France, schmeiß deinen K a f f e e nicht umOh!< flüsterte Liebling dumpf. >Wem sagen Sie dies? Sie berühren meine geheimsten Wunden. Diese Mädchen sind die vorgeschobenen Posten der Revolution in unserem eigenen Lager. Sie schleichen sich bei uns ein, um alles zu besudeln, was uns heilig ist, und den Grund zu unterwühlen, auf dem wir stehen. Wenn ein Türkheimer von einer kleinen Matzke sich Geldsack nennen läßt und geschmeichelt dazu lacht, dann -Kellner, einmal Lebensfreude!< Doch dieser Notschrei verhallte, und es war, als werde er erstickt und verschlungen von den schweren Falten der buntstrotzenden Gewänder, die die Tafel umkränzten.« (S. 301) Als Türkheimer, der gekrönte König des Schlaraffenlandes, das Fest dann verlassen hat, bricht unverhofft eine wilde Orgie aus. Die Menschen sind enthemmt. Einer, Duschnitzki, beginnt, das Porzellanservice der kleinen Matzke zu zerschlagen. Allmählich erst setzt die Ernüchterung ein: »Einer nach dem andern sah sich um, verwundert, als sei ihm alles unbekannt. Voll Entsetzen bemerkte er plötzlich, daß er sich mitten in einem Tobsuchtsanfall befunden hatte. Dann knickte er zusammen und entfernte sich schweigend, mit schlotternden 67
Sowohl im Nietzsche-Essay als auch in den Äußerungen Wolfgang Bucks taucht immer wieder auf, daß die Gegenwart der »Masse« gehöre. Die »reelle Pöbelherrschaft« bedeutet nur die »Herrschaft der Masse«.
Die »reelle Pöbelherrschaft«
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Knien, gebeugtem Rücken, Schweißperlen auf der blassen Stirne und seelisch ausgeleert. D e r Morgen langte mit grauer, lähmender Geisterhand in das Gemach und fegte sie hinaus.« (S. 307)
Dieses Fest bleibt im wesentlichen Episode. Aber es kann kein Zweifel bestehen, daß ihm innerhalb der dargestellten Wirklichkeit funktionale Bedeutung zukommt: Es zeigt, daß in dieser Gesellschaft völlig ungeahnte Kräfte aufgestaut sind, die plötzlich, wo sich die strengen Zwänge gelockert zu haben scheinen, wo der regierende Machthaber sein anderes, kränkliches Gesicht zeigt, explosionsartig in Erscheinung treten und alle Begrenzungen einreißen können. In diesem Moment erweist sich die streng geordnete kapitalistische Gesellschaft als Chaos. - Im Schlaraffenland-Roman ist dieser Zusammenhang von Ordnung und Chaos nur angedeutet, in anderen Werken, vor allem im »Professor Unrat«, ist er weiter ausgeführt.
3. »Lidice«: Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis 3.1. Der analytische Charakter der ästhetischen »Sprache« Die Vorstellungen und Begriffe, die der naturalistische Roman über den Aufbau und Zusammenhang der sozialen "Wirklichkeit entwickelt hat, sind für den Roman Heinrich Manns ein ganz wesentliches Hilfsmittel, Kohärenz und analytische Funktion des Dargestellten zu erschließen - den Schlüssel zum eigentlichen, zentralen Teil des Werkes liefern sie jedoch nicht. Es ist bereits bezeichnend zu sehen, daß in bezug auf den Schlaraffenland-Roman die MilieukreisTheorie nur so lange wirklich dienlich war, als es galt, den systematischen Aufbau der dargestellten Gesellschaft und die wechselseitige Verknüpfung der sie bestimmenden, charakteristischen Phänomene zu erforschen. Sobald aber die Gesellschaft in ihrer äußeren, von einem Erkenntnisurteil bestimmten Gestalt auf einen Begriff, den der »Dekadenz«, gebracht worden war, sind wir wie selbstverständlich dazu übergegangen, die »Phänomene«, in denen sich die Gestalt dieser Gesellschaft niederschlägt, im wesentlichen kommentarlos aneinanderzureihen. Dies konnte getan werden - nicht, weil der analytische Charakter der Darstellungsweise in diesen Elementen aufgegeben wäre, sondern weil eine Verdeutlichung durch Kommentierung sich meistenteils erübrigte. Die differenzierte ästhetische Gestalt des Dargestellten war zum Träger analytischer Erkenntnis geworden. Ästhetische Wahrnehmung und moralisch-analytisches Erkennen bildeten eine Einheit. H a t t e der Leser deshalb erst einmal einen Einstieg in den analytischen Charakter dieser ästhetisch »verschlüsselten« Welt gefunden, konnte er die explizierende Analyse im wesentlichen entbehren: Das Dargestellte teilte sich ihm selbst mit. Nicht der analytische Begriff, die »Form« war zum Träger der Mitteilung geworden. Das bedeutet nichts weniger als den Wechsel von einer naturalistischen zu einer nicht mehr naturalistischen Darstellungsweise. Selbstverständlich, daß sich damit auch die Prinzipien der naturalistischen Erkenntnislehre auflösen. So kommt der Milieubegriff in seiner klassischen Ausprägung nicht mehr zur Anwendung. Nicht, daß die Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr »milieumäßig« bestimmt wären - nur das Milieu als solches, die Gegebenheiten von Raum, Zeit, Rasse, von Lebens- und Gesellschaftsformen, die im naturalistischen Roman dargestellt werden müssen, weil sie Ausgangs-
Der analytische Charakter der ästhetischen »Sprache«
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punkt und Inbegriff aller analytisch darzustellenden Erscheinungen sind - sie treten nicht mehr als das Thema selber in Erscheinung. Die Elemente des Milieus sind im Roman Heinrich Manns zu Persönlichkeitsmerkmalen der darzustellenden Personen geworden. Ein Roman wie »Therese Raquin« von Zola stellt noch zu etwa gleichen Teilen das Schicksal der Individien wie die sozialen und biologischen Gegebenheiten dar, von denen diese abhängen - charakteristisch für »Im Schlaraffenland« aber ist bereits, daß diese Gegebenheiten zu einem wesentlichen Teil integraler Bestandteil des »individuellen«, persönlichen Lebens der Personen selber geworden sind. Der Schritt zu dieser Entwicklung ist nur gering, aber er ist ungemein folgenschwer. - Ebenso bleibt im Roman Heinridi Manns auch die Abhängigkeit der Handlungsformen und Handlungsentwicklungen vom »Milieu« bestehen. Sie wird eher stärker, weil das »Milieu« zunächst nur in der Normierung der Handlungsformen in Erscheinung treten kann. Zumindest die Hauptpersonen sind »milieumäßig« streng typisiert, sie sind »charakteristische« Gestalten eines Milieus. In gleicher Weise ist der Handlungsrahmen streng abgesteckt. Gibt es etwa in der »Kleinen Stadt« eine Handlung in dem Sinne, wie sie der traditionelle Roman kennt? Romananfang und -ende münden in ein und dieselbe »Stimmung« ein, eine Dispositionsform der dargestellten Gesellschaft. Was dazwischenliegt, ist zwar ein höchst differenzierter, von sehr ausgeprägten Einzelmomenten getragener Vorgang, der sich aber in gleicher Weise »überall« abspielen könnte. Die »Handlung« zeigt nur auf eine »typische« Entfaltungsmöglichkeit dieses »Milieus« hin, seine enge Verwobenheit sowohl mit »Liebe« als mit »Kunst«. Die »Handlung« ist - obwohl an eine bestimmte Zeit gebunden - im Grunde ebenso »zeitlos« wie das dargestellte Milieu. Sie ist in diesem Sinne eine »experimentelle« Erforschung der Triebkräfte und Lebensformen des »Milieus«. — Ganz ähnlich verhält es sich, wie auch Manfred Hahn beobachtet hat, mit dem »Untertan«1. Obwohl sehr viel »indvidueller« gezeichnet als etwa Belotti und die kleine Stadt, sind Heßling und Netzig mit »Notwendigkeit« aneinander geknüpft. Die Entwicklung Heßlings, sein Aufstieg zur Macht, ist deshalb ein Vorgang, der eine Gesetzmäßigkeit, die in diesem »Milieu« liegt, nur noch offenlegt. Netzig ist am Ende des Romans zwar gegenüber dem Anfang ganz wesentlich verändert, aber der Weg, den diese Veränderungen nehmen mußten, ist von Beginn des Romans an, z. B. in der Beschreibung der Psyche des Kindes Heßling, bereits vorgezeichnet. Die Handlung ist in ihrer Eigenart insgesamt »typisch« für eine bestimmte Entwicklungsstufe des wilhelminischen Reiches. In der »Typik« aber zeigt sich die Gesetzmäßigkeit, die im »Milieu« herrscht. Sicherlich könnte der Roman einen anderen Verlauf nehmen, aber dann wäre es zu gleichen Teilen ein Roman auch über die Ursachen, die diese Veränderungen eines an sich vorgezeichneten Weges bewirkt hätten. 1 Manfred Hahn: Nachwort (zum »Untertan«), S. 450 f.
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»Lidice «: Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis V o m traditionellen naturalistischen R o m a n bleiben also nur noch Rudi-
mente bestehen: Persönlidikeitsmerkmale, an denen die »milieumäßige« H e r leitung der dargestellten Personen zu erkennen ist, und eine »typisierte« H a n d lungsentwicklung. Diese Teile insgesamt ergeben ein streng aufeinander bezogenes, funktionales Gefüge: ein letzter, aber deutlich erkennbarer Niederschlag von Zolas szientistischer Romantheorie. Selbstverständlich bleiben weitere Einflüsse erkennbar, etwa die biologistischer Sozialtheorien, doch solche Erscheinungen sind von geringerer Bedeutung. Durch die »Verkürzung« der Bestandteile des naturalistischen Romans, die die Genese der empirischen Person aus Umwelt, Familie, moralischem Milieu usw. beschreiben, zu »Beschreibungsmerkmalen«, die der Person nun als unmittelbarer Bestandteil ihrer selbst »anhaften«, wird ein Prozeß in Bewegung gesetzt, an dessen Ende sich das Erscheinungs- und das »Argumentationsbild« des Romans vollkommen verändert haben. Es ist verständlich, daß solche »Beschreibungsmerkmale«, zumal, wenn sie wie hier ganz äußerlich, als
ästheti-
sche Merkmale der Person, gefaßt werden, sich gegenüber dem Zusammenhang verselbständigen, aus dem ihr Entstehen erklärbar ist. Das bedeutet einmal, daß die Merkmale eine gewisse Konstanz gewinnen - allmählich beziehen sie sich nicht nur auf Personen der Umgebung, aus der sie einstmals hergeleitet worden sind, sondern sie werden zu ganz allgemeinen, typisierenden wie charakterisierenden Merkmalen, die auf den Menschen allgemein angewandt werden - und, als zweites, daß sie nun in ihrer jeweiligen ästhetischen Eigenart zu funktional verwendeten Elementen werden, aus denen sich - als ästhetische »Welten« - ästhetische Ordnungen eigener A r t aufbauen. Es bildet sich so zunehmend eine ästhetisch vermittelte »Sprache der Wirklichkeit« heraus. Sie ist Sprache der »Wirklichkeit«, weil sich die »Beschreibungsmerkmale«, selbst wenn sie zu »rein« ästhetischen Bausteinen geworden zu sein scheinen, niemals völlig von dem lösen, aus dem sie entstanden sind: einer analytischen Theorie zur zeitgenössischen Gesellschaft. Diese Sprache ist »ästhetischen« Charakters, weil insbesondere die ästhetische »Form« zum Träger analytischer Erkenntnisse geworden ist und die Sprache sich als »Form« dem Leser kontinuierlich mitteilt. 2 Von diesen Gedanken her ist es nicht verwunderlich, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an in Heinrich Manns Romanen in zunehmend stärkerem M a ß e völlig phantastische Wirklichkeiten auftauchen und in ihnen zudem in hohem M a ß e Motive und Motivzusammenhänge - nicht nur einzelne Elemente - der Dekadenzthematik vorhanden sind. D i e ästhetischen »Formen«, die hier
2
Wir werden auf diese Probleme in dem einleitenden Abschnitt zur Analyse des Romans »Die Armen« von einem anderen Aspekt her, der Tradition des flaubertschen Romans, noch einmal eingehen.
Das Romanthema und die Form seiner Behandlung
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auftreten, haben sich teilweise so weit von der empirischen Wirklichkeit b z w . von der historisch-biographisch fixierbaren Form der Wirklichkeitsanalyse, aus der sie entstanden sind, entfernt, d a ß es weitgehend sinnlos wäre, sie hierauf noch zurückzuführen. Es treten dem Leser nur noch »reine«, allerdings streng analytisch angelegte »ästhetische Welten« v o r Augen. Der Bezug zu Fakten einer jeweiligen historisch-empirischen Situation als Ausgangspunkten der Darstellung ist allerdings stets unverkennbar — insofern sind die »ästhetischen Wirklichkeiten« streng »parallel« zur empirischen Wirklichkeit angelegt. Unverändert bleibt auch, daß solch eine »ästhetische Wirklichkeit« zugleich eine »moralisch geordnete« Wirklichkeit ist. - Weil man das moralistische Interesse Heinrich Manns als das dominierende Element seines Werkes ansehen muß, was den Bezug auf eine konkrete, historisch-gesellschaftliche Realität voraussetzt, es also kein »ästhetisches« Interesse unabhängig v o n diesem moralistischen Interesse gibt, ist es sinnvoll, die Funktion der »ästhetischen Darstellungweise« auch von hier aus zu definieren. D a die einzelne »Form« nun nicht bloß ein hauptsächlich charakterisierendes,
ästhetische
darin stets ob-
jektbezogenes Element ist, sondern eine besondere Ausprägung allgemeinerer ästhetischer Kategorien, die das W e r k als Ganzes bestimmen, müßte man in Hinblick auf die Ordnungen und Klassen der Formen von »Darstellungskategorien der moralistischen Erkenntnis« sprechen. Die ästhetische »Form«
-
sowohl die allgemeine Form des gesamten Romans als auch die besondere Form, in der seine einzelnen Teile erscheinen — w ä r e demnach das Medium, in dem sich ein geschichtlich-gesellschaftlicher Inhalt in seiner moralischen Gestalt dargestellt. Der Roman als Ganzes wäre das »Urteil« zu einer dargestellten Gesellschaft oder Epoche. - Unter diesem Gesichtspunkt, der Erstellung einer sozialen Wirklichkeit unter »Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis« soll der späte Roman »Lidice« betrachtet werden.
3.2. D a s R o m a n t h e m a u n d die F o r m seiner B e h a n d l u n g Der R o m a n »Lidice«, abgeschlossen nach einer Bemerkung auf dem Manuskript am 27. September 1942 3 , ist bislang nur in einer einzigen A u f l a g e , w ä h rend der Emigration, in M e x i k o , erschienen. A u s z w e i Briefen an K a r l Lemke 4 geht hervor, daß Heinrich Mann sich bewußt nicht um eine Neuauflage bemüht hat und ebenso jeden Versuch ablehnte, sein Werk künstlerisch zu verteidigen, obwohl er sich dazu durchaus imstande zu sehen meinte. Er legt auch 3 4
Heinrich-Mann-Bibliographie, Werke, a.a.O., Nr. 23, S. 17. Briefe an Karl Lemke vom 14. April 1949 (Nr. 52) und 30. Mai 1949 (Nr. JJ). In: Heinrich Mann: Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus, a.a.O., S. 99 f. und I O J f.
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»Lidice«: Darstellungskategorien moralistisdier Erkenntnis
Karl Lemke nahe, in bezug auf »Lidice« Zurückhaltung zu üben; von dem Roman solle »als von einer Art Geheimnis« gesprochen werden. Als Grund für sein Verhalten nennt Heinrich Mann »d(D)ie Mißbilligung der Tschechen, auch der urteilsfähigen«. Über die Gründe für das Scheitern der Publikumsrezeption kann eigentlich kein Zweifel mehr bestehen, berücksichtigt man die Zeit und die genaueren Umstände der Entstehung. 5 Erstaunlich ist nur, daß die Forschung niemals auf sie eingegangen ist. Mit größter Wahrscheinlichkeit liegen sie nämlich in der Art, wie Heinrich Mann die politisch außerordentlich bedeutsamen und allgemein bekannten Ereignisse um die Ermordung Heydrichs und die Vernichtung des Dorfes Lidice behandelt 6 . Die historischen Fakten werden in dem Roman gar nicht - oder nur kaum - berücksichtigt. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein Doppelspiel, in dessen Verlauf einer der Widerstandskämpfer, Pavel Ondracek, eine völlig fiktive Person, den Platz Heydrichs einnimmt, diesen allmählich aus der Macht verdrängt, bis schließlich Heydrich von der Gestapo selber ermordet wird. Die Vernichtung Lidices ist in dem Roman als Racheaktion ausschließlich ein Täuschungsmanöver, um den »tatsächlichen« Verlauf der Ereignisse zu verdecken. Authentisch ist auch nicht der Ort des Geschehens. Die Handlung spielt vielmehr in einer völlig phantastischen, unwirklichen Welt, in der nur Namen an die tatsächlichen Schauplätze erinnern. D a ß solch ein Werk auf Unverständnis stoßen mußte, ist nur allzu naheliegend, zumal sein Autor als politisch engagierter Schriftsteller und geistiges H a u p t der deutschen Emigration allgemein bekannt war 7 . Heinrich Mann galt außerdem als 5
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In dem Briefwechsel zwischen Heinrich Mann und dem Lateinamerikanischen Komitee der Freien Deutschen, in dessen Verlag »Lidice« erschien, findet man über die Gründe allerdings kaum Andeutungen. Was an Umarbeitungen verlangt wird, bewegt sich in einem durchaus diskutablen Rahmen und bestätigt, daß Heinrich Mann von der Voraussetzung ausgeht, daß die künstlerische Intention des Werkes im Rahmen einer politischen zu sehen ist. Vgl.: Heinrich Manns Briefwechsel mit dem Lateinamerikanischen Komitee der Freien Deutschen. - In: Wolfgang Kießling: Alemania Libre in Mexiko. Bd. 2. Texte und Dokumente zur Geschichte des antifaschistischen Exils 1 9 4 1 - 1 9 4 6 . Berlin (DDR) 1974, S. 3 5 3 - 4 3 1 , 4 4 1 - 4 4 5 , insbesondere Briefe Nr. 17, 18, 20, 23. Vgl. auch den in Kapitel 7 zitierten Brief Heinrich Manns an F. C. Weiskopf, Katalog, S. 334. Es kann kein Zweifel bestehen, daß gerade dieses Faktum die Richtung, in der »Lidice« verstanden wurde, negativ beeinflußt hat. »Lidice« wurde dadurch in einem viel zu eingeschränkten Sinne »politisch« gedeutet. Man erkennt das sogar noch an dem Urteil, das Klaus Schröter heute abgibt. Er sagt: »Verkürzungen wie diese: >Ich bin ein Deutscher.« - >Daher zu Raserei verpflichtet«, geben nichts her, da, wie es scheint, die Faktizität ungeheurer Handlungen - und ihr Unsinn - nur aus ihren realen Beweggründen, nicht aber aus dem Gegenbild ihrer Verneinung herzuleiten ist. Dem Henker Heydrich einen begabten Komödianten, Pavel Ondracek, der jenen nachahmt, entgegenzustellen und im Doppelspiel des wahren und
Das Romanthema und die Form seiner Behandlung
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»Realist«, hatte er doch unmittelbar zuvor durch die Henri-Quatre-Romane scheinbar ein Beispiel gegeben, wie ein historisches Thema mit absoluter Treue zu behandeln sei8. Unter diesen Umständen ist es beinahe selbstverständlich, daß das Werk als mißglückt angesehen werden mußte, wobei es nahelag, künstlerische wie politische Gründe als Ursache anzunehmen. Ein anderes Urteil hätte in den Augen dieses Publikums die früheren Werke desavouiert. Die Reaktion, die dem Rang des Autors angemessen war, scheint es deshalb gewesen zu sein, über dieses Werk stillschweigend hinwegzugehen. So geschieht es auch heute noch. 9 Es ist unverkennbar, daß sich an dieser Stelle die Verhaltensweise des Publikums mit der des Autors begegnet. Das aber scheint der letztlich ausschlaggebende Grund gewesen zu sein, daß das Werk tatsächlich völlig in Vergessenheit geraten ist. Was aber könnten nun die tatsächlichen Gründe f ü r Heinrich Manns Verhalten gewesen sein? Die Lemke-Briefe machen darüber offensichtlich nur andeutungsweise eine Angabe. A m wahrscheinlichsten ist, daß politische Gründe Heinrich Mann dazu bewogen haben, sein Werk zurückzuziehen. Auch ist es
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falschen >Protektors< ein intrigenreiches Qui pro Quo aufzurollen, ergibt weder eine glaubhafte >Huldigung an Witz, Klugheit, geistige Frömmigkeit der tschechischen Nation - wie Heinrich Mann bald nach Abschluß des Romans dessen Sinn erklärte - , noch ist dem Andenken an einen furchtbaren Augenblick der Geschichte Genüge getan (. . .)«. In: (Klaus Schröter:) Heinrich Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a.a.O., S. 144. - Vgl. zur Kritik an »Lidice« ebenso Klaus Jarmatz: Literatur im Exil. - Berlin (DDR) 1966 (Diss. am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED), S. 81 f., und Jiri Vesely: Ober Heinrich Manns Roman »Lidice«. — In: Heinrich Mann am Wendepunkt der deutschen Geschichte. Internationale wissenschaftliche Konferenz aus Anlaß des 100. Geburtstages von Heinrich Mann. März 1971. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin (DDR) 1971 ( = Arbeitshefte. Nr. 8; im folgenden zitiert als »Arbeitsheft«), S. 163-164. Die gesamte Rezeption der Henri-Quatre-Romane bis heute, auf wissenschaftlichem Gebiet lange Zeit vor allem repräsentiert durch die Diss. von Hadwig KirchnerKlemperer (Heinrich Manns Roman >Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre« im Verhältnis zu seinen Quellen und Vorlagen. - Berlin, HumboldtUniversität, Phil. Diss. 1957 [Masch.]), die eine Synopse der verschiedenen historischen Überlieferungen bringt, um deren Niederschlag im Text zu zeigen, beweist, daß das Werk als historischer Roman verstanden worden ist. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Hanno König und Ekkhard Blattmann, die die Ergebnisse von Hadwig Kirchner-Klemperer erst in den angemessenen Rahmen stellen und die Komplexität der Darstellungsstruktur zu entfalten beginnen - ein Versuch, der durch eine »formale« Analyse, wie wir sie intendieren, fortgesetzt werden müßte. Überall dort, wo sich die Möglichkeit anbietet, werden wir darauf achten, den Beziehungen zwischen »Lidice« und den Henri-Quatre-Romanen nachzugehen. Vgl. das unreflektierte Zitieren der an ihn adressierten Briefe durch Karl Lemke, in: Karl Lemke: Heinridi Mann. - Berlin 1970 ( = Köpfe des X X . Jahrhunderts. Bd. 60), S. 61 f.
9°
»Lidice«: Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis
allein vom Thema her zwingend, dem Werk eine politische Absicht zu unterstellen. Gerade weil im Werk Heinrich Manns die künstlerische und die politische Tätigkeit oftmals eng miteinander verwoben sind, so daß die literarische Form auch die Gestalt der politischen Mitteilung ist, wäre ein politischer Grund ein durchaus »höherer« Grund, um einen Roman, der künstlerisch durchaus gelungen zu sein scheint, trotzdem zurückzunehmen. Als »politischer« Grund wäre es bereits ausreichend, wenn Heinrich Mann - wie es eindeutig feststeht10 - durch sein Werk dem Geist des tschechischen Widerstands hatte huldigen wollen. Die Ablehnung durch die Öffentlichkeit, insbesondere durch die Tschechen selber, würde Heinrich Mann demnach gezeigt haben, daß er sein Ziel verfehlt hatte. Er wäre in diesem Fall zwar keineswegs gezwungen, die Berechtigung der eigenen künstlerischen Position in Zweifel zu ziehen, müßte sich aber trotzdem, gerade weil sein Werk auf politische Wirkung hin angelegt ist, diesem Urteil unterordnen. Die Dezenz, die Meinung derjenigen zu respektieren, denen er durch sein Werk hatte huldigen wollen, könnte also demnach den Ausschlag gegeben haben.11 Das macht es dann hinreichend erklärlich, daß Heinrich Mann sagt, von »Lidice« solle »als von einer Art Geheimnis« gesprochen werden. - Daß solche Gründe für uns heute nicht mehr maßgebend sein müssen, das Werk also einer analytischen Betrachtungsweise offensteht, braucht nicht näher erläutert zu werden.12 Es ist an sich unverständlich, aber nur zu symptomatisch für den allgemeinen Zustand der Heinrich-Mann-Forschung, daß die beiden Briefe an Karl Lemke, die eine deutliche Basis für ein revidiertes Verständnis von »Lidice« geben könnten, bislang nur unzureichend Erwähnung gefunden haben. Das bestätigt nur, wie ausgefahren die Bahnen sind, in denen sich die Forschung bewegt. - Weil die Briefe auch in Hinblick auf die ästhetisch-literarische Konzeption des Romans, vor allem für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Darstellung und empirischer Wirklichkeit, von Interesse sind, sollen sie ausführlich zitiert werden. Gewiß handelt es sich hier literaturwissenschaftlich 10 11 12
Vgl. die nachfolgend zitierten Briefe an Karl Lemke. F. C . Weiskopf z. B., dessen Brief wir erwähnt haben, war Tscheche. »Lidice« gehört ohne Zweifel in den Bereich der antifaschistischen, agitatorischen Literaturproduktion Heinrich Manns, was, bei genauerer Verfolgung der in der Exilzeit hervortretenden Veränderungen und Entwicklungstendenzen, die nachfolgende Interpretation in Teilen sicherlich beeinflussen würde. Wir haben auf diese notwendige Einschränkung unseres Gesichtswinkels in der Einleitung hingewiesen. Vgl. zu dieser Thematik: Werner Herden: Geist und Macht. Heinrich Manns Weg an die Seite der Arbeiterklasse. - Berlin/Weimar 1 9 7 1 ; Karl Pawek: Heinrich Manns Kampf gegen den Faschismus im französischen Exil 1 9 3 3 - 1 9 4 0 . - Hamburg 1972 ( = Veröffentlichung der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur. 1 ) ; Horst Duhnke: Die K P D von 1933 bis 1945. - Köln/Berlin 1973, insbesondere Kap. 5.
Das Romanthema und die Form seiner Behandlung nicht um absolut sichere Belege -
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denn Bemerkungen des Autors zu seinem
Werk können zunächst immer nur als Hinweise auf ein intendiertes Verständnis genommen werden
wohl aber können sie als Stützen für Argumentatio-
nen gelten, die auch durch andere Belege gesichert sind: » ( . . . ) Haben Sie aber den Band >Lidice< erhalten? Über weitere Exemplare verfüge ich nicht. Dieses überlasse ich Ihnen vorläufig, muß es vielleicht zurückerbitten, wünsche aber, daß mein Geschichtsschreiber auch dieses ausgefallene Produkt kennt. Sie werden mit der Kenntnis allein bleiben. Die Mißbilligung der Tschechen, auch der U r teilsfähigen, hat mich abgehalten, Verbreitung zu suchen f ü r den Roman. Rechtfertigen könnte ich ihn wohl. Gewisse Greuel gehen für mich ins Groteske über und werden phantastisch. Hier ist der Absprung in die Fabel das Abstruse, dann folgt die im Grunde vernünftige Szenenreihe, abenteuerlich machen sie die Umstände. Was das Volk betrifft, sehe ich es rührend, sympathisch, tapfer und weiß von keiner K r ä n kung, die ihm zugefügt wäre. Bitte, sprechen Sie von >Lidice< mit Zurückhaltung, als von einer A r t Geheimnis, und erwähnen Sie es nur in der Biographie, sonst nirgends. (. . .)« (S. 99, Hervorhebungen - F. T.) »(. . . ) Sie haben >LidiceVerkauften BrautLidice< ist allerdings vom Hohn das Äußerste, was ich konnte. Man muß einen Henri gekannt haben, einem Masaryk begegnet sein - um zu ermessen, wohin es seither gekommen.«
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»Lidice«: Darstellungskategorien moralistisdier Erkenntnis
Die zentrale Aussage, die auch die bereits angeschnittenen Probleme eindeutig klärt, ist, daß in dem Roman die »materielle Wirklichkeit« von Anfang an beiseite gelassen sei. Eine Kritik des Romans kann ihm also dieses Faktum nicht zum Vorwurf machen, sondern muß von ihm ausgehen. Die so entstehende Romanwirklichkeit ist daher eine prinzipiell »künstlerische« Wirklichkeit - um diese Unterscheidung von der »außerkünstlerischen Wirklichkeit«, die die Formalisten eingeführt haben, anzuwenden. Der Blick hat sich deshalb auf die Gestaltungsprinzipien dieser »künstlerischen Wirklichkeit« zu richten und auf das Verhältnis, in dem diese als Gesamtheit zur empirischen Realität steht, nicht auf die Beziehungen der verschiedenen Teile zur Realität, wie es bei einem naturalistischen Roman berechtigt wäre. - Weiter sagt Heinrich Mann, daß diese Veränderung gegenüber der empirischen Realität dazu diene - er bezieht sich auf die Einführung des »falschen Heydrichs« - : »daß ( . . . ) der Vorgang geistig klar wird«. Er sieht also in der Abweichung von der empirischen Realität keine Abweichung auch von der historischen Wahrheit, sondern im Gegenteil eine Verdeutlichung der historischen Wahrheit. Man kann durchaus unterstellen, daß das durch den Kunstcharakter des Kunstwerkes ermöglicht wird; wir haben von der anderen Seite des Verhältnisses her: der Vorwegnahme des historischen Ereignisses durch die Kunst, dieses Problem in der Einleitung bereits abgehandelt. Das Kunstwerk ist demnach die »geistig klare« Form der empirischen, also historischen Realität. In der Argumentation taucht ein Gegensatzpaar auf, das aus dem Rahmen von Heinrich Manns Denken hinlänglich bekannt ist und hier dazu dienen kann, Heinrich Manns Selbstverständnis als Künstler im Rahmen seines eigenen Denkens genauer zu bestimmen: der Gegensatz zwischen der »materiellen« Wirklichkeit und dem »geistig« klaren Bild, in dem diese in Erscheinung tritt. Für Heinrich Mann ist eine dualistische Trennung von »Geist« und »Materie« konstitutiv. »Materie« ist dabei negativ, als Gegenbegriff zu »Geist«, definiert. Es bedeutet die eigentlich geschichtliche Leistung des Menschen als Menschen - und eine sich für ihn stets erneuernde Verpflichtung - , »Materie« in »Geist« zu überführen, dadurch vom »Tier« zum »Menschen« zu gelangen. 14 In diesem Vorgang wird die »Materie« keineswegs völlig zum Ver14
Hieraus resultiert, daß Heinrich Manns Geschichtsdenken zu einem ganz wesentlichen Teil zyklisch fundiert ist. Die Konstanz der Grundkräfte »Geist« und »Materie« wie die Konstanz des »Kampfes« machen es aus, daß Heinrich Mann z. B. Henri Quatre als im wesentlichen überhistorisches Beispiel des Menschen überhaupt verstehen kann. Das ist dann letztlich auch der Grund, weshalb Schilderungen aus dem Dritten Reich in diesen Roman einfließen können: Gestalt und Charakter des »Bösen«, mit dem sich der Mensch als Mensch auseinanderzusetzen hat, sind in allen Epochen gleich, so daß - allein von dieser Geschichtsphilosophie her - Anachronismen im Grunde nicht möglich sind.
Das Romanthema und die Form seiner Behandlung
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schwinden gebracht, sondern eigentümlich ist, daß sie zu einer höheren Existenzform gelangt, zu »Geist« wird, ohne daß sich dabei auch notwendig die äußere Form verändert. Auf der Basis eines idealistischen Denkens handelt es sich hier also im eigentlichen Sinne nicht um Dualismus, sondern um Dynamismus. 15 - Stellt die Kunst nun das »geistig« klare Bild einer »materiellen« Wirklichkeit dar, dann leistet der Künstler eine genuin »menschliche« Aufgabe: Er dient dem einzig möglichen Fortschritt, der im Sinne Heinrich Manns als geschichtliche Leistung erwähnenswert ist, dem »moralischen« Fortschritt. Von dem moralischen Fortschritt ist jede Veränderung der realen, »materiellen« Gestalt der Wirklichkeit abhängig bzw. - hier fließt in der Umkehrung der Betrachtungsweise auch materialistisches Gedankengut in das System ein »moralischer« Fortschritt ist unabhängig von Veränderungen der »Materialität« der Wirklichkeit gar nicht denkbar. Auf diese Weise dient das Werk des Künstlers als ständiges Ringen um »Geist« der Bewußtwerdung und der Verwirklichung von »Freiheit«, also dem geschichtlichen Progreß. Hier liegt dann auch die Verpflichtung des Künstlers begründet, durch sein Werk politisch zu wirken. Weiterhin geht Heinrich Mann in dem Brief auf die Kategorien ein, nach denen die »künstlerische Wirklichkeit« gestaltet ist. Es sind ästhetische Kategorien, die das Ereignis in seiner moralischen Gestalt abbilden. Dies verdeutlicht der Satz: »Gewisse Greuel gehen f ü r mich ins Groteske über und werden phantastisch«. Unsere Annahme, von einer ästhetisch autonomen Wirklichkeit des Kunstwerks zu sprechen, wird dadurch also eindeutig gerechtfertigt, die Bedeutungsfunktion der ästhetisch autonomen Form zur Analyse der empirischen, politischen Wirklichkeit unterstrichen. - Ferner geht Heinrich Mann auf die »Logik« der Darstellung ein. Er sagt: »Hier ist der Absprung in die Fabel das Abstruse, dann folgt die im Grunde vernünftige Szenenreihe, abenteuerlich machen sie die Umstände.« Hiermit bezieht er sich wahrscheinlich auf die einleitende Szene des Romans, wo ein H u n d in die Ortschaft Lidice eindringt, dort den Konvoi Heydrichs aufhält, der zu dieser Zeit Lidice passiert, und damit die Verknüpfung von Heydrich und Lidice auslöst. Pavel Ondracek entdeckt nämlich bei dieser Gelegenheit an sich die zwanghaft sich einstellende Fähigkeit, Heydrich in Stimme und »Maske« zu imitieren. Von 15
Zum Begriff des »Dynamismus« vgl. Schröter, S. 146 ff., dessen Blick allerdings auch in diesem Falle dadurch eingeschränkt ist, daß er die hier zu behandelnden Phänomene ausschließlich aus einer Abhängigkeit Heinrich Manns von Balzac zu erklären versucht. - Zum Gesamtproblembereich vor allem Heinrich Manns früher Aufsatz: (Mann, Heinrich): Die Moral der Entwickelungslehre. - In: Das Zwanzigste Jahrhundert. Berlin Jg. 5. Halbbd. 2, Juni 1895, S. 295-300. Vgl. Manfred Hahn: Heinrich Manns Beiträge . . ., a.a.O., insbesondere S. i o o 7 f f . ; ebenso Schröter, S. 140 ff.
» L i d i c e « : Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis
dieser Fähigkeit als Zwang getrieben, folgt er Heydrich nach Prag, um als Doppelgänger Heydrichs diesen zu bekämpfen. »Abstrus« sind die Umstände, die das Zusammentreffen von Pavel und Heydrich in Lidice auslösen. Allein die Folgen, die dadurch ausgelöst werden: letztlich das Attentat auf Heydrich und die Vernichtung Lidices, geben ihnen einen Sinn. In aller Abenteuerlichkeit und Phantastik »folgerichtig« ist der weitere Ablauf der Geschehnisse, der sich daraus entwickelt. »Abstrus« ist somit auch eine ästhetische Kennzeichnung der Struktur, die einer sich an sich logisch abwickelnden, zugleich aber auch abenteuerlich-phantastischen Geschehensfolge zugrunde liegt. Weshalb sie nur durch eine ästhetisch negative Kennzeichnung charakterisiert werden kann - auf diese Frage wird noch einzugehen sein. Mit ästhetischen Kategorien charakterisiert Heinrich Mann ferner auch den Gegensatz zwischen den Tschechen und ihren Unterdrückern. Auf der einen Seite spricht er von der »Wackligkeit«, die die deutsche Okkupationsmacht auszeichnet, auf der anderen Seite nennt er das »Volksstück«, durch das die Tschechen sich selber feiern. »Macht«, die sich ihrer selbst nicht sicher ist, und theatralische Selbstdarstellung im »Volksstück«: das ist ein »ästhetischer« Gegensatz - verkörpert etwa in dem Unterschied zwischen der »Kleinen Stadt« und dem »Untertan« - , wie er für die dargestellte Wirklichkeit in Heinrich Manns Werken konstitutiv ist. Die beiden Briefstellen bestätigen also durchaus die Annahme einer nach ästhetischen Kategorien erstellten, für sich autonomen Kunstwirklichkeit. Wie nun diese Wirklichkeit konkret gestaltet und um ein einheitliches Problem zentriert ist, soll im folgenden nachgewiesen werden.
3.3. Das Bild des Dorfes Lidice Dem Roman ist eine außerordentlich konzis gefügte, bildhafte Beschreibung des Dorfes Lidice vorangestellt. Ganz im Gegensatz zu der dann folgenden Romanwirklichkeit ist dieses Bild dem Leser völlig offen und frei zugänglich: » D i e L a n d s t r a ß e nach P r a g f ü h r t durch das D o r f Lidice. Es ist ein schöner S o n n t a g morgen im Frühling. D i e meisten Einwohner ergehen sich draußen. D e r älteste Teil des D o r f e s umrandet in Winkeln und Ausbuchtungen launisch die Straße, die keine Verbreiterung zuläßt, außer, die alten H ä u s e r , H ö f e , G ä r t e n würden abgerissen. A u f dem einen E n d e steht aus Urzeiten die D o r f l i n d e mit weiter K r o n e und jungem L a u b . D i e Wiese dahinter ist von Gänsen bevölkert, der Teich, auch ein Gemeindegut, von Enten. A u f den B ä n k e n im U m k r e i s der L i n d e sitzen Frauen, die zerarbeiteten H ä n d e liegen im Schoß, die Stimmen sind laut, die Gemüter sonntäglich still. Sie tragen bunte S t o f f e . H e l l gekleidete K i n d e r spielen. D a s andere E n d e der bebauten Straße wird v o n der längst schon geschlossenen T a n k -
Das Bild des Dorfes Lidice
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stelle bezeichnet. Die Mitte bildet die gestreckte weiße Front des Wirtshauses, zu seiner Seite öffnen sich Lauben aus Gaisblatt, Rosen, wildem Wein. Zwischen Linde und Tankstelle halten und gehen die Männer von Lidice, alte und junge, die Mehrzahl sind Bergarbeiter in möglichst farbigen Anzügen, da die Woche über ihre Tracht dunkel ist. Die anderen Leute, Bauern, Gewerbetreibende, Handwerker, bewohnen die angrenzenden Häuser oder nächsten Gehöfte. Jede Gruppe hat spannende Neuigkeiten zu besprechen, ohne daß jemand seine Erregung hervorkehrt. Jenseits dieser kleinen Ansammlung von Trachten und Gesichtern, über den blühenden Büschen, keimenden Obstbäumen, Vorväter-Behausungen droben die kahle schwarze Platte der Kohlengruben, die aufgereihten Arbeiterhäuser haben dort den grellsten Anstrich, je rauchiger die Luft, die sie umgibt. Hinter dem letzten Rauch, nicht weniger dunkel als er, verschwimmt der Umriß eines Waldes. Aus der Gegend der Linde sind Wege gesenkt nach dem Tal und seinen Fruchtfeldern. Drüben, rechts des Dorfes, wird der Blick begrenzt von heiteren Hügeln, die wohlhabenden Villen lehnen an ihnen. Der Himmel ist nach dieser Richtung hoch und mildblau. Freie Zwischenräume der Landschaft zeigen weithin kurze Strecken die Fahrstraße.« (S. 7 f.) Hier wird programmatisch vor Beginn der Romanhandlung das Bild einer gesellschaftlichen Wirklichkeit gezeigt, die in Ausgeglichenheit und lebendiger Spannung einen humanen Bereich innerhalb der Geschichte verkörpert. Landschaft, Klima, Menschenschlag bilden eine harmonische Einheit. Landschaftliche und soziale Gliederung greifen ineinander. Kein Zweifel kann bestehen, daß hier eine Wirklichkeit »erstellt« und nicht »abgebildet« wird. Erkennbar sind konservative Ordnungsvorstellungen, die sich im Dargestellten niederschlagen: im Zentrum die dörfliche Siedlung, dahinter die Arbeitersiedlung, daneben die »wohlhabenden Villen«. Der lebendige Mittelpunkt, weil sich hier das Leben der Gemeinschaft abspielt und hier ihre Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommt, sit der Dorfplatz zwischen »Tankstelle« und »Dorflinde«, durch diese Charakterisierung selber wie die Linde Ausdruck historischer K o n tinuität und organischen Wachstums. Dahinter als Symbol des gemeinsamen Wirtschaftens: Dorfwiese und Dorfteich. Jedes Element ist zugleich »real« wie auch »symbolisch«: Die dargestellte Wirklichkeit ist aller »bloßen« M a terialität entkleidet und veranschaulicht in diesem Sinne eine »geschichtliche« menschliche Landschaft 1 6 . 16
Vgl. den diesbezüglich ebenso »symbolhaften« Anfangssatz der Henri-QuatreRomane: »Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer« (S. j), der die »milieumäßige« Verankerung des Helden wie die konstante Spannung seines Lebensweges in sich zusammenfaßt und so leitmotivisch für die Struktur des Romans steht. Vgl. hierzu die ausführliche Interpretation von Hanno König, S. 303 f f . In den Henri-Quatre-Romanen gibt es im übrigen eine Stadtbeschreibung, die von ihrer Anlage her der Lidices vollkommen gleicht: »Zwischen seinen Gitterstäben blickt der Soldat hinunter in den äußeren Hof (i. e. des Schlössen von Pau - F. T.), dann über den Laufgraben in das Land hinaus. Hinter dem Stadttor zieht eine Straße, darauf könnten Feinde erscheinen. Friede und Sicherheit wohnen auf beiden Ufern der grünen Baise, diesseits und jenseits der
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Dieser Dorfplatz ist wieder Spiegel einer öffentlichen Ordnung. Wie ein selbstverständlicher Rahmen der Gemeinschaft drückt er in sich die Trennung von Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern, von Werktag und Feiertag aus. Das dominierende Element in der Erscheinung ist der soziale Friede die Szene ist vollkommen heiter und unbeschwert. Dieser Platz repräsentiert in seiner Stilisierung ein intaktes, öffentliches Gemeinleben. Nicht unbeabsichtigt ist wohl auch die Anspielung auf das »Gemeingut«: Eine konservativständisch verstandene soziale Ordnung zeigt sich in der Darstellung aller ihrer Elemente als »soziale Demokratie«. Es ist das Bild der »Kleinen Stadt«, in eine andere Landschaft mit einem anderen Menschentyp verpflanzt. Die empirische Geschichte und ihre Konflikte scheinen außerhalb dieser Ordnung zu stehen. Tatsächlich verkörpert das nur ihre Besonderheit: eine Welt des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu sein. Ungewöhnlich in diesem Bild, weil sie nicht in das Schema der organisch gewachsenen, dörflich-mittelständischen Gemeinschaft passen, sind die Arbeiter. Hier werden auch die bewußt harmonisierenden Tendenzen deutlich. Auf den Arbeitern liegt ein besonderer Akzent. Sie werden noch vor den Bauern genannt. Ihre Integration kommt durch zwei Kennzeichen: ihre Kleidung und den Anstrich ihrer Häuser, zum Ausdruck. In beiden Fällen steht das Äußere in bewußtem Gegensatz zu den Bedingungen der Berufswelt. Die Berufswelt erfordert eine dunkle Kleidung - die sonntägliche Kleidung ist deshalb besonders bunt. Die Berufswelt verdunkelt die Häuserfronten - deshalb werden sie besonders hell gestrichen. Im Sinne eines »dynamistischen« Denkens bedeutet das Überwindung der »Materialität« der bedingenden Umweltskräfte, daher »Freiheit«. »Frei« aufgrund einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt gliedern sich die Arbeiter in diese Sozialordnung ein. An dieser Stelle erfolgt die gefühlsmäßige Solidarisierung Heinrich Manns mit den hier dargestellten Menschen. Ein Stimmungsbogen bricht ab; der Autor wird erinnert, wann dieses Bild erstellt worden ist: vor der Vernichtung dieser Welt durch den Nationalsozialismus: »Dies ist eine kleine Welt, wie sie dastand, bevor sie unterging, ein böhmisches D o r f , A b r i ß tschechischen Lebens, aller Arbeit und Mühe der vielen Geschlechter und dieses letzten. Es enthält die menschlichen Leidenschaften, dazu den einheimischen W i t z . Brücken: sie heißen die alte und die neue. Diese schwebt hinüber zu dem stillen Park L a Garenne, die andere verbindet die Stadtteile. Unterhalb des Schlosses wohnen Bürger wohlbehütet. Drüben bauen Herren v o m H o f sich an, seitdem es hier den H o f gibt. H a n d w e r k e r , K r ä m e r und Gesinde drängen sich zu den festen Häusern der Großen: so entstehen Gassen, gewunden, eng, ein H ä u f l e i n von einer Stadt, durch die hinweg Bäche eilen und Kinder spielen. Die Kleinen erstürmen schreiend die hohe alte Brücke, A l t e klettern sie vorsichtig hinan; und das Spiegelbild ihrer offenen Bogen tief im Wasser nimmt nacheinander die Schatten auf - all derer, die hier leben.« (Jugend, S. 4 7 8 ) .
Das Bild des Dorfes Lidice
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Ihm fehlen so wenig die Narren wie die Nachdenklichen und Belasteten, wer wäre nicht belastet, wo der Feind im Land über jede eurer Regungen wacht! Kein Schmerz, kein Glück ist abwesend von Lidice. Nicht zu vergessen, die Verliebten. Zwei von ihnen erheben die Köpfe über die sanfte Talsenkung. Jetzt tauchen sie in ganzer Gestalt bei der Linde auf.« (S. 8) 17 Mit der Erinnerung an die bevorstehende Vernichtung löst sich die Statik des Bildes. Erst jetzt wird in vollem Umfang deutlich, daß die Ruhe nicht Weltabgeschiedenheit bedeutet, sondern daß sie eine Leistung ist, die der realen, spannungsreichen Geschichte abgerungen ist, und daß das Dorf mitten in einer von Konflikten belasteten Landschaft liegt. Bewußt wird hier an die Affekte wie an das Liebespaar erinnert. Dadurch tritt die Lebendigkeit in das Bild hinein die »praktische« Auseinandersetzung mit der Geschichte beginnt. Dieses sehr beeindruckende Bild, das zunächst unbewegt verharrt, dann sich unvermittelt in Leben und Bewegung auflöst, wirft verschiedene Probleme auf. Man könnte es als einen Prospekt deuten, den ein auktorialer Erzähler einem imaginären Publikum vorführt. Mehr noch erinnert es an eine Bühnenszene, w o die Schauspieler bei offenem Vorhang noch für einen Moment bewegungslos in ihren Ausgangsstellungen verharren, bis der Blick der Zuschauer die gesamte Szene durchwandert hat, und w o erst dann das Spiel beginnt.18 Ein Element, das nun sicherlich der Bühnensphäre entstammt, taucht am Ende des Romans auf: ein gereimtes, in den Reimen allerdings sehr holpriges Wechselgespräch, in das alle Personen, die auf der Szene versammelt sind, einfallen. Die Situation ist folgende: Die Hauptpersonen des Romans sind nach 17
»>Lidice< muß als Filmscript konzipiert und ausgeführt worden sein«, sagt Klaus Schröter in seiner Heinrich-Mann-Biographie (Heinrich Mann in Selbstzeugnissen . . ., a.a.O., S. 144) aufgrund dieser Szene. Tatsächlich ist der Obergang von der Totalen über »halbnah« zur Großaufnahme charakteristisch für eine bestimmte Art der Kameraführung. Daraus aber zu schließen, »Lidice« sei ein Filmscript, strebt über das Ziel hinaus. Das Filmscript ist eine Vorstufe zum Film; es gibt allenfalls Anweisungen über Möglichkeiten der Kameraführung. »Lidice« dagegen imitiert den Film selber; der Roman bedient sich filmischer Mittel, um den Leser zu einem »Zuschauer« der dargestellten Wirklichkeit zu machen. Der Film ist als eine bestimmte, ästhetische »Form« Teil der »Kunstform«, die die dargestellte Wirklichkeit beherrscht. »Lidicei daher als Filmscript anzusehen ist ebenso unsinnig, wie wenn man »Die kleine Stadt« als Schauspieltext ansähe. - Wertvoll ist dagegen Schröters Hinweis auf Heinrich Manns Brief an seinen Bruder Thomas vom 28. Februar 1941, in dem er von dem Werk, an dem er augenblicklich arbeitet, als von »meinem (n) Filmroman« spricht (ebd., S. 145). Der Ausdruck zeigt, daß sich Heinrich Mann über die Synthese zwischen Roman und Film voll bewußt ist.
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Einerseits vom Schauspiel, andererseits vom Film als »Form« zu sprechen, die die dargestellte Wirklichkeit beherrscht, widerspricht sich keineswegs. Bühne und Leinwand sind bei Heinrich Mann augenscheinlich verwandte Medien, auf die er in gleicher Weise rekurriert, da sie beide eine optische Präsentation des Darzustellenden ermöglichen und damit den Leser zu einem Zuschauer machen, der in seinem
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Jugoslawien geflüchtet und haben sich dort einer Partisanengruppe
ange-
schlossen. Ihr völliges Einvernehmen wird sichtbar, als sie gemeinsam zum Kampf einen Berg hinuntersteigen: »Den Berg herab naht das Geräusch vieler Schritte und beförderter Maschinen. Einige Minuten noch, bis ein Trupp von Guerilla-Mannschaft die tschechischen Soldaten in sich aufnehmen und sie talwärts tragen wird. Bis jetzt halten drei der Personen einander bei der Hand. Pavel ist aufgestanden. Die übrigen drei schließen sich der Kette an. Ihre Hände alle sind verbunden im Namen des gemeinsam Vollführten, das hinter ihnen zurückbleibt, und der vorne, dort vorne, von den Kämpfern verlangten Taten. Jaroslav:
>Wenn wir alle tot sein werden, Ist doch unsre Heimat frei.< Milo: >Denn so wollen sie's auf Erden, Daß im Glück das Unglück sei.< Doktor Holar: >Schlachten wären längst nicht mehr erlaubt, Gleichwohl lieber Held als hingerichtet -Als der Schrecken über jedem Haupt, Trost sind nur Legenden, ungeglaubt -< Wokurka: »Aber doch nicht schlecht erdichtete Jaroslav: >Unser Volk kann niemals unterliegend Milo: >Viele Völker sollen draußen siegen -< Wokurka: >Auch zu Hause, hör' ich.< Pavel: >So das Ende.So meinte ich es.< Denn ihm schien und wurde deutlicher mit jedem Augenblick, daß sie im Chor gesprochen hatten: verschiedene Noten - eine Harmonie.« (Jugend, S. 458 f.; Hervorhebung - F. T.)
D i e opake Wirklichkeit
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glaubt« — vor Augen geführt wird. Dies ist sicherlich die Absicht Heinrich Manns - exakt zu bestimmen, welche »Form« nun tatsächlich für die dargestellte Wirklichkeit gewählt worden ist, scheint dagegen unerheblich zu sein. Als vor allem optisch zu erfahrende Erscheinung tritt sie dem Leser ins Bewußtsein.
3.4. D i e o p a k e Wirklichkeit 2 0 Für die Situation, in der sich die Personen des Romans - wie der Leser - einer absolut phantastischen und unwirklichen Romanwelt gegenüber befinden, ist eine einzelne Szene von charakteristischer Bedeutung. Sie beschreibt den Fluchtversuch, den ein Angehöriger der Gestapo mit Namen »Blumentopf« aus der Bewachung eines Mitglieds der Widerstandsgruppe, des deutschen Hauptmanns »Krach«, unternimmt. Dieser Versuch mißglückt, weil Krach in einem bestimmten Moment erkennt, daß die Welt, die ihn umgibt, »grotesk« ist, und er daraufhin den Gestapo-Mann erschießt. - Die Situation ist folgende: Durch eine Finte hat Blumentopf für einen Moment Krachs Aufmerksamkeit abgelenkt und versucht nun, sich von ihm zu entfernen: » E r (Blumentopf - F . T . ) geht ab, beginnend im Marschtempo, die Beine w i r f t er. Schon nach den ersten Schritten findet er, daß genug >geblufft< ist. Richtiger erscheint ihm die offene Flucht, ein unberechenbares Umherspringen, um dem R e v o l v e r des Stärkeren, wenn er ihn dennoch gebrauchte, die Richtung zu durchkreuzen. Seit dem Einbruch des Turmes (einem z u v o r beschriebenen Ereignis - F . T . ) hat er ziemlich die Farbe eines Hasen, jetzt auch die Bewegungen, gewiß w ü r d e er H a k e n schlagen. H a u p t m a n n Krach, sieht wieder, hat den Entschluß zurück: Glücklicherweise seid ihr grotesk.« Befehlston: »Halt! Ich schieße.Sie (Heydrich - F. T.) sollten handeln, als ob es (Großdeutschland - F. T.) ewig dauert. In Wirklichkeit handeln Sie wie ein Deutscher, der sich nicht ernst nähme. ( . . . ) D e r Führer redet auf dem Wisch (dem plakatierten Gesprächstext - F . T . ) nach zwei Buddeln Enzian.< Oberst Schalk, erschrocken: >Geben Excellenz auf sich A c h t ! Heil Hitler!< H e y d r i c h : >Heil Hitler! Wenn nicht sein blödsinniger Stil unverkennbar wäre, sagt' ich: er war's gar nicht. H a t mich im Rausch als Leiche gesehen, auf dem A l t m a r k t anstatt in Brünn.< Oberst Schalk: >Die Fehler bestätigen, daß er's war.< Heydrich, entschlossen: >Ich erkläre das Pamphlet f ü r eine grobe Fälschung. Nehmen Sie zur Kenntnis, Oberst Schalk, daß von der ganzen Regierung f ü r Böhmen-Mähren nicht einer auf seinem Posten bleibt. A l l e nach Polen deportiert !< Oberst Schalk: >Excellenz wollten sich selbst -?< H e y d r i c h : >Fangen Sie schon wieder an?< Oberst Schalk: >Dahin müßte es notwendig kommen, wenn der Führer erführe, daß Sie seine historischen Worte abstreiten. E s wäre, melde gehorsamst, das E n d e Ihrer ruhmreichen Laufbahn.< H e y d r i c h : >Der A n f a n g w a r ein Fußtritt, den unser künftiger Afrikasieger bekam. W o seid ihr Zeiten! J e t z t muß ich mir sagen lassen, ich hätte in Brünn drei alte Juden erschossen und sei davongelaufene« (S. 1 4 8 f.)
»Logisch« ist dieser Gesprächsverlauf insofern, als das Gesagte immer wieder durch die Berufung auf die Autorität Hitlers - mit den Identifizierungsmerkmalen der Fehlerhaftigkeit und Alogik - korrigiert wird. Die Argumentationskette, die so entsteht, ist deshalb zwar in sich folgerichtig, insgesamt aber absurd. Ein zentrales Motiv der Heydrich-Welt ist die »Maske«, die Heydrich trägt. Sie ist das unverhüllte Antlitz des Schreckens. Auf die Frage, welche Be-
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deutung sie für Pavel Ondracek hat, der durch sie Heydrich imitiert, wird noch einzugehen sein; für die äußere Kennzeichnung der Heydrich-Welt genügt es, vorerst festzustellen, daß die »Maske« auf alle Personen, die Heydrich unterstellt bzw. verwandt sind, übergehen kann, so auch auf die Mitglieder der Geheimpolizei: »Die vier Geheimpolizisten halten vor dem Tisch. Jeder hat beiläufig die Maske, wie Pavel sie nachahmen kann. Ihre sind weit weniger gelungen, man betrachtet sie ohne Entsetzen, obwohl Furcht zu erregen ihr offenbares Ziel ist.« (S. 1 2 3 )
Eine solche »Maske« ist ein unlebendiges menschliches Antlitz. Wer sie trägt, schlüpft damit zwangsläufig in die »Rolle«, die Heydrich spielt. So wird die Heydrich-Problematik auf andere Personen, insbesondere Pavel, übertragen. Die »Maske« ist somit ein fungibles »ästhetisches« Mittel, »äußerlich« eine »innere«, vor allem psychische Problematik darzustellen.22 Die Heydrich-Welt beherrscht keineswegs die gesamte dargestellte Wirklichkeit. Gleichwertig steht ihr die Welt Pavel Ondraceks, also der Tschechen, gegenüber. Doch diese Welt ist keineswegs so einfach zu kennzeichnen wie die irrationale, grotesk-bizarre Heydrich-Welt. Teilweise ist sie einfach eine »natürliche« Welt, teilweise eine ästhetisch-theatralisch verklärte Welt. Wir werden darauf verschiedentlich noch einzugehen haben. — Beide Welten vermischen sich. So bei dem Vorgehen der SS in Lidice, wo unverhofft Gesichter junger, »natürlicher« Menschen auftauchen. Diese handeln dann auch anders, als es bei Menschen der Heydrich-Welt üblich ist: »Der Geheime greift endlich durch. D a ohnedies alle Heil Hitler gerufen haben, fragt er nicht erst, er läßt die SS-Männer zusammen mit der motorisierten Mannschaft jeden achten Eingeborenen niederschlagen. Die SS strecken ihre Erwählten gewissenhaft hin, die jungen Soldaten haben Gesichter zwischen Wut und Lachen, ihre Schläge sind selten nachhaltig.« (S. 26)
An solchen Details, wo ein offensichtlich spontaner, »natürlicher« Widerstand gegen die Heydrich-Welt auftaucht, entzündet sich die eigentliche Problematik der dargestellten Wirklichkeit. Hier wird das, was zuerst nur in zwei »Milieukreisen«, von denen der eine das Gute, der andere das Böse repräsentiert, ästhetisch verschlüsselt zu sein scheint, erneut zum Problem.
3.5. D i e E r k e n n t n i s p r o b l e m a t i k Die bisherige Interpretation bleibt noch auf einer relativ niedrigen Stufe stehen. Was nützt es der Person des Romans, wenn sie die Phänomene der sie umgebenden Umwelt in ihrer »ästhetischen« Gestalt - z. B. als »grotesk« - identi22
Ein in dieser A r t gebrauchtes, durchgängiges »ästhetisches« Symbol ist die »Maske« zuerst in »Der Kopf«, dem abschließenden Band der Kaiserreich-Trilogie.
Die Erkenntnisproblematik
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fizieren kann? Sie schafft damit nur eine sehr grobe Einteilung der Wirklichkeit. Der eigentlichen Problematik, wie sie sich gegenüber diesen Phänomenen zu verhalten hat: der moralischen Handlungsproblematik, ist sie damit noch nicht enthoben. Diese Überlegung zeigt, daß die dargestellte Wirklichkeit keineswegs bloß ästhetisch »verschlüsselt« ist, sondern daß es sich um eine tatsächlich - auch moralisch - opake Wirklichkeit handelt. Mit der Kategorisierung in »gut« und »böse« ist die urteilsmäßige Bewältigung dieser Welt nicht, wie es zunächst scheinen mag, bereits vorweggenommen, so daß dem Leser nur noch übrigbliebe, das Urteil des Autors zu affirmieren, sondern es ist ausschließlich eine Einteilung geschaffen, wie sie auch dem empirischen Menschen mit Hilfe fixer Wertmaßstäbe möglich wäre. Er stünde darnach erneut vor dem Problem, sich als moralisch verantwortlicher Mensch in dieser Welt zurechtzufinden. Die moralische »Ästhetisierung« der dargestellten Wirklichkeit überzeichnet daher nur die Probleme der Moral, vor denen der Mensch steht, beeinflußt sie aber nicht. Die opake, »ästhetische« Wirklichkeit ist eine genaue Entsprechung der empirischen Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zur moralisch verantwortlichen Entscheidung, dem jeder Mensch, will er »Mensch« sein, unterworfen ist. 23 . Zusätzlich zu dieser statischen Ordnung f ü h r t Heinrich Mann, wie wir bereits angedeutet haben, fungible »ästhetische« Elemente ein, so die »Maske«. Andere »ästhetische« Elemente sind Problematiken, die an einen konstanten »ästhetischen« Typus - so an den des »Dilettanten« - oder an »ästhetische« Lebensformen - so an die des Schauspielers - gebunden sind 24 . Damit konstruiert er die Variabilität der menschlichen Wirklichkeit nach, wie sie sich auf alle Phänomene der Moral auswirkt. Doch auch hiermit haben wir bloß den technischen Rahmen der Darstellungsmöglichkeiten erfaßt. Nach welchen konkreten Problemen die dargestellte Wirklichkeit sich orientiert - woraus sich erst die Frage der Moral als Problem stellt - , ist noch nicht gesagt. Hierzu müssen wir auf die besondere Lebens- und Handlungsproblematik der Personen des Romans eingehen. 23
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In den Henri-Quatre-Romanen finden wir, bei einer umgekehrten Ausgangssituation, die genaue Entsprechung zu dieser Problematik: Der junge Henri muß sich erst daran gewöhnen, daß Madame Catherine nicht wie eine Hexe aussieht, als die er sie sich vorgestellt hat, und daß sein Lehrer Beauvois hinter der Maske eines Biedermannes ein sehr trickreiches, »krummes Wesen« verbirgt und trotzdem ein treuer Diener ist (Jugend, S. 23 und 38 f.). - Korrigiert die erste Erfahrung nur ein naives Verständnis einer als notwendig unterstellten Harmonie von innerem Wesen und äußerer Erscheinung, so führt die zweite Erfahrung unmittelbar in die Erkenntnisproblematik ein, wie sie »Lidice« entwickelt. Entsprechende Erscheinungen haben wir unter dem Begriff des »Komödiantentums« bereits im Schlaraffenland-Roman untersucht.
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»Lidice«: Darstellungskategorien moralistisdier Erkenntnis
Die »ästhetisch« gestaltete Welt, die erst durch Erkenntnis erschlossen werden muß, ist die Lebenswelt Pavel Ondraceks und seiner Freunde. Sie ist eine politische Welt. Ihre Konstituentien sind einmal der Faschismus, zum anderen der antifaschistische Widerstand. - Es taucht eine Vielzahl scheinbar kontingenter Hinweise auf, die die Relevanz dieses Gegensatzes als bedingender Ursache für die besondere »Form« der dargestellten Wirklichkeit beweisen. Wenn Heydrich z. B. auf der Prager Burg strickende Tschechinnen sieht, dann folgert er daraus, daß sie für die Russen stricken. Zwar korrigiert Oberst Schalk diese irrige Annahme, aber durch die Art, wie er es tut, bestätigt er indirekt, daß die Vermutung grundsätzlich richtig ist: »»Eure Excellenz nehmen richtig an, daß dieses V o l k lieber f ü r die Russen stricken würde. Wohl oder übel strickt es f ü r uns.Da kannst du etwas Schönes. G e h ' als G r i massenschneider mit einem Wanderzirkus - nach Jugoslawien, dort führst du deine Glanznummer vor.Woher ist der Kommandant?< D e r G e f r a g t e : >Aus M a r o k k o . Versteht sich selbst nicht.Oh! Pavel, du traust mir nicht.< P a v e l : >Lyda, mein Bräutchen! Wenn ich dir nicht trauen könnte, wem dann. M i r selbst nicht mehr ganz, wie es scheint. ( . . . ) Jetzt laß es genug sein!< P a v e l : >Was du v o n mir verlangst, V a t e r ! D a s sind A n f ä l l e - nicht gerade epileptoider A r t , von dem T y p bin ich nicht, fehlen auch die meisten Symptome. A b e r das erste M a l , als du mich dabei ertapptest, hab' ich wirklich nichts gewußt.< L y d a : »Jetzt hast du die Fratze mit Fleiß gemacht !< P a v e l : >Nicht eigentlich. D e r A n f a n g ist unbewußt, muß es auch sein. Folgt eine Strecke der Beobachtung und Kritik. M a n vergleicht und vertiefte Jaroslav: >Da hast du eine neue Wissenschaft^ P a v e l : >Oh!, neu ist gar nichts. Im späteren Zustand scheint man sich selbst zu vergessen. Soweit bin ich noch nicht.< L y d a : >Vergessen könntest du, daß du Pavel bist? Mein Pavel!< Pavel, umarmt sie: >Der bleib' ich! Dein Pavel unter jedem Gesicht.Liebst du mich, ist alles gut. Ich werde b r a v sein.< L y d a : >Ein braver G a t t e oder braver Tscheche? J e nach dem, tötet einer den M e n schen, mit dem er dasselbe Gesicht hat.« P a v e l : >Was sprichst du! Keinen Gedanken an Töten hatte ich. Einer, der als H e y drich ginge, müßte darum nicht töten. V i e l eher, w e r weiß, könnte er - retten.< L y d a : >Die Deutschen lehren uns nur töten. Diese N a c h t w a r ' es dir selbst eingefallen. Liebster, w i r müssen fliehen.« P a v e l : >Mit einem Wanderzirkus nach Jugoslawien! D o r t darf ich Grimassen schneiden.« Immer lustiger: >Die Leute freut es. D e r D o r f S c h n e i d e r fertigt mir zum V e r g n ü gen den A n z u g . A u s Freundschaft klebt der Barbier die Perücke.«« (S. 6 7 )
Hier klingt erstmals das große Thema des Romans an: die Auseinandersetzung mit dem Problem der Gewalt. Lyda fürchtet, daß ihr Mann - als »braver Tscheche« - von den Deutschen das lerne, was sie als einziges vermitteln können: zu töten. Pavel dagegen sieht die Möglichkeit, gerade die »Maske« dazu zu nutzen, dem Zwang, der Gewalt durch erneute Gewalt zu antworten, zu entgehen. Lyda hält diese Möglichkeit nicht f ü r realistisch; deshalb schlägt sie vor, gemeinsam zu fliehen. Scheinbar nimmt Pavel den Gedanken auf. Mit
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zynischer Begeisterung nennt er Jugoslawien als Ziel. In Jugoslawien, das erkennt er richtig, wäre er zwar ungefährdet, aber der Trieb, Heydrich imitieren zu müssen, wäre hier nur pure Grimassenschneiderei: ein Komödiantentum, das niemand ernst nehmen würde, aber die, die es ausübten, entehrte. Aus Verzweiflung vor dieser Ausweglosigkeit verwandelt sich Pavel für einen Moment in einen Narren. 28 U m verstehen zu können, weshalb Pavel auf diesen absolut phantastischen Plan verfällt, muß man bedenken, daß ein physischer Widerstand in diesem Augenblick angesichts des deutschen Terrors unmöglich ist. Der Widerstand, der die Gewalt unterläuft, ist deshalb ein Ausweg; aber er ist auch eine Chance, da gegenüber dieser A r t von Widerstand die Deutschen - gerade weil sie nur in den Kategorien manifester Gewalt denken - völlig hilflos sind. Vor allem gibt diese A r t des Widerstandes den Tschechen die Freiheit einer moralisch verantworteten Entscheidung wieder. So erwogen, ist Pavels Vorhaben absolut sinnvoll. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß gerade die entschiedenste Kämpferin im Widerstand, Milo Schatzova, Pavels Plan im wesentlichen ablehnt. - Die Alternative: Flucht und Selbstaufgabe, in die sich Pavel und L y d a für einen Moment hineinsteigern, ist sicherlich falsch. Schließlich endet der Roman damit, daß alle Hauptpersonen nach Jugoslawien fliehen, um dort als Partisanen zu kämpfen. N u r ist ihnen diese Möglichkeit im Augenblick offensichtlich nicht verfügbar: Pavel, weil er unfähig ist, Gewalt anzuwenden und Gewalt zu verantworten - seinen Freunden, weil sie nicht ihre Heimat verlassen wollen. Der Gedanke, der am Schluß des Romans steht: daß für die Antifaschisten überall die Heimat ist und sie überall mit ihrem Kampf der Heimat dienen, hat für sie in diesem Augenblick noch keine Realität. Wie sehr Pavel unter diesen Umständen Heinrich Manns Zustimmung hat, wird an einem scheinbar unbedeutenden Detail sichtbar: Er läßt Pavel seine Pläne unter dem Bild des Präsidenten Masaryk entwickeln (S. $4 ff.), des Mannes, in dem Heinrich Mann das Beispiel des intellektuellen Führers einer Nation gesehen hat. 29 28
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Hier haben wir eine der deutlichsten Parallelen zu den Henri-Quatre-Romanen vor uns: Auch Henri wird nach der Bartholomäusnacht - nachdem er sich selbst und die Situation, in der er sich befindet, voll durchschaut hat - für einen Moment zum Narren; die Situation prägt ihn sogar so stark, daß die Narretei ihm späterhin zu einer stets verfügbaren »Maske« wird. - V g l . auch Hanno König, S. 380 f f . Was H a n n o König und andere Interpreten jedoch zu wenig erkannt haben, ist, daß diese Situation ein Moment ist, v o n dem eine formale, »ästhetische« Spiegelung der im Vordergrund stehenden, auf Wahrscheinlichkeit hin ausgerichteten Darstellung ausgeht, die dann in ästhetischen »Symbolen« und Strukturen dieser »Symbole« die gesamte dargestellte Wirklichkeit durchzieht, so daß der Roman als Ganzes schließlich keineswegs mehr als »naturalistisch« zu verstehen ist, wie es - trotz wesentlicher Einschränkungen - auch H a n n o K ö n i g noch meint. Vgl. »Ein Zeitalter«, S. 32, 298 ff., 430, 4 3 J f., J 3 7 .
Die Bedeutung der »Maske« im Widerstandskampf
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Auf dieses Problem hin, eine individuelle Entscheidung zu treffen, wie man sich als Antifaschist gegenüber der Gewalt des Faschismus zu verhalten habe, ist der gesamte Roman zu einem großen Teil ausgerichtet. Immer wieder taucht bei Pavels Tun die Frage auf, nicht nur, weil der Erfolg ihn in immer stärkerem Maße mit dem System des Faschismus verstrickt, so daß der »Sinn« seines Tuns ihm immer mehr zum Problem wird, sondern weil Pavel auch in immer größere »dilettantische« Zweifel an sich selber gestürzt wird. Die Frage bestimmt nicht zuletzt auch die Gestalt, in der die Welt erscheint, in der der Roman spielt. Als Beispiel kann die bereits besprochene Szene zwischen Hauptmann Krach und dem Gestapomann Blumentopf gelten. Für Hauptmann Krach war die Welt einen Moment lang fremd und dunkel, weil Bumentopf ihn auf die scheinbar so klar ersichtliche Nutz- und Sinnlosigkeit von Pavels Tun aufmerksam gemacht hatte: Blumentopf: »>Lohnen? Eure Komödie hätte lohnen sollen, haha! Die Schlacht am Altmarkt, das historische Führergespräch, die S c h a t z o v a , die ganze schwierige Protektoren-Doppelrolle, sophisticated sagen unsere englischen Freunde, - kein Mensch hätte euch eine Szene, einen S a t z geglaubt, w ä r e n w i r nicht aus diesen und jenen Gründen euch zwei (gemeint sind P a v e l und K r a c h - F . T . ) gefällig gewesen !< H a u p t m a n n Krach, reglos im Angesicht der Wahrheit: >Da sind Sie ein anderer Mann.< Geheimrat Blumentopf: >Ich - ein Schuß durch das Fenster, wohin Sie Ihren Feind gebracht hatten - um ihn zu retten, denn soweit kommt man mit Moral.< H a u p t m a n n K r a c h : >Sie, ohne M o r a l -Drücke ab und habe den Erfolg.< W a g t noch einmal die Knie zu erheben: >Drücken jetzt Sie ab, wenn Sie können! Im Tschechischen L ö w e n ( w o H e y d r i c h von Blumentopf erschossen wurde - F . T . ) konnten Sie nicht.< H a u p t m a n n K r a c h rührt sich nicht, er sieht anderswo oder nirgends hin. Geheimrat Blumentopf: >Sie können noch immer nicht. Somit auf Wiedersehen, Heil Hitler!Wenn ihr lacht, w a r ' s schlecht. N i c h t furchtbar genug.< D o k t o r H o l a r : >Zu furchtbar, Kollege Ondracek. D a s glaubt man Ihnen nidit.< J a r o s l a v : >Er ist kein Schauspielern Pavel, nachdenklich: >Aber der H e y d r i c h ist ein Schauspieler, deshalb sollte man ihn kopieren können.Nicht mal eine komische Alte ist es. Komme was will!< Milo Schatzova: >Lauter! Das ging nicht über das Orchester weg.< Heydrich: >Wieso Orchester?< Milo Schatzova: »Hier sind wir auf der Bühne.< Heydrich: >Sie werden beeindruckt von dem Rahmen, den ich meiner Individualität verleihen Milo Schatzova: Unglücklicher! Wo ich beruflich jeden Abend der Mittelpunkt desselben falschen Zaubers sein muß, gerate ich hier in ein Kokottenzimmer.< Heydridi: >Was ist hier falsch? Wer soll falsch sein?< ( . . . ) « (S. 174 f.) Aus dieser Szene wird ersichtlich, daß Heydrichs »Schauspielertum« mit seinem »Dilettantismus« in Verbindung gebracht werden muß 3 1 . Der »Dilettant« ist derjenige, der aufgrund der Bewußtheit seiner eigenen Person sich selbst als »Rolle« spielt. Daher lebt er auch in einer Umgebung, die seinen
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Heinrich Mann befreundet war, so daß man sogar annehmen muß, nicht nur die Henri-Quatre-Romane seien von Feuchtwanger, sondern auch »Der falsche Nero« sei von Mann beeinflußt, eine längere Diskussion über die Frage stattgefunden, inwieweit Hitler mit dem Begriff des »Schauspielers« hinreichend charakterisiert sei, wobei nach unserem Eindruck Feuchtwanger - allerdings mit anderen Argumenten - Positionen von H . Mann nahezustehen scheint. Im Kern handelt es sich hier, wie Brecht richtig darstellt, um Unterschiede der jeweiligen Faschismus-Theorie, was für Heinrich Mann jedoch (vgl. unsere eigene Argumentation) nur bedingt zutrifft. - Vgl. B. B.: Arbeitsjournal. Bd. 1 : 1938-1942. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt/M. 1973, S. 3 1 1 , 379-381. Die große Darstellung der gesellschaftlichen wie moralischen Verflechtung von »Schauspielertum« und »Dilettantismus« findet sich im »Untertan«. Wolfgang Buck wie auch Heßling sind in jeweils verschiedener Weise sowohl »Dilettanten« als auch »Schauspieler«: Buck, indem er kritisch die Zusammenhänge durchleuchtet und parodiert und entsprechend das tatsächliche Theater dann als die »wahrere« Lebensform wählt - er revidiert später allerdings diesen Entschluß - ; Heßling, indem er als »Schmierenkomödiant« diese Zeiterscheinung als Mittel und zugleich Tarnung seines Aufstieges nutzt.
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»Lidice«: Darstellungskategorien moralistischer Erkenntnis
Narzißmus ästhetisierend widerspiegelt. 32 Das bedeutet ferner, daß der »Dilettant« niemals sich selbst gegenübertritt, sondern stets einer illusionär verklärten, »rollenmäßigen« Spiegelung seiner eigenen Person. Das ist dann die Bedingung für die Möglichkeit, daß Heydrich der Autosuggestion erliegt, die Taten Pavels seien seine eigenen. Die Autorität, auf die sich der »Schauspieler« Heydrich bei dem notwendig werdenden Versuch beruft, sich in seiner »Rolle« zu bestätigen, ist der »Führer« : »Über die Rückenlehne hinweg schielt er nach dem Bildnis des Führers. >Der Falsche - wäre meinem Führer willkommener als ein Echter, der den Anschluß verpaßt. Verwandlungen sind immer denkbar. Meine verkrachte Doktorarbeit handelte von verwandelten Eseln, mit denen es schon zu ihrer Zeit irgendwo gehapert haben wird. Eins ist sicher: der Esel merkt es nicht.< Er kommt mühselig auf. >Knickbeine, von der zwölf stündigen Nacht, du Esel! Die Identität verschiebt sich, wenn einer nicht aufpaßt. Sind das meine Sorgen? Der Falsche redet aus mir, er muß ein Intellektueller sein. Genug, die Identität des Protektors entzieht sich dem Zugriffe Vor den Führer hin, stramme Haltung. >Mein Führer! Melde untertänigst, Protektor von Böhmen-Mähren Reinhard Heydrich bezweifelt seine Identität.< Wendet ihm den Rücken und erschlafft. >Der kann lachen. Einzig in der Geschichte, da versuche keiner, sich unterzuschieben. Was mich betrifft, ich gehe zu Bett. Nichts wie schlafen!In welchem K a f f steht ihre Burg?< fragte Berthe. E r konnte es nicht sagen. >Mais peu importe son patelin. Im ganzen Europa sind sie eine große Erinnerung. Veux-tu que je te dise? La noblesse du 4 août n'a pas brûlé des livres. Elle en avait écrit.< Er meinte den Adel von 1789, der gegen seine eigenen Vorrechte stimmte. Vielleicht erinnerte sie sich.« (S. 296) Plötzlich erscheint hier dem »faschistischen Jüngling« der Adel von 1 7 8 9 , der freiwillig auf seine Privilegien verzichtete, Bücher schrieb, damit Wegbereiter der Aufklärung wurde, überzeugender, offensichtlich »revolutionärer«, als die faschistische »Revolution«, die - anstatt zu schreiben - Bücher verbrannte. Dieser plötzliche Meinungsumschwung ist Wirkung von Kobalts Ausstrahlungskraft. Sie bewirkt weiter, daß die scheinbare Maskerade dem jungen Mann unverhofft als »sinnvoll«, als geschichtliches Symbol, erscheint. Vehement beginnt er, die zunächst lächerlich wirkende Erscheinung gegen seine Freundin zu verteidigen: »Dies (die Erinnerung an den Adel von 1789 - F. T.) hätte sie (Berthe - F. T.) ihm hingehen lassen. Ihr mißfiel, daß er, umgerückt mit seinem Stuhl, kein Auge von der prominenten Frau wandte. Der Aufzug (eine Art karnevalsmäßiger Prozession F. T.) war am Ziel, er teilte sich, der Gegenstand der Huldigung wurde von Kopf bis Fuß sichtbar. >Avoue qu'elle est ridiculeElle veut bien 1' être. Den Unterschied muß man fühlen. Sie läßt sich zu der Menge herab, sie genehmigt die Begriffe der Gemeinen und geht auf ihren Geschmack ein. Sie ist demütig. Begründeter Hochmut gelangt, ohne daß er sich aufgäbe, zur Demut.Du bist berauschte - >Nicht mehr Alkohole - >Von deinen Ideen. Mehr ist es nicht. Tu n'aimerais pas coucher elle.< >Ce n'est pas fa< erklärte er. >Cette femme est la seule pour laquelle je sens a mourir.Ihr vom avec con-
D a m i t hat sich an dem ehemals »faschistischen Jüngling« eine grundlegende Wandlung vollzogen: E r ist bereit, für K o b a l t - und sie ist hier nur das lebendige »Symbol« einer bestimmten, historischen Tradition Frankreichs -
sein
Leben zu opfern. Umgekehrt wird damit K o b a l t ihrerseits - ohne daß es ihre Person berührte und sie sich daher Rechenschaft über die eigene Bedeutung geben könnte - zum Inbegriff all dessen, was als »Frankreich« dem Faschismus hier ist er synonym mit »Synarchismus« - entgegensteht. Diese Ausstrahlung, die an K o b a l t sichtbar wird, darf nicht als ein ihr fremder Teil angesehen werden. Es ist die Persönlichkeit selber, die sich hier durch das besondere Äußere der Umwelt mitteilt. Getrennt davon ist zu sehen, daß dieses Äußere zu einer ästhetisch-»sprachlichen«
Mitteilung über die Ge-
schichte der Epoche wird, der K o b a l t entstammt. Dieser Hinweis soll all den Interpretationen entgegenwirken, die ihr Augenmerk isoliert auf die scheinbar »irrationalen« Phänomene wie Kobalts Stimme lenken und von hierher meinen, Heinrich Mann bestimmen zu können. In Wirklichkeit aber stehen solche Phänomene bei Heinrich Mann stets in einem rational bestimmbaren Zusammenhang, von dem her sie ihre Bedeutung erhalten. Scheinbare Irrationalität unterstreicht bei Heinrich Mann nur die Darstellung der zugrunde liegenden, dominanten Rationalität. 3 2 D e r Lebensweg Kobalts weist viele Elemente auf, die formal eine Beziehung zu der Geschichtsepoche aufweisen, für die K o b a l t repräsentativ steht. D a z u gehört die glänzende, »unbesonnene« Vergangenheit, die als Erinnerung die gesamte restliche Lebenszeit überragt - das ist auch bei dem »Zeitalter« der 32
Einseitig geht Klaus Schröter vor, wenn er Phänomene wie z. B. den Schätze anhäufenden Balthasar (in »Empfang bei der Welt«) auf den Mystizismus Balzacs (S. 153 f.) zurückführt. Er verkennt damit die eigene, von Balzac unterschiedliche Gestaltungsweise Heinrich Manns und trennt das betrachtete Phänomen von dem Zusammenhang, in dem es auftaucht. Solche Ähnlichkeiten sind äußerlich und gehen darauf zurück, daß Heinrich Mann die bei seinen literarischen Vorbildern beobachteten Erscheinungen für sich adaptiert und als Gestaltungsmittel des künstlerischen Ausdrucks bewußt weiterverwendet.
Die geschichtlich-politische Vorstellungswelt des Romans
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Fall, das Heinrich Mann in seiner »Autobiographie« darstellt; in »Der Atem« fällt noch ein zweites Datum, das diesen Bruch markiert, nicht nur 1 9 1 0 (S. 5) 33 wird genannt, sondern auch 1 9 1 4 (S. 1 9 1 ) - , aus welcher ein Vermögen stammt, das, einem Schwindler anvertraut, durch ihn restlos verspielt wird wer die ästhetische »Sprache« Heinrich Manns kennt, wird durch den Begriff »Schwindler« unwillkürlich an Wilhelm II. erinnert - , wie schließlich auch die alberne, »künstliche« Maskerade, in der, bis aus ihr wieder Leben erwacht, ein untergegangener Zeitabschnitt konserviert wird: z. B. beschreibt der gesamte Roman »Mutter Marie«, der in der Zwischenkriegszeit spielt, eine solche »Maskerade«, durch die eine Gesellschaftsschicht, die abgetreten ist, sich selber konservieren will. Kobalt aber verkörpert zugleich auch die Gegenkraft, das Leben, das aus dieser Sterilität erneut aufwacht. So gehört zu der Zeitepoche, die sich in Kobalts Leben wiederfindet, auch, daß ganz andere K r ä f t e bestimmend geworden sind, als sie Kobalt in ihrer Jugend gekannt hat: die Arbeiter, die sie als völlig neue Freunde gewinnt. Auf diese Weise stellt diese Frau einmal das Gewesene dieser Epoche dar, zum andern aber auch das genau gegenteilige Element: die Veränderung. Erst dadurch wird ihre Person zu einem Bezugspunkt aller, die für »Frankreich« und seine Geschichte eintreten, gemeinsam - trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft. 3 4 Hieraus folgt aber auch, daß es zwischen Kobalt als »geschichtlicher« Person und dem »Synarchismus« als einer ebensolchen »geschichtlichen« Erscheinung zumindest äußerliche Gemeinsamkeiten geben muß. Tatsächlich sind sie auch auf der Ebene der ästhetischen »Sprache« genau zu verfolgen. Kobalts Zurückgezogenheit gleicht der Unnahbarkeit der Synarchen, ihre Demut deren Menschenverachtung. Die Schattenwelt, in der sie sich lange Zeit bewegt es fällt immer wieder der Begriff »Maskerade« 35 - kann für ihre Umgebung genauso künstlich wirken wie die Welt des Synarchismus. Wie nahe diese Sphären zum Teil beieinander liegen, beweist der zurückgekehrte Fernand, der sich schminkt wie die Synarchen und wie sie »Schauspieler« ist. In diesen Bereich fällt auch die gesamte Auseinandersetzung mit der Schwester, 36 die einen 33
Das Datum 19x0 wird im allgemeinen - und wohl auch zutreffend - mit dem Todesjahr von Heinrich Manns Schwester Carla in Verbindung gebracht. 34 Um zu ermessen, welche soziale Bedeutung es für Heinrich Mann hat, daß Kobalt als Adlige bewußt Arbeiterin geworden ist, vgl. den Artikel »Arbeit« in der »Kleinen Enzyklopädie des Zeitalters«, Katalog S. 523 ff. 35 Viel stärker als in »Der Atem« tritt das formale Element der »Maskerade« in »Empfang bei der Welt« zutage. 36 Wie geschichtlich aktuell die Auseinandersetzung teilweise verstanden ist, zeigt eine Bemerkung, die Kobalt zu Léon Jammes über ihre Schwester machte: »>Die mich haßt, die mich entfernen möchte, schon immer; hier sogar sieht man mich zu sehr. Die Gelegenheit ist günstig, ich soll in Klostergemund verschwinden, bald nachher in einem Lager. Sie mag nicht warten, bis auch hier die Lager kommen.Hatte Madame la Princesse Ihnen eine Botschaft zukommen lassen?< E r beendete: »Meinten beide, Polizei und Prinzessin, daß Sie unrecht täten, sich als Fabrikarbeiterin bloßzustellen. Mit Ihrem Namen ist es eine Herausforderung.< - >Als ob ich mir meinen Namen gegeben hätte. Ich hieß Kobalt. Es war eine gute Zeit. Ich hatte Freunde. Das erstemal in meinem Leben kannte ich seinen Sinn.Nous sommes payés pour la connaître, d'ailleurs elle tire à sa fin.< D a n n aber stellt v o n selbst ein einzelnes Wesen sich ein, hat gekämpft und überwunden, gelitten und geliebt, man kann sich dem gebrechlichen Rest der Person ergeben, was die große üppige Geschichte selten verdient. N o c h weniger erlaubt diese, daß wir zittern, weinen, ewigen Abschied nehmen und in uns ein unsterbliches Begehren wälzen. Das gewährt dem Mann des Deuxième Bureau, allerdings ein besonders wacher Intelligenz-Beamter, die bald verewigte L y d i a Traun. Ohne auch nur bemerkt zu haben, daß er hinaufging, findet er sich droben an ihrer schon gewohnten Tür.« (S. 349 f.)
Kobalt wird in diesen Worten beinahe gleichgesetzt mit der Geschichte der bürgerlichen Klasse, die so eine äußere, genau erkennbare Gestalt erhält, tatsächlich der »Geschichte« sogar vorgezogen. Alles, was der Abstraktion »Geschichte« an persönlichen Bindungen fehlt, die im Geschichtsverlauf doch vorhanden sind, ist gegenüber dieser einzelnen Person möglich, die die Geschichte daher in sich absorbiert. Die Aussagen über Frankreich, den Verrat der herrschenden Klasse, sind Aussagen über Kobalt. Kobalt ist ein Beispiel der lebendigen Erfahrung, als die Geschichte - eine stets bestimmte, inhaltlich genau geklärte Geschichte — dem Menschen begegnet. Daher ist Kobalt auch keine ausschließlich individuelle Gestalt, wie der O r t N i z z a als Schauplatz dieses Romans keineswegs individuelle Bedeutung hat — sie ist die reale Gestalt, an der das Ende eines Zeitalters »symbolisch« zum Ausdruck kommt. Alles, was an »Geschichte« in diesem Roman geschieht, kann auch an der Person Kobalts als individuelles »Schicksal« begriffen werden.
»Der Atem«: Abschied von einer Zeitepoche
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6.$ Differierende Wirklichkeiten: die Bäckerei der Y v o n n e V o g t In dem R o m a n tauchen stark voneinander differierende soziale »Wirklichkeiten« auf, die von dem ästhetischen Eindruck her, den sie vermitteln, »Inseln« einer bestimmten sozialen Lebenshaltung innerhalb der Gesamtheit der dargestellten Wirklichkeit des Romans zu sein scheinen. Zu diesen »Wirklichkeiten« gehört ein jeweils bestimmter Schauplatz und, mit ihm verbunden, eine für ihn eigentümliche,
»charakteristische«
Personenkonstellation.
Diese
Personen
scheinen auch durch die jeweilige »Wirklichkeit«, keineswegs aber durch eine integrierende Romanhandlung, mit dem Haupthandlungsstrang, dem Geschehen um K o b a l t , verbunden zu sein; daher entsteht der Eindruck einer »ästhetischen« Fügung solcher »Wirklichkeiten«: Das Romangeschehen ist im wesentlichen auf solchen »Milieus« aufgebaut; sie bilden die eigentliche »Realität« innerhalb der dargestellten Wirklichkeit 3 8 . Eine solche autonome, im wesentlichen nach naturalistischen Prinzipien erstellte »Insel« sozialer Wirklichkeit ist die Bäckerei der Y v o n n e Vogt. D a ß »Vogt« ein deutschstämmiger N a m e ist, scheint kein Zufall zu sein: Diese Eigentümlichkeit gehört zu dem offenbaren Charakter des Romans, ein Panorama des gesamten Zeitalters zu sein bzw. ein Spiegel einer umfassenderen politischen Situation. Zu der Bäckerei gehört eine genau abgegrenzte Gruppe von Personen, die sowohl durch individuelle, persönliche Beziehungen vielfach miteinander verknüpft sind als auch durch ökonomische Beziehungen. Das ist charakteristisch für die »naturalistische« Wirklichkeit: N u r so entsteht ein Geflecht sozialer Beziehungen, das als repräsentativ für eine umfassendere gesellschaftliche Wirklichkeit angesehen werden kann. Dieser allgemeinere Bezugspunkt der »Bäckerei Vogt« ist offenbar das Leben des französischen Kleinbürgertums, des »français moyen«, vermittelt durch den Tagesrhythmus der Bäckerei, repräsentiert vor allem durch die langen, ausführlichen Gespräche aller Personen, die mit der Bäckerei verbunden sind, während des gemeinsamen Mittag- und Abendessens. 39 38
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Die »ästhetischen« Unterschiede zwischen den verschiedenen »Milieus« sind selbstverständlich nur graduell vorhanden; sie nehmen zudem Bezug auf den Unterschied zwischen dem »Synarchismus« und »Frankreich«. Es steht zu vermuten, daß Heinrich Mann durch die »Bäckerei Vogt« einen ganz bestimmten politischen Begriff, den des »pays réel«, darstellen und von einer Inanspruchnahme durch eine Politik, die spezifisch gegen die französische Volksfront gerichtet war, lösen wollte. So sdireibt er in einem Kapitel von »Zur Zeit von Winston Churchill« zum Schicksal der französischen Volksfront: »Die französische Volksfront, eine wohlgemeinte letzte Anstrengung, besaß die überwältigende Mehrheit und wurde getragen von einer Begeisterung, einer Zuversicht, wie Nachklänge edlerer Zeiten. Die Interessenten und bösartigen Ideologen fanden dennoch das Mittel, ihr ein Unding entgegenzusetzen, etwas nicht Vorhan-
Differierende Wirklichkeiten : die Bäckerei der Y v o n n e V o g t
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Dieses »Milieu« trägt besondere Akzente in den Roman hinein und hebt andere stärker hervor. Yvonne Vogt ist verwitwet und selbständige Geschäftsinhaberin: propriétaire. Der Bäckereibetrieb wird von Lecoing, dem Bäcker, geleitet, einem schon älteren Manne, der sich aufgrund der Lage Aussichten macht, daß Vogt ihn einmal heiratet. Lecoing besitzt auch ein kleines Kapital, das jedoch nicht ausreicht, sich selbständig machen zu können. Als Verkäuferinnen im Laden sind beschäftigt Camille, ein schon älteres Mädchen, das Lecoing heiraten würde, falls Vogt ihn zu lange hinhielte, und Maria Piccini, die bereits erwähnte »junge Italienerin«, die ihren ersten Kavalier gefunden hat: den jungen Moineau, Angestellten in der Banque Commerciale. Hinzu gehören weiter die Gehilfen Lecoings, Philippe und Félix, beide ungefähr im Alter von Maria Piccini. Beide lieben sie insgeheim, der ältere, blatternnarbige Félix schüchterner als der jüngere Philippe. Ferner verkehrt als ständiger Gast in der Bäckerei, der Neuigkeiten herumbringt, Mme. Antoinette, eine Aufwärterin, die, weil sie viel Pernod trinkt, ständig leicht angetrunken ist, aber aufgrund ihres Fleißes ihren Sohn in Eton 40 studieren lassen kann. Der normale Tagesablauf dieser Personen wird dadurch gestört - und erst so tritt er in Erscheinung - , daß Vogt morgens, als sie den Laden öffnen wollte, auf Kobalt gestoßen war, die sie angesprochen hatte. Kobalt hatte gestöhnt: »Oh! mein Kopf«, war dann aber weitergegangen, ehe sich Vogt von dem Eindruck der Worte und vor allem der Stimme, die sie so lange nicht gehört hatte, hatte erholen können. Seitdem wußte Vogt, daß an diesem Tag etwas Entscheidendes passieren würde. Vogt kannte Kobalt aus ihrer eigenen, »unbesonnenen« Vergangenheit her. Vogt war aber seit langem »ehrbar« geworden, hatte geheiratet, war verwitwet und jetzt selbständige Geschäftsfrau. Der Gedanke an die Vergangenheit, die nicht bürgerlich gewesen war: sie war eine »femme à passions« gewesen, schien meilenweit von ihr entfernt. Jetzt aber, unter dem Eindruck von Kobalts Stimme, kehrt diese Vergangenheit zurück. Die bis jetzt scheinbar so gesicherte bürgerliche »Ehrbarkeit« wird auf einmal fragwürdig. - Vogt wartet auf Kobalts Rückkehr, die gewöhnlich ge-
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denes, sie betitelten es le pays réel. D a s wirkliche L a n d sollte keine noch so einmütige Demokratie sein, ihre Zeit w a r abgetan. A l s wahre Wirklichkeit empfand man die Gewaltherrschaft einer Minderheit; die französische Minderheit behauptete ihre Ansprüche mehr oder weniger aufrichtig. W a s die demokratische Mehrheit anbet r i f f t : es ist unmöglich, ja, in der ersten, ungetrübten A u f w a l l u n g einer Volksfront bleibt es dennoch vergeblich, an den Sieg der V e r n u n f t und Güte fest zu glauben f ü r ein einzelnes L a n d , wenn mehrere andere ein mächtiges E r w a c h e n vorführen dürfen, und das ist ungut, ein Erwachen, nicht zum Denken, sondern zur U n b e denklichkeit.« (Katalog, S. $ 2 1 ) Eton, die public school, die an sich dem Feudal- und Geldadel vorbehalten ist, als Schule f ü r den Sohn einer A u f w ä r t e r i n - dies ist ein prägnantes »Symbol«, daß Heinrich Mann mit der »Bäckerei V o g t « ein demokratisches Ideal darstellen will.
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»Der A t e m « : Abschied von einer Zeitepoche
gen Mittag vonstatten gehen müßte. Sie hat einen Korb mit Brot und Gebäck vor die Tür gestellt, den Kobalt finden soll. Doch Kobalt kommt an diesem Tag nicht noch einmal an der Bäckerei vorüber. Auch Mme. Antoinette, die bei vielen Leuten verkehrt und so vieles hört - sie bleibt über die Mittagsstunden in der Bäckerei - hat nichts erfahren. - Erst als die Nachtzeitungen erscheinen und berichten, daß Kobalt - sie wird jetzt erstmals wieder Gräfin Traun genannt - die Bank in Monte Carlo gesprengt hat, löst sich die Spannung; Vogt entschließt sich jetzt - scheinbar völlig überraschend - , Lecoing nicht länger hinzuhalten. Mit robuster Entschiedenheit nimmt sie ihn in ihr Bett. Maria Piccini erhält die Erlaubnis, mit ihrem Freund Moineau auszugehen, aber anscheinend erst, nachdem Moineau Vogt erklärt hat, daß er Kobalt kenne. Er hatte ihr nämlich Hilfe geleistet, als sie in der Banque Commerciale ohnmächtig geworden war. Dieser letzte Teil der Episode wird Kobalt von Maria Piccini in der Nachtbar erzählt, wo beide zusammentreffen. 41 Während dieser Zeit des Wartens, in der sich im Grunde ein höchst alltägliches Leben vollzieht: das Abbrechen des Verkaufs während der Mittagszeit wird gezeigt, dann eine unvermittelt stark einsetzende Nachfrage nach »plum-cake« am Nachmittag, dann bereits das Verlangen nach dem frischen Brot für das Abendessen, das jedoch noch nicht gebacken ist, weil sich die Mittagspause durch Vogts Warten so ungebührlich ausgedehnt hat, zeigt die »patronne« ein verwandeltes Bild: Mit einem Gesicht, das »ausgeflossen« zu sein scheint, hängt sie Erinnerungen nach. Man bemerkt, daß der Habitus der geschäftstüchtigen propriétaire von ihr geschwunden ist: »Die unheimliche Patronne sprach für sich selbst in die L u f t hinauf. W a s sagte sie? M a n sah die Lippen sich bewegen. »Die Stimme! Ihre bezaubernde Stimme, als w i r unbesonnen und glücklich waren. D a ist sie wieder, ich höre. D e r alte K l a n g , aber woher? A u s einer Mansarde, Spelunke, aus den schrecklichen taudis, die ich v o m Lesen kenne? W i r aber tanzten mit Brillanten behangen, ihre waren echt. Z u denken, zwei Schönheiten, L y d i a , Y v o n n e , große Frauen. W a s w i r d aus der Größten?< Dies geschah. Die selbstbewußte propriétaire nannte in einem Zuge, demselben Flug der Erkenntnisse, sich und eine Verlorene. M a n ist immer verloren, da unfehlbar das Leben abstirbt, ob taudis oder wohlbestellter Laden, eine Wohnung voll Kissen und Pflanzen, im offenen Fenster die Kanarienvögel. Einst hat man gelebt - könnte es noch jetzt, mit L y d i a , w i e immer das Leben sei. Wenn die Rollen vertauscht wären? Die Existenz, die auf jede von uns t r i f f t , hängt an einem Faden, nicht ich mußte davonkommen. Zerflossen wie das Gesicht der Bäckerin, hauchten ihre Gedanken dahin; in ihrem festen Zustand nannte sie dies einen A n f a l l sinnloser Erweichung - >das Glück, das ich hatte, brachte ich selbst mitDas gibt esMit Lydia geschieht heute etwas.Es scheint, daß nächstens andere die Wiederholung kennen sollen. Man nehme ihn leichter, als ich ihn tat: gesetzt, der Weltuntergang, z w e i t e Probe, ließe soviel übrig, daß man betteln kann in einer Bank. Vertugas würde sagen: nein. Er wäre mitgekommen heute. Morgen begleitet er midi weitere« (S. 216)
Dann wird ihr aber auch bewußt, daß sie sich in diesem Moment von Frédéric löst: »Unvermittelt brach die verhaltene Beschämung laut aus. Nicht, daß einzelne T r o p fen sich schmerzlich durchgerungen hätten: die Tränen überschwemmten ihr Gesicht auf einmal, sie behielt nicht Zeit, es unter den H u t z u versenken, erblindete aber v o m Weinen. >Nicht später als diesen Morgen habe ich ihm gestanden, meine vergangene
Kobalts Rückkehr ins Spielkasino von Monte Carlo
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Größe wünschte ich mir nicht zurück. Ich sprach die Wahrheit. Echt war die große Frau der leichten Jahre nie gewesen: ihre Uberwindung war echt, als ich sie ihm beteuerte; gewiß auch sein Wort, nicht damals, heute sei ich groß. Schrecklich, wie tief idi schon gefallen bin, seit ich von Frédéric ging. Diese Fludit in die sciocchezza (»Albernheit« - F. T.) - von ihm, bei dem ich endlidi nicht albern war. Die Stunde mit ihm. Seine Stunde.Die Damen sind zusammen?< E r machte ein Gesicht zwischen Dummheit und Witz. Die poule beschrieb mit ihrer Krieger- oder Pudelperücke eine beträchtliche Drehung, jetzt starrte sie, blind vor Erstaunen, auf den Mund der Gefährtin, die man ihr zuwies. Sie wartete, daß die Dame antwortete. Endlich sprach sie selbst - hochmütig, während ein ärmliches Lächeln sie entschuldigte: >Ich kenne Madame nicht.< >Ich aber habe die Ehre, Madame zu kennen.< Verbeugung des würdigen Beamten. >Ainsi vou nous revenez, Madame la Comtesse de Tr6ne?So nimm es dir!< (. . .) Indessen, ihr >So nimm es dir< w a r kaum heraus, da brach ihr Keuchen ab, sie versteinte und w a r weiß. Die Gatten tauschten die Farbe aus, der Mann hatte purpurne Backen. Weder er noch sie haben je begriffen, was geschah. Er w a r f sich, entmenscht konnte man den Anblick nennen, oder mindestens eignete er sidi für eine Varietenummer, nicht für diese ernsten Hallen — mit ganzem Leibe w a r f er sich über den Tisch; seine kurzen Arme und gekrallten H ä n d e hieben in den hohen Haufen, wie um ihn zu vernichten, obwohl er ihn sich aneignen wollte. ( . . . ) Zuletzt benutzte er die leeren Hände für seine Selbsterhaltung: hinten w a r ihm die Stütze abhanden gekommen. Getrennt von seinem Stuhl, zappelte er mit den Beinen im Leeren. Kein Gedanke, seine Lage zu berichtigen: schon fühlte er zwei scharfe Schläge, auf jeder H a n d einen, und schrie auf. Monsieur Gaston hatte die Kante seiner Schaufel benutzt. (. . .) >Vous vous êtes mépris, Monsieur. Veuillez vous retirera (. . .) >Ceci est à Madame