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German Pages 493 [494] Year 2014
Urs Gösken Kritik der westlichen Philosophie in Iran
Welten des Islams – Worlds of Islam – Mondes de l’Islam
Herausgegeben von der Schweizerischen Asiengesellschaft – Société Suisse-Asie Editorial Board Bettina Dennerlein Anke von Kügelgen Silvia Naef Maurus Reinkowski Ulrich Rudolph
Band 6
Urs Gösken
Kritik der westlichen Philosophie in Iran
Zum geistesgeschichtlichen Selbstverständnis von Muḥ̣ammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī und Murtażā Muṭahharī
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2011 von Herrn Prof. Dr. Ulrich Rudolph und Frau Prof. Dr. Renate Würsch als Dissertation angenommen. Diese Arbeit wurde publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistesund Sozialwissenschaften (SAGW).
ISBN 978-3-11-037515-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036993-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039280-7 ISSN 1661-6278 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Einbandabbildung: Fragment of carpet with floral ornament, Thinkstock, Nr. 99516553 Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Für die Fertigstellung dieser Arbeit bin ich einer ganzen Reihe von Personen zu Dank verpflichtet: Herrn Prof. Dr. Ulrich Rudolph vom Orientalischen Seminar der Universität Zürich für seine Betreuung und Unterstützung in Form der Erteilung interessanter Lehraufträge; Herrn Dr. Johannes Thomann vom Orientalischen Seminar der Universität Zürich für seine geradezu aufopfernde Hilfe bei der Suche nach Fachliteratur, sei sie auch noch so ausgefallen, und manches anregende Gespräch; den Leitern und Teilnehmenden des Universitären Forschungsschwerpunktes Asien und Europa an der Universität Zürich für ihre Erlaubnis, ihren Veranstaltungen beizuwohnen; Dr. des. Roman Seidel, Dr. Ramin Jahanbegloo, Dr. Nabil Al-Tikriti und Prof. Dr. Renate Würsch für zahlreiche aufschlussreiche Diskussionen; Herrn Prof. Dr. Stefan Conermann von der Universität Bonn für wertvolle Hinweise anlässlich seines Methodenseminars an der Universität Zürich; Frau Prof. Dr. Anke von Kügelgen von der Universität Bern für hilfreiche Bemerkungen und die freundliche Gewährung von Einsicht in eine noch unveröffentlichte Forschungsarbeit von ihr; schliesslich Frau Zineb Benkhelifa für ihre Unterstützung bei Layout und Umschrift. Mein am tiefsten empfundener Dank aber gilt meiner Partnerin Elika Djalili, die mich in allen Phasen dieses langen Prozesses liebevoll begleitet hat. Ihr soll diese Arbeit deshalb auch gewidmet sein.
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3
3.1 3.2
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Vorbemerkungen | 1 Wahl des Themas | 1 Verschiedene Ansätze zur Erklärung von Besonderheiten der iranischen Geistesgeschichte | 6 Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit | 13 Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken | 25 Ṭabāṭabāʾīs Werdegang zum Gelehrten | 25 Gründe und Hintergründe von Ṭabāṭabāʾīs Wirken als Gelehrter | 31 Geistesgeschichtliche Hintergründe und Voraussetzungen von Ṭabāṭabāʾīs Denken | 41 Ṭabāṭabāʾīs Werk im vorrevolutionären „Kulturkampf“ | 157 Muṭahharīs Leben und Werk | 175 Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westbetrachtung im Zeichen des vierten Weges anhand des Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus | 189 „Was ist Philosophie?“ – und was nicht? | 189 Untersuchung und Beurteilung philosophischer Lehren des Abendlandes im Lichte des vierten Weges | 250 Gesamtbefund und Folgerungen | 435 Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Kritik der westlichen Philosophie als Entgegnung auf das Westverständnis ihrer Adressaten | 435 Was ist „Westen“? | 437 Heilsgeschichte gegenüber „Unheilsgeschichte“ | 439 Die Gleichsetzbarkeit von Westen mit Idealismus im geschichtlichen und interkulturellen Vergleich bei Muṭahharī | 444
VIII
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Inhaltsverzeichnis
5.2
Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus vor dem Hintergrund des vorrevolutionären intellektuellen Westdiskurses | 455 Nachwirkungen und Auswirkungen von Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westverständnis | 458 Schlusswort | 466
6
Literaturverzeichnis | 475
5.1
Register | 481
1 Vorbemerkungen 1.1 Wahl des Themas Über Vertreter der vielgestaltigen Intellektuellenszene der so bewegten jüngeren Geschichte, einschliesslich Geistesgeschichte, des Iran ist schon viel geschrieben worden – sowohl im Iran als auch ausserhalb. Dabei bildet gerade die Auseinandersetzung iranischer Intellektueller mit dem Westen einen der Schwerpunkte der einschlägigen Arbeiten. Das kommt sicher nicht von ungefähr, denn nicht nur stellt die Auseinandersetzung mit dem Westen ihrerseits einen der Schwerpunkte des Denkens und Wirkens vieler iranischer Intellektueller dar, welcher geistigen, fachlichen, weltanschaulichen und politischen Ausrichtung sie auch immer angehören mögen; die Wahrnehmung einer Herausforderung durch den Westen in praktischen und geistigen Belangen, die dieser Auseinandersetzung zugrunde liegt, hat selbst Entscheidendes zur Entstehung einer zeitgenössischen Intellektuellenszene im Iran – und zur Vielgestaltigkeit derselben – beigetragen. Unter den vielen Gelehrten in Ost und West, die sich mit iranischen Intellektuellen der jüngeren Geistesgeschichte ihres Landes befassen, wäre etwa Farzin Vahdat zu nennen, der in God and Juggernaut: Iran’s Intellectual Encounter with Modernity¹ und Metaphysical Foundations of Islamic Revolutionary Discourse in Iran: Vacillations on Human Subjectivity² die Westwahrnehmung einer Reihe iranischer Intellektueller vorwiegend aus einer soziologischen Perspektive betrachtet, wobei er besonders eingehend die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Ich bei einigen unter ihnen untersucht.³ Ebenso stellt Mehrzad Boroujerdi in Iranian Intellectuals and the West: The Tormented Triumph of Nativism⁴ einige iranische Intellektuelle und ihr Werk im Zusammenhang mit der politischen Zeitgeschichte des Landes und aus der Perspektive der Orientalismusdebatte sowie verschiedener Gegendebatten zu dieser dar.⁵ Der Geschichtswissenschaftler, Kulturphilosoph und Literaturwissenschaftler Hamid Dabashi behandelt in seinem Werk Theology of Discontent. The Ideological Foundations of the Islamic Revolution in Iran⁶ das Denken einer Reihe wichtiger religiös ausgerichteter Intellektueller der jüngeren Geistesgeschichte des Iran im Lichte von dessen Wirkmächtigkeit und Bedeutung als geistige Vorbereitung und Grundlegung der Islamischen Revolution. Reza 1 S. Literaturverzeichnis. 2 Ebda. 3 So vor allem Vahdat, 1999, und Ders., 2002:182 ff. 4 S. Literaturverzeichnis. 5 So etwa Boroujerdi, 1996:10 ff. („On Orientalism in Reverse“), 14 ff. („On Nativism“). 6 S. Literaturverzeichnis.
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Vorbemerkungen
Hajatpour in Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus: Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert⁷ beschäftigt sich, wie der Untertitel seines Werkes verrät, mit dem Staatsdenken verschiedener iranischer Intellektueller vorwiegend mit religiösem Ausbildungshintergrund aus der Perspektive der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie. Auch Ali Gheissari in Iranian Intellectuals in the 20th Century⁸ beschreibt das theoretische und praktische Wirken der zahlreichen iranischen Intellektuellen, die er behandelt, im Zusammenhang mit der politischen Geschichte des Iran und des Mittleren Ostens. Die Islamwissenschaftlerin und Politologin Katajun Amirpur befasst sich in Die Entpolitisierung des Islam. ʿAbdolkarīm Sorūšs Denken und Wirken in der Islamischen Republik Iran⁹ mit einem vor allem für den nachrevolutionären Iran bedeutenden, oft als Reformdenker bezeichneten Gelehrten. Wenn wir unter all den vielen iranischen Denkern nun gerade Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī (1903–1981) und Murtażā Muṭahharī (1920–1979), zwei Intellektuelle, die gemeinhin zu den sogenannten religiösen Gelehrten gezählt werden, zum Gegenstand einer Forschungsarbeit machen, die sich ebenfalls mit deren Westsicht befasst, so behandeln wir diese beiden Gelehrten wohl als Vertreter, nicht aber als Stellvertreter für die iranische Geistesgeschichte ihrer Zeit. Für das Denken ihrer Zeit als solches in seiner Vielfalt und Gesamtheit könnte sowieso kein einzelner Denker – auch keine zwei Denker – stellvertretend stehen, aber auch allein schon die Denkrichtungen, die iranische Intellektuelle in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Westen entwickelt und verfolgt haben, sind zu mannigfaltig, als dass sich dieser oder jener unter ihnen als der einzig massgebliche hervorheben liesse. In welchem Masse und auf welche Weise sich ihr Denken im allgemeinen und ihre Westwahrnehmung im besonderen daher auch immer von denen anderer Intellektueller unterscheiden mögen, so bestehen diese doch nicht beziehungslos neben der geistigen Umgebung der beiden Gelehrten her. So werden wir denn auch das Gedankengut derselben, soweit dieses in einer Untersuchung der geistigen Auseinandersetzung der beiden mit dem Westen von Belang ist, zum einen im Lichte der geistigen Auseinandersetzung der beiden mit den inneren Verhältnissen der Gemeinschaft, in der sie als religiöse Gelehrte eine Rolle beanspruchten, betrachten. Zum anderen beleuchten wir ihre Westwahrnehmung vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund und im Lichte der geistigen Tradition, als deren Träger sich diese beiden Denker sehen und von denen aus sie sowohl dem Westen als auch dem intellektuellen Umfeld des Iran ihrer Zeit begegnen. Diese eigene geistige Tradition – oder genauer viel7 S. Literaturverzeichnis. 8 S. Literaturverzeichnis. 9 S. Literaturverzeichnis.
Wahl des Themas
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leicht: die Vollendung derselben – nun besteht für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in einer philosophischen Lehre, deren Bedeutung und intellektuelle Überlegenheit diese Denker selbst sowie iranische Betrachter der Philosophiegeschichte¹⁰ unter anderem darin sehen, dass sie die religiösen Einzelwissenschaften sowie Mystik und die früheren philosophischen Hauptrichtungen in einem einzigen intellektuellen System vereint habe.¹¹ Die Rede ist von der sogenannten Lehre von der Eigentlichkeit des Seins¹², die im 17. Jahrhundert von dem aus Šīrāz stammenden Gelehrten Mullā Ṣadrā (st. 1640)¹³ entwickelt wurde. Auf die Inhalte dieser Philosophie wird an anderer Stelle noch einzugehen sein. Was ihre Wirkungsgeschichte betrifft, so begründete Mullā Ṣadrās Gedankengut im Iran – und fast nur dort – eine eigene philosophische Schule, die sich seit dem 19. Jahrhundert als tonangebende philosophische Richtung unter den iranischen Religionsgelehrten durchsetzte.¹⁴ Ihr gehören in neuerer Zeit ausser Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī so bedeutende und einflussreiche Zeitgenossen derselben wie Mīrzā Abū al-Ḥasan Rafīʿī Qazwīnī, Mīrzā Mehdī Āštiyānī, Āqā Seyyed Moḥammad Kāẓem ʿAṣṣār, Āqā Moḥammad Reżā Qomšeʾī und eben auch der spätere Vordenker der Islamischen Republik und Revolutionsführer Khomeini an.¹⁵ Weil einige der massgeblichen früheren Gelehrten dieser Schule in Isfahan wirkten, ist sie auch unter dem Namen „Schule von Isfahan“ bekannt geworden. In der Hinsicht, dass diese Schule ausserhalb des Iran vergleichsweise wenig wahrgenommen wurde und dort auch keine philosophische Bewegung mit ähnlicher Ausstrahlung entstand,¹⁶ dürfen wir sie vielleicht als eine Besonderheit der iranischen Geistesgeschichte und, sofern sie sich in der Westwahrnehmung ihrer Vertreter niederschlägt, auch als eine Besonderheit der Auseinandersetzung ihrer beiden Anhänger Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mit dem Westen gegenüber anderen Strömungen der Westwahrnehmung sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Iran betrachten. Die Massgeblichkeit der philosophischen Lehre von der Eigentlichkeit des Seins als geistiger Bezugspunkt für die beiden Denker zeigt sich besonders
10 So etwa Ṭālebzādeh, 1385b. 11 Vgl. M, 1381, I:12; Ṭālebzādeh, 1385b:92. 12 Eigene Übersetzung von „aṣālat al-wuǧūd“, andernorts auch in der Übersetzung „reality of being“, „principality of being“ oder „primordiality of being“ zu finden; Darstellungen dieser Lehre bei Kamal, 2006; Nasr, 1996:271 ff.; Rudolph, 2004:101 ff.; Ṭabāṭabāʾī, 1381, III; Ṭālebzādeh, 1385b:100 ff. 13 Dies eine der im Iran geläufigen Ehrenbezeichnungen für Muḥammad Ibrāhīm al-Qawāmī al-Šīrāzī (1571–1640), ausserdem bekannt als Ṣadr al-Dīn al-Šīrāzī, Ṣadr al-Mutaʾallihīn oder kurz Āḫūnd; biographische Darstellungen bei Nasr, 1996:271 ff.; Ṭālebzādeh, 1385:93 ff. 14 Kamal, 2006:39 ff.; Nasr, 1996:292 ff. 15 Vgl. Esposito, 1995, IV:161b; Ṭālebzādeh, 1385b:126, Anm.2. 16 Vgl. Rudolph, 2004:105 f.
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Vorbemerkungen
deutlich in ihrem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus¹⁷: Gemeinhin erwähnt als eine Widerlegung des dialektischen Materialismus, geht es vor allem in dem mitlaufenden Kommentar, den Mutahharī dem Buch auf Ṭabāṭabāʾīs Ersuchen beigab,¹⁸ auch alle anderen philosophischen Systeme des Westens durch, welche in der Darstellung der Verfasser dessen geistige Grundlagen ausmachen,¹⁹ wobei eben das Denken der Schule von Isfahan für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī der philosophische Massstab ist, mit dessen Hilfe sie die geistigen Grundlagen der westlichen Kultur auf deren intellektuelle – und das heisst in diesem Fall: philosophische – Qualität hin zu untersuchen und zu beurteilen beanspruchen. Wir werden uns daher, was das Verständnis dieser beiden Gelehrten vom Westen angeht, eingehend mit Inhalt und Absicht dieses Werkes befassen. Dabei gilt es in Rechnung zu stellen, dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī Philosophie schlechthin als Universalwissenschaft auffassen. Dies unterscheidet sie von späteren iranischen Denkern, die sich mit abendländischer Philosophie beschäftigten und daraus zum Teil ebenfalls eine bestimmte Westsicht ableiteten. Zu diesen gehören etwa Mehdī Ḥāʾerī Yazdī (st. 2000), einer von Muṭahharīs Mitschülern bei Khomeini am theologischen Seminar, der Philosophie in Europa, den Vereinigten Staaten und Kanada studierte,²⁰ was es ihm ermöglichte, sich aufgrund eingehender Kenntnis sowohl der islamischen als auch der abendländischen Philosophie mit dem Gedankengut beider kritisch auseinanderzusetzen.²¹ Weiter zu nennen ist Dāryūš Šāyegān (geb. 1935), der in Genf und an der Sorbonne – dort bei Henry Corbin – unter anderem Philosophie und vergleichende Philosophie studierte und sich durch vergleichende Betrachtung der östlichen und der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte einen Namen gemacht hat.²² Dabei zeigt er sich beeinflusst von Martin Heidegger, mit dessen Denken er durch Henry Corbin, den Übersetzer von Heideggers Werk ins Französische, bekannt geworden ist.²³ Auch gilt es ʿAbd ol-Karīm Sorūš (geb.1945) zu erwähnen, der an der Universität Teheran in Pharmazie und in London in Chemie und Philosophie ausgebildet wurde und in der Intellektuellenszene des Iran seit den
17 Übersetzung von „Osūl-e falsafeh va raveš-e reʾālīsm“ (Text: Ṭabāṭabāʾī; Kommentar: Muṭahharī). In dieser Arbeit wird auf den Text von Ṭabāṭabāʾīmit T, auf den Kommentar von Muṭahharīmit M verwiesen. Die Bandnummer wird im folgenden einfach mit römischen Ziffern (I–V) angegeben. 18 Die Entstehungsgeschichte des Werkes ist erwähnt M, I:120 ff., sowie Ṭālebzādeh, 1385:115. 19 Dass es in dem Werk nicht nur um die Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus geht, bemerkt auch Ṭālebzādeh, 1385:115 ff. 20 Vgl. Dabashi, 2008:300. 21 So etwa mit dem Werk Kants: vgl. Seidel, 2012. 22 Über Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:147 ff. 23 Vgl. Boroujerdi, 1996:150.
Wahl des Themas
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90er Jahren durch seine Beschäftigung mit neopositivistischem Gedankengut des Philosophen Karl Raimund Popper (st. 1994) hervorgetreten ist,²⁴ sowie Rāmīn Ğahānbaglū (geb. 1957), der an der Sorbonne in Philosophie promoviert wurde und sich in seinem Werk, zu dem Publikationen in abendländischen Sprachen genauso wie in Persisch gehören, mit westlicher Philosophie sowie mit iranischer – und indischer – Geistesgeschichte befasst.²⁵ Die Auffassung von Philosophie als Universalwissenschaft ist ein Punkt, in dem sich Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westwahrnehmung zudem von der Westwahrnehmung iranischer Intellektueller mit einzelwissenschaftlicher Betrachtungsgrundlage unterscheidet wie etwa einer soziologischen im Falle von ʿAlī Šarīʿatī²⁶ und Ehsan Naraqi²⁷, einer politologischen wie bei Hamid Enayat²⁸ oder einer historischen wie bei Seyyed Fakhroddin Shadman²⁹. Aber nicht nur, dass diese Intellektuellen bei ihrer Westwahrnehmung von einer Perspektive ausgehen, die auf Einzelwissenschaft beruht: Im Falle einiger von ihnen wie Šarīʿatī oder Enayat handelt es sich dabei erst noch um eine Einzelwissenschaft, deren Ursprung nicht in der Geistesgeschichte des Iran oder überhaupt der islamischen Gemeinde, sondern in der des Abendlandes liegt. Durch ihren Bezug auf die iranische Geistesgeschichte wiederum unterscheidet sich die Westwahrnehmung von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī auch von derjenigen anderer iranischer Intellektueller, deren Betrachtungsgrundlage zwar auch Philosophie, aber eben abendländische Philosophie, bildet wie etwa der Neopositivismus im Falle von ʿAbd ol-Karīm Sorūš³⁰. Dass wir die Westbetrachtung dieser beiden Denker vor diesem zweifachen Hintergrund ihres geistigen Umfeldes auf der einen und der geistesgeschichtlichen Tradition, auf die sie sich beziehen, auf der anderen Seite behandeln, empfiehlt sich auch deshalb, weil Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westsicht sich nicht nur durch ihren philosophischen Anspruch und ihren besonderen geistesgeschichtlichen Hintergrund von anderen Strömungen der Westwahrnehmungen unterscheidet, sondern sich auch als ausserordentlich wirkmächtig in theoretischer und praktischer Hinsicht erweisen lässt. Im Zuge der zunehmenden Verschmelzung zwischen den Kreisen iranischer Intellektueller mit religiösem und solcher mit akademischem Ausbildungshintergrund seit den 50er Jahren
24 Über Leben und Werk vgl. Amirpur, 2003; ausserdem Boroujerdi, 1996:158 ff. 25 Vgl. Literaturliste: Ğahānbaglū (Jahanbegloo). 26 Boroujerdi, 1996:105 ff.; Halm, 1988:157 f. 27 Boroujerdi., 1996:136 ff. 28 Ders., 1996:140 ff. 29 Ders., 1996:54 ff. 30 Ders., 1996:158 ff.
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Vorbemerkungen
des letzten Jahrhunderts³¹ beeinflusste ihr Denken mehr und mehr die geistige Grundlage und Ausrichtung weiterer, auch nicht-religiöser Vertreter der Intellektuellenszene im Iran und damit auch deren Wahrnehmung des Westens.³² Ihr Denken trug damit auch Wesentliches zur Schaffung des Klimas der iranischen Revolution von 1979 bei.³³ Ja, die Islamische Republik Iran selbst versteht sich zum Teil als eine bewusste praktische Verwirklichung der philosophischen Theorien dieser Denker einschliesslich ihrer Westwahrnehmung und wird auch von vielen inner- und ausseriranischen Betrachtern so aufgefasst.³⁴ Dazu passt, dass Muṭahharī selbst revolutionärer Aktivist im engsten Umfeld Khomeinis war,³⁵ und beide, Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, gelten in der Islamischen Republik Iran als Autoritäten³⁶ auf deren Denken der Staat sich bei der Grundlegung und Gestaltung seiner Kultur- und Bildungspolitik massgeblich bezieht. So bildet die Sicht Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs auf die islamische und westliche Geistes-und Philosophiegeschichte und die in beiden Traditionen relevanten Lehren die Grundlage für den Text der Schulbücher im Pflichtfach Philosophie an den Gymnasien der Islamischen Republik.³⁷ Damit lassen sich das Denken und die Westanschauung gerade dieser beiden Gelehrten nicht nur mit der iranischen Geistesgeschichte in Verbindung bringen und in mancher Hinsicht mit dieser begründen, sie wirken auf diese auch selbst wieder mächtig ein und beeinflussen den Lauf der Geschichte zudem in praktischer Hinsicht.
1.2 Verschiedene Ansätze zur Erklärung von Besonderheiten der iranischen Geistesgeschichte Besonderheiten der iranischen Geistesgeschichte, zu denen wir vielleicht die Entstehung einer philosophischen Richtung wie der Schule von Isfahan zählen dürfen, haben manche Forscher, so etwa Henry Corbin,³⁸ schon mit einer besonderen spirituellen Veranlagung der „iranischen Seele“ zu begründen versucht, einem dem „iranischen Geist“ eignenden Wesenszug, einem Hang, ja, einer inneren Berufung zur Errichtung philosophischer Weltsysteme in Verbindung 31 Über diesen Vorgang vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 131 ff.; Halm, 1988:155, 157 ff. 32 Vgl. Esposito, 1995, vol. 3:213a) ff., vol. 4:161a) ff. 33 Esposito, 1995, vol. 3:213a) ff. 34 Über die Wirkung – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – der beiden Denker auf die Islamische Revolution vgl. Dabashi, 2008:147 ff. bzw. 273 ff. 35 Ebda. 36 Ders., vol. 4:161a) ff. 37 Z. B. Ṭālebzādeh, 1385a und b. 38 Corbin, 1971.
Besonderheiten der Iranischen Geistesgeschichte
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mit spiritueller Lebensgestaltung, einer Neigung zur Vereinigung von philosophischer Forschung und mystischer Erfahrung.³⁹ Die Äusserungen dieses Wesenszuges wären demnach zwar geschichtlich fassbar, indem sich dieser im Laufe der Geschichte des Iran, in der vorislamischen genauso wie in der islamischen, in unterschiedlicher Weise, z. B. in unterschiedlichen Lehren, zeigt, er selbst aber wäre letztlich als etwas geradezu Übergeschichtliches, jedenfalls als etwas nicht ausschliesslich Islamisches, zu verstehen. Andere Forscher – unter den iranischen etwa A.H. Zarrinkoob,⁴⁰ unter den ausseriranischen der Schia-Experte Heinz Halm⁴¹ – wiederum erklären geistesgeschichtliche Besonderheiten des Iran mit Besonderheiten der geschichtlichen, einschliesslich der geistesgeschichtlichen, Entwicklung innerhalb der islamischen Gemeinde, verstehen sie also sowohl als etwas Geschichtliches wie auch als etwas ausschliesslich Islamisches. Manche iranische Gelehrte schliesslich, besonders solche mit formal-religiöser, einschliesslich philosophischer, Ausbildung,⁴² deuten geistesgeschichtliche Besonderheiten der mehrheitlich schiitischen Gemeinschaft der Muslime innerhalb des Iran gegenüber der mehrheitlich sunnitischen Gemeinschaft der Muslime ausserhalb des Iran im heilsgeschichtlichen Sinne als Zeichen für die geistliche und deshalb auch geistige Vorrangstellung der schiitischen Minderheit als der Elite gegenüber den „gemeinen“ Muslimen der sunnitischen Mehrheitsrichtung.⁴³ Da Heilsgeschichte letztlich ins Übergeschichtliche hineinreicht, betrachtet eine solche heilsgeschichtliche Begründung der geistesgeschichtlichen Besonderheiten des Iran diese als etwas letztlich Übergeschichtliches, zugleich jedoch auch als etwas ausschliesslich Islamisches. Wie wir selbst nun geistesgeschichtliche Besonderheiten des Iran aber auch immer begründen mögen, tut für unsere Untersuchung eigentlich nichts zur Sache. Allerdings haben wir uns dort mit Erklärungen für die Besonderheiten der iranischen Geistesgeschichte, welche die untersuchten Intellektuellen selbst vorbringen, zu befassen, wo diese ihrerseits für deren Westsicht von Belang sind. In einer Hinsicht aber stellt der Iran gewiss keinen Sonderfall dar – hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Verhältnisse nämlich: Die äussere historische Situation, die darin bestand, dass sich die Muslime seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch nicht-islamische, abendländische Macht und Kultur in ihren eigenen Gebieten herausgefordert sahen, war im Iran mehr oder weniger dieselbe wie in vielen anderen betroffenen islamischen Gebieten. Dass diese Herausfor-
39 Vgl. Ders., vol. 1:X. 40 Zarrinkoob, 1380. 41 Halm, 1988. 42 Z. B. Ṭālebzādeh, 1385b. 43 Vgl. Ders., 1385b:68 ff., 89 ff.
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Vorbemerkungen
derung nicht nur als eine militärische und machtpolitische, sondern auch als eine kulturelle und geistesgeschichtliche erfahren wurde, war im Iran ebenfalls nicht anders als anderswo. Dies wird umso verständlicher, als die imperialistische Durchdringung der islamischen Gesellschaften genau wie anderer seitens der abendländischen Imperialmächte selbst deutlich genug mit dem Anspruch verbunden wurde, dass ihre, und nur ihre, Kultur ein unbestreitbares und universales Vorbild für zivilisatorische Entwicklung schlechthin und jede andere Kultur der abendländischen gegenüber defizitär sei. Auch dass der imperialistische Einfluss auf den Iran nicht in Form direkter Kolonialisierung erfolgte, stellt keine Eigenheit der geschichtlichen Entwicklung des Iran dar und vermöchte erst recht nicht irgendwelche geistesgeschichtliche Besonderheiten im Iran hinsichtlich der Wahrnehmung des Westens zu erklären. Dass es sich beim Iran seit dem 16. Jahrhundert um ein mehrheitlich schiitisches Gemeinwesen mit starker und geradezu institutionalisierter Stellung der Religionsgelehrten in Gesellschaft, Kultur und zeitenweise auch Politik handelt im Unterschied zu der mehrheitlich sunnitischen Gemeinschaft der Muslime ausserhalb des Iran, ist wohl ein Unterschied, der immerhin die Frage lohnt, welche Bedeutung er für die Entstehung von Besonderheiten in den Tendenzen von Westwahrnehmung haben könnte. In einer Hinsicht ist dieser Unterschied jedoch belanglos: Für religiös orientierte Muslime, ganz gleich, ob sunnitisch oder schiitisch, musste die erwähnte Herausforderung auch eine Anfechtung religiöser Art bedeuten, in dem Sinne nämlich, dass diese Erfahrung sie an ihrem Glauben irre machen konnte, dass sie noch Teilhaber an der Heilsgeschichte und dem göttlichen Heilsplan seien. Mit religiöser Orientierung lässt sich auch erklären, warum die Muslime in ihrer überwiegenden Mehrheit aus dieser Erfahrung offenbar nicht den – rein logisch auch möglichen – Schluss zogen, dass es eine Heilsgeschichte und einen göttlichen Heilsplan gar nicht gebe, was sie zur Abkehr von jedem Gottesglauben, jedenfalls von dem des Islam, hätte bringen können. So gilt den wichtigsten Vertretern der Hauptströmungen der Auseinandersetzung mit dem Westen unter den Muslimen, Sunniten wie Schiiten, die Herausforderung der muslimischen Gemeinde durch den Westen im praktischen und theoretischen Bereich denn auch meistens nicht als Beweis für die westlicherseits unterstellte theoretische und praktische Unzulänglichkeit des Islam an sich.⁴⁴ Die Denker einiger der bedeutendsten Strömungen der sogenannten Salafiyyah⁴⁵ oder islamischen Reformbewegung unter den
44 Vgl. Nagel, 1991:14. 45 Über Geschichte des Ausdrucks und der mit ihm bezeichneten Bewegung vgl. ausser dem Artikel in EI Esposito, 1995, vol. 3:463a) ff.; diese und die folgenden Bemerkungen gehen auf meinen Artikel „Tendenzen der Westwahrnehmung bei iranischen Intellektuellen“. In: Asiatische Studien LXII – 1 – 2008. Bern zurück.
Besonderheiten der Iranischen Geistesgeschichte
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sunnitischen Muslimen im Umkreis und in der Nachfolge des panislamischen Politaktivisten Ğamāl al-Dīn Afġānī⁴⁶(1838/39–1897) und des Religionsgelehrten Muḥammad ʿAbduh⁴⁷(1849–1905) etwa stellen die Kriterien des Westens für seinen Anspruch, dass seine Kultur ein unbestreitbares und universales Vorbild für zivilisatorische Entwicklung sei, zum Teil gar nicht grundsätzlich in Frage.⁴⁸ Was diese Denker eher in Frage stellen, ist nur die mit diesem Anspruch gewöhnlich einhergehende Behauptung, dass nur die westliche Kultur ihrem Wesen nach fähig sei, eine in ihrem Sinne unbestreitbar vorbildliche zivilisatorische Entwicklung zu verwirklichen:⁴⁹ Ein richtig verstandener und praktizierter Islam, wie er zur Zeit der frommen Altvorderen – arabisch: al-salaf al-ṣāliḥ, davon der Name der Bewegung: „Salafiyyah“ –zur Zeit des Propheten und der Folgegeneration historische Wirklichkeit gewesen sei,⁵⁰ sei seinem Wesen nach genauso wie die westliche Kultur, ja, noch viel besser, in der Lage, die Kriterien für eine vorbildliche Zivilisation zu erfüllen, wenn die muslimische Gemeinde sich nur wieder auf dessen wahre Prinzipien besinne.⁵¹ Die Tatsache, dass Macht und Kultur des Abendlandes die muslimische Gemeinde in ihren eigenen Gebieten herausfordern, gilt für die Reformdenker denn auch weder als ein Beweis für die westlicherseits unterstellte theoretische und praktische Unzulänglichkeit des Islam an sich, sondern vielmehr als Zeichen dafür, dass sich die Muslime von dem Vorbild der islamischen Urgemeinde abgekehrt hätten,⁵² noch als Beweis für die Überlegenheit nicht-religiöser theoretischer und praktischer Systeme wie etwa des westlichen Säkularismus gegenüber religiösen Systemen, sondern vielmehr als Zeichen für die Unvollkommenheit des Christentums als einer nicht-islamischen Religion gegenüber der Religion des Islam: Eben weil sich die christliche Religion in ihrer Unvollkommenheit schliesslich auch als untaugliches zivilisatorisches Modell erwiesen habe, sei den Menschen des Abendlandes gar nichts mehr anderes übrig geblieben, als ihre Religion aus dem zivilisatorischen Prozess
46 Über Leben und Werk Afġānīs vgl. ausser Artikel in EI Esposito, 1995, vol. 1:23b) ff. 47 Über Leben und Werk ʿAbduhs vgl. ausser Artikel in EI Esposito, 1995, vol. 1:11a) ff. 48 Vgl. etwa die Anerkennung der Leistungen des Westens durch ʿAbduh, erwähnt bei Nagel, 1991:34, 35: „Die ideologischen Bestandteile des Denkens ʿAbduhs [...] wurden eigentlich nie in Frage gestellt.“ Ausserdem Esposito, 1995, vol. 3:403b) f., vol. 4:467b): „[Modern Islamic movements], while accepting modernity, […] believed in the self-sufficiency of Islam […]“. 49 Nagel, 1991:13, 17 sowie überhaupt seine Darstellung von ʿAbduhs Auseinandersetzung mit Hanotaux und Afġānīs Gegenrede gegen Renan. 50 Über das historisch verstandene Vorbild der frommen Altvorderen bei den Salafisten vgl. Nagel, 1991: passim. 51 Vgl. Nagel, 1991:13, 17, 19, sowie die Auslegung der westlichen Fortschrittsidee im Lichte des Islam durch ʿAbduh Ders.:20 f., 29, 45. 52 Nagel, 1991:14, über ʿAbduhs Motive.
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Vorbemerkungen
auszuscheiden.⁵³ Anhänger dieser Deutung reduzieren die Herausforderung der Muslime durch Macht und Kultur des Abendlandes also keineswegs auf einen Konflikt zwischen Islam und Christentum, sondern sehen ein Merkmal derjenigen Kultur des Abendlandes, mit der sie sich auseinanderzusetzen haben, eben darin, dass in ihr die Bedeutung der Religion infolge der geistesgeschichtlichen Vorgänge der vorangegangenen Jahrhunderte relativiert worden sei. Diese Bemerkung soll keineswegs die Rolle und den Einfluss christlicher Missionstätigkeit in muslimischen Gebieten im Zusammenhang mit der imperialistischen Durchdringung derselben unterschlagen, zumal ja auch in der Sicht von Muslimen, welche die abendländische Kultur eben nicht über das Christentum definieren, ein solcher Zusammenhang durchaus besteht. Sie mag sich ferner reichlich absonderlich anhören angesichts der internationalen Aufmerksamkeit, welche diejenigen Wortführer unter der islamischen Gemeinde finden, welche als Antwort auf die Herausforderung der Muslime durch den Westen zu einem Kampf gegen „Juden“ und eben auch „Kreuzritter“ aufrufen. Bei der Verwendung des Schlagwortes „Kreuzritter“ dürfte es diesen Wortführern und ihren Anhängern aber mehr darum gehen, die Bedrohungslage der Muslime durch das Abendland zur Zeit der Kreuzzüge und heute miteinander zu vergleichen oder gar gleichzusetzen, und weniger, die Kultur des Abendlandes selbst zur Zeit der Kreuzzüge und heute als ein und dieselbe darzustellen. Denn was diese Gruppen dem Westen vorhalten, ist nicht nur imperialistische Aggression gegenüber den Muslimen, sondern ebenso moralische Dekadenz im Innern. Und letztere sehen auch diese Gruppen eindeutig nicht als Eigenschaft des Christentums an, sondern als Folge des Bedeutungsverlustes von Religion überhaupt. Was ausserdem die schiitischen Muslime betrifft, so warnt kein Geringerer als Āyatollāh Khomeini⁵⁴ seine Gemeinde ausdrücklich davor, den westlichen Imperialismus als religiös motivierten Kampf „der Christen“ gegen „die Muslime“ misszuverstehen.⁵⁵ Religiös orientierte Muslime, seien es Sunniten oder Schiiten, deuteten das Auseinanderklaffen zwischen ihrer aktuellen historischen Erfahrung und der Heilsverheissung ihrer Religion vielmehr als Zeichen dafür, dass sie im Sinne ihrer Religion etwas falsch gemacht, sich versündigt hatten, also vom Weg des Heils abgekommen seien. In dieser Deutung mag sie überdies Gottes Wort an sie „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist“⁵⁶ bestärkt haben. Doch obwohl eine solche Deutung eine religiöse Orientierung voraussetzt, erlaubt uns dies nun auch wieder nicht, den Islam alleine und schlechthin 53 Nagel, 1991:23. 54 Über Leben und Werk: Esposito, 1995, vol. 2:427a) ff. 55 Vgl. Khomeini, 1360:24. 56 Koran:3/110.
Besonderheiten der Iranischen Geistesgeschichte
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als Erklärung dafür heranzuziehen, wie sich die Herausforderung der Muslime durch den Westen auf diese ausgewirkt hat. Denn zum einen ist diese Deutung zwar eine typisch religiöse, aber nicht eine ausschliesslich islamische: Auch Angehörige anderer Religionen pflegen Herausforderungen und Heimsuchungen als Folge einer Versündigung ihrerseits, als Strafe Gottes etwa, oder als Prüfung aufzufassen. Zum anderen mag zwar die Erfahrung der imperialistischen Herausforderung selbst von allen Muslimen, Sunniten wie Schiiten, im religiösen Sinn als Folge der Abkehr vom Weg des Heils gedeutet worden sein, und diese Erfahrung liess es Muslimen, Sunniten wie Schiiten, auch als unabdingbar erscheinen, sich mit dem Westen im praktischen und theoretischen Bereich auseinanderzusetzen. Die Schlüsse aber, die sie aus dieser Deutung zogen, die Auffassungen unter ihnen darüber, worin der Weg des Heils bestehe, von dem man abgekommen sei, die Arten ihrer Auseinandersetzung mit dem Westen im theoretischen und praktischen Sinne und die damit zusammenhängenden Westwahrnehmungen mögen sich wieder als durchaus unterschiedlich erweisen. So besteht für die Salafisten die Wiedergewinnung des Heils in der Rückkehr zu Auffassung und Praxis des Islam, wie sie ihn bei den frommen Altvorderen verwirklicht sehen. Und mit einem in diesem ihrem Sinne „richtig“ verstandenen Islam sind für viele salafistische Reformdenker solche Kriterien im praktischen Bereich wie Rechtstaatlichkeit, Demokratie und teilweise auch die Gleichberechtigung der Frau, auf die der zivilisatorische Vorbildlichkeitsanspruch des Westens gründet, problemlos vereinbar, indem sie etwa Begriffe aus den islamischen Quellen wie Gerechtigkeit mit Rechtstaat und Gleichstellung der Frau⁵⁷ sowie Beratung und Konsens mit Demokratie⁵⁸ gleichsetzen. Und auch theoretische und praktische Leistungen der Einzelwissenschaften wie Atomphysik, Genetik oder „moderne“ Medizin, auf die sich der Westen ebenfalls als Kriterien bei der Begründung seines zivilisatorischen Überlegenheitsanspruchs beruft, fänden sich im Koran bereits vorweggenommen, wenn man ihn nur „richtig“ deute,⁵⁹ mit einem Deutungsverfahren, das als naturwissenschaftliche Koranexegese bekannt geworden ist. Auch dort, wo salafistische Reformdenker Erscheinungen des Westens kritisieren, geht es ihnen darum, deren Unvereinbarkeit mit den wesentlichen Prinzipien des „wahren“ Islam nachzuweisen. Dies bedeutet jedoch kein Zugeständnis ihrerseits an die westliche Islamkritik, der Islam sei seinem Wesen nach zur Verwirklichung einer vorbildlichen Zivilisation nicht fähig. Vielmehr betrachten
57 Vgl. etwa die Schriften des Reformers Qāsim Amīn, z. B. „Taḥrīr al-marʾah“. 58 Nagel, 1991:13, über das Denken Ḫayr al-Dīns; 42, über Kawākibī sowie Ders.:43; ausserdem Esposito, 1995, vol. 1:197b); vol. 3:403, 411a); vol. 4:466b). 59 Vgl. Nagel, 1991:46, über Bannā’s „wissenschaftliche“ Koranauslegung; Esposito, 1995, vol. 3:120a), 404a), 411a); siehe auch die Kritik von Abū zayd, 1997:114 ff.
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Vorbemerkungen
solche Salafisten ihrerseits die kritisierten Erscheinungen als nicht wesentlich für die Verwirklichung einer vorbildlichen zivilisatorischen Entwicklung oder sehen im „wahren“ Islam Alternativen angelegt, die den kritisierten Erscheinungen überlegen seien.⁶⁰ Auch Kritik von Salafisten an geistigen Grundlagen der westlichen Kultur und ihrer Einzelwissenschaften, Grundlagen, zu denen für sie etwa materialistische Philosophie zählt⁶¹, läuft zumeist auf einen überlieferungswissenschaftlich – theologisch bzw. gesetzeswissenschaftlich – begründeten Nachweis der Unvereinbarkeit der betreffenden Lehren mit dem Islam hinaus.⁶² Natürlich könnte man diejenigen Unterschiede in der Westwahrnehmung, die sich zwischen der islamischen Gemeinde im Iran und der ausserhalb des Iran feststellen lassen, darauf zurückzuführen suchen, dass es sich bei der einen mehrheitlich um Schiiten und bei der anderen vorwiegend um Sunniten handelt. Diese konfessionellen Verhältnisse sind zwar eine auffällige Tatsache, und es wäre leichtfertig, sie ohne weiteres als Erklärung auszuschliessen. Ebenso wenig aber können sie ohne weiteres als alleinige Erklärung angenommen werden. Schliesslich bestehen erhebliche Unterschiede in der Westwahrnehmung nicht nur zwischen schiitischer Gemeinde auf der einen und sunnitischer Gemeinde auf der andern Seite, sondern auch unter den Angehörigen jeder einzelnen der beiden Gemeinschaften selbst. Und auch was die Unterschiede in der Westwahrnehmung zwischen Schiiten und Sunniten angeht: Wie soll man sich vergewissern, dass diese Unterschiede ihren Grund tatsächlich in der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit der einen und der anderen und in nichts anderem haben? Wie nun Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als zwei der führenden Vertreter und Gelehrten der schiitischen Gemeinde des Iran ihrer Zeit die Herausforderung durch den Westen deuteten, worin sie den Weg des Heils für ihre Gemeinde sahen, wie sie sich im Rahmen ihrer historischen Situation einerseits und ihres geistesgeschichtlichen Hintergrundes andererseits mit dem Westen geistig auseinandersetzten und welche Westwahrnehmung sie dabei entwickelten, dies alles soll, wie gesagt, im weiteren Verlauf dieser Arbeit vor allem anhand ihres Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus untersucht werden. Bevor wir daher die Inhalte dieses Werkes selbst durchgehen, beleuchten wir Umfeld und Hintergrund seiner Entstehung und befassen uns mit Stellung und Selbstverständnis seiner Verfasser in der Gemeinschaft ihrer Zeit.
60 Nagel, 1991:19, über ʿAbduhs Gegenrede gegen Hanotaux, 37, über die Ideen Ṭuʿaymahs. 61 Z. B. Afġānī, 1968. 62 Über die theologische Grundlegung von ʿAbduhs Denken vgl. Nagel, 1991:17 ff.; über die theologische Ausrichtung von Afġānīs „Widerlegung der Materialisten“ siehe Ders.:29.
Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit
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1.3 Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit Bereits im Titel dieser Arbeit und in den bisherigen Vorbemerkungen sind Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Intellektuelle bezeichnet worden. Da die Anwendung dieses Ausdrucks auf religiöse Denker Befremden hervorrufen mag, soll die Verwendung des Begriffs im Rahmen dieser Untersuchung hier vorab begründet werden. Dabei wird sich die Abgrenzung des Begriffs, die wir hier vornehmen, nach demselben Verständnis von der Bedeutung des Ausdrucks richten, das den Definitionen des Intellektuellenbegriffs zugrunde liegt, die Mehrzad Boroujerdi seiner eigenen Untersuchung über die Intellektuellenszene des Iran in Iranian Intellectuals and the West⁶³ vorausschickt.⁶⁴ Von den verschiedenen Definitionen, die dort angeführt werden, verstehen diejenigen, die sich mehr an die Begriffswahl der klassischen Philosophie halten, unter einem Intellektuellen jemanden, der für sich beansprucht bzw. von dem auch die Gemeinschaft, in der er wirkt, annimmt oder erwartet, dass er versucht, sich in seinen Urteilen von Erkenntnis leiten zu lassen, und sich nicht mit blosser Meinung zufriedengibt.⁶⁵ Wie man sieht, lässt diese Definition die Frage, in welchem Mass und in welchem Fall er dieser Selbst- oder Fremdeinschätzung gerecht wird, ausser Acht; täte sie das nicht, würde die Begriffsbestimmung sofort selbst ins Subjektive, in die „Meinung“ eben, abgleiten. Ein Intellektueller nach dieser Definition unterscheidet also zwischen Meinung und Erkenntnis, zwei Begriffen, auf die wir, ebenso wie auf die Unterscheidung zwischen den beiden, an anderer Stelle noch genauer eingehen werden. Und auch hier würden wir die Definition dem subjektiven Ermessen, der Meinung, anheim stellen, wenn wir die Frage in sie einbeziehen würden, in was der besagte Unterschied zwischen Meinung und Erkenntnis für einen Intellektuellen, soll er diesen Namen verdienen, denn zu bestehen habe – oder gar die Frage, welche Art von Erkenntnis ihm eigentlich seinen Status als Intellektueller verleihe: Einsichten in Philosophie? In Religion? In Einzelwissenschaft? Die Beantwortung der letzteren Frage würde ausserdem die Klärung einer weiteren Frage voraussetzen – der Frage nämlich, welches in der Gemeinschaft, in welcher der Intellektuelle wirkt, als das wertvollste Wissen gilt. Dass dem Intellektuellen nach der obigen Definition überhaupt daran liegt, in seinem Urteil zwischen Erkenntnis und Meinung, zwischen „Sein“ und „Schein“, zu unterscheiden, wird für gewöhnlich mit einer ihm innewohnenden geistigen 63 S. Literaturverzeichnis. 64 Boroujerdi, 1996:20 ff. 65 Vgl. Ders., 1996:20.
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Vorbemerkungen
Neigung⁶⁶ erklärt. Diese besteht in einem Gefühl, der Wahrheit vor allem anderen verpflichtet zu sein, einer Gewissenhaftigkeit gegenüber der Wahrheit also, die ihn erst dazu bringt, seine geistigen Anlagen und Fähigkeiten zum Zweck der Erkenntnis zu entwickeln.⁶⁷ Oft – aber dies ist wieder nicht Teil der Definition – tut er dies, indem er sie auf einem bestimmten Wissensgebiet betätigt. Dass andere sich mit dem Schein begnügen oder begnügen müssen, wird für gewöhnlich nicht so sehr damit erklärt, dass ihnen von Natur aus die Erkenntnisfähigkeit selbst abgeht, als vielmehr damit, dass ihnen die entsprechende Neigung oder schlicht die praktische Gelegenheit fehlt, sie zu entwickeln.⁶⁸ Intellektueller zu sein, ist, so gesehen, also nicht nur eine Frage von Intellekt im engeren Sinne, sondern ebenso von Gesinnung, nicht nur von Wissen, sondern auch von Gewissen.⁶⁹ Und auch hier würde die Definition rein subjektiv, wenn wir die Frage in sie einbeziehen würden, wie viel Gewissenhaftigkeit gegenüber der Wahrheit und welches Mass an Entwicklung von geistigen Anlagen es rechtfertigt, von einem Intellektuellen zu sprechen – ganz abgesehen von Fragen wie der, was unter der Wahrheit zu verstehen sei, welcher der Intellektuelle sich verpflichtet zu fühlen habe. Wenn wir also all die Fragen, deren Berücksichtigung die Definition subjektiv machen würde, aus ihr heraushalten, so mag es theoretisch einfach scheinen zu bestimmen, was ein Intellektueller ist. Schwierigkeiten ergeben sich aber auch so spätestens dann, wenn es darum geht, von Fall zu Fall zu entscheiden, auf welche Gruppen und Personen einer bestimmten geschichtlichen Gemeinschaft der Begriff zutrifft. So wenig zwingend aber eine Definition des Begriffs Intellektueller selbst auch sein mag: wenn wir den Begriff, in welcher Definition auch immer, erst einmal auf eine bestimmte Gemeinschaft anwenden, ergibt sich in der Vorstellung zwingend eine Unterteilung derselben in Intellektuelle und „Nicht-Intellektuelle“. Und so sehr der Ausdruck „Intellektueller“ selbst in allen Fassungen, in denen er im Iran geläufig geworden ist, seinem Ursprung nach weder iranisch noch, allgemeiner gesehen, islamisch ist und so sehr ausserdem die Arten von Erkenntnis, die diesen Status verleihen, im Abendland andere sein mögen als in islamischen Gesellschaften, so ist andererseits eine solche Unterteilung der Gesellschaft in eine geistige Elite⁷⁰ und eine Allgemeinheit⁷¹, in Gebildete und
66 Boroujerdi, 1996:20 f. 67 Vgl. Brandt, 2001:10. 68 Vgl. Leaman, 1999:161 69 Vgl. Boroujerdi, 1996:20. 70 ḫāṣṣah. 71 ʿāmmah.
Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit
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Ungebildete, Spezialisten und Nichtspezialisten, Eingeweihte und Nichteingeweihte in der Kultur- und Geistesgeschichte der islamischen Gemeinschaft insgesamt und in der des Iran im besonderen nichts völlig Neuartiges. Was den schiitischen Islam und seine Gemeinschaft betrifft, so könnte manchem bei dieser Unterteilung in Intellektuelle und Nichtintellektuelle gleich die Entgegensetzung zwischen den zu esoterischem Wissen fähigen, unfehlbaren Imamen auf der einen Seite und den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaft auf der anderen einfallen, die, aus eigener Kraft zu esoterischer Einsicht unfähig und fehlbar, für ihr Heil auf die Leitung durch die Imame angewiesen sind.⁷² Dies würde aber wohl doch wieder an der vorgeschlagenen Definition des Intellektuellenbegriffs vorbeigehen. Denn die Imame sind nicht nur deshalb zu esoterischer Einsicht fähig und unfehlbar, weil sie die intellektuellen Anlagen verwirklicht hätten, die von Natur aus allen Menschen eigen sind, sondern weil sie von Gott als einzige mit intellektuellen Anlagen begnadet worden sind, die sich in ihrer Art von denen der anderen Menschen eben unterscheiden.⁷³ Wohl aber entspricht das Verständnis der Anhänger des schiitischen Islam von der eigenen Gemeinschaft, wonach es sich bei dieser Minderheitenrichtung unter der islamischen Gesamtgemeinde um eine auserwählte Schar⁷⁴, um die „Gruppe, die recht hat“⁷⁵, um eine geistliche und eben auch geistige Elite⁷⁶ gegenüber den „gemeinen“ Gläubigen, der Mehrheitsrichtung der Sunniten, handle, einer solchen Einteilung. Mit Blick auf die islamische Gesamtgemeinde, Sunniten wie Schiiten, lassen sich ausserdem Entgegensetzungen wie die zwischen Religionsgelehrten und gewöhnlichen Gläubigen, im Falle der schiitischen Gemeinde namentlich die zwischen den massgeblichen schiitischen Gelehrten, den Quellen der Nachahmung⁷⁷, und ihren Anhängern, zwischen mystischem Meister und Schüler oder überhaupt zwischen Eingeweihten in den mystischen Pfad und Uneingeweihten sowie zwischen Philosophen oder philosophisch Gebildeten und philosophisch Ungebildeten als Beispiele für die angesprochene Unterteilung anführen, die sich in der Geistesgeschichte der islamischen Gemeinde sowohl vor als auch nach der Übernahme des abendländischen Begriffs Intellektueller finden lassen. Auch Beispiele wie diese hat eine Definition des Intellektuellenbegriffs, die zu einer angemessenen Darstellung von Geistesgeschichte und Geistesleben der islamischen Gemeinschaft und in unserem Fall besonders des Iran beitragen soll, zu
72 Vgl. Halm, 1988:41, 54 f. 73 Ders., 1988:54. 74 Ebda.:“ḥizb Allāh“. 75 „ṭāʾifah muḥiqqah“: Ders., 1988:3. 76 Vgl. Ders., 1988:72, Anm. 84. 77 Vgl.. Ders., 1988:134 ff.
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Vorbemerkungen
berücksichtigen.⁷⁸ Deshalb soll der Ausdruck „Intellektueller“, wie wir ihn bei der Darstellung der Tendenzen der Westwahrnehmung unter iranischen Intellektuellen verwenden werden, auch mystische Denker und religiöse Gelehrte wie eben Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī umfassen. Diese Grosszügigkeit bei der Definition des Intellektuellenbegriffs empfiehlt sich besonders bei der Betrachtung des aktuellen Geisteslebens im Iran. Denn im Zuge der Reformmassnahmen der Pahlavī-Herrscher seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Beispiel des Laizismus in der Republik Türkei wurde den religiösen Gelehrten das Bildungsmonopol mehr und mehr entzogen. Dies löste bedeutende Verschiebungen im intellektuellen Leben und in der Intellektuellengemeinde des Iran aus. So wurden etwa viele Gelehrte mit religiösem Ausbildungshintergrund, um sich ihren Einfluss auf die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung des Volkes sowie die eigenen Karrierechancen zu erhalten bzw. wiederzugewinnen, als Dozenten an den staatlichen Bildungseinrichtungen tätig.⁷⁹ Umgekehrt beriefen auch die religiösen Bildungsstätten zunehmend Lehrpersonen mit akademischem Grad. Ausserdem wird für den Beginn einer Ausbildung zum religiösen Gelehrten im Iran eine abgeschlossene Gymnasialausbildung als Mindestanforderung vorausgesetzt. All dies hat seit den 50er Jahren zu einer zunehmenden Verschmelzung zwischen den Kreisen der religiösen Gelehrten und solcher mit akademischem Ausbildungshintergrund geführt.⁸⁰ Eine ganze Reihe massgeblicher iranischer Intellektueller seit jener Zeit, die ihre formale Ausbildung nicht an einer religiösen Institution absolviert hatten, verkehrten denn auch nachweislich im Umfeld von Gelehrten mit formal-religiöser Ausbildung und entstammten oft auch selbst religiösen Gelehrtenfamilien.⁸¹ Schon aus diesem Grund würden wir den Besonderheiten des Geisteslebens im Iran zu der Zeit, die uns hier interessiert, nicht gerecht, wenn wir bei der Betrachtung seiner Intellektuellenszene die religiösen Gelehrten ausser Acht lassen würden. Weiter ist eines der massgeblichen Lehrfächer schiitischer Gelehrsamkeit die Philosophie. Dies würde bei der Untersuchung des Geisteslebens im Iran gerade im Falle vieler geistiger Autoritäten die Entscheidung schwierig machen, ob es sich bei ihnen um Philosophen oder um religiöse Gelehrte handelt. Als Philosophen würden sie aber wohl in jede noch so enge Auslegung des Intellektuellenbegriffs nach vorherrschendem abendländischem Verständnis einbezogen, während sie als religiöse Gelehrte auch bei mancher weiten Fassung des Begriffs im Westen unberücksichtigt blieben. Da aber, wie gesagt, Philosophie zur schiitischen 78 Boroujerdi, 1996:24. 79 Ders., 1996:80 ff., 94 ff., 113 ff.; vgl. auch Leaman, 1999:11. 80 Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 113 ff. 81 Esposito, 1995, vol. 3:213a) ff., vol.4:161a) ff.; Boroujerdi, 1996:65, 100 ff., 105, 120, 136, 140.
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Gelehrsamkeit gehört, ist die Entscheidung, wen wir nun als Philosophen und wen als religiösen Gelehrten ansehen sollen, nicht nur schwierig, sondern angesichts der Besonderheiten des Geisteslebens im Iran zudem oft müssig. Auch aus diesem Grunde scheint die Anwendung eines Intellektuellenbegriffs ratsam, der den geistesgeschichtlichen Gegebenheiten des Iran angepasst ist. Dazu kommt noch, dass diejenige philosophische Tradition, auf die sich etwa Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, aber auch viele andere iranische Denker, religiöse und andere, beziehen, in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins besteht, einer Lehre also, deren Bedeutung und intellektuelle Überlegenheit diese Denker selbst sowie iranische Betrachter der Philosophiegeschichte⁸² unter anderem ja eben darin sehen, dass sie die religiösen Einzelwissenschaften Gesetzeswissenschaft und Theologie sowie Mystik und die früheren philosophischen Hauptrichtungen in einem einzigen intellektuellen System vereint habe.⁸³ Und schliesslich, folgt man der freilich sehr allgemeinen, aber auch nur vorläufig gemeinten Definition Boroujerdis von Intellektuellen als dem kritischen Gewissen jeder Gesellschaft,⁸⁴ lassen sich religiöse Gelehrte wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, wie die Darstellung ihres Wirkens und ihres Nachwirkens noch zeigen wird, durchaus als Teil des kritischen Gewissens ihrer Gesellschaft betrachten. Legen wir weiter Boroujerdis Grobeinteilung von Intellektuellen in gesellschaftlich engagierte Visionäre auf der einen und staatstragende Bürokraten und Berufsleute auf der anderen Seite zugrunde,⁸⁵ so fallen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī unter die erstere Gruppe. Damit kommt ihnen auch das Merkmal zu, das Boroujerdi für die Angehörigen dieser Gruppe von Intellektuellen überhaupt als bezeichnend ausmacht, nämlich dass sie Lage und Entwicklung ihrer Gesellschaft sowohl reflektieren als auch zu gestalten suchen.⁸⁶ Im Hinblick auf dieses ihr Bemühen treffen auf sie auch Boroujerdis Bemerkungen über iranische Intellektuelle im allgemeinen zu, dass sie als kulturelle Akteure mit ihrer Darstellung von Irans vergangener und gegenwärtiger Geschichte sowie mit ihrer Deutung der westlichen Kultur auch die Auffassung breiterer Kreise der iranischen Gesellschaft über Themen, die im Zuge der Begegnung und Auseinandersetzung Irans mit dem Westen wichtig wurden, prägten und dass daher eine Untersuchung des Gedankengutes dieser Intellektuellen Einblicke in die Erfahrung der iranischen Gesellschaft in den Jahrzehnten vor der Revolution des Jahres 1979 und zum Teil noch danach gewährt.⁸⁷
82 So etwa Ṭālebzādeh, 1385b. 83 Vgl. M, 1381, I:12; Ṭālebzādeh, 1385b:92. 84 Boroujerdi, 1996:20. 85 Ders., 1996:22. 86 Ebda. 87 Ebda.
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Vorbemerkungen
Dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in dieser Arbeit also zu den Intellektuellen gezählt werden, geschieht also zum einen aufgrund dieses den Eigenheiten der jüngeren iranischen Geistesgeschichte angepassten Verständnisses des Intellektuellenbegriffs, wie ihn Boroujerdi entwickelt. Zum anderen aber mag für die Begründung, warum wir in dieser Arbeit Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Intellektuelle bzw. als religiöse Intellektuelle bezeichnen, auch ein Rückgriff auf die Geschichte dieser beiden Begriffe im Zuge der Geistesgeschichte des Iran als geboten erscheinen. Personen und Gruppen, die sich mit der persischen Entsprechung des Begriffs „Intellektueller“⁸⁸ benennen, werden im Iran erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fassbar.⁸⁹ Während Intellektuelle im 20. Jahrhundert mehrheitlich der Mittelklasse angehörten, entstammten sie im 19. Jahrhundert unterschiedlichen beruflichen und gesellschaftlichen Schichten: Manche waren Adlige, sogar Mitglieder der Herrscherfamilie, andere Staatsangestellte und Offiziere, wieder andere Religionsgelehrte und Kaufleute, Schriftsteller und Journalisten.⁹⁰ Die wörtliche Übersetzung ihrer Selbstbezeichnung ergibt im Deutschen den Ausdruck „aufgeklärt“, was wiederum dem französischen „éclairé“ gleichkommt. Dies verweist auf die französische Aufklärung als ihren geistigen Hintergrund.⁹¹ Aufklärerischem Gedankengut entspricht auch ihre Auffassung, dass sich Geschichte weder als die Offenbarung von Gottes Willen begreifen lässt, wie die Angehörigen des religiösen Establishments lehrten, noch als der zyklische Aufstieg und Fall von Herrschergeschlechtern, als welchen die Hofchronisten sie beschrieben, sondern als den Verlauf des menschlichen Fortschritts.⁹² Die Verwirklichung von Fortschritt – auch dies ein aufklärerischer Gedanke – setzt die Einschränkung von Willkürherrschaft und der Übermacht des religiösen Establishments sowie im Fall des Iran ausserdem die Beseitigung imperialistischer Fremdbestimmung voraus.⁹³ Herrscherwillkür sahen sie als unvereinbar mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an, die Übermacht des Klerus als Hindernis für „vernünftiges“ und wissenschaftliches Denken und Imperialismus als Bedrohung für die Selbstbestimmung ihres Landes.⁹⁴ Als Gegenmittel zur ersten empfahlen sie Konstitutio-
88 Zuerst das arabisierende „monavvar ol-fekr“ – „von erleuchtetem Denken“ –, welches die Iranische Akademie in den 1940er Jahren zu „rowšanfekr“ iranisierte: vgl. Jahanbakhsh, 2004:470; Boroujerdi, 1996:22. 89 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:469; Gheissari, 1998:15. 90 Vgl. Abrahamian, 1982:61; Jahanbakhsh, 2004:470. 91 Vgl. Abrahamian, 1982:61; Boroujerdi, 1996:22. 92 Vgl. Abrahamian, 1982:61. 93 Vgl. Abrahamian, 1982:61 f. 94 Vgl. Abrahamian, 1982:62.
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nalismus, zur zweiten Säkularismus und zum dritten Nationalismus.⁹⁵ Getreu dem aufklärerischen Bildungsideal glaubten sie zudem daran, dass wahres Wissen auf Vernunft und moderner Wissenschaft, nicht auf Offenbarung beruhe.⁹⁶ Auf der Grundlage dieses Gedankenguts nahmen diese iranischen „Aufgeklärten“ nunmehr auch den Zustand und die Entwicklung ihres eigenen Gemeinwesens wahr. Die Verbreitung westlichen Gedankenguts und damit auch die Entstehung von Intellektuellen sind dabei dem allgemeinen Einfluss der westlichen Kultur auf den Iran zuzuschreiben: Interessierte Iraner mochten mit westlichem Denken durch die Lektüre westlicher Literatur, sei es im Original oder in Übersetzung, Reisen nach Europa oder den Besuch westlicher oder nach westlichem Muster eingerichteter Bildungsinstitutionen im Westen selbst oder im Iran in Berührung gekommen sein.⁹⁷ Ihrem geistigen Hintergrund und Selbstverständnis nach stellten Intellektuelle somit eine Gruppe von Gebildeten abseits der Angehörigen der religiösen Institution und der von der Gunst eines Herrschers abhängigen Hofgelehrten dar.⁹⁸ Eine erste grosse Gelegenheit, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen, bot sich den iranischen Intellektuellen in der Konstitutionellen Revolution von 1906 bis 1911. Diese Zeit wird daher oft auch als erster Höhepunkt ihres Wirkens angesehen.⁹⁹ Hatten sich die Intellektuellen bis zur Konstitutionellen Revolution wohl gegen die Übermacht der religiösen Gelehrtenschaft, weniger aber gegen die Religion als solche gewandt, so zeigen die vorherrschenden Strömungen unter den Intellektuellen in den Jahrzehnten nach der Konstitutionellen Revolution mehr und mehr antireligiöse, ja, atheistische Züge.¹⁰⁰ Dies hängt einerseits mit der Entstehung einer iranischen Linken zusammen, nach deren Lehre Religion sowieso als reaktionär gilt. Aber auch nach dem Weltverständnis der PahlavīHerrscher, die von den 20er bis in die 70er Jahre den Iran nach dem Vorbild des Westens – oder was sie unter „Westen“ verstanden – umzugestalten trachteten, handelt es sich bei Religion um eine Grösse, die für den zivilisatorischen Prozess, wenn nicht schädlich, so doch durchaus entbehrlich ist.¹⁰¹ Intellektualismus und Religion bzw. Religiosität werden bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts daher in der Regel als unvereinbar wahrgenommen.¹⁰² 95 Vgl. Abrahamian, 1982:62. 96 Vgl. Abrahamian, 1982:62. 97 Vgl. Abrahamian, 1982:61. 98 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:469. 99 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:469. 100 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:471, 473. 101 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:471. 102 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:471.
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Vorbemerkungen
Der Ausdruck „religiöser Intellektueller“¹⁰³ ist von dem iranischen Denker ʿAbd ol-Karīm Sorūš (geb. 1945), der Chemie, Philosophie und Epistemologie studiert hatte, Ende der 80er Jahre geprägt worden.¹⁰⁴ Sorūš selbst wird den sogenannten Reformern zugerechnet, einer nachrevolutionären Strömung unter iranischen Denkern und Aktivisten, welche die Grundlagentexte des Islam im Lichte moderner hermeneutischer Ansätze deuten und auf dieser Grundlage auch das Verhältnis zwischen Religion und Politik neu zu bestimmen suchen. Die Angehörigen dieser Bewegung, unter denen sich neben Sorūš auch die Reformtheologen Moḥammad Šabestarī¹⁰⁵ und Moḥammad Ḫātamī, Staatspräsident von 1997 bis 2005, finden, zählen ihrerseits zu den religiösen Intellektuellen.¹⁰⁶ Die Personen, die Sorūš mit dem Begriff „religiöser Intellektueller“ meint, teilen viele Merkmale mit den übrigen Intellektuellen, so etwa die intrinsische Motivation, sich mit theoretischen Fragen zu befassen.¹⁰⁷ Jedoch halten sie Religion für den zivilisatorischen Prozess nicht für entbehrlich und deshalb auch nicht für unvereinbar mit Vernunft nach dem aufklärerischen Verständnis und moderner Wissenschaft. Vielmehr gilt es in ihren Augen, Religion im Einklang mit Vernunft und Wissenschaft nach modernem Verständnis neu zu denken und die religiösen Grundlagentexte im Lichte dieses Verständnisses von Vernunft und Wissenschaft zu deuten.¹⁰⁸ Damit bestreiten die religiösen Intellektuellen die ausschliessliche Deutungshoheit der Angehörigen des religiösen Establishments über die heiligen Schriften und deren Monopol in der Rechtsfindung auf dem Gebiet des Religionsgesetzes.¹⁰⁹ Sind die religiösen Intellektuellen also gewiss nicht antireligiös, so sind sie nicht selten antiklerikal, auch wenn einige selbst dem religiösen Establishment entstammen. Sorūš erwähnt als religiöse Intellektuelle zum einen die nachrevolutionären Reformdenker, denen er selbst zugehört.¹¹⁰ Zum anderen aber nennt er unter den religiösen Intellektuellen auch eine Reihe vorrevolutionärer Denker, die er offenbar als geistige Wegbereiter der nachrevolutionären religiösen Intellektuellen ansieht. So erwähnt er als vorrevolutionäre religiöse Intellektuelle unter anderem Ǧamāl al-Dīn Afġānī (st. 1897), Muḥammad ʿAbduh (st. 1905), Muḥammad Iqbāl (st. 1938), Āyatollāh Ṭāleqānī (st. 1979), Mehdī Bāzargān (st. 1995), ʿAlī Šarīʿatī (st. 1977) und Āyatollāh Muṭahharī (st. 1979).¹¹¹ 103 „rowšanfekr-e dīnī“ bzw. „rowšanfekr-e mazhabī.“ 104 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:472; über Sorūšs Denken s. Amirpur, 2003. 105 Vgl. Amirpur, 2003:179 ff. 106 Vgl. Kamrava, 2008:122. 107 Vgl. Sorūš, 1377:138. 108 Vgl. Kamrava, 2008:127 f.; Jahanbakhsh, 2001:51; Jahanbakhsh, 2004:472. 109 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:51; Kamrava, 2008:124. 110 Sorūš, 1377:4 ff. 111 Sorūš, 1377:137.
Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit
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Am Fall von Muṭahharī erläutert er auch die Besonderheiten religiöser Intellektueller gegenüber religiösen Gelehrten: „Er kam vom theologischen Seminar [als Dozent] an die Universität, trat vor der Islamischen Vereinigung der Ärzte und Ingenieure auf […] und liess sich auf die Auseinandersetzung mit Studenten ein […].“¹¹² Sorūš sieht in diesem Verhalten ein Beispiel für „[…] das Überschreiten der Grenzen beschränkter Fachgebiete, das sich Vorwagen in andere Bereiche und die Furchtlosigkeit vor der Begegnung mit neuen Horizonten.“¹¹³ „Erst dies“, so Sorūš, „hat Muṭahharī vom religiösen Gelehrten zum religiösen Intellektuellen werden lassen.“¹¹⁴ Eine ebensolche Horizontüberschreitung, jedoch nicht wie bei Muṭahharī von der religiösen Institution auf ausserreligiöse Bereiche, sondern in umgekehrter Richtung, von ausserreligiösen Fächern auf das Gebiet der Religion, lässt sich seines Erachtens auch bei Bāzargān und Šarīʿatī feststellen.¹¹⁵ Was ersteren betrifft, so handelt es sich bei ihm um einen religiös gesinnten Ingenieur, der auch als erster Premierminister der Islamischen Republik Iran bekannt geworden ist.¹¹⁶ Im Hinblick auf Bāzargāns Werk erweist sich die Entgegensetzung zwischen Intellektualismus und Religion insofern als hinfällig, als es in ihm eben darum ging, die Vereinbarkeit von islamischer Religiosität und modernem naturwissenschaftlichem Denken aufzuzeigen.¹¹⁷ Der promovierte Religionswissenschaftler und Soziologe Šarīʿatī¹¹⁸ wiederum deutete den Islam weniger als eine theologische Lehre denn als eine progressiv-revolutionäre Weltanschauung.¹¹⁹ In dieser erscheint die islamische Urgemeinde zur Zeit des Propheten Muḥammad und des ersten Imams ʿAlī als die klassenlose Gesellschaft, welche die Rückkehr des verborgenen zwölften Imams dereinst wieder verwirklichen wird; die Erwartung des entrückten Imams erhält dadurch eine revolutionäre Färbung.¹²⁰ Šarīʿatīs Vorläufer und Vorbilder sind einerseits die bereits erwähnten islamischen Modernisten Ǧamāl al-Dīn Afġānī, Muḥammad ʿAbduh und Muḥammad Iqbal, andererseits westliche Denker wie Karl Marx, Max Weber, Jean Paul Sartre, Herbert Marcuse und Frantz Fanon.¹²¹ Schon aus diesem geistigen Hintergrund geht hervor, dass in Šarīʿatīs Denken der Gegensatz zwischen dem bis dahin als säkular verstan-
112 Sorūš, 1377:138. 113 Sorūš, 1377:138. 114 Sorūš, 1377:138. 115 Sorūš, 1377:139. 116 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:472. 117 Über Leben und Werk Bāzargāns s. Dabashi, 2008:324 ff. 118 Über Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:105 ff.; Abrahamian, 1982:464 ff.; Akhavi, 1980:143 ff.; Dabashi, 2008:102 ff.; Jahanbakhsh, 2004:471 f. 119 Vgl. Hajatpour, 2002:181; Halm, 1988:157. 120 Vgl. Halm, 1988:157 f. 121 Vgl. Halm, 1988:157.
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Vorbemerkungen
denen Intellektualismus und der Religion aufgehoben ist. „Das gemeinsame Merkmal all dieser“, so Sorūš über Muṭahharī, Bāzargān und Šarīʿatī, „ist, dass sie aus den herkömmlichen, vorgegebenen und begrenzten Bereichen hinaustreten, ihre Füsse über die Matte ihres Fachgebietes hinausstrecken und sich voller Sehnsucht auf andere Felder vorwagen.“¹²² Von den übrigen Intellektuellen unterscheidet die religiösen Intellektuellen einerseits ihre Überzeugung, so Sorūš, „[…] dass die Religion auch heute noch Lösungen für die grundsätzlichen und tiefgreifenden Probleme bereithält, dass sie sich immer noch in Übereinstimmung mit der Vernunft vertreten lässt […] und dass es sich bei ihr nicht einfach um ein antikes Museumsstück handelt, das der Vergangenheit angehört.“¹²³ Diese Überzeugung des religiösen Intellektuellen von der Zeitgemässheit „seiner“ Religion beruht auf einem reflektierten Verhältnis zu dieser. Sorūš führt dazu aus: „Um in der heutigen Zeit an die Kraft, Lösungsbefähigung und Überlegenheit des Islam zu glauben […], müsst ihr die anderen Denkschulen, so gut es geht, kennen, über ihre Lehren Bescheid wissen, über ihre Grundlagen gründlich im Bilde sein, euch auch über die Wissensgehalte des Islam unterrichtet haben und zwischen all diesen Lehren eine Abwägung treffen und den eigenen Wahrheitsanspruch mit den übrigen Wahrheitsansprüchen in Einklang bringen.“¹²⁴ Des weiteren unterscheidet sich ein religiöser Intellektueller von den übrigen Intellektuellen in Sorūšs Augen in seinem Bestreben, die Kraft und Geltung der Religion gerade in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Systemen, nicht in der Abschirmung vor diesen, zu erweisen, ohne sie dadurch jedoch zu verfälschen.¹²⁵ In seinem Anliegen, dem Glauben im Zeichen des modernen Denkens wieder Geltung zu verschaffen, steht er Forough Jahanbakhsh zufolge dem sogenannten religiösen bzw. islamischen Modernismus nahe.¹²⁶ Und als entscheidende Gestalten für die Entwicklung eines religiösen Intellektualismus führt auch sie in Anlehung an Sorūš Šarīʿatī und Bāzargān an.¹²⁷ Ali Mirsepassi erwähnt als religiösen Intellektuellen ausserdem den Literaten Ǧalāl Āl-e Aḥmad (st. 1969), und zwar deshalb, weil es diesem in seinem Spätwerk wie Bāzargān und Šarīʿatī darum gehe, kulturelle Identität und Authentizität der Gemeinde und des Einzelnen im Islam zu gründen.¹²⁸ Was Muṭahharī betrifft, so erwähnt Jahanbakhsh ihn in einer Reihe mit 122 Sorūš, 1377:139. 123 Sorūš, 1377:139. 124 Sorūš, 1377:140. 125 Sorūš, 1377:141 f. 126 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:50, 52; sie verwendet für „religious intellectual“ auch den Ausdruck „Muslim intellectual“. 127 Vgl. Jahanbakhsh, 2004:472. 128 Vgl. Mirsepassi, 2006:418a) ff.
Bemerkungen zur Verwendung des Intellektuellenbegriffes in dieser Arbeit
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Āyatollāh Ṭāleqānī, Bāzargān, Šarīʿatī, Ṭabāṭabāʾī, Khomeini (st. 1989) und Sorūš in ihrer Besprechung der Einstellung religiöser Modernisten zur Demokratie.¹²⁹ Unter religiösem Modernismus versteht sie aber dasselbe wie unter religiösem Intellektualismus.¹³⁰ Dies bedeutet, dass es sich für Jahanbakhsh bei den besagten Denkern, so auch bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, um religiöse Intellektuelle handelt. Auch Farideh Farhi führt Muṭahharī neben Āyatollāh Ṭāleqānī, Bāzargān und Šarīʿatī als Vordenker der nachrevolutionären religiösen Intellektuellen an.¹³¹ Und Boroujerdi spricht von religiösen Intellektuellen als Vertretern der von ihm so genannten klerikalen Gegenkultur der Pahlavī-Zeit.¹³² Zu diesen gehören Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī aber auf jeden Fall dazu. Wie die meisten religiösen Intellektuellen waren Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī ausserdem, obwohl selbst religiöse Gelehrte, der religiösen Institution gegenüber kritisch eingestellt. Muṭahharī beklagte die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit der Religionsgelehrten, sich in den aktuellen intellektuellen Diskurs einzuschalten, und sah in dieser Inkompetenz einen der Gründe dafür, dass sich die Mitglieder der Gemeinde, zumal die Jugend, von der Religion überhaupt ab- und konkurrierenden Lehren wie etwa dem Materialismus zuwandten.¹³³ Bezeichnend und zugleich ursächlich für dieses Versagen war in seinen Augen die Überbetonung der Rechtsgelehrsamkeit auf Kosten anderer Fächer wie Koranexegese am theologischen Seminar.¹³⁴ Für Muṭahharī hing dieser Missstand wesentlich mit der Abhängigkeit der religiösen Institution von den Abgaben der gemeinen Gläubigen zusammen, ein Umstand, der die religiösen Gelehrten zwinge, dem ungebildeten Volk nach dem Munde zu reden.¹³⁵ Muṭahharī sah denn auch in einer Neuordnung des Spendenwesens die Lösung des Problems.¹³⁶ Auch Ṭabāṭabāʾī bemängelte die Unzeitgemässheit des Lehrplanes am theologischen Seminar, die es den Studenten, den angehenden Leitern der Gemeinschaft der Gläubigen, verunmögliche, sich angemessen mit den geistigen Herausforderungen der Zeit auseinanderzusetzen.¹³⁷ Auch er beklagte eine Überbetonung von Rechtsgelehrsamkeit auf Kosten von Koranexegese, Philosophie und Ethik.¹³⁸ Diesem Missstand versuchte er durch eigene Lehrtätigkeit in diesen in seinen Augen untervertretenen Fächern entgegenzuwirken, ein Anlie129 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:65 ff. 130 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:52. 131 Vgl. Farhi, 2001:316. 132 Vgl. Boroujerdi, 1996:77. 133 Vgl. Akhavi, 1980:123 f. 134 Vgl. Akhavi, 1980:122, 124. 135 Vgl. Lambton, 1964:133. 136 Vgl. Lambton, 1964:134. 137 Vgl. Dabashi, 2008:285 f. 138 Vgl. Dabashi, 2008:286.
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Vorbemerkungen
gen, das er jedoch erst gegen den anfänglichen Widerstand der religiösen Institution durchsetzen konnte.¹³⁹ Beide, Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, begriffen ihre Tätigkeit als Lehrer und Autor zumindest teilweise als einen Versuch, die islamische Gemeinschaft, allen voran deren geistliche und geistige Führer, die religiösen Gelehrten, für die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen gedanklichen Herausforderungen zu wappnen. Beide überschritten dabei die Grenzen ihres angestammten Wirkungskreises, des theologischen Seminars, Muṭahharī unter anderem durch seine Lehrtätigkeit an der Universität, Ṭabāṭabāʾī, indem er sich durch Lektüre und anhand von Diskussionen mit dem französischen Philosophen und Orientalisten Henry Corbin (st. 1978) über westliches Denken kundig machte und eine Darstellung der Schia für ein westliches Publikum verfasste. Beide verstanden ihre Leistung als Lehrer und Verfasser jedenfalls zum Teil als intellektuellen Beitrag zum laufenden intellektuellen Diskurs im Iran. Sie aus all diesen Gründen selbst als Intellektuelle zu bezeichnen, mag daher zwar nicht mit allen terminologischen Gepflogenheiten übereinstimmen, weicht aber auch nicht von allen ab. Andererseits bleibt die Frage bestehen, wie weit wir Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, wenn wir sie als religiöse Intellektuelle bezeichnen, auch als religiöse Modernisten ansehen dürfen, d. h. wie weit wir von ihnen behaupten können, dass sie die Religion und ihre Quellen im Lichte des modernen Denkens deuten. Dieser Frage wird noch an anderer Stelle nachzugehen sein.
139 Vgl. Dabashi, 2008:281 ff.
2 Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken 2.1 Ṭabāṭabāʾīs Werdegang zum Gelehrten Obwohl – oder gerade weil – Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī schon zu seinen Lebzeiten als eine der einflussreichsten Geistesgrössen der schiitischen Gemeinde des 20. Jahrhunderts galt, ist es schwer, Quellen zu seinem Leben und Wirken zu finden, die nicht selbst wenigstens zum Teil dem Eindruck von Ruhm und Nachruhm dieses herausragenden Gelehrten entspringen. Die meisten Darstellungen seines Lebens und seiner Persönlichkeit stammen von Weggefährten, Gleichgesinnten, Schülern und Verehrern des Meisters, und das Bild, das sie von Ṭabāṭabāʾī zeichnen, ist gefärbt von dem Verhältnis, in dem sie zu ihm standen, und der Verbundenheit, die sie ihm gegenüber empfanden.¹ In dieser Beziehung lassen sich Würdigung seiner intellektuellen Leistung und Ehrfurcht vor seinem spirituellen Rang, vor geistigen und moralischen Vorzügen nicht auseinanderhalten, und so trägt manche Überlieferung über ihn Züge, die an islamische Heiligenlegenden gemahnen. Dass viele Persönlichkeiten, die bei der Errichtung und Leitung der Islamischen Republik Iran eine führende Rolle spielten, zu seinen Schülern gehört hatten,² hat gewiss das Seine dazu beigetragen, dass dieses Staatswesen Ṭabāṭabāʾī als einen seiner geistigen Wegbereiter in Anspruch nimmt und das Bild, das seine Anhänger von ihm entworfen hatten, übernommen hat, weiter ausmalt und verbreitet;³ wie der Gelehrte selbst zu dieser Vereinnahmung stand, ist nicht klar, ohnehin starb er nicht lange nach der Ausrufung der Islamischen Republik. Zudem hat Ṭabāṭabāʾī selbst autobiographische Aufzeichnungen hinterlassen.⁴ Das Bild, das Ṭabāṭabāʾī darin von sich selbst zeichnet, und sein Verhältnis zu Wissen und Gelehrsamkeit, das er darin erkennen lässt, boten genügend Stoff für weitere Legendenbildung um seine Person. Mit der nötigen Vorsicht betrachtet, liefern sie jedoch wertvolle Aufschlüsse über Ṭabāṭabāʾī Verständnis von sich selbst als Gelehrtem. Ṭabāṭabāʾī – darin sind sich die Quellen einig – wurde in Tabrīz, der Hauptstadt von Iranisch-Āzarbāyğān, als Kind einer angesehenen Familie schiitischer Gelehrter geboren. Seine Geburt fällt nach iranischer Zeitrechnung ins Jahr 1281, was in der Umrechnung in den gregorianischen Kalender, da der Anfang des irani1 Auf Zeugnisse dieser Art beziehen sich Dabashi, 2008:273 ff. und Ṭālebzādeh, 1385b:112 ff. 2 Einige von diesen sind aufgezählt in Ṭālebzādeh, 1385b:114. 3 Auch bei Ṭālebzādeh, 1385b:112 ff. handelt es sich um eine solche „offizielle“ Darstellung, da sein Werk ja ein Schulbuch der Islamischen Republik ist. 4 Teile davon werden zitiert bei Ṭālebzādeh, 1385b:112 ff., Dabashi, 2008:273 ff. und sind in englischer Übersetzung veröffentlicht in Echo of Islam, 1981:368 ff.
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schen Jahres auf den 21. März fällt, ohne Kenntnis von Monat und Tag der Geburt 1903 oder 1904 ergibt. Nach islamischer Zeitrechnung fällt sie ins Jahr 1321, was nach gregorianischem Kalender 1902 oder 1903 ergibt. Infolge dieser Umrechnungsschwierigkeiten schwankt die Angabe des Geburtsjahres des Gelehrten in den Quellen.⁵ Welchen Einfluss sein Elternhaus für seinen späteren Lebensweg als religiöser Gelehrter hatte, ist schwer zu bestimmen; immerhin kennen wir Gelehrtenfamilien als eine geläufige Erscheinung in der Geschichte der Gelehrsamkeit im Iran und in der islamischen Welt überhaupt. Sie verleihen dem einzelnen Spross einer solchen Familie besonderes Ansehen, und vielleicht ist dies der Grund, weshalb auf die religiöse Gelehrsamkeit von Ṭabāṭabāʾīs Vorfahren in den Lebensbeschreibungen hingewiesen wird. Allerdings verlor er schon in der Kindheit Vater und Mutter. Seine frühe Verwaisung schildert der Gelehrte in seinen eigenen Aufzeichnungen als eine der Prüfungen seines Lebens, die ihn eine unsichtbare Hand habe bestehen helfen.⁶ Die Haltung, die Ṭabāṭabāʾī sich hier zuschreibt, verrät Gottvertrauen und Gleichmut im Angesicht von Heimsuchungen, ein Verhalten, das in einer religiös, genauer noch: mystisch geprägten Tugendordnung ganz oben steht.⁷ Jedenfalls muss Ṭabāṭabāʾīs Vater Wert auf eine gründliche Bildung seiner Kinder – Ṭabāṭabāʾī hatte noch einen jüngeren Bruder – gelegt haben, denn in Erfüllung des letzten Willens ihres Vaters schickte der Vormund der beiden Brüder diese erst in die öffentliche Elementarschule und liess sie später von einem Privatlehrer unterrichten. Dabei gilt es anzumerken, dass zur Zeit von Ṭabāṭabāʾīs Schuljahren die Bildungsinhalte fast ausschliesslich in religiösen Wissenschaften bestanden oder auf diese ausgerichtet waren und das Bildungswesen in der Hand der religiösen Gelehrtenschaft lag. In den Anfängen seiner Schulzeit, laut Ṭabāṭabāʾī von 1911 bis 1917, beschäftigte er sich mit dem Koran und mit den Schriften Saʿdīs (st. 1292), eines der bedeutendsten Dichter und Kunstprosaisten der persischen Literatur, dessen Werk sich darin auszeichnet, dass es metaphysische und mystische Zusammenhänge sowie allgemeine Lebensweisheit einfach, aber nicht vereinfachend nahezubringen vermag, und im Iran daher eine wichtige Rolle bei der Vermittlung allgemein anerkannter religiöser und ethischer Werte spielt. Von 1918 bis 1925 absolvierte Ṭabāṭabāʾī sein „Grundstudium“ der religiösen Wissenschaften, dessen Fächerkanon aus arabischer Sprache und den dazu gehörenden Teildisziplinen, islamischer Rechtsgelehrsamkeit, Logik, Philosophie und Rhetorik bestand.⁸ Über die Anfangsjahre
5 So gibt Esposito, 1995, Bd.4:161 als Geburtsjahr 1903, Echo of Islam, 1981:368 1902, İslām ansiklopedisi, Bd.39:306 1904. 6 Vgl. Echo of Islam, 1981:369. 7 Vgl. Dabashi, 2008:290 ff., 301 ff. 8 Vgl. Echo of Islam, 1981:368.
Ṭabāṭabāʾīs Werdegang zum Gelehrten
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dieser Grundausbildung schreibt Ṭabāṭabāʾī: „Zu Anfang meines Studiums, als ich mit Grammatik beschäftigt war, interessierte ich mich nicht gross dafür, meine Studien fortzusetzen. Deshalb verstand ich nichts von dem, was ich las, und vier Jahre brachte ich auf diese Weise zu. Da fasste mich auf einmal die göttliche Fürsorge an, verwandelte mich, und so verspürte ich in mir eine Art Hingerissenheit und ein rastloses Streben nach Vollkommenheit. Von jenem Tage an bis zum Ende meiner Studienzeit – eine Zeitspanne von etwa 18 Jahren – fühlte ich denn dem Lernen und Denken gegenüber nie Müdigkeit oder Überdruss und vergass darob die Leiden und Freuden der Welt. Ich rollte den Teppich des Umgangs mit allen Menschen ausser den Anhängern der Wissenschaft ganz ein und begnügte mich im Essen und Schlafen und den anderen Notwendigkeiten des Lebens mit dem Allernötigsten und verwandte den Rest aufs Studium. Oft kam es vor (besonders im Frühling und im Sommer), dass ich die Nacht bis zum Sonnenaufgang im Studium verbrachte, und stets lernte ich die Lektion des Folgetages in der Nacht davor. Wenn ein Problem auftrat, löste ich es, so viel Aufwand es mich auch kosten mochte. Wenn ich dann in der Klasse sass, hatte ich das, was der Lehrer erklärte, schon vorher gelernt, und nie musste ich mir bei der Lösung eines Problems vom Lehrer helfen lassen.“⁹ Ṭabāṭabāʾī stellt hier den Anstoss zu seiner Laufbahn als Gelehrter als einen Akt göttlicher Gnade, als Ausdruck einer besonderen Beziehung zwischen sich und Gott, nahezu als Auserwähltheit dar. Auch andernorts in seiner Autobiographie bezeichnet er sein Gelehrtendasein als seine Bestimmung, wenn er sagt: „[…] ich fühlte immer, dass eine unsichtbare Hand mich vor jedem gefahrvollen Abgrund errettete und mich eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus Tausenden von Problemen herauszog und mich zu dieser Bestimmung leitete.“¹⁰ Seine Beschäftigung mit Wissenschaft ist dann spirituelle genauso wie intellektuelle Betätigung, nicht nur Beruf, sondern zugleich Berufung, Lebenswandel nicht weniger als Studium, Weg zu geistiger ebenso wie geistlicher und sittlicher Vervollkommnung. Zu diesem Selbstbild, das Ṭabāṭabāʾī hier von sich als Gelehrtem zeichnet, gehören auch die geradezu asketische Hingabe an die Wissenschaft, die er an sich hervorhebt, die Entgegensetzung zwischen unstillbarem Wissensdurst und Genügsamkeit in allen anderen Belangen und die Unangewiesenheit auf einen Lehrer. Gerade in der Erwähnung dieser letzten Eigenschaften erinnert Ṭabāṭabāʾīs Selbstbeschreibung an die Selbstdarstellung des für die islamische Geistesgeschichte so wegweisenden Philosophen Ibn Sīnā (st. 1037),¹¹ mit dessen Werk sich auch Ṭabāṭabāʾī eingehend auseinandergesetzt 9 Echo of Islam, 1981:369; zitiert auch bei Ṭālebzādeh, 1385b:112 f. 10 Echo of Islam, 1981:369. 11 Die einschlägigen Stellen seiner Autobiographie zitiert u. a. bei Strohmaier, 1999:18 ff.; Ṭālebzādeh, 1385b:54 ff.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
hatte, und vielleicht sind diese Ähnlichkeiten ja auch beabsichtigt. Wie dem auch sei, jedenfalls verehren Ṭabāṭabāʾīs Anhänger den Meister genau wegen dieser seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Intellektuellem und Spirituellem, wegen seiner Genügsamkeit und Hingabe nicht nur als mustergültigen Gelehrten, sondern geradezu als vollkommenen Menschen in geistiger, geistlicher und sittlicher Hinsicht. 1925 nahm Ṭabāṭabāʾī die höheren Studien der religiösen Wissenschaften auf.¹² Dazu begab er sich wie so viele schiitische Religionsgelehrte in die Stadt Nağaf im Irak – seit Ende des Ersten Weltkrieges unter britischer Mandatsherrschaft –, die unter den Schiiten als Begräbnisort des ersten Imams ʿAlī, des Vetters und Schwiegersohnes des Propheten, eine herausragende Bedeutung als Pilgerort und als Stätte religiöser Gelehrsamkeit geniesst. Wie unter Religionsgelehrten ebenfalls üblich, heiratete er eine Frau aus einer Gelehrtenfamilie.¹³ Während der etwa zehn Jahre, die Ṭabāṭabāʾī in Nağaf weilte, vollendete er seine Studien in den Überlieferungsdisziplinen Theologie und islamischer Gesetzeswissenschaft sowie in Ethik, Mystik und Philosophie.¹⁴ Bei vielen seiner Meister handelte es sich um führende Gelehrte und Leiter der schiitischen Gemeinde ihrer Zeit, von denen manche auch in der politischen Geschichte ihrer Tage eine Rolle spielten. So nennt er als einen seiner langjährigen Lehrer in Theologie und Gesetzeswissenschaft Muḥammad Ḥusayn Nāʾīnī (st. 1936), der sich über Gelehrtenkreise hinaus als Verfasser einer Abhandlung zum Thema Staatslehre¹⁵ einen Namen gemacht hatte, in welcher er Konstitutionalismus und Islam miteinander zu vereinbaren suchte.¹⁶ Nāʾīnī hatte diese Schrift im Zuge der sogenannten konstitutionellen Bewegung der Jahre 1905 bis 1909 verfasst, die sich gegen die Politik des Herrschers der damals regierenden Qāğāren-Dynastie richtete und an der religiöse Gelehrte massgeblich beteiligt waren.¹⁷ Und genau wie die konstitutionelle Bewegung jener Zeit vielen als Vorläuferin der Islamischen Revolution von 1979 gilt, so fand Nāʾīnīs Werk auch unter Vordenkern und Aktivisten dieses jüngsten Umsturzes eine eifrige Leserschaft.¹⁸ Allerdings hatte sich der Autor desselben in den Jahren, in denen Ṭabāṭabāʾī ihn kennengelernt haben muss, aus der Politik weitgehend zurückgezogen und ganz der Lehrtätigkeit zugewandt.¹⁹ Es ist daher unklar, wie und wieweit Nāʾīnīs Ansichten und Lehren in Sachen 12 Vgl. Echo of Islam:368. 13 Vgl. Dabashi, 2008:274. 14 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:113; Dabashi, 2008:274; Echo of Islam:368. 15 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:113; Esposito, 1995, Bd.3:223. 16 Vgl. Esposito, 1995, Bd.3:223b. 17 Vgl. Esposito, 1995, Bd.3:223a. 18 Vgl. Esposito, 1995, Bd.3:223b. 19 Vgl. Esposito, 1995, Bd.3:223a.
Ṭabāṭabāʾīs Werdegang zum Gelehrten
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Politik Ṭabāṭabāʾī beeinflusst haben mögen. Um nicht weniger massgebliche Grössen ihres Faches handelte es sich bei Ṭabāṭabāʾīs Lehrern in Mystik und Philosophie. Letztere studierte er, wie er selbst erwähnt, bei Ḥusayn Bādkūbeʾī (st. 1938/39), einer weithin anerkannten Autorität dieser Disziplin.²⁰ Dass Ṭabāṭabāʾī den Philosophieunterricht, den er im Rahmen seiner Ausbildung genoss, überhaupt als eigenes Fach mit eigenen Lehrern hervorhebt, bestätigt, was wir auch aus anderen Quellen wissen, dass nämlich Philosophie in der Ausbildung schiitischer Religionsgelehrter die Stellung einer eigenständigen Disziplin neben den Überlieferungswissenschaften Theologie und Gesetzeswissenschaft innehatte, während sie im religiösen Lehrbetrieb unter den Sunniten im 18. und 19. Jahrhundert, wenn überhaupt, so nur im Rahmen des theologischen Unterrichts vermittelt wurde.²¹ Als Lehrstoff seiner Unterweisung in Philosophie nennt Ṭabāṭabāʾī die wichtigsten Werke Ibn Sīnās, Mullā Sadrās und Mullā Hādī Sabzevārīs (st. 1872).²² Schon diese Auswahl des Lehrstoffes verrät den Einfluss der Schule von Isfahan: Nicht nur, dass die Werke Mullā Sadrās, auf den sich diese ja beruft, unterrichtet wurden; auch die Lehre Ibn Sīnās wird von den Anhängern Mullā Sadrās im Lichte der Lehre ihres Meisters behandelt, zumal dieser selbst versucht hatte, sie in seinem eigenen philosophischen System aufgehen zu lassen. Was ferner Sabzevārī betrifft, so gilt er als der wichtigste Kommentator von Mullā Sadrās Hauptwerk Asfār, ein Titel, der für gewöhnlich als Die vier Reisen übersetzt wird.²³ Ṭabāṭabāʾīs Philosophielehrer Bādkūbeʾī war es auch, der ihm riet, auch noch Mathematik zu studieren, nach Ṭabāṭabāʾīs eigenem Bekunden mit dem Ziel, „mich mit rationalem Denken vertraut zu machen und meine philosophischen Fähigkeiten zu fördern“²⁴ – Mathematik also als Vorstufe und Voraussetzung von Philosophie: eine Auffassung von dem Verhältnis dieser beiden Fächer zueinander, die an Platon erinnert²⁵ und in diesem Fall vielleicht sogar auf ihn zurückgeht. Die Beziehung zwischen Ṭabāṭabāʾī und seinen Meistern bestand aber nicht nur im Vermitteln und Empfangen blossen Fachwissens; sowieso wird das in den Kreisen der religiösen Gelehrten weitergegebene Wissen nicht als blosses Fachwissen verstanden.²⁶ Vielmehr handelt es sich um eine Wissens- und Lehrtradition, die im Verständnis derer, die an ihr teilnehmen, im Zeichen der geistlichen Ver-
20 Vgl. Echo of Islam:368; Ṭālebzādeh, 1385b:113. 21 Vgl. Rudolph, 2004:106. 22 Vgl. Echo of Islam:368. 23 Vgl. Rudolph, 2004:105. 24 Echo of Islam:368; Ṭālebzādeh, 1385b:113. 25 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:498a) ff. 26 Über Lehrer-Schüler-Verhältnisse unter Religionsgelehrten vgl. auch Dabashi, 2008:290 ff.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
vollkommnung und damit des Seelenheils des Menschen steht. So gilt denn auch die Verehrung, die den Trägern dieser Tradition entgegengebracht wird, nicht nur ihrem fachlichen Wissen, sondern vielmehr der seelischen Vollkommenheit und Vorbildlichkeit, als deren Ausdruck dieses Wissen angesehen wird. Und weil die Vorbildlichkeit dieser Personen nicht einfach auf ihrem Gelehrtenstatus beruht, deshalb kann sie ihnen genauso gut von Nicht-Gelehrten zuerkannt werden – ein wichtiger Grund für die Autorität religiöser Gelehrter unter den „gemeinen“ Gläubigen, wie sie auch in der Islamischen Revolution zum Tragen kommen sollte. Ein solches Verhältnis zu seinen Meistern lässt auch Ṭabāṭabāʾī erkennen, wenn er etwa über seine Bekanntschaft mit seinem Lehrer in Koranexegese und Prophetenüberlieferung, vor allem aber in Ethik und Mystik, Mīrzā ʿAlī Āqā Qāżī (st. 1946/7), schreibt: „Gleich in der ersten Zeit nach meiner Ankunft in der heiligen Stadt Nağaf sass ich eines Tages zu Hause und dachte über meine Zukunft nach. Da auf einmal klopfte jemand an die Tür. Ich öffnete die Tür und sah einen ehrwürdigen Gelehrten, der grüsste, eintrat, sich ins Zimmer setzte und mich [in Nağaf] willkommen hiess. Jener Gelehrte hatte ein lichtvolles Antlitz mit starker Anziehungskraft. Nach und nach kamen wir miteinander ins Gespräch, und er sagte: ‚Wer zum Studium nach Nağaf kommt, sollte sich obendrein um die Veredelung und Vervollkommnung der Seele kümmern und sich [auch in dieser Hinsicht] nicht vernachlässigen.‘ So sprach er und verliess mein Haus. Seine Worte hatten mich berückt. Ich suchte nach ihm, erkundigte mich nach seinen Veranstaltungen, und solange ich in Nağaf war, profitierte ich vom Beisammensein mit jenem keuschen Gelehrten.“²⁷ Die Ausdrücke, mit denen Ṭabāṭabāʾī hier Aussehen und Wirkung von Mīrzā ʿAlī Āqā Qāżī schildert, lassen diesen nicht nur als Lehrer der Mystik, sondern selbst als mystischen Meister erscheinen: Keuschheit und Bedürfnislosigkeit, aber eben auch der Lichtglanz des Gesichtes sind Züge, die in Legenden über heiligmässige Personen als Zeichen ihrer besonderen Gottesnähe hervorgehoben werden. Ebenso stammt der Ausdruck „Berückung“ bzw. „Verzückung“, mit dem Ṭabāṭabāʾī den Eindruck, den Mīrzā ʿAlī Āqā Qāżī auf ihn macht, beschreibt, aus dem Wortschatz des mystischen Schrifttums zur Bezeichnung von Seelenzuständen, wie sie beim Aufgehen des Menschen in Gott auftreten. Auch soll Ṭabāṭabāʾī, immer wenn die Rede auf Veredelung der Seele und spirituellen Lebenswandel kam, geäussert haben, dass er alles, was er von diesen Eigenschaften auch habe, dem Mīrzā ʿAlī Āqā Qāżī verdanke²⁸ – eine Äusserung, die als weiteres Zeichen für die Ehrerbietung und Bescheidenheit des Gelehrten gegenüber seinem Meister und somit als Ausdruck eines Verhaltens gedeutet wird, das seinerseits Ṭabāṭabāʾīs Ansehen in den Augen seiner Verehrer erhöht. 27 Ṭālebzādeh, 1385b:113. 28 Ṭālebzādeh , 1385b:113.
Gründe und Hintergründe von Ṭabāṭabāʾīs Wirken als Gelehrter
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Nach Abschluss seiner Studien sah sich Ṭabāṭabāʾī infolge finanzieller Schwierigkeiten im Jahre 1935 schliesslich gezwungen, Nağaf zu verlassen und nach Tabrīz zurückzukehren. Dort begann er zur Besserung seiner wirtschaftlichen Lage, zusammen mit seinem Bruder ein Landgut zu bewirtschaften, das sie von ihrem Vater geerbt hatten.²⁹ Der Gelehrte selbst beschreibt jene Lage, die sich zehn Jahre hinzog, da er in ihr kaum Zeit für geistige Betätigung gefunden habe, in der Rückschau als seelische Qual.³⁰ Auch mit dieser Bemerkung lässt Ṭabāṭabāʾī seine Überzeugung, für die Wissenschaft bestimmt zu sein, erkennen. 1945 schliesslich – seine wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich offenbar gebessert – begab er sich für die Wiederaufnahme seiner Gelehrtentätigkeit in die Stadt Qom südlich von Teheran, seit Jahrhunderten eine der bedeutendsten Stätten der schiitischen Gelehrsamkeit, und mit diesem Schritt beginnt jene Zeit in Leben und Wirken Ṭabāṭabāʾīs, in der er als eine der prägenden Gestalten für die geistige, kulturelle und politische Geschichte des Iran seiner Zeit und darüber hinaus hervortrat.
2.2 Gründe und Hintergründe von Ṭabāṭabāʾīs Wirken als Gelehrter Ṭabāṭabāʾī selbst lässt sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen recht ausführlich über die Gründe für seine Entscheidung aus. Aus seinen Äusserungen spricht Sorge um das Heil der islamischen Gemeinschaft, zumal der des Iran, im allgemeinen und um den Zustand der schiitischen Gelehrtenschaft als der geistlichen und geistigen Elite im Angesicht der Herausforderungen und Anfechtungen, denen er diese ausgesetzt sah, im besonderen. In dieser Wahrnehmung waren es in unmittelbarer Hinsicht zum einen die Umgestaltungen, denen die Herrscher der Pahlavī-Dynastie – von 1945 bis 1979 Moḥammad Reżā Pahlavī, der Sohn des Gründers Reżā Pahlavī – den Iran auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene unterzogen. Als Muster bei dieser Neuordnung der Verhältnisse schwebten vor allem Reżā Pahlavī die Reformen von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik Türkei, vor, Reformen, die unter anderem die Kontrolle der religiösen Lehre und Praxis durch einen Staat zum Ziel hatten, der sich selbst nicht über die Religion, sondern über den Nationalismus definierte und deshalb von vielen als laizistisch bzw. säkularistisch wahrgenommen wurde. Sowohl bei den kemalistischen Neuerungen in der Republik Türkei als auch bei denen der Pahlavī-Herrscher im Iran handelte es sich um Reformen von oben, 29 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:113. 30 Vgl. Echo of Islam:368.
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und den einen wie den anderen lag die Überzeugung zugrunde, dass der Westen als unbestreitbares Vorbild für zivilisatorische Entwicklung schlechthin und so auch für die Ausrichtung ihrer Reformbestrebungen zu gelten habe. Die staatliche bzw. staatstreue Westwahrnehmung unter den Pahlavīs bestritt höchstens den Anspruch des Westens, einzig seine Kultur und keine andere sei ihrem Wesen nach zur Verwirklichung einer unbestreitbar vorbildlichen Zivilisation fähig: Eine Rückbesinnung auf das Persertum im Zeichen des iranischen Nationalismus, der Staatsgrundlage der Pahlavī-Monarchie³¹, wie es zur Zeit der vorislamischen Perserreiche, besonders des achämenidischen, historische Wirklichkeit gewesen sei, sei seinem Wesen nach genauso wie die westliche Kultur in der Lage, die Kriterien für eine vorbildliche Zivilisation zu erfüllen. Dass sie bisher nicht erfüllt worden waren, wurde in der offiziellen Geschichtsdeutung der Pahlavī-Zeit mit historischen Rückschlägen und Umbrüchen wie der Islamisierung oder jedenfalls gewissen Folgen derselben oder den Zerstörungen durch die Mongoleneinfälle im 13. Jahrhundert erklärt.³² Bei einem solchen Kultur- und Geschichtsverständnis, das dem Westen den Anspruch auf universale und unbestreitbare zivilisatorische Vorbildlichkeit, den er ja auch selbst erhob, zugestand, drohte die Religion, im Falle des Iran der Islam, als gestaltende Kraft aus dem zivilisatorischen Prozess auszuscheiden. Die Reformmassnahmen, welche die Pahlavī-Herrscher im Lichte dieses ihres Westverständnisses ins Werk setzten, taten nichts, um solche Befürchtungen seitens religiös orientierter Personen und Gruppen, geschweige denn des religiösen Establishments, zu dem Ṭabāṭabāʾī gehörte, zu zerstreuen – im Gegenteil: Die Errichtung eines staatlichen Bildungssystems mit nicht-religiösen Schwerpunktfächern sowie die Einführung eines Rechtswesens auf säkularistischer Grundlage etwa entzogen den Religionsgelehrten ihre angestammte Stellung in Bildungs- und Rechtswesen.³³ Die Gründung einer Behörde für fromme Stiftungen im Zuge eines Landreformprogramms, die nicht mehr den religiösen Einrichtungen, sondern dem Staat unterstehen sollte, drohte das religiöse Establishment seiner Eigenmächtigkeit in finanziellen und wirtschaftlichen Belangen zu berauben.³⁴ Das Aufkommen eines Mittelstandes aus Angestellten und Beamten, deren Lebensstandard und Kaufkraft letztlich von den Einnahmen des Staates aus dem Verkauf von Erdöl abhingen, liess das Gewicht des städtischen Kleinbürgertums sowie der ländlichen Mittelschichten, der angestammten Unterstützergruppen
31 Vgl. Boroujerdi, 1996:30. 32 Vgl. etwa Pāzūkī, in: Lambton, 1967:95. 33 Vgl. Boroujerdi, 1996:78; Halm, 1988:150 f. 34 Vgl. Boroujerdi, 1996:79.
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des religiösen Establishments, in Wirtschaft und Gesellschaft schwinden.³⁵ Entwicklungen wie diese schienen die Entstehung einer Gesellschaft mit einer Ausrichtung in geistiger, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzukündigen, in welcher der Religion, so die Befürchtung der religiösen Kräfte, keine massgebliche Stellung mehr zukommen würde. In dieser Befürchtung gehen Sorge um das Heil der Allgemeinheit und Angst vor dem Verlust der eigenen Position als religiöser Autorität, als geistlicher und geistiger Elite, ineinander über, zumal die schiitische Lehre es den „gewöhnlichen“, ungelehrten Gläubigen, den „Gemeinen“, geradezu als religiöse Pflicht auferlegt, sich für ihr Seelenheil der Rechtleitung durch die Religionsgelehrten, namentlich durch deren führende Vertreter, die sogenannten „Quellen der Nachahmung“, zu unterstellen.³⁶ Zu den eben genannten Gründen, aus denen insbesondere religiöse Kreise, allen voran beträchtliche Teile der Gelehrtenschaft, die Neuerungen der Pahlavīs ablehnten, traten noch allgemeinere, welche die Pahlavī-Herrschaft und ihre Reformpolitik auch in den Augen weiterer Gruppen und Personen unglaubwürdig erscheinen liessen und sie dazu brachten, das obrigkeitliche Westbild, das den Reformen von oben zugrundelag, in Frage zu stellen und Westwahrnehmungen zu entwickeln, die im Unterschied zur damals offiziellen den zivilisatorischen Vorbildlichkeitsanspruch des Westens bestritten. So entstand angesichts verschiedener innen- und aussenpolitischer Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg unter vielen Iranern zunehmend der Eindruck, beim Iran handle es sich nicht mehr um einen selbständig handlungsfähigen Staat, sondern um eine mehr oder weniger indirekte Kolonie, erst der Alliierten des Zweiten Weltkriegs, nach Kriegsende zusehends der USA. An Handhabe für diese Sicht der Dinge fehlte es nicht: Reżā Pahlavī, der Gründer der Dynastie, wurde wegen seiner Anlehnung ans Deutsche Reich auf Druck der Weltkriegsalliierten gezwungen, zugunsten seines Sohnes Moḥammad Reżā Pahlavī abzudanken.³⁷ So wurde der zweite und letzte Vertreter der Dynastie von vielen Iranern als Herrscher im Dienste der Imperialmächte, besonders der USA, und ihrer Interessen wahrgenommen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, seit der nationalistisch gesinnte Premierminister Moḥammad Moṣaddeq, der Anfang der 50er Jahre gegen den Willen des Monarchen die Erdölförderung verstaatlichte, durch einen von der CIA inszenierten Putsch gestürzt wurde.³⁸ Und genauso, wie der Iran von Anhängern dieser Auffassung hinsichtlich seiner äusseren Situation als Opfer des westlichen Imperialismus betrachtet
35 Vgl. ebda. 36 Vgl. Halm, 1988:132 ff. 37 Vgl. Halm, 1988:153. 38 Vgl. ebda.
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wurde, so erschien die Reformpolitik des Pahlavī-Schahs im Innern als Akt eines westlichen Kulturimperialismus. Zu den Strömungen der Westwahrnehmung, die in Abweichung zu der offiziellen entwickelt wurden, zählt der dialektische Materialismus.³⁹ Er wurde politisch wirksam vertreten von verschiedenen linksrevolutionären Gruppierungen im Iran, von denen sich einige seit dem Zweiten Weltkrieg auch als Parteien organisierten, und fand trotz zunehmender Unterdrückung seines Gedankengutes und seiner Anhänger durch die Obrigkeit gerade unter Studierenden und Intellektuellen beträchtlichen Zulauf.⁴⁰ In der Tat handelte es sich bei der sozialistischen Bewegung im Iran um eine der ältesten nicht nur im Mittleren Osten, sondern in ganz Asien.⁴¹ Ihre Anfänge reichen bis in das beginnende 20. Jahrhundert zurück.⁴² Der politische Freiraum, der im Zuge der Konstitutionellen Revolution von 1906 bis 1911 entstand, ermöglichte es auch linken Vereinigungen in der Form von Parteien und Gewerkschaften, in der politischen Landschaft des Iran Fuss zu fassen.⁴³ Iranische Sozialisten nahmen an der Bolschewistischen Revolution in Russland teil und liessen sich von ihr inspirieren.⁴⁴ Die Kommunistische Partei des Iran beteiligte sich an verschiedenen Unabhängigkeitsbewegungen der 1920er Jahren wie z. B. der Gründung der kurzlebigen Sowjetrepublik Gīlān.⁴⁵ Hand in Hand mit der Entstehung sozialistischer und kommunistischer Parteien vollzog sich die Entwicklung der Arbeiterbewegung.⁴⁶ Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es im Iran eine der grössten Arbeitervereinigungen Asiens. Sie stand in enger Verbindung mit der Tūdeh-Partei, die ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges gegründet worden war, enge Beziehungen mit der Sowjetunion unterhielt und in den Folgejahren zu einem der bedeutendsten politischen Akteure werden sollte.⁴⁷ Dieser Aufstieg der Linken als offen agierender politischer Kraft erfolgte im Zusammenhang mit der Absetzung Reżā Pahlavīs, der linke Bewegungen rücksichtslos verfolgt hatte, 1941 und dem Einfluss der Sowjetunion, des einen Weltkriegsalliierten, auf die inneren Verhältnisse des Iran seither.⁴⁸ Die Zeit der offenen Betätigung der Linken endete mit dem CIA-orchestrierten Putsch gegen Moṣaddeq 1953, in dessen Folge Moḥammad Reżā Pahlavī, unterstützt von den 39 Über den Einfluss des dialektischen Materialismus vgl. u. a. Boroujerdi, 1996:34 ff. 40 Vgl. Boroujerdi, 1996:34 ff., 118 f. 41 Vgl. Mirsepassi, 2000:160. 42 Vgl. Mirsepassi, 2000:160 f. 43 Vgl. Mirsepassi, 2000:161. 44 Vgl. Mirsepassi, 2000:161. 45 Vgl. Mirsepassi, 2000:161. 46 Vgl. Mirsepassi, 2000:161. 47 Vgl. Mirsepassi, 2000:161 f. 48 Vgl. Mirsepassi, 2000:161 f.
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USA, alle politischen Parteien verbieten und insbesondere die linken Bewegungen scharf verfolgen liess.⁴⁹ Im Zuge dieser Entwicklung gingen die verbliebenen linken Kräfte in den Untergrund, wo sich viele von ihnen radikalisierten, und verlagerten den Schwerpunkt ihrer politischen und propagandistischen Tätigkeit von den Fabriken an die Universitäten, von der Arbeiterschaft zu Studierenden und Intellektuellen.⁵⁰ Auch die meisten Mitglieder und Kader der linken Gruppierungen jener Zeit bestanden aus Gymnasiasten, Hochschulstudenten und Angehörigen von Berufen, die eine akademische Ausbildung voraussetzen.⁵¹ Im Unterschied zu Arbeitern, die, wenn sie „linke“ Anliegen vertraten, entlassen werden konnten, liessen sich Universitäten nicht ohne weiteres schliessen, denn an ihnen wurden genau jene Fachkräfte ausgebildet, die der Staat für seine Modernisierungsprogramme benötigte.⁵² Dieses neue Zielpublikum der linken Propaganda entstammte für gewöhnlich der neu entstandenen Mittelschicht.⁵³ Für viele stellte die Linke eine kulturelle Alternative zum Islam und zum PahlavīModernismus dar.⁵⁴ In den Wirren der frühen Revolutionszeit konnten sich viele ihrer Vereinigungen wieder formieren und offen betätigen, bevor sie im Verlaufe der frühen 80er Jahre von den religiösen revolutionären Kräften eine nach der anderen abermals beseitigt wurden.⁵⁵ Für die Vertreter des dialektischen Materialismus ist der Kapitalismus und Imperialismus des Westens der Grund, weshalb sie ihn weder als Vorbild für zivilisatorische Entwicklung schlechthin noch für die zivilisatorische Entwicklung, die sie für ihr eigenes Land vorsahen, anerkennen. Andererseits: Wenn auch die praktische Umsetzung der Philosophie des dialektischen Materialismus nicht im Westen, sondern im damaligen Ostblock erfolgt war – jedenfalls nach Darstellung der Ostblockstaaten –, so gehörte ihre Philosophie selbst doch zur westlichen Geistesgeschichte.⁵⁶ Im theoretischen Bereich, so liesse sich argumentieren, gestehen daher auch die dialektischen Materialisten – zumindest unterschwellig – dem Westen eine gewisse Vorbildlichkeit zu. Die iranische Linke hatte mit ihrem oppositionellen, ja revolutionären Anspruch seit ihrem Bestehen gegenüber dem herrschenden System eindeutig Stellung bezogen: Bei der Monarchie der Pahlavīs handelte es sich für sie um eine Feudalherrschaft im Dienste von Kapitalismus und Imperialismus. Im Vergleich 49 Vgl. Mirsepassi, 2000:162; Boroujerdi, 1996:38. 50 Vgl. Mirsepassi, 2000:163; Boroujerdi, 1996:38. 51 Vgl. Mirsepassi, 2000:171 ff. 52 Vgl. Boroujerdi, 1996:38. 53 Vgl. Boroujerdi, 1996:31. 54 Vgl. Mirsepassi, 2000:171 ff.; Mirsepassi, 2000:161. 55 Vgl. Mirsepassi, 2000:164 ff. 56 Vgl. T, 1381, I:51 f., IV:71 ff.; Dabashi, 2008:276.
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dazu war die Stellungnahme der schiitischen Gelehrtenschaft des Iran gegenüber den bestehenden Verhältnissen nicht von allem Anfang an so eindeutig: Da gab es zum einen die Richtung unter den schiitischen Religionsgelehrten, die sich jeder Einmischung in so weltliche Angelegenheiten wie Politik sowieso enthält – man könnte sie daher als quietistisch bezeichnen –, weil sie politische Herrschaft als alleiniges Vorrecht des verborgenen zwölften Imams ansieht.⁵⁷ Andere Teile des religiösen Establishments wiederum versuchten, sich mit der Pahlavī-Herrschaft zumindest zu arrangieren, und sei es nur deshalb, weil die Vertreter der Religion und der Pahlavī-Staat in den Linkskräften immerhin einen gemeinsamen Gegner erkannten.⁵⁸ Zudem zeigten sich die Pahlavī-Herrscher für Wohlverhalten oder jedenfalls Stillhalten der Gelehrtenschaft gegenüber ihrem politischen Handeln stets erkenntlich.⁵⁹ Seit dem Zweiten Weltkrieg bzw. seit der Thronbesteigung von Moḥammad Reżā Pahlavī jedoch gewann unter führenden Vertretern des schiitischen Gelehrtenstandes allmählich die Auffassung die Oberhand, dass sie, um das Heil der Gemeinde und ihren eigenen Einfluss auf diese zu wahren, grössere Gestaltungsspielräume benötigten als die, welche in dem herrschenden politischen System für sie vorgesehen waren.⁶⁰ Um der Religion, als deren massgebliche Vertreter sie sich sahen, im Denken und Handeln der Gemeinschaft zur Geltung als gestaltender Kraft zu verhelfen, würde es nicht genügen, sich von der Monarchie als Gegengewicht zur iranischen Linken dulden und allenfalls fördern zu lassen oder gar die Monarchie als Verbündete im Kampf gegen die Linke zu unterstützen, zumal sich nicht nur die Ideologie der linken Kräfte als antireligiös verstand, sondern auch die Politik der Pahlavīs mehr und mehr als antiklerikal wahrgenommen wurde.⁶¹ Vielmehr erkannte eine Reihe herausragender Gelehrter es nunmehr als eine ihrer Aufgaben als geistlicher und geistiger Elite der Gläubigen, die Gemeinde auch gegenüber der Herausforderung durch den Westen anzuleiten und selbst die Führerschaft in theoretischer und praktischer Hinsicht in der Auseinandersetzung mit diesem zu übernehmen. Dies bedingte freilich, dass auch sie selbst sich mit diesem auseinandersetzten, was seinerseits wieder mit der Entwicklung eines eigenen Bildes vom Westen einherging. Es setzte ferner voraus, dass die einzelnen Vertreter des religiösen Establishments ihre Rolle in der Gemeinschaft und ihr Selbstverständnis im Angesicht dieser Herausforderung neu bestimmten und dass die religiösen Institutionen, an denen sie wirkten,
57 Vgl. Halm, 1988:149 ff. 58 Vgl. Halm, 1988:153; Boroujerdi, 1996:78, 86 f. 59 Vgl. Halm, 1988:150; Boroujerdi, 1996:83. 60 Vgl. Boroujerdi, 1996:79 f., 87; Halm, 1988:155 ff. 61 Vgl. Halm, 1988:154 f.
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allen voran die theologischen Seminarien, die Ausbildungsstätten der Religionsgelehrten, im Sinne der neuen Aufgaben, welche die Gelehrten sich zugedacht hatten, reformiert würden.⁶² Dabei gingen die Auffassungen der einzelnen Gelehrten darüber, wie die Gemeinde den Anfechtungen des Westens begegnen sollte und in was diese Anfechtung überhaupt bestehe, durchaus auseinander, und desgleichen die Ansätze, von denen aus sie Antworten auf diese Herausforderung zu entwickeln suchten. Besonders bekannt in diesem Zusammenhang ist der Entwurf eines islamisch definierten Staatswesens unter der Vormundschaft oder Sachwalterschaft des obersten Religionsgelehrten, den Khomeini, selbst ein führendes Mitglied der schiitischen Gelehrtenschaft und als solches Träger des Ehrennamens „Āyatollāh“ – „Zeichen Gottes“ –, aus den islamischen Rechtsquellen herausgedeutet hatte und den er später als Revolutionsführer in Form der Islamischen Republik in die Praxis umzusetzen suchte.⁶³ Dieser Entwurf, niedergelegt in einem einflussreichen Werk mit dem Titel Die Sachwalterschaft des Rechtsgelehrten⁶⁴, bildete gewissermassen Khomeinis Antwort auf die Herausforderung des Westens im praktischen Bereich der Politik auf der Grundlage der ebenfalls praxisbezogenen Disziplin der islamischen Gesetzeswissenschaft. Auch Ṭabāṭabāʾī gehörte zum Kreis derjenigen hohen Gelehrten, die Führerschaft in geistigen und praktischen Belangen in der Begegnung ihrer Gemeinde mit dem Westen beanspruchten. Um diesen Anspruch einzulösen, setzte Ṭabāṭabāʾī aber nicht im Bereich der Politik an mit dem Ziel, die staatliche Ordnung des Gemeinwesens im Sinne des Islam umzugestalten, sondern bei den theologischen Seminarien, den Wirk- und Ausbildungsstätten der geistlichen Elite, mit dem Ziel, deren Lehrplan und Fächerangebot den Bedürfnissen der Gemeinde nach Rechtleitung im Angesicht der Herausforderung durch den Westen anzupassen, denn, wie er selbst schreibt: „Als ich nach Qom kam, untersuchte ich ein wenig den Lehrbetrieb des Seminars und machte mir einige Gedanken über die Bedürfnisse der islamischen Gemeinschaft. Zwischen jenen Bedürfnissen und dem vorhandenen Angebot sah ich keine Übereinstimmung.“⁶⁵ Was wiederum die Bedürfnisse der islamischen Gemeinschaft betrifft, so bestanden sie für ihn darin, „dass sie als islamische Gemeinschaft eine richtige Kenntnis des Koran gewinne und an den Schätzen der Wissenszweige dieser erhabenen göttlichen Schrift teilhabe […]. Unsere Gemeinschaft bedurfte der Kraft der verstandesmässigen Beweisführung, damit sie ihre Überzeugungen im Angesicht der 62 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff. 63 Vgl. Halm, 1988:160 ff.; Boroujerdi, 1996:84 f. 64 Eigene Übersetzung von „velāyat-e faqīh. 65 Ṭālebzādeh, 1385b:114.
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Überzeugungen der anderen würde vorbringen und verteidigen können.“⁶⁶ Und die Rolle des theologischen Seminars in dieser Lage sah Ṭabāṭabāʾī in folgendem: „Es müssen am Seminar Lehrveranstaltungen angeboten werden, die geeignet sind, die Fähigkeit des rationalen Denkens und der Beweisführung bei den Studenten zu fördern.“⁶⁷ Darauf, welche Fächer er dafür als geeignet ansah, kommt der Gelehrte ebenfalls zu sprechen: „Weder von Philosophie, noch überhaupt von rationalen Fächern, noch von Koranexegese oder anderen Disziplinen, die sich mit Koran und Überlieferung befassen, war dort etwas zu merken. Es wurden nur Gesetzeswissenschaft und Dogmatik unterrichtet, die ja nur einen Teil der Überlieferung des Propheten und der Imame bilden. Ich sah es als meine Pflicht an, am Seminar eine Veranstaltung in Philosophie, eine in Koranexegese und eine in Ethik abzuhalten.“⁶⁸ In der Tat scheint dieses Anliegen Ṭabāṭabāʾī überhaupt bewogen zu haben, seine Gelehrtentätigkeit wiederaufzunehmen, denn „der Grund, warum ich von Tabrīz nach Qom gekommen bin“, so der Gelehrte in einer Erklärung gegenüber dem damaligen Oberhaupt des theologischen Seminars, Gross-Āyatollāh Borūğerdī (st. 1961), „ist es, die Auffassungen der Studenten [am Seminar] von der Wahrheit zu korrigieren und gegen die unrichtigen Lehren der Materialisten und ihrer Scharen anzukämpfen.“⁶⁹ Denn, wie er weiter ausführt, „[…] heutzutage kommt jeder Student, der durch die Tore der Stadt Qom tritt, mit einem Packen voller Zweifel und Fragen daher. Wir müssen auf die Bedürfnisse der Studenten eingehen. Wir müssen sie angemessen auf den Kampf gegen die Materialisten vorbereiten. Wir müssen sie die wahrhafte islamische Philosophie lehren.“⁷⁰ Die Herausforderung, der Ṭabāṭabāʾī die Gemeinde – Gelehrte wie Ungelehrte – ausgesetzt sah, lag für ihn also hauptsächlich im Geistigen, und im Bereich des Geistigen, auf der Grundlage der Philosophie und überhaupt der „verstandesmässigen“ Disziplinen, hatte sie angenommen und bestanden zu werden. Dabei unterscheidet Ṭabāṭabāʾī als Mitglied des religiösen Lehrbetriebs die Disziplinen, die er als verstandesmässig bezeichnet, von den Überlieferungswissenschaften wie Gesetzeswissenschaft, Prophetenüberlieferung und teilweise Theologie. Dafür nun, dass der Gelehrte die Herausforderung des Westens gerade als eine geistige verstand und daher gerade die Philosophie als das Feld ansah, auf dem die Auseinandersetzung mit dieser ausgetragen werden müsse, mögen mehrere
66 Ebda. 67 Ebda. 68 Ebda. 69 Dabashi, 2008:283. 70 Ebda.
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Gründe geltend gemacht werden: Zum einen war nicht zu übersehen, dass westliche philosophische Lehren – keineswegs nur der dialektische Materialismus – in interessierten Kreisen des Iran nicht nur diskutiert wurden, sondern auch Anhänger fanden. Zu diesen interessierten Kreisen – und das musste Ṭabāṭabāʾī und seinesgleichen unmittelbar beunruhigen – gehörten zunehmend auch Seminaristen, und da die Entstehung vieler dieser westlichen Philosophien mit einem Bedeutungsverlust der Religion im Abendland selbst in Beziehung gesetzt wurde, galt es aus Sicht Ṭabāṭabāʾīs, die angehenden geistigen Leiter der Gemeinde – und damit letztlich die Gemeinde selbst – vor Verwirrung zu bewahren.⁷¹ Dies setzte in seiner Auffassung voraus, dass die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Gedankengut des Westens nunmehr unter Anleitung durch die massgeblichen Lehrer der „wahrhaften islamischen Philosophie“ wie etwa eben Ṭabāṭabāʾī selbst erfolge. Mit dieser Auffassung scheint er sich allerdings zunächst die Missbilligung von Gross-Āyatollāh Borūğerdī, dem Leiter des theologischen Seminars von Qom und letzten allgemein anerkannten Oberhaupt der schiitischen Gelehrtenschaft⁷², zugezogen zu haben.⁷³ Manche Forscher haben diese Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Gelehrten schon mit einer angeblich grundsätzlichen Unverträglichkeit von Philosophie mit der Lehre und den Wissenszweigen des Islam wie etwa Gesetzeswissenschaft schlechthin zu begründen versucht.⁷⁴ Dem ist entgegenzuhalten, dass jedenfalls in der Geschichte der schiitischen Gelehrsamkeit Philosophie, besonders die Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins, als geistiges Betätigungsfeld der Religionsgelehrten und als Lehrfach an theologischen Seminarien ununterbrochen gepflegt worden ist.⁷⁵ Auch in Qom war die betreffende Disziplin bereits vor Ṭabāṭabāʾīs Ankunft durch Āyatollāh Ḥāğğ Mīrzā Mehdī Āštiyānī, einen anerkannten Meister dieses Faches, prominent vertreten,⁷⁶ und Gross-Āyatollāh Borūğerdī selbst bekundet Ṭabāṭabāʾī gegenüber, dass er selbst sich während seiner Studienzeit ebenfalls mit Philosophie – übrigens ebenfalls mit dem Werk Mullā Ṣadrās als Schwerpunkt – befasst habe.⁷⁷ Dass Ṭabāṭabāʾī seinerseits Philosophie und islamische Überlieferungswissenschaft nicht als Gegensatzpaar ansah, wird schon daran deutlich, dass er in beiden Wissenszweigen als Autorität galt und von einer „wahrhaften islamischen Philosophie“ spricht. Was auch immer es also mit Borūğerdīs Widerstand
71 Vgl. Boroujerdi, 1996:80. 72 Vgl. Halm, 1988:155; Dabashi, 2008:281; Boroujerdi, 1996:81. 73 Vgl. Dabashi, 2008:281 ff. 74 Z. B. Dabashi, 2008:275, 286. 75 Vgl. Rudolph, 2004:106. 76 Vgl. Dabashi, 2008:278. 77 Vgl. Dabashi, 2008:282.
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gegen Ṭabāṭabāʾīs Lehrveranstaltungen in Philosophie am Seminar von Qom auf sich gehabt haben mag, kann es sich wohl kaum um eine Grundsatzdiskussion über die Vereinbarkeit zwischen „der Philosophie“ mit „dem Islam“ gehandelt haben. Viel eher scheint für Ṭabāṭabāʾī mit dem Unterrichten von Philosophie die Hoffnung verbunden gewesen zu sein, dass die jungen Seminarstudenten dadurch vor geistiger Verwirrung im Angesicht der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der kursierenden Lehren bewahrt werden könnten, während Borūğerdī befürchtet haben mag, sie würden dadurch erst recht verwirrt.⁷⁸ Wenn diese Erklärung zutrifft, so spiegelt sie allerdings eine Diskussion wieder, die ebenfalls weit in die islamische Geistesgeschichte zurückreicht – aber nicht die Frage der grundsätzlichen Vereinbarkeit zwischen Philosophie und Islam berührt –, die Diskussion nämlich, ob der Allgemeinheit – in diesem Fall dem durchschnittlichen Seminarstudenten – die nötige Fähigkeit für ein so anspruchsvolles Fach wie die Philosophie zugetraut werden dürfe.⁷⁹ Wie dem auch sei, jedenfalls scheint Borūğerdī seine anfänglichen Bedenken gegen Ṭabāṭabāʾīs Lehrtätigkeit in Philosophie fallen gelassen oder immerhin nicht mehr geäussert zu haben, und der Gelehrte nahm seinen Unterricht auf – bezeichnenderweise mit Veranstaltungen über Mullā Ṣadrās Hauptwerk Die vier Reisen.⁸⁰ Ein weiterer Grund, warum Ṭabāṭabāʾī die Auseinandersetzung mit dem Westen auf dem Boden der Philosophie suchte, mag schlicht darin gesehen werden, dass der Gelehrte aufgrund seines Ausbildungsschwerpunktes und seiner persönlichen intellektuellen Neigungen in Philosophie und den „rationalen“ Disziplinen das Gebiet sah, auf dem er besonders berufen sei, für die islamische Gemeinde eine Antwort auf die Anfechtung durch den Westen zu finden. Weiter scheint Ṭabāṭabāʾī die Auffassung vertreten haben, dass die praktischen Leistungen der westlichen Zivilisation, ihre Früchte gewissermassen, von ihren theoretischen Grundlagen, ihren Wurzeln, her zu denken und zu begreifen seien, und zu diesen gehören gedankliche Systeme, insbesondere philosophische Lehren.⁸¹ Hintergrund dieser Auffassung mag wiederum die philosophische Lehre gewesen sein, der er anhing, sowie sein Verständnis von Philosophie schlechthin – und so eben auch von westlicher Philosophie – als einer Universallehre. Schliesslich aber mag es ausserdem Ṭabāṭabāʾīs besonderem Verständnis vom Verhältnis zwischen der „wahrhaften islamischen Philosophie“ und der Offenbarungslehre des
78 Vgl. Dabashi, 2008:284. 79 Vgl. etwa die Auffassung des Philosophen Fārābī (st. 950), dass nicht alle Menschen zu einer Beweisführung im Sinne der philosophischen Demonstration imstande seien: s. Rudolph, 2004:32 f. 80 Vgl. Dabashi, 2008:278, 281. 81 Vgl. Dabashi, 2008:300.
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Islam zuzuschreiben sein, dass der Gelehrte die Zweifel und Fragen, die den Studenten am theologischen Seminar von Qom, den angehenden Leitern der islamischen Gemeinde und künftigen Vertretern der Lehre des Islam, bei der Begegnung mit westlichen Lehren, eben etwa dem dialektischen Materialismus, gekommen waren, und dadurch die Anfechtung, der er die islamische Gemeinde als ganze ausgesetzt sah, gerade auf dem Wege der Philosophie auszuräumen gedachte. Mit Ṭabāṭabāʾīs Verständnis vom Verhältnis zwischen Philosophie und Offenbarung sowie seinem Selbstverständnis im Zeichen desselben werden wir uns deshalb im folgenden näher befassen, zumal beides sich auf Ṭabāṭabāʾīs Wahrnehmung des Westens und seine Auseinandersetzung mit diesem auswirkte.
2.3 Geistesgeschichtliche Hintergründe und Voraussetzungen von Ṭabāṭabāʾīs Denken 2.3.1 Vorbemerkung Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Offenbarung und Philosophie im Islam nun scheint Ṭabāṭabāʾī sich an das Werk eines der einflussreichsten Denker der Ṣafaviden-Zeit, des Mīr Dāmād (st. 1630)⁸², des Begründers der Schule von Isfahan und Lehrers von Mullā Ṣadrā, anzulehnen, das seinerseits eine Vereinbarung zwischen drei Wegen der Wahrheitsfindung, nämlich erstens Offenbarungtext, d. h. Koran, zweitens der Betätigung des menschlichen Intellekts in der Philosophie und drittens Mystik, anstrebt.⁸³ Die Anlehnung an Mīr Dāmād in dieser Frage braucht nicht weiter zu überraschen, steht Ṭabāṭabāʾī doch selbst in der Lehrüberlieferung der Schule von Isfahan. Ṭabāṭabāʾī führt diese seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Offenbarung und Philosophie im Islam unter anderem im Laufe seiner Darstellung von Inhalt und Entstehung der schiitischen Lehre in dem Werk mit dem schlichten Titel Schia⁸⁴ aus. Wie der Übersetzer desselben ins Englische, Seyyed Hossein Nasr, selbst als Spezialist für islamische Geistesgeschichte bekannt und jahrelanger Vertrauter Ṭabāṭabāʾīs, in der Einleitung erklärt, hat der Gelehrte das Buch auf Vorschlag von Kenneth W. Morgan, Professor für Religion an der USamerikanischen Colgate Universität, verfasst.⁸⁵ Der Vorschlag war Teil eines breiteren Anliegens von Professor Morgan, nämlich nah- und fernöstliche Religionen 82 Vgl. Halm, 1988:118. 83 Vgl. ebda. 84 „Šīʿeh“: S. Literaturverzeichnis. 85 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:III.
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von massgeblichen Vertretern derselben einer westlichen Leserschaft nahebringen zu lassen.⁸⁶ Bei einer Reise Morgans in den Iran machte Nasr Morgan und Ṭabāṭabāʾī, zu dessen Schülerkreis Nasr damals gehörte,⁸⁷ miteinander bekannt, und Morgan soll, beeindruckt vom Wissen und der spirituellen Persönlichkeit des Gelehrten, angeregt haben, dass Ṭabāṭabāʾī den schiitischen Islam in einem Werk in mehreren Bänden, deren erster der Teil Schia ist, vorstellen solle.⁸⁸ Als ursprüngliches Zielpublikum seines Werkes hatte der Verfasser also ein westliches im Auge, und zwar sollte, wie aus Nasrs Einleitung hervorgeht, mit dieser Darstellung das gängige Bild des Westens vom Islam im allgemeinen und vom schiitischen Islam im besonderen in mancher Hinsicht zurechtgerückt werden. Denn zum einen, so Nasr, „haben zwar die Wissenschaftler des Abendlandes während der letzten hundert Jahre eine ganze Menge Forschungsarbeiten über verschiedene Aspekte des Islam und der islamischen Zivilisation durchgeführt, aber die meisten dieser Werke sind mit äusserster Voreingenommenheit und in tendenziöser Absicht verfasst worden und lassen das Bestreben erkennen, den Islam verzerrt darzustellen.“⁸⁹ „Ferner“, wie Nasr als nächstes bemerkt, „handelt es sich bei fast allen Quellen der Europäer in den Forschungen über den Islam um die Quellen der Sunniten […].“⁹⁰ Und schliesslich „ist die Schia in den vorliegenden Werken in europäischen Sprachen als eine Abspaltung dargestellt und Lehre und Daseinsgrund derselben auf einen bloss politisch und sozial motivierten Konflikt reduziert worden, während die religiösen Ursachen, die zur Entstehung der Schia führten, kaum beachtet worden sind.“⁹¹ Nachdem das Werk bereits ins Englische übersetzt worden war, erschien es 1970 aber auch noch im persischen Original im Iran selbst, und zwar weil, wie Nasr in seiner Vorrede hervorhebt, „[…] das Bedürfnis nach der persischen Fassung dieses Buches vielleicht nicht geringer als nach seiner englischen ist. […] Tausende junger Iraner von heute sind hinsichtlich ihrer Religion in Unkenntnis und Unwissenheit verfallen.“⁹² Die Gründe für diese Lage sieht Nasr, wie aus seinen anschliessenden Bemerkungen hervorgeht, in eben jenen kulturpolitischen Verhältnisse der Pahlavī-Zeit, welche auch das religiöse Establishment als bedenklich für das Heil der Gemeinde einschätzte: „In den letzten Jahren zeigt die Angelegenheit der religiösen Unterweisung in einer bestimmten Schicht der Gesellschaft
86 Vgl. ebda. 87 Vgl. ebda. 88 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:IV. 89 Ṭabāṭabāʾī, 1348:I. 90 Ebda. 91 Ebda. 92 Ṭabāṭabāʾī, 1348:V.
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einen doch sehr befremdlichen Befund, der wohl in kaum einer Gesellschaft zu sehen ist. Während die religiösen Minderheiten und ebenso die im Iran ansässigen Ausländer zu Hause und in der Schule grosse Mühe darauf verwenden, ihre Kultur und Religion an ihre Kinder weiterzugeben, ist die religiöse Unterweisung in manchen Schichten unter den Muslimen, welche in der iranischen Gesellschaft die überwältigende Mehrheit stellen, vollständig in Vergessenheit geraten.“⁹³ Bei den betreffenden Schichten der iranischen Gesellschaft dürfte es sich, dies lassen Nasrs nachfolgende Ausführungen immerhin vermuten, um die neu entstandenen Mittel- und Oberschichten handeln, jene Gruppen also, welche Nutzniesser der Wirtschaftspolitik und Träger der am Westen ausgerichteten Kulturpolitik des Pahlavī-Staates sein sollten: „So ist nach und nach eine grosse Zahl herangewachsen, der alle materiellen Güter zuteil geworden sind und der alles, was sich ihr Herz im Leben nur wünschen mag, zur Verfügung steht ausser Sinn und Orientierung. […] Weil der Mensch nun aber ein Wesen ist, das nach einem Ziel strebt und das sein Leben nicht nur in bedeutungslosen und vergänglichen materiellen und sinnlichen Ablenkungen hinbringen kann, leiden viele an dieser Ziellosigkeit, und viele unter ihnen suchen nach einer Art von religiöser und spiritueller Unterweisung, jedoch ist es sehr schwer, einen Lehrer oder Führer oder nur schon ein Buch, das die eigentlichen religiösen Gehalte, das Denken und die Geschichte der Schia in ihrer Sprache darlegt, zu finden.“⁹⁴ Genauso, wie sich das Buch in seiner englischen Fassung an eine Leserschaft im Westen wendet, die mit der Schia noch nicht bekannt ist, richtet es sich in seiner persischen Fassung an einen aus Sicht Nasrs und wohl auch Ṭabāṭabāʾīs und seinesgleichen „verwestlichten“ Teil der iranischen Gesellschaft, der die Schia – „seine“ Religion – nicht mehr kennt. Was ausserdem das westliche Publikum betrifft, so dürfte Ṭabāṭabāʾī den Auftrag, dieses Werk zu verfassen, als Gelegenheit gesehen haben, bei diesem ein Bild der Schia zu schaffen, das frei wäre von den Verfälschungen, die gemäss Nasr ja unter anderem durch die einseitige Verwendung sunnitischer Quellen in der westlichen Forschung über die Schia entstanden sind, ein Bild auch, das die westliche Leserschaft, wenn nicht zur Schia bekehren, so ihr immerhin erlauben würde, dieser islamischen Lehre das eine oder andere abzugewinnen. Was das iranische Publikum angeht, so war es das Ziel der persischen Ausgabe des Buches, wie Nasr schon bemerkt, den Schichten der iranischen Gesellschaft, die sich – aus Sicht des religiösen Establishments unter Einfluss des Westens – der Religion entfremdet hätten, die Schia als „ihre“ Religion wieder zu empfehlen. Es geht dem Verfasser dieser Schrift also wohl nicht gleich darum, seine iranische und und westliche Leser zum schiitischen Islam zu bekehren – im Falle der irani93 Ebda. 94 Ebda.
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schen wäre das auch gar nicht nötig. Andererseits sieht Ṭabāṭabāʾī als führender Vertreter der Schia diese gegenüber der Mehrheitsrichtung der Sunnah als die wahre, d. h. als die „eigentlich“ gemeinte und überlegene islamische Lehre, als den Islam im eigentlichen Sinne, an, und mit diesem Verständnis der Schia im Hintergrund stellt er diese Richtung auch vor. Hingegen hat er sein Buch auch wieder nicht als anti-sunnitische Streitschrift angelegt, schon allein deshalb nicht, weil er als Adressaten nicht die Sunniten im Auge hatte. Andererseits wiederum markiert seine Auffassung und Darstellung der Schia als des eigentlichen Islam eine deutliche Gegenposition zu der laut Nasr im Westen vorherrschenden Sicht der Schia als einer blossen Abspaltung. Und auch Ṭabāṭabāʾīs Darlegung seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Philosophie und Offenbarung im Islam – für Ṭabāṭabāʾī letztlich gleichbedeutend mit Schia – stellt die geistigen Gehalte der Schia selbst als den eigentlichen Unterschied zwischen Sunnah und Schia heraus und nicht bloss äussere Ursachen, eben etwa politische oder soziale Umstände, wie dies laut Nasr in den vorherrschenden westlichen Darstellungen geschieht.
2.3.2 Die drei Wege oder Reisen für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam 2.3.2.1 Der erste Weg Als den ersten der drei Wege, auf denen sich gemäss Ṭabāṭabāʾī in Anlehnung an Mīr Dāmād die geistigen Gehalte des Islam erschliessen, betrachtet der Gelehrte den Wortlaut des Koran selbst. Er erwähnt ihn in seiner Darstellung denn auch als den ersten von drei Wegen für das Begreifen des in den religiösen Aussagen Gemeinten und der Wissensgehalte des Islam, die der Heilige Koran in seinen Lehren seinen Anhängern in Reichweite stellt und ihnen aufzeigt.⁹⁵ Für Ṭabāṭabāʾī gibt es in Gottes Wort folglich keine einzige Aussage, deren richtiges Verständnis nicht in Reichweite der Erkenntnisfähigkeit des Menschen läge. Vielmehr, wie Ṭabāṭabāʾī an anderer Stelle bemerkt, „[…] macht der Heilige Koran [schon] mit seinem Wortlaut klar, was in den religiösen Aussagen gemeint ist.“⁹⁶ Ja, für Ṭabāṭabāʾī ist es von Gott undenkbar, dass sein Wort als solches dem Erkennen und Verstehen des Menschen entzogen sei, denn „wenn [Gott] diesen Aussagen in ihrem Wortlaut keine Beweiskraft verliehen hätte, würde er auf keinen Fall von den Menschen verlangen, dass sie diese annehmen und sie befolgen.“⁹⁷ 95 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:42. 96 Ders., 1348:47 f. 97 Ders., 1348:42.
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Diesen Bemerkungen zufolge würde in der Schia dann also rechter Glaube rechte Erkenntnis voraussetzen, Glaubenswahrheit somit auf Erkenntniswahrheit beruhen. Dann wäre die Grundlage von Religiosität in der Schia, so, wie Ṭabāṭabāʾī sie versteht, letztlich nicht der Glaube, sondern Erkenntnis – griechisch „Gnosis“ –, und die Schia, so gesehen, eine gnostische Bewegung. Allerdings spricht Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung der schiitischen Glaubenslehre auch von Menschen, „welche nichts als der Materie und dem kurzzeitigen materiellen Leben dieser vergänglichen Welt Eigentlichkeit zuschreiben, an nichts als an den materiellen Objekten des Begehrens hängen und nichts als Entbehrungen materieller Art fürchten. Das Höchstmass an himmlischen Wissensgehalten, für welche diese Menschen […] überhaupt empfänglich sein mögen, besteht darin, dass sie an die Anfangsgründe der Religion glauben, die praktischen Gebote des Islam in der Art tauben Stoffes ausführen und schliesslich Gott den Einzigen in der Hoffnung auf Lohn im Jenseits oder aus Furcht vor Strafe im Jenseits verehren.“⁹⁸ Die Religiosität der Menschen, die Ṭabāṭabāʾī hier beschreibt, ist mitnichten auf Erkennen und Verstehen gegründet. Wie er schreibt, praktizieren sie die Religion in der Art „tauben Stoffes“, und tauber Stoff ist eben dadurch gekennzeichnet, dass ihm keine intellektuelle Fähigkeit eignet. Die Religiosität, die Ṭabāṭabāʾī schildert, ist vielmehr ein Hinnehmen der „Anfangsgründe der Religion“ ohne jede gedankliche Auseinandersetzung mit ihnen. Dennoch legt Ṭabāṭabāʾīs Formulierung nahe, dass selbst diese Art von Religiosität immer noch besser ist als gar keine. Denn auch das blosse Hinnehmen wenigstens der Anfangsgründe der Religion und die Ausführung ihrer Gebote in der Art tauben Stoffes bezeichnet dieser Gelehrte als Glauben, sagt er doch, dass die Menschen, von denen an der Stelle die Rede ist, an die Anfangsgründe der Religion „glauben“. Selbst Glaube ohne begründende Erkenntnis ist demnach besser als Unglaube. Der einzige Vorzug aber, den selbst ein Glaube ohne Erkenntnis gegenüber Unglauben haben kann, liegt darin, dass auch eine solche Art von Glauben genügt, um den Menschen zum „Lohn im Jenseits“ zu führen und ihn vor der „Strafe im Jenseits“ zu bewahren. Wenn wir es also bei der Bezeichnung der Schia als gnostischer Bewegung überhaupt belassen wollen, so gilt immerhin anzumerken, dass der Unterschied zwischen Erkenntnis und blossem Glauben ohne Erkenntnis nicht darin besteht, dass nur die Erkenntnis den Menschen sicher errettet und der blosse Glaube ohne Erkenntnis den Menschen nicht sicher errettet. In der Tat gibt es gnostische Bewegungen, von denen einige auch in Richtungen des schiitischen Islam Eingang gefunden haben, die eine solche Unterscheidung zwischen Erkenntnis und blossem Glauben vertreten.⁹⁹ Bei der Richtung des schiitischen 98 Ders., 1348:48 f. 99 Vgl. Wolfson, 1970:495 ff.; Halm, 1988:186 ff.
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Islam aber, mit der wir es in der Darstellung Ṭabāṭabāʾīs zu tun haben, handelt es sich um die Zwölfer-Schia, so genannt, weil ihre Anhänger an eine Abfolge von zwölf Imamen glauben, deren letzter im Jahre 873 in die Verborgenheit entrückt worden sein soll;¹⁰⁰ und die Glaubenslehre der Zwölfer-Schia, wie sehr und in welcher Weise wir sie auch immer gnostisch nennen dürfen, nimmt eine Unterscheidung zwischen Erkenntnis und blossem Glauben in dieser Weise nicht vor. Gleichwohl muss Erkenntnis auch in den Augen Ṭabāṭabāʾīs einen Unterschied, und zwar einen Unterschied im Sinne eines Vorzuges, einer Überlegenheit, gegenüber blossem Glauben in der Art „tauben Stoffes“ aufweisen. Um nun zu erklären, worin diese Überlegenheit besteht, kommen wir an der Klärung zweier anderer, miteinander verbundener Fragen nicht vorbei: Die erste lautet, wen Ṭabāṭabāʾī mit den Menschen meint, die Gott ohne jede gedankliche Auseinandersetzung mit den Aussagen seiner Offenbarung, nur in der Hoffnung auf Lohn im Jenseits oder aus Furcht vor Strafe im Jenseits, verehren; die zweite, was mit der gedanklichen Auseinandersetzung, jenem Verstehen und Erkennen, gemeint ist, welche diejenigen Menschen, die Gott in der Art tauben Stoffes verehren, nicht betätigen und welche die Überlegenheit gegenüber blossem Glauben in der Art tauben Stoffes ausmacht. Um in diesen Fragen klarer zu sehen, wenden wir uns nun Ṭabāṭabāʾīs Darstellung der beiden anderen Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam zu.
2.3.2.2 Der zweite Weg Für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam erwähnt Ṭabāṭabāʾī nach dem Weg des Wortlautes des Koran noch einen zweiten Weg. Dieser zweite Weg besteht in verstandesmässigen Beweisen sowie in freier diskursiver Beweisführung mittels Demonstration.¹⁰¹ Ṭabāṭabāʾī nennt ihn kürzer oft auch einfach „verstandesmässigen Beweis“¹⁰² oder, noch kürzer, „Verstand“¹⁰³. Wie an anderer Stelle ersichtlich wird, will Ṭabāṭabāʾī das Verfahren der freien diskursiven Beweisführung mittels Demonstration als eine Unterart dessen verstanden wissen, was er unter „verstandesmässigem Beweis“ oder „Verstand“ zusammenfasst. Denn er sagt dort: „Die Demonstration ist ein Beweis, dessen Aussagen wahre (mit der Wirklichkeit übereinstimmende) Vordersätze sind […] oder, mit anderen Worten, Sätze sind, die der Mensch mit Hilfe seiner gottgegebenen Fähigkeit des Verstehens notwendig begreift und als wahr anerkennt, so wie wir ‚Drei ist kleiner als vier‘ 100 Für eine ausführliche Darstellung ihrer Entstehung und Lehre s. Halm, 1988: 34 ff. 101 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:42. 102 Ders., 1348:42: „ḥoğğat-e ʿaqlī“. 103 Ders., 1348:44: „ʿaql“.
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wissen.“¹⁰⁴ Von dieser einen Unterart des verstandesmässigen Beweises grenzt Ṭabāṭabāʾī eine andere ab, die er als Dialektik bezeichnet¹⁰⁵ und als einen Beweis beschreibt, „dessen Aussagen zum Teil oder allesamt aus allgemein Bekanntem und Anerkanntem stammen, so wie die Anhänger verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen innerhalb ihrer Richtung religiöse Theorien mit Hilfe derjenigen Prinzipien, die von der jeweiligen Richtung anerkannt werden, zu beweisen pflegen.“¹⁰⁶ Gegenüber dem dialektischen Verstandesbeweis bezeichnet Ṭabāṭabāʾī die Demonstration als ein Beweisverfahren, das frei¹⁰⁷ sei, frei in der Hinsicht eben, dass die Anerkennung des Wahrheitsanspruches des demonstrativen Beweises nicht wie die des dialektischen Beweises auf einen Teil der Menschen, etwa die Anhänger einer bestimmten Religion, beschränkt ist. Die Art nun, wie Ṭabāṭabāʾī diesen zweiten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam unterteilt, folgt einer Gliederung der Wissenschaften und Erkenntnisweisen, der wir in der islamischen Geistesgeschichte bei einem anderen Denker begegnen, nämlich dem Philosophen Fārābī (st. 950)¹⁰⁸, der, weil er in Aristoteles seinen grossen Meister sieht, als Vertreter der Schule desselben, des sogenannten Peripatos, d. h. als ein Peripatetiker, gilt. Ausgehend von den logischen Schriften des Aristoteles nun hatte Fārābī den systematischsten und für die weitere islamische Geistesgeschichte einflussreichsten Versuch einer Klärung der Frage unternommen, in welchem Verhältnis Erkenntnisweisen und Wahrheitsansprüche der verschiedenen Wissensgebiete zueinander stehen,¹⁰⁹ also etwa die Erkenntnis und das Wahrheitsverständnis der Philosophie zu denen der Offenbarung, aber nicht nur der Offenbarung, sondern was überhaupt das Besondere der philosophischen Erkenntnis und des philosophischen Verständnisses von Wahrheit gegenüber denen der nicht-philosophischen Disziplinen wie etwa den Überlieferungswissenschaften, d. h. Theologie und Gesetzeswissenschaft, Geschichte, Sprachwissenschaft und anderen sei.¹¹⁰ Dabei betrachtet Fārābī die verschiedenen Disziplinen nicht hinsichtlich der Gegenstände, mit denen sie sich im Einzelnen beschäftigen mögen: Schliesslich können sich beispielsweise sowohl die Philosophie als auch die Theologie als auch die Dichtung mit dem Thema „Gott“ befassen. In dieser Hinsicht behandelt Fārābī die verschiedenen Disziplinen gleichsam als unterschiedliche Dis-
104 Ders., 1348:57. 105 Ebda. 106 Ṭabāṭabāʾī, 1348:58. 107 Persisch: „āzād“. 108 Über Leben und Lehre desselben vgl. Rudolph, 2004:29 ff. 109 Ebda. 110 Ebda.
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kurse. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Disziplinen, auf den es Fārābī ankommt, besteht vielmehr in der Methode, mit der jede der Disziplinen den Wahrheitsanspruch, den sie für ihre Aussagen geltend macht, zu begründen sucht. Diese verschiedenen Methoden setzt Fārābī mit den verschiedenen Arten des Schlusses in der Form des Syllogismus¹¹¹ gleich, die Aristoteles in seinem Werk¹¹² beschreibt und die er nach der Höhe des Erkenntniswertes, dem Grad der Gewissheit, den sie ergeben, unterscheidet.¹¹³ Auf sie laufen die verschiedenen Formen des Denkens und Verstehens hinaus, derer sich der Mensch als denkendes Wesen überhaupt bedienen kann.¹¹⁴ Denn Denken versteht Fārābī wie alle Peripatetiker als diskursiven Vorgang, in welchem Erkenntnis sich nicht in unmittelbarer Anschauung einstellt: Die Wahrheit, die es zu erkennen gilt, ist nicht bereits im Geist des Menschen gegenwärtig¹¹⁵, so dass es für deren Erkennen nur noch darauf ankäme, sie von den Überlagerungen durch die Materie und der Hülle von Meinung und Schein freizulegen, in denen der Mensch in seinem Erdendasein gefangen ist.¹¹⁶ Die Läuterung des Geistes von solcherlei Verhaftungen ist nach peripatetischer Auffassung für die Erlangung von Erkenntnis zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Erkenntnis nach peripatetischem Verständnis ist vielmehr etwas, das sich der Mensch erst noch erwerben muss und auf das er nur kommen kann, indem er es über eine logisch geregelte Reihung von Zwischenstufen, die verschiedene Bestimmungen von Begriffen darstellen, erschliesst¹¹⁷.¹¹⁸ Ein solcherart geregelter Gedankengang wird formuliert in einer Aussagekette, einem „Diskurs“ – deshalb „diskursiv“ als Beschreibung des zugrunde liegenden Denkvorgangs.¹¹⁹ Von den Schlussarten, die Aristoteles behandelt, erbringt Gewissheit in der vollen, eigentlichen Bedeutung des Wortes, absolute Gewissheit¹²⁰ also, und damit Erkenntnis im eigentlichen Sinne nur der demonstrative Schluss, d. h. der Schluss, der von gesicherten Vordersätzen – Prämissen – auf ein ebenso gewisses Ergebnis, enthalten im Schlusssatz, kommt.¹²¹ Im philosophischen Vollsinn des Wortes stellt deshalb auch nur der demonst-
111 Rudolph, 2004:30. 112 Genauer: in den logischen Schriften, dem sogenannten Organon: Vgl. Rudolph, 2004:30. 113 Rudolph, 2004:30. 114 Ebda. 115 Arabisch „ḥāḍir“, davon „ʿilm ḥuḍūrī“: Vgl. Kamal, 2006:88 f., 91 f.; Leaman, 1999:69 ff.; Rudolph, 2004:83; Ṭālebzādeh, 1385b:82 f. 116 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:496b; Kamal, 2006:98. 117 Arabisch „ḥuṣūl“, davon „ʿilm ḥuṣūlī“: Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:82 f. 118 Hügli/Lübcke, 2005:154a („diskursiv“). 119 Ebda. 120 Arabisch „(ʿilm) yaqīn“. 121 Rudolph, 2004:30.
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rative Schluss einen Beweis dar.¹²² Nur er ergibt objektive Gewissheit, d. h. die Gewissheit, dass die Erkenntnis meines Geistes als des denkenden Subjekts mit dem aussergeistigen Sachverhalt, dem „Objekt“, übereinstimmt.¹²³ Die übrigen Schlussarten sind alle nicht-demonstrativ. Und „nicht-demonstrativ“ bedeutet für Fārābī, dass sie dem demonstrativen Schluss an Gewissheit und Erkenntniswert ihrer Ergebnisse nachstehen. Zu den nicht-demonstrativen Schlussarten zählt zum einen der dialektische Schluss, der von bloss wahrscheinlichen Prämissen ausgeht. In einer Diskussion, einem Dialog – davon „dialektisch“ –, werden sodann Argumente für und wider den betreffenden Sachverhalt vorgebracht und die Triftigkeit der Argumente gegeneinander abgewogen, wobei das stärkere Argument jeweils den Ausschlag gibt.¹²⁴ Der dialektische Schluss – „Schluss“ hier auch im Sinne von „Schluss des Dialogs“ – stellt aber keinen Beweis im demonstrativen Sinne dar. Denn dass mein Argument sich gegenüber denen meiner Dialogpartner als das stärkere erweist, berechtigt mich nicht zur Gewissheit, dass es richtig ist. Wer weiss: Vielleicht liege ich ja falsch, nur meine Gesprächspartner halt noch falscher. Ausserdem habe ich mein Argument zwar bestenfalls gegenüber den Argumenten meiner jeweiligen Dialogpartner, wie zahlreich sie auch immer sein mögen, als das stärkere erwiesen, aber nicht gegenüber allen möglichen Argumenten. Und schliesslich: Was kann überhaupt als Mass für Stärke und Schwäche von Argumenten gelten? Mit dem Verfahren der Dialektik kann ich mein Argument also nicht auf allgemeingültigem Weg bestätigen.¹²⁵ Der dialektische Schluss ergibt daher nur Meinung¹²⁶ – wie wohlbegründet auch immer –, eine Wahrscheinlichkeit, und keine Erkenntnis im Vollsinn des Wortes. Eine weitere nicht-demonstrative Schlussart ist der rhetorische Schluss, der von den gängigen Meinungen der Allgemeinheit ausgeht und diese ohne Prüfung ihrer Stichhaltigkeit oder Richtigkeit verwendet, um wieder die Allgemeinheit zu überzeugen.¹²⁷ Es versteht sich, dass ein solcher Schluss, der im Unterschied zum dialektischen Verfahren nicht einmal die schon bestehenden Meinungen prüft, auch selber nicht mehr als eine Meinung und keinesfalls Gewissheit und Erkenntnis im eigentlichen Sinn ergeben kann. Ja, mehr noch: Indem er sein Publikum von der Richtigkeit einer Meinung zu überzeugen sucht, deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit keineswegs erwiesen ist, setzt er es
122 Vgl. Brugger, 1963:37 („Beweis“). 123 Vgl. Ders., 1963:75 („Erkenntnis“); über das entsprechende Verständnis von Wahrheit vgl. Wolfson, 1970:113. 124 Rudolph, 2004:30; Hügli/Lübcke, 2005:147a, b, 496a, b. 125 Vgl. Rudolph, 2004:31, 32. 126 Griechisch „δόξα“, arabisch „ẓann“. 127 Vgl. Rudolph, 2004:30.
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der Gefahr aus, dass es Meinung für Erkenntnis, Schein für Sein, hält.¹²⁸ Auch der poetische Schluss, den Fārābī behandelt, ist nicht demonstrativ. Dass wir ihn in Aristoteles’ Werk nicht belegt finden, tut für unsere Belange nichts zur Sache: Was sich vom rhetorischen Schluss sagen lässt, gilt für den poetischen Schluss erst recht.¹²⁹ Geht der rhetorische Schluss von bereits bestehenden Meinungen aus, versucht der poetische Schluss, selber ohne vorherige Prüfung Meinungen in Form von Einbildungen und Stimmungen im Gemüt des Publikums herzustellen, die es für die Botschaft des Dichters empfänglich machen. Indem Dichtung aber Stimmungen erzeugt, wirkt sie nicht auf den Verstand, sondern auf die Kräfte des Gemüts, die sogenannten Affekte, die Triebe, des Menschen. Bei den Affekten handelt es sich aber um Faktoren, welche das ordentliche Funktionieren des Verstandes beeinträchtigen.¹³⁰ Indem der Erfolg des poetischen Schlusses schliesslich gerade darin besteht, dass er seine Gegenstände dem Adressaten so eindringlich nahe bringt, dass dieser auf sie wie auf Wahrheit reagiert, setzt der poetische Schluss noch mehr als der rhetorische den Menschen der Gefahr aus, dass das Urteil seiner Einbildung an die Stelle des Urteils seines Verstandes tritt, Meinung also die Stelle der Erkenntnis einnimmt, Schein sich an den Platz von Sein setzt.¹³¹ Eine solche Verschiebung bedeutet aber Irrtum,¹³² und damit befindet sich der poetische Schluss, weit davon entfernt, Gewissheit und Erkenntnis zu erbringen, in nächster Nähe zum Trugschluss, der von unklaren Prämissen ausgeht und diese logisch fehlerhaft aneinanderreiht.¹³³ Als Meister in dieser „Kunst“ gelten den Philosophen die Sophisten.¹³⁴ Und dennoch gibt es zwischen dem poetischen Schluss und dem Trugschluss einen entscheidenden Unterschied: Der Dichter glaubt immerhin daran, dass seine Dichtung etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, so schwach das Band zwischen der Wirklichkeit und seiner Darstellung derselben auch immer sein mag, während der Sophist schon die Existenz einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit überhaupt bezweifelt oder gar bestreitet.¹³⁵ Daher gibt es für den Sophisten auch keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative Wahrheit im Sinne der Wahrnehmung des jeweiligen Betrachters, kurz: Der Mensch ist das Mass aller Dinge.¹³⁶
128 Vgl. T, 1381, I:214. 129 Rudolph, 2004:30 f. 130 Vgl. Leaman, 1999:68. 131 Vgl. T, 1381, I:211 ff. 132 T, 1381, I:214. 133 Vgl. Leaman, 1999:68; Rudolph, 2004:30. 134 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:583b („Sophisten“); Rudolph, 2004:30; Ṭālebzādeh, 1385a:17 ff. 135 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:583b („Sophisten“); T, 1381, I:66; Ṭālebzādeh, 1385a:17 f., 19 f. 136 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385a:18 f.; M, I:56.
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Fārābī unterscheidet nun aber nicht nur die verschiedenen Arten des Schlusses nach der Stufe ihrer Gewissheit, sondern weist ihnen auch die verschiedenen Wissenszweige zu. Zugleich ordnet er die verschiedenen Wissenszweige nach der Gewissheit der Schlussart, derer sich jede von ihnen bedient, in einer Rangfolge.¹³⁷ Der demonstrative Schluss kommt in Fārābīs Einteilung der Philosophie, und nur dieser, zu.¹³⁸ Das bedeutet, dass die Philosophie die einzige Disziplin ist, die in der Lage ist, die Wahrheit ihrer Aussagen mit ihren eigenen Methoden zu beweisen. Bei den Aussagen der Philosophie nun handelt es sich letztlich um allgemeingültige Sätze, „Grund“-Sätze, Prinzipien eben, welche die Grundlage von Wissen überhaupt sind. Die Philosophie ist damit die epistemologische Grundlage jeder Wissenschaft, aber eben nicht in dem Sinne, dass in der Philosophie die Wissensinhalte jeder Wissenschaft selbst vorlägen, sondern vielmehr, indem die Philosophie mit Hilfe der Demonstration die Voraussetzungen von Wissen überhaupt untersucht.¹³⁹ Als „Erfinder“ und Meister des demonstrativen Schlusses und damit der Philosophie in ihrer Vollendung gilt den Peripatetikern Aristoteles.¹⁴⁰ Weil die Philosophie als einzige Disziplin die Wahrheit ihrer Aussagen mit ihren eigenen Methoden beweisen kann, diese Aussagen ferner allgemeingültig sind, deshalb ist die Philosophie als einzige Disziplin auch nicht eine Einzelwissenschaft.¹⁴¹ Sie ist vielmehr die epistemologische Grundlage der Einzelwissenschaften. Denn die Einzelwissenschaften können die Wahrheit ihrer Aussagen mit ihren eigenen Methoden nicht beweisen, jedenfalls nicht im Sinne des demonstrativen Schlusses. Nach Fārābī kommt ihnen vielmehr der dialektische Schluss zu.¹⁴² So beobachte ich etwa – um ein Beispiel aus einer Erfahrungswissenschaft unter den Einzelwissenschaften, der Physik, zu wählen –, dass die Höhe eines Tones, dessen Quelle sich von mir entfernt, abnimmt. Und ich habe gute Gründe, anzunehmen, dass die Entfernung der Schallquelle von mir die Ursache für die Abnahme der Tonhöhe ist. Jedenfalls kann es für ziemlich unwahrscheinlich gelten, dass es sich bei der Abnahme der Höhe des Tones, immer wenn sich dessen Quelle von mir entfernt, um ein bloss zeitliches Zusammentreffen zweier einzelner Ereignisse handelt. Aber die physikalische Beschreibung dieser Erfahrung allein, ganz gleich, wie oft ich diese wiederhole, beantwortet nicht die Frage, ob das beobachtete Ereignis – und jedes andere – tatsächlich nur
137 Rudolph, 2004:31. 138 Ebda. 139 Brandt, 2001:8 f. 140 Rudolph, 2004:32. 141 Ders., 2004:33. 142 Ders., 2004:31.
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als Wirkung einer Ursache erklärt werden kann.¹⁴³ Warum jedes Ereignis einer Ursache bedarf, ist eine Frage, die nur die Philosophie untersuchen kann.¹⁴⁴ Weiter ist meine Aussage, dass die Höhe eines Tones, dessen Quelle sich von mir entfernt, abnimmt, das Ergebnis meiner Beobachtung, meiner sinnlichen Erfahrung also. Zugleich beanspruche ich mit dieser erfahrungsgestützten Aussage aber, ein Ereignis der beobachtungsunabhängigen Wirklichkeit beschrieben zu haben. So sehr ich meine Aussage aber mit meiner Erfahrung abzusichern suche und so oft ich zu diesem Zweck meine Beobachtung wiederhole, kann mir dies keine Gewissheit in der Frage geben, wie verlässlich meine Erfahrung mir über die Wirklichkeit Aufschluss gibt. Die Frage, warum und wie sehr ich mich auf die Sinneserfahrung zur Erkenntnis der Wirklichkeit verlassen kann, kann ebenfalls nur von der Philosophie untersucht werden.¹⁴⁵ Und noch grundsätzlicher: Wie kann ich sicher sein, dass es überhaupt eine Wirklichkeit gibt, auf die sich meine Erfahrung beziehen kann, und meine vermeintliche Beobachtung nicht nur ein Vorgang in meinem Geist ist? Auch die Frage also, ob es eine betrachtungsunabhängige Wirklichkeit und damit objektive Erkenntnis überhaupt gibt, kann nur die Philosophie erörtern.¹⁴⁶ Dies alles bedeutet, dass die Philosophie die epistemologische Grundlage der Einzelwissenschaften ist. Aber dies ist, wie gesagt, nicht so zu verstehen, dass die Aussagen der Einzelwissenschaften selbst in der Philosophie enthalten wären: So gibt es keine Möglichkeit, dass ich etwa die Lehren des Aristoteles im Lichte der Physik deute und so aus ihnen etwa den Dopplereffekt – das oben besprochene Beispiel aus der Physik – heraus interpretiere. Die Einzelwissenschaften können die Berechtigung ihres Wahrheitsanspruchs mit ihren eigenen Methoden also nicht beweisen. Nun gilt im peripatetischen Wissenschaftsverständnis auch die Theologie als Einzelwissenschaft,¹⁴⁷ und genau wie allen anderen Einzelwissenschaften kommt auch ihr nur dialektische Gewissheit zu: Auch die Theologie kann die Wahrheit ihrer Aussagen mit ihren eigenen Methoden nicht beweisen. Derjenige arabische Fachausdruck, den wir gemeinhin mit „Theologie“ übersetzen, „kalām“ nämlich, lässt sich in seinem nicht-technischen Wortsinn als „Rede“ mit dem Wortsinn des griechischen Ausdrucks „Dialektik“ als „Kunst der Unterredung“ in Beziehung setzen.¹⁴⁸ „Kalām“ im Sinne von Theologie meint die im Islam wichtigste dialektische Disziplin mit dem dialektischen Schluss als der ihr zukommenden
143 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385a:5 f. 144 Ders., 1385a:6. 145 Ebda. 146 Ders., 1385a:5 f. 147 Rudolph, 2004:31. 148 Über „kalām“ als „Dialektik“ vgl. auch Halm, 1988:63; Endress, 1982:45.
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Schlussart zur Unterscheidung von der Philosophie, der einzigen demonstrativen Disziplin.¹⁴⁹ Und nicht nur der Theologie unter den islamischen Überlieferungswissenschaften, auch der Gesetzeswissenschaft kommt wie jeder Einzeldisziplin in Fārābīs Einteilung nur der dialektische Schluss zu, da ihre Prämissen jeweils nur von einem Teil der Menschheit, etwa eben den Anhängern einer bestimmten Religion wie des Islam, anerkannt werden.¹⁵⁰ Genau diese Abgrenzung der Dialektik und des ihr zugehörenden Beweises von der Demonstration finden wir in Ṭabāṭabāʾīs erwähnter Beschreibung der Dialektik als eines Beweises, „dessen Aussagen zum Teil oder allesamt aus allgemein Bekanntem und Anerkanntem stammen, so wie die Anhänger verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen innerhalb ihrer Richtung religiöse Theorien mit Hilfe derjenigen Prinzipien, die von der jeweiligen Richtung anerkannt werden, zu beweisen pflegen.“¹⁵¹ Dass Ṭabāṭabāʾī ebenfalls wie Fārābī die Theologie der Dialektik zurechnet, ja, über Fārābī hinausgehend, die eine mit der anderen geradezu gleichsetzt, wird ausser an der eben angeführten Stelle auch dort ersichtlich, wo er von der dialektischen Verstandestätigkeit sagt, dass sie üblicherweise theologischer Diskurs genannt werde.¹⁵² War in Fārābīs Einteilung der Wissenschaften Aristoteles der Meister der Demonstration und damit der Philosophie im eigentlichen Sinne nach peripatetischem Verständnis überhaupt, so gilt sein „Vorgänger“ Platon als Begründer der Dialektik,¹⁵³ welche zwar nicht direkt zur Erkenntnis führt, aber indirekt doch die Augen für die Wahrheit öffnet.¹⁵⁴ Auch die literarische Form von Platons Schriften ist ja die des Dialogs. Eine Stufe unter der Dialektik folgt in Fārābīs Katalog das Anwendungsgebiet des rhetorischen und poetischen Schlusses.¹⁵⁵ Zu diesem gehört die göttliche Offenbarung, die von den Propheten, in ihrer Vollendung von dem Propheten des Islam, Muḥammad, verkündet worden ist. Wie der rhetorische und poetische Schluss überhaupt, so kann auch die Offenbarung nicht nur ihre eigenen Aussagen nicht beweisen, sie kann auch keine Wissenschaft begründen.¹⁵⁶ Sie kann mit anderen Worten nicht als epistemologische Grundlage gelten. Was die Offenbarung begründet, ist nicht Erkenntnis, sondern Glaube, indem sie wie jede rhetorische oder poetische Aussage die Menschen mit Hilfe eindringlicher Bilder 149 Über „kalām“ als „Dialektik“ vgl. auch Halm, 1988:63. 150 Vgl. Rudolph, 2004:31. 151 Ṭabāṭabāʾī, 1348:58. 152 Ebda. 153 Rudolph, 2004:32. 154 Hügli/Lübcke, 2005:496b. 155 Rudolph, 2004:30, 31, 32. 156 Rudolph, 2004:31.
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und einprägsamer Gleichnisse für sich einzunehmen und auf diesem Wege von ihrer Botschaft zu überzeugen sucht.¹⁵⁷ Dieses Verständnis von Glauben ist dasselbe, das wir in Aristoteles’ logischen Schriften¹⁵⁸ finden, von denen Fārābī bei der Entwicklung seiner Wissenschaftslehre ja ausgeht.¹⁵⁹ Darin definiert Aristoteles Glauben¹⁶⁰ als eine starke Annahme¹⁶¹, und Annahme wiederum versteht er als eine Art von Meinung¹⁶².¹⁶³ Das Neue an Fārābīs Umgang mit dem Begriff Glauben ist einzig, dass Fārābī diesen in demselben Sinne, wie er in Aristoteles’ logischen Schriften vorkommt, nun zur Beschreibung einer seelischen Haltung gegenüber einer Offenbarungsreligion verwendet. Eine solche Verwendung des Begriffs hätte Aristoteles allerdings auch kaum einfallen können, da es in seinem kulturgeographischen Gesichtskreis keine Offenbarungsreligion gab. Da die Offenbarung oder im weiteren Sinn die Religion also nur Glauben und nicht Erkenntnis begründet, ist sie für den Peripatetiker in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht uninteressant und durchaus entbehrlich.¹⁶⁴ Und dennoch: Fārābī und die islamischen Philosophen seit Fārābī im allgemeinen begreifen die Religion nicht als Gegensatz und schon gar nicht als Gegenspielerin der Philosophie. Der Gegensatz und die Gegenspielerin der Philosophie ist für die Philosophen vielmehr der Sophismus.¹⁶⁵ Mit anderen Worten: Der poetische Schluss der Verkünder von Gottes Offenbarung steht dem demonstrativen Schluss der Philosophen an Erkenntniswert zwar nach, aber er steht nicht wie der Trugschluss der Sophisten, dieser „Anti-Philosophen“, der Philosophie entgegen und im Widerspruch zu dieser. In Fārābīs Augen kann die Religion gar nicht im Gegensatz zur Philosophie stehen, denn der Wortlaut der Offenbarung, verstanden als Allegorie der Lehren der peripatetischen Philosophie, kündet mit Hilfe poetischer Gleichnisse von derselben Wahrheit, welche die peripatetische Philosophie mit Hilfe des demonstrativen Schlusses beweist.¹⁶⁶ Nach Fārābīs Lehre ist der Glaube die Geisteshaltung, die sich als einzige auf die Offenbarung beziehen kann, während sich die Erkenntnis auf die demonstrativ bewiesene Wahrheit der Philosophie bezieht. Glaube und Erkenntnis bilden bei Fārābī, so gesehen, zwei getrennte, aber eben doch nicht gegensätzliche Bereiche, und Religion und 157 Ebda. 158 Z. B. in Topica. 159 Rudolph, 2004:30. 160 Griechisch „πίστις“. 161 Griechisch „ὑπόληψις σφοδρά“. 162 Griechisch „δόξα“, arabisch „ẓann“. 163 Vgl. Wolfson, 1947:216; Ders., 1970:113. 164 Vgl. Groff, 2007:178; Leaman, 1999:122; Rudolph, 2004:33 165 Vgl. etwa M, 1381, I:57; T, 1381, I:50; Ṭālebzādeh, 1385a:17 ff. 166 Leaman, 1999:122; Rudolph, 2004:32, 33.
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Philosophie, Offenbarung und Vernunft bilden nach dem gängigen Verständnis der islamischen Peripatetiker keine Gegensatzpaare, sondern sind nur methodisch verschieden.¹⁶⁷ Die philosophisch erschlossene Wahrheit steht also nicht im Gegensatz zur offenbarten Wahrheit, sondern vielmehr wird die Philosophie als eine universale und absolute, zeitlose Weisheit, eine sophia perennis¹⁶⁸, verstanden, die auch die Offenbarung umfasst und in deren Licht die islamische Prophetie und das geoffenbarte Gesetz gedeutet werden.¹⁶⁹ Zur Erschliessung der Wahrheit, auf welche sich auch die Aussagen der Offenbarung als Allegorie beziehen, mittels der Demonstration sind allerdings nur entsprechend begabte Menschen fähig. Aus peripatetischer Sicht handelt es sich bei diesen – kaum überraschend – um die Philosophen selbst. Diese werden als die geistige Elite¹⁷⁰ aufgefasst, und allein die Angehörigen der geistigen Elite gelten als fähig, die Wahrheit einzig mit Hilfe der Betätigung des Verstandes nach den Regeln der peripatetischen Philosophie zu erkennen. Die übrige Menschheit, die Allgemeinheit¹⁷¹, gilt nicht als fähig, die Wahrheit einzig mit Hilfe des Verstandes zu erkennen, entweder weil die Angehörigen der Allgemeinheit philosophisch nicht begabt oder nicht entsprechend gebildet sind. Und weil sie dazu nicht fähig sind, ist es wohl auch besser, dass sie sich nicht mit Philosophie abgeben. Damit aber auch sie trotz ihrer minderen Befähigung zu philosophischer Einsicht eine Chance haben, der Wahrheit wenigstens in Form von Gleichnissen teilhaftig zu werden, hat Gott in seiner Fürsorge für die Allgemeinheit der Menschen die Offenbarung herab gesandt und durch Propheten unter ihnen verkünden lassen.¹⁷² Ein solcher Prophet, ja, nach islamischem Glauben das Siegel der Propheten, war Muḥammad, der Gesandte Gottes. Nicht, dass Muḥammad selbst die Wahrheiten, deren allegorischer Ausdruck die Offenbarung ist, nicht gekannt hätte, aber es gehörte nicht zu seiner Mission, diese allen Menschen zu verkünden. Eine solche Person, einerseits begabt mit vollkommener philosophischer Erkenntnis der Wahrheit und andererseits mit der Fähigkeit, der Allgemeinheit die Wahrheit anhand von Gleichnissen bekannt zu machen, ist nach Fārābīs Lehre auch als einzige befähigt und daher berechtigt, über die Gemeinschaft der Muslime zu herrschen.¹⁷³ Nur die Herrschaft einer solchen Person kann den idealen Staat¹⁷⁴
167 Vgl. Leaman, 1999:160; Rudolph, 2004:33. 168 Vgl. Brugger, 1963:238. 169 Endress, 1982:60, 66. 170 Arabisch „ḫāṣṣah“. 171 Arabisch „ʿāmmah“. 172 Vgl. Leaman, 1999:160; Rudolph, 2004:32 f. 173 Rudolph, 2004:36; Ṭālebzādeh, 1385b:50. 174 Arabisch „madīnah fāḍilah“; vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:49 f.
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begründen, der seine Bürger zu Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit führt – eine islamische Anverwandlung des platonischen Entwurfs des Idealstaates.¹⁷⁵ Nun bemerkt Ṭabāṭabāʾī über den zweiten Weg aber nicht nur, dass er zum Begreifen der Wissensgehalte des Islam führe, sondern auch zu „Zustimmung und Glauben“.¹⁷⁶ Was nun wiederum diese beiden letzteren Ausdrücke betrifft, die hier hintereinander gereiht stehen, so erscheinen sie, allerdings anders aufeinander bezogen, in einer in theologischen Quellen gängigen Definition von Glauben als Zustimmung, genauer: als Zustimmung des Herzens in Übereinstimmung mit dem, was von der Zunge gesprochen wird.¹⁷⁷ Aus einer anderen Stelle in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung lässt sich in der Tat folgern, dass Zustimmung und Glaube auch an der eben zitierten Stelle, an der sie aneinander gereiht vorkommen, als gleichsinnige Ausdrücke zu verstehen sind. Es entspricht auch ganz der Ausdrucksweise der persischen Sprache, in der Ṭabāṭabāʾī seine Darstellung verfasst hat, gleichsinnige Ausdrücke zwecks Hervorhebung ihres gemeinsamen Sinnes aneinander zu reihen. An jener anderen Stelle kommt der Gelehrte unter Bezug auf eine Koranstelle auf den Gegensatz von Glauben, nämlich Unglauben, zu sprechen mit den Worten: „Diese, die nicht an den Koran glauben, halten etwas für unwahr, von dem sie keine gründliche Kenntnis erlangt haben […]“.¹⁷⁸ Wenn Unglaube aber, wie aus diesem Zitat hervorgeht, bedeutet, etwas für unwahr zu halten¹⁷⁹, so muss dessen Gegensatz, Glaube eben, bedeuten, etwas für wahr zu halten¹⁸⁰. Dies ist aber Zustimmung: Glaube muss folglich Zustimmung bedeuten. Ṭabāṭabāʾī setzt also in seiner Darstellung der schiitischen Glaubenslehre im Rahmen seiner Beschreibung des zweiten Weges, der für ihn in rationalen Beweisarten, einschliesslich Demonstration, besteht, Glauben mit Zustimmung gleich. Wie der Gelehrte weiter ausführt, billigt der Koran diesen zweiten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Koran. Ja, mehr noch: Er empfiehlt ihn geradezu. In dem Abschnitt bei Ṭabāṭabāʾī, dem wir soeben die Begriffe „Zustimmung und Glauben“ in dieser Aneinanderreihung entnommen haben, heisst es nämlich: „Der Heilige Koran […] anerkennt die Gültigkeit rationaler Beweise und freier diskursiver Beweisführung mittels Demonstration. Das heisst, der Koran sagt nicht, dass ihr zuerst den Wahrheitsanspruch der Wissensgehalte des Islam anerkennen und dann erst rationale Beweisführung anwenden sollt, um
175 Vgl. Rudolph, 2004:36. 176 Ders., 1348:43. 177 Vgl. Wolfson, 1976:4. 178 Ṭabāṭabāʾī, 1348:52. 179 Arabisch (persisch) „takdīb (takzīb)“. 180 Arabisch (persisch) „taṣdīq“.
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die erwähnten Wissensgehalte aus dieser zu folgern. Vielmehr sagt der Koran in vollem Vertrauen auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit: ‚Wendet rationale Beweisführung an und gewinnt und akzeptiert die erwähnten Wissensgehalte als Folgerungen aus dieser […] und […] gewinnt Zustimmung und Glauben aus dem Ergebnis von Beweisen und verfahrt nicht etwa in der Weise, dass ihr zuerst glaubt und danach erst Beweise führt unter dem Vorbehalt, dass diese mit dem Glauben übereinstimmen‘.“¹⁸¹ Dass der Koran die Gewinnung von Zustimmung und Glauben mittels Verwendung rationaler Beweisführung, einschliesslich Demonstration, billigt, ja, empfiehlt, wie an dieser Stelle mit massivem Einsatz von Befehlsformen betont wird, bedeutet nun aber nicht, dass der Koran die Gewinnung von Zustimmung und Glauben ohne die Verwendung rationaler Beweisführung, einschliesslich Demonstration, missbilligen, ja, gar nicht als Glauben anerkennen würde. Denn auch die Religiosität derjenigen Menschen, von denen Ṭabāṭabāʾī sagt, dass von ihnen höchstens erwartet werden dürfe, „dass sie an die Anfangsgründe der Religion glauben und die praktischen Gebote des Islam in der Art tauben Stoffes ausführen“, Menschen also, die ihren Verstand weder in dialektischer noch gar in demonstrativer Beweisführung betätigen, bezeichnet die schiitische Lehre, wie Ṭabāṭabāʾīs Wortwahl an dieser Stelle verrät, ja ebenfalls als Glauben. Die Herzenshaltung eines Menschen, der die Lehren der Religion ohne Verwendung rationaler Beweisführung, geschweige denn Demonstration, akzeptiert, gilt für die Schia daher als Glaube, definiert als Zustimmung, und genauso gilt die Herzenshaltung eines Menschen, der die Lehren der Religion erst mittels Verwendung rationaler Beweisführung, einschliesslich Demonstration, akzeptiert, für die Schia als Glaube, ebenfalls definiert als Zustimmung. Nach der Glaubenslehre der Schia, wie Ṭabāṭabāʾī sie darlegt, bedeutet Glaube also sowohl Zustimmung zu Gehalten der Lehren der Religion ohne begründende Demonstration als auch Zustimmung zu den Gehalten derselben aufgrund von Demonstration; unter Glauben versteht die Schia sowohl Glauben aufgrund von Erkenntnis als auch blossen Glauben. Die Befehlsform an der eben zitierten Stelle aus Ṭabāṭabāʾī hat demnach nur den Sinn einer dringenden Empfehlung. In einer Hinsicht unterscheidet die schiitische Lehre aber doch zwischen blossem Glauben und Glauben aufgrund von Erkenntnis. Das wird schon daran deutlich, dass der Koran dem Menschen die letztere Art von Glauben gegenüber der ersteren laut Ṭabāṭabāʾī so dringend empfiehlt. Dies wiederum tut der Koran „in vollem Vertrauen auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“. Dann wäre es aber geradezu eine Art Kleingläubigkeit gegenüber Gottes Wort, wenn ein Mensch dieses wohl annähme, seine Gehalte aber, wenn überhaupt, so nur
181 Ṭabāṭabāʾī, 1348:42 f.
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dann einer Prüfung durch rationale Beweisführung zu unterziehen wagte, wenn ihm schon im voraus gewiss ist, dass deren Ergebnisse mit den Gehalten seines blossen Glaubens übereinstimmen. Das wäre ja gerade so, als würde er Gottes Wort nicht zutrauen, dass dessen Wahrheitsanspruch einer Überprüfung durch verstandesmässige Beweise und unabhängige diskursive Beweisführung mittels Demonstration standhalte! Der blosse Glaube erweist sich bei genauerem Hinsehen somit nicht gänzlich frei von Zweifel an der Wahrheit von Gottes Wort, und wenn er auch für das Seelenheil genügt, steht er dem Unglauben doch weniger fern als der Glaube mit begründender Erkenntnis, gewonnen aus dem Ergebnis dialektischer oder demonstrativer Beweise. Umgekehrt gesprochen, ist Glaube aufgrund von Erkenntnis weiter vom Unglauben entfernt. Damit handelt es sich beim Glauben im Sinne der Zustimmung zu Gehalten aufgrund dialektischer oder demonstrativer Beweise nach der schiitischen Lehre, wie Ṭabāṭabāʾī sie vertritt, um eine Herzenshaltung, die in den Augen Gottes mehr wert sein muss als blosser Glaube. Glaube mit begründender Erkenntnis ist demnach eine verdienstvollere Art von Glauben als blosser Glaube, und darin besteht für die Schia der Vorzug, den Erkenntnis gegenüber blossem Glauben ohne Erkenntnis, Glauben in der Art tauben Stoffes, aufweist. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass im Glaubensverständnis der Schia, wie aus Ṭabāṭabāʾīs Beschreibung des zweiten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam hervorgeht, Glaube sowohl Zustimmung zu Gehalten der Offenbarung ohne Begründung durch dialektische oder demonstrative Beweise als auch Zustimmung zu Gehalten der Offenbarung aufgrund dialektischer oder demonstrativer Beweise bedeutet. Die schiitische Lehre vertritt somit einen doppelten Glaubensbegriff, wobei Glaube im Sinne von Zustimmung zu Gehalten der Offenbarung aufgrund rationaler Beweisführung ihr als verdienstvoller gilt. Aufgrund dieses Glaubensbegriffes bilden Glaube und Erkenntnis, letztere verstanden als Ergebnis demonstrativer Beweise, in der Schia nicht zwei getrennte und daher auch nicht gegensätzliche, aber doch auch nicht deckungsgleiche Bereiche. Dass nun die Schia für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam ausser dem Weg des blossen Glaubens als einen zweiten Weg die Verwendung verstandesmässiger Beweise und unabhängiger diskursiver Beweisführung mittels Demonstration vorsieht, bedeutet, dass in ihrer Lehre die Gehalte von Gottes Offenbarung zum Gegenstand der Betätigungsfelder des menschlichen Verstandes, einschliesslich Philosophie, gemacht werden können, ja, gemacht werden sollen. In diesem Punkt mag die schiitische Lehre an die der Muʾtazilah erinnern, einer theologischen Strömung, die ihre Blüte im 8. und 9. Jahrhundert erlebte. Sie hatte die Dialektik, d. h. das raisonnierende Argumentieren Beweisführen und Schlussfolgern in Glaubensdingen, entwickelt und dabei auch Anleihen bei
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der Philosophie, mit der die Muslime zu jener Zeit bekannt zu werden begannen, gemacht.¹⁸² Mit der Muʿtazilah weist die Schia auch noch andere Übereinstimmungen auf, etwa die Bejahung der Willensfreiheit des Menschen und der zeitlichen Erschaffenheit des Koran, Lehrsätze, die von der Muʿtazilah aufgestellt worden waren und welche die Rechtsschulen der Sunnah verwerfen.¹⁸³ Tatsächlich fehlt es nicht an Anhaltspunkten in der Entwicklungsgeschichte der islamischen Glaubenslehre, welche Einflüsse der Muʿazilah auf die Schia nahelegen. So stand etwa der Versuch der ʿabbāsidischen Kalifen der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, die muʿtazilitische Lehre als Staatsdogma durchzusetzen, unter anderem im Zeichen des Bestrebens, die Schia wieder mit der islamischen Gesamtgemeinde zu versöhnen.¹⁸⁴ Die Anerkennung der muʿtazilitischen Lehre von der Erschaffenheit des Koran, und damit seiner Zugänglichkeit für die Betätigung des menschlichen Verstandes, schien dazu angetan, die Position der Verfechter eines ausschliesslich überlieferungswissenschaftlichen Verständnisses von Gottes Wort zu schwächen. Diese liessen allein den Wortlaut der koranischen Offenbarung und das Denken und Handeln der frommen Altvorderen als Grundlage für die Ordnung der islamischen Gemeinde gelten.¹⁸⁵ Zwischen dieser Position und derjenigen der Schia, für die ja ebenfalls nicht das Beispiel der frommen Altvorderen, sondern das der unfehlbaren Imame für das wahre Verständnis von Gottes Wort und dessen richtige Umsetzung in der Regelung der Verhältnisse der islamischen Gemeinschaft ausschlaggebend sind, sollte die Erhebung der muʿtazilitischen Lehre zum Staatsdogma vermitteln.¹⁸⁶ Die wichtigsten Kräfte, welche diese Integrationspolitik schliesslich vereitelten, gingen von der Sunnah, nicht von der Schia, aus. Unter der Sunnah blieb die muʿtazilitische Lehre fortan geächtet, nicht aber unter der Schia. Insofern konnte unter der Schia gar manches, was an Einflüssen aus der Muʿtazilah auch immer in sie eingegangen sein mag, fortwirken,¹⁸⁷ darunter eben auch Anleihen bei der Philosophie.¹⁸⁸ Nun steht ja aber die Tatsache, dass die schiitische Lehre die Beschäftigung des menschlichen Verstandes, einschliesslich der Philosophie mit dem ihr eigenen Erkenntnisverfahren des demonstrativen Beweises, mit Gottes Wort als einen zweiten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam zulässt, ja, empfiehlt, selbst wieder im Zusammenhang mit dem doppelten Glaubensbegriff
182 Vgl. Halm, 1988:63. 183 Vgl. Endress, 1982:66; Halm, 1988:63. 184 Vgl. Ders., 1982:54. 185 Vgl. Ders., 1982:62. 186 Ebda. 187 Vgl. Halm, 1988: 63. 188 Vgl. Ei(1), „Shīʿah“:380a.
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der Schia gemäss der Darstellung Ṭabāṭabāʾīs. Dieser doppelte Glaubensbegriff wiederum unterscheidet sich vom Verständnis von Glauben, das uns bei dem peripatetischen Philosophen Fārābī begegnet ist. Fārābī fasst in seinem Katalog der Wissenschaften in Anlehnung an die logischen Schriften des Aristoteles Glauben ja als eine „starke Annahme“ auf und weist ihn damit nicht der Erkenntnis in der engeren Bedeutung von wahrem und sicherem Urteil, sondern der Meinung zu. Ṭabāṭabāʾī nun versteht im Zeichen des doppelten Glaubensbegriffes unter Glauben Zustimmung zu den Lehren der Religion, und zwar sowohl ohne begründende Demonstration wie im Falle der Reisenden des ersten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam als auch mit begründender Demonstration wie im Falle der Reisenden des zweiten Weges, wobei der zweite Weg als überlegen und verdienstvoller gilt. Dabei mag Ṭabāṭabāʾīs Empfehlung der Zustimmung zu den Lehren der Religion mittels begründender Demonstration wiederum im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die Schia die Lehre von der Willensfreiheit des Menschen vertritt, denn Ṭabāṭabāʾī sagt in seiner Darstellung des zweiten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam über das Verfahren der diskursiven Beweisführung im Sinne der Demonstration ja sowohl, dass diese frei sei, als auch, dass es sich bei der Demonstration um einen Beweis handle, dessen Aussagen Sätze seien, die der Mensch mit Hilfe seiner gottgegebenen Fähigkeit des Verstehens notwendig begreift und als wahr anerkennt, so wie wir „Drei ist kleiner als vier“ wissen.¹⁸⁹ Die Notwendigkeit des Begreifens von Grundsätzen, von der Ṭabāṭabāʾī hier spricht, kann nicht als eine Einschränkung der Willensfreiheit des Menschen etwa im Sinne eines äusseren Zwanges gemeint sein, sondern vielmehr versteht der Gelehrte darunter wohl eine Denknotwendigkeit, die sich zwingend aus der Folgerichtigkeit des demonstrativen Beweises ergibt. Denn die Grundsätze, die der Mensch notwendig begreift und als wahr anerkennt, bilden die Grundlage für die Demonstration, und diese erwähnt Ṭabāṭabāʾī ja als ein Mittel der diskursiven Beweisführung, die er ihrerseits wieder als eine freie beschreibt. Ebenso sagt Ṭabāṭabāʾī, dass die Fähigkeit des Verstehens, mit deren Hilfe der Mensch die Grundsätze der freien diskursiven Beweisführung mittels Demonstration begreife, eine Gabe Gottes an ihn sei. Wenn aber das Beweisverfahren, zu dem diese Gabe Gottes den Menschen befähigt, ein freies ist, so muss diese selbe Freiheit auch der Fähigkeit des Menschen zukommen, dessen Grundsätze zu verstehen. Und da Ṭabāṭabāʾī diese Fähigkeit des Verstehens im Menschen eine Gabe Gottes nennt, so muss für ihn auch die Freiheit, welche dieser Fähigkeit des Verstehens im Menschen zukommt, eine Gabe Gottes an den Menschen sein. Die Zustimmung zu den Erkenntnissen, welche die
189 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:57.
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freie diskursive Beweisführung mittels Demonstration erbringt, geschieht nach Ṭabāṭabāʾī also als ein Akt des freien Willens, verstanden als eine Gabe Gottes an den Menschen. Ferner geht aus Ṭabāṭabāʾīs anschliessenden Ausführungen hervor, dass die Freiheit, die er der Demonstration zuspricht, bedeutet, dass die Anerkennung des Wahrheitsanspruches der Demonstration nicht wie im Falle des dialektischen Beweises an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen, etwa einer religiösen Gemeinschaft wie den Muslimen, gebunden sei.¹⁹⁰ Wie Ṭabāṭabāʾī an anderer Stelle unter Berufung auf den Koran empfiehlt, soll der Mensch ja auch seine Zugehörigkeit zum Islam, d. h. seine Zustimmung zu den Gehalten der islamischen Offenbarung, von der Zustimmung zu den Ergebnissen der Demonstration abhängig machen.¹⁹¹ Sowohl die Demonstration als ein freies Beweisverfahren wie auch die Zustimmung zu derselben im Sinne eines Aktes des freien Willens sind frei. Dann geschieht aber auch die Zugehörigkeit zum Islam, d. h. die Zustimmung zu den Gehalten der islamischen Offenbarung, die von der Zustimmung zu den Ergebnissen der Demonstration abhängen soll, als ein Akt der Freiheit. Wenn sich den Bemerkungen Ṭabāṭabāʾīs an der einen Stelle¹⁹² also entnehmen lässt, dass die Freiheit der Demonstration bedeutet, dass die Anerkennung ihres Wahrheitsanspruches nicht wie im Falle des dialektischen Beweises an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen gebunden sei, und an anderer Stelle¹⁹³ aus seinen Ausführungen hervorgeht, dass die Freiheit der Demonstration bedeutet, dass die Zustimmung des Menschen zu ihren Erkenntnissen ein Akt des freien Willens sei, so ist mit dem Begriff Freiheit an beiden Stellen ein und dasselbe gemeint. Die Wanderer des zweiten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam unterscheiden sich somit von den Reisenden des ersten Weges unter anderem in der Hinsicht, dass ihr Glaube, verstanden als Zustimmung zu den Lehren der Religion, auf diskursiver Beweisführung im Sinne der Demonstration und damit auf Freiheit gründet, während er im Falle der letzteren Gruppe nicht auf Demonstration und damit auch nicht auf Freiheit gründet, sondern, wie in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung des ersten Weges erwähnt, auf Furcht.
2.3.2.3 Der dritte Weg Neben dem ersten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, dem Wortlaut des Koran, und dem zweiten Weg, der in verstandesmässigen Beweisen 190 Ders., 1348:58. 191 Ders., 1348:42 f. 192 Ders., 1348:58. 193 Ders., 1348:42 f.
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sowie in freier diskursiver Beweisführung mittels Demonstration besteht, spricht Ṭabāṭabāʾī schliesslich von einem dritten Weg. In der Überschrift des betreffenden Kapitels in seiner Darstellung der schiitischen Glaubenslehre bezeichnet er diesen mit einem Ausdruck¹⁹⁴, der sich auf Deutsch mit Enthüllung wiedergeben liesse. Daneben findet sich bei Ṭabāṭabāʾī für den dritten Weg aber eine ganze Reihe gleichsinniger Benennungen. Dieser dritte Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam geht von einer Unterscheidung zwischen einem äusseren und einem inneren, esoterischen oder tieferen¹⁹⁵ Sinn von Gottes Wort aus. Über diese Unterscheidung sagt Ṭabāṭabāʾī: „Wie wir eingesehen haben, macht der Heilige Koran mit seinem Wortlaut die religiösen Gehalte deutlich und gibt den Menschen Gebote betreffend Glaubenslehre und Praxis. Aber die Gehalte des Koran sind nicht allein auf diese Ebene beschränkt, sondern im Schosse derselben wörtlichen Aussagen und in der Tiefe derselben Gehalte liegen eine spirituelle Ebene und tiefere und umfassendere Gehalte, welche [nur] die Besonderen mit ihren reinen Herzen verstehen können.“¹⁹⁶ Mit dem Wortlaut des Koran an dieser Stelle ist der äussere Sinn von Gottes Wort gemeint, die Ebene also, auf die sich der erste Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam bezieht. Wie aus Ṭabāṭabāʾīs Erklärung hervorgeht, genügt dieser erste Weg jedoch nicht für das Begreifen des tieferen Sinnes von Gottes Wort. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, denn, wie der Gelehrte ja ebenfalls klar macht, genügt der erste Weg einzig für den Glauben an die Anfangsgründe der Religion, die Ausführung der praktischen Gebote des Islam in der Art tauben Stoffes und die Verehrung Gottes in der Hoffnung auf Lohn oder aus Furcht vor Strafe im Jenseits. Andererseits bezeichnet Ṭabāṭabāʾī aber auch die Herzenshaltung eines Menschen, der über den ersten Weg nicht hinauskommt, als Glauben und damit als eine Gesinnung vor Gott, die zur Erlangung des Seelenheils ausreicht. So unvollkommen der erste Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam gegenüber den anderen beiden daher auch immer sein mag, er kann nicht schlechterdings ein Irrweg sein, denn immerhin führt er zu Glauben, wie rudimentär auch immer, und nicht zu Unglauben. Folglich mag das, was ein Gläubiger des ersten Weges an Gehalten des Islam begreift, noch so tief unter dem stehen, was die Gläubigen auf den beiden anderen Wegen begreifen, es kann dazu aber nicht im Widerspruch stehen. Ṭabāṭabāʾī legt denn auch Wert darauf, klarzustellen, dass „der tiefere Sinn des Koran seinen äusseren Sinn nicht ungültig macht und aufhebt.“¹⁹⁷ Diese Äusserung mag der 194 „kašf“: Ṭabāṭabāʾī, 1348:63. 195 „bāṭin/bāṭen“: Ders., 1348:47 ff. 196 Ṭabāṭabāʾī, 1348:47 f. 197 Ders., 1348:49 f.
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Gelehrte in der Absicht getan haben, die Zwölfer-Schia, deren Lehre er darstellt, von anderen Strömungen unter der schiitischen Gesamtgemeinde abzugrenzen, die in der Tat den Unterschied zwischen äusserem und innerem Sinn der göttlichen Offenbarung so verstehen, dass der letztere dem ersteren widerspreche und diesen aufheben könne.¹⁹⁸ Diese Richtungen oder jedenfalls einige davon werden von ihren Gegnern unter den Muslimen oft unter dem Schlagwort „Esoteriker“¹⁹⁹ zusammengefasst²⁰⁰, andere als Übertreiber²⁰¹ bezeichnet. In religionswissenschaftlichen Darstellungen werden alle oder manche von ihnen der Gnosis zugerechnet.²⁰² Und weil zum äusseren Sinn der Offenbarung, den nach der Lehre der „Esoteriker“ der innere Sinn aufheben kann, auch die Gebote hinsichtlich der Praxis, das Religionsgesetz also, gehören, so entbindet nach ihrer Lehre die Erkenntnis des inneren Sinnes der Offenbarung den Erkennenden auch vom Religionsgesetz – eine Auffassung, die als Antinomismus²⁰³ bekannt ist. Ṭabāṭabāʾī jedoch macht mit seiner Bemerkung deutlich, dass die Zwölfer-Schia den Unterschied zwischen äusserem und tieferem Sinn von Gottes Wort nicht im Sinne eines Widerspruches oder Gegensatzes versteht. Wieder gilt also: Mit welchem Recht und in welcher Weise auch immer wir die Zwölfer-Schia als gnostisch bezeichnen dürfen, der Unterschied zwischen Erkenntnis im Sinne von Gnosis und Glauben nach der Art des ersten Weges bedeutet für sie nicht Widerspruch oder Gegensatz, ebenso wenig, wie sie lehrt, dass Erkenntnis im Sinne von Gnosis den Menschen sicher errette und Glaube ohne Erkenntnis im Sinne von Gnosis ihn nicht sicher errette. So wenig, wie der erste Weg, zu dem das Religionsgesetz gehört, dem zweiten und dem dritten Weg widerspricht, sondern bloss an Erkenntnistiefe hinter diesen beiden zurückbleibt, weichen der zweite Weg, zu dem diskursive Beweisführung, ein Merkmal der peripatetischen Philosophie, gehört und der dritte Weg, der in Enthüllung besteht, von dem ersten Weg ab, sondern gehen vielmehr über diesen hinaus. Im Unterschied zum zweiten und dritten Weg ist der erste Weg, der im Wortlaut des Koran einschliesslich der religionsgesetzlichen Bestimmungen besteht, laut Ṭabāṭabāʾī „ein Weg, mit dessen Beschreiten man sowohl auf die Grundlagen als auch auf die Einzelbestimmungen der Wissensgehalte des Islam kommen und die Gegenstände der Glaubenslehre und Praxis der Verkündigung (die grundlegenden Kenntnisse und moralischen Satzungen)
198 Vgl. Halm, 1988:186 ff. 199 „bāṭiniyyah“: Vgl. Halm, 1988:202 ff.; Ṭabāṭabāʾī, 1348:65. 200 Vgl. etwa Ġazālīs Streitschrift „Al-radd ʿalā al-bāṭiniyyah“. 201 „ġulāt“: Vgl. Halm, 1988:186 ff. 202 Vgl. Halm, 1988:186 ff. 203 „ibāḥiyyah“: Vgl. Halm, 1988:186 ff.
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erlangen kann […].“²⁰⁴ Die Bestimmungen des Religionsgesetzes lassen sich nach Ṭabāṭabāʾī also nur auf dem ersten Weg erfahren. Der Grund, weshalb dies auf dem zweiten Weg, zu dem ja die Beweisverfahren der peripatetischen Philosophie gehören, nicht möglich ist, ist für Ṭabāṭabāʾī der folgende: „Auf dem Weg des Verstandes kann man zwar die Lösung der Probleme der Glaubenslehre und der Moral sowie die allgemeinen Begriffe der praktischen Fragen (der Einzelbestimmungen der Religion) erhalten. Angesichts der Tatsache aber, dass die speziellen Belange derselben nicht im Bereich des Verstandes liegen, befinden sie sich ausserhalb seines Wirkungsfeldes.“²⁰⁵ Die Erkenntnisse der Philosophie, die zum Weg des Verstandes gehört, beziehen sich eben nur auf das Allgemeine, etwa den Beweis, dass Gott existiert oder dass Beten gut ist. Auf religionsgesetzliche Einzelfragen wie die aber, wie viele Male am Tag ein Muslim beten oder warum er gerade nach Mekka pilgern solle, gibt die Philosophie keine Auskunft. Auch die Wanderer des zweiten Weges aber unterstehen dem Religionsgesetz, und für die Kenntnis von dessen Einzelbestimmungen haben daher auch sie den ersten Weg, in dem diese enthalten sind, nötig. Auch der dritte Weg, der Weg der Enthüllung, erbringt auf solche Fragen keine Antwort, denn „[…] weil dessen Ergebnis das offenbar Werden der Wahrheiten ist und es sich bei ihm um eine gottgegebene Erkenntnis handelt, kann man bezüglich des Ergebnisses desselben und der Wahrheiten, die dank dieser göttlichen Gabe offenbart und geschaut werden, keine Bestimmung vornehmen oder ein Mass festsetzen.“²⁰⁶ Auf dem Weg der Enthüllung „[…] stehen die Menschen unter der unmittelbaren Vormundschaft und Obhut Gottes, und [nur] was Er will (nicht, was sie selbst wollen), wird ihnen erschaubar.“²⁰⁷ Weil es im Falle des dritten Weges also letztlich bei Gott steht, ob dem Menschen überhaupt Erkenntnis zuteil wird und, wenn ja, worüber, so bietet der dritte Weg dem Menschen keine Gewähr, dass er die nötigen Kenntnisse über das Religionsgesetz erlangt. Denn auch diese würden auf dem dritten Weg ja nur kommen, wenn Gott diese gewährt, aber der Mensch, auch ein Reisender des dritten Weges, untersteht auch dann dem Religionsgesetz, wenn Gott sie nicht gewährt, denn der dritte Weg steht nach zwölfer-schiitischer Lehre zum ersten Weg und damit auch zum Religionsgesetz nicht in Widerspruch. Daher haben für die Kenntnis von dessen Einzelbestimmungen auch die Wanderer des dritten Weges den ersten Weg, in dem diese enthalten sind, nötig. Der erste Weg ist für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem zweiten und dem dritten
204 Ṭabāṭabāʾī, 1348:44 f. 205 Ders., 1348:45. 206 Ebda. 207 Ebda.
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Weg daher eine notwendige, aber, da er diesen an Erkenntnistiefe nachsteht, keine hinlängliche Voraussetzung. Umgekehrt, so liesse sich anfügen, sind der zweite und der dritte Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem ersten Weg, der das Religionsgesetz enthält, aber nicht nötig. Für die Erkenntnis und Anwendung der praxisrelevanten Teile des Religionsgesetzes, so mag es scheinen, bedürfte es daher auch keiner Personen, die Gott mit besonderer Erkenntnis etwa nach der Art des dritten Weges begnadet hätte, wie der unfehlbaren Imame. Dieser Zusammenhang ist für das Staatsdenken in der Schia von Belang. Deren Lehre besagt nämlich, dass von den zwölf Imamen aus den Nachfahren des ʿAlī b. Abī Ṭālib (st. 661), des Vetters und Schwiegersohnes des Propheten, die sie als einzige als von Gott bevollmächtigte Herrscher über die Gemeinschaft der Muslime anerkennt, der zwölfte und letzte in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in die Verborgenheit entrückt worden ist und seither als unfehlbarer Ratgeber in irdischen und geistlichen Angelegenheiten nicht länger zugänglich ist. Sein Wiedererscheinen wird nach schiitischem Glauben das Ende der Zeiten anzeigen und ein Reich der Gerechtigkeit heraufführen.²⁰⁸ Bis dahin liegt die Leitung der schiitischen Gemeinde in den Händen ihrer führenden Gelehrten, für deren höchste Vertreter in neuerer Zeit die Ehrenbezeichnung Āyatollāh – „Zeichen Gottes“ – üblich geworden ist.²⁰⁹ Diese beanspruchen für ihre Lehren und Weisungen zwar Massgeblichkeit, aber eben nicht Unfehlbarkeit, und auch wo ihre Stellung politische Bedeutung hat, versteht sie sich nicht als Herrschaft des Imams. Die Heilsgeschichte wird sich im Glauben der Schia, wie er sich im Laufe der zwei Jahrhunderte nach der Entrückung des zwölften Imams herausgebildet hat, nicht in der Geschichte, in der Zeit, erfüllen. Bis zur Wiederkunft des Imams haben sich die schiitischen Gläubigen mit den mehr oder weniger unheilvollen Verhältnissen im Diesseits, so gut es geht, abzufinden. Die Vollendung der Heilsgeschichte, verbunden mit der Rückkehr des verborgenen Imams, wird in der Schia zum Gegenstand einer Endzeiterwartung und damit eigentlich ins Überzeitliche, Übergeschichtliche, verwiesen.²¹⁰ Wenn es nun aber für die Erkenntnis und Anwendung der praxisrelevanten Teile des Religionsgesetzes keiner Personen bedürfte, die Gott mit besonderer Erkenntnis etwa nach der Art des dritten Weges begnadet hätte, wie der unfehlbaren Imame, dann könnte auch in Abwesenheit des verborgenen zwölften Imams das endzeitliche Gnadenreich, das seine Wiederkunft heraufführen wird, jedenfalls in den praktischen Bereichen Gesetzgebung und Staatsordnung, bereits im Hier und Jetzt zumindest vorbereitet werden. Und welche Personen wären in Abwesenheit des 208 Vgl. Endress, 1982:55. 209 Vgl. ebda.; Halm, 1988:159, Anm.245. 210 Vgl. Endress, 1982:54, 55.
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verborgenen Imams für diese Aufgabe besser geeignet als die führenden schiitischen Gelehrten? In der Tat bilden solche Überlegungen einen der Leitgedanken des Āyatollāh Khomeini bei der Planung und Errichtung der Islamischen Republik Iran.²¹¹ Jedenfalls ist es der Anspruch dieses 1979 ausgerufenen Staatswesens, die Vollendung der Heilsgeschichte schon in der Zeit, so gut es eben möglich ist, vorzubereiten – andere sagen: vorwegzunehmen.²¹² Was nun den Begriff des inneren oder tieferen Sinnes des Koran betrifft, dem wir in der Beschreibung des dritten Weges begegnet sind, so verwendet Ṭabāṭabāʾī dafür neben dem Ausdruck, den wir im Deutschen ausser mit den beiden erwähnten Übertragungen als „Tiefe“ wiedergegeben haben, noch einen anderen Ausdruck²¹³, den wir mit „Allegorie“ übersetzen können. Tatsächlich kann letzterer Begriff aber in derselben Bedeutung wie derjenige, den wir unter anderem mit „Tiefe“ wiedergegeben haben, vorkommen. Bei Ṭabāṭabāʾī lässt sich diese Gleichsetzbarkeit der beiden Begriffe an der Fortsetzung seiner weiter oben angeführten Bemerkung, dass der tiefere Sinn des Koran dessen äusseren Sinn weder ungültig mache noch aufhebe,²¹⁴ erweisen. Mit dieser Bemerkung versucht Ṭabāṭabāʾī ja dem Missverständnis vorzubeugen, dass es sich bei dem Unterschied zwischen innerem und äusserem Sinn des Koran um einen Gegensatz oder Widerspruch handle. Und er schickt gleich die Erklärung nach, was denn nach seiner Lehre das richtige Verständnis dieses Unterschiedes sei, indem er beifügt, dass der innere Sinn, die „Tiefe“, des Koran „gleichsam der Geist ist, der seinem Körper Leben verleiht.“²¹⁵ Bei diesem Vergleich nun, in welchem der Ausdruck Geist für den inneren und der Ausdruck Körper für den äusseren Sinn der Offenbarung, das Religionsgesetz, stehen, handelt es sich nicht um eine Neuschöpfung des Gelehrten Ṭabāṭabāʾī oder überhaupt der islamischen Schia. Wir finden ihn in der Geschichte der Religionen bereits belegt bei dem jüdisch-hellenistischen Denker Philon von Alexandria. Und auch Philon wollte mit diesem Vergleich zum einen die Art des Unterschiedes zwischen innerem und äusserem Sinn der Offenbarung erklären, zugleich aber klarstellen, dass dieser Unterschied nicht als Gegensatz oder Widerspruch aufzufassen sei.²¹⁶ Ebenfalls bei Philon finden wir aber die Verwendung der Allegorie als eines Deutungsverfahrens für Offenbarungsaussagen. Nun tritt der Ausdruck Allegorie bei Philon, genau genommen, in einer doppelten Bedeutung auf: Zum einen bezeichnet er
211 Khomeini, 1360:62 ff. 212 Vgl. Halm, 1988:164. 213 „taʾwīl“. 214 Ṭabāṭabāʾī, 1348:49 f. 215 Ders., 1348:50. 216 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:67.
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das Verfahren der allegorischen Interpretation, das Allegorisieren²¹⁷ oder die Allegorese also, und zum anderen bedeutet er dasselbe wie der innere, tiefere Sinn selbst, den die allegorische Interpretation erschliesst, d. h. das Ergebnis der Allegorese.²¹⁸ Die Ausdrücke „Allegorie“ und „tieferer Sinn“ können daher ein und dasselbe heissen. Und auch bei Ṭabāṭabāʾī kommen Stellen vor, an denen der Begriff, den wir mit Allegorie übersetzen können, in der Bedeutung des tieferen Sinnes der Offenbarung erscheint, etwa wo er sagt: „Ja, der ganze Koran enthält Allegorie“²¹⁹ – gemeint ist „einen tieferen Sinn“ – oder wo er unter Berufung auf den Koran vom Jüngsten Tag als dem Tag spricht, „da die Allegorie des Koran (des ganzen Koran)“ – „der tiefere Sinn des Koran“ eben – „erschaubar wird.“²²⁰ Zugleich stellt es dasjenige Verfahren dar, mit dem der innere Sinn des Koran zu enthüllen, mit anderen Worten: die Wissensgehalte des Koran auf dem dritten Weg zu begreifen sind. Genauso nämlich, wie der erste Weg, der sich auf das Religionsgesetz und damit auf die Praxis bezieht, für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem zweiten und dem dritten Weg unzulänglich ist, so ist Ṭabāṭabāʾīs Darstellung zufolge der zweite Weg, der die peripatetische Philosophie beinhaltet, seinerseits für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg, dem Weg der Enthüllung und Offenbarung, unzulänglich. So bemerkt Ṭabāṭabāʾī an einer Stelle seiner Ausführungen über den dritten Weg, dass der tiefere Sinn des Koran „unmittelbar auf dem Wege des Denkens²²¹ nicht begreifbar ist.“²²² Andernorts in seinen Ausführungen über denselben Gegenstand sagt er über Wirklichkeiten, die bei der Enthüllung des tieferen Sinnes des Koran geschaut würden, dass „solche Dinge auf dem Wege des sprachlichen Ausdrucks und des gewöhnlichen Denkens²²³ nicht verständlich zu machen und zu begreifen sein werden […].“²²⁴ Ferner kommentiert Ṭabāṭabāʾī die Koranstelle: „Wir haben dieses Buch in einem lesbaren Wortlaut in arabischer Sprache verfasst, vielleicht, dass ihr es bedenkt und versteht. Und fürwahr, es ist in dem Zustand, in dem es in der Urschrift bei Uns ist, erhaben und deutlich“²²⁵ mit den Worten: „Das gewöhnliche Verstehen erreicht es nicht und dringt nicht in es ein.“²²⁶ Dieses Koranzitat 217 Griechisch „ἀλληγορεῖν“. 218 Wolfson, 1947, vol.I:115. 219 Ṭabāṭabāʾī, 1348:51. 220 Ders., 1348:52. 221 „tafakkur/tafakkor“. 222 Ṭabāṭabāʾī, 1348:51. 223 „tafakkur ʿādī/tafakkor-e ʿāddī“. 224 Ṭabāṭabāʾī, 1348:52. 225 Koran:43/3, 4 (zitiert nach Ṭabāṭabāʾīs Übersetzung ins Persische an der Stelle). 226 Ṭabāṭabāʾī, 1348:52.
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sowie den Vers: „Fürwahr, dies Buch ist ein ehrwürdiger Koran, niedergelegt in einem Buch, das vor den gewöhnlichen Blicken verborgen ist, niemand kann es berühren […]“²²⁷ führt er als Zeugnis dafür an, dass „[…] der Heilige Koran auf einer Ebene entspringt, die zu erreichen und zu der vorzudringen das Verstehen der Menschen nicht ausreicht […].“²²⁸ Wieder an einer anderen Stelle, an der er den dritten Weg beschreibt, lesen wir, dass der dritte Weg „ein Weg für das Begreifen der Wahrheiten der Religion ist, der sich von dem Wege des Wortsinnes der Aussagen der religiösen Grundlagentexte sowie dem Wege des rationalen Denkens²²⁹ unterscheidet.“²³⁰ Und schliesslich finden wir die Bemerkung, dass das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg „nicht mittels Augen, Ohren und der anderen Sinne oder mittels der Vorstellung oder des Verstandes²³¹ erfolgt […].“²³² Der Ausdruck „Verstand“ in dem letzten Zitat ist aber Ṭabāṭabāʾīs Kurzbezeichnung für den zweiten Weg überhaupt.²³³ Diesen Ausdruck könnten wir nun an die Stelle der in den übrigen Zitaten verwendeten Ausdrücke „Denken“, „gewöhnliches Denken“, „rationales Denken“, „gewöhnliches Verstehen“ und „Verstehen der Menschen“ setzen, ohne dass sich dadurch eine Änderung im Sinn ergäbe: Für „Denken“, „gewöhnliches Denken“, „rationales Denken“, „gewöhnliches Verstehen“ und „Verstehen der Menschen“ gilt ebenso wie für „Verstand“, dass sie vor dem Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg versagen. Sie sind also alle mit dem Ausdruck „Verstand“, Ṭabāṭabāʾīs Kurzangabe des zweiten Weges, gleichbedeutend und somit gleichsinnige Bezeichnungen für den zweiten Weg. Der zweite Weg, einschliesslich der Verfahren der peripatetischen Philosophie, ist folglich keine hinlängliche Voraussetzung für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg, und nun mag die Frage reizen, ob der zweite Weg, wenn schon keine hinlängliche, so doch eine notwendige Voraussetzung für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg ist oder ob er dafür weder eine hinlängliche noch eine notwendige Voraussetzung ist. Dieser Frage wird in der Folge ebenfalls noch nachzugehen sein. Von allen Erkenntnismethoden, auf die Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung des ersten, des zweiten und des dritten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam zu sprechen kommt, genügt einzig die Allegorie, das Verfahren des
227 Koran:56/79; zitiert nach Ṭabāṭabāʾīs Übersetzung ins Persische an der Stelle. 228 Ṭabāṭabāʾī, 1348:52. 229 „tafakkur ʿaqlī/tafakkor-eʿaqlī“. 230 Ṭabāṭabāʾī, 1348:64. 231 „ʿaql“. 232 Ṭabāṭabāʾī, 1348:66. 233 Vgl. Ders., 1348:44.
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dritten Weges, des Weges der Enthüllung, für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg, indem allein sie den inneren, tieferen Sinn der Offenbarung erschliesst. In ihrer Anerkennung der Allegorie als eines Verfahrens zur Gewinnung von Erkenntnis unterscheidet sich die Schia von vielen für die Salafiyyah wichtigen Strömungen des sunnitischen Islam. In ihrem Verständnis von Allegorie unterscheidet sich die Schia aber auch von der Auffassung von Allegorie, die wir bei der Erörterung von Fārābīs Entwurf vom Verhältnis der verschiedenen Erkenntnisarten zueinander erwähnt haben. Der Peripatetiker Fārābī versteht den Wortlaut der Offenbarung als den allegorischen Ausdruck der Lehren der peripatetischen Philosophie, der mit Hilfe rhetorischer und poetischer Gleichnisse, auf der Stufe des rhetorischen und poetischen Schlusses also, von derselben Wahrheit kündet, welche die peripatetische Lehre mit Hilfe des demonstrativen Schlusses beweist. Nach diesem Verständnis von Allegorie liegt der allegorische Ausdruck selbst daher in der Offenbarung, das aber, dessen allegorischer Ausdruck er ist, liegt ausserhalb der Offenbarung, nämlich in den Aussagen, im „Text“, der Lehren der peripatetischen Philosophie. Diesen allein kommt auch Erkenntniswert im eigentlichen, vollen Sinne zu, während Offenbarung und Religion höchstens den Bereich des diskursiven, mehr aber noch des rhetorischen und poetischen Schlusses darstellen und daher nicht das Gebiet sein können, um Wahrheiten zu ergründen oder gar zu beweisen.²³⁴ Erkenntnis liegt nach Fārābīs peripatetischer Wissenschaftslehre und der dazu gehörigen Auffassung von Allegorie also nicht in der Offenbarung. Demgegenüber liegt nach dem Verständnis von Allegorie, wie wir es bei Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung der Glaubenslehre der Schia finden, beides: sowohl der allegorische Ausdruck als auch das, dessen allegorischer Ausdruck er ist, in der Offenbarung. Denn entweder meint Allegorie bei ihm den tieferen Sinn des Koran selbst oder das Deutungsverfahren, das diesen erschliesst. In jedem Fall liegt Erkenntnis in der eigentlichen, vollen Bedeutung nicht ausserhalb der Offenbarung, sondern in dieser selbst, nämlich in ihrem tieferen Sinn, den die Allegorie, verstanden als Deutungsmethode, entweder ergibt oder der die Allegorie, verstanden als das Ergebnis dieser Deutungsmethode, selber ist. Vollkommene Erkenntnis beruht also entweder auf Allegorie oder ist überhaupt mit Allegorie gleichzusetzen. In was aber besteht sie, diese Erkenntnis, welche entweder auf Allegorie beruht oder selbst mit Allegorie gemeint ist? Auf das, was durch die Allegorie erkannt wird, kommt Ṭabāṭabāʾī an verschiedenen Stellen zu sprechen, und er benennt diese Erkenntnis mit einer ganzen Reihe von Ausdrücken. An einer
234 Vgl. Rudolph, 2004:33.
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dieser Stellen beschreibt er erst die Menschen, die überhaupt zur Erkenntnis des tieferen Sinnes der Offenbarung – was nichts anderes ist als Allegorie – fähig sind. Diese setzt er ab von denjenigen Menschen, die er an einer früher zitierten Stelle als Menschen beschreibt, „welche nichts als der Materie und dem kurzzeitigen materiellen Leben dieser vergänglichen Welt Eigentlichkeit zuschreiben, an nichts als an den materiellen Objekten des Begehrens hängen und nichts als Entbehrungen materieller Art fürchten.“²³⁵ Bei diesen letzteren handelt es sich um die Wanderer des ersten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam. Beide Gruppen aber, die Wanderer des ersten Weges genauso wie die zu Allegorie Fähigen, sind des rettenden Glaubens teilhaftig, nur dass der ersteren Schar aufgrund ihrer Verhaftung an die Materie und die physische Welt keine höhere Teilhabe an den Wissensgehalten des Islam zuzumuten ist als die Kenntnis der Anfangsgründe der Glaubenslehre und ihrer praktischen Gebote, so dass sie wenigstens aus Furcht vor Strafe im Jenseits gläubig ist. Ṭabāṭabāʾī schickt seiner Beschreibung dieser beiden Gruppen denn auch ein Gleichnis voraus, in welchem er die Wissensgehalte des Islam als himmlische Ausströmungen²³⁶, als Emanationen, bezeichnet, die dem Wasser des Regens gleich durch die Täler fliessen, und zwar durch jedes Tal immer nur soviel, wie dieses zu fassen vermag.²³⁷ Und wie das Fassungsvermögen der Täler für das Wasser des Regens von Tal zu Tal unterschiedlich ist, so ist auch das Fassungsvermögen des Menschen, was das Verstehen dieser himmlischen Wissensgehalte betrifft, von Mensch zu Mensch verschieden ausgeprägt,²³⁸ bei den Wanderern des ersten Weges geringer und am höchsten bei den Menschen, die zu Allegorie fähig sind. Letztere beschreibt Ṭabāṭabāʾī als Menschen, „die auf Grund der Lauterkeit ihrer Veranlagung ihr Glück nicht in der Verhaftung an die vergänglichen Genüsse und das kurzzeitige Leben dieser Welt sehen […].“²³⁹ „Diese […] betrachten die vielfältigen Erscheinungen dieser unbeständigen Welt als Zeichen und Hinweise und schreiben ihnen keinerlei Eigentlichkeit und Eigenständigkeit zu. Da […] werden ihre reinen Herzen sogleich von der Sehnsucht nach dem Begreifen der Geheimnisse²⁴⁰ der Schöpfung erfasst […].“²⁴¹ Bei dem, was in der Erkenntnis, die auf Allegorie beruht oder in ihr besteht, begriffen wird, handelt es sich also um Geheimnisse, „Mysterien“ – dies die
235 Ṭabāṭabāʾī, 1348:48. 236 „efāże-hā-ye āsemānī“. 237 Tabātabīʾī, 1348:48. 238 Ebda. 239 Ders., 1348:49. 240 „ramz-hā“. 241 Ṭabāṭabāʾī, 1348:49.
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beiden Ausdrücke im Deutschen, auf die wir bei der Wiedergabe einer weit grösseren Fülle sinngemässer Bezeichnungen in den Sprachen unserer Quellen, meist Arabisch oder Persisch, beschränkt sind.²⁴² Dass Allegorie, sei es als Verfahren zur Erlangung von Erkenntnis oder als Erkenntnis selbst, als Mysterium bezeichnet wird, lässt sich nicht ausschliesslich bei Tabābatāʾī oder überhaupt in der Glaubenslehre der Schia beobachten. Die Beschreibung, ja, Gleichsetzung von Allegorie mit Geheimnis begegnet uns ebenfalls bereits bei Philon²⁴³ und nach ihm bei verschiedenen Kirchenvätern,²⁴⁴ und von diesen aus wiederum mag sie ihren Weg in den Islam gefunden haben. Auffallend ist allemal die Ähnlichkeit der Begriffe für die Menschen, die in die Geheimnisse der Allegorie und der mit ihr verbundenen Erkenntnis eingeweiht sind, in den Schriften der Kirchenväter mit den Bezeichnungen für ebensolche Menschen in den islamischen Quellen. So finden sich in letzteren für einen solchen Eingeweihten Bezeichnungen wie „vollkommener Mensch“²⁴⁵, „vollkommener Mann“ oder „Mann“²⁴⁶ schlechthin, Ausdrücke, zu denen sich zum Teil wörtliche Entsprechungen bei den Kirchenvätern nachweisen lassen. Auch diese sprechen von solchen Eingeweihten als „den Vollkommenen“²⁴⁷, dem „vollkommenen Menschen“²⁴⁸ und dem „vollkommenen Mann“²⁴⁹. Und wie Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung der drei Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, so grenzen auch die Kirchenväter diese „Vollkommenen“ ab von den Menschen, die, unbegabt zur Einsicht in die Geheimnisse der Allegorie, „einfache Gläubige“²⁵⁰ oder, weil ihr Glaube aus Furcht, der Furcht vor dem Endgericht, herrührt, „die Furchtsamen“²⁵¹ genannt werden. Aus Ṭabāṭabāʾīs Ausführungen über den dritten Weg, von denen wir einige zitiert haben, erfahren wir auch etwas darüber, um was es sich bei den Geheimnissen handelt, die nur auf dem dritten Weg zu erkennen sind. An einer Stelle, auf die wir in anderem Zusammenhang bereits eingegangen sind, sagt Ṭabāṭabāʾī, dass der tiefere Sinn der Offenbarung, die Allegorie also, zu ihrem äusseren Sinn
242 Häufige Ausdrücke in arabischen Texten: „sirr, pl. asrār“, „ḫafiyyah, pl. ḫafāyā“, in persischen: „penhān“, „rāz“, „ramz“, „serr, pl. asrār“, „nehān“. 243 Vgl. Wolfson, 1947, vol. I:48 ff., 116; Ders., 1970:106 f. 244 Vgl. Ders., 1970:107. 245 „insān kāmil/ensān-e kāmel“: Vgl. Leaman, 1999:83 ff. 246 „mard“. 247 Griechisch „οἱ τέλειοι“: Vgl. Wolfson, 1970:107; Max. qu.Thal.10(M.90.288B) = cap.I.68(M.90.1205C). 248 Griechisch „τέλειος ἄνθρωπος“: Vgl. Mac.Aeg. hom.32.6(M.34.737C); Hipp. haer.5.8(p.93.4; M.16.3146B). 249 Griechisch „τέλειος ἀνήρ“: Vgl. Ath. Ar.3.22(M.26.368C–369A). 250 Griechisch „πιστεύοντες“: Vgl. Wolfson, 1970:107. 251 Griechisch „φοβούμενοι“: Vgl. Wolfson, 1970, 107; Max.qu.Thal.10(M.90.288B).
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im selben Verhältnis stehe wie der Geist zum Körper,²⁵² wir könnten auch sagen: zur Materie. Genauso aber, wie sich auf den tieferen Sinn der Offenbarung die Allegorie entweder bezieht, nämlich dann, wenn wir unter ihr ein Verfahren zur Erlangung von Erkenntnis verstehen, oder mit tieferem Sinn gleich die Allegorie selbst gemeint ist, wenn wir unter ihr nämlich jene tiefere Erkenntnis selbst verstehen, so bezieht sich auf den äusseren Sinn der Offenbarung das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem ersten Weg oder ist selbst damit gemeint. Der erste Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam wird von Ṭabāṭabāʾī ferner mit dem Weg derjenigen gleichgesetzt, welche nur der Materie Eigentlichkeit zuschreiben.²⁵³ Der Materie wiederum steht in Ṭabāṭabāʾīs Vergleich der Geist in demselben Verhältnis gegenüber wie dem äusseren Sinn der Offenbarung die Allegorie und die ihr eigene Erkenntnis. Die Erkenntnis im Sinne der Allegorie bezieht sich daher auf das Geistige, nur geistig Begreifbare, wenn sie nicht überhaupt mit diesem gleichzusetzen ist, und das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem ersten Weg auf das Materielle, sinnlich Begreifbare. Dann könnten wir Ṭabāṭabāʾīs Verhältnisgleichung zwischen Geist und Materie auf der einen und dem äusseren Sinn und Allegorie auf der anderen Seite auch anders formulieren, nämlich: Der Materie steht das Geistige in demselben Verhältnis gegenüber wie dem ersten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam der dritte Weg, d. h. die Allegorie und die ihr eigene Erkenntnis. Aber Ṭabāṭabāʾī erklärt ja nicht nur den ersten Weg als ungenügend für die Erkenntnis im Sinne der Allegorie, sondern ebenso den zweiten, und Ṭabāṭabāʾī begründet auch, warum der zweite Weg, wenn auch nicht in demselben Masse und aus denselben Gründen wie der erste, für das Begreifen der Wissensgehalte auf dem Weg der Allegorie nicht taugt. Beim zweiten Weg nun handelt es sich für Ṭabāṭabāʾī ja um rationale Beweise und freie diskursive Beweisführung mittels Demonstration.²⁵⁴ Er schliesst damit genau das Verfahren ein, mit dessen Hilfe nach dem Verständnis der peripatetischen Philosophie allein Erkenntnis im eigentlichen Sinne zu erwerben ist. Es besteht in einem Gedankengang, aufgebaut aus einer logisch geregelten Reihung von Zwischenstufen, die verschiedene Bestimmungen von Begriffen darstellen. Diese Gedankenfolge und damit die von ihr nachvollzogene Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, werden sprachlich wiedergegeben, nämlich in einer Aussagenfolge, einem „Diskurs“ – „diskursiv“ eben. Sprache, diskursiv eingesetzt, ist nach peripatetischer Lehre also ein wahrheitsgetreuer Nachvollzug des Denkens und damit letztlich auch der Wirklichkeit, die das Denken seinerseits nachvollzieht. Genau diese Geltung aber, die Geltung 252 Ṭabāṭabāʾī, 1348:50. 253 Ders., 1348:48. 254 Ṭabāṭabāʾī, 1348:42.
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eines wahrheitsgetreuen Nachvollzugs der Wirklichkeit, kommt der Sprache nach Ṭabāṭabāʾī nicht zu, und zwar von ihrem Wesen her nicht, und deshalb auch dann nicht, wenn sie diskursiv eingesetzt wird. Denn „[…] wir wissen ja, dass es eben die materiellen Bedürfnisse des menschlichen Zusammenlebens sind, welche die Menschen dazu gebracht haben, zu sprechen, Begriffe zu prägen und sich sprachlicher Äusserungen zu bedienen. […] Also ist es bei der Prägung von Begriffen und der Benennung von Dingen um die Befriedigung eines materiellen Bedürfnisses gegangen, und es sind sprachliche Begriffe für die Dinge, Verhältnisse und Zustände gebildet worden, die materiell und im Bereich der Sinneserfahrung oder nahe dem Sinnlichen sind […].“²⁵⁵ Sprache, auch Sprache verwendet nach den Regeln diskursiven Denkens, kann nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī darstellt, kein getreuer Nachvollzug der Wirklichkeit sein, um die es beim Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg geht. Sprache und damit die diskursive Methode der peripatetischen Philosophie können sich auf diese Wirklichkeit wohl mittelbar beziehen, indem das diskursive Denken etwa vom sinnlich Wahrnehmbaren, d. h. Materiellen, z. B. dem Sichtbaren, auf das sinnlich nicht Wahrnehmbare, das Geistige also, schliesst. Weil ein solches Schliessen als Analogie bekannt ist und Analogie, selbst eine Art der Metapher, wiederum die Grundlage der Allegorie ist, könnten wir auch sagen, dass die diskursive Beweisführung höchstens in Form der Allegorie auf die Wirklichkeit, um die es beim dritten Weg geht, verweisen kann. Ṭabāṭabāʾī erklärt diese Beschränktheit des diskursiven Verfahrens und damit des zweiten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam gegenüber dem dritten Weg selbst anhand eines Beispiels, in dessen letztem Teil, einer Stelle, die wir bereits einmal zitiert haben, das Denken des zweiten Weges in der Bezeichnung „gewöhnliches Denken“ erwähnt wird: „Ausserdem sehen wir in den Fällen, in denen unserem Gegenüber einer der Sinne fehlt, dass wir, wenn wir von den Dingen sprechen, die mittels eben jenes fehlenden Sinnes wahrgenommen werden, eine Art Analogie und Metapher zu Hilfe nehmen. Wenn wir z. B. einem von Geburt an Blinden Licht und Farbe oder einem noch unreifen Kind die Freuden des Geschlechtsverkehrs beschreiben, vermitteln wir das, was wir meinen, indem wir uns einer Art von Vergleich und Metapher bedienen und ein passendes Beispiel anführen […]. Wenn wir also annehmen, dass in der Welt des Seins Wirklichkeiten existieren, die der Materie und der Befleckung durch die Materie enthoben sind (was ja auch der Fall ist), und dass unter den Menschen jedes Zeitalters nur einer oder eine verschwindend kleine Zahl fähig ist, diese zu begreifen und zu schauen, so werden solche Dinge auf dem Wege des sprachlichen Ausdrucks und des gewöhnlichen Denkens nicht
255 Ders., 1348:51.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
verständlich zu machen und zu begreifen sein, und es kann nur auf dem Wege von Analogie und Metapher auf sie verwiesen werden.“²⁵⁶ Immerhin kommt so dem zweiten Weg mit Hilfe von Gleichnissen wenigstens ein mittelbarer Zugang zu der Erkenntnis des dritten Weges, dem tieferen Sinn, zu, der dem ersten Weg gänzlich abgeht, und deshalb ist der zweite Weg für die Erkenntnis, um die es beim dritten Weg geht, nicht in demselben Masse und aus denselben Gründen untauglich wie der erste. In welch verschiedenem Masse und aus welch verschiedenen Gründen aber auch immer, untauglich für jene tiefere Erkenntnis, die dem dritten Weg eigen ist, sind erster und zweiter Weg allemal. Ausserdem ist der erste Weg ja eine zwar nicht hinreichende, aber doch nötige Voraussetzung für den zweiten Weg und daher in gewisser Weise in diesem inbegriffen. Nicht nur der erste, auch der zweite Weg ist dem dritten Weg gegenüber also nur äusserlich. In diesem Lichte können wir Ṭabāṭabāʾīs obige Verhältnisgleichung zwischen der Materie und dem Geistigen auf der einen und dem ersten Weg und dem dritten Weg auf der anderen Seite noch einmal anders formulieren, diesmal: Der Materie steht das Geistige, in Ṭabāṭabāʾīs Worten: die „Wirklichkeiten in der Welt des Seins, die der Materie enthoben sind“, in demselben Verhältnis gegenüber wie dem zweiten Weg – erster Weg inbegriffen – der dritte Weg, d. h. die Allegorie. Im folgenden wird es nun darum gehen, die Verhältnisgleichung, die in den vorigen Ausführungen in verschiedenen Formulierungen aufgestellt worden ist, gewissermassen auszurechnen. Was also „gibt“ das Verhältnis zwischen Materie und Geistigem, den nicht-materiellen Wirklichkeiten? Für die Lösung dieses Problems können uns wieder Ṭabāṭabāʾīs Bemerkungen über den dritten Weg weiterhelfen. Eine davon haben wir bereits angeführt; dort sagt der Gelehrte von den Menschen, die zur Erkenntnis des tieferen Sinnes fähig sind: „Diese betrachten die vielfältigen Erscheinungen dieser unbeständigen Welt als Zeichen und Hinweise.“²⁵⁷ Diese Bemerkung lässt sich im Lichte einer anderen Stelle betrachten, an der er bemerkt: „Gott der Allerhöchste […] beschreibt in vielen Versen der Offenbarung die Welt der Schöpfung und alles, was in ihr ist, […] als Zeichen, Anzeichen und Hinweise auf sich selbst“²⁵⁸, eine Bemerkung, an die er gleich eine Definition der eigentlichen Bedeutung des Begriffes Zeichen oder Hinweis anschliesst: „[…] Zeichen und Hinweise sind Zeichen und Hinweise in Anbetracht dessen, dass sie auf etwas anderes und nicht auf sich selbst hinweisen. Wenn jemand beispielsweise ein Rotlicht sieht, das als Gefahrensignal aufgestellt wird, und dadurch auf die Gefahr aufmerksam wird, so berücksichtigt er nur die Gefahr und achtet überhaupt nicht auf das Licht selbst, und wenn er über die Gestalt des 256 Ders., 1348:51 f. 257 Ders., 1348:49. 258 Ders., 1348:66.
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Lichtes, das Wesen des Glases oder dessen Farbe nachdenkt, hat er das Nachbild des Lichtes, des Glases oder der Farbe in seinem Denken, nicht aber den Begriff der Gefahr.“²⁵⁹ Der Stelle, auf die Ṭabāṭabāʾī diese Überlegung folgen lässt, ist zu entnehmen, dass die Welt der Schöpfung, die Materie also, zu Gott im Verhältnis von Zeichen und Hinweis steht. Dasselbe Verhältnis besteht aber auch zwischen Materie und dem Geistigen, den „Wirklichkeiten in der Welt des Seins, die der Materie enthoben sind“, denn Gott lässt sich auf keinen Fall als materiell, sondern nur als geistig begreifen. Das Materielle steht also zum Geistigen, einschliesslich Gottes, im Verhältnis von Zeichen und Hinweis, und in der Erkenntnis dieses Sachverhaltes besteht das Geheimnis der Allegorie, der tiefere Sinn, der durch sie, und nur durch sie, zu erschliessen ist, und der Wissensgehalt, der auf dem dritten Weg, dem Weg von Enthüllung und Offenbarung – oder wie auch sonst immer er bei Ṭabāṭabāʾī und anderen genannt wird –, begriffen wird – und nur auf diesem. Denn, wie Ṭabāṭabāʾī weiter ausführt, an einer Stelle, aus der wir ebenfalls bereits zitiert haben, geschieht das Begreifen auf dem dritten Weg „nicht mittels Augen, Ohren und der anderen Sinne“, d. h. auf dem ersten Weg, der sich auf das Materielle bezieht, „oder mittels der Vorstellung oder des Verstandes“, d. h. auf dem zweiten Weg, dem des diskursiven Denkens, und zwar „weil diese Mittel und ihre Leistung ihrerseits Zeichen und Hinweise sind […].“²⁶⁰ Der zweite Weg – erster Weg inbegriffen – steht also zum dritten Weg in demselben Verhältnis wie die Gehalte, auf die sich der zweite Weg bezieht, zu den Gehalten, die allein auf dem dritten Weg erkannt werden, nämlich ebenfalls im Verhältnis von Zeichen und Hinweis. Der zweite Weg und die Inhalte, auf die er führt, sind aus der Sicht derer, welche den tieferen Sinn und dessen Geheimnisse erkennen, bloss ein Zeichen und ein Hinweis für den dritten Weg. Hier mag man sich daran erinnert fühlen, dass ja auch die Wanderer des zweiten Weges, die Peripatetiker, den Wortlaut der Offenbarung, den Ṭabāṭabāʾī als den ersten Weg definiert, bloss als Zeichen, d. h. als gleichnishaften Ausdruck, für die Inhalte der peripatetischen Philosophie betrachten. Und so könnten wir anfügen: Das Verhältnis, in dem aus Sicht der Wanderer des dritten Weges der innere Sinn, den sie auch Allegorie nennen, zum zweiten Weg, einschliesslich peripatetischer Philosophie, steht, ist dasselbe wie das, in dem aus Sicht der Wanderer des zweiten Weges, so etwa der peripatetischen Philosophen, die Lehren der peripatetischen Philosophie zum Wortlaut der Offenbarung, die in ihrem Verständnis der allegorische Ausdruck der peripatetischen Lehren ist, stehen. Dass die Wanderer des dritten Weges die Wissensgehalte, die nur auf dem dritten Weg zu erkennen sind, überhaupt als Geheimnis bezeichnen, geschieht eigentlich nur aus Rücksicht auf 259 Ebda. 260 Ebda.
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die Perspektive der Wanderer des zweiten und des ersten Weges: Nur für diese letzteren stellen die Gehalte des dritten Weges, da mit den Mitteln ihrer Verfahren unerkennbar, Geheimnisse dar, nicht aber für die Wanderer des dritten Weges, denn dieser besteht ja gerade in Enthüllung und Offenbarung dieser Gehalte. Genauso wie es sich folglich aus Sicht der peripatetischen Philosophen bei den philosophisch Unbegabten und Ungebildeten um die Allgemeinheit, die „Gemeinen“, handelt, denen gegenüber sie die Elite, die „Besonderen“, darstellen, handelt es sich aus Sicht der Wanderer des dritten Weges bei den peripatetischen Philosophen, den Wanderern des zweiten Weges, und erst recht natürlich bei den Wanderern des ersten Weges, um die Allgemeinheit, die „Gemeinen“, denen gegenüber sie wiederum die Elite, die „Besonderen mit ihren reinen Herzen“²⁶¹ eben, darstellen. Sowohl aus der Sicht der Peripatetiker als auch der Wanderer des dritten Weges zählen zu den Gemeinen auf jeden Fall die einfachen Gläubigen, seien es nun Sunniten oder Schiiten, jene also, die gemäss Ṭabāṭabāʾīs Darstellung ganz dem Materiellen verhaftet sind und Gott nur aus Furcht verehren. Dementsprechend betrachten diese als eigentliche Erkenntnis die Sinneserfahrung. Dass zu den „Besonderen“, den zu demonstrativer Erkenntnis Begabten also, aus Sicht der Peripatetiker vor allem die Peripatetiker zählen, ist schon erwähnt worden. Sie betrachten als Erkenntnis im eigentlichen Sinne die diskursive Beweisführung mittels Demonstration. Die Vertreter des dritten Weges wiederum anerkennen eigentlich nur sich selbst als die Besonderen und rechnen die Peripatetiker als Wanderer des zweiten Weges im Verhältnis zu den Anhängern des ersten Weges wohl ebenfalls zu den Besonderen,²⁶² im Verhältnis zu ihrer eigenen Schar aber unter die Gemeinen. Für sie ist die Erkenntnis der Tiefen die Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Wer aber gehört alles zu den „Besonderen mit ihren reinen Herzen“, den Wanderern des dritten Weges also, die allein zur Erkenntnis des tieferen Sinnes, der Allegorie, begabt sind? Auch darauf finden wir bei Ṭabāṭabāʾī Antworten. Nach dessen Darstellung handelt es sich bei dem tieferen Sinn der Offenbarung um eine Ebene, „die zu erreichen und zu der vorzudringen das Verstehen der Menschen nicht ausreicht“²⁶³, und er fährt gleich fort mit den Worten „und niemandem kommt in diesem Bereich auch nur das geringste Mass an Begreifen zu ausser den Dienern, die Gott gereinigt hat, und zu diesen Reinen zählen die Angehörigen des Hauses des edelsten Propheten.“²⁶⁴ Auf jeden Fall also gehören zu diesen Besonderen der Prophet des Islam sowie die unfehlbaren Imame, in 261 Ders., 1348:48. 262 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:44. 263 Ṭabāṭabāʾī, 1348, 52. 264 Ebda.
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denen die Erkenntnis des tieferen Sinnes ohne eigenes Zutun, allein als Gnadengabe Gottes, gewissermassen existenziell angelegt ist. An einer anderen Stelle spricht Ṭabāṭabāʾī die Erkenntnis des tieferen Sinnes „allein den Propheten und den Reinen unter den Schützlingen Gottes, die von der Befleckung durch das Menschsein rein sind“²⁶⁵, zu. Unter den Personen, die er hier nennt, sind aber wiederum allein die Propheten existenziell mit dieser Erkenntnis begabt. Andererseits, so Ṭabāṭabāʾī ebenfalls, wird „der tiefere Sinn des Koran am Tage der Auferstehung für alle erschaubar werden.“²⁶⁶ Wenn wir einmal vom Geschehen am Tage der Auferstehung absehen und die Schar jener existenziell mit tieferer Erkenntnis Begabten von Ṭabāṭabāʾīs Aufzählungen abziehen, so bleiben von jenen „Besonderen mit ihren reinen Herzen“ die Menschen übrig, denen die tiefere Erkenntnis nicht existenziell, sondern nur unter der Voraussetzung eigenen Zutuns, einer Vorleistung ihrerseits, als Gnadengabe Gottes zuteil wird. Für diese Vorleistung ist eine Reihe von Ausdrücken üblich, von denen wir bei Ṭabāṭabāʾī etwa „Veredelung der Seele“²⁶⁷ und „Ergebenheit im Dienst an Gott“²⁶⁸ finden. Für die Menschen selbst, die durch die Veredelung der Seele dieser Gabe Gottes teilhaftig werden, sind ebenfalls verschiedene Bezeichnungen üblich. Eine dieser Bezeichnungen leitet sich von einer der Benennungen für die Erkenntnis her, mit der diese Menschen, wenn sie ihre Seele veredeln, von Gott beschenkt werden, jene exklusive Erkenntnis, deren Besonderheit in der Enthüllung des tieferen Sinnes, der „Tiefen“, von Gottes Wort liegt. Dass gewisse Personen und Gruppen sich unter Ausschluss der anderen Erkenntnis der Tiefen zuschreiben, lässt sich nicht erst im Islam beobachten. Verfechter solcher Erkenntnis machten sich auch in der Antike im Zuge der Entwicklung des Christentums bemerkbar.²⁶⁹ Aus dem griechischen Schrifttum jener Zeit stammen auch die Ausdrücke, die als Bezeichnung für diese exklusive Erkenntnis der Tiefen sowie diejenigen, die solche Erkenntnis beanspruchen, seither gebräuchlich sind, nämlich Gnosis bzw. Gnostiker.²⁷⁰ Zwar kann Gnosis im Sprachgebrauch des Griechischen auch einfach „Erkenntnis“ im allgemeinen heissen, hat aber zusätzlich die besondere Bedeutung von „Erkenntnis der Tiefen“ angenommen, und zwar deshalb, weil die Erkenntnis der Tiefen ihren Verfechtern als vollkommene Erkenntnis und deshalb als die Erkenntnis schlechthin gilt. Die eine Bezeichnung in den islamischen Quellen für diese Erkenntnis, welche
265 Ders., 1348:51. 266 Ebda. 267 „tahdīb al-nafs/tahzīb-e nafs“: Ṭabāṭabāʾī, 1348:44. 268 „eḫlāṣ dar bandegī“: Ders., 1348:43,44. 269 Vgl. Wolfson, 1970:495 ff. 270 Vgl. Ders., 1970:500 ff.
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deren Träger sowohl der blossen Sinneserkenntnis der einfachen Gläubigen, der Wanderer des ersten Weges, als auch der diskursiven Erkenntnis der Peripatetiker, der Reisenden des zweiten Weges, voraus haben, wie auch für deren Träger selbst scheint nun nichts anderes als eine Lehnübersetzung des griechischen Wortes „Gnosis“ bzw. „Gnostiker“ ins Arabische zu sein.²⁷¹ Auch diesen Begriff mögen die Muslime durch die Berührung mit dem hellenisierten Christentum des Orients kennengelernt haben. Von Gnostikern spricht Ṭabāṭabāʾī ausführlich in seinem Kapitel über Offenbarung oder Enthüllung, den dritten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam also. Ja, er stellt sie dort als die Empfänger der allein diesem Weg eigenen Erkenntnis überhaupt vor, und die ihnen vorbehaltene Erkenntnis nennt er Gnosis.²⁷² An ein, zwei Stellen desselben Kapitels begegnet uns für diese selben Menschen aber noch ein anderer Ausdruck, so etwa, wo Ṭabāṭabāʾī von ihnen sagt, dass sie „sich auch nach aussen zu Gnosis und Mystik bekannten und gewisse Äusserungen im Sinne von Enthüllung und Schau taten […]“²⁷³, oder wo er bemerkt, dass manche derselben, „ohne dass sie sich nach aussen zu Gnosis und Mystik bekannten […], Schützlinge Gottes des Wahren und erlöste Männer waren […].“²⁷⁴ Wie aus diesen Beschreibungen hervorgeht, meint Ṭabāṭabāʾī mit denjenigen Gnostikern, von denen er in seinen Ausführungen über Offenbarung und Enthüllung spricht, nichts anderes als Mystiker. In der Tat wird seit der Ṣafaviden-Zeit der Ausdruck Gnostiker im Persischen gemeinhin in der Bedeutung „Mystiker“ verwendet.²⁷⁵ Dies hat auch ereignisgeschichtliche Gründe, waren doch im Laufe der Herrschaft der Ṣafaviden die anfänglichen Stützen ihrer Macht, als Milizen organisierte Gemeinschaften von Mystikern, die unter der bis anhin allgemein gebräuchlichen Bezeichnung „Ṣūfī“ bekannt gewesen waren, aus dem religiösen und politischen Betrieb ausgeschaltet worden.²⁷⁶ Auch Mīr Dāmād²⁷⁷, selbst einer der führenden Gelehrten der Ṣafaviden-Zeit, dem Ṭabāṭabāʾī in seiner Einteilung des Begreifens der Wissensgehalte des Islam in die drei Wege: Wortlaut der Offenbarung einschliesslich Religionsgesetz, diskursive Verwendung des Verstandes und Enthüllung ja folgt, hatte unter den Empfängern der Enthüllung die Mystiker verstanden, und bei ihm heissen sie Gnosti-
271 „maʿrifah/maʿrefat“ oder „ʿirfān/ʿerfān“ bzw. „ʿārif/ʿāref“. 272 Ṭabāṭabāʾī, 1348:63 ff. 273 Ders., 1348:64. 274 Ebda. 275 Halm, 1988:119. 276 Ders., 1988:113 f. 277 Über Leben und Lehre vgl. Halm, 1988:118 f. ; Rudolph, 2004:99 ff.
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ker.²⁷⁸ In der Darstellung der Glaubenslehre der Schia gemäss der Überlieferung, in der Ṭabāṭabāʾī steht, ist also jeder Mystiker ein Gnostiker. Aber nicht jeder Gnostiker ist ein Mystiker. Als Gnostiker werden zuweilen auch Denker bezeichnet, auf die Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung ebenfalls zu sprechen kommt, allerdings nicht so ausführlich wie auf die Mystiker. Er erwähnt sie am Ende seiner Beschreibung des zweiten Weges, der diskursiven Beweisführung mittels Demonstration, und zählt sie zu den Philosophen. Es handelt sich bei ihnen aber nicht um peripatetische Philosophen, denn ihr intellektuelles Anliegen ist es, die peripatetische Philosophie – sowie den Wortlaut der Offenbarung, Religionsgesetz inbegriffen – mit der Mystik zu vereinbaren.²⁷⁹ Daraus lässt sich schliessen, dass sie einerseits sowohl die peripatetische Philosophie als auch die Mystik für die vollkommene Erkenntnis, die für sie im dritten Weg liegt, als notwendig betrachten, denn sonst würden sie auf eine Vereinbarung der beiden gar nicht erst Wert legen, andererseits aber auch weder die peripatetische Philosophie noch die Mystik allein dafür als genügend ansehen. Bezogen auf die peripatetische Philosophie bedeutet dies, dass diejenigen Philosophen, die zuweilen als Gnostiker bezeichnet werden, den zweiten Weg als eine notwendige, aber, wie alle Reisenden auf dem dritten Weg, nicht hinreichende Voraussetzung für vollkommene Erkenntnis erachten. Dies ist die eine Hinsicht, in der sich diese Philosophen von den peripatetischen Philosophen unterscheiden. Zugleich liegt die vollkommene Erkenntnis im Verständnis der Peripatetiker ja aber sowieso nicht in demselben, in dem sie für die Wanderer des dritten Weges liegt. Und daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied zwischen den peripatetischen Philosophen und den Philosophen, die zuweilen Gnostiker heissen: Für letztere wie für die Wanderer des dritten Weges überhaupt sind die Inhalte der vollkommenen Erkenntnis, die im Wortlaut der Offenbarung gleichnishaft ausgedrückt sind, nicht in einem Text ausserhalb von Gottes Offenbarung zu finden, sondern in dieser selbst, in ihrem tieferen Sinn. Um dem letzteren Unterschied zu den peripatetischen Philosophen Rechnung zu tragen, verwenden die Quellen für die Philosophen des dritten Weges und ihre Philosophie ausser den Bezeichnungen „Gnostiker“ bzw. „Gnosis“ häufiger noch Ausdrücke, die sich alle wörtlich etwa mit „göttlicher Philosoph“ bzw. „göttliche Philosophie“²⁸⁰, „Gottesweiser“
278 Halm, 1988:118 f. 279 Ṭabāṭabāʾī, 1348:62. 280 „faylasūf ilāhī/fīlsūf-e elāhī“: Vgl. den Ausdruck „falsafe-ye elāhī“ z. B. Ṭabāṭabāʾī, 1348:20; T/M, 1381, I:20.
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bzw. „göttliche Weisheit“²⁸¹ oder kurz „Weiser“ bzw. „Weisheit“²⁸² wiedergeben liessen. Bei diesen Ausdrücken könnte es sich selbst um Lehnübersetzungen der griechischen Termini „Theosoph“ bzw. „Theosophie“ aus dem theologisch-philosophischen Schrifttum der späteren Antike handeln.²⁸³ Diese griechischen Ausdrücke wiederum sind in der abendländischen Literatur zur Bezeichnung für die islamischen Philosophen, die sonst zuweilen Gnostiker genannt werden, geläufig geworden. Darin nun, dass die Theosophen den zweiten Weg als eine zwar nicht hinreichende, aber doch notwendige Voraussetzung für vollkommene Erkenntnis ansehen, bestehend in der Schau der Geheimnisse des dritten Weges, liegt im Verständnis mancher Philosophiehistoriker aber nicht nur ein Unterschied der Theosophen gegenüber den peripatetischen Philosophen, sondern auch gegenüber den Mystikern.²⁸⁴ So streben zwar auch die Mystiker nach vollkommener Erkenntnis im Sinne der Schau der Geheimnisse des dritten Weges, sehen sich dabei aber nicht auf diskursive Beweisführung mittels Demonstration, die Verfahren des zweiten Weges also, angewiesen,²⁸⁵ sondern, soweit es überhaupt auf sie ankommt, allein auf vorbereitende Übungen wie die Veredelung der Seele, die Läuterung des Geistes von der Verhaftung an die Materie. Wie für die Theosophen ist also auch für die Mystiker der zweite Weg keine hinreichende Voraussetzung für vollkommene Erkenntnis im Sinne des dritten Weges, deshalb anders als für die Theosophen aber auch keine notwendige Voraussetzung für diese. Trotz dem für manche Betrachter entscheidenden Unterschied zwischen Theosophen und Mystikern in ihrem Urteil über den zweiten Weg sind die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen aber immer noch auffallend genug. Dies erklärt auch, warum zuweilen Gelehrte, die in der einen Darstellung als Theosophen behandelt werden, in einer anderen als Mystiker vorgestellt werden und umgekehrt. Es mag auch erklären, warum gar mancher Gelehrte in Ost und West der Mystik eine besondere Wesensverwandtschaft mit der Schia glaubt zuschreiben zu dürfen, und dies, obwohl die meisten Mystiker und mystischen Vereinigungen im Islam nachgewiesenermassen entweder der Sunnah angehören oder sich aus Unterscheidungen wie der zwischen Sunnah und Schia
281 „ḥakīm ilāhī/ḥakīm-e elāhī“: Nasr, 1996:131; vgl. auch den Ausdruck „ḥikmah ilāhiyyāh/ ḥekmat-e elāhī“ z. B. Halm, 1988:118 f.; T/M, 1381, I:12. 282 Vgl. „ḥikmah/ḥekmat“ in der Bedeutung „Theosophie“ z. B. Nasr, 1996:50, 54, 92, 178, 182. 283 „θεοσοφία“ etwa bei den Philosophen Porphyrios und Proklos: Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:622a sowie bei Kirchenvätern: Vgl. „θεόσοφος“ als subst. und adj. sowie adv. „θεοσόφως“ bei Clem. str.1.1.(p.12.24;M.8.708A) und Späteren. 284 Vgl. etwa Ṭālebzādeh, 1385b:90. 285 Ebda.
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nichts machen.²⁸⁶ Ein Grund für diese Meinung liegt vielleicht darin, dass die Mystiker, die den zweiten Weg als Zugang zur Erkenntnis des dritten Weges nicht anerkennen, oft als Gnostiker bezeichnet werden, zu den Gnostikern aber eben auch die Theosophen gezählt werden, die den zweiten Weg in dieser Funktion anerkennen. Und das Gedankengut der islamischen Theosophen konnte, da der zweite Weg in vielen Strömungen der Sunnah zunehmend als unorthodox ausgeschieden worden ist, vorwiegend noch von der Schia aufgegriffen werden und ist fortan in dieser weiterentwickelt worden – besonders eindringlich und geistesgeschichtlich wirkmächtig von den schiitischen Theosophen der Ṣafaviden-Zeit.²⁸⁷ Ganz gleich aber, ob wir den besagten Unterschied im Urteil über den zweiten Weg für die Einteilung der Gnostiker in Mystiker und Theosophen als massgeblich gelten lassen, das Vorzugswissen, dass beide Gruppen beanspruchen, ist dasselbe, und eben dies legt ja auch ihre gemeinsame Benennung als Gnostiker nahe. Es besteht, wie gesagt, in der Erkenntnis, dass das Materielle bloss ein Hinweis auf das Geistige ist, ihm selbst also keine Eigentlichkeit zukommt: Nur das Geistige ist daher auch im eigentlichen Sinne wirklichkeits- und erkenntniswertig. Die Gnostiker, Mystiker und Theosophen gleichermassen, richten ihr Sein und Denken auf dieses Geistige aus. So werden sie bei Ṭabāṭabāʾī denn auch scharf von denen abgegrenzt, die das Materielle für das Eigentliche halten und diesem verhaftet sind.²⁸⁸ In den einschlägigen Begriffen aus dem antiken Schrifttum gesprochen, sind diese letzteren die materiellen, die „hylischen“²⁸⁹, und im Gegensatz zu diesen die Gnostiker aufgrund ihrer Gnosis die rein „geistigen“²⁹⁰ Wesen. Diese werden bei Ṭabāṭabāʾī an einer bereits zitierten Stelle auch „erlöste Männer“ genannt, dies ebenfalls ein Ausdruck, mit dem auch in der Antike jene bezeichnet wurden, die sich ein Sonderwissen im Sinne der Gnosis zuerkennen.²⁹¹ Mystische Dichter und Denker im Islam beziehen sich in einer Fülle von Wendungen auf solche Erlöste, so etwa als „aus der Schlinge des Nichtseins erlöst“.²⁹² Aber die Übereinstimmungen zwischen Mystikern und Theosophen unter den Gnostikern gründen noch tiefer. Die Geheimnisse der Schöpfung, von denen Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung spricht, jene Tiefen eben, deren Erkenntnis den Wanderern des dritten Weges vorbehalten ist, kommen bei ihm noch unter
286 Z. B. bei Corbin. 287 Vgl. Endress, 1982:67. 288 Ṭabāṭabāʾī, 1348:48 f. 289 Griechisch „ὑλικοί“: Vgl. Wolfson, 1970:499. 290 Griechisch „πνευματικοί“: Vgl. Wolfson, 1970:499, arabisch „rūḥāniyyūn“. 291 Vgl. etwa Clem.str.5.1(p.327.26; M.9.12C), exc.Thdot.56(p.125.18; M.9.685C). 292 Vgl. etwa Rūmī, 1375, I:3884b.
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anderen Bezeichnungen vor, so etwa als „die Wahrheiten der Dinge“²⁹³, „die beständige Wirklichkeit“²⁹⁴ oder einfach als „die Wahrheiten“²⁹⁵ schlechthin, als „die höhere Welt“²⁹⁶, „das metaphysische Reich des Himmels und der Erde“²⁹⁷ oder als „die Welt der Ewigkeit“²⁹⁸. Es sind dieselben Dinge, die er an anderer Stelle Wirklichkeiten in der Welt des Seins nennt, die der Materie und der Befleckung durch die Materie enthoben,²⁹⁹ also rein geistig, sind. Zu diesem rein Geistigen, wie auch immer es heissen mag, steht das Materielle, die physische Welt, für die Gnostiker, von denen Ṭabāṭabāʾī auf die Mystiker eingeht, im Verhältnis blosser Zeichen und Hinweise ohne eigentliche Wirklichkeit. Dasselbe Verhältnis meint Ṭabāṭabāʾī auch, wenn er an anderer Stelle davon spricht, dass in der mystischen Betrachtung jeder Mensch „die Welt und die Erscheinungen der Welt gleich Spiegeln wahrnimmt, die eine schöne, beständige Wirklichkeit zeigen, deren Begreifen in seiner Wonne jede andere Wonne in den Augen des Schauenden gering und nichtig erscheinen lässt und ihn natürlicherweise von den süssen, unbeständigen Äusserlichkeiten des materiellen Lebens abhält.“³⁰⁰ Hier wird das das Verhältnis zwischen Geistigem und Materiellem mit dem Gleichnis eines Spiegels veranschaulicht. In der Auffassung derer, die dieses Gleichnis stimmig finden, ist das Geistige demnach das Original, das Urbild, die Urform, das Vorbild oder Muster also, und das Materielle nur dessen Spiegelbild, Abbild, Nachbildung oder Kopie.
Dritter Weg und Platonismus Auffassungen wie diese vom Verhältnis zwischen dem Geistigen und dem Materiellen sowie die dazugehörigen Ausdrücke haben in Gedankenwelt und Begriffssprache islamischer Mystiker und Theosophen ihren festen Platz. So lesen wir etwa bei Mīr Fendereskī (st. 1640)³⁰¹, einem Vertreter der letzteren Gruppe: „[…] Was dort oben ist, hat ein Bild hienieden. Wenn das Bild hienieden mit der Stufenleiter der Erkenntnis nach oben steigt, ist es schliesslich eins mit seinem Original.“³⁰² Dieses Original beschreibt er anschliessend mit den Worten: „Das 293 Ṭabāṭabāʾī, 1348:43. 294 Ders., 1348:63. 295 Ders., 1348:44. 296 Ders., 1348:43, 63. 297 Ders., 1348:43, 44. 298 Ders., 1348:49. 299 Ders., 1348:51. 300 Ders., 1348:63. 301 Auch „Findiriskī“ umgeschrieben: Vgl. Nasr, 1996:254 ff. 302 Zitiert in: T/M, 1381, I:58; Ṭālebzādeh, 1385a:46, Anm.1.
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bloss geistig wahrnehmbare Bild, das ohne Ende und ewig ist, ist das, woran alles Anteil hat, eines mit allem und doch unabhängig von allem.“³⁰³ Sowohl das Materielle, sinnlich Wahrnehmbare, hienieden wird also als Bild dargestellt wie auch das Geistige und auch bloss geistig Wahrnehmbare, und die beiden stehen zueinander im selben Verhältnis wie ein Abbild zu seinem Urbild. Die Gegenüberstellung von Geistigem und Materiellem nach diesem Verhältnis, ausgedrückt in Begriffen wie denen bei Mīr Fendereskī, finden wir nicht nur in der islamischen Geistesgeschichte. Sie geht letztlich auf platonisches Gedankengut zurück. Bei Platon selbst begegnet uns die Bezeichnung der materiellen, sinnlichen Einzeldinge als Bild³⁰⁴ im Sinne von Abbild, ein Ausdruck, der in islamischen Quellen in getreuer Übersetzung³⁰⁵ wiedererscheint. Sie begegnet uns in seinem eigenen Werk ausserdem als „Schatten“, so etwa im Höhlengleichnis, und auch dieser Vergleich für die Einzeldinge der Sinnenwelt kommt in den Schriften islamischer Mystiker und Theosophen vor. So stellt etwa der mystische Lehrdichter Rūmī (st. 1273)³⁰⁶ das Verhältnis zwischen geistiger und materieller Welt gleichnishaft dar als das zwischen einem Vogel, der in der Höhe fliegt, und dessen Schatten am Boden, der jenem Vogel gleicht, und bemerkt dazu: „[Nur] ein Tor jagt jenem Schatten nach und rennt so sehr, dass er leer ausgeht, unwissend, dass dieser Schatten nur das Abbild jenes Vogels der Luft ist, unwissend, wo das Original dieses Schattens ist.“³⁰⁷ Die gebräuchlichste Lehnübersetzung für „Bild“ in den islamischen Quellen³⁰⁸ wird in diesen aber ebenso als Übersetzung für „Form“³⁰⁹ verwendet. So könnte in den obigen Zitaten an jeder Stelle, wo in unserer Übersetzung „Bild“ steht, ebenso gut „Form“ stehen. Sowohl die „Bilder dort oben“ als auch die „Bilder hienieden“, von denen eben die Rede war, könnten daher auch Formen heissen. Zur Unterscheidung zwischen diesen beiden Verwendungsweisen desselben Wortes kann der Begriff Bild bzw. Form, je nach dem, ob er auf das Geistige oder das Materielle angewendet wird, mit klärenden Zusätzen versehen werden. So ergänzt Mīr Fendereskī an der zitierten Stelle den Ausdruck Bild in seiner Anwendung auf die materiellen Einzeldinge zu „das Bild hienieden“ – wir könnten auch übersetzen „Formen in der Materie“.³¹⁰ Und in seiner Anwendung auf die 303 Zitiert in: T/M, 1381, I:58. 304 Griechisch „εἰκών“: Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:238. 305 „ṣūrah/ṣūrat“, pl. „ṣuwar/ṣovar“, „ʿaks“ oder „naqš“, pl. „nuqūš/noqūš“. 306 Darstellungen von Leben und Werk etwa bei: Schimmel, 1985:438 ff. 307 Rūmī, 1375, I:419 ff.; erste beide Verse in leicht anderer Fassung zitiert in: Ṭālebzādeh, 1385a:46, Anm. 1. 308 „ṣūrah/ṣūrat“, pl. „ṣuwar/ṣovar“. 309 Griechisch „εἶδος“. 310 Griechisch „ἔνυλα εἴδη“: Vgl. Perkams/Piccione, 2003:179 ff., 259 ff.; Endress, 1973:202.
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bloss geistig wahrnehmbare, intelligible Welt spricht er von „bloss geistig wahrnehmbarem“, d. h. intelligiblem, „Bild“ – dies könnten wir auch als „intelligible Formen“³¹¹ im Sinne von Urformen der materiellen Formen übersetzen. Eine weitere häufige Präzisierung für „Bild“ oder „Form“ in der letzteren Bedeutung liegt im Ausdruck „ursprüngliches Bild, Urbild“ oder eben „Urform“³¹² vor, eine wörtliche Nachbildung des griechischen Ausdrucks „Archetyp“, der zwar nicht bei Platon selbst, aber bei platonischen Denkern nach Platon belegt ist.³¹³ Anstatt „Urform“ erscheint kürzer oft auch einfach der Begriff, der im Arabischen und Persischen soviel wie „Original“, aber auch „Wurzel, Ursprung, Prinzip“ meint.³¹⁴ Diese Verwendung des kürzeren Begriffs „Prinzip“ für längere Ausdrücke wie „Archetyp“ oder „archetypisches Muster“³¹⁵ lässt sich unter anderem bei platonisch beeinflussten Kirchenvätern belegen.³¹⁶ Daneben begegnet uns im islamischen Schrifttum für jene rein geistigen Urformen der materiellen Einzeldinge auch einer der Ausdrücke, die bei Platon selbst vorkommen, ein Ausdruck, der sich mit „Vorbild“, „Vorlage“ oder „Muster“ wiedergeben liesse.³¹⁷ In der abendländischen Geistesgeschichte hat sich dafür ein anderer Ausdruck durchgesetzt, der sich ebenfalls bei Platon selbst findet, nämlich „Idee“. Was sich mit dem Gedankengut islamischer Mystiker und Theosophen also verbunden hat, trägt Züge dessen, was als Platons Ideenlehre bekannt geworden ist. Auch an ihrer Wortwahl lässt sich dies belegen, indem sie etwa den Begriff „tiefere Bedeutung“ oder einfach „Bedeutung“³¹⁸, um deren Erkenntnis es diesen Wanderern des dritten Weges geht, des öfteren im selben Sinne wie Vorbild oder eben „Idee“ verwenden. Ein Beispiel dafür ist Rūmīs Vers: „Wie sollte einer, der in den Abbildern gefangen ist, je zur Bedeutung gelangen? Der Mann, der ein Bilderverehrer ist, ist ein Bedeutungsverächter.“³¹⁹ Und es ist dieses platonisch beeinflusste Gedankengut, das die Reisenden des dritten Weges als die Erkenntnis der Geheimnisse der Tiefen sogar den Wanderern des zweiten Weges, den peripatetischen Philosophen also, vorauszuhaben glauben. So lesen wir bei Mīr Fendereskī gleich im Anschluss an seine vorher zitierte Gegenüberstellung von Geistigem und Materiellem nach dem Verhältnis von Original und Abbild, eine 311 Griechisch „νοερὰεἴδη“, arabisch „ṣuwar ʿaqliyyah“: vgl. Endress, 1973:202. 312 „ṣūrah aṣliyyah/ṣūrat-e aṣliyyeh“, pl. „ṣuwar aṣliyyah/ṣovar-e aṣliyyeh“. 313 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:238, Anm. 77. 314 Arabisch/persisch „aṣl, pl. uṣūl/oṣūl“, griechisch „ἀρχή“. 315 Griechisch „(παράδειγμα) ἀρχέτυπον“: Vgl. Wolfson, 1970:276. 316 Vgl. Wolfson, 1970:276, 279. 317 Griechisch „παράδειγμα“: Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:238, arabisch/persisch „mitāl/mesāl, pl. mutul/mosol“: Vgl. T/M, 1381, I:58; Ṭālebzādeh, 1385a:46; Wolfson, 1976:21, Anm. 86. 318 „maʿnā“. 319 Zitiert bei: Elāhī Qomšeʾī, 1378:X.
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Stelle, die platonische Züge erkennen lässt: „Diese Lehre haben die früheren Erkennenden als ein Geheimnis ergründet; jeder, der ein Erkennender ist, findet die Geheimnisse heraus. Diese Lehre begreift kein Verstehen, das sich nur auf den äusseren Sinn bezieht, nicht einmal, wenn es Fārābī oder Ibn Sīnā ist.“³²⁰ Nicht die Peripatetiker also, sondern nur die „Erkennenden“, d. h. die Gnostiker, haben demnach das wahre Verständnis vom Verhältnis zwischen dem Geistigen und dem Materiellen, jenes Verständnis eben, das mit Platons Ideenlehre in Verbindung steht. Nun hat aber das, was Platon über die Ideen sagt, seit Platon unterschiedliche Deutungen erfahren, und zwar sowohl bei Platonikern als auch bei NichtPlatonikern. Mal werden die Ideen als blosse Gedanken Gottes verstanden: Diese Auffassung ist etwa belegt bei dem Platoniker Albinus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., muss aber auch bei Platonikern vor ihm geläufig gewesen sein,³²¹ sowie bei Plotin aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., dem einflussreichsten Vertreter des Neuplatonismus,³²² und dem Kirchenvater Augustin.³²³ Mal werden sie als eigenständige, wirkliche, rein geistige Wesenheiten begriffen, deren höchste, die Idee des Guten, mit Gott gleichgesetzt wird: So stellt Aristoteles, der Platons Ideenlehre freilich ablehnt, die Ideen dar.³²⁴ Schliesslich findet sich bei Philon eine Ideenlehre, die dieser Denker teils als Neudeutung, teils in Abweichung von Platons Aussagen über die Ideen entwickelt hat:³²⁵ In dieser bestehen die Ideen, die Philon wie Platon sowohl als Muster wie auch als Wirkkräfte auffasst,³²⁶ in einer ersten Stufe bloss als Gedanken Gottes. In dieser Stufe bilden sie zusammen eine intelligible Welt, die im Logos, dem Geist Gottes, enthalten ist. Dieser Logos in der ersten Stufe ist eins mit dem Wesen Gottes.³²⁷ In einer zweiten Stufe existieren sie als von Gott erschaffene, wirkliche, rein geistige Wesenheiten, die wieder zusammen eine intelligible Welt bilden, diesmal aber eine von Gott erschaffene intelligible Welt. Auch diese erschaffene intelligible Welt ist im Logos, dem Geist, enthalten, der in der zweiten Stufe aber nicht eins mit Gottes Wesen, sondern ebenfalls ein von Gott erschaffener, ausserhalb von Gottes Wesen bestehender Geist ist.³²⁸ Freilich kennt Gott, der ja alles weiss, auch die Ideen in der zweiten Stufe ihrer Existenz, und in dieser Hinsicht existieren sie auch in der zweiten 320 Zitiert bei: T/M, 1381, I:59. 321 Vgl. Wolfson, 1970:258, 281. 322 Vgl. Ders., 1970:281; Hügli/Lübcke, 2005:501b; Ders., 2005:305b, 504a) ff. 323 Vgl. Wolfson, 1970:280 ff., 286; Hügli/Lübcke, 2005:305b. 324 Vgl. Wolfson, 1970:258. 325 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:200 ff. 326 Vgl. Ders., 1947, vol.I:217 ff. 327 Vgl. Ders., 1947, vol.I:208 f., 290; Ders., 1970:258. 328 Vgl. Ders., 1947, vol.I:209, 290; Ders., 1970:258.
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Stufe als Gedanken Gottes, im Unterschied zur ersten Stufe jedoch nicht bloss als Gedanken Gottes.³²⁹ In einer dritten Stufe gehen die Ideen in die Erschaffung und Ordnung der physischen Welt ein.³³⁰ Und auch in der dritten Stufe ihrer Existenz kennt Gott die Ideen, und in dieser Hinsicht existieren sie auch in der dritten Stufe als Gedanken Gottes, im Unterschied zur ersten Stufe jedoch auch hier nicht bloss als Gedanken Gottes. Philons Lehre von den drei Stufen in der Existenz der Ideen wirkte nicht nur in der Geistesgeschichte seiner eigenen Religion, des Judentums, fort. Sie fand eine unmittelbare Weiterentwicklung in der christlichen Lehre von den drei Personen in Gott, der Dreieinigkeitslehre.³³¹ Diese wiederum fand eine unmittelbare Weiterentwicklung in der islamischen Lehre von den Attributen in Gott wie „Leben“ und „Wissen“.³³² Allerdings löste sich die Diskussion über das Problem der Dreieinigkeit im Christentum sowie über das Problem der Attribute in Gott im Islam schliesslich völlig von der Ideenlehre ab.³³³ Ausserdem hatte Philon die Ideenlehre nicht erst bei Platon, sondern schon in der Thora vorgebildet gesehen und sie deshalb als einen verbindlichen Artikel des Glaubens betrachtet.³³⁴ Doch weder im Judentum noch im Christentum noch im Islam gilt der Glaube an die Ideenlehre, in welcher Fassung auch immer, als verbindlich.³³⁵ Die vielen Deutungen, die Platons Aussagen über die Ideen seit Platon durchlaufen haben, weisen bei aller Verschiedenheit aber auch bedeutende Gemeinsamkeiten auf. Auf jeden Fall gelten die Ideen als dem Sinnlichen enthoben, rein geistig und daher auch als nicht sinnlich, sondern nur geistig wahrnehmbar. Als Vorbilder, Originale, des Sinnlichen sind sie das Eigentliche, Wirkliche, in Platons Worten „das wirklich Seiende“³³⁶ oder „das an sich und mit sich eingestaltig und ewig Seiende“.³³⁷ Denn ein jedes, das ist, ist nur insofern, als es entweder selbst Idee ist oder zu den Ideen in Beziehung steht, in Platons Worten: an den Ideen teilhat. Abgesehen von seiner Beziehung zu den Ideen ist ein jedes nicht eigentlich, bloss scheinbar bzw. vermeintlich und daher eigentlich nicht. Da es sich ferner bei dem, dessen Vorbild die Ideen sind, um Einzeldinge, die Einzeldinge der Sinnenwelt, handelt, werden die Ideen im Verhältnis zu diesen oft
329 Vgl. Ders., 1947, vol.I:209. 330 Vgl. Ders., 1947, vol.I:290, 325 ff. 331 Vgl. Ders., 1947, vol.I:197, 293 f.; Ders., 1970:177 ff. 332 Vgl. Ders., 1947, vol.I:197, 293 f.; Ders., 1976:112 ff. 333 Vgl. Ders., 1947, vol.I:197, 293 f.; Ders., 1976:147 ff. 334 Vgl. Ders., 1947, vol.I:181 ff.,197 f. 335 Vgl. Ders., 1947, vol.I:197 f., 294. 336 Platon, Phaedrus, 247E; vgl. Wolfson, 1947, vol.I:210. 337 Platon, Symposium, 211b; vgl. Bultmann, 2000:134.
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auch als allgemein, universal, bezeichnet.³³⁸ Genauso, wie aber von einem jeden gilt, dass es nur insofern ist, als es entweder selbst Idee ist oder sich auf die Ideen bezieht, so gilt auch von der Erkenntnis eines jeden, dass es sich nur dann um eine solche handelt, wenn das Erkannte entweder selbst die Ideen oder die Beziehungen eines jeden zu den Ideen ist. Denn da es ausser den Ideen selbst und den Beziehungen eines jeden mit ihnen eigentlich nichts gibt, gibt es ausser den Ideen selbst und den Beziehungen eines jeden mit ihnen eigentlich auch nichts zu erkennen. Genauso, wie ein jedes abgesehen von seiner Beziehung zu den Ideen nicht eigentlich, bloss scheinbar bzw. vermeintlich und daher eigentlich nicht ist, so ist auch jedes Erkennen, das sich nicht auf die Ideen bezieht, nicht eigentlich, blosser Schein bzw. Meinung und daher eigentlich nicht Erkenntnis. In den Ideen liegt daher die Wirklichkeit sowohl im Sinne der Wirklichkeit des Seins als auch der Wirklichkeit des Erkennens. Das Erkenntnisvermögen des Menschen nun beruht darauf, dass eben auch der Mensch an den Ideen Anteil hat. Sein Anteil an den Ideen ist der Geist, die Vernunftseele. Und weil der Anteil des Menschen an den Ideen im Geistigen besteht, in demselben also, in dem auch die Ideen bestehen, so sind die Ideen, d. h. die Wirklichkeit, die es überhaupt zu erkennen gibt, bereits im Geiste des Menschen gegenwärtig und, da der Geist nicht an Raum und Zeit gebunden ist, bereits vor dem physischen Dasein des Menschen gegenwärtig gewesen. Für ihr Erkennen kommt es daher darauf an, sie von den Überlagerungen durch die Materie und der Hülle von Meinung und Schein freizulegen, in denen der Mensch in seinem Erdendasein gefangen ist. Dies geschieht durch die Läuterung oder, mit dem Ausdruck, den Ṭabāṭabāʾī bei der Beschreibung der Reisenden des dritten Weges gebraucht, die Veredelung der Seele. Dann erkennt der Mensch die Ideen, die „Wahrheiten der Dinge“, die „beständige Wirklichkeit“ also, in seiner eigenen Seele. Rūmī etwa beschreibt das mit den Worten: „Wenn der Spiegel des Herzens klar und rein wird, siehst du Bilder ausserhalb von Wasser und Erde“³³⁹, wobei der Begriff Herz hier im übertragenen Sinn als der Sitz der Vernunftseele zu verstehen ist und mit den Bildern ausserhalb der Elemente Wasser und Erde auf die Unabhängigkeit der Ideen vom Materiellen und den Bestimmungen des Materiellen wie Raum und Zeit hingewiesen wird. Die Unabhängigkeit der Wirklichkeit von den materiellen Bestimmungen Raum und Zeit wiederum verstehen Reisende des dritten Weges in dem Sinne, dass es sich bei der Wirklichkeit der Ideen um eine Wirklichkeit handelt, die schlechthin ohne die Bestimmungen von Raum und Zeit besteht. Bei der Erkenntnis der Ideen geht es also darum, dass der einzelne Mensch diese in seiner eigenen Seele wieder freilege. Erkenntnis bedeutet nach diesem 338 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:251 f., 292, 413. 339 Rūmī, 1375, II:71.
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Verständnis daher eine Art Wiederentdeckung oder, wie Platon den Vorgang beschreibt, eine Wiedererinnerung, auf Griechisch „Anamnese“. Die Lehnübersetzung dieses Begriffs ins Arabische³⁴⁰ hat dieselbe Wortwurzel wie der arabische Terminus für Gottesgedenken³⁴¹, das im Islam einen festen und vielfach ritualisierten Bestandteil der mystischen Meditation darstellt. Indem die Erkenntnis sich in der Entdeckung der Ideen vollendet, sind die Ideen sowohl ein Prinzip im Sinne eines Ursprungs als auch eines Ziels. Dies umso mehr, als der Mensch durch die Wiedererinnerung an die Ideen nicht nur an das Ziel des Erkennens gelangt, sondern durch das Erreichen des Erkenntniszieles sich selbst vervollkommnet, an das Ziel seiner selbst gelangt, denn die Wirklichkeit des Menschen besteht ja eben in seiner erkennenden Seele, seinem Geist, und damit letztlich im Erkennen. Auch daran wird deutlich, dass in den Ideen sowohl die Wirklichkeit des Seins als auch die Wirklichkeit des Erkennens liegen, beide als ein und dasselbe. In dieser Auffassung, dass Ziel und Ursprung von Sein und Erkennen eins seien, mögen Wanderer des dritten Weges im Islam, wenn sie die Ideen in Gott verankern, sich bestätigt fühlen durch Gottes Wort „Wahrlich, wir gehören Gott und zu Ihm kehren wir zurück.“³⁴² Und ein weiterer Name für den dritten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam bei Ṭabāṭabāʾī im gleichen Sinne wie Enthüllung oder Gnosis ist denn auch bezeichnenderweise „Erkenntnis der Seele“³⁴³ oder „Weg der Seele“³⁴⁴. In der Hinsicht, dass Platon das Prinzip von Sein und Erkennen auch im Sinne eines Ziels versteht, lässt sich seine Lehre als teleologisch – vom griechischem Wort für „Ziel“: „télos“ – bzw. als finalistisch – von lateinisch „finis“ in derselben Bedeutung – bezeichnen. Im Ziel nach diesem Verständnis liegt die Vollkommenheit, die Vervollkommnung, allen Seins und Erkennens. Ein jedes also, das dieses Ziel noch nicht erreicht hat, ist im Verhältnis zu diesem unvollkommen, und Unvollkommenheit im Verhältnis zum Ziel wiederum bedeutet Bedürftigkeit. Es besteht deshalb in einem jeden noch Unvollkommenen eine Bedürftigkeit nach dem Ziel, in dem seine Vervollkommnung liegt. Bedürftigkeit, und so eben auch die Bedürftigkeit des Unvollkommenen nach dem Ziel, dem Vollkommenen, ist aber nichts anderes als Streben; Platon nennt es Liebe – griechisch: „éros“. Auch dieser Ausdruck ist in arabischer Lehnübersetzung³⁴⁵ in die Begriffswelt der islamischen Mystik zur Bezeichnung des Verhältnisses zwischen
340 „tadakkur“ oder „dikr“, letzeres etwa in Utūlūğiyā, 1955:29 ff.: Wurzel „d-k-r“. 341 „dikr“: Wurzel „d-k-r“. 342 Koran 2/156. 343 Ṭabāṭabāʾī, 1348:65. 344 Ders., 1348:67. 345 „ʿišq/ʿešq“, „maḥabbah/moḥebbat“.
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Mensch und Gott eingegangen. Entsprechend wird der Mystiker als Liebender und Gott als der Geliebte beschrieben. Ja, der Unterschied zwischen dem Verhältnis der Reisenden des ersten Weges gegenüber Gott und dem der Reisenden des dritten Weges besteht in dieser Sicht, die auch Ṭabāṭabāʾīs Darstellung zugrundeliegt, darin, dass die ersteren Gott aus Furcht und die letzteren aus Liebe verehren.³⁴⁶ Diese Unterscheidung findet sich nicht erst im Islam. Sie ist ebenfalls bei den Kirchenvätern belegt, und über diese hinaus lässt sie sich bis zu Philon und ins rabbinische Judentum zurückverfolgen.³⁴⁷ Ebenso kann die Auffassung, dass Gottesliebe vorzüglicher sei als Gottesfurcht, eine Auffassung, die in Ṭabāṭabāʾīs Ausführungen ebenfalls anklingt, auch bei den Kirchenvätern als die allgemein verbreitete Ansicht nachgewiesen werden.³⁴⁸ Dass die Ideen als das Vollkommene von einem jeden noch Unvollkommenen als das Ziel seiner Vervollkommnung erstrebt werden, bedeutet, dass sie es wert sind, erstrebt zu werden. Dieser Wert nun muss die Vollkommenheit der Ideen selbst sein, denn ihre Vollkommenheit ist es schliesslich, die sie von einem jeden Unvollkommenen unterscheidet. Ebenso gut könnten wir aber sagen, dieser Wert müsse die Wirklichkeit, die Eigentlichkeit, der Ideen sein, denn darin, dass sie das Wirkliche, Eigentliche sind, besteht ihre Vollkommenheit. Was ein Seiendes vervollkommnen kann und daher für es erstrebenswert ist, wird ferner als Gut definiert.³⁴⁹ Da die Ideen schlechthin das sind, was ein Seiendes vervollkommnen kann und daher für es erstrebenswert ist, sind sie das Gute schlechthin, ebenso wie sie das Wirkliche schlechthin sind. Tatsächlich leitet Platon, genau so, wie er die sinnlichen Einzeldinge auf die Ideen bezieht, in einigen seiner Ausführungen die Ideen ihrerseits wieder auf eine übergeordnete Idee des Guten, die Idee der Ideen gewissermassen, zurück.³⁵⁰ Dann sind in der geistigen Schau der Ideen aber die Erkenntnis des Wirklichen, Wahren, und die Erkenntnis des Guten gleichbedeutend. Auf der Schau der Ideen beruht somit sowohl die intellektuelle als auch die sittliche Vervollkommnung des Menschen. In manchen seiner Aussagen über die Idee des Guten, so scheint es, setzt Platon diese überdies mit Gott gleich.³⁵¹ Dann ist die Würdigung der Ideen als der Prinzipien des Wirklichen, Wahren und Guten aber dasselbe wie Frömmigkeit³⁵² und Verehrung gegenüber Gott, und in der Ausrichtung auf die Ideen gleicht sich der Mensch in
346 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:64. 347 Vgl. Wolfson, 1976:107. 348 Vgl. ebda. 349 Vgl. Brugger, 1963:133. 350 Vgl. Bultmann, 2000:134; Brugger, 1963:240. 351 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:201; Brugger, 1963:240. 352 Griechisch „θεοσέβεια“: Vgl. Bultmann, 2000:135.
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Sein und Erkennen, soweit ihm dies überhaupt möglich ist, Gott an, denn, wie Platon bemerkt, „[…] glaubst du, man könne in Bewunderung mit etwas verkehren, ohne es nachzuahmen?“³⁵³ Platons Lehre ist von manchen Betrachtern und Deutern deshalb auch schon als Religion bezeichnet worden – als „die neue Religion Platons“³⁵⁴ etwa oder als „Platons Religion des Geistes“.³⁵⁵ Platons Religion des Geistes nun hat sich im Laufe der islamischen Geistesgeschichte mit der Erfahrung der islamischen Mystik verbunden.³⁵⁶ Freilich sind nicht alle Aussagen Platons über die Ideen und nicht alle nachfolgenden Deutungen und Entwicklungen derselben mühelos mit islamischem Gedankengut vereinbar. So finden sich bei Platon ausser der Gleichsetzung der Idee des Guten mit Gott Bemerkungen, in denen er die Ideen als ewige und unerschaffene Wesen Gott zur Seite stellt,³⁵⁷ und da die islamische Lehre Gott allein als ewig und unerschaffen und alles ausser Gott als erschaffen voraussetzt, könnte sich ein solches Verständnis der Ideen schwerlich mit dem Islam verbinden. Aber bei Platon finden sich auch Aussagen über die Ideen, die nahelegen, dass Gott selbst der schöpferische Ursprung der Ideen sei,³⁵⁸ ein Ideenverständnis, das der islamischen Lehre keine Schwierigkeiten macht. Was Ṭabāṭabāʾīs Darstellung der drei Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam angeht, so wird in ihr die Verbindung zwischen Platons Religion des Geistes und der Mystik, deren Vertreter Ṭabāṭabāʾī unter den Reisenden des dritten Weges, den Gnostikern, besonders ausführlich behandelt, an Verschiedenem erkennbar. So beschreibt Ṭabāṭabāʾī dasselbe Ziel der besonderen Erkenntnis der Wanderer des dritten Weges, das er an den einen Stellen unter Namen wie „die Wahrheiten der Dinge“, „die beständige Wirklichkeit“ oder einfach „die Wahrheiten“ erwähnt, an anderen als „Verehrung und Lobpreis des unsichtbaren Gottes“³⁵⁹ oder kürzer als „Verehrung Gottes“³⁶⁰. Ja, die Gehalte dieser Erkenntnis selbst, die Ṭabāṭabāʾī „Wahrheiten der Dinge“, „beständige Wirklichkeit“ oder „Wahrheiten“ nennt, heissen bei ihm auch „der Gott der Welt“³⁶¹, „der reine Gott“³⁶² oder „sein“ – nämlich des Gnostikers – „Gott“³⁶³. Und der Gott des Wan-
353 Platon, Politeia, VI, 500c, zitiert bei Bultmann, 2000:134. 354 Vgl. Bultmann, 2000:135. 355 Vgl. Endress, 1982:67. 356 Vgl. ebda. 357 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:201. 358 Ebda. 359 Ṭabāṭabāʾī, 1348:63. 360 Ebda. 361 Ders., 1348:66. 362 Ebda. 363 Ders., 1348:67.
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derers des dritten Weges ist selbst das „wirkliche Ziel von dessen Streben.“³⁶⁴ Mit diesem Streben der Reisenden des dritten Weges ist aber das Erkenntnisstreben gemeint, mit dem sie sich, soweit dies Menschen möglich ist, Gott anzugleichen suchen – ein Vorgang, der in der Mystik als die mystische Vereinigung mit Gott verstanden werden kann. Denn, wie Ṭabāṭabāʾī über dieses Streben sagt, „ […] es gibt dem Beweis des reinen Gottes im Herzen des Menschen eine Stätte […]“³⁶⁵, und nach seiner Beschreibung der Menschen des dritten Weges handelt es sich bei diesen um „diejenigen, welche der Herr von überall her versammelt und für sich ausersehen hat. Diese sind es, die […] ihren Blick mit dem Licht des reinen Schöpfers erhellt und mit dem Auge, das die Wirklichkeit sieht, die Wahrheiten der Dinge und das Reich des Himmels und der Erde geschaut haben […].“³⁶⁶ Und zwar ist das Ziel ihres Strebens in Sein und Erkennen, das ja nichts anderes als Gott und damit das Gute schlechthin ist, in dem Sinne als wirklich zu verstehen, dass es als aussergeistige Wirklichkeit und nicht als Ergebnis menschlicher Definition und Konvention besteht. Dann gehört zu seiner Wirklichkeit aber auch, dass es erstrebenswert ist. Genauso, wie es aber zur Wirklichkeit dieses Strebeziels gehört, erstrebenswert zu sein, entspricht es der Wirklichkeit des Strebens des Menschen, zu dem auch der Wille gehört, dieses Ziel, das Gute schlechthin, zu erstreben und zu wollen. Denn jedes Ziel, auch ein Ziel, das nicht das Gute schlechthin ist, das also neben Wert in einer Hinsicht mit Unwert in anderer Hinsicht verbunden ist wie etwa Spazierengehen, das mir sowohl Gesundheit verschaffen kann – dies sein Wert –, mir aber auch eine Erkältung eintragen kann – dies sein Unwert –, wird vom Menschen nur um des Guten willen, das er in ihm erkennt, gewollt. Wenn ich mich also aus freiem Willen fürs Spazierengehen entscheide, geschieht diese meine freie Willensentscheidung aufgrund des Guten, der Förderung meiner Gesundheit, die ich im Spazierengehen erkenne, nicht aufgrund des Unwertes in anderer Hinsicht, in diesem Fall des Erkältungsrisikos. Da das Strebeziel Gott aber das Gute, der Wert, schlechthin ohne Unwert in irgendeiner Hinsicht ist, so widerspricht es der Wirklichkeit des Strebens des Menschen und der Freiheit seines Willens nicht, sondern entspricht ihm vielmehr, dass er dieses reine Gute erstrebt. Wenn daher Ṭabāṭabāʾī den Zustand des Erkennens im Sinne von Enthüllung, das allein dem Wanderer des dritten Weges, also dem Mystiker oder Theosophen, zuteil wird, als den Moment beschreibt, „[…] wo er den Vorrat seiner Existenz zur Plünderung freigibt und das Herz der göttlichen Liebe
364 Ebda. 365 Ders., 1348:63. 366 Ders., 1348:43.
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übergibt“³⁶⁷, ein Zustand, der in der mystischen Fachsprache als Entwerdung³⁶⁸ bekannt ist, und wenn er an anderer Stelle über diese besonderen Erkennenden sagt: „Da sie sich von jedem Ort abgeschnitten und alles ausser Gott vergessen haben, stehen sie unter der unmittelbaren Vormundschaft und Obhut Gottes, und [nur] was Er will (nicht, was sie selbst wollen), wird ihnen erschaubar“³⁶⁹, so ist das nicht so zu verstehen, dass die Mystiker und Theosophen in ihrer Erkenntnis der Tiefen ihres freien Willens entledigt würden, sondern im Gegenteil, dass sie ihn darin in Vollendung betätigen und verwirklichen. Freilich könnten sich die Äusserungen eines Menschen, der seines freien Willens entledigt worden ist, ähnlich anhören wie die eben zitierten Bemerkungen, aber ihre Herleitung wäre eine andere. Die Nichtbeachtung dieses Unterschieds hat in Ost und West den islamischen Mystikern schon den Ruf eingebracht, samt und sonders blinde Verfechter von Schicksalsgläubigkeit und Kadavergehorsam gegenüber Gott zu sein. Auch nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī darlegt, ist die Würdigung der „Wahrheiten der Dinge“, der „beständigen Wirklichkeit“ als der Prinzipien von Sein und Erkennen daher dasselbe wie Frömmigkeit und Verehrung gegenüber Gott. Ja, nach Ṭabāṭabāʾī „[…] entspringen alle wahren Erkenntnisse der Anerkennung Gottes als des Einen und wirklicher Gotteserkenntnis und werden aus dieser gefolgert, und die Vollkommenheit in der Gotteserkenntnis kommt denjenigen zu, welche der Herr von überall her versammelt und für sich ausersehen hat.“³⁷⁰ Im Falle der Erkenntnis auf dem dritten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam wird daher wie im Falle von Platons Religion des Geistes die Unterscheidung zwischen dem, was man gemeinhin als Philosophie bezeichnet, und dem, was für gewöhnlich Religion oder, enger gefasst, Theologie heisst, hinfällig. Während also nach dem Verständnis der Peripatetiker wie Fārābī Glaube und Erkenntnis zwei getrennte, aber eben doch nicht gegensätzliche Bereiche bilden und gemäss dem doppelten Glaubensbegriff der Schia im Rahmen des zweiten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam Glaube und Erkenntnis, letztere verstanden als das Ergebnis demonstrativer Beweise, nicht zwei getrennte und daher auch nicht gegensätzliche, aber doch auch nicht deckungsgleiche Bereiche bilden, sind Glaube und Erkenntnis, Offenbarung und Vernunft, Bekenntnis und Erkenntnis nach dem Verständnis des dritten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam deckungsgleich, ja, genauer noch: ein und dasselbe.
367 Ders., 1348:66. 368 Arabisch „fanāʾ“. 369 Ṭabāṭabāʾī, 1348:45. 370 Ders., 1348:43.
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An Platons Religion des Geistes, genauer: an Platons Auffassung der Erkenntnis im Lichte der Ideenlehre,³⁷¹ mag aber schon die Unterteilung des Zugangs zur einen Wahrheit, der Wissensgehalte des Islam, in drei Wege nach Mīr Dāmād, dem Begründer der Schule von Isfahan, überhaupt erinnern,³⁷² in dessen Lehrüberlieferung Ṭabāṭabāʾī ja steht. Zwar unterteilt Platon den Zugang des Menschen zur Wahrheit anders als die Denker der Schule von Isfahan nicht in drei Wege, sondern veranschaulicht seine Auffassung von Erkenntnis vielmehr anhand einer senkrecht stehenden Linie, die in einem ersten Schritt grob in zwei gleiche Abschnitte geteilt wird: Der eine, tiefere, steht für Meinung und der andere, höhere, für Wissen. In einem zweiten Schritt wird der Abschnitt „Meinung“ nun selbst wieder in zwei gleiche Abschnitte geteilt, deren einer, höherer, für Glauben und deren anderer, tieferer, für Einbildung steht. Der Meinung allgemein entspricht die Erscheinungswelt, zu der die sinnlich erfahrbaren Gegenstände, die Materie also, gehören. Auf diese im besonderen bezieht sich der Glaube. Diese Beziehung zwischen Glauben und Materiellem würde in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung der drei Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam dem ersten Weg entsprechen, dem Weg des einfachen Glaubens ohne begründende Erkenntnis, dessen Wanderer Ṭabāṭabāʾī als Menschen beschreibt, „welche nichts als der Materie und dem kurzzeitigen materiellen Leben dieser vergänglichen Welt Eigentlichkeit zuschreiben, an nichts als an den materiellen Objekten des Begehrens hängen und nichts als Entbehrungen materieller Art fürchten.“³⁷³ Immerhin ist auch die Herzenshaltung dieser „Materiemenschen“ als Glaube anzuerkennen. Hätten sie nicht einmal diese rudimentäre Form des Glaubens, wären sie in Platons Darstellung dem Abschnitt „Einbildung“ zuzuordnen. Da ihnen dann aber auch kein Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam offen stünde, sieht Ṭabāṭabāʾī keinen Anlass, sich in seiner Darstellung mit dieser Gruppe überhaupt zu befassen. Wie der Abschnitt „Meinung“, so wird auch der Abschnitt „Wissen“ in Platons Liniengleichnis selbst wieder in zwei gleiche Unterabschnitte geteilt, deren einer, höherer, für philosophische Erkenntnis, mit der Platon die Ideenschau meint, und deren anderer, tieferer, für diskursive Erkenntnis steht. Letzterer entspricht in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung der zweite Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, den der Gelehrte ja unter anderem als „verstandesmässigen Beweis und freie diskursive Beweisführung mittels Demonstration“ beschreibt.³⁷⁴ Dann entspricht schliesslich dem Abschnitt der philosophischen Erkenntnis im eigentlichen Sinne bei Platon, der 371 Vgl. Platon, Politeia:509d-511e und Hügli/Lübcke, 2005:497b) ff. 372 Halm, 1988:118. 373 Ṭabāṭabāʾī, 1348:48. 374 Ṭabāṭabāʾī, 1348:42.
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Ideenschau also, bei Ṭabāṭabāʾī der dritte Weg namens Enthüllung. Und genauso, wie in Platons Veranschaulichung die Abschnitte auf der Linie aneinander ansetzen und zusammen die Linie als ganze aufbauen, so schliessen die drei Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung einander nicht aus, sondern vielmehr aneinander an. Was nun jedoch die Mystiker unter den Wanderern des dritten Weges betrifft, so rechtfertigen all die aufgezeigten Übereinstimmungen zwischen Platons Religion des Geistes und dem dritten Weg aus Ṭabāṭabāʾīs Darstellung, so bedeutend sie sein mögen, es doch auch wieder nicht, in der islamischen Mystik als solcher nichts als eine weitere Deutung, Entwicklung oder Anverwandlung von Platons Lehre im Sinne eines Systems zu sehen. So behandeln denn auch einige der im Iran zur Zeit massgeblichen Darstellungen von Philosophie und Philosophiegeschichte des Islam, so etwa Ṭabāṭabāʾīs Werk über Glaubenslehre und Geistesgeschichte der Schia³⁷⁵ und seine Auseinandersetzung mit der modernen abendländischen Geistesgeschichte unter dem Titel Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus mit dem fortlaufenden Kommentar seines Schülers Muṭahharī³⁷⁶, alles Werke, die der Schule von Isfahan nahestehen, die Mystiker nicht als Platoniker. Ebenso wird in den fachphilosophischen Unterrichtswerken für Gymnasien, theologische Seminarien und Universitäten der Islamischen Republik Iran, die ebenfalls, zum Teil in Anlehnung an Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, auf der Schule von Isfahan aufbauen, so etwa in den Lehrbüchern für das Pflichtfach Philosophie an den Oberstufenklassen der iranischen Gymnasien des Philosophieprofessors Ḥamīd Ṭālebzādeh von der Universität Teheran,³⁷⁷ zwischen Platonikern und Mystikern unterschieden.³⁷⁸ Dafür gibt es auch gute Gründe: Zum einen betrachten die Mystiker das diskursive Verfahren anders als Platon, der die diskursive Erkenntnis als einen Abschnitt in die Linie eingliedert, mit der er seine Auffassung von Erkenntnis im Lichte der Ideenlehre veranschaulicht, nicht nur als ungenügend, sondern auch als unnötig für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg. Kaum sonst sähe die Schule von Isfahan in der Nachfolge Mīr Dāmāds Anlass, die Mystik als den dritten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam an das Verfahren des verstandesmässigen Beweises und der freien diskursiven Beweisführung mittels Demonstration, den zweiten Weg also, erst noch anzuschliessen. Ferner hat der Platonismus wohl auf die Entwicklung der Mystik des Islam gewirkt, so etwa in der Ausbildung ihrer Begriffsprache und ihrer späte375 Ṭabāṭabāʾī, 1348. 376 T/M, 1381. 377 Ṭālebzādeh, 1385a, b. 378 Vgl. Ders., 1385b:90.
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ren Systematisierung, der Platonismus, in welcher Ausprägung auch immer, hat aber nicht ihre Entstehung selbst bewirkt. Zwar war es das Ziel der Mystiker im Islam seit den Anfängen gewesen, sich mit den Attributen Gottes zu qualifizieren, wie sie das ausdrücken,³⁷⁹ und tatsächlich mag die Erörterung des Problems der Attribute Gottes im Islam letztlich auf die Ideenlehre zurückgehen. Aber, wie gesagt: Die Attributendiskussion im Islam hat sich völlig von der Ideenlehre abgekoppelt,³⁸⁰ und schon gar nicht ist der Glaube an die Ideenlehre im Islam verbindlich geworden. Letzteres geht in Ṭabāṭabāʾīs Darstellung schon daraus hervor, dass er sogar den einfachen Glauben, der jeder mystischen Einsicht bar ist, als einen der drei Wege für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam anerkennt und als heilsversichernd gelten lässt. Und schliesslich bedeutet die besagte Verbindung von Platons Religion des Geistes mit der islamischen Mystik nicht, dass sie die einzige ausserislamische Lehre wäre, die sich mit ihr verbunden hat.
Die Erleuchtungsphilosophie Andererseits gibt es unter den Reisenden des dritten Weges eine Gruppe, deren Angehörige in denselben Darstellungen, die aus den genannten Gründen zwischen Platonikern und Mystikern unterschieden wissen wollen, als Platoniker bezeichnet werden. Es handelt sich bei derselben um eine theosophische Schule, die in Anlehnung an die übliche Bezeichnung in den islamischen Quellen³⁸¹ im Deutschen gewöhnlich „Erleuchtungsphilosophie“ genannt wird und deren Begründer Šihāb al-Dīn Suhrawardī (hingerichtet 1191, nach anderen 1208) ist.³⁸² Nach Muṭahharī, dem Schüler Ṭabāṭabāʾīs und Kommentator von dessen Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus, ist „Erleuchtungsphilosophie“ schlechterdings der Name, unter dem der Platonismus selbst bei den Muslimen bekannt wurde, genauso, wie die Anhänger des Aristoteles bei ihnen unter dem Namen „Peripatetiker“ – bzw. der arabischen Lehnübersetzung desselben³⁸³ – bekannt geworden sind.³⁸⁴ Diese Auffassung folgt einerseits älteren Autoren, welche die Erleuchtungsphilosophen als die Philosophen definieren, deren Meister Platon war.³⁸⁵ Andererseits trägt sie dem Selbstverständnis der Erleuchtungsphilosophen Rechnung, 379 Vgl. z. B. Schimmel, 1988:94. 380 Vgl. Wolfson., 1947, vol.I:197, 293 f.; Ders., 1976:147 ff. 381 Arabisch „ḥikmat al-išrāq“. Darstellungen dieser Lehre bei Kamal, 2006:12 ff.; Movaḥḥed, 1384; Nasr, 1996:125 ff.; Rudolph, 2004:77 ff.; Ṭālebzādeh, 1385b:71 ff. 382 Vgl. dieselben Quellen. 383 „maššāʾ“, pl. „maššāʾūn“. 384 M, 1381, I:12. 385 So etwa Mīr Seyyed (Sayyid) Šarīf Ğorğānī (Ğurğānī): Vgl. Kamal, 2006:15.
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denn Suhrawardī selbst betrachtet die Erleuchtungsphilosophie als die Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme einer geistigen Überlieferung, von deren Trägern er Platon besonders verehrt.³⁸⁶ Gegenstand dieser Überlieferung ist das, was es nach Suhrawardī als die eine und einzige Weisheit anzuerkennen gilt, die einzige immer schon gültige Philosophie, die sophia perennis.³⁸⁷ Genauso, wie es die eine wahre Religion als die in der Zeitlosigkeit bei Gott verwahrte Urreligion gibt, deren Verkünder auf Erden die Propheten sind, so gibt es demnach für Suhrawardī die eine wahre Weisheit, die zeitunabhängig gültige Ur-Philosophie gleichsam, deren Träger und Lehrer auf Erden die Weisen sind. Suhrawardī sieht in Platon – und darin liegt für ihn auch dessen besondere Bedeutung – den letzten Vertreter dieser Urphilosophie unter den Griechen. Von dieser wahren Lehre ist aus seiner Sicht entweder schon Aristoteles selbst, spätestens aber seine Schüler, die nachfolgenden Peripatetiker, abgekommen.³⁸⁸ Anders als Platon und die übliche Philosophiegeschichtsschreibung im Abendland überhaupt aber betrachtet Suhrawardī als den ersten namentlich bekannten Vertreter der Urphilosophie nicht Thales von Milet (st. um 546 v. Chr.), sondern Hermes, jenen Hermes, der unter Angleichung an den ägyptischen Gott Thot in der gnostischen Spekulation seit dem Altertum als Begründer und Schutzherr des esoterischen Wissens und der Geheimlehren gilt und als solcher mit dem Weltgeist gleichgesetzt wird.³⁸⁹ Diese Sicht auf die Anfänge der Philosophie hat unter islamischen Theosophen bis heute Schule gemacht, und so erwähnt auch der Gelehrte Muṭahharī in seinem Abriss der Geschichte der Philosophie unter den Menschen Hermes als den ersten namentlich fassbaren Weisen.³⁹⁰ Anders auch als nach den üblichen Überlieferungen über Hermes unter den Muslimen ist nach Suhrawardī dessen Geheimwissen nicht an Aristoteles,³⁹¹ sondern an Platon weitergegeben worden, und so gilt ihm und seiner Schule nicht Aristoteles, sondern Platon als der grosse Lehrer. Dass Muṭahharī die Erleuchtungsphilosophen Platoniker nennt, dürfen wir wohl in seiner Bemerkung begründet sehen, dass unter den Muslimen sie es seien, die der Ideenlehre anhängen.³⁹² Tatsächlich kommt bei Suhrawardī selbst eine ganze Fülle von Ausdrücken vor, unter denen er die Ideen Platons versteht. So beschreibt er sie etwa, wenn er auf ihr Verhältnis zu den Arten der materiel-
386 Vgl. Kamal, 2006:14; Ṭālebzādeh, 1385b:76. 387 Vgl. Rudolph, 2004:84; Brugger, 1963:238 („Philosophie“). 388 Vgl. Ders., 2004:84 f. 389 Vgl. Hiltbrunner, 1964:“Hermes“; Ei (2): „HIRMIS“. 390 Vgl. M, 1381, I:22 f.; T/M, 1381, I:73 f. 391 Vgl. Ei(2) („HIRMIS“):480a. 392 Vgl. M, 1381, I:58.
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len Dinge zu sprechen kommt, als intelligible Wesenheiten, als Vorbilder oder Muster, als Urbilder, die selbst nicht in Materie bestehen.³⁹³ Ebenfalls in bezug auf ihr Verhältnis zu den Arten der sinnlichen Einzeldinge bezeichnet er sie als die ursprünglichen Wirklichkeiten, als wirkliche Dinge also, denen gegenüber die Gegenstände unserer Sinneserfahrung nur Schatten seien³⁹⁴ – eine Wortwahl, die in der Tat Bekanntschaft mit dem Vergleich der Sinnendinge mit Schatten voraussetzt, wie wir ihn bei Platon selbst finden. Weiter nennt Suhrawardī die Ideen in ihrem Verhältnis zu den Einzeldingen, den Individuen oder Partikularien, jeder Art allgemein, universal.³⁹⁵ Doch diese Allgemeinheit der Ideen gegenüber den Einzeldingen der Arten will er nicht wie die eines Allgemeinbegriffs gegenüber mehreren Einzeldingen verstanden wissen, den wir aufgrund der Beobachtung gemeinsamer Eigenschaften an diesen durch Abstraktion in unserem Geist bilden und ihnen beim Denken und Sprechen über sie beilegen, um sie zu definieren. Vielmehr besteht für ihn das, was die Arten der Einzeldinge bestimmt, eben in den Ideen, in realen geistigen Dingen also, die ausserhalb – bildlicher gesprochen: „oberhalb“ – der sinnlichen Einzeldinge liegen und diesen gegenüber allgemein sind. Damit sind die Ideen für Suhrawardī als die Urbilder oder Urformen der Arten der Einzeldinge deren Formursachen bzw. deren Wesensursachen, denn was ein jedes Einzelding seiner Art nach ist, seine Washeit, sein Wesen eben, wird nach Suhrawardī von den Ideen bestimmt. Demgemäss ist auch die Beziehung der Einzeldinge zu ihren Arten keine rein begriffliche oder gedankliche wie die von Einzeldingen zu ihrem Allgemeinbegriff, der gleichsinnig von ihnen allen ausgesagt werden kann, sondern eine reale im Sinne der Teilhabe aller Einzeldinge einer Art in gleicher Weise an ihrer geistigen Urform.³⁹⁶ Als allgemeine Formursachen der Einzeldinge einer jeden Art bestimmen die Ideen aber nicht nur, was diese im allgemeinen sind, ihr Wesen eben, sondern auch ihre jeweiligen, d. h. akzidentellen, Zustände und Wandlungen im einzelnen,³⁹⁷ soweit diese wesensbestimmt sind, ihre Veränderung oder Bewegung also, denn das Allgemeine schliesst das Einzelne in sich. In diesem Punkt weist die Seinslehre, die Ontologie, von Suhrawardī gegenüber der des Aristoteles und überhaupt der Peripatetiker denselben Unterschied auf wie die von Platon. Nach der Lehre der Peripatetiker nämlich wohnen Wesen und Wesensursache den materiellen Einzeldingen selbst inne.³⁹⁸
393 Vgl. Suhrawardī, Talwīḥāt,1952:68, zitiert bei Movaḥḥed, 1384:79 f. 394 Vgl. ebda. 395 Vgl. Movaḥḥed, 1384:81 f. 396 Vgl. ebda. 397 Vgl. Ders., 1384:81. 398 Vgl. Aster, 1998:86.
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Dabei hängt das, was ein Einzelding ist, sein Wesen eben, davon ab, wie sein Stoff, seine Materie, gestaltet ist – von seiner Form also. So ist das Material Ton allein noch kein Tonkrug. Umgekehrt lässt sich der Tonkrug nicht allein durch die Angabe des Materials Ton bestimmen, denn aus Ton kann auch etwas anderes als ein Tonkrug, eine Tontasse etwa, geformt werden. Auch sind Tonkrug und Tontasse auch nicht im Material Ton ausgeformt enthalten. Im Material Ton liegt nur die Möglichkeit, das Potential, aus ihm diese Gefässe zu formen. Die Materie – griechisch „hyle“ – ist der Form gegenüber daher bloss potentiell. Erst durch die Formung des Tons werden die Tongefässe verwirklicht, d. h. aktuell. Die aus der Materie hervorgebrachte Form – griechisch „morphe“ – ist gegenüber der Materie, aus der sie hervorgebracht wird, daher aktuell. Der bloss potentiellen Materie, wie sie vor der Hervorbringung der Form aus ihr vorliegt, geht seinerseits wieder die Form des Gefässes, wie es im Geiste des Töpfers besteht, voraus, und diese ist wiederum aktuell. Die Aktualität geht der Potentialität also stets voraus. Dass der Töpfer schliesslich im Geiste überhaupt ein Bild von dem Tongefäss formt, liegt daran, dass der Töpfer für die Tongefässe, die er aus der Materie formt, bestimmte Verwendungszwecke vorgesehen hat. Diesen Zweck hat er mit der Formung der Tongefässe aus dem Material Ton erreicht. Weder kann ein Tongefäss also ohne Materie entstehen – deshalb ist sie bei dem Vorgang die materielle Ursache – noch ohne Form – sie ist die Formursache – noch ohne das Wirken des Töpfers – dieses ist die Wirkursache – noch ohne den Vorsatz oder die Zielsetzung des Töpfers, ein Gefäss für einen bestimmten Zweck zu haben – sie ist die Zweckursache.³⁹⁹ Was allerdings die Wirkursache betrifft, so liegt diese nicht in jedem Fall ausserhalb des Einzeldings wie beim Formen des Tons zu einem Tongefäss durch den Töpfer. Eine Kaulquappe etwa entwickelt sich ganz ohne solchen äusseren Eingriff zum Frosch. In diesem Fall muss die Wirkursache bei der Veränderung im Einzelding selbst liegen und ausserdem in seinem Wesen begründet sein, denn eine Kaulquappe kann sich nur zu einem Frosch und nichts anderem entwickeln. Diese innere Wirkursache bei der Veränderung der Einzeldinge ist ihre Natur.⁴⁰⁰ In jedem Fall aber, sowohl beim Formen eines Tongefässes aus Ton als auch bei der Veränderung einer Kaulquappe zum Frosch, beruht Veränderung und Bewegung nach den Peripatetikern im Formen der Materie, eine Lehre, die als Hylemorphismus oder peripatetisches System bekannt ist⁴⁰¹, und eben diese anerkennen Suhrawardī und seine Anhänger nicht.⁴⁰²
399 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:58a. 400 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385a:55. 401 Vgl. Brugger, 1963:137 f. 402 Vgl. Nasr, 1996:283.
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Unter Berücksichtigung des bestimmenden Einflusses, den die Ideen als Wesens- oder Formursache auf die Arten der Einzeldinge im allgemeinen und auf die jeweiligen Zustände der Individuen einer jeden Art im einzelnen haben, werden sie bei Suhrawardī auch Herren der Arten genannt.⁴⁰³ Das Wort für „Herr“ in dieser Wendung ist im arabischen Original dasselbe, mit dem auch Gott als Herr bezeichnet zu werden pflegt.⁴⁰⁴ Jeder Herr der Art bestimmt also innerhalb des Weltganzen seine Art, ebenso wie Gott als Herr das Weltganze bestimmt. Aber nicht nur hinsichtlich ihres Einflusses als Wesens- und Formursache heissen die Ideen bei Suhrawardī Herren der Arten, sondern auch, weil sie ebenso Wirkursachen der Arten und ihrer Einzeldinge sind⁴⁰⁵ und als solche diese erschaffen. Allerdings gehen die Einzeldinge der Arten bei ihrer Erschaffung nicht unmittelbar aus den Herren der Arten, den Ideen, hervor. Das ist auch nicht möglich, denn die Einzeldinge der Arten und die Ideen sind ihrem Wesen nach nicht unmittelbar miteinander vereinbar, da die Einzeldinge materiell und individuell, die Ideen aber immateriell, geistig eben, und universal sind insofern, als jede von ihnen je eine Art als ganze bestimmt. Was aus den Ideen daher unmittelbar hervorgeht, ist ein Wesen, das in der einen Richtung, nach „oben“ hin, dem Geistigen und Universalen zugewandt ist und in der anderen, nach „unten“ hin, dem Materiellen und Einzelnen, und dieses Wesen ist die Seele. Denn die Seele ist selbst einerseits materiell, indem sie wie etwa bei Pflanzen, Tieren und Menschen die körperlichen Lebensvorgänge regelt, und andererseits geistig, indem sie – beim Menschen zumindest – zudem Trägerin der Vernunft ist. So erschafft die Seele, die ein jeder Herr der Art hervorbringt, die Einzeldinge der jeweiligen Art, indem sie gewissermassen nach oben zu den Ideen als ihren Vorlagen blickt und zugleich nach unten hin nach jenen dort oben geschauten Vorlagen die materiellen Einzeldinge formt. In dieser letzten Vorstufe zu ihrem Auftreten als körperliche Wesen sind die Einzeldinge wie die Seele, in der sie geformt werden, selbst einerseits immateriell, insofern sie körperlos sind, andererseits auch materiell, insofern als sie bereits materielle Eigenschaften wie Gestalt, Grösse und Individualität haben.⁴⁰⁶ Alle Seelen zusammen bilden eine Gesamtseele, eine Weltseele, in der sie selbst enthalten sind und zu der sie sich verhalten wie die Teile zum Ganzen. Die Weltseele verhält sich zu der Gesamtheit der Einzeldinge aller Arten der materiellen Welt so wie jede Seele zu den Einzeldingen einer Art. Diese Gesamtseele wird bei Erleuchtungsphilosophen nach Suhrawardī unter anderem als „Welt
403 „rabb al-nawʿ“, pl. „arbāb al-anwāʿ“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:81. 404 „rabb“, pl. „arbāb“. 405 Vgl. Kamal, 2006:18 f. 406 Vgl. Movaḥḥed, 1384:85.
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der Ebenbilder“⁴⁰⁷ bezeichnet, wobei mit den Ebenbildern hier die erst zum Teil materiellen Einzeldinge in der Seele auf der Vorstufe zu ihrem körperlichen Auftreten gemeint sind. Genauso nun, wie die Seele einer jeden Art aus einer Idee, dem jeweiligen Herrn der Art, hervorgeht, so geht die Weltseele, die Gesamtseele, aus einer Gesamt-Idee, einem Gesamtgeist oder Gesamtintellekt⁴⁰⁸ hervor. Und genauso, wie alle Seelen zusammen die Gesamtseele bilden, in der sie selbst enthalten sind und zu der sie sich verhalten wie die Teile zum Ganzen, so bilden alle Herren der Arten, die Ideen, zusammen die Gesamtidee, den Gesamtintellekt, in dem sie selbst enthalten sind und zu dem sie sich verhalten wie die Teile zum Ganzen. Unter Berücksichtigung dieses ihres Verhältnisses mit dem Gesamtintellekt werden auch die Ideen, die Herren der Arten, selbst als Intellekte bezeichnet.⁴⁰⁹ Und zwar stehen die Intellekte, die Herren der Arten, innerhalb des Gesamtintellekts, den sie bilden, selbst ohne Beziehung des einen zum anderen gewissermassen nebeneinander – das erklärt, warum die Arten als solche nicht ineinander übergehen können –, und aufgrund dieser ihrer Aufreihung in der Horizontalen werden sie auch „horizontale Intellekte“ genannt.⁴¹⁰ Philosophiegeschichtlich betrachtet, hat die Bezeichnung der Ideen als Intellekte bei den Erleuchtungsphilosophen ihre nächste Vorlage in den Lehren der Neuplatoniker. Nach deren Lehre ist der „Ort“ der Ideen der Bereich des Intellekts – gemeint ist der Gesamtintellekt.⁴¹¹ So sagt etwa Plotin: „Alles an Wirklichkeit, das der Welt der Erscheinungen zukommt, beruht auf ihrer Teilhabe an den Ideen, die im Intellekt sind.“⁴¹² Des öfteren findet sich in den philosophischen Quellen für den Gesamtintellekt auch der Ausdruck „Schatztruhe der Ideen“.⁴¹³ Dass die Ideen aber im Gesamtintellekt sind, ist so zu verstehen, dass sie dessen Denkinhalte sind. Dass sie seine Denkinhalte sind, bedeutet seinerseits aber wieder, dass sie mit ihm eins sind. Denn – dies nun ein aristotelischer Gedanke – der Intellekt ist, wenn er sich nicht im Denken und Erkennen betätigt, ein blosses geistiges Vermögen, nur potentiell wie die Materie gegenüber der Form also und damit nicht aktuell, nicht wirklich. Wirklich wird der Intellekt erst durch den Akt des Denkens und Erkennens bzw. durch den Gedanken und die Erkenntnis als den Gegenstand dieses Aktes. Dass etwas wirklich wird, heisst nach der Lehre des
407 Ders., 1384:84; Ṭālebzādeh, 1385b:80. 408 Arabisch „ʿaql kullī“. 409 Vgl. Movaḥḥed, 1384:83. 410 Ebda. 411 Ebda. 412 Ebda. 413 Ebda.
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Hylemorphismus aber nichts anderes, als dass es geformt wird. So ist der Gedanke des Intellekts beim Denken bzw. die Erkenntnis des Intellekts beim Erkennen die Form des Intellekts, und der solcherart verwirklichte, d. h. geformte, Intellekt ist sein eigener Gedanke bzw. seine eigene Erkenntnis und daher eins mit diesen.⁴¹⁴ In diesem Sinne sind auch die Ideen als die Denkinhalte des Gesamtintellekts eins mit diesem, den sie in seiner Gesamtheit ja bilden, und können deshalb mit einigem Recht selbst als Intellekte angesprochen werden. Aus diesem ursprünglich aristotelischen Gedanken, einer Anwendung des Hylemorphismus auf intellektuelle Vorgänge, ist schon vor den Erleuchtungsphilosophen und auch schon vor den Neuplatonikern hergeleitet worden, dass die Ideen selbst als Intellekte und der Gesamtintellekt als ihr Ort bezeichnet werden können. Wir finden ihn in dieser Verwendung bereits bei dem Platoniker Philon.⁴¹⁵ Nach all diesem können wir sagen, dass das Verhältnis der Ideen zum Gesamtintellekt einerseits wie das der Teile zum Ganzen ist und andererseits wie die Denkinhalte des Intellekts zum Intellekt. Der Gesamtintellekt ist nach aussen hin also eine vollkommene Einheit, besteht im Innern jedoch aus Teilen, seinen Denkinhalten, den Ideen. Der Gesamtintellekt geht letztlich aber selbst hervor aus Gott, und Gott ist sowohl nach aussen hin eines als auch eines im Innern – er ist das Eine schlechthin. In ihm bestehen die Denkinhalte, die im Innern des Gesamtintellekts als dessen Teile bestehen, wohl auch – jedenfalls kann von Gott sicherlich nicht gesagt werden, dass er etwas nicht wisse, was ein Wesen tiefer als er selbst weiss –, aber nicht als Teile, sondern als Einheit, als die Einheit von Gottes Wesen selbst. Gottes Wissen ist also ein einfaches Wissen, und Wesen und Wissen in Gott sind eins. Nach der bisherigen Darstellung verstehen die Erleuchtungsphilosophen die Wirklichkeit oberhalb des Bereiches des Körperlichen somit als eine Stufenfolge von oben nach unten bestehend aus dem Einen, d. h. Gott, dem Gesamtintellekt und der Gesamtseele, eine Stufenfolge, in der die jeweils tiefere Stufe unmittelbar aus der jeweils höheren hervorgeht und letztlich jede aus dem Einen. Auch diese Lehre der Erleuchtungsphilosophen im Islam von der Wirklichkeit oberhalb der Körperwelt als einer abgestuften Dreiheit aus dem Einen, Gesamtintellekt und Gesamtseele geht auf Gedankengut des Neuplatonismus zurück, genauer auf die Seinslehre des Plotin (st. um 270 n. Chr.), seines einflussreichsten Vertreters.⁴¹⁶ Allerdings weist die Abstufung der Wirklichkeit bei Suhrawardī und seinen Anhängern im Bereich zwischen dem Einen und dem Gesamtintellekt noch weitere intelligible Stufen auf, die übereinander angeordnet sind, von denen 414 Vgl. Wolfson, 1947, vol.I:246. 415 Vgl. Ders., 1947, vol.I:229 ff., 245 ff. 416 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:504a.
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ebenfalls die jeweils tiefere aus der jeweils höheren hervorgeht und letztlich jede aus dem Einen und deren unterste eben der Gesamtintellekt ist. Aufgrund der Abfolge dieser intelligiblen Stufen in der Vertikalen werden sie auch als „vertikale Intellekte“ bezeichnet.⁴¹⁷ Diese Erweiterung des plotinischen Systems der dreifachen Stufenfolge, eingeführt von Iamblichos (st. um 325 n. Chr.),⁴¹⁸ begegnet uns in verschiedenen Ausgestaltungen jedoch ebenfalls in manchen Richtungen des Neuplatonismus nach Plotin. Streng genommen, ist es auch nicht im Sinne Plotins, dem Einen überhaupt ein Wissen, und sei es ein vollkommenes und einfaches Wissen, zuzuschreiben. Denn Wissen setzt ein Subjekt des Wissens auf der einen und ein Objekt des Wissens auf der anderen Seite und damit eine Zweiheit voraus,⁴¹⁹ und eine solche Auffassung von dem Einen schlechthin würde dessen Einheit selbst nicht gerecht. Ja, streng plotinisch gesprochen, lässt sich dem Einen nicht nur kein Bewusstsein, sondern auch sonst keine Bestimmung zuschreiben: Über das Eine können wir also weder sagen, wie es ist, noch, wie es nicht ist.⁴²⁰ Wenn wir in der Beschränktheit unserer Erkenntnis- und Ausdrucksmöglichkeiten über das Eine überhaupt bejahende Bestimmungen wie Wissen, Leben oder Wirken aussagen, so geschieht dies im Grunde nur, um der Auffassung vorzubeugen, das Eine sei unwissend, tot oder wirkungslos. Während gemäss den theologischen Lehren des Islam – von anthropomorphistischen Richtungen, die im Laufe der Geschichte allerdings als unorthodox ausgeschieden worden sind, einmal abgesehen – Gott nur keine Bestimmungen aus der Körperwelt beigelegt werden dürfen, und wenn, dann höchstens in Analogie, kommen Gott nach Plotins Lehre von dem Einen gar keine Bestimmungen zu. Gott als das Eine schlechthin ist das Bestimmungslose⁴²¹ schlechthin. Es gibt Richtungen im Islam, Richtungen allerdings, die im Laufe seiner Geschichte ebenfalls für unorthodox erklärt worden sind, welche die Auffassung eines solchen entrückten Gottes⁴²² als des bestimmungslosen Einen vertreten. Sie finden sich etwa unter denselben Strömungen der schiitischen Gnosis, von denen manche lehren, dass innerer und äusserer Sinn der Offenbarung Unterschiedliches, ja, Gegensätzliches besagen können und dass nur das Wissen um den inneren Sinn der Offenbarung den Menschen sicher errette und blosser Glaube den Menschen nicht sicher errette.
417 Vgl. Movaḥḥed, 1384:83. 418 Vgl. Brugger, 1963:214 („Neuplatonismus“). 419 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:504b. 420 Vgl. ebda. 421 Griechisch „ἄπειρον“; vgl. Endress, 1973:163, 217. 422 Arabisch „ilāh munʿazil“.
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Einem solchen Gottesverständnis, das aus der streng plotinischen Lehre von dem Einen stammt, folgen die Erleuchtungsphilosophen, die Muṭahharī als die Platoniker erwähnt, jedoch nicht. Dass ihnen zufolge Gottes Wesen und Gottes Wissen eins sind, bedeutet ja, dass Gott als das höchste Wesen auch der höchste Intellekt ist. Es ist wohl richtig, dass diese Auffassung des Einen dem islamischen Verständnis von Gott als dem Allwissenden, wie er sich selbst im Koran nennt,⁴²³ entgegenkommt. Das heisst aber nun auch wieder nicht, dass sie erst von islamischen Denkern eigens mit Blick auf die Vorgaben der islamischen Theologie entwickelt worden wäre. Sie liegt bereits in gewissen nachplotinischen Strömungen des Neuplatonismus vor, welche die Lehre Plotins in diesem Sinne weiterentwickeln, Strömungen, mit deren Schrifttum die Muslime bekannt wurden.⁴²⁴ Und auch in der ausgehenden Antike haben die betreffenden Richtungen des Neuplatonismus dieses Verständnis von dem Einen nicht aus Rücksicht auf den Gottesbegriff des Christentums entwickelt.⁴²⁵ Vielmehr lassen sich die Anstösse dazu in einem rein philosophischen Anliegen sehen, nämlich dem Versuch, den peripatetischen Gottesbegriff mit dem des Platonismus zu vereinbaren. Überhaupt leitet das Bestreben, peripatetische und platonische Lehre – mal im Zeichen der ersteren, mal der letzteren – miteinander auszugleichen, das Philosophieren der spätantiken Schulen, gerade des Neuplatonismus selbst, in einem bedeutenden Masse.⁴²⁶ So kommt es wohl nicht von ungefähr, dass wir ähnliche Bestrebungen bei islamischen Denkern, die mit Schriften jener Schulen in Berührung kamen, wiederfinden.⁴²⁷ Was den Gottesbegriff angeht, so gilt Gott nur in Platons Lehre als Schöpfer der Welt, während er bei Aristoteles wohl der selbst unbewegte Beweger der Welt ist, dessen Wirken sich im Kreisen der Himmelssphären zeigt, nicht aber ihr Erschaffer.⁴²⁸ Nach Aristoteles wäre die Erschaffung der Welt eines so hohen Wesens wie Gott auch nicht würdig, denn dann müsste er sich in seinem Denken und Tun ja mit etwas Niedrigerem befassen, als er selbst ist. Nur ein Gedanke ist Gottes würdig, und das ist er selbst: Gott denkt Aristoteles zufolge also nur sich selbst.⁴²⁹ Zwischen der aristotelischen Auffassung von Gott als einem Wesen, das, weil es nur sich selbst denkt, nicht der Schöpfer der Welt ist, und der des Platonismus sowie später eben auch des Christentums und des Islam von Gott als dem Schöpfer der Welt kann nun die neuplatonische Auffas-
423 Arabisch „al-ʿalīm“; so etwa Koran: 6/96. 424 Vgl. Endress, 1973:206 ff., 217 ff. 425 Vgl. ebda. 426 Vgl. Endress, 1973:238; Blank, 1996:168 ff. 427 Vgl. Endress, 1973:239 ff. 428 Vgl. Brugger, 1963:20 („Aristotelismus“). 429 Vgl. Aster, 1998:88; Hügli/Lübcke, 2005:61a; Huber, 1976:10 ff.
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sung von Gott als höchstem Intellekt vermitteln. Was die islamische Geistesgeschichte betrifft, so geht etwa der Philosoph Fārābī ebenfalls vom aristotelischen Verständnis von Gott als einem Wesen aus, das sich selbst denkt, aber – und an dieser Stelle macht sich neuplatonisches Gedankengut bemerkbar – indem Gott sich selbst denkt, geht aus seinem Denken ein Gedanke hervor, und so ist aus der anfänglichen Einheit von Gottes Denken eine Zweiheit von Gottes Denken und seinem Gedanken entstanden.⁴³⁰ Dieser Gedanke ist für seine Entstehung aber von Gott ursächlich abhängig und weist in dieser Hinsicht dieselbe Eigenschaft wie die Materie auf, die nichts ist, wenn sie nicht unter der Wirkung einer Ursache geformt wird.⁴³¹ Deshalb verdinglicht sich dieser Gedanke Gottes auch materiell in Gestalt der äussersten Himmelssphäre.⁴³² Der erste Gedanke Gottes denkt aber seinerseits, und aus diesem Denken geht ein weiterer Gedanke hervor, der sich ebenfalls materiell in Gestalt der nächsten Sphäre verdinglicht, und dieser Vorgang wiederholt sich, bis die Welt mit all ihren Sphären geschaffen ist. So schlägt Fārābī also die Brücke von dem Gott nach der aristotelischen Lehre, der, weil er sich selbst denkt, die Welt nicht schafft, zu einem Gott, der, weil er sich selbst denkt, die Welt schafft. Dass Fārābī bei diesem Brückenschlag auf neuplatonisches Gedankengut baut, lässt ihn in seinen eigenen Augen der Lehre seines ersten Lehrers Aristoteles aber nicht untreu werden. Denn seine neuplatonischen Anleihen bezog Fārābī aus einer Schrift, die, philosophiegeschichtlich betrachtet, zwar eine ins Arabische übersetzte Paraphrase von Teilen aus Plotins Werk darstellt, von den meisten islamischen und wahrscheinlich schon von vorislamischen Denkern aber dem Aristoteles zugeschrieben wurde.⁴³³ Sie wird denn auch gewöhnlich unter dem Titel „Theologie des Aristoteles“⁴³⁴ zitiert. Aus Gott dem Einen gemäss neuplatonischer Lehre geht also in Stufen alles andere hervor. Das Verhältnis zwischen dem, was nicht Gott selbst ist, und Gott lässt sich nach neuplatonischem Verständnis daher wohl als das zwischen Schöpfung und Schöpfer begreifen, aber das Verhältnis zwischen Schöpfung und Schöpfer wird nicht gleichsam als das eines Werkstückes zum Handwerker verstanden, sondern gleichsam als das des Lichtes zur Lichtquelle. Die Schöpfung verhält sich, gleichnishaft ausgedrückt, wie das Ausstrahlen, das Ausströmen – lateinisch „Emanation“ –, des Lichtes der Sonne zur Sonne selbst. Plotin selbst sowie die Neuplatoniker nach ihm versinnbildlichen das Hervorgehen jeder
430 Vgl. Rudolph, 2004:34. 431 Vgl. ebda.; ausserdem Strohmaier, 1999:63 f. zum Vergleich mit dem Emanationsschema bei Ibn Sīnā. 432 Vgl. Rudolph, 2004:34. 433 Vgl. Endress, 1973:241; Strohmaier, 1999:59 ff. 434 Arabisch „Uṯūlūğiyā Arisṭāṭālīs“; Badawī, 1955.
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Stufe von Wesen aus der jeweils höheren und letztlich aller aus dem Einen als das Ausstrahlen bzw. Einstrahlen von Licht, als Erleuchtung, und nach einer der verschiedenen Wiedergaben des griechischen Ausdrucks für „Erleuchtung“⁴³⁵ ins Arabische⁴³⁶ werden Suhrawardī und seine Anhänger denn auch als Erleuchtungsphilosophen und ihre Lehre als Erleuchtungsphilosophie bezeichnet. Bei der neuplatonischen Quelle, in der Suhrawardī diesen Ausdruck vorfand, handelt es sich um die bereits erwähnte ins Arabische übertragene Plotinparaphrase. Diese wurde, wie gesagt, von Peripatetikern wie Fārābī dem Aristoteles zugeschrieben, den sie als ihren grossen Meister verehrten. Suhrawardī aber verehrte als seinen grossen Meister nicht Aristoteles, sondern Platon und schrieb die Plotinparaphrase diesem zu.⁴³⁷ Einige der Stellen der Plotinparaphrase, an denen sich die arabische Wiedergabe des griechischen Ausdrucks für „Erleuchtung“ findet, auf welche die Bezeichnung von Suhrawardīs Schule als Erleuchtungsphilosophie zurückgeht, lassen sich eindeutig auf Stellen in Plotins Schriften beziehen, an denen der griechische Originalausdruck steht.⁴³⁸ Genau wie bei den vorislamischen Neuplatonikern bildet die gleichnishafte Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott dem Einen und allen anderen Wesen als Erleuchtung bei den islamischen Erleuchtungsphilosophen einen festen Bestandteil ihrer Begriffssprache.⁴³⁹ Auch dass diese Beschreibung von ihren Benutzern nur als Gleichnis verstanden wird, geht aus der Bemerkung Plotins hervor, wo es heisst: „[…] auch wenn wir manchmal von Erleuchtung sprechen, so werden wir dies nicht im selben Sinne meinen, wie wir im Falle der Sinnendinge von Erleuchtungen nach Art des Sinnlichen sprechen […].“⁴⁴⁰ Dabei entwickeln die Neuplatoniker in der Verwendung von Licht als Gleichnis für das Verhältnis des höchsten Wesens zu allen anderen ähnliche Vergleiche in Platons Werk weiter,⁴⁴¹ wie sie sich selbst ja überhaupt schlicht als Platoniker verstanden – die Unterscheidung zwischen Platonismus und Neuplatonismus ist eine rein philosophiegeschichtliche.⁴⁴² Unter Verwendung eben dieser Lichtmetaphorik sprechen auch die Erleuchtungsphilosophen unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zwischen Gott dem Einen und allen anderen Wesen zueinander im Sinne von Schöpfer und Schöp435 „ἐλλάμπειν“ bzw. „ἔλλαμψις“: vgl. Plot. V 8, 12, 23; VI 7, 5, 31; VI 7, 6, 13. 436 „išrāq“. 437 Vgl. EI (2):1032a („Uthūlūdjiyā“). 438 Vgl. Uṯūlūğiyā, 1955:145, 12 (~ Plot. VI 7, 5, 31); 146, 6 (~ Plot. VI 7, 6, 13). 439 Zu den vorislamischen Neuplatonikern vgl. Obertello, 1981:141, Anm. 52., und Procl., In Tim. III, 17, 13. 440 Plot. VI 5, 8, 10 ff. 441 Vgl. Movaḥḥed, 1384:115; ausserdem Platon: Politeia, VI, 508c, d. 442 Vgl. Gruber, 1978:37.
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fung sowohl von Gott wie auch von den Wesen ausser Gott als Lichtern. Dabei verstehen sie die Wesen ausser Gott dem Einen als Lichter im Sinne von Abstufungen von Licht und Gott das Eine selbst als Licht im Sinne von Licht ohne Abstufung, welch letzteres sie mit einem Ausdruck aus der Plotinparaphrase als Licht der Lichter⁴⁴³ bezeichnen. Unter demselben Gesichtspunkt werden die vertikalen Intellekte sowie die horizontalen Intellekte, die Herren der Arten oder Ideen also, bei denen es sich um die Teile und Denkinhalte des untersten der vertikalen Intellekte handelt, von Suhrawardī und seinen Anhängern die überlegenen Lichter⁴⁴⁴ genannt. Dabei werden die horizontalen Intellekte zuweilen mit dem Ausdruck „überlegene Formlichter“⁴⁴⁵ von den anderen überlegenen Lichtern unterschieden, da sie innerhalb des Gesamtintellekts die intelligiblen Formen oder Vorbilder einer jeden Art der materiellen Einzeldinge sind. Auch die Gesamtseele oder die Welt der Ebenbilder sowie die darin enthaltenen Ebenbilder selbst werden, wenn sie auf ihre Beziehung mit dem Einen als dem Licht der Lichter hin angeschaut werden, von den Erleuchtungsphilosophen als Lichter erwähnt, genauer: als ordnende Lichter⁴⁴⁶, da sie näher als die intelligiblen Stufen weiter oben mit der Erschaffung und Ordnung der materiellen Welt befasst sind. Und auch die Sinnenwelt und alle Wesen in ihr heissen im Hinblick auf ihre Abhängigkeit vom Licht der Lichter in der Lehre der Erleuchtungsphilosophie Lichter. Jedes Ding ist für Suhrawardī und seine Anhänger also ein Wesen – lateinisch „Essenz“ –, versinnbildlicht als Licht. In der Hinsicht, dass alle Wesen Licht sind, sind sie alle eins mit dem Einen, dem höchsten Wesen und Licht der Lichter, und also auch miteinander, und der Begriff der Essenz kann gleichbedeutend von ihnen allen ausgesagt werden.⁴⁴⁷ Ebenso gilt aber, dass jedes Wesen, je mehr Emanationsstufen zwischen ihm und dem Einen liegen, desto mehr von dem Einen, dem Licht ohne Abstufung, entfernt und desto schwächer sein Licht ist.⁴⁴⁸ In der Hinsicht also, dass allen Wesen, wiewohl sie alle Licht sind, eine grössere oder geringere Leuchtkraft zukommt, sind sie wiederum nicht eins mit dem Einen, dem höchsten Wesen und Licht der Lichter, und also auch nicht miteinander, und der Begriff der Essenz kann nicht gleichbedeutend von ihnen ausgesagt werden; es haftet ihm nunmehr eine gewisse Uneindeutigkeit an.⁴⁴⁹ 443 Arabisch „nūr al-anwār“: Vgl. Uṯūlūğiyā, 1955:56, 119. 444 Arabisch „nūr qāhir“, pl. „anwār qāhirah“;Movaḥḥed, 1384:83. 445 Arabisch „nūr qāhir ṣuwarī“, pl. „anwār qāhirah ṣuwariyyah“: Vgl. ebda. 446 Arabisch „nūr mudabbir“, pl. „anwār mudabbirah“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:74, 98, Anm. 2; Ṭālebzādeh, 1385b:80. 447 Vgl. Movaḥḥed, 1384:91 f.; Ṭālebzādeh, 1385b:78. 448 Vgl. Movaḥḥed, 1384:91; Ṭālebzādeh, 1385b:78. 449 Arabisch „taškīk (fī al-ğawhar/al-māhiyyah)“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:73 f., 91.
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Insofern also, als alle Dinge Abstufungen von Licht sind, sind sie eins – eins mit dem Einen, dem Licht der Lichter, und damit auch eins miteinander. Insofern wiederum, als alle Dinge Abstufungen von Licht sind, sind sie hingegen nicht eins, sondern verschieden – verschieden voneinander und auch von dem Einen, dem Licht der Lichter. Wird nun die Abstufung von einem Licht mit grösserer Leuchtkraft zu dem nächsttieferen mit geringerer Leuchtkraft gewissermassen als das Ergebnis der Subtraktion der geringeren Leuchtkraft des letzteren Lichtes von der grösseren Leuchtkraft des ersteren aufgefasst, so wird diese Abstufung in Suhrawardīs Fachsprache mit einem Wort bezeichnet, das sich etwa mit „Übergang“ oder „Zwischenbereich“⁴⁵⁰ wiedergeben liesse. Wird dieser Zwischenbereich nur für sich betrachtet, ohne Berücksichtigung der beiden Stufen, zwischen denen er der Zwischenbereich ist, so heisst er bei Suhrawardī Körper⁴⁵¹ oder Schatten⁴⁵², dies getreu der platonischen Auffassung, nach der es sich beim Körperlichen um den Schatten des Geistigen, der Ideen, handle. Mit einem allgemeineren Ausdruck wird der Schatten im Sinne des Körperlichen von Suhrawardī zudem als Dunkelheit bezeichnet.⁴⁵³ Mit all diesen Ausdrücken: Dunkelheit, Schatten, Körper oder Zwischenbereich meint Suhrawardī die Hinsicht an den Dingen, in der sie mit dem Einen, dem Licht der Lichter, nicht eins, sondern mehr oder weniger von ihm entfernt sind. Für alle Wesen unterhalb des Einen und oberhalb der Körperwelt, d. h. von der obersten Emanationsstufe bis hinunter zur Stufe der Gesamtseele, findet sich bei Suhrawardī aber noch ein weiterer Ausdruck, nämlich Engel.⁴⁵⁴ All den Wesen nun, die er so nennt, ist gemein, dass es sich bei ihnen um Geistwesen handelt, die im Bereich des Geistigen bleiben und nicht in den Leib hinabsteigen. Diese Gemeinsamkeiten ergeben aber die Definition für Engel, die sich in der Geistesgeschichte bis auf Philon zurückverfolgen lässt,⁴⁵⁵ und sie scheint auch Suhrawardīs Wortwahl zugrunde zu liegen. Ein Geistwesen jedoch gibt es, das im Unterschied zu den Engeln nicht im Bereich des Geistigen bleibt, sondern in den Leib hinabsteigt: Dieses geistige Wesen ist der Mensch. Ein weiterer Unterschied des Menschen zu den übrigen Geistwesen ist der, dass die Tätigkeit seines Geistes, das Denken, keine Stufe von untergeordneten Wesen, keine Emanationsstufe also, hervorbringt. Denn herabgestiegen in die Körperwelt, die unterste Stufe von Wesen also, kann die Tätigkeit
450 Arabisch „barzaḫ“, pl. „barāziḫ“. 451 Arabisch „ğism“, pl. „ağsām“, oder „ğirm“, pl. „ağrām“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:64, 75, 88. 452 Arabisch „ẓill“, pl. „ẓilāl“: Vgl. ebda. 453 Arabisch „ẓulmah“: Vgl. ebda. 454 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:80. 455 Vgl. Wolfson, 1947, vol. I:367.
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seines Geistes nicht noch weiter nach unten wirken. Der Intellekt des Menschen kann sich daher nur nach oben richten, dorthin, woher er ja auch gekommen ist. Diese Ausrichtung des Intellektes des Menschen nach oben weist ihm den Weg der Erkenntnis. Die Erkenntnis des Menschen besteht im Durchschreiten desselben Weges von Emanationsstufe zu Emanationsstufe, den auch die Schöpfung der Dinge, der Gegenstände der Erkenntnis also, durchläuft. Nur legt die Erkenntnis des Menschen diesen Weg von unten nach oben, d. h. von der Körperwelt hin zu Gott, zurück und der Schöpfungsvorgang von oben nach unten, d. h. von Gott aus hin zur Körperwelt. Deshalb schaut der Mensch beim Erkennen die Gegenstände seiner Erkenntnis, die ihm übergeordneten Stufen der Wesen, auch von unten her an und nicht wie Gott in seinem Wissen von oben her. An dieser Umkehrung der Blickrichtung des Menschen bei der Erkenntnis liegt es auch, dass sein Intellekt zu den höheren Stufen der Wesen, insbesondere zu Gott, nur auf dem Weg der Verneinung Zugang hat, und nicht wie Gott, dem ja alle Stufen von Wesen untergeordnet sind, auf dem Weg der Bejahung. Veranschaulichen lässt sich dieser Gedanke etwa anhand einer Delle in einer Gefässwand, die vom Innern des Gefässes aus betrachtet als Ausbuchtung und von aussen besehen als Einbuchtung erscheint: Selbst wenn ich noch nie eine Delle von aussen gesehen hätte und vom Innern des Gefässes her blickend nicht weiss, was die Delle von aussen betrachtet ist, so kann ich doch immerhin sagen, was sie von aussen betrachtet sicher nicht ist, nämlich eine Ausbuchtung. Auch der hier veranschaulichte Gedanke ist neuplatonisch, und er findet sich ausgeführt in Schriften dieser Schule, die den muslimischen Denkern in Übersetzung bekannt waren, so etwa in der Theologischen Unterweisung des Proklos (st. 485 n. Chr.).⁴⁵⁶ Aber nicht nur die Lehre der Erleuchtungsphilosophen von der Welt als Stufen einer Emanation, einer Stufenfolge, die bei der Schöpfung von oben nach unten und beim Erkennen von unten nach oben durchschritten wird, lässt sich auf den Neuplatonismus zurückverfolgen. Auch das Gesetz, auf das dessen Denker die Emanationslehre in Seins- und Erkenntnistheorie gründen, findet sich in den Schriften der Erleuchtungsphilosophen. Dieses besagt, dass ein Prinzip – also etwa die rein geistigen Ideen – immer ein Prinzip für etwas anderes – hier die körperlichen Einzeldinge – ist, woraus folgt, dass ein höheres Prinzip – in diesem Beispiel die Ideen – mit Notwendigkeit die Entstehung von etwas Niedrigerem – hier der körperlichen Einzeldinge – begründet, das sich von dem Prinzip unterscheidet – so wie sich das Körperliche in seiner Vergänglichkeit und Individualität von den Ideen in ihrer Unvergänglichkeit und Allgemeinheit unterscheidet – und wofür das Prinzip Prinzip ist.⁴⁵⁷ Genau demselben Gesetz, nur in der umgekehr456 Vgl. Endress, 1973:221 f., 294 (Prop. 167A). 457 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:501b.
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ten Reihenfolge des zugehörigen Gedankengangs formuliert, begegnen wir in neuplatonischen Quellen, auf welche sich muslimische Denker beziehen, so etwa in der Plotinparaphrase, wo es heisst: „Es ist nicht möglich, dass es eine sinnliche Welt gibt, es sei denn, es gebe eine geistige Welt […].“⁴⁵⁸ Denselben Gedanken drückt Suhrawardī mit den Worten aus: „Eines der erleuchtungsphilosophischen Gesetze ist, dass, wenn das niedrigere Mögliche besteht, es mit Notwendigkeit voraussetzt, dass bereits das erhabenere Mögliche bestehe.“⁴⁵⁹ In arabischen oder persischen Darstellungen der Erleuchtungsphilosophie ist für dieses Gesetz der Ausdruck „Gesetz der erhabeneren Möglichkeit“⁴⁶⁰ gebräuchlich geworden. Das Vollkommenheitsgefälle zwischen der jeweils höheren Stufe von Wesen und der niedrigeren wird mit Ausdrücken wie Überlegenheit und Erhabenheit bezeichnet, wenn es von oben nach unten angeschaut wird – dies ist die Blickrichtung der Ontologie –, und als Liebe, wenn es von unten nach oben betrachtet wird – dies die Blickrichtung der Epistemologie.⁴⁶¹ Weil nun auch das Geistwesen Mensch nach seinem Abstieg in die Körperwelt das Gefälle zwischen der Wesensstufe, von der es gekommen, und der, in die es hinabgestiegen ist, von unten nach oben wahrnimmt, gilt für den Menschen in besonderer Weise, dass sein Hinaufblicken zu den höheren Wesensstufen sowie das Durchschreiten dieser Stufen in eben dieser Blickrichtung im Akt des Erkennens nichts anderes ist als Liebe. Sowohl dieser Gedanke ist klar platonisch bzw. neuplatonisch als auch die Beschreibung der Erkenntnis des Menschen bei den Erleuchtungsphilosophen als einer Wiedererinnerung an die Ideen, die sein Geist vor dem Abstieg in den Körper in der intelligiblen Welt geschaut hat – einer Wiedererinnerung, die ihrerseits eine Läuterung des Geistes, d. h. die Freilegung der Ideen in ihm von den Überlagerungen des Körperlichen, voraussetzt. Schon die Ausdrücke „Wiedererinnerung“ und „Läuterung“ sowohl in erleuchtungsphilosophischen als auch in mystischen Quellen lassen sich als Lehnübersetzungen platonischer oder neuplatonischer griechischer Vorlagen ins Arabische ausmachen.⁴⁶² Eine Idee im Geiste des Menschen gibt es jedoch, die im Erkenntnisvorgang nicht erst freigelegt werden muss. Diese Idee ist sein eigenes Selbst. Mein Bewusstsein meiner selbst ist kein Erkenntnisgehalt, auf den ich über verschiedene Erkenntnisschritte erst 458 Uṯūlūğiyā, 1955:177. 459 Suhrawardī, Ḥikmat al-išrāq:154 (vgl. Ders., Talwīḥāt:51; Muṭāraḥāt:434; Alwāḥ ʿimādiyyah:149; Hayākilal-nūr:101; Partow-nāmeh:45). 460 Arabisch „qāʿidat al-imkān al-ašraf“, persisch „qāʿede-ye emkān-e ašraf“: Ṭālebzādeh, 1385b:79. 461 Vgl. Movaḥḥed, 1384:111. 462 „Wiedererinnerung“: griechisch „ἀνάμνησις“, arabisch „dikr“/“tadakkur“; „Läuterung“: griechisch „κάθαρσις“: vgl. Brugger ,1963:214 („Neuplatonismus“) , arabisch „tahdīb“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:124.
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kommen müsste, sondern meinem Geist unmittelbar gegenwärtig,⁴⁶³ und die vollkommene Gewissheit der Erkenntnis in diesem Fall liegt darin, dass in meinem Bewusstsein meiner selbst Erkennen, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt eins sind. Würde es sich mit meinem Bewusstsein jedes anderen Erkenntnisgehaltes ebenso verhalten, wäre in mir die vollkommene Erkenntnis verwirklicht und das Ziel des Erkenntnisweges erreicht. Die erste Stufe auf diesem Erkenntnisweg ist für den Menschen angesichts der Überlagerung seines Geistes durch das Körperliche die Sinneserfahrung. Dies ist keinesfalls so zu verstehen, dass Sinneserfahrung allein Erkenntnis begründen würde, wie der Empirismus dies lehrt. Auch liegt die Bedeutung der Sinneserfahrung gemäss dieser Erkenntnislehre nicht allein darin, dass sie die Daten liefert, von denen ich als dem sinnlich Wahrnehmbaren, dem Sichtbaren etwa, auf das sinnlich nicht Wahrnehmbare, das Unsichtbare, schliesse, wie dies im diskursiven Verfahren der peripatetischen Erkenntnislehre geschieht. Die Bedeutung der Sinneserfahrung liegt nach der Erkenntnislehre, mit der wir es hier zu tun haben, mehr darin, dass sie im Menschen den Vorgang der Wiedererinnerung anregt. Denn bei den sinnlichen Einzeldingen selbst handelt es sich nach platonischem Verständnis um blosse Abbilder. Für diesen Begriff taucht im neuplatonischen Schrifttum griechischer Sprache des öfteren der Ausdruck „Bildnis“⁴⁶⁴ auf, auch in Werken, die den muslimischen Philosophen in arabischer Übersetzung zur Verfügung standen, und in Anlehnung an diese Werke schliesslich auch in den Schriften der Erleuchtungsphilosophen selbst.⁴⁶⁵ Und sowohl in dem zunehmend christianisierten Umfeld des Neuplatonismus im ausgehenden Altertum als auch vor dem islamischen Hintergrund der Erleuchtungsphilosophie war die religiös beeinflusste Nebenbedeutung dieses Wortes im Sinne von „Götzenbild“, einem Götzenbild, von dem sich der Gläubige, will er den wahren Gott erkennen, abzuwenden hat, sicher nicht unwillkommen. Von der Wahrnehmung dieser bloss sinnlichen Bildnisse nun kann der Mensch in Befolgung des Gesetzes der erhabeneren Möglichkeit darauf schliessen, dass es sich bei ihnen um Abbilder rein geistiger Vorbilder handelt,⁴⁶⁶ und auf dem Erkenntnisweg somit auf die nächsthöhere Stufe gelangen. Die nächsthöhere Stufe über den körperlichen Einzeldingen ist aber die der nichtkörperlichen Einzeldinge, die Welt der Ebenbilder. Dabei wird diese Stufe, wenn sie nicht als Emanationsstufe, sondern als Erkenntnisstufe, d. h. nicht im
463 Vgl. Suhrawardī, Ḥikmat al-išrāq:112 f.; Ders., Partow-nāmeh:37 f. 464 Griechisch „εἴδωλον“. 465 Arabisch „ṣanam“: Vgl. etwa Uṯūlūğiyā, 1955:69; Suhrawardī, Ḥikmat al-išrāq:115 f. u. a. (vgl. Movaḥḥed, 1384:125). 466 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:79.
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Rahmen der Ontologie, sondern im Rahmen der Epistemologie, behandelt wird, auch als Welt der Vorstellung⁴⁶⁷ bezeichnet. Auch den Nachbildern der sinnlich erfahrbaren Gegenstände der Körperwelt in der Vorstellung entsprechen gemäss erleuchtungsphilosophischer Erkenntnislehre Wesenheiten zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen in der aussergeistigen Welt, die ihrerseits wie die Ideen und deren sinnliche Abbilder eine eigene Ordnung bilden, die Weltseele eben, zu der sie sich verhalten wie die Teile zum Ganzen und wie die Inhalte, die Bilder, der Vorstellung zur Vorstellung selbst. In Anbetracht dessen, dass es sich bei den Inhalten der Welt der Vorstellung nicht um einen blossen Ausbund der menschlichen Einbildung handeln kann – denn immerhin bringen sie den Menschen auf dem Weg der Erkenntnis einen Schritt weiter –, findet sich für sie auch der Name „ungebundene Nachbilder“⁴⁶⁸. Das Verständnis an sich nun von der Vorstellung als einer Zwischenstufe zwischen dem rein Körperlichen, Partikularen und dem rein Intelligiblen, Universalen geht, philosophiegeschichtlich gesehen, freilich nicht auf die Neuplatoniker, sondern letztlich auf Aristoteles zurück.⁴⁶⁹ Jedoch versteht Aristoteles unter der Zwischenstufe der Vorstellung eine rein innergeistige Stufe auf dem Weg unserer Erkenntnis zwischen der Sinneswahrnehmung, d. h. der Wahrnehmung des rein Körperlichen, Partikularen, und der Verstandestätigkeit, d. h. dem Erfassen des rein Intelligiblen, Universalen.⁴⁷⁰ Die Neuplatoniker hingegen fassen die Stufe der Vorstellung nicht nur als rein innergeistige Erkenntnisstufe auf, sondern deuten sie ganz im Zeichen ihrer eigenen Lehre zudem als etwas aussergeistig Verdinglichtes im Sinne einer Emanationsstufe, eben der Welt der Vorstellung.⁴⁷¹ Aber nicht nur die Welt der Vorstellung erwähnen die Erleuchtungsphilosophen als Behältnis für die Gehalte der Vorstellung, sie sprechen im selben Zusammenhang auch von einer „Welt der Erinnerung“⁴⁷². So setzt Suhrawardī das Erinnern des Menschen mit den Nachbildern der Vorstellung in Beziehung⁴⁷³ und beschreibt es als eine Verbindung von dessen Seele mit der Welt der Erinnerung.⁴⁷⁴ Dabei meint Suhrawardī mit Erinnerung hier die Erinnerung an Partikularien wie etwa das Aussehen einer bestimmten Person oder den Duft eines bestimmten Parfums, Partikularien, deren Nachbilder in der Erinnerung wie in der Vorstellung allgemein zwar ebenfalls partikular, aber nicht körperlich sind. 467 Arabisch „ʿālam al-ḫayāl“: Vgl. Leaman, 1999:68; Movaḥḥed, 1384:85. 468 Arabisch „ṣuwar muʿallaqah“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:84 f. 469 Vgl. Bundy, 1927:60 ff.; Watson, 1988:14 ff. 470 Vgl. Bundy, 1927:60 ff.; Watson, 1988:14 ff. 471 Vgl. Watson, 1988:96 ff.; Cocking, 1991:49 ff. 472 Arabisch „ʿālam al-dikr“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:107 ff. 473 Vgl. Movaḥḥed, 1384:108. 474 Vgl. Ders., 1384:108 f.
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Dies legt nahe, dass unter „Welt der Erinnerung“ nichts anderes zu verstehen ist als die Welt der Vorstellung, wenn das Vorstellen ihrer Inhalte im Sinne eines Erinnerns an diese geschieht. Aber auch die Gehalte der Erinnerung an Partikularien können nicht in der Seele des Menschen verwahrt sein. Denn dann müssten sie angesichts der Unmittelbarkeit des Bewusstseins meiner Seele von sich selbst bei jedem Erinnerungsversuch doch unverzüglich gefunden werden. Dies ist aber nicht der Fall, wie die Erfahrung lehrt.⁴⁷⁵ Zudem unterliegen Partikularien sowohl als aussergeistige Wesenheiten der Körperwelt wie auch als Gehalte der Erinnerung des Menschen dem Werden und Vergehen. Vor diesem können sie nur in einer Welt bewahrt werden, die sowohl ausserhalb der Welt der aussergeistigen Partikularien der Körperwelt als auch ausserhalb des menschlichen Geistes liegt – eben der Welt der Erinnerung.⁴⁷⁶ Nun besteht aber auch die Erkenntnis für die Erleuchtungsphilosophen getreu dem platonischen Verständnis in nichts anderem als in Erinnerung, einer Erinnerung, deren Gehalte in der Welt der Ideen liegen. Der einzige, wenngleich erhebliche, Unterschied zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Erinnerung ist, so gesehen, der, dass es sich bei den Ideen um allgemeine, zeitlose Erinnerungsgehalte handelt, während die Welt der Erinnerung aus partikularen, zeithaften Erinnerungsgehalten besteht. Noch dazu ist die Welt der Erinnerung nach oben zu der Welt der Ideen hin offen – sie ist auf dem Erkenntnisweg ja gleichsam die Vorstufe zu dieser – oder, umgekehrt ausgedrückt, schliessen die Ideen als die höheren, da allgemeinen und zeitlosen, Wissensgehalte die Vorstellungs- und Erinnerungsgehalte aus der Welt der körperlichen Einzeldinge als die niedrigeren, da partikularen und zeithaften, Wissensgehalte in sich. All diese Erwägungen scheinen für manchen islamischen Denker Grund genug zu sein, die Welt der Erinnerung bzw. der Vorstellung gleich mit der Welt der Ideen zu verbinden oder überhaupt in eins zu setzen, so etwa den Gelehrten und Suhrawardī-Kommentator Quṭb al-Dīn Šīrāzī (st. 1311)⁴⁷⁷, der diese Gleichsetzung gar dem Suhrawardī, ja, Platon selbst, zuschreibt und sagt: „Dies ist die Lehre der Erleuchtungsphilosophen aufgrund der eindeutigen Äusserungen ihres Oberhauptes, ja, des Oberhauptes der göttlichen Gesamtheit, Platons, dass nämlich die [Welt der] Erinnerung eine der sphärischen Welten und eine der heiligen Seelen ist, die alle Dinge wissen, die unveränderlichen ebenso wie die vergangenen und zukünftigen.“⁴⁷⁸ Dass Quṭb al-Dīn Šīrāzī diese Lehre letztlich Platon zuschreibt, könnte damit zusammenhängen, dass sie in der Plotin-Paraphrase, welche dieser islamische Gelehrte genau wie 475 Vgl. Ders., 1384:108. 476 Vgl. ebda. 477 Über Leben und Lehre vgl. Aṣġar-Ḥalabī, 1381:569 ff.; Nasr, 1996:216 ff. 478 Quṭb al-dīn Šīrāzī, Šarḥ ḥikmat al-išrāq:465.
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Suhrawardī ebenfalls dem Platon zuschreibt, an einer Stelle vorgebildet zu sein scheint, an der es heisst: „Das Erinnern entspringt dem Himmel, denn wenn die Seele so wie die himmlischen Dinge“, d. h. die Ideen, „wird, erkennt sie, dass diese es sind, die sie erkennt, bevor sie in die niedere Welt kommt. So ist es nun auch nicht verwunderlich, dass, wenn die Seele in den Himmel gelangt […], sie sich an den Zustand der Dinge erinnert, die sie in dieser niederen Welt gesehen und getan hat, und dass sie sich an die himmlischen Dinge erinnert, weil diese unveränderlich sind und in jenen [himmlischen] Körpern bestehen.“⁴⁷⁹ Was die Wortwahl dieses Zitates angeht, so gilt es anzumerken, dass mit den „himmlischen Körpern“ nichts anderes gemeint ist als der Bereich, dem die heiligen oder sphärischen Seelen, von denen Quṭb al-Dīn Šīrāzī spricht, zuzuordnen sind.⁴⁸⁰ Den Sphärenseelen sind aber selbst wieder Vorstellung und Erinnerung zugeordnet, wie Quṭb al-Dīn Šīrāzīs obiger Bemerkung zu entnehmen ist. Auch für den späteren Gelehrten Mullā Ṣadrā „geht schon aus dem Wortlaut von Suhrawardīs Ausführungen hervor, dass die […] Nachbilder der Vorstellung in den Sphärenseelen liegen […].“⁴⁸¹ Demnach scheint also bereits in der Plotin-Paraphrase, wie die angeführte Stelle nahelegt, eine Gleichsetzung der Ideen mit den Nachbildern der Vorstellung und Erinnerung, die dem Bereich der himmlischen Körper bzw. eben der heiligen oder sphärischen Seelen zugewiesen sind, vorzuliegen.⁴⁸² Aber nicht nur die Vorstellung betrachten die Erleuchtungsphilosophen als eine Betätigung der Seele, sondern auch das diskursive Denken. Darin folgen sie ebenfalls der neuplatonischen Erkenntnislehre, ordnet doch Plotin selbst dieses peripatetische Vorgehen der Seele zu⁴⁸³ und unterscheidet es von der Erkenntnis des Geistes.⁴⁸⁴ Das diskursive Denken sucht den Zugang zu den Gegenständen der Erkenntnis mittels Definition und Syllogismus. Beiden Verfahren ist gemein, dass sie ihren Gegenstand, z. B. „Mensch“ im Falle der Definition, bei dem es sich in der Wirklichkeit um eine Einheit handelt, im Denken in eine Vielheit auflösen – „analysieren“. So besteht die Erkenntnis von „Mensch“ gemäss diskursivem Denken in der Definition „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen“, zusammengesetzt aus zwei Teilen, einer Vielheit in Form einer Zweiheit also, nämlich dem nächst höheren Gattungsbegriff – hier: „Lebewesen“ – und der spezifischen Differenz – hier: „vernunftbegabt.“ Desgleichen erschliesst das diskursive Verfahren den Sachverhalt „Sokrates ist sterblich“, einen Sachverhalt,
479 Uṯūlūğiyā, 1955:102. 480 Vgl. Movaḥḥed, 1384:109. 481 Mullā Ṣadrā, Ḥawāšī šarḥ ḥikmat al-išrāq:466; zitiert in Movaḥḥed, 1384:110, Anm. 1. 482 Vgl. Movaḥḥed, 1384:109. 483 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:505b) f. 484 Vgl. Verbeke, 1982:55.
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bei dem es sich in der Wirklichkeit um eine Einheit handelt, indem es ihn im Denken in einer Vielheit von Schritten in Form des Syllogismus „Sokrates ist ein Mensch“ – „Alle Menschen sind sterblich“ – „Also ist Sokrates sterblich“ darstellt. Insofern es also das, was in der Wirklichkeit ein Eines ist, im Denken als ein Vieles darstellt, besteht im diskursiven Verfahren eine Zweiheit zwischen Denken bzw. Denkendem, dem Erkenntnissubjekt also, und Gedachtem bzw. der Wirklichkeit, dem Erkenntnisobjekt. Das in der Wirklichkeit Eine, das von der Seele bei der diskursiven Betätigung jedoch als ein Vieles gedacht wird, so etwa der Sachverhalt „Platon ist der Schüler des Sokrates“, ist durch diese seine Einheit in seiner Geltung als Sachverhalt unwandelbar und in diesem Sinne zeitlos. Freilich kann sich die Tatsache, dass Platon der Schüler des Sokrates ist, morgen ändern und Platon dann nicht mehr der Schüler des Sokrates sein. Aber an ihrem Status als Tatsache, d. h. daran, dass es sich bei dem Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Sokrates und Platon, das ich mit „Platon ist der Schüler des Sokrates“ ausgedrückt habe, überhaupt um einen Sachverhalt der aussergeistigen Wirklichkeit handelt und nicht sowieso nur um eine Einbildung meines Geistes, ändert dies nichts. Was in der Wirklichkeit eines und unwandelbar und in diesem Sinne zeitlos ist, bildet das Denken im diskursiven Verfahren jedoch in einer Bewegung nach, die von Begriff zu Begriff, von Satz zu Satz führt. Bewegung aber bedeutet Wandel, und Wandel bedeutet Zeithaftigkeit. Was in Wirklichkeit also eines und zeitlos ist, stellt das diskursive Denken der Seele zeithaft dar⁴⁸⁵ – zeithaft, das heisst auch: in der Zusammensetzung von Vergangenheit und Zukunft –, woraus sich wieder dieselbe Zweiheit zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt ergibt. Dieser Gedanke findet sich unter den Reisenden des dritten Weges im Islam auch bei dem Mystiker Rūmī ausgedrückt in dem Vers: „[Diskursives] Denken ist zusammengesetzt aus Vergangenheit und Zukunft; [erst] wenn es sich von diesen zwei befreit, wird das Problem gelöst.“⁴⁸⁶ Plotin fasst ihn in einen sinnbildhaften Vergleich zwischen einer Hieroglyphe, deren Bedeutung für die Wirklichkeit, und einem Wort in Buchstabenschrift, die für das diskursive Denken der Wirklichkeit steht: Die Bedeutung der Hieroglyphe liegt in dieser unmittelbar und in ganzheitlicher Einheit vor, während sie sich in der Wiedergabe in Buchstabenschrift erst im Nacheinander des Durchganges von Laut zu Laut ergibt.⁴⁸⁷ Dass die Nachbildung der Wirklichkeit durch die Seele aber gerade in einer Bewegung, der Bewegung des diskursiven Denkens, erfolgt, entspricht wiederum dem philosophischen Verständnis von der Seele als dem Prinzip von Bewegung überhaupt. In der neuplatonischen Emanationsordung geht die Seele ausserdem 485 Vgl. Beierwaltes, 1967:57 ff. 486 Rūmī, 1375, II:177. 487 Vgl. Plot. V 8, 6, 1 ff. in: Beierwaltes, 1967:58.
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unmittelbar aus dem Intellekt hervor und ist daher das unvollkommene Abbild desselben. Bewegung ist daher nichts anderes als der Versuch der Seele, dieses Vollkommenheitsgefälle gegenüber ihrem unmittelbaren Ursprung, dem Intellekt, zu überwinden. So streben etwa die Himmelskörper in ihren Sphären, denen jeder eine Seele zugeordnet ist, mit ihrer ewigen Bewegung danach, sich ihrem ewigen, unbewegten Ursprung anzugleichen. Beide, Seele und Intellekt, sind mithin ewig – in dieser Hinsicht hat die Seele das Ziel ihres Strebens erreicht –, der Intellekt bzw. das Intelligible ist aber, da unbewegt und unwandelbar, ewig im Sinne der Zeitlosigkeit, während die Ewigkeit der Seele, da bewegt, eine zeithafte Ewigkeit im Sinne der Unaufhörlichkeit ist. Und so ist auch das diskursive Denken als eine Bewegung der Seele nichts anderes als der Versuch derselben, sich in der Erkenntnis der Erkenntnis des Geistes, des Intellektes, anzugleichen. So wie die Seele also in ihrer Bewegung und damit in ihrer Zeithaftigkeit das Abbild des Intellektes in seiner Zeitlosigkeit ist, so ist auch die ihr zukommende diskursive Erkenntnis nur das Abbild der höheren, eigentlichen Erkenntnis des Intellekts, bestehend in der Schau der zeitlosen intelligiblen Wesenheiten, der Ideen. Die Unterlegenheit der diskursiven Erkenntnis, die auf Definition und Syllogismus beruht, gegenüber der Schau des Geistes betont auch die Plotinparaphrase, wo es heisst: „Er“ – für die Erleuchtungsphilosophen Platon – „erkannte aus Gewohnheit die Dinge aufgrund der Schau des Geistes, nicht aufgrund von Logik und Syllogismus. Unsere Seelen jedoch sind nicht genügend geübt, um die Schönheit jener lichthaften Welt […] zu schauen, weil die sinnliche Wahrnehmung noch zuviel Macht über uns hat […]. So meinen wir denn, dass die Gehalte der Erkenntnis nur in Lehren bestehen, die aus syllogistischen Sätzen abgeleitet sind, und dass überhaupt nur das Aufstellen syllogistischer Sätze und die Herleitung von Ergebnissen aus denselben Erkenntnis begründen können.“⁴⁸⁸ Reicht die diskursive Erkenntnis der Seele aber auch nicht an die Erkenntnis des Geistes heran, so führt sie doch, wie sie ja auch von dieser herstammt, auf sie zu. Denn dass Definitionen Begriffe überhaupt bestimmen können, Syllogismen, die ihrerseits auf Begriffen aufbauen, überhaupt zu einem Schluss kommen, setzt die Ideen als Grundlagen von Wirklichkeit und Erkennen voraus. Denn gäbe es diese letztgültigen Wesenheiten nicht, so würde etwa die Definition eines Begriffes – z. B. des Begriffes „Mensch“ als „vernunftbegabtes Lebewesen“ – nie an ein Ende kommen: An dieser Definition wären dann ja wieder die zwei Begriffe „vernunftbegabt“ und „Lebewesen“ zu definieren, was eine Definition ergäbe, an der es bereits vier Begriffe zu definieren gäbe usw. bis ins Unendliche.⁴⁸⁹ Indem die Erkenntnis der Seele aber die des Geistes voraussetzt, wird bei der Betätigung der 488 Uṯūlūğiyā, 1955:157. 489 Vgl. Rudolph, 2004:80 ff; Kamal, 2006:91.
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ersteren unterschwellig bereits die Höherwertigkeit der letzteren anerkannt.⁴⁹⁰ So verweist also die jeweils niedrigere Stufe der Erkenntnis auf die höhere oder, umgekehrt gesprochen, beinhaltet die höhere Stufe der Erkenntnis die jeweils niedrigeren. Die wirklichkeitsgemässe Erkenntnis ist also nicht die zeithafte Erkenntnis der Seele des Menschen, sondern die Erkenntnis des Intellektes des Menschen. Im Intellekt, d. h. in seiner Vernunftbegabtheit, liegt aber überhaupt die Wirklichkeit des Menschen, und die Gehalte der Erkenntnis des Intellektes des Menschen sind ihrerseits der Bereich des Intellekts, in dem die Ideen, die Herren und Vorbilder jeder Art, liegen. Was den Menschen, oder genauer: den Intellekt des Menschen, betrifft, so kann dessen Vorbild im Bereich des Intelligiblen aber nicht eine, und nur eine, der Ideen sein. Denn sonst würde der Mensch, wenn sein Intellekt bei fortschreitender Erkenntnis in den Bereich des Intelligiblen aufsteigt, ja nur dieser einen Idee – denn nur diese eine wäre das Vorbild und der Ursprung seiner selbst – begegnen und könnte nur diese erkennen. Wenn das Vorbild und der Ursprung des Menschen und seines Intellekts aber nicht nur ein einziger der Teilintellekte, der Ideen, sein kann, dann muss das Vorbild und der Ursprung des Menschen und seines Intellektes die Gesamtheit der Teilintellekte bzw. der Gesamtintellekt sein, in dem sie alle enthalten sind.⁴⁹¹ Dies stimmt auch mit der auf Aristoteles zurückgehenden, aber auch von neuplatonischen Denkern vertretenen Lehre überein, dass der Geist des Menschen im Erkennen gewissermassen alles wird.⁴⁹² Wenn nun aber die Erkenntnis, die dem Bereich des Seelischen zukommt, zeithaft ist, so ist die Erkenntnis, die dem Intelligiblen zukommt, folgerichtig als zeitlos zu bezeichnen, und dieser Ausdruck ist im neuplatonischen Schrifttum auch gängig.⁴⁹³ Nicht weniger gängig sind aber Ausdrücke, die in ihrem Wortlaut zwar eine zeitliche Bestimmung angeben, in diesem besonderen Zusammenhang aber im übertragenen Sinne verwendet werden. So beschreibt etwa der Neuplatoniker Ammonios (lebte um 500), ein Vertreter der spätantiken Schule von Alexandria, aus der den Muslimen einiges philosophisches Überlieferungsgut zugekommen sein dürfte,⁴⁹⁴ die Gehalte der Erkenntnis des Intellekts, die er mit dem Wissen der Götter gleichsetzt, als aufgehoben in dem einen ewigen Jetzt.⁴⁹⁵ Einen weiteren Ausdruck für zeitloses Wissen finden wir in der Plotinparaphrase,
490 Vgl. Beierwaltes, 1967:59. 491 Vgl. Movaḥḥed, 1384:90 f., der selbst aber in dieser Frage nicht Stellung bezieht. 492 Vgl. Brugger, 1963:75 („Erkenntnis“). 493 Griechisch „ἄχρονος“: Vgl. etwa Procl.,Prov.:65, 11–14.; Ders., ebda.:64, 7–11. 494 Vgl Endress, 1973:239; Demandt, 1998:337. 495 Amm., De Interpret.:133, 26 f.
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an einer Stelle, wo vom Zustand der Seele die Rede ist, wenn sie einmal in den Bereich des Intelligiblen – die „höhere Welt“ – aufgestiegen ist und den Bereich von Vorstellung und Erinnerung – das „Hier“ – hinter sich gelassen hat. Dort heisst es: „[…] Jeder Wissensgehalt in der höheren Welt, die der Zeitlosigkeit angehört, ist ohne Zeithaftigkeit. […] Deshalb legt auch die Seele die Zeithaftigkeit ab, und deshalb erkennt die Seele dort auch die Dinge, die sie hier zu denken pflegte, ohne Zeithaftigkeit und hat es nicht nötig, sie zu erinnern, denn sie sind wie etwas, das in ihr gegenwärtig ist: So sind also die Dinge der höheren und der niederen Welt in der Seele gegenwärtig […], wenn sie einmal in der höheren Welt ist.“⁴⁹⁶ Auf die Verwendung des Ausdrucks der Gegenwärtigkeit, verstanden im übertragenen Sinne von Zeitlosigkeit wie an der angeführten Stelle, geht ein Fachbegriff für das zeitlose Wissen des Intellekts bei den Erleuchtungsphilosophen und auch anderen Reisenden des dritten Weges im Islam zurück, der sich etwa als „gegenwärtiges Wissen“⁴⁹⁷ wiedergeben liesse.⁴⁹⁸ Bei der angeführten Stelle handelt es sich ihrerseits um die Paraphrase der Plotinstelle: „Wenn aber […] jede Beschäftigung des Intellekts mit den Dingen dort, die in der Zeitlosigkeit, aber nicht in der Zeit sind, zeitlos ist, so ist es unmöglich, dass es dort Erinnerung gibt, nicht nur an die Dinge hier, sondern überhaupt an irgendetwas. Vielmehr ist ein jedes gegenwärtig: Es gibt nämlich weder ein diskursives Fortschreiten noch einen Übergang von einem zu einem anderen.“⁴⁹⁹ Diese Aussage wiederum lässt sich mit einer Bemerkung Plotins an einer anderen, in der Paraphrase allerdings nicht berücksichtigten Stelle verbinden, die da lautet: „[…] unser Bewusstsein jenes Einen erfolgt weder gemäss [diskursivem] Wissen noch intellektueller Wahrnehmung wie im Falle der anderen intelligiblen Dinge, sondern gemäss einer Gegenwärtigkeit vorzüglicher als [diskursives] Wissen.“⁵⁰⁰ Damit lässt sich auch dieses eine Kernstück der Erkenntnislehre der Erleuchtungsphilosophen als neuplatonisch oder allgemein als platonisch erweisen. Nur die zeitlose Erkenntnis des Intellekts, das gegenwärtige Wissen also, begreift im Unterschied zur Erkenntnis der Seele die Wissensgehalte in der Einheit, die sie in der Wirklichkeit sind, und deshalb ergibt sich im gegenwärtigen Wissen 496 Uṯūlūğiyā, 1955:30. 497 Arabisch „ʿilm ḥuḍūrī“: Vgl. Leaman, 1999:69; Nasr, 1996:178; Rudolph, 2004:83; Ṭālebzādeh, 1385b:82 f. 498 Gedanken, die zur Prägung desselben Ausdrucks führten, wurden, ebenfalls unter Einfluss der Schule von Alexandria, in der spätantiken Geistesgeschichte des Abendlandes von Boethius entwickelt, der die göttliche Vorsehung als gegenwärtiges Wissen, lateinisch: „praesentaria notio“, versteht: Phil. Cons. V, 6:113, 22; über die Einflüsse auf Boethius vgl. Beierwaltes, 1967:198 ff.; Obertello, 1981:158 f.; Huber, 1976:44 ff. 499 Plot. IV 4, 1, 11 ff. 500 Plot. VI 9, 4, 1 ff.
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auch keine Zweiheit zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt. Für die Reisenden des dritten Weges begründet das gegenwärtige Wissen vielmehr die Einheit zwischen Erkennendem und Erkanntem. Dass aber das gegenwärtige Wissen die Wissensgehalte in der Einheit ihrer Wirklichkeit begreift, bedeutet, dass die Wissensgehalte im Intellekt eines Menschen, der die Stufe der gegenwärtigen Erkenntnis erreicht hat, als Einheit bestehen, genau so also, wie in Gott die Wissensgehalte als Einheit bestehen. Im gegenwärtigen Wissen wird der Mensch daher wie Gott, und damit hat das Wesen des Menschen, der Intellekt, sein Ziel, die Erkenntnis, verwirklicht. Dass in der Verwirklichung des Erkenntnisziels für den Menschen Gottähnlichkeit liege, ist ein Gedanke, der sich in Schriften Platons findet, die auch frühen muslimischen Denkern zugänglich waren. Er wird von nicht wenigen muslimischen Autoren auch ausdrücklich Platon zugeschrieben, etwa von Masʿūdī (st. 956), bei dem wir lesen: „Eine Lehre Platons […] ist, dass, wer sich selbst wirklich kennt, wie Gott wird.“⁵⁰¹ Auch im Suhrawardī-Kommentar des Quṭb al-Dīn Šīrāzī kommt der Satz vor: „Bei Platon steht: Wer sich selbst kennt, wird wie Gott.“⁵⁰² Und die Philosophie selbst finden wir dort geradezu definiert als „Ähnlichwerdung mit Gott gemäss dem Vermögen des Menschen zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit.“⁵⁰³ Letztere Aussage spiegelt Stellen bei Platon wie die folgende wieder: „Wenn der Philosoph beständig mit einer geordneten und göttlichen Welt verkehrt, so wird er selbst, soweit es der menschlichen Natur möglich ist, geordnet und nimmt einen göttlichen Aspekt an.“⁵⁰⁴ Und auch den Neuplatonikern gilt wahre Erkenntnis als die Ähnlichwerdung mit Gott dem Einen – letztlich gar als das Einswerden mit dem Einen.⁵⁰⁵ Dem entspricht die Bemerkung Suhrawardīs: „Das Ziel der Vervollkommnung des Gottesdieners besteht darin, dass er Gott dem Wahren – erhaben ist Er – ähnlich werde.“⁵⁰⁶ Das Fachwort der Erleuchtungsphilosophen für die Ähnlichwerdung des Menschen mit Gott im gegenwärtigen Wissen, das sich kurz mit „Gottgleichwerdung“ wiedergeben liesse⁵⁰⁷, bezeichnet in ihrer Lehre daher die vollkommene Weisheit im Sinne des dritten Weges, und ein gängiger Name für den vollkommenen Weisen, einerlei, ob aus der Gemeinschaft der Muslime oder nicht, ist bei ihnen
501 Masʿūdī, 1938:138. 502 Šīrāzī, 1313:296. 503 Ders., 1313:4. 504 Vgl. Movaḥḥed, 1384:120. 505 Vgl. ebda. 506 Suhrawardī, 1348:328. 507 Arabisch „taʾalluh“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:12 f., 119; Rudolph, 2004:79.
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der des „Gottgleichen“⁵⁰⁸. Genau diese Gottgleichen in der Erkenntnis beschreibt Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung des dritten Weges mit den Worten, dass „sie es sind, die […] ihr Auge mit dem Lichte des Schöpfers geläutert und erleuchtet haben […].“⁵⁰⁹ Es sind bei ihm diejenigen Reisenden des dritten Weges, denen er an derselben Stelle Vollkommenheit in der Gotteserkenntnis zuschreibt. Unter dem Gleichwerden des Menschen mit Gott im gegenwärtigen Wissen wiederum verstehen die Anhänger der Erleuchtungsphilosophie, so etwa Quṭb al-Dīn Šīrāzī, das „Gleichwerden des Menschen mit den göttlichen Eigenschaften [und Attributen]“.⁵¹⁰ Da es sich nun bei den Wissensgehalten, mit denen der Intellekt des Menschen auf der Stufe des gegenwärtigen Wissens gleich wird, aber um die Inhalte des Bereiches des Intelligiblen handelt, um die Teilintellekte also oder eben die Ideen, so kann mit den Attributen Gottes an dieser Stelle nichts anderes gemeint sein als die Ideen. Auch der Theosoph Mīr Dāmād begreift die Attribute Gottes als Wesenheiten, die aus Gott hervorgegangen, also ausserhalb Gottes sind, und er sagt von ihnen, dass sie sowohl dasselbe wie Gott als auch von Gott verschieden seien.⁵¹¹ Und zwar sind sie in der Hinsicht dasselbe wie Gott, dass sie wie Gott zeitlos sind; in der Hinsicht jedoch, dass sie, wiewohl zeitlos, nicht wie Gott eines sind, sondern viele, sind sie auch wieder von Gott verschieden. Dies ist aber genau die Beschreibung, die auf die Archetypen, d. h. die universalen Formen im Bereich des Intelligiblen in der Lehre Platons, kurz: die Ideen, zutrifft.⁵¹² Und auch dieses Verständnis der Ideen als Attribute Gottes reicht in den spätantiken Neuplatonismus zurück. Dort werden die Ideen nämlich zuweilen als Götter bezeichnet, so etwa bei Proklos, wo es heisst: „Die Götter ihrerseits sind allen Dingen wohl gleichermassen gegenwärtig: […] andererseits erhält ein jedes Ding [nur] gemäss seiner Stufe und seinem Vermögen an deren Gegenwärtigkeit Anteil […].“⁵¹³ Es ist klar, dass es Polytheisten wie Proklos keine Mühe bereitet, die Ideen als Götter zu bezeichnen; allerdings können sie dann nicht das eine Wesen, aus dem diese letztlich hervorgehen, ebenfalls Gott nennen: Das tun sie denn auch nicht, sondern nennen es das Eine. Demgegenüber ist es für Monotheisten, ganz gleich, ob Christen oder Muslime, geradezu zwingend, das Wesen, aus dem als höchstem Prinzip die Ideen hervorgehen, als Gott zu bezeichnen; allerdings können sie nicht die Ideen ebenfalls Götter nennen, und das tun sie denn
508 Arabisch „mutaʾallih“: Vgl. Suhrawardī, 1945:503; Nasr, 1996:143; Ṭabāṭabāʾī, 1348:62; T/M:1381. 509 Ṭabāṭabāʾī, 1348:43. 510 Vgl. Movaḥḥed, 1384:13 (Zitat aus Šīrāzī, 1313:4). 511 Vgl. Kamal, 2006:28; Nasr, 1996:249. 512 Vgl. ebda.; Rudolph, 2004:101. 513 Procl., Elem.Theol.:124, 27 ff. (prop.142).
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auch nicht. Vielmehr leugnen sie zwar nicht die Existenz der Wesen, welche die Polytheisten Götter nennen, wohl aber, dass es sich bei ihnen um Götter handle – ein Vorgang übrigens, der sich häufig beobachten lässt, wenn Monotheismus auf Polytheismus trifft und der Monotheismus sich durchsetzt. So heissen die Ideen bei ihnen denn nicht Götter, sondern etwa „spirituelle Wesenheiten“⁵¹⁴, wie z. B. in der Plotinparaphrase,⁵¹⁵ von der wir immerhin vermuten dürfen, dass sie, ehe sie in arabischer Übersetzung unter den Muslimen in Umlauf kam, bereits von christlichen Redaktoren nach monotheistischem Gottesverständnis bearbeitet worden war.⁵¹⁶ Nun verstehen aber selbst diejenigen neuplatonischen Denker, die den Ideen den Namen „Götter“ geben, unter „Götter“ lediglich Zwischenträger zwischen Gott dem Einen und der Körperwelt, ja, blosse Funktionen oder Attribute Gottes des Einen.⁵¹⁷ Dann liegt es für christliche oder eben muslimische Neuplatoniker, die den Ideen sicher nicht den Namen „Götter“ geben würden, aber erst recht nahe, die Ideen als Attribute des einen Gottes zu verstehen. Im Islam ergab dieses Verständnis der Attribute Gottes ausserdem einen neuen Ansatz für die Lösung des Problems, das islamischen Denkern schon so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte, wie Gott nämlich eine Vielzahl von attributiven Bestimmungen, so etwa „Gott ist weise“, „Gott ist lebend“, die Gott im Koran ja auch von sich selbst aussagt, beigelegt werden kann, ohne dass seine innere Einheit dadurch eingeschränkt wird. Anhänger der Auffassung von den Attributen Gottes als Ideen, die aus Gott hervorgegangen sind, sehen eben darin die Lösung dieser Frage: Die Attribute Gottes sind nach ihrer Lehre gar nicht in Gott, sondern, da aus ihm hervorgegangen, ausserhalb Gottes und schränken daher in ihrer Vielheit die innere Einheit Gottes nicht ein. Einer der bedeutendsten Punkte, in denen sich der dritte Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam als Folge der Erleuchtungsphilosophie von den anderen Wegen unterscheidet, ist somit der, dass die Reisenden dieses Weges die Frage der Attribute, die in allen anderen Richtungen des Islam losgelöst von ihrer ursprünglichen Verbindung mit der platonischen Ideenlehre verfolgt wird, in Verbindung mit der Ideenlehre Platons behandeln, weil ihr Verständnis von den Attributen Gottes selbst schon ein platonisches ist. Und dies ist auch genau das Verständnis von den Attributen Gottes, dem wir in den Richtungen der islamischen Mystik begegnen, die sich mit Platons Religion des Geistes verbunden haben. Im Lichte dieses Verständnisses von den Attributen Gottes bedeutet auch die Gleichwerdung des Menschen mit den Attributen Gottes, auf der die Gottähnlich514 Arabisch „rūḥāniyyah“ oder „rūḥāniyyūn“:Vgl. Endress, 1973:128 ff. 515 Uṯūlūğiyā, 1955:62, 63. 516 Vgl. Endress, 1973:70 ff. 517 Vgl. Verbeke, 1982:50.
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keit des Reisenden des dritten Weges beruht, nichts anderes als die Vereinigung des Menschen mit dem Intelligiblen im Zeichen des gegenwärtigen Wissens. Genau genommen, bedeutet die Vereinigung des Menschen mit dem Intelligiblen aber ihrerseits, dass die Seele des Menschen ganz Intellekt wird. Denn die Wirklichkeit des Menschen, dieses Wesens, das aus Körper und Seele zusammengesetzt ist, liegt nach neuplatonischer Lehre – die sich in diesem Punkt ohne weiteres mit dem Islam verträgt – in der Seele, wobei die Seele in dieser Auffassung unabhängig vom Körper und daher auch von der Zeithaftigkeit, der dieser unterliegt, bestehen kann. So bemerkt die Plotinparaphrase: „[…] Nur durch die Seele aber wird der Mensch, was er ist: Sie ist das Wahre, in dem kein Falsch ist im Unterschied zum Körper. […] So ist der Mensch also die Seele, denn durch die Seele ist er, was er ist […].“⁵¹⁸ Und auch die aristotelische Philosophie, nach welcher die Seele nicht unabhängig vom Körper bestehen kann, betrachtet die Seele als die Form, und das heisst: als die Verwirklichung⁵¹⁹, des Körpers. Wenn die Vereinigung des Menschen mit dem Intelligiblen, in der er Gott ähnlich wird, aber besagt, dass seine Seele, in der seine Wirklichkeit als Mensch besteht, Intellekt wird, so bedeutet dies wiederum, dass von der Person des Menschen vor der Vereinigung mit dem Intellekt nach der Vereinigung mit dem Intellekt nur noch der Körper bestehen bleibt: Die Wirklichkeit des Menschen ist vom Seelischen, griechisch: Psychischen, ganz ins Intelligible, Geistige, übergegangen. Die Verähnlichung des Menschen mit Gott ist demnach gleichbedeutend mit seiner Vergeistigung, und diesen Wandel vom psychischen Menschen zum intelligiblen, spirituellen, Menschen in seiner Vereinigung mit dem Intelligiblen beschreibt Suhrawardī mit den Worten: „[…] der gottähnliche Weise ist derjenige, dessen Körper wie ein Hemd geworden ist, das er mal auszieht und mal anzieht. Und der Mensch zählt erst zu den Weisen, […] wenn er [seinen Körper wie ein Hemd] auszieht und anzieht.“⁵²⁰ Und gleich im Anschluss an diese Stelle veranschaulicht er diese Verähnlichung und Vereinigung des Menschen mit Gott in folgendem Gleichnis: „Siehst du nicht, dass, wenn Feuer auf ein heisses Stück Eisen wirkt, dieses dem Feuer ähnlich wird und [wie dieses] Licht aussendet und brennt? So wird auch die Seele als die Wesenheit des Heiligen, wenn sie die Wirkung des Lichts empfängt und sich [dadurch] in das Kleid der Erleuchtung hüllt, ihrerseits wirkend und aktiv, so dass, wenn sie einen Wink gibt, sich die betreffende Sache
518 Uṯūlūğiyā, 1955:122 (~ Plot. IV 7, 1). 519 Griechisch „ἐντελέχεια“: Vgl. Arist., De Anima II, 1, 412a, 21–22; 412b, 5, sowie Wolfson, 1970:406 f. 520 Suhrawardī, 1945:503 (Muṭāraḥāt).
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durch ihren Wink verwirklicht und, wenn sie sich etwas vorstellt, sich dieses gemäss ihrer Vorstellung ereignet.“⁵²¹ Die blosse Beschreibung des Zustandes des Eisens im Feuer, in der kein Vergleich mit dem Zustand der Seele des Menschen bei der Vereinigung mit dem Intelligiblen angestellt wird, geht, philosophiegeschichtlich gesehen, letztlich auf Aristoteles zurück. Und zwar verwenden gewisse Peripatetiker, so etwa der Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias aus dem 2.und 3. Jahrhundert n. Chr., diese Beschreibung als eines von mehreren Beispielen für die physische Vereinigung zwischen zwei Substanzen, von denen die eine dominant ist und die andere, die rezessive, bei weitem überwiegt und dementsprechend übermächtig auf diese einwirkt.⁵²² Aristoteles selbst allerdings erwähnt unter seinen Beispielen für diese Art physischer Vereinigung nicht die zwischen Feuer und Eisen, sondern die zwischen einem bereits brennenden Feuer und einem Stück Holz, das diesem zugegeben wird.⁵²³ Diese beiden Beispiele lassen sich aber als gleichbedeutend erweisen. Denn Alexander von Aphrodisias hält den Stoikern vor, dass sie diese Art physischer Vereinigung als eine Mischung missverständen, eine Mischung, in der sich unmerklich kleine Teile der einen und der anderen Substanz aneinander anlagerten,⁵²⁴ und unter den Beispielen für diese Art der physischen Vereinigung zweier Substanzen, welche die Stoiker missverständen, erwähnt er die zwischen Feuer und Eisen ebenso wie die zwischen Feuer und Holz.⁵²⁵ Was das Wirken der dominanten auf die rezessive Substanz in einer solchen Vereinigung betrifft, so beschreiben Aristoteles und seine Anhänger die dominante Substanz, da sie der wirkende, aktive, formende, Teil in der Verbindung ist, als Form und die rezessive Substanz, da sie sich zum Wirken der dominanten wie Materie in der Hand des Handwerkers bloss passiv verhält, als Materie.⁵²⁶ Ebenso aber bemerkt etwa Aristoteles über das Verhalten des Stückes Holz, das einem bereits brennenden Feuer zugegeben wird, dass das Holz – die rezessive Substanz – sich unter dem Wirken des Feuers – der dominanten Substanz – selbst in Feuer wandle und alles, was von dem Holz bei dieser Wandlung übrigbleibe, eine Steigerung des Brandes des Feuers sei,⁵²⁷ eine Zugabe also, die wohl eine Änderung in der Menge des Feuers, nicht aber im Wesen des Feuers bedeutet. Kurz: Die
521 Ebda. 522 Vgl. Wolfson, 1970:377 ff., 384. 523 Vgl. Ders, 1970:378. 524 Vgl. Ders., 1970:382, 384. 525 Vgl. Ders., 1970:384. 526 Vgl. Ders., 1970:378. 527 Vgl. ebda.
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rezessive Substanz besteht bei ihrer Umwandlung unter dem Wirken der dominanten als eine nicht wesensbestimmende Beigabe, d. h. als ein Akzidens, der dominanten Substanz fort.⁵²⁸ Die Verwendung der physischen Vereinigung von Eisen mit Feuer als eine Veranschaulichung der Vereinigung des Menschen mit dem Intelligiblen, wie sie bei Suhrawardī im Anschluss an seine Beschreibung des Zustandes von Eisen im Feuer vorkommt, geht jedoch nicht auf Aristoteles zurück. Vielmehr begegnet uns die Verwendung der Vereinigung von Eisen mit Feuer als Veranschaulichung der Vereinigung von Mensch und Intellekt unter gewissen Strömungen der Kirchenväter in ihren Versuchen, die Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus Christus anhand von Gleichnissen verständlich zu machen.⁵²⁹ Dabei ist „Logos“ hier nur ein anderer Ausdruck für Gottes Intellekt samt allen darin enthaltenen Einzelintellekten, den Ideen, ein Sprachgebrauch, der letztlich auf Philon zurückgeht⁵³⁰ und der infolge der Gleichsetzung des Logos in dieser philonischen Verwendung mit dem präexistenten Christus durch Johannes auch im Christentum üblich geworden ist.⁵³¹ Für diejenigen Kirchenväter nun, welche die Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus anhand der physischen Vereinigung einer dominanten mit einer rezessiven Substanz wie der Vereinigung von Eisen mit Feuer veranschaulichen, steht der Mensch in Jesus für den rezessiven Teil der Vereinigung und der Logos für den dominanten.⁵³² Mensch und Logos in ihrer Vereinigung in Jesus stehen ihnen zufolge also im selben Verhältnis zueinander wie im Eisen-Feuer-Beispiel das Eisen zum Feuer. Damit ist klar, dass sie ihren Vergleich der Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus mit der physischen Vereinigung von Eisen und Feuer als eine Verhältnis-Analogie meinen. In Aristoteles’ Verständnis ist in der physischen Vereinigung zwischen rezessiver und dominanter Substanz die rezessive Substanz Materie und die dominante Substanz Form. Auch diese Auffassung vom Verhältnis zwischen dem rezessiven und dem dominanten Teil in einer solchen Vereinigung übertragen die Kirchenväter im Sinne eines Gleichnisses auf die Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus, so dass für sie der Mensch in Jesus gleichsam die Materie ist, auf die der Logos in ihm als die Form wirkt.⁵³³ Die Kirchenväter, welche die Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus überhaupt nach dem Gleichnis des Eisen-
528 Vgl. Ders., 1970:379. 529 Vgl. Ders., 1970:385 ff. 530 Vgl. Ders., 1947, vol.I:230 f., 253. 531 Vgl. Ders., 1970:178. 532 Vgl. Ders., 1970:386, 444. 533 Vgl. Ders., 1970:442.
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Feuer-Beispiels verstehen, sind sich allerdings nicht völlig einig in der Frage, was von dem Menschen in Jesus bei der Einwirkung des Logos auf ihn letztlich übrigbleibe: Die einen betrachten dieses Überbleibsel als eine Natur – griechisch „physis“ –, so dass ihnen zufolge in Jesus sowohl eine menschliche Natur als auch eine göttliche Natur, nämlich der Logos, insgesamt also zwei Naturen, bestehen.⁵³⁴ Aufgrund ihrer Lehre von diesen zwei Naturen – griechisch „dyo physeis“ – in Jesus werden die Anhänger derselben auch Dyophysiten genannt. Die anderen betrachten dieses Überbleibsel nicht als eine Natur. Ihnen zufolge kann dieses höchstens als eine Eigenschaft bezeichnet werden, ja, gar nur als eine Eigenschaft im Sinne eines Akzidens, und für diese ihre Auffassung können sie sich auf Aristoteles’ Bemerkungen über die physische Vereinigung zwischen einer rezessiven und einer dominanten Substanz wie etwa die zwischen Holz und Feuer berufen, wonach sich der rezessive Teil, das Holz, unter dem Wirken des dominanten, des Feuers, selbst in Feuer wandelt und nur als eine Steigerung des Brandes des Feuers, als ein quantitatives Akzidens also, bestehen bleibt.⁵³⁵ Für die Vertreter dieser Auffassung besteht in Jesus also nur eine, nämlich die göttliche, Natur, und aufgrund ihrer Lehre von der einen Natur – griechisch „mone physis“ – in Jesus werden die Anhänger derselben auch Monophysiten genannt. Der eine Punkt jedoch, in dem Dyophysiten und Monophysiten sich einig sind, ist, dass, was auch immer von dem Menschen in Jesus bei seiner Vereinigung mit dem Logos übrigbleibe, nicht eine Person sei.⁵³⁶ Die Person Jesu besteht demnach also ganz im Logos, d. h. im Intellekt Gottes. Wenn nun Suhrawardī dasselbe Beispiel der physischen Vereinigung von Eisen und Feuer verwendet, dem wir bei manchen Kirchenvätern begegnen, so geht es ihm freilich nicht wie den Kirchenvätern darum, die Vereinigung von Mensch und Logos, letztlich also Gott, in Jesus, diesem nach christlicher Lehre einzigartigen und einmaligen Wesen, verständlich zu machen. Denn aufgrund der Vereinigung von Mensch und Logos in Jesus gilt Jesus nach christlicher Lehre als Gottes Sohn, während der Lehre des Islam der Gedanke einer Gottessohnschaft völlig fernliegt: „Gott ist nicht Vater und nicht Sohn.“⁵³⁷ Die Gottähnlichkeit, um deren Veranschaulichung es Suhrawardī in seiner Verwendung des Eisen-Feuer-Beispiels geht, ist also nicht als Gottessohnschaft eines einzigartigen und geschichtlich einmaligen Wesens zu verstehen. Vielmehr geht es ihm darum, mit diesem Beispiel die Gottähnlichkeit jener zwar besonderen, aber eben auch nicht einmaligen Wesen verständlich zu machen, die mit Namen wie „gottähn534 Vgl. ebda. 535 Vgl. ebda. 536 Vgl. Ders., 1970:444. 537 Koran:112/3.
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liche Weise“ – so etwa bei Suhrawardī –, „Schützlinge“ bzw. „Mündel Gottes“ – so etwa bei Ṭabāṭabāʾī – oder „vollkommene Menschen“ bezeichnet werden.⁵³⁸ Andererseits wird aus Suhrawardīs Verwendung des Eisen-Feuer-Beispiels aber klar, dass auch er den Vergleich der Vereinigung von Mensch und Intellekt im Gottähnlichen als eine Verhältnis-Analogie meint. Weiter liegt auch Suhrawardīs Ausführungen an der zitierten Stelle Aristoteles’ Verständnis von der physischen Vereinigung zwischen einer rezessiven und einer dominanten Substanz zugrunde, nach welchem die rezessive Substanz Materie und die dominante Form ist. So beschreibt er die menschliche Seele dort als bloss passive Empfängerin der Wirkung des Lichtes des göttlichen Intellekts, eine Beschreibung, der er als Veranschaulichung das Eisen-Feuer-Beispiel vorausschickt, in dem das Eisen in der Vereinigung mit dem Feuer dem Wirken desselben als Materie ausgesetzt ist und das Feuer als Form auf es wirkt. Aber diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Eisen und Feuer als dem zwischen Materie und Form überträgt auch Suhrawardī nur im Sinne eines Gleichnisses auf die Vereinigung zwischen Mensch und göttlichem Intellekt im Gottähnlichen. Nur gleichnishaft ist in dieser Vereinigung daher der physische und psychische Mensch als Materie zu verstehen und nur gleichnishaft der göttliche Intellekt als Form. So bliebe noch die Frage, was nach der Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt von dem Menschen im gottähnlichen Weisen bestehen bleibt. Nun: Da der Mensch vor der Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt im Sinne der Verähnlichung mit Gott ein Wesen bestehend aus Körper und Seele ist, die Seele bei der Verähnlichung aber ganz Intellekt wird, so können wir genauso gut die Frage stellen, als was der Körper nach der Verähnlichung des Menschen mit Gott bestehen bleibt. Die Antwort auf diese Frage lässt sich aber aus Suhrawardīs oben angeführter Bemerkung erschliessen, dass der gottähnliche Weise derjenige sei, dessen Körper wie ein Hemd geworden ist, das er mal auszieht und mal anzieht. Genau wie das Ausziehen oder Anziehen eines Hemdes bzw. das Hemd selbst keine Änderung im Wesen dessen, der es auszieht und anzieht, bedeutet, so besteht auch der Körper nach der Wandlung des Menschen zum Gottähnlichen unter dem Wirken des Lichtes des göttlichen Intellekts als eine nicht wesensbestimmende Beigabe, und daher auch nicht als eine Natur, sondern nur als ein Akzidens des göttlichen Intellekts fort, mit dem der Mensch eins geworden ist. Das heisst aber, dass von der Person des Menschen vor der Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt nach der Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt nichts übrigbleibt, das als Person bezeichnet werden dürfte: Das einzige, das im gottähnlichen Weisen als Person besteht, ist der göttliche Intellekt und daher letztlich Gott. Dieser Gedanke findet sich bei mystischen 538 Um die gleichnishafte Veranschaulichung desselben Gehaltes, und zwar sowohl anhand des Holz-Feuer-Beispiels als auch des Eisen-Feuer-Beispiels, geht es Rūmī, 1375, II:1344, 1348b) ff.
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Dichtern und Denkern im Islam oft als Inhalt theopathischer Äusserungen, so etwa des Ausspruches von Bisṭāmī (st. 874), den auch Rūmī in seinem Lehrgedicht aufgreift: „Unter meinem Mantel ist nichts als Gott.“⁵³⁹ Im gegenwärtigen Wissen vollendet sich im Menschen somit der Aufstieg aus der Körperwelt, der Stufe also, auf der das Wissen und seine Gehalte in Vielheit – innerer wie äusserer – bestehen, zur Stufe des Gesamtintellekts, auf der das Wissen und seine Gehalte in äusserer Einheit, aber innerer Vielheit bestehen, und schliesslich zur Stufe Gottes selbst, auf der das Wissen und seine Gehalte sowohl in äusserer als auch in innerer Einheit bestehen. Ebenso aber unterscheidet sich Gottes Wissen von dem Wissen jedes anderen Wesens darin, dass Gott weiss, ohne Empfänger von Wissensdaten zu sein. Dies würde ja voraussetzen, dass Gott für sein Wissen eines Absenders von Wissensgehalten bedürfte. Gott ist aber schlechthin unbedürftig. Dass Gott in seinem Wissen nicht Empfänger von Wissensdaten ist, bedeutet aber, dass Gott in seinem Wissen der Absender von Wissensdaten ist, und dies ist er eben in dem Sinne, dass er als Schöpfer selbst der Ursprung dessen ist, was es überhaupt gibt und daher auch zu wissen gibt: Wesen, Wissen und Wirken sind in Gott also eins. Und weil Gottes Wissen, d. h. Gottes epistemologische Beziehung zu allem, was nicht er selber ist, und Gottes Wirken bzw. Schaffen, d. h. Gottes ontologische Beziehung zu allem, was nicht er selber ist, eins sind, so ist Epistemologie in bezug auf Gott dasselbe wie Ontologie. So ist es, wenn die Seele des Menschen die Stufe von Gottes Wissen erreicht, auch kein Wunder, dass sie, wie Suhrawardī es ausdrückt, „ihrerseits wirkend und aktiv wird, so dass, wenn sie einen Wink gibt, sich die betreffende Sache durch ihren Wink verwirklicht und, wenn sie sich etwas vorstellt, sich dieses gemäss ihrer Vorstellung ereignet.“⁵⁴⁰ Was Suhrawardī hier beschreibt, ist nichts anderes, als was in theologisch-philosophischer Fachsprache Theurgie genannt wird.⁵⁴¹ Diese lässt sich ebenfalls als eine Begleiterscheinung bereits des spätantiken Neuplatonismus nachweisen⁵⁴² und wird in der islamischen Überlieferung zuweilen auch Suhrawardī selbst nachgesagt.⁵⁴³ Wenn nun aber Gottes Wissen, das ein gegenwärtiges Wissen ist, kein zeithafter Vorgang und ferner eins mit Gottes Wirken oder Schaffen im Sinne einer Emanation ist, so ist auch Gottes Schaffen kein zeithafter Vorgang. Dies scheint freilich der orthodoxen Position in dieser Frage zu widersprechen, welche die Erschaffung der Welt durch Gott als eine Erschaffung in der Zeit versteht, als
539 Rūmī, 1375, IV:2124. 540 Suhrawardī, 1945:503 (Muṭāraḥāt). 541 So griechisch: Vgl. Praechter, 1973:217 ff.; arabisch „karāmāt“: Vgl. Schimmel, 1985:292, 345. 542 Vgl. Demandt, 1998:336; Hiltbrunner, 1964:235 („Iamblichos“); Praechter, 1973:217 ff. 543 Vgl. Aṣġar-Ḥalabī, 1381:462.
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einen Vorgang also, dem zeithafte Bestimmungen wie „vorher“ oder „nachher“ zukommen. In der orthodoxen Auffassung von der Erschaffung der Welt durch Gott sind die Begriffe „vorher“ und „nachher“ daher im zeitlichen Sinn gemeint. Wohl liesse sich Gottes Erschaffung der Welt auch in ihrer Auffassung als Emanation mit Ausdrücken wie „vorher“ und „nachher“ beschreiben. In dieser stünde dann Gott das Eine als der Ursprung aller anderen Wesen „vor“ den Emanationsstufen, und diese wiederum folgen „nach“ Gott eine „nach“ der anderen. Da hier aber schon mit Emanation selbst kein zeithafter Vorgang gemeint ist, besagen auch die Bestimmungen „vor“ bzw. „nach“, die denselben beschreiben, keine zeitlichen Verhältnisse. Aber sowieso lassen sich die Begriffe „vorher“ und „nachher“ auch in verschiedenen nicht-zeitlichen Bedeutungen verwenden, und welche dies sind, findet sich am gründlichsten bei Aristoteles dargelegt.⁵⁴⁴ Diesem zufolge kann eine Sache auch in dem Sinne „vor“ einer anderen Sache sein, dass sie dieser gegenüber den Vorzug hat, dieser gegenüber Vorrang hinsichtlich Wichtigkeit hat oder dieser in einer unumkehrbaren Reihenfolge, einer Zahlenreihe etwa, in der Aufzählung vorausgehen muss.⁵⁴⁵ So kommt beim Abzählen der Zahlenreihe „eins, zwei, drei usw.“ mein „Eins“-Sagen wohl vor meinem „Zwei“-Sagen. Dies bedeutet nun aber nicht, dass auch in der Wirklichkeit die Zahlen, die ich abzähle, eine zeitlich vor der anderen existieren. Vielmehr handelt es sich bei der Existenz der Zahlen der Zahlenreihe um eine Existenz aller Zahlen miteinander. Und so kommt auch bei der Betrachtung der Emanation wohl Gott das Eine vor den Emanationsstufen und die eine Emanationsstufe wieder vor der anderen; in der Wirklichkeit aber handelt es sich bei dem Verhältnis, das zwischen Gott dem Einen und den Emanationsstufen sowie unter diesen selbst besteht, nicht um ein zeitliches. So gesehen, liegt der Unterschied zwischen der orthodoxen Position und der Emanationslehre in der Frage der Erschaffung der Welt durch Gott darin, dass die Anhänger der Orthodoxie Begriffe wie „vor“ und „nach“ bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und Geschöpf im zeitlichen Sinne verstehen, während die Vertreter der Emanationslehre diese nicht im zeitlichen Sinne, sondern im Sinne einer Reihenfolge, einer Vorrangigkeit oder Vorzüglichkeit auffassen. Dabei schliessen sich diese drei letzteren Bedeutungen im Falle der Emanation gegenseitig keineswegs aus: Gott etwa kommt bei der Darstellung der Emanation in der Reihenfolge vor allem anderen, ebenso wie er allem anderem gegenüber vorzüglich und vorrangig ist. Diese Vorrangigkeit Gottes gegenüber allen anderen Wesen in Reihenfolge und Bedeutung beruht aber ihrerseits darauf, dass diese für ihre Erschaffung von Gott
544 Arist., Categ., c.12, 14a, 27; zitiert bei Wolfson, 1947, vol. I:215. 545 Ders., ebda., 30–31; 36, 39; 14b, 4–5; zitiert bei Wolfson, 1947, vol. I:216.
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abhängig sind. Kurz: Gottes Vorrangigkeit vor den anderen Wesen ist gemäss der Emanationslehre keine zeitliche, sondern eine ontologische. Aufgrund dieses ontologischen Verständnisses vom Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf versucht Mīr Dāmād, die Lehre von der Erschaffung der Welt in der Zeit durch Gott auf der einen sowie der Ewigkeit der Welt auf der anderen Seite miteinander auszugleichen.⁵⁴⁶ Dabei betrachtet dieser Gelehrte zunächst das Verhältnis, das zwischen Gott und dem Gesamtintellekt mit den in ihm enthaltenen Ideen besteht, zwischen dem äusserlich wie innerlich Einen und dem zwar äusserlich, aber eben nicht innerlich Einen also, und er bezeichnet es mit einem Ausdruck, der sich mit „Beständigkeit“ oder „Unveränderlichkeit“⁵⁴⁷ wiedergeben liesse.⁵⁴⁸ Dieses Verhältnis zwischen dem Einen im Sinne des äusserlich wie innerlich Einen und dem Einen im Sinne des nur äusserlich, aber nicht innerlich Einen lässt sich auch damit beschreiben, dass es in ihm weder etwas gibt, das sich zeitlich messen liesse, noch etwas, an dem es sich zeitlich messen liesse, weil ja beide Seiten des Verhältnisses: Gott selbst ebenso wie der Gesamtintellekt mit den darin enthaltenen Ideen unveränderlich und daher ohne Ereignisse sind. Das zweite Verhältnis, das Mīr Dāmād untersucht, ist das zwischen dem Gesamtintellekt mit den darin enthaltenen Ideen und der Körperwelt, zwischen dem äusserlich Einen, aber innerlich Vielen und dem sowohl äusserlich als auch innerlich Vielen also, und er benennt es mit einem Ausdruck, den wir mit „Zeitlosigkeit“⁵⁴⁹ übersetzen könnten.⁵⁵⁰ Dieses Verhältnis lässt sich auch damit beschreiben, dass es in ihm wohl etwas gibt, das sich zeitlich messen liesse – die Veränderungen bzw. Ereignisse der Körperwelt, der „Welt des Werdens und Vergehens“, eben –, aber nichts, an dem es sich zeitlich messen liesse. Denn Ereignisse können zeitlich nur an anderen Ereignissen, die bei der Messung als Referenz dienen, gemessen werden, und da die Ideen des Gesamtintellekts, unveränderlich, wie sie sind, selbst ohne Ereignisse sind, können an ihnen auch die Ereignisse der veränderlichen Körperwelt nicht zeitlich gemessen werden. Schliesslich behandelt Mīr Dāmād das Verhältnis, das zwischen einem Veränderlichen und einem anderen Veränderlichen in der Körperwelt besteht, zwischen einem äusserlich wie innerlich Vielen und einem anderen äusserlich wie innerlich Vielen, und er nennt es Zeit⁵⁵¹, verstanden als Zeitlichkeit oder Zeit-
546 Vgl. Rudolph, 2004:100. 547 Arabisch „sarmad“: andere Wiedergaben: „absolute Ewigkeit“ u. ä.: Vgl. Nasr, 1996:249; Rudolph, 2004:100. 548 Vgl. Nasr, 1996:249; Kamal, 2006:28. 549 Arabisch „dahr“: Vgl. Rudolph, 2004:100. 550 Vgl. Nasr, 1996:249; Kamal, 2006:28. 551 Arabisch „zamān“: Vgl. Nasr, 1996:249; Rudolph, 2004:100.
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haftigkeit.⁵⁵² Dieses Verhältnis ist auch dadurch gekennzeichnet, dass es in ihm sowohl etwas gibt, das sich zeitlich messen lässt – das eine Ereignis der veränderlichen Welt nämlich –, als auch etwas, an dem es sich messen lässt – ein anderes Ereignis der veränderlichen Welt. Wenn nun das Verhältnis des Zeitlosen, des Bereiches des Gesamtintellektes mit seinen Ideen und erst recht Gottes des Einen, zum Zeithaften selbst nicht zeitlich, sondern ontologisch zu verstehen ist, so ist wohl das Zeithafte auf dem Wege der Emanation aus dem Zeitlosen hervorgegangen, was aber nicht heisst, dass dieses Hervorgehen selbst zeithaft zu verstehen ist. Das Hervorgehen des Zeithaften ist mit anderen Worten ein zeitloses Hervorgehen – oder mit Mīr Dāmāds Worten: eine zeitlose Erschaffung des Zeithaften.⁵⁵³ So lässt sich von der Erschaffung der Welt durch Gott in Übereinstimmung mit der theologischen Mehrheitsmeinung als einer Erschaffung in der Zeit sprechen, wenn man sich dabei nämlich auf den Bereich – den Bereich des Zeithaften – bezieht, in dem überhaupt von Zeit und Zeitlichkeit die Rede sein kann. Ebenso lässt sich in Übereinstimmung mit der Lehre des dritten Weges die Erschaffung der Welt durch Gott aber, berücksichtigt man dabei den Bereich des Zeitlosen, als zeitlos – „ewig“ – verstehen. Zwischen der einen und der anderen Lehre besteht demzufolge aber kein wirklicher Unterschied.⁵⁵⁴ Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften, setzt, da in ihr das Zeitlose und das Zeithafte zueinander im Verhältnis von Vorbild und Abbild stehen, die Anerkennung der platonischen Ideen voraus und kann allein schon in dieser Hinsicht daher als platonisch gelten. Platonisch ist an dieser Lehre ferner das Verständnis von Ewigkeit nicht etwa als unendlicher Zeit – diese Auffassung findet sich bei Aristoteles –, sondern vielmehr im übertragenen Sinne von Zeitlosigkeit.⁵⁵⁵ Und aus philosophiegeschichtlicher Sicht schliesslich knüpft Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften an die Diskussion an, die auch spätantike Neuplatoniker über die Frage führten, wie sich das ontologische Verhältnis zwischen Zeitlosem und Zeithaftem – oder allgemeiner: zwischen Raum- und Zeitlosem und Raumzeitlichem – verstehen lässt bzw. wie zwischen diesen beiden überhaupt ein Verhältnis bestehen kann.⁵⁵⁶ Als Beispiel für einen Beitrag zu dieser Diskussion in der Antike liesse sich Proklos’ Lehrsatz anführen: „Jede gesonderte Ursache“ – gemeint sind die Ideen – „ist sowohl
552 Vgl. Nasr, 1996:249; Kamal, 2006:28; Rudolph, 2004:100 f. 553 Arabisch „ḥudūt dahrī“: Vgl. Nasr, 1996:249; Rudolph, 2004:101. 554 Vgl. Rudolph, 2004:100. 555 Vgl. Beierwaltes, 1967:146. 556 Vgl. Beierwaltes, 1967; Ders., 1985; Obertello, 1981.
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überall als auch nirgends.“⁵⁵⁷ Und zwar ist jede gesonderte Ursache insofern „überall“ und damit räumlich, als es sich bei dem von ihr Verursachten um die räumlichen Dinge handelt. Andererseits ist jede gesonderte Ursache auch wieder „nirgends“ und damit raumlos, und zwar insofern, als sie selbst ohne Raum besteht. Unter den allgemeinen Gesichtspunkt des Raumzeitlichen gestellt, liesse sich Proklos’ Aussage, dass jede Idee sowohl räumlich als auch nicht-räumlich sei, aber ebensogut mit den Worten formulieren, dass jede Idee sowohl zeitlos als auch zeithaft ist. Und zwar – so könnten wir auch hier ausführen – ist jede Idee insofern zeithaft, als es sich bei dem von ihr Verursachten, d. h. Geschaffenen, um die zeithaften Dinge handelt. Andererseits ist jede Idee auch wieder zeitlos, und zwar insofern, als sie selbst ohne Zeitlichkeit besteht. Mit dieser Bemerkung sind wir aber nicht mehr weit von Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften entfernt. Aufgrund der Einheit von Wirken, d. h. Schaffen, und Wissen in Gott könnten wir nun aber die vorige Feststellung, dass Gottes Erschaffen des Zeithaften, der Welt, eine zeitlose Erschaffung des Zeithaften ist, ebenso gut mit den Worten formulieren, dass Gottes Wissen des Zeithaften, der Welt der körperlichen Einzeldinge, ein zeitloses Wissen des Zeithaften ist. Mit diesem Ansatz versucht die Erleuchtungsphilosophie auch das epistemologische Verhältnis Gottes zu dem zukünftig Möglichen, den sogenannten Kontingentien der Zukunft, zu erhellen, d. h. zu den Ereignissen, die aus der Blickrichtung des Zeithaften als zukünftig zu gelten haben und über deren Eintreten oder Nichteintreten der Mensch vor dem Aufstieg seines Geistes auf die Stufe des zeitlosen, „gegenwärtigen“, Wissens daher keine gewisse und damit notwendig wahre Aussage machen kann wie über die Ereignisse, die aus der Blickrichtung des Zeithaften vergangen oder gegenwärtig sind.⁵⁵⁸ Die in der Sunnah vorherrschende Erklärung in der Frage, wie Gott das Zukünftige wissen kann, besagt, dass Gott dieses eben deshalb wisse, weil er alles, was je sein wird – und dazu gehören auch die Handlungen des Menschen –, von jeher vorherbestimmt habe, eine Erklärung, die mit der theologischen Mehrheitslehre von der Vorherbestimmung übereinstimmt.⁵⁵⁹ Gottes Wissen der Zukunft, Gottes epistemologische Beziehung zum Zukünftigen also, ist nach dieser Lehre deshalb ein notwendig wahres Wissen, weil das Zukünftige aufgrund seiner ontologischen Beziehung zu Gott als seinem Erschaffer notwendig ist. Eine Position in derselben Frage, die der Willensfreiheit des Menschen Rechnung trüge, scheint hinwieder an dem Mangel zu leiden, dass sie Gottes Allwissenheit einschränkt, da sie ihm kein sicheres Vorauswissen des zukünf557 Procl., Elem. Theol.:87, 27 (prop.98): Vgl. Obertello, 1981:134. 558 Vgl. Rudolph, 2004:82. 559 Vgl. Endress, 1982:66.
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tig Möglichen, eben der menschlichen Handlungen etwa, zuerkennt. Gegenüber diesen beiden Positionen macht der Ansatz, von dem die Erleuchtungsphilosophie ausgeht, geltend, dass sie alle beide den Unterschied zwischen der Stufe des Zeitlosen und des Zeithaften ausser Acht lassen. Denn das, was unter den Bedingungen der Zeitlichkeit der Zukunft zugewiesen wird, so dass wir aus der Blickrichtung des Zeithaften hinsichtlich seines Eintretens oder Nichteintretens, anders als im Falle von Vergangenem und Gegenwärtigem, kein bestimmtes Wissen haben, besteht in Gottes Geist ohne die Bedingungen der Zeitlichkeit und daher auch nicht als etwas erst Zukünftiges, so dass Gott aus der Blickrichtung des Zeitlosen hinsichtlich seines Eintretens oder Nichteintretens ein bestimmtes Wissen hat, nicht anders als im Falle dessen, was aus der Blickrichtung des Zeithaften dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen zugewiesen wird. Gott in seinem zeitlosen Wissen weiss also sowohl das aus zeithafter Sicht Zukünftige und daher Nichtnotwendige, bloss Mögliche, selbst als auch dessen Nichtnotwendigkeit.⁵⁶⁰ Ein Verständnis von Gottes Wissen des zukünftig Möglichen, wie wir es in der Erleuchtungsphilosophie finden, schränkt deshalb weder Gottes Allwissenheit ein noch macht sie die Annahme, dass Gott alles, was je sein wird, von jeher vorherbestimmt habe, nötig und ist in dieser Hinsicht mit der Lehre von der Willensfreiheit des Menschen vereinbar. So konnte diese Auffassung von Gottes Allwissenheit wohl in der Schia, die sowieso schon die Lehre von der Willensfreiheit des Menschen vertritt, weiterbestehen und weiterentwickelt werden, schied aber aus den Hauptrichtungen der Sunnah aus, in der die Lehre von Gottes Vorherbestimmung, auch im Bereich der Handlungen des Menschen, vorherrschend wurde. Zugleich geht mit der unterschiedlichen Auffassung von Gottes Allwissenheit in Sunnah und Schia aber auch ein unterschiedliches Verständnis des Schicksalsbegriffes einher. In der Sunnah ist Schicksal letztlich gleichbedeutend mit Gottes Vorbestimmung selbst. Im Lichte des Verständnisses von Gottes Wissen des zukünftig Möglichen dagegen, wie wir es in der Erleuchtungsphilosophie finden und wie es in der Schia lebendig geblieben ist, handelt es sich beim Begriff Schicksal im Grunde um die Bezeichnung für die Wirkung von Gottes Wissen bzw. Schaffen aus der Blickrichtung des Zeithaften. Denselben Ansatz, mit dem die Erleuchtungsphilosophen die Frage der Kontingentien der Zukunft angehen, finden wir als Ausgangspunkt für die Erhellung derselben Frage auch bei den Neuplatonikern der ausgehenden Antike.⁵⁶¹ Und so können wir nach alledem zusammenfassend festhalten, dass die islamische Erleuchtungsphilosophie in ihren Begriffen – einschliesslich desjenigen der 560 Über denselben Gedankengang bei antiken Neuplatonikern vgl. Merlan, 1968:199. 561 Über die Behandlung dieser Frage unter den antiken Neuplatonikern vgl. Blank, 1996; Huber, 1976; Merlan, 1968; Obertello, 1981; Verbeke, 1985.
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Erleuchtung selbst –, in ihren ontologischen und epistemologischen Kerngedanken, welche diese Begriffe ausdrücken, sowie in ihrer Themenwahl neuplatonisch ist. Stellen wir dazu noch in Rechnung, dass Neuplatonismus nach dem Verständnis seiner Vertreter selbst nichts anderes ist als Platonismus, so erscheint Muṭahharīs Bemerkung, dass es sich bei den Erleuchtungsphilosophen um die Vertreter der Schule Platons unter den Muslimen handelt, als wohlbegründet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in Suhrawardīs Darlegung der Erleuchtungsphilosophie Anklänge an die Begriffswelt der altiranischen Religion und Mythologie begegnen, was den einen oder anderen Wissenschaftler schon dazu gebracht hat, die Grundlage von Suhrawardīs Erleuchtungsphilosophie im Zoroastrismus zu sehen.⁵⁶² Tatsächlich betrachtet Suhrawardī den iranischen Propheten Zoroaster als einen der Träger und Überlieferer jener wahren Philosophie, die auf Erden von Hermes gestiftet worden sein soll,⁵⁶³ und er entnimmt bei der Darstellung seiner Lehre einige Ausdrücke den heiligen Büchern, die diesem Propheten zugeschrieben werden.⁵⁶⁴ Auch gewisse Rangbezeichnungen der Engel in Suhrawardīs Emanationsschema haben manche auf die Engelslehre des Zoroastrismus zurückgeführt.⁵⁶⁵ Ferner hat schon mehr als ein Gelehrter die Bedeutung der Begriffe Licht und Schatten bzw. Finsternis in Suhrawardīs Ontologie mit ihrer Bedeutung in der zoroastrischen Lehre gleichgesetzt, nach der sie als zwei widerstreitende ontologische und moralische Prinzipien – das Licht als Prinzip des Guten, die Finsternis als Prinzip des Bösen – den Weltenlauf bestimmen und das Prinzip des Guten, das Licht, am Ende obsiegen wird.⁵⁶⁶ Und schliesslich spricht Suhrawardī selbst in seinen Schriften von einem iranischen Volk aus grauer Vorzeit, das unter der Regierung weiser Herrscher von Gottes Gnaden die Menschheit zur Wahrheit angeleitet habe.⁵⁶⁷ Allein: all diese Rückgriffe Suhrawardīs auf altiranisches Überlieferungsgut fügen sich nicht zu einem System, schon gar nicht zu dem, das Suhrawardī unter dem Namen Erleuchtungsphilosophie entwickelt. Was die Engel in Suhrawardīs Seinslehre betrifft, so erscheinen sie in dieser als Vertreter von Emanationsstufen, während der Zoroastrismus gar keine Emanationslehre kennt. Ferner bezieht sich von den Begriffen Licht und Finsternis in der zoroastrischen Religion der erstere wohl auf ein überlegenes, der letztere auf ein unterlegenes Prinzip, nichtsdestoweniger sind im
562 So etwa Movaḥḥed, 1384:84 563 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:76. 564 Vgl. ebda. 565 Z. B. die Gleichsetzung der ordnenden Lichter unter dem Namen „anvār-e espahbodī“ mit Engeln: Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:80. 566 Vgl. Demandt, 1995:521. 567 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:77.
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Zoroastrismus sowohl das Prinzip Licht als auch das Prinzip Finsternis durchaus real, während in Suhrawardīs Lehre nur das Licht real ist. Ausserdem kommt in der zoroastrischen Seinslehre keine Unterscheidung zwischen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit vor wie in Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften: Welterschaffung, Weltenlauf und Weltende versteht sie alle als rein zeithafte Vorgänge. Und was schliesslich jenes altiranische Geschlecht angeht, das Suhrawardī erwähnt, so besteht die Wahrheit, zu der es die Menschheit geführt haben soll, nicht in den Lehren irgendeiner altiranischen Religion, sondern eben in denen von Suhrawardīs Erleuchtungsphilosophie.
2.3.3 Der „vierte“ Weg Nun liegt die Vervollkommnung in der Gotteserkenntnis im Sinne des dritten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam aus Sicht von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī aber auch nicht einfach darin, dass der Reisende von der Philosophie des Aristoteles, dem zweiten Weg, fortschreite zu der des Platon oder eben des Suhrawardī. Vielmehr besteht sie ihnen zufolge in einer Lehre, in welcher Aristotelismus und Platonismus nicht einfach nach Vorgabe des Liniengleichnisses aneinander ansetzen – wie bruchlos auch immer –, sondern zu einem einzigen Gedankensystem – wir könnten von einem vierten Weg, einer vierten Reise, sprechen – vereinigt sind. Diese Lehre ist die des Denkers Mullā Ṣadrā (st. 1640), und sie knüpft an eine Frage an, der in der islamischen Geistesgeschichte im Zusammenhang mit der Erleuchtungsphilosophie erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wurde, der Frage nämlich, welchem der beiden ontologischen Grundbegriffe: Sein – d. h. Existenz bzw. „Dass-heit“ – und Wesen – d. h. Essenz bzw. „Was-heit“ – aussergeistige Wirklichkeit zukomme und bei welchem der beiden es sich um eine bloss innergeistige Angelegenheit, ein Gedankending, ein Konzept, handle. Die Erleuchtungsphilosophie ihrerseits greift diese Frage im Rahmen ihrer Kritik an der Seinslehre der peripatetischen Philosophie, genauer: der islamischen Peripatetiker, besonders Ibn Sīnās, auf.⁵⁶⁸ Diese hatten auf verschiedenen Wegen die Philosophie des Aristoteles, in der Gott nicht Schöpfer der Welt ist,⁵⁶⁹ mit der Lehre des Islam, in der Gott die Dinge aus dem Nichts erschafft, zu vereinbaren gesucht. Nach Ibn Sīnā sind die Dinge vor ihrer Erschaffung durch Gott in dem Sinne nichts, dass sie als blosse Wesenheiten – Essenzen – ohne Existenz vorliegen, ein Zustand, in dem ihnen zwar die Möglichkeit – die Potenz – 568 Vgl. Leaman, 1999:91 f. 569 Vgl. Brugger, 1963:20 („Aristotelismus“).
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zukommt, einmal verwirklicht – aktuell – zu werden, aber eben noch nicht die Verwirklichung selbst. Dieser Zustand blosser Potenzialität aber, in dem Ibn Sīnā zufolge die Dinge vor ihrer Erschaffung als Essenzen ohne Existenz angelegt sind, bezeichnet in der aristotelischen Lehre vom Verhältnis zwischen Form und Materie, dem Hylemorphismus, dem Ibn Sīnā als Peripatetiker ebenfalls anhängt, die Materie ohne Form.⁵⁷⁰ Gottes Erschaffung der Dinge aus dem Nichts besteht in Ibn Sīnās Verständnis nun darin, dass Gott ihrer Essenz, ihrem Wesen, Existenz beigibt, und ebenso lässt Gott sie vergehen, indem er ihrer Essenz, ihrem Wesen, die Existenz wieder entzieht. Existenz ist an den Dingen somit eine Eigenschaft – eine Eigenschaft, genauer gesagt, auf die es für das, was sie sind, ihr Wesen eben, nicht ankommt: eine unwesentliche Eigenschaft also, d. h. ein Akzidens.⁵⁷¹ Die Verbindung von Existenz mit Essenz ebenso wie die Trennung der Existenz von Essenz sind nach dieser Lehre folglich real, d. h. wir haben es bei ihnen mit Vorgängen der aussergeistigen Wirklichkeit zu tun, und der begrifflichen Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz, die wir in unserem Geiste vornehmen, entspricht diese ihre reale Trennbarkeit. Einzig bei Gott handelt es sich nicht um eine Zusammensetzung von Essenz und Existenz, denn Gott als das einzig Unerschaffene existiert nicht aufgrund der Beigabe von Existenz zur Essenz, und deshalb ist auch eine Trennung – begrifflich wie real – zwischen Essenz und Existenz im Falle von Gott gegenstandslos. In Gott besteht das, was er ist, sein Wesen, eben darin, dass er ist: Gott ist blosse Existenz. Der Gedanke an eine reale Trennbarkeit von Essenz und Existenz in den Dingen setzt selbst voraus, dass die Dinge als Erschaffenes im Sinne einer realen Zusammensetzung aus Essenz und Existenz verstanden werden. Der eine Teil der Voraussetzung, dass nämlich die Dinge Erschaffenes sind, ist im Islam auf jeden Fall gegeben. Nur auf dem Boden dieses Gedankens kann ferner überhaupt die Frage nach dem ontologischen Zustand der Dinge ohne bzw. vor Beigabe von Existenz aufkommen, eine Frage, die Aristoteles, für den Gott nicht der Erschaffer der Dinge ist, fernliegen muss. Deshalb auch mag es Aristoteles wohl sinnvoll scheinen, in einem Ding gedanklich zwischen Essenz und Existenz zu unterscheiden, nicht aber, eine reale Trennbarkeit eines Dings in Essenz und Existenz anzunehmen bzw. dieses als eine reale Zusammensetzung aus Essenz und Existenz zu verstehen. Unter allen islamischen Denkern steht vielleicht Ibn Rušd (st. 1198)⁵⁷² der Position des Aristoteles in dieser Frage am nächsten. Ibn Rušd setzt das Nichts, aus dem Gott nach islamischer Lehre die Dinge erschafft, mit dem Urstoff, der 570 Vgl. Strohmaier, 1999:62. 571 Vgl. Leaman, 1999:90. 572 Über Leben und Lehre vgl. Leaman, 1997.
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ungeformten Materie, aus der aristotelischen Lehre gleich. Zu dieser Gleichsetzung sieht er sich aufgrund der aristotelischen Auffassung vom Verhältnis zwischen Form und Materie, dem Hylemorphismus, berechtigt. Weil diesem zufolge der Materie, z. B. dem Ton, nur die Möglichkeit – die Potenz – der Verwirklichung eines Dinges, z. B. einer Vase, zukommt, aber eben nicht dessen Verwirklichung selbst, deshalb ist die Materie kein verwirklichtes, wirkliches Ding, also nicht wirklich ein Ding und damit eigentlich kein Ding, also nichts. Die Verwirklichung und damit die Wirklichkeit – die Aktualität – eines Dings, z. B. der Vase, bestehen in der entsprechenden Formung der Materie und damit in der Form. Nach dieser Lehre ist allein Gott ohne Materie, denn sonst würde ihm in irgendeinem Masse Potenzialität und damit nur in eingeschränktem Masse Aktualität, d. h. Wirklichkeit, zukommen: Gott ist also blosse Form,⁵⁷³ und die Erschaffung eines Dinges aus dem Nichts besteht für Ibn Rušd darin, dass Gott der Materie – die ja aus seiner Sicht gleichbedeutend mit Nichts ist – Form gibt. Ohne diese Formgebung kommt einem Ding ein ontologischer Zustand erst gar nicht zu, und so gibt es auch keinen Grund für die Auffassung, bei einem Ding nach seiner Erschaffung handle es sich um eine reale Zusammensetzung aus Essenz und Existenz, nachdem es vor seiner Erschaffung als blosse Wesenheit vorgelegen hätte. Aus demselben Grund ist auch die Trennung zwischen Essenz und Existenz für Ibn Rušd kein realer Vorgang, sondern ein blosses Gedankending, ein Konzept.⁵⁷⁴
2.3.3.1 Die erleuchtungsphilosophische Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz Suhrawardī, der Begründer der Erleuchtungsphilosophie, nun kritisiert Ibn Sīnās Verständnis vom Verhältnis zwischen Essenz und Existenz nicht von der Position des Aristoteles in dieser Frage aus, denn dies hätte ja die Annahme notwendig gemacht, dass es sich bei den Dingen nicht um Geschöpfe Gottes handle. Vielmehr wendet er gegen die peripatetische Seinslehre des Ibn Sīnā ein, dass nach dieser die Verbindung von Existenz mit der Essenz eines Dings real ist, was nur möglich ist, wenn der Beziehung zwischen der Existenz und dem Ding selbst auch Existenz zukommt. Dies würde aber seinerseits voraussetzen, dass auch der Beziehung zwischen dieser Existenz und der Beziehung zwischen Existenz und dem Ding Existenz zukomme usw. ohne Ende.⁵⁷⁵ Daraus folgert Suhrawardī, dass Existenz nicht die ontologische Grundlage eines Dings der aussergeistigen Wirklichkeit sein kann. Im Zeichen derselben Überlegung macht er geltend, dass, 573 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:57a. 574 Vgl. Leaman, 1999:90. 575 Vgl. Kamal, 2006:21.
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wenn die ontologische Grundlage eines Dings der Wirklichkeit Existenz wäre, Existenz ihrerseits wieder Existenz als ihre ontologische Grundlage benötigte, denn sonst käme ihr selbst keine Wirklichkeit zu, und ebenso letztgenannte Existenz usw. ohne Ende.⁵⁷⁶ Daraus schliesst Suhrawardī wiederum, dass Existenz deshalb nicht die ontologische Grundlage der Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit und damit überhaupt der Wirklichkeit sein könne, weil der Existenz selbst keine Wirklichkeit zukomme. Bei dem Begriff Existenz handelt es sich ihm zufolge also um eine Bestimmung, die sich einem Ding der aussergeistigen Wirklichkeit und seiner Essenz wohl im Geiste beigeben lässt, ihm aber nicht in der aussergeistigen Wirklichkeit selbst zukommen kann. Mit anderen Worten: Der ontologische Grundbegriff Existenz ist für Suhrawardī ein blosses Konzept. Diese Kritik Suhrawardīs an der peripatetischen Seinslehre Ibn Sīnās entspricht seiner Kritik an der peripatetischen Erkenntnislehre. Genauso wenig, wie nach Suhrawardī die Erkenntnis der Wirklichkeit auf einer Zusammensetzung der begrifflichen Bestimmungen Gattung und spezifische Differenz in Form der Definition, des einen Erkenntnisverfahrens der peripatetischen Philosophie, beruht, besteht ihm zufolge die Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, in einer Zusammensetzung der realen Bestimmungen – der Eigenschaften also, die ein Ding in ontologischer Hinsicht bestimmen – Essenz und Existenz.⁵⁷⁷ Wirklichkeit besteht nach Suhrawardī folglich ganz in Essenz, was bedeutet, dass auch ein jedes Ding der aussergeistigen Wirklichkeit nichts anderes ist als seine Essenz.⁵⁷⁸ Dies lässt sich unter anderem an einer Stelle bei Suhrawardī verdeutlichen, an der er sagt: „Akzidentelles Licht ist nicht Licht an sich […].“⁵⁷⁹ Wie wir wissen, steht der Ausdruck Licht bei Suhrawardī für die Wesenheiten der aussergeistigen Wirklichkeit. Weiter ist die einzige Wesenheit, auf welche in Suhrawardīs ontologischem System die Bezeichnung „Licht an sich“ zutrifft, das Licht der Lichter, das er mit Gott dem Einen gleichsetzt.⁵⁸⁰ Gott das Eine ist aber in dem Sinne „an sich“, dass es selbst ontologisch von nichts abhängt, d. h. keiner Ursache bedarf, um wirklich zu werden. Vielmehr ist Gott seinerseits für die Wirklichwerdung aller Dinge als deren bewirkende Ursache ontologisch notwendig. Umgekehrt gesprochen, hängt alles ontologisch von Gott als seiner Wirkursache ab, eine Abhängigkeit, die in der Fachsprache als Kontingenz bezeichnet wird. Wenn wir bei Suhrawardī daher im Anschluss an die eben angeführte Aussage
576 Vgl. ebda. 577 Vgl. Leaman, 1999:91 f.; Brugger, 1963:63 f. („Eigenschaft“). 578 Vgl. Kamal, 2006:1. 579 Suhrawardī, 1952:110, zitiert in Kamal, 2006:17 f. 580 Vgl. Kamal, 2006:17.
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lesen „[…] die Existenz [des akzidentellen Lichts] hängt von etwas anderem ab“,⁵⁸¹ so berechtigt uns diese Bemerkung nicht zu dem Schluss, dass für Suhrawardī nun eben doch Existenz die Wirklichkeit eines Dinges ausmache; sie besagt nur, dass das akzidentelle Licht ontologisch – und nicht nur begrifflich – von etwas anderem im Sinne seiner Wirkursache abhängt. Der Ausdruck „akzidentell“ ist an der vorliegenden Stelle also offenbar als Gegensatz von „notwendig“ zu verstehen und damit im Sinne von „kontingent“. Der Begriff „notwendig“ wiederum ist im Islam, nach dessen Lehre alle Dinge ausser Gott von Gott dem Schöpfer als ihrer Wirkursache abhängen, gleichbedeutend mit „unerschaffen“ bzw. „unverursacht“ und „kontingent“ dementsprechend mit „erschaffen“ bzw. „verursacht“. Insofern also, als sowohl das Kontingente als auch das Akzidentelle für seine Wirklichwerdung von etwas anderem als sich selbst abhängen, deckt sich die Bedeutung der beiden Ausdrücke. Jedoch ist das, von dem das Kontingente für seine Wirklichwerdung abhängt, eine Wirkursache, letztlich Gott. Ein Akzidens hingegen – etwa die weisse Färbung einer Wand – hängt für seine Wirklichwerdung von einem Träger – in diesem Fall eben der Wand – ab: Ein Akzidens ohne Träger – also etwa der Farbton „Weiss“ für sich genommen – kommt in der Wirklichkeit nicht vor. Der Träger eines Akzidens heisst in der philosophischen Fachsprache aber auch Substanz, ein Ausdruck, mit dem ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit unter Absehung von jeglicher ontologischer Abhängigkeit von einer Wirkursache, in der es immer stehen mag, benannt wird. Das „akzidentelle Licht“ – und „akzidentell“ heisst hier „kontingent“ –, d. h. die kontingente Essenz, an der vorliegenden Stelle hängt für seine Wirklichwerdung von einer übergeordneten Essenz, letztlich der notwendigen Essenz – d. h. Gott –, jedenfalls aber einer Essenz, ab. Dass an der vorliegenden Stelle bei Suhrawardī „akzidentell“ und „kontingent“ überhaupt dasselbe besagen können, setzt also voraus, dass bei Suhrawardī auch „Substanz“ und „Essenz“ dasselbe besagen. Substanz ist bei Suhrawardī Essenz, da ja Existenz nicht real, sondern nur konzeptuell ist, im Unterschied zu Ibn Sīnā, bei dem Substanz in der realen Zusammensetzung von Essenz und Existenz besteht. Suhrawardīs Seinslehre wird daher zuweilen auch als Lehre von der Eigentlichkeit oder Wirklichkeit der Essenz⁵⁸² bezeichnet.
2.3.3.2 Die Lehre von der Einheit der Existenz in der Schule Ibn ʿArabīs Würden wir übrigens an der eben zitierten Suhrawardī-Stelle in dem Ausdruck „akzidentelles Licht“ – was nichts anderes bedeutet als „akzidentelle Essenz“ – 581 Suhrawardī, 1952:110, zitiert in Kamal, 2006:18. 582 Übersetzung des arabischen „aṣālat al-māhiyyah“, andernorts auch unter „primacy of essence“ zu finden: Vgl. Kamal, 2006:1, 31 ff.; Movaḥḥed, 1384:70, 92.
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das Wort „akzidentell“ nicht im Sinne von „kontingent“, sondern im herkömmlichen Sinne von „akzidentell“ verstehen, so müssten wir unter dem „Licht an sich“, mit dem Gott gemeint ist, die Substanz verstehen, von der alle akzidentellen Essenzen – und das sind alle Dinge ausser Gott selbst – für ihre Wirklichkeit als ihrem Träger abhängen. Tatsächlich scheint dieses Verständnis von „akzidentell“ der Ontologie eines anderen islamischen Denkers, nämlich des Ibn ʿArabī (st. 1240)⁵⁸³, zugrunde zu liegen, der als der Grosse Lehrer der islamischen Mystik gilt⁵⁸⁴ und dessen Lehre, bekannt als „Einheit der Existenz“⁵⁸⁵, von Suhrawardīs Erleuchtungsphilosophie beeinflusst ist.⁵⁸⁶ Gott allein ist nach der Lehre von der Einheit der Existenz daher eine Substanz, und die akzidentellen Essenzen – die Geschöpfe also – sind letztlich blosse Akzidentien der einen, einzigen Substanz Gott. Mit dieser Auffassung vom Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf sucht Ibn ʿArabī auf seine Weise dem Grundgedanken des Islam von der Einheit Gottes, ausgedrückt in dem Satz „Es gibt keinen Gott ausser Gott“, gerecht zu werden. Während die Vertreter der theologischen Richtungen, die sich als orthodox durchgesetzt haben, dieses Bekenntnis in dem Sinne deuten, dass alles, was ausser Gott ist, nicht Gott ist, besagt es für Ibn ʿArabī, dass alles, was ausser Gott ist, auch Gott ist. So heisst es bei ihm: „Gott kraft des Seins ist dasselbe wie die Dinge, die sind, denn es gibt keine andere Existenz als Gottes Sein.“⁵⁸⁷ Aussagen wie diese haben schon manchen in Ibn ʿArabī den Vertreter einer Art von Pantheismus sehen lassen, einer Auffassung vom Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf also, nach welcher Gott sich nicht grundsätzlich von seiner Schöpfung unterscheidet – mit anderen Worten: nicht transzendent ist –, sondern dieser innewohnt – immanent ist. Da „die Dinge, die sind,“ sich nun aber in dem, was sie sind, voneinander unterscheiden, kann die Einheit Gottes, wenn er dasselbe sein soll wie die Dinge, die sind, nach Ibn ʿArabī nicht in dem bestehen, was sie sind, d. h. ihrem Wesen oder ihrer Essenz. Sie muss für ihn deshalb in dem bestehen, dass sie sind, d. h. in ihrer Existenz. Anders als für Suhrawardī, für den die Wirklichkeit in Essenz besteht, die er mit Substanz gleichsetzt, besteht für Ibn ʿArabī die Wirklichkeit in Existenz, die aber auch er mit Substanz, genauer: der einen, einzigen Substanz überhaupt, nämlich Gott, gleichsetzt. Das Verhältnis von ontologischer Notwendigkeit Gottes für seine Geschöpfe und ontologischer
583 Über Leben und Lehre vgl. Schimmel, 1985:374 ff., 396 ff.; Kamal, 2006:31 ff. 584 Vgl. Schimmel, 1985:374 ff. 585 Übersetzung des arabischen „waḥdat al-wuğūd“: Vgl. Schimmel, 1985:374 ff., 396; Kamal, 2006:31 ff. 586 Vgl. Strohmaier, 1999:131. 587 Zitat aus Ibn ʿArabī: Fuṣūṣ al-ḥikam, vol. 2, p. 337 [tr. Bulent Rauf]. Oxford 1986, bei Kamal, 2006:32.
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Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott ist nach der Lehre von der Einheit der Existenz daher gleich dem Verhältnis zwischen Substanz und Akzidens.
2.3.3.3 Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz⁵⁸⁸ Mullā Ṣadrā, so mag es scheinen, entwickelt seine eigene Seinslehre auf der Grundlage derselben Überlegungen, mit denen Suhrawardī die peripatetische Seinslehre des Ibn Sīnā kritisiert. So kann auch gemäss der Lehre Mullā Ṣadrās einer Beziehung zwischen Essenz und Existenz keine aussergeistige Wirklichkeit zukommen, und zwar genau wie bei Suhrawardī aus dem Grunde, dass einem der beiden Bestandteile einer solchen Verbindung selbst keine aussergeistige Wirklichkeit, sondern nur der Status eines Konzeptes zukommt. Genau umgekehrt wie für Suhrawardī ist für Mullā Ṣadrā jedoch derjenige Bestandteil in dieser Verbindung, dem keine aussergeistige Wirklichkeit zukommt und der ein blosses Konzept ist, nicht etwa die Existenz, während die Essenz die Wirklichkeit ausmachen würde. Vielmehr besteht für Mullā Ṣadrā die Wirklichkeit in Existenz, während für ihn der Essenz keine aussergeistige Wirklichkeit, sondern nur der Status eines Konzeptes zukommt. Mullā Ṣadrās Seinslehre wird daher auch als Lehre von der Eigentlichkeit oder Wirklichkeit der Existenz bezeichnet. Dass Existenz und nicht Essenz die ontologische Grundlage der Wirklichkeit sei, begründet Mullā Ṣadrā unter anderem folgendermassen: Die Angabe einer Essenz – etwa der Essenz „Mensch“ – sagt für sich genommen nicht aus, ob diese existent ist oder nicht. Die blosse Angabe „Mensch“ etwa bestimmt zwar, um was für ein Ding es sich handelt, d. h. seine Essenz; ob es existiert oder nicht, bleibt damit aber unbestimmt. Um anzugeben, dass diese oder jene Essenz – in diesem Beispiel „Mensch“ – existiert, genügt die Angabe der jeweiligen Essenz – hier „Mensch“ – nicht. Die Angabe der Existenz einer jeweiligen Essenz kann nur mittels einer Aussage in Form des Urteils „Diese oder jene Essenz ist existent“ geleistet werden. Wenn aber das Urteil unseres Geistes, dass eine Essenz wirklich sei, lautet: „Diese oder jene Essenz ist existent“, dann muss, wenn sich dieses Urteil unseres Geistes auf eine aussergeistige Wirklichkeit beziehen soll, diese aussergeistige Wirklichkeit darin bestehen, dass die in unserem Urteil erwähnte Essenz existent ist, also in der Existenz derselben.⁵⁸⁹ Dass der betreffenden Essenz Existenz zukommt, ist freilich nicht wie bei Ibn Sīnā im Sinne einer Zusammensetzung von Essenz und Existenz in der aussergeistigen Wirklichkeit zu verstehen. Denn nicht nur wären dann sowohl Essenz als auch Existenz wirklich, sondern sowohl Essenz als auch Existenz könnten dann, jede für sich schon, Grundlage einer je eigenen Wirklich588 Für eine allgemeinere Darstellung vgl. auch Rizvi, 2013. 589 Vgl. M, 1381, III:53.
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keit sein, so dass wir es mit zwei gesonderten Wirklichkeiten zu tun hätten, einer mit Essenz als ihrer Grundlage und einer mit Existenz als ihrer Grundlage.⁵⁹⁰ Wenn aber Essenz und Existenz nicht alle beide wirklich und damit Grundlage der Wirklichkeit sein können, sondern nur Existenz allein, dann muss es sich bei dem ontologischen Grundbegriff Essenz gemäss der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz um ein blosses Konzept handeln. Wirklichkeit besteht für Mullā Ṣadrā folglich ganz in Existenz, was bedeutet, dass auch ein jedes Ding der aussergeistigen Wirklichkeit nichts anderes ist als seine Existenz.⁵⁹¹ Noch in einem weiteren Punkt scheint Mullā Ṣadrā sich im Ansatz den Einwänden Suhrawardīs gegen Ibn Sīnās Seinslehre anzuschliessen: Wenn Existenz – angenommen, sie sei die ontologische Grundlage der Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit – selbst Existenz benötigen würde, um ihrerseits wirklich zu sein, würde auch diese letztgenannte Existenz für ihre Verwirklichung ihrerseits Existenz benötigen und diese wieder usw. ohne Ende. Jedoch zieht Mullā Ṣadrā aus diesem Ansatz genau den umgekehrten Schluss wie Suhrawardī. Letzterer folgert daraus, dass der Existenz selbst keine aussergeistige Wirklichkeit zukomme, sie also nicht real, sondern ein blosses Konzept sei. Allerdings liegt diesem Gedankengang Suhrawardīs ein Verständnis von Existenz zugrunde, nach welchem die Existenz, wenn sie denn real wäre, selbst auch ein Ding wäre. Und in der Tat müsste, wenn dem so wäre, für dieses Ding Existenz wieder ein Ding Existenz als ontologische Grundlage angenommen werden usw. ohne Ende, was mit Recht als widersinnig auszuschliessen ist. Genau hier nun aber scheint Mullā Ṣadrās Kritik an Suhrawardīs Seinslehre anzusetzen: Existenz steht als die ontologische Grundlage der Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit zu diesen nicht im selben Verhältnis wie ein Ding zu anderen Dingen. Vielmehr ist nach Mullā Ṣadrās Seinslehre Existenz als ontologische Grundlage der Dinge eben nicht selbst wieder als ein Ding zu begreifen. Bei der Existenz, der ontologischen Grundlage der Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit, handelt es sich mit anderen Worten um ein Prinzip. Und wenn wir Existenz – das Sein – im Sinne eines Prinzips und nicht eines Dinges als die ontologische Grundlage der Dinge – des Seienden – begreifen, brauchen wir für Existenz nicht wieder eine ontologische Grundlage anzunehmen und für diese wieder usw. ohne Ende. Wie für Ibn ʿArabī in dessen Lehre von der Einheit der Existenz, so besteht also auch für Mullā Ṣadrā in dessen Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz die eine, einzige ontologische Grundlage der Wirklichkeit in Existenz, mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass Mullā Ṣadrā Existenz nicht wie jener als Ding, als Substanz, auffasst.
590 Vgl. M, 1381, III:51. 591 Vgl. M, 1381, III:50.
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Dieses Verhältnis zwischen Existenz und den existierenden Dingen, zwischen Sein und Seiendem, nach dem Verständnis der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz können wir wieder mit dem Gleichnis von Licht veranschaulichen, z. B. anhand einer Lichtquelle, einer Lampe etwa, deren Licht sich in Stufen heller oder weniger hell einstellen lässt. Mit demselben Gleichnis wird ja zuweilen auch in Suhrawardīs Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz die Stufenordnung der Wesen dargestellt, die aus Gott dem Einen ausströmt – „emaniert“. Nur steht in der Darstellung von Suhrawardīs Lehre Licht gleichnishaft für Essenz, während es in der Erläuterung von Mullā Ṣadrās Philosophie für Existenz steht. Und zwar steht dabei jede Abstufung des Lichtes der Lichtquelle für ein Seiendes, ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit, und das Licht selbst unter Absehung von jeglicher Abstufung für das Sein, die Existenz, selbst. Das Seiende, die Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit, unter Ansehung ihrer Beziehung zur Existenz als ihrer ontologischen Grundlage heissen bei Mullā Ṣadrā auch das entfaltete Sein.⁵⁹² Dabei geht der Ausdruck „Entfaltung“ auf eine Reihe sinngleicher Wörter in neuplatonischen Quellen zurück,⁵⁹³ auch in solchen, wohlgemerkt, deren Verbreitung unter den Muslimen nachgewiesen ist.⁵⁹⁴ Dort bezeichnen sie alle den Modus, wie das vielheitliche Seiende zwar ausserhalb Gottes des Einen und Zeitlosen, aber doch in Beziehung mit diesem in der Zeit besteht.⁵⁹⁵ Das Licht unter Absehung von jeglicher Abstufung, das Sein oder die Existenz selbst, pflegt Mullā Ṣadrā auch das reine oder blosse Sein⁵⁹⁶ zu nennen. Dieses wiederum setzt er mit Gott gleich, was schon daran ersichtlich ist, dass er an manchen Stellen seiner Schriften, an denen er das blosse Sein als die ontologische Grundlage der Wirklichkeit erwähnt, dessen Namen mit der Lobesformel „Gross ist seine Herrlichkeit!“ versieht,⁵⁹⁷ einem Lobpreis, der im Islam Gott vorbehalten ist. Wie bei Suhrawardī im Zeichen seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz, so gilt bei Mullā Ṣadrā im Zeichen seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz: Insofern, als alle Dinge Abstufungen von Licht sind, sind sie eins – eins mit Gott, dem blossen Sein, und damit auch eins miteinander; insofern wiederum, als alle Dinge Abstufungen von Licht sind, sind sie hingegen nicht 592 Arabisch „wuğūd munbasiṭ“: Vgl. Nasr, 1996:283; Rudolph, 2004:103. 593 Arabisch „inbasaṭ/inbisāṭ“, griechisch „ἔκτασις/ἐξάπλωσις/ἐξέλιξις“: Vgl. Procl., In Tim. II 289, 20 f.; Plot. V 3, 10, 51; VI 7, 9, 38 ff.;VI 8, 18, 18. 594 Vgl. etwa Uṯūlūğiyā, 1955:57: „inbasaṭ“ ~ griechisch: „ἐκτείνομαι“: Plot. V 8, 1, 6–2, 34. 595 Vgl. Beierwaltes, 1967:267; Procl., In Tim. I 446, 14 (von der „Entfaltung“ der Ideen: Vgl. Beierwaltes, 1967:207); Plot. V 8, 1, 6–2, 34 ~ Uṯūlūğiyā, 1955:57 (von der „Entfaltung“ des Prinzips Form, „ṣūrah“, in den Dingen); VI 7, 9, 38 ff. ~ Uṯūlūğiyā, 1955:146–152 (von der Abnahme der Kräfte des Geistes in der „Entfaltung“, hier arabisch „sulūk“). 596 Arabisch „wuğūd maḥḍ“: Vgl. Kamal, 2006:68; Rudolph, 2004:103. 597 Vgl. Kamal, 2006:34.
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eins, sondern verschieden – verschieden voneinander und auch von Gott, dem blossen Sein. In der Hinsicht also, dass alle Dinge Licht sind, sind sie alle eins mit Gott, dem blossen Sein, und folglich auch miteinander, und der Begriff der Existenz kann gleichbedeutend von ihnen allen ausgesagt werden.⁵⁹⁸ Ebenso gilt aber, dass jedes Ding, je mehr Abstufungen zwischen ihm und Gott liegen, desto mehr von Gott, der Existenz unter Absehung von jeglicher Abstufung, entfernt und desto weniger hell sein Licht ist.⁵⁹⁹ In der Hinsicht also, dass allen Dingen, wiewohl sie alle Licht sind, eine grössere oder geringere Leuchtkraft zukommt, sind sie wiederum nicht eins mit Gott, dem blossen Sein, und folglich auch nicht miteinander, und der Begriff der Existenz kann nicht gleichbedeutend von ihnen ausgesagt werden; es haftet ihm nunmehr eine gewisse Ungleichsinnigkeit an, eine Uneindeutigkeit, die in Mullā Ṣadrās Fachsprache „Ungleichsinnigkeit der Existenz“⁶⁰⁰ heisst. Die Verschiedenheit der existierenden Dinge sowohl untereinander als auch gegenüber Gott, der blossen Existenz, lässt sich daher mit der Abstufung in der Helligkeit des Lichtes besagter Lampe versinnbildlichen. Dabei bedeutet weniger oder mehr Helligkeit des Lichtes jedoch nicht, dass dem Licht jeweils mehr oder weniger Dunkelheit beigemischt wäre. Denn bei Dunkelheit handelt es sich um nichts anderes als um die Nichtexistenz von Licht.⁶⁰¹ Da aber Nichtexistenz nicht die aussergeistige Existenz eines Dinges, eben etwa der Dunkelheit, begründen kann, kommt der Dunkelheit im Sinne der Nichtexistenz von Licht auch keine aussergeistige Wirklichkeit zu, und deshalb kann sie in der aussergeistigen Wirklichkeit auch nicht mit Licht – denn diesem kommt aussergeistige Wirklichkeit zu – gemischt sein. Dieser Gedanke lässt sich ebenfalls anhand unserer stufenweise verstellbaren Lampe veranschaulichen: Zwar kann ich auf derselben das Licht beispielsweise auf zweimal so hell stellen, aber wenn ich das Licht ausmache, so dass es dunkel wird, kann ich die Dunkelheit nicht auf zweimal so dunkel stellen. Dunkelheit kann also nicht für eine aussergeistige Wirklichkeit stehen, sondern nur für ein Konzept. Von den existierenden Dingen gilt daher zum einen, dass sie sind in dem Sinne, dass sie jedes ein jeweiliges Etwas sind, und in dieser Hinsicht lässt sich das Sein, die Existenz bzw. Gott, als immanent bezeichnen. Ebenso gilt aber, dass sie jedes, ganz gleich, was für ein jeweiliges Etwas sie sind, sind, und in dieser Hinsicht wiederum ist Existenz – das ist Gott – als transzendent zu bezeichnen. Gottes Transzendenz nun setzt aber voraus, dass er sich von allem, was nicht 598 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:104. 599 Vgl. ebda. 600 Arabisch „taškīk al-wuğūd“: Vgl. Kamal, 2006:64 ff.; Ṭālebzādeh, 1385b:103 f.; Rizvi, 2009. 601 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:104.
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Gott ist, unterscheidet. Dies wieder setzt voraus, dass er im Unterschied zu allem, was nicht Gott ist, unbeschränkt ist. Dies seinerseits setzt voraus, dass er nicht wie alles, das nicht Gott ist, in dem Sinne ist, dass er ein jeweiliges Etwas, ein Ding, ist. Ebenso setzt es aber voraus, dass er nicht von allem, das nicht Gott ist, getrennt ist, denn sonst wäre er wieder beschränkt. Dass Gott auch als immanent gelten kann, ist, so gesehen, Voraussetzung dafür, dass er auf jeden Fall als transzendent gelten muss. Mit Mullā Ṣadrās Lehre lässt sich damit einerseits die Schwierigkeit lösen bzw. als bloss scheinbar erweisen, wie Gott transzendent sein und dennoch eine Beziehung zu seinen Geschöpfen haben könne, und so die Entgegensetzung von Gottes Immanenz und Gottes Transzendenz, die etwa in der Diskussion um den angeblichen Pantheismus von Ibn ʿArabīs Lehre eine Rolle spielt, als gegenstandslos aufzeigen. Um die Lösung derselben Schwierigkeit geht es im Grunde auch in Mīr Dāmāds Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Welt in der Zeit erschaffen oder ewig sei. Und ebenso wie in Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften Gottes Attribute, die Ideen, aus denen die zeithafte Welt des Werdens und Vergehens emaniert, in kein zeitliches Verhältnis zu den Ereignissen, d. h. Veränderungen, der Welt des Werdens und Vergehens gestellt werden können, da sie selbst ohne Veränderung, d. h. Ereignisse, sind, so steht auch die Existenz im Verständnis von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz insofern in keinem Verhältnis zu den Dingen der Welt des Werdens und Vergehens, als, was für ein jeweiliges Etwas die Dinge jedes auch sind, nichts daran ändert, dass sie sind, und also auch nichts daran, dass von der blossen Existenz gilt, dass sie ist, ohne ein Ding zu sein. In dieser Hinsicht ist Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz eine Weiterentwicklung der Lehre Mīr Dāmāds von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften, mit dem Unterschied freilich, dass für Mullā Ṣadrā die Wirklichkeit und so auch Gott nicht in Essenz, sondern in Existenz liegt. Mīr Dāmād zieht in seiner Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften die zeittheoretischen Schlüsse aus der Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz, der Seinslehre der Erleuchtungsphilosophie, und Mullā Ṣadrā in seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz wiederum zieht die ontologischen Schlüsse aus Mīr Dāmāds Lehre von der zeitlosen Erschaffung des Zeithaften. Mit seiner Lehre vom Sein als der Wirklichkeit des Seienden beansprucht Mullā Ṣadrā aber nicht nur, die Verschiedenheit der Dinge zu erklären, sondern auch ihre Veränderung, ihr Werden. Die vorherrschende Lehre in dieser Frage, geprägt von Aristoteles’ Hylemorphismus, versteht Werden als Änderung in den Eigenschaften eines Dings – der Substanz –, während die Substanz, auf die sich die Eigenschaften als ihre Trägerin beziehen, selbst unverändert bleibe. Die Unveränderlichkeit der Substanz ermöglicht es uns nach dieser Auffassung ja
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auch, das betreffende Ding, an dem sich die Änderung vollzieht, ganz gleich, was sich alles an ihm ändert, immer noch zu Recht als dasselbe Ding zu begreifen. Wäre die Substanz, die Trägerin der Eigenschaften, selbst ebenfalls von Veränderung betroffen, so würde sich jeder Schritt der Veränderung wieder an einem anderen Ding vollziehen. Dann würde es aber überhaupt gegenstandslos, von Veränderung zu sprechen, denn es gäbe ja das betreffende Ding nicht mehr, von dem wir sagen könnten, dass es vor der Veränderung so und so gewesen ist und nach der Veränderung anders als so und so ist. Damit ergäbe sich die widersinnige Aussage, dass sich wohl eine Veränderung vollziehe, es aber nichts gebe, an dem sie sich vollziehe.⁶⁰² Für Mullā Ṣadrā besteht ja aber die Wirklichkeit eines Dings in Existenz. Das also, dessen Unveränderlichkeit es uns gemäss Mullā Ṣadrās Seinslehre ermöglicht, von einem betreffenden Ding zu sagen, dass es vor der Veränderung so und so gewesen ist und nach der Veränderung anders als so und so ist, ist die Existenz – die Existenz des in Veränderung begriffenen Dinges. Vor ebenso wie nach der Veränderung ist es die Existenz, welche die Wirklichkeit des Veränderten ausmacht, denn vor ebenso wie nach der Veränderung gilt vom Veränderten, dass es existiert. Wenn also das, was die Einheit eines Dinges vor und nach der Veränderung ausmacht, die Existenz ist, so ergibt sich Mullā Ṣadrā zufolge aus der Annahme, dass es sich bei Veränderung um Veränderung der Substanz selbst handle, keine widersinnige Aussage. Auf der Grundlage der Eigentlichkeit der Existenz ist es philosophisch daher unbedenklich, Veränderung als Veränderung der Substanz oder – so der einschlägigere Ausdruck – als Bewegung der Substanz zu verstehen. Diese Auffassung Mullā Ṣadrās von Veränderung ist im Rahmen seiner Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins denn auch unter dem Namen der Lehre von der substantiellen Bewegung bekannt geworden.⁶⁰³ Was das Verständnis von Veränderung als substantieller Bewegung auf der Grundlage der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins erst recht unbedenklich macht, ist, dass in Mullā Ṣadrās Philosophie das Prinzip Existenz ein Prinzip sowohl im Sinne eines Ursprungs oder einer Ursache als auch eines Zieles ist, beide als ein und dasselbe. In dieser Hinsicht kommt der Existenz in der Seinsordnung, die Mullā Ṣadrā im Zeichen seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz entwickelt, im Verhältnis die gleiche Stellung zu wie der Essenz in der Stufenordnung der Wesenheiten bei den Anhängern der Erleuchtungsphilosophie. Mullā Ṣadrā selbst hebt es auch als seine entscheidende Erkenntnis und als die Besonderheit seines eigenen gedanklichen Ansatzes gegenüber der Erleuchtungsphilosophie hervor, dass er erst der Existenz eben die Geltung als ontologi602 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:108 f. 603 Vgl. Leaman, 1999:29, 97; Kamal, 2006:64 ff.; Nasr, 1996:284 ff.; Ṭālebzādeh, 1385b:106 ff.
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sches Prinzip zuerkannt habe, welche die Vertreter der Erleuchtungsphilosophie fälschlicherweise der Essenz eingeräumt hätten.⁶⁰⁴ Genauso wie die Erleuchtungsphilosophen die in ihrer Lehre grundlegende ontologische Bestimmung der Wirklichkeit, nämlich Essenz – genauer: die reine, absolute Essenz, das „Licht der Lichter“ –, mit Gott gleichsetzen, so ist für die Anhänger von Mullā Ṣadrās Lehre eben die in ihrer Auffassung grundlegende ontologische Bestimmung der Wirklichkeit, nämlich Existenz – genauer: die absolute, blosse Existenz –, mit Gott eins. Und genauso wie Gott als der absoluten Essenz gemäss der Erleuchtungsphilosophie ein intelligibler Bereich zunächst liegt, den die Ideen, verstanden als Inhalte von Gottes Geist, bilden, so liegt auch Gott als dem blossen Sein gemäss der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz ein intelligibler Bereich am nächsten, den ebenfalls die Ideen oder Archetypen⁶⁰⁵, die Inhalte von Gottes Geist oder Gottes Denken, bilden. In beiden Fällen handelt es sich bei diesen um die vollkommenen und deshalb unwandelbaren allgemeinen geistigen Vorbilder für die wandelbaren und deshalb unvollkommenen Einzeldinge der Körperwelt. Und in beiden Fällen sind sie die Vorbilder derselben sowohl im Sinne ihrer Formursache, aus denen sie als ihrem Ursprung hervorgehen, als auch im Sinne des Zieles ihrer Vervollkommnung. Eben das Vollkommenheitsgefälle zwischen den Einzeldingen und ihren Ideen macht ja die Bedürftigkeit und damit das Streben – den „Eros“ – der ersteren nach den letzteren aus, und dieses ihr Streben wieder bedeutet nichts anderes als ihre Veränderung. Allerdings handelt es sich bei den Ideen in der Lehre des Suhrawardī und seiner Anhänger um Wesenheiten oder Essenzen im unmittelbaren Bereich Gottes, des Lichtes der Lichter, Wesenheiten, in denen die Vervollkommnung dessen liegt, was die Einzeldinge sind, ihres Wesens also. Die Vervollkommnung eines Einzeldings, etwa dieses oder jenes Menschen, besteht nach dieser Auffassung in der Angleichung seiner Eigenschaften an sein Vorbild unter jenen vollkommenen Wesen. Im Zeichen dieser Vervollkommnung steht auch die Veränderung der Eigenschaften des Dings, während die Substanz desselben, eben z. B. des betreffenden Menschen, unverändert bleibt. Denn dass der Mensch sich verändere, so die gängige Überlegung, bedeutet ja nicht, dass er erst weniger Mensch gewesen sei und später mehr Mensch sei. In der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz hingegen sind die Ideen keine Essenzen, sondern gehören zum blossen, vollkommenen Sein. Die Vervollkommnung eines Einzeldings, etwa dieses oder jenes Menschen, besteht nach dieser Auffassung deshalb darin, dass dieses schliesslich ebenso zum blossen, vollkommenen Sein gehöre wie sein Vorbild unter den Ideen. Im Zeichen dieser Vervollkommnung steht auch seine 604 Vgl. Kamal, 2006:33 f. 605 Vgl. Nasr, 1996:286.
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Veränderung, seine Entwicklung. Dabei bedeutet gemäss Mullā Ṣadrās Lehre von der substantiellen Bewegung etwa die Veränderung des Menschen sehr wohl, dass er erst weniger Mensch gewesen ist und später mehr Mensch ist. Schliesslich, so Mullā Ṣadrās Überlegung, nähert sich der Mensch bei seiner Entwicklung mehr und mehr der Idee des Menschseins, dem Menschen im Vollsinn des Wortes oder eben dem vollkommenen Menschen, an. Die Einheit des sich Entwickelnden besteht gemäss Mullā Ṣadrā nicht in der Substanz desselben, sondern darin, dass seine Ausrichtung auf sein Entwicklungsziel, etwa die Ausrichtung des in Entwicklung begriffenen Menschen auf sein Entwicklungsziel, den vollkommenen Menschen, gleichbleibt. Dies wiederum setzt voraus, dass das Ziel selbst gleichbleibt. Das ist jedoch gewiss der Fall, denn beim Ziel handelt es sich ja letztlich um Gott, das blosse Sein, in dessen unmittelbaren Bereich auch die Ideen, die „Einzelziele“ gewissermassen, gehören, und das Sein bleibt gleich, um was für ein Seiendes auch immer es sich bei der Änderung handelt und wie auch immer es sich ändert. Um Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz von der Stichhaltigkeit seiner Lehre von der substantiellen Bewegung zu überzeugen, macht Mullā Ṣadrā zudem geltend, dass Veränderung oder Entwicklung eines körperlichen Einzeldings eine Ausgedehntheit desselben in der Zeit bedeute, genauso wie ihm als körperlichem Einzelding eine Ausgedehntheit im Raum zukommt. Und diese Ausgedehntheit im Raum – dies anerkennen auch die Vertreter der Eigentlichkeit der Essenz – bezieht sich sehr wohl auf die Substanz des betreffenden körperlichen Einzeldings, denn sonst würde es sich bei demselben nicht um ein körperliches Ding handeln, da ja Körperlichkeit gleichbedeutend ist mit Ausgedehntheit im Raum. Dann muss sich aber auch die Ausgedehntheit in der Zeit auf die Substanz des körperlichen Einzeldings beziehen, denn diese kommt ihm genau wie die Ausgedehntheit im Raum auch nur als einem körperlichen Einzelding zu. Wenn nun also – wie die Verfechter der Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz ebenfalls einräumen – die Ausgedehntheit der Substanz eines körperlichen Einzeldings im Raum die Einheit und Selbigkeit des betreffenden Dings nicht ausschliesst, ja, im Gegenteil für diese sogar notwendig ist, dann schliesst auch die Ausgedehntheit der Substanz eines körperlichen Einzeldings in der Zeit dessen Einheit und Selbigkeit nicht aus, sondern ist für diese ebenfalls notwendig. Diese Ausgedehntheit der Substanz eines körperlichen Einzeldings in der Zeit ist aber nichts anderes als das, was Mullā Ṣadrā substantielle Bewegung nennt.⁶⁰⁶ Daraus nun ferner, dass sich die Ideen oder Archetypen, die in den unmittelbaren Bereich des blossen Seins gehören, als Formursachen des Seienden ver-
606 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:110.
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stehen lassen, schliesst Mullā Ṣadrā, dass es sich beim Sein oder der Existenz bzw. bei Gott, den er ja mit dem blossen Sein gleichsetzt, schlechthin um Form handle. Und damit bezieht Mullā Ṣadrā den Begriff Form, den die philosophischen Schulen seit Aristoteles auf das Wesen der Dinge, ihre Essenz, zu beziehen pflegen,⁶⁰⁷ auf deren Existenz.⁶⁰⁸ Vielleicht dürfen wir diesen Gedanken als das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen dem Verständnis von Gott bei Aristoteles und dem bei Ibn Sīnā betrachten: Für Aristoteles gilt ja, dass Gott als einziges Wesen blosse Form ohne Materie ist.⁶⁰⁹ Für Ibn Sīnā gilt, dass Gott als einziges Wesen blosse Existenz ohne Essenz ist und nicht wie alle anderen Wesen, seine Geschöpfe, eine Zusammensetzung aus Existenz und Essenz. Für Ibn Sīnā selbst ist aber seine eigene Aussage „Gott ist blosse Existenz ohne Essenz“ inhaltlich nichts anderes als Aristoteles’ Aussage „Gott ist blosse Form ohne Materie“, denn Ibn Sīnā versteht sich selbst ja als Anhänger von Aristoteles. Wenn wir daher gelten lassen, dass die beiden Aussagen „Gott ist blosse Existenz ohne Essenz“ und „Gott ist blosse Form ohne Materie“ dasselbe bedeuten, dann lässt sich daraus auch folgern, dass zum einen „Existenz“ und „Form“ dasselbe sind und zum anderen „Essenz“ und „Materie“. Ferner meint Form in der Philosophie seit Aristoteles Aktualität, d. h. Wirklichkeit. Die Gleichsetzung von Form mit Wirklichkeit fügt sich aber vortrefflich zu Mullā Ṣadrās Gleichsetzung von Form mit Existenz oder Sein: Denn wenn einerseits Form gleich Wirklichkeit ist – so die Peripatetiker – und andererseits Form gleich Existenz ist – so Mullā Ṣadrā – dann können wir ebenso gut sagen, dass Wirklichkeit gleich Existenz ist, und erhalten damit genau den grundlegenden Satz von Mullā Ṣadrās Lehre von der Wirklichkeit oder Eigentlichkeit der Existenz. Weil allerdings in der aristotelischen Philosophie Form auf die Essenz der Dinge, der Substanzen, bezogen wird, ist in ihr Gott im Sinne der blossen Form – der Form also, die nicht die Form eines jeweiligen Dinges ist – immer noch eine mit einer besonderen Essenz versehene Substanz neben anderen Substanzen. Weil hingegen in der Philosophie Mullā Ṣadrās Form auf Existenz bezogen wird, ist in ihr Gott im Sinne von blosser Existenz, von der ja gilt, dass sie ist, ohne ein Ding zu sein, auch keine Substanz neben anderen Substanzen. Vielmehr ist in ihr Gott die blosse Existenz, von der ja eben gilt, dass sie ist, ohne ein Ding, eine Substanz, zu sein. Entsprechend seiner Gleichsetzung von Form bzw. Aktualität, d. h. Wirklichkeit, mit Existenz setzt Mullā Ṣadrā Materie, die in Aristoteles’ Hylemorphismus den Gegenbegriff zu Form und Aktualität bildet und der keine Wirklichkeit, sondern bloss Potentialität zukommt, mit Essenz gleich, der nach seiner eigenen 607 Vgl. Brugger, 1963:92 („Form“). 608 Vgl. Kamal, 2006:67. 609 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:57a.
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Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz auch keine Wirklichkeit, sondern bloss der Status eines Konzeptes zukommt. Für Mullā Ṣadrā bedeutet Konzeptualität daher dasselbe wie Potenzialität, und in der Tat kommen sie beide darin überein, dass sie nicht wirklich sind und den Gegenbegriff zu Form, der Wirklichkeit, darstellen, und zwar ganz gleich, ob wir den Begriff Form nun wie Aristoteles auf Essenz beziehen oder wie Mullā Ṣadrā auf Existenz. Dass die Form wirklich ist, lässt sich bei Aristoteles unter anderem damit beweisen, dass sie für sich genommen, d. h. ohne Materie, im aussergeistigen Bereich vorkommt, nämlich in der besonderen Substanz Gott, während die Unwirklichkeit der Materie sich daran erweist, dass sie für sich genommen, d. h. ohne Form, in der aussergeistigen Welt nicht vorkommt. Bei Mullā Ṣadrā kommt Materie, verstanden als Essenz, in der aussergeistigen Welt ebenfalls nicht vor, sondern nur in der innergeistigen Begriffswelt, und dass Form wirklich ist, erweist sich für ihn daran, dass sie, verstanden als Existenz, für sich genommen, d. h. ohne Zuschreibung von Essenz, im aussergeistigen Bereich vorkommt, und zwar ebenfalls in Gott, der im Unterschied zur Lehre des Aristoteles jedoch nicht als Substanz, sondern als Prinzip, als die blosse Existenz, verstanden wird und in dessen unmittelbaren Bereich auch die Ideen gehören. Diesen intelligiblen Hort der Ideen in nächster Nähe zu Gott, dem blossen Sein, nennt Mullā Ṣadrā unter anderem den aktiven oder aktuellen Intellekt.⁶¹⁰ Der Ursprung dieses Ausdrucks liegt in der peripatetischen Philosophie, wo er diejenige intelligible Stufe bezeichnet, aus der die Dinge ihre Form und damit ihre Aktualität empfangen, weshalb er auch unter dem Namen „Geber der Formen“⁶¹¹ bekannt ist. Allerdings gilt der aktive Intellekt unter den Peripatetikern nicht zugleich als der Hort der Ideen, denn die Ideenlehre lehnen sie ja ab. Erst Mullā Ṣadrā, wie seine Begriffswahl verrät, setzt den aktiven Intellekt, den Geber der Formen, mit dem Hort der platonischen Ideen im unmittelbaren Bereich des blossen Seins gleich. Bei dem Hort der Ideen handelt es sich aber um Gottes Geist, den Gesamtintellekt, in dem die Ideen, die Teilintellekte, als seine Gedanken enthalten sind. Indem Mullā Ṣadrā Form also sowohl nach deren Verständnis als Formursache im Lichte der platonischen Ideen als auch nach deren Verständnis als Aktualität oder Wirklichkeit im Lichte des aristotelischen Hylemorphismus auf Existenz und nicht auf Essenz bezieht, vereinigt er letztlich die platonische Ideenlehre
610 Vgl. Nasr, 1996:286. 611 Arabisch „wāhib al-ṣuwar“, in lateinischer Übersetzung „dator formarum“: Vgl. Movaḥḥed, 1384:90; Strohmaier, 1999:64; Ṭālebzādeh, 1385b:43, Anm. 2.
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und den aristotelischen Hylemorphismus und damit entscheidende Inhalte der platonischen und der aristotelischen Philosophie.⁶¹² Bei platonischer Ideenlehre und aristotelischem Hylemorphismus, die Mullā Ṣadrā im Zeichen seiner Lehre von der Wirklichkeit des Seins miteinander vereinbart, handelt es sich aber sowohl um Seins- als auch um Erkenntnislehre. Erkenntnis wird im Platonismus als Wiedererkennen der Ideen und im Aristotelismus als ein Vorgang nach dem Muster des Zusammenspiels von Form und Materie, des Hylemorphismus also, verstanden. Was die Ideen betrifft, so gelten diese auch bei Mullā Ṣadrā als die Gehalte von Gottes Wissen. Weil in dessen Lehre die Existenz die Stelle der Essenz in der Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz einnimmt und in letzterer von Gott gilt, dass in ihm Wesen, Wissen und Wirken eins sind, so gilt in der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz entsprechend, dass in Gott als der blossen Existenz Sein, Wissen und Wirken eins sind. Und zwar zeigt sich diese Einheit daran, dass Gottes Wissen, Sein und Wirken, d. h. Schaffen, alle drei sowohl dieselben Stufen der Seinsordnung, angefangen von der Stufe des blossen Seins und der Ideen bis hinab zu den körperlichen Einzeldingen, durchschreiten als auch alle drei in derselben Richtung, nämlich von „oben“ nach „unten“. Im Falle des Menschen, der unter allen Geschöpfen Gottes Gott am ähnlichsten ist, zeigt sich diese Einheit daran, dass auch das Wissen des Menschen bei fortschreitender Erkenntnis dieselben Stufen der Seinsordnung durchschreitet, die Gott erschaffen hat, aber nicht in derselben Richtung, in der Gott sie erschaffen hat, d. h. von „oben“ nach „unten“, sondern in der umgekehrten Richtung, nämlich von „unten“ nach „oben“. Ferner besteht die Wirklichkeit des Menschen ja eben in seiner erkennenden Seele, seinem Geist, und damit letztlich im Erkennen. Ebenso gilt gemäss der Lehre von der Wirklichkeit des Seins aber, dass die Wirklichkeit des Menschen im Sein besteht. Daraus ergibt sich, dass gemäss der Lehre von der Wirklichkeit des Seins Erkennen und Sein im Menschen eins sind. Dann bedeutet aber die Vervollkommnung des Menschen in der Erkenntnis die Vervollkommnung des Seins des Menschen, des Menschseins: Der Weg, den der Mensch in der Erkenntnis von Seinsstufe zu Seinsstufe zurücklegt, ist nichts anderes als der Entwicklungsweg des Menschen selbst, und das Ziel dieses Weges ist sowohl Erkenntnisziel als auch Seinsziel, beides als ein und dasselbe. Die Vervollkommnung selbst liegt letztlich in der Erkenntnis der Ideen im Bereich des blossen Seins. Dass der Mensch die Ideen im Bereich des blossen
612 Vgl. Nasr, 1996:277; M, 1381, I:12. Betrachter der abendländischen Geistesgeschichte mag diese Vereinigung von Platonismus und Peripatetik aufgrund eines neuen Verständnisses von Essenz und Existenz an die Philosophie des Thomas von Aquin erinnern: Vgl. Brugger, 1963:92 f. („Form“), 125 f. („Gott“), 242 f. („Potenz“), 324 f. („Teilhabe“), 329 f. („Thomismus“), 377 f. („Werden“), 382 f. („Wesen“).
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Seins erkennt, bedeutet daher, da Erkenntnis im Menschen dasselbe ist wie Sein, nichts anderes, als dass der Mensch, indem er auf dem Erkenntnisweg die Stufe der Ideen und des blossen Seins erreicht, schliesslich die Ideen ist.⁶¹³ So versteht Mullā Ṣadrā auch die Gleichwerdung des Menschen mit Gott. Nach Mullā Ṣadrā kommt die Existenz damit als ontologische ebenso wie als epistemologische Grundlage sowohl dem Menschen, dem Subjekt der Erkenntnis, als auch dem zu Erkennenden, den Objekten der Erkenntnis, zu und verbürgt so die Einheit von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt, von Sein und Bewusstsein. In diesem Sinne verstehen Anhänger von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī diese in erkenntnistheoretischer Hinsicht als Realismus.⁶¹⁴ Dieser setzt voraus, dass die Wirklichkeit, das „Seiende“, unabhängig von unserer Erfahrung und unserem Bewusstsein besteht,⁶¹⁵ und begreift Erkenntnis als das Erschliessen dieser erfahrungs- und bewusstseinsunabhängigen, „objektiven“, Wirklichkeit,⁶¹⁶ im Gegensatz zum sogenannten Idealismus, der Erkenntnis als einen Vorgang begreift, der uns nichts weiter als die Bedingungen unseres Bewusstseins als Subjekte erschliesst.⁶¹⁷ Allerdings handelt es sich bei Mullā Ṣadrās Lehre nach Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Verständnis auch nicht um das, was in der Erkenntnistheorie als naiver Realismus bezeichnet wird.⁶¹⁸ Nach diesem nämlich liegt der Aufschluss über die objektive Wirklichkeit ganz in der Sinneserfahrung: Erkenntnis ist demzufolge schlechthin gleich Sinneserfahrung, die objektive Wirklichkeit gleich den Erscheinungen, wie sie sich unserer Sinneserfahrung darbieten.⁶¹⁹ Für Mullā Ṣadrā jedoch liegen Wirklichkeit und Erkenntnis im eigentlichen Sinne nicht in dem, was aus ontologischer Sicht als materiell oder, genauer, als körperlich und aus epistemologischer Sicht als sinnlich gilt, sondern im Geistigen. Das, was wir Sinneseindrücke zu nennen pflegen, beruht nach seiner Erkenntnislehre denn auch weder auf körperlichen Eigenschaften der aussergeistigen Objekte noch besteht es in unseren Sinnen.⁶²⁰ Letztere sind ihm zufolge blosse Organe im wörtlichen Sinne von „Werkzeug“ und somit nichts weiter als Leitungen, die von der Aussenwelt zu den höheren Erkenntniskräften in der menschlichen Seele führen. 613 Vgl. Nasr, 1996:287. 614 Über den Ausdruck „Realismus“ und seine Bedeutungen vgl. Brugger, 1963:256 ff.; Hügli/ Lübcke, 2005:529a) ff.; M, 1381, I:60 ff. 615 Vgl. Brugger, 1963:256; Hügli/Lübcke, 2005:529a. 616 Vgl. Brugger, 1963:256; Hügli/Lübcke, 2005:529a) f. 617 Über den Ausdruck „Idealismus“ und seine Bedeutungen vgl. Brugger, 1963:142 ff.; Hügli/ Lübcke, 2005:303a) ff.; M, 1381, I:58 ff. 618 Über diesen Ausdruck vgl. Brugger, 1963:256; Hügli/Lübcke, 2005:529b, 488a. 619 Vgl. Brugger, 1963:256; Hügli/Lübcke, 2005:529b, 488a. 620 Vgl. Kamal, 2006:94.
Geistesgeschichtliche Hintergründe und Voraussetzungen von Ṭabāṭabāʾīs Denken
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Was wir Sinneserfahrung, also etwa „Sehen“ oder „Hören“, nennen, geschieht eigentlich in unserer Seele und nicht in unseren Sinnen.⁶²¹ So bildet das körperliche Objekt auch nur den Anlass – nicht die Ursache! – für das in Gang Kommen des Erkenntnisprozesses.⁶²² Folgerichtig vertritt Mullā Ṣadrā sogar die Auffassung, dass die Seele des Menschen auch getrennt vom Körper und dessen Sinnen wahrnehmungsfähig sei.⁶²³ Was wir Sinneseigenschaften nennen und für gewöhnlich den körperlichen Objekten zuschreiben, sind für Mullā Ṣadrā eigentlich Formen in unserer Seele als wahrnehmender Subjekte, die dort seit je und damit unabhängig von den sinnlichen Objekten bestanden haben. Diese subjektiven Formen sind Bewusstseinszustände, die unsere Seele aufweist, wenn ein Objekt sich den Sinnen darbietet.⁶²⁴ Dies rückt Mullā Ṣadrās Realismus in die Nähe dessen, was als kritischer Realismus bezeichnet wird.⁶²⁵ Diesem zufolge handelt es sich bei den sogenannten Sinneseindrücken um Bewusstseinszustände – bei Mullā Ṣadrā wären dies die „Formen in unserer Seele“ –, welche die objektive Wirklichkeit nicht unmittelbar wiederspiegeln. Sie sind jedoch Zeichen für diese,⁶²⁶ und insofern bilden sie doch immerhin die erste Station bei unserem Zugang zu ihr.⁶²⁷
Die Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz und das Selbstverständnis der Schia Was die islamische Geistesgeschichte betrifft, so ist Mullā Ṣadrās Denken gerade aus der Sicht iranischer Gelehrter wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in vielerlei Hinsicht bedeutend. Zum einen vollendet sich für diese in der Zusammenführung der beiden beherrschenden philosophischen Schulen Platonismus und Aristotelismus in der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz in gewissem Masse die Entwicklung der islamischen Philosophie im engeren Sinne.⁶²⁸ Diese durchläuft gemäss ihrer Darstellung erst einen Abschnitt, der ganz und gar vom diskursiven Denken der Peripatetik geprägt ist⁶²⁹ und der dem zweiten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam entspricht.⁶³⁰ In dem darauffolgenden Abschnitt, der von der Entwicklung der Erleuchtungsphilosophie bestimmt wird, wendet sie 621 Vgl. Ders., 2006:93; vgl. auch M, 1381, I:101 f. 622 Vgl. ebda. 623 Vgl. ebda. 624 Vgl. ebda. 625 Über diesen Ausdruck vgl. Brugger, 1963:256; Hügli/Lübcke, 2005:529b. 626 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:488a. 627 Vgl. ebda. und 529b. 628 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:111. 629 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:20. 630 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:57 ff.
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sich mehr dem Platonismus zu. Nach einer im Iran breit akzeptierten, im Westen zum Teil stark umstrittenen Sicht der islamischen Philosophiegeschichte soll sich diese Wende von Aristotelismus zu Platonismus übrigens bereits im Spätwerk des Ibn Sīnā vollzogen oder jedenfalls vorbereitet haben.⁶³¹ Der Abschnitt, in dem die Erleuchtungsphilosophie Schule macht, entspricht dem dritten Weg, der dritten Reise, für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam. An diesen Abschnitt schliesst die Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit der Existenz, indem sie die beherrschenden Lehren der vorigen Abschnitte in sich ausgleicht und vereint, gewissermassen als eine weitere Wegstrecke an, eine Wegstrecke, die einer vierten Reise für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam entspräche. Denn bei Philosophie handelt es sich im Verständnis von Gelehrten wie den oben erwähnten nicht um eine Parallel- oder gar Gegenbewegung zur Religion wie in der verbreiteten nachaufklärerischen Auffassung dieser Disziplin im Abendland. Und so liegt für sie in der Lehre des Mullā Ṣadrā nicht nur die Vervollkommnung der Entwicklung der Philosophie im engeren Sinne einer intellektuellen Disziplin, sondern in einem weiteren Sinne die Vollkommenheit in der Gotteserkenntnis und im Begreifen der Wissensgehalte des Islam überhaupt. Sie beschreiben Mullā Ṣadrās Philosophie – genauer: Theosophie – denn auch als den Knotenpunkt sämtlicher Stränge der islamischen Geistesgeschichte wie Überlieferungswissenschaft, Mystik sowie peripatetischer und platonischer Philosophie.⁶³² So geht in ihren Augen die Geschichte der Philosophie bzw. Theosophie im Islam über in die islamische Heilsgeschichte, und diese Heilsgeschichte wiederum gelangt zu ihrer Erfüllung auf dem vierten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, jener vierten Reise, die in Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz besteht. Im Zeichen dieser Sichtweise verstehen viele Denker in der Lehrüberlieferung des Mullā Ṣadrā sogar den Wortlaut der Kurzfassung des Titels von dessen Werk, in dem er seine Lehre am ausführlichsten darlegt– im arabischen Original⁶³³ al-Asfār al-arbaʿah –, in dem Doppelsinn von „Die vier Bücher“⁶³⁴ einerseits und „Die vier Reisen“⁶³⁵ andererseits. Wenn wir uns an erstere Bedeutung halten, so müssten mit den vier Büchern die vier Grundtexte der Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam gemeint sein, nämlich Thora, Psalter, Evangelium und Koran. Jeder dieser vier stellt eine Stufe dar, auf welcher der Gläubige der einen Wahrheit näherkommt. Darin sind
631 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:65 ff.; Strohmaier, 1999:89 ff.; Rudolph, 2004:52 f. 632 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:92. 633 „Al-asfār al-arbaʿah“ vollständiger: „Al-ḥikmah al-mutaʿāliyah fī al-asfār al-arbaʿah alʿaqliyyah“: Vgl. Halm, 1988:119; Ṭālebzādeh, 1385b:98 f. 634 „Buch“: arabisch „sifr“, pl. „asfār“. 635 „Reise“:arabisch „safar“, pl. „asfār“.
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sie aber gleich den vier „Reisen“ – dies die zweite Verständnismöglichkeit des Titels –, d. h. den vier Wegen für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, von denen die erste im äusseren Wortlaut des Koran einschliesslich Gesetzeswissenschaft, die zweite in verstandesmässigen Beweisen sowie freier diskursiver Beweisführung mittels Demonstration und damit in peripatetischer Philosophie, die dritte in „Enthüllung“,⁶³⁶ d. h. Mystik und Theosophie sowie platonischer Philosophie, und die vierte schliesslich in Mullā Ṣadrā eigener Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz besteht. Anhänger dieser Sicht fassen die islamische Geistesgeschichte in ihrem Gesamtverlauf gewissermassen als ein Durchmessen dieser drei bzw. vier Wege auf. So spricht etwa Ṭabāṭabāʾī in seiner Darstellung der Glaubenslehre der Schia den Muslimen der Frühzeit jedes philosophische Interesse und Verständnis rundweg ab.⁶³⁷ Bei diesen frühen Muslimen, den Gefährten des Propheten und der Folgegeneration, handelt es sich aber genau um die Schar, die in der Sunnah, gerade in deren salafistischen Strömungen, unter dem Namen der frommen Altvorderen für Glaubenslehre und Glaubenspraxis als massgeblich gilt. Demgegenüber nun betrachtet Ṭabāṭabāʾī die Unvertrautheit der frühen Muslime mit Philosophie nicht etwa als Beweis für die Unverdorbenheit von deren Glauben, sondern schlicht als Zeichen für die Unvollkommenheit desselben.⁶³⁸ Die islamische Frühzeit entspricht aus dieser Sicht somit dem ersten Weg für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam, dem Weg des blossen Glaubens, der über den äusseren Sinn der Offenbarung, zu dem auch das Religionsgesetz gehört, das die Praxis des Glaubens regelt, nicht hinausführt und damit gerade reicht, um den Menschen, die dem Materiellen verhaftet sind, das Heil zu sichern. Nach dieser Auffassung stehen die frühen Muslime auf der Stufe des Materiellen und Praktischen, und dasselbe gilt – ebenfalls nach dieser Auffassung – von denjenigen unter den späteren Muslimen, welche die Lehre und Praxis, die sie jenen frühen Muslimen, den sogenannten frommen Altvorderen eben, zuschreiben, als Gewähr für Rechtgläubigkeit betrachten. Dabei liessen sich zu denjenigen unter den späteren Muslimen, auf welche diese Beschreibung zutrifft, auf jeden Fall die Salafisten zählen, die in der Rückkehr zum Beispiel der frommen Altvorderen ja die Verwirklichung des „wahren“ Islam sehen. Dass die schiitische Lehre ihrerseits jene Altvorderen nicht ohne weiteres als vorbildlich für Lehre und Praxis des Islam anerkennen kann, lässt sich vom Standpunkt der Schia aus schon damit erklären, dass zu ihnen Personen und Gruppen gehört hatten, die das Vorrecht ʿAlīs, des nach schiitischem Glauben ersten aus der Reihe der unfehlbaren Imame, auf die Herrschaft 636 Vgl. Halm, 1988:118. 637 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:59. 638 Vgl. ebda.
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über die Gesamtgemeinde der Muslime nicht anerkannten.⁶³⁹ Freilich gehörte auch der Imam ʿAlī selbst der ersten Generation von Muslimen an – schliesslich war er ja Vetter und Schwiegersohn des Propheten. Aber für die Schia beruht die Massgeblichkeit ʿAlīs als des ersten Imams nicht auf dessen Zugehörigkeit zu den Muslimen der Frühzeit, sondern auf dessen Begnadung mit der Gabe der Unfehlbarkeit durch Gott, die den Imamen auch Einsicht in den inneren, tieferen Sinn des Koran ermöglicht, in jene Gehalte des Koran also, die Ṭabāṭabāʾī vom Wortlaut des Koran, seinem äusseren Sinn, mit den Worten abgrenzt: „Wie wir eingesehen haben, macht der Heilige Koran mit seinem Wortlaut die religiösen Gehalte deutlich und gibt den Menschen Gebote betreffend Glaubenslehre und Praxis. Aber die Gehalte des Koran sind nicht allein auf diese Ebene beschränkt, sondern im Schosse derselben wörtlichen Aussagen und in der Tiefe derselben Gehalte liegen eine spirituelle Ebene und tiefere und umfassendere Gehalte, welche [nur] die Besonderen mit ihren reinen Herzen verstehen können.“⁶⁴⁰ Zu den Besonderen mit ihren reinen Herzen gehören für Ṭabāṭabāʾī aber auf jeden Fall die unfehlbaren Imame: Ihnen kommt die Einsicht in den tieferen Sinn des Korans mit Gewissheit und nicht erst unter der Voraussetzung von Vorleistungen ihrerseits zu. In der Hinsicht, dass die Schiiten im Unterschied zu den Sunniten die Imame als unfehlbar anerkennen und sich in Glauben und Handeln an ihnen ausrichten, stehen die Schiiten ihrer eigenen Auffassung zufolge der Einsicht in die tiefere Bedeutung des Koran schlechthin näher als die Sunniten. In der Tat betrachten die Schiiten sich einer ihrer geläufigen Selbstbezeichnungen zufolge als die „Besonderen“ gegenüber den „Gemeinen“, mit welch letzteren sie die Sunniten meinen.⁶⁴¹ Nun gehören zu den „Besonderen“ gemäss Ṭabāṭabāʾīs Beschreibung des dritten Weges aber auch die sogenannten Gnostiker, eine Gruppe, zu denen er unter anderem die Mystiker zählt. Doch auch die Ursprünge der Mystik schreibt Ṭabāṭabāʾī nicht der Sunnah, sondern allein der Schia – genauer: dem ersten Imam ʿAlī – zu, wie aus seinen Ausführungen über die Entstehung der Mystik im Islam hervorgeht, wo es heisst: „Unter den Gefährten des hochedlen Propheten […] bergen nur die beredten Aussagen des Imam ʿAlī über die mystischen Wahrheiten und die Stufen des spirituellen Lebens grenzenlose Schätze, während in den Zeugnissen, die von den übrigen Gefährten erhalten sind, zu diesen Fragen nichts zu finden ist.“⁶⁴² So eignet gemäss Ṭabāṭabāʾī auch der Zugang zur inneren Bedeutung des Koran über die Mystik im Rahmen des dritten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam eher der Schia als der Sunnah. Und auch 639 Vgl. Halm, 1988:16. 640 Ṭabāṭabāʾī, 1348:47 f. 641 Vgl. Halm, 1988:72, Anm. 84. 642 Ṭabāṭabāʾī, 1348:64.
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was die Philosophie betrifft, deren eine Vertreter Ṭabāṭabāʾī ebenfalls zu den Wanderern des dritten Weges, die anderen zu denen des zweiten zählt, so sieht der Gelehrte diesen Zugang zu den Wissensgehalten des Islam offenbar seit je in der Schia angelegt, eine Sicht der Dinge, welche auch der Umstand nicht anzufechten scheint, dass es sich bei einem Grossteil der islamischen Philosophen, ganz gleich, ob sie nun dem zweiten oder dem dritten Weg zugerechnet werden, ihrem Bekenntnis nach um Sunniten handelt: Denn, wie gewisse Bemerkungen Ṭabāṭabāʾīs⁶⁴³ nahezulegen scheinen, hatte allein die Sunnah den Kontakt mit der griechischen Philosophie überhaupt nötig, um wenigstens mit fremder Hilfe zu tieferer Einsicht zu kommen, und zwar, weil sie diese in ihrer eigenen Lehre sowieso nicht hätte finden können. Die Schia hingegen soll dieser Einsicht im Grunde in Form der Lehren der unfehlbaren Imame immer schon teilhaftig gewesen sein – eine aus Sicht der Schia gewichtige Bestätigung ihres geistlichen und eben auch geistigen Überlegenheitsanspruches gegenüber der Sunnah. Die Zeit des Kontaktes und der Beschäftigung der Muslime, Sunniten wie Schiiten, mit griechischer Philosophie entspräche nach dieser Auffassung dann dem zweiten bzw. dem dritten Weg für das Begreifen der Wissengehalte des Islam: dem zweiten das Zeitalter, in denen der Aristotelismus vorherrschte, d. h. bis zu Ibn Sīnās Spätwerk, und dem dritten die Jahrhunderte, in denen der Platonismus den Ton angab, vertreten durch die Schule der Erleuchtungsphilosophie. Freilich misst Ṭabāṭabāʾī der Berührung mit dem hellenistischen Gedankengut dabei auch für den Gehalt und den Verlauf der schiitischen Geistesgeschichte Bedeutung bei. Aber die Bekanntschaft mit dem Hellenismus wird, was die Schia betrifft, nicht als Ursache oder notwendige Voraussetzung, sondern nur als eine Anregung für ihre geistesgeschichtliche Entwicklung gewertet, eben jene Entwicklung, die auf die Lehre des Mullā Ṣadrā zuläuft. Bei dieser aber – und damit kommt ihr für Ṭabāṭabāʾī eine weitere Bedeutung zu – handelt es sich aus Sicht von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī eigentlich um eine Wiederentdeckung oder überhaupt erst Entdeckung des bis dahin unverstandenen inneren Sinnes der Lehren der Imame, insbesondere des ʿAlī b. Abī Ṭālib.⁶⁴⁴ Denn jede Weisheit, welche die Philosophie nur immer erschliessen mag, ist nach dieser Auffassung seit jeher im Wissen der Imame beschlossen gewesen.⁶⁴⁵ Die Weisheit lag der schiitischen Gemeinde daher im Grunde schon immer vor und brauchte bloss noch gefunden zu werden, und der Weise, dem dies vergönnt war, ist nun eben Mullā Ṣadrā.⁶⁴⁶ So würdigt Ṭabāṭabāʾī denn dessen Leistung unter anderem mit den Worten: 643 Ṭabāṭabāʾī, 1348:59. 644 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:19 f. 645 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:60. 646 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1348:62.
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„Bisher ungeborgene Schätze in grosser Zahl an Zeugnissen aus den religiösen Schriften sowie tiefen philosophischen Äusserungen der führenden Angehörigen des Prophetenhauses [d. h. der Imame], die jahrhundertelang als unlösbares Rätsel galten und für gewöhnlich zu den unklaren Aussagen gezählt wurden, sind dadurch nun erschlossen und geklärt. Auf diese Weise wurden die [Wissenschaften der] wörtlich verstandenen Offenbarungsaussagen [d. h. die Überlieferungswissenschaften], Mystik und Philosophie vollkommen miteinander versöhnt und zusammengeführt.“⁶⁴⁷ So lässt sich denn in dieser Anschauung das Ziel der Weisheit, zu dem Mullā Ṣadrās vierte Reise hinführt, als eins mit dem Ursprung der Weisheit erweisen. Und nach diesem Verständnis nimmt dieser vierte Weg, was die Schia betrifft, auf der Ebene des Geistigen – und im Geistigen liegt die Wirklichkeit – die Erfüllung der Heilsgeschichte vorweg, die sie auf der Ebene des Materiellen, d. h. im Verlauf der Ereignisgeschichte auf Erden, als bisher unerfüllt ansieht. Was die Sunnah angeht, so bleibt ihre Einsicht in die Wissensgehalte des Islam – legen wir Ṭabāṭabāʾīs Sichtweise zugrunde – letztlich auf den ersten Weg und im Rahmen des zweiten Weges auf den Bereich der Dialektik beschränkt. Denn das Begreifen der Wissensgehalte des Islam auf dem dritten Weg, sei es nun im Bereich der Mystik oder der Philosophie, sowie mittels Philosophie im Rahmen des zweiten Weges weist Ṭabāṭabāʾī ja vornehmlich der schiitischen Lehre zu. Die sunnitische Lehre dringt dieser Sicht zufolge nicht weiter zu den Wissensgehalten des Islam vor als bis zum äusseren Wortlaut des Koran, auf die Ebene mit anderen Worten, auf der Ṭabāṭabāʾī die Gebote betreffend Glaubenslehre und Praxis verortet. Und die geistigen Betätigungsfelder, die der Ebene der Gebote betreffend Glaubenslehre und Praxis entsprechen, wären dann die überlieferungswissenschaftlichen Disziplinen Theologie – diese regelt die Glaubenslehre – und Gesetzeswissenschaft – sie regelt das praktische Verhalten des Gläubigen –, zwei Disziplinen also, die in der Einteilung der Wissenszweige, der Ṭabāṭabāʾī folgt, in den Bereich der Dialektik fallen, da die Prämissen des ihnen zukommenden Schlusses immer nur von einem Teil der Menschen anerkannt werden.⁶⁴⁸ So stellt Ṭabāṭabāʾī in seiner Darlegung der Schia, entsprechend seinem Selbstverständnis als eines ihrer führenden Gelehrten, diese zum einen unterschwellig als den eigentlichen Islam gegenüber der Sunnah und zum anderen als die Inhaberin eines überlegenen geistigen Erbes dar.
647 Ebda.; vgl. auch M, 1381, I:12. 648 Vgl. Rudolph, 2004:31.
Ṭabāṭabāʾīs Werk im vorrevolutionären „Kulturkampf“
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2.4 Ṭabāṭabāʾīs Werk im vorrevolutionären „Kulturkampf“ Gewiss ist nicht jedes von Ṭabāṭabāʾīs Werken in den vorrevolutionären „Kulturkampf“ im Iran eingeflossen – geschweige denn, dass Ṭabāṭabāʾī selbst jede seiner Schriften und Reden als Beitrag zu diesem angelegt hätte. Nicht wenige erklären die Breiten- und Tiefenwirkung von Ṭabāṭabāʾīs Oeuvre auf Geistesund Ereignisgeschichte des Iran ohnehin gerade damit, dass sein Verfasser in der Wahrnehmung vieler Iraner aufgrund seines geistigen Ranges den Auseinandersetzungen des politischen und intellektuellen Tagesgeschäfts entrückt und damit in ihren Augen über jeden Verdacht erhaben war, in seinem Wirken weltliche Absichten zu verfolgen.⁶⁴⁹ Ganz gleich aber, welch starke Bezogenheit – beabsichtigte oder unbeabsichtigte – zum Zeitgeschehen wir diesem oder jenem von Ṭabāṭabāʾīs Werken auch immer zuerkennen, jedenfalls gilt es den geistesgeschichtlichen Hintergrund und das Selbstverständnis des Verfassers, wie sie im vorigen skizziert worden sind, bei der Betrachtung zu berücksichtigen. Was bei einem Blick auf die zeitliche Abfolge der Entstehung von Ṭabāṭabāʾīs Schriften auffällt, ist, dass all diejenigen seiner Werke, die er vor der Aufnahme seiner Lehrtätigkeit in Qom verfasst hatte, rein wissenschaftliche Abhandlungen zu philosophischen und theologischen Fachfragen darstellen, wohingegen er sämtliche Schriften, die sich darüber hinaus auch als Auseinandersetzung mit den Anfechtungen der islamischen Gemeinde im allgemeinen und ihrer Führungsschicht, der religiösen Gelehrten, im besonderen lesen lassen, während der Zeit seines Wirkens am Seminar in Qom verfasst hat.⁶⁵⁰ Zu letzteren gehören neben der bereits erwähnten Darlegung der schiitischen Lehre sowie der Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus und anderen westlichen Philosophien unter dem Titel Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus,⁶⁵¹ mit dessen Inhalt wir uns später noch eingehend befassen werden, etwa zwei Abhandlungen über islamische Staatsführung,⁶⁵² ein zweiteiliges Lehrwerk über islamische Philosphie mit dem Titel Bidāyat al-Ḥikmah – Beginn der Weisheit – bzw. Nihāyat al-Ḥikmah – Vollendung der Weisheit – zum Gebrauch an theologischen Seminarien und an Uni-
649 Vgl. Dabashi, 2008:277, 287 ff. 650 Vgl. die Liste seiner Werke in Echo of Islam, o. J.:369b) f. 651 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:115; Mertoğlu, 2010:307c; Echo of Islam, o. J.:370a. 652 Erwähnt in Echo of Islam, o. J.:370a als „Two Treatises on Velayat and Islamic Government“; wohl identisch mit Ṭabāṭabāʾīs Beiträgen in dem in Boroujerdi, 1996:81 ff. erwähnten Werk Baḥs̱ī dar bāre-ye marğaʿiyyat va rūḥāniyyat; Dabashi, 2008:317 ff.
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versitäten⁶⁵³ sowie der 20-bändige Korankommentar mit dem Titel Mīzān – Die Waage –⁶⁵⁴, den er ebenfalls in Qom vollendete. Bei den beiden Abhandlungen von Ṭabāṭabāʾī über islamische Staatsführung nun handelt es sich um zwei Aufsätze unter dem Titel Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia⁶⁵⁵ bzw. Sachwalterschaft und Führerschaft⁶⁵⁶, die erstmals 1961⁶⁵⁷ als Beiträge zu einer Sammlung mit dem Titel Eine Erörterung über Autorität und Geistlichkeit⁶⁵⁸ erschienen. Diese Erörterung war von einer Reformbewegung unter dem Namen Die Islamischen Gesellschaften⁶⁵⁹ veranlasst worden, die sich vorwiegend aus Vertretern des religiösen Establishments zusammensetzte.⁶⁶⁰ Massgeblich für das Entstehen der Bewegung war die Besorgnis, dass, wenn der Islam keine überzeugenden Antworten auf die Herausforderungen, denen sich der Gläubige in einem modernen Gemeinwesen gegenübersah, bot, er sich in säkularen Systemen, etwa dem Kommunismus, nach Lösungen umsehen würde.⁶⁶¹ Der unmittelbare Anlass für die Veranstaltung einer Sammlung von Beiträgen zum Thema Autorität und Geistlichkeit durch die Islamischen Gesellschaften war der Tod von Gross-Āyatollāh Borūǧerdī Anfang 1961, dem bis anhin letzten schiitischen Gelehrten im Range einer Quelle der Nachahmung, dessen Massgeblichkeit in allen religiösen Fragen von der Gesamtheit der schiitischen Gemeinde anerkannt worden war.⁶⁶² Borūǧerdī hatte diese Stellung seit Mitte der 40er Jahre inne gehabt.⁶⁶³ In seine Zeit fiel eine Reihe bedeutender Reformen innerhalb der Gelehrtenschaft: So wurden die finanziellen Angelegenheiten wie etwa Buchführung über Einnahmen und Ausgaben der religiösen Institutionen und die Rechenschaft über die Zuwendungen an religiöse Würdenträger neu geordnet, die Vermittlung systematischer Theologie bei der Ausbildung zum religiösen Gelehrten gefördert, der Lehrplan an den religiösen Ausbildungsstätten vereinheitlicht, Verlage für religiöse Veröffentlichungen gegründet, die Beziehungen zwischen schiitischen und sunnitischen Gelehrten gefestigt und die
653 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:115; Mertoğlu, 2010:307c. 654 Vgl. Mertoğlu, 2010:307b) f.; Echo of Islam, o. J.:370a. 655 Eigene Übersetzung des persischen Eǧtehād va taqlīd dar eslām va šīʿeh. 656 Eigene Übersetzung des persischen Velāyat va zeʿāmat. 657 Akhavi, 1980:119, spricht von einer Erstausgabe im Jahre 1961; Lambton, 1964:120, gibt 1962 als Erscheinungsjahr (der Erstausgabe?) an, Boroujerdi, 1996:81, 1963. 658 Eigene Übersetzung des persischen Baḥs̱ī dar bāre-ye marǧaʿiyyat va rūḥāniyyat; für eine Besprechung des Werkes vgl. Lambton, 1964; Akhavi, 1980:119 ff.; Boroujerdi, 1996:81 ff. 659 „Anǧoman-hā-ye eslāmī“; vgl. Lambton, 1964:118. 660 Vgl. Lambton, 1964:118 f. 661 Vgl. Lambton, 1964:119. 662 Vgl. Boroujerdi, 1996:80. 663 Vgl. Boroujerdi, 1996:80.
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Theologiestudenten ermutigt, sich in der Rechtsfindung mit konkreten anstatt nur hypothetischen Fragen zu befassen.⁶⁶⁴ In politische Fragen allerdings hatte sich Gross-Āyatollāh Borūǧerdī kaum je eingemischt; seine Haltung in dieser Hinsicht war quietistisch gewesen.⁶⁶⁵ Sein Ableben hinterliess nicht nur eine Lücke an der Spitze der geistlichen Hierarchie, es konfrontierte die Vertreter des religiösen Establishments auch mit der Ungewissheit hinsichtlich seiner Nachfolge und mit der Befürchtung, dass die Einmischung des Staates in dieser Frage vollendete Tatsachen schaffen könnte.⁶⁶⁶ In dieser Lage sahen sich die Islamischen Gesellschaften aufgerufen, die Frage zu erörtern, auf welchem Wege ein Nachfolger von Gross-Āyatollāh Borūǧerdī bestimmt werden und welche Aufgaben und Eigenschaften er haben sollte.⁶⁶⁷ Sollte er wie Borūǧerdī Massgeblichkeit in sämtlichen Belangen der Religion besitzen oder sollte die Meinungsführerschaft je nach Spezialgebiet auf mehrere Gelehrte aufgeteilt werden?⁶⁶⁸ Wie sollte seine Haltung in politischen Angelegenheiten sein? Sollte er sich ebenfalls quietistisch verhalten oder sich einmischen und, wenn ja, in welchem Rahmen? Solche und ähnliche Fragen waren es, welche die Reformer in ihren Beiträgen zu Eine Erörterung über Autorität und Geistlichkeit aufwarfen und diskutierten. Es fällt auf, dass viele dieser vorrevolutionären Reformer kaum zwei Jahrzehnte später in der Islamischen Revolution eine entscheidende Rolle spielten, so etwa der religiös interessierte Ingenieur Mehdī Bāzargān, erster Premierminister der Islamischen Republik, Āyatollāh Seyyed Moḥammad Beheštī, wohl nach Khomeini der oberste politische Stratege der Revolution, Murtażā Muṭahharī, selbst ein führender Ideologe der Islamischen Republik, und Āyatollāh Maḥmūd Ṭāleqānī, nach Khomeini der populärste religiöse Führer im nachrevolutionären Iran.⁶⁶⁹ Die Aufsätze der Sammlung weisen über den unmittelbaren Anlass ihrer Abfassung, die Regelung von Gross-Āyatollāh Borūǧerdīs Nachfolge, hinaus und berühren letztlich die Frage, wie die Rolle und Position der religiösen Gelehrten im Angesicht der aktuellen Herausforderungen des Gemeinwesens zu definieren seien. Mit dieser Stellungnahme, einem bis dahin einmaligen Vorgang in der Geschichte der Schia, schalteten sich führende religiöse Gelehrte in die öffentliche Debatte zu politischen Fragen ein. Und diese Wortmeldung erwies sich als durchaus wirkmächtig – offenbar entsprach sie einem Bedürfnis –, denn die schnell aufeinander folgenden Auflagen waren jeweils bald vergriffen, die Regierung sah sich
664 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 f. 665 Vgl. Boroujerdi, 1996:80. 666 Vgl. Lambton, 1964:119; Boroujerdi, 1996:81. 667 Vgl. Lambton, 1964:119. 668 Vgl. Lambton, 1964:127; Akhavi, 1980:119 f. 669 Vgl. Boroujerdi, 1996:81, Anm.3.
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veranlasst, den Nachdruck zu verbieten, und manche Kommentare priesen das Werk als die bedeutendeste Abhandlung seit der Konstitutionellen Revolution.⁶⁷⁰ Einige Ergebnisse der Beiträge zu der Sammlung laufen auf Grundsatzfragen zur Einrichtung des Gemeinwesens hinaus, so etwa die Feststellung, dass eine schiitische Gesellschaft nicht möglich ist ohne die Delegierung der Autorität des unfehlbaren Imams, das Verständnis von Islam als einer umfassenden Lebensweise, in der die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Belange der Religion unterstellt sind, und die Entwicklung der islamischen Rechtsfindung als eines Mittels, den Islam an veränderte Gegebenheiten anzupassen.⁶⁷¹ In solchen und ähnlichen Befunden wie etwa der Wiederbelebung des Prinzips des Gebietens des Guten und des Verbietens des Schlechten im Sinne des Ausdrucks eines gemeinsamen öffentlichen Willens zeichnen sich die Umrisse eines islamischen Staatswesens ab.⁶⁷² Ein weiterer Befund der Sammlung betont die Notwendigkeit, die Gesetzeswissenschaft als Hauptfach an den theologischen Seminarien durch Ethik und Philosophie zu ersetzen.⁶⁷³ Ṭabāṭabāʾī behandelt in seinen Beiträgen zu Eine Erörterung über Autorität und Geistlichkeit das Problem der Stellung des Leiters der schiitischen Gemeinde in der Nachfolge des allgemein als Autorität anerkannten religiösen Gelehrten Borūǧerdī nicht vom Standpunkt der islamischen Gesetzeswissenschaft, sondern der Gesellschaftsphilosophie aus⁶⁷⁴ und unter Berücksichtigung der geschöpflichen Besonderheit⁶⁷⁵ und der gottgegebenen Natur des Menschen⁶⁷⁶. Der Islam ist für Ṭabāṭabāʾī eine, ja, die Lehre schlechthin, welche der Natur des Menschen Rechnung trägt.⁶⁷⁷ In dem einen Beitrag, Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia, beschäftigt er sich mit einer der entscheidenden Aufgaben eines massgeblichen Religionsgelehrten, der selbständigen Rechtsfindung nämlich, die er wie folgt definiert: „[Rechtsfindung] ist die Gewinnung einer religionsgesetzlichen Bestimmung aus Aussagen der religiösen Schriften auf dem Wege theoretischer und rationaler Argumentation, die sich in der Anwendung einer Reihe von diesbezüglichen Regeln (den Regeln der Prinzipien der Rechts-
670 Vgl. Akhavi, 1980:119. 671 Für eine vollständigere Aufzählung der Ergebnisse vgl. Akhavi, 1980:119 f. 672 Vgl. Akhavi, 1980:120. 673 Vgl. Akhavi, 1980:119. 674 Vgl. Lambton, 1964:127; Dabashi, 2008:317. 675 ḫoṣūṣiyyat-e āfarīneš-e ensānī: Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6; vgl. den Ausdruck „mowǧūdiyyat-e takvīnī-ye ensān“: Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5. 676 feṭrat-e ḫodādādī-ye ensān: Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5, 7; vgl. den Ausdruck „nehād-e ḫodādādī-ye mā“: Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5 677 Vgl. Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6 f.; Lambton, 1964:128.
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findung) vollzieht.“⁶⁷⁸ Rechtsfindung stellt für Ṭabāṭabāʾī eine Notwendigkeit dar, eine Notwendigkeit, die er mit den Worten begründet: „In Anbetracht der Tatsache, dass die Aussagen der religiösen Schriften, die in Koran und Prophetenüberlieferung vorkommen, allgemein und von begrenzter Zahl, die Fälle von Handlungsweisen und neu auftretenden Ereignissen, welche die betreffenden Probleme bilden, aber unendlich und von unbegrenzter Zahl sind, gibt es für die Gewinnung der Einzelbestimmungen und ihrer Einzelheiten keinen anderen Weg als den Gebrauch theoretischen Überlegens und die Verwendung rationaler Argumentation.“⁶⁷⁹ Was die zu selbständiger Rechtsfindung nicht qualifizierten gemeinen Gläubigen betrifft, so ergibt sich für sie die Notwendigkeit, die Rechtsfindung den dazu qualifizierten Gelehrten zu überantworten. Diese Notwendigkeit der Überantwortung begründet Ṭabāṭabāʾī ebenfalls, indem er sagt: „Daraus, dass einerseits die Rechtsfindung hinsichtlich der [religionsgesetzlichen] Bestimmungen nicht für alle möglich ist, andererseits aber die Gewinnung von Kenntnis über die religionsgesetzlichen Bestimmungen doch für alle eine religiöse Pflicht darstellt, ergibt sich die Notwendigkeit, dass im Islam für diejenigen Personen, welche die Fähigkeit der Rechtsfindung nicht haben, eine andere Aufgabe vorzusehen ist. Diese besteht darin, dass sie die jeweiligen religionsgesetzlichen Bestimmungen von denjenigen Personen, welche mit der Veranlagung zur Rechtsfindung und der Begabung zur Ableitung ausgestattet sind, erlernen und übernehmen. Genau dies ist mit dem Ausdruck Überantwortung gemeint.“⁶⁸⁰ Dieses Verhältnis zwischen Qualifikation eines Sachverständigen auf der einen Seite und Überantwortung seitens des Unkundigen auf der anderen gehört für Ṭabāṭabāʾī zu den „grundlegendsten und allgemeingültigsten Angelegenheiten des Lebens jedes Menschen“.⁶⁸¹ „Jeder Mensch“, so der Gelehrte, „verfügt nur in einem ganz kleinen Teil der Bereiche seines Lebens über Qualifikation und ist in den übrigen Bereichen (dem grössten Teil des Lebens) auf Überantwortung angewiesen.“⁶⁸² Denselben Gedanken verdeutlicht er mit den Worten: „In jeder Tätigkeit, die wir nötig haben und in der wir selbst uns nicht auskennen, wenden wir uns an einen Sachverständigen in dieser Angelegenheit. Wenn wir eine Verrichtung beginnen wollen, fragen wir einen Sachkundigen in derselben um Rat, und wenn wir eine Kunst oder ein Handwerk erlernen wollen, begeben wir uns geradewegs zu einem Meister in die Lehre, der in der betreffenden Kunst und dem besagten Handwerk kundig und erfahren ist. Für die Heilung von Leiden
678 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:3. 679 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:2 f. 680 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:3 f. 681 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6. 682 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6.
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sind wir auf einen Arzt, für einen Bauplan auf einen Baumeister angewiesen, und auch das öffentliche Bildungswesen im gesellschaftlichen Umfeld des Menschen beruht im Grunde auf eben diesem Prinzip.“⁶⁸³ Aus alledem ergibt sich zum einen, dass Überantwortung, d. h. die Übertragung von Verantwortung auf eine qualifizierte Instanz, der Natur des Menschen gemäss ist, und zum anderen, dass sie ein Prinzip des Islam darstellt, denn, so Ṭabāṭabāʾī, „[…] die Religion des Islam, wie aus wiederholten und deutlichen Aussagen des Koran und der Prophetenüberlieferung hervorgeht, ist die naturgemässe Religion und ruft die Menschheit zu einer Reihe von Lebensprinzipien auf, zu denen ihre Besonderheit als menschliche Geschöpfe und ihre gottgegebene Natur sie leiten.“⁶⁸⁴ Was nun den Fall angeht, in dem es sich bei der qualifizierten Instanz um einen Rechtsgelehrten handelt, so läuft die Überantwortung im Sinne der Delegierung von Verantwortung seitens des Unqualifizierten an denselben darauf hinaus, dass dem Rechtsgelehrten gegenüber den Ungelehrten, den gemeinen Gläubigen, eine Position der Verantwortung, der Sachwalterschaft⁶⁸⁵, wenn nicht gar Vormundschaft, zukommt. Und genauso wie Ṭabāṭabāʾī in dem Beitrag Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia das Prinzip der Überantwortung als ein naturgemässes darstellt, so behandelt er in seinem Aufsatz Sachwalterschaft und Führerschaft das Prinzip der Sachwalterschaft im Rahmen seines gesellschaftsphilosophischen Ansatzes als ein Gesetz der Natur.⁶⁸⁶ Die religionsgesetzlichen Bestimmungen nun, auf deren überlegener Kenntnis die Qualifikation des Rechtsgelehrten beruht, sind von zweierlei Art: Da sind zum einen die unveränderlichen Bestimmungen, d. h. die göttlichen Gesetze des Islam, die dem Propheten offenbart worden sind.⁶⁸⁷ Der Sachwalter setzt diese in Kraft und sorgt dafür, dass Zuwiderhandlung gegen sie geahndet wird.⁶⁸⁸ Zum anderen gibt es veränderliche Bestimmungen, die der Sachwalter den Erfordernissen der jeweiligen Umstände gemäss im Rahmen der unveränderlichen Bestimmungen nach den Regeln der Prinzipien der Rechtsfindung erlässt.⁶⁸⁹ Sowohl die unveränderlichen als auch die veränderlichen Bestimmungen sind gültig, letztere jedoch nur, solange die Erfordernisse, die sie veranlasst haben, bestehen.⁶⁹⁰ Da Sachwalterschaft der Natur des Menschen selbst gemäss ist, handelt es sich bei
683 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6. 684 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:6 f. 685 Velāyat. 686 Vgl. Lambton, 1964:127. 687 Vgl. Lambton, 1964:127;Jahanbakhsh, 2001:114. 688 Vgl. Lambton, 1964:127. 689 Vgl. Dabashi, 2008:318; Jahanbakhsh, 2001:114 f. 690 Vgl. Lambton, 1964:127; Jahanbakhsh, 2001:115.
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ihr ebenfalls um ein unabänderliches Prinzip.⁶⁹¹ Seine Gültigkeit ist denn auch bei allen Unstimmigkeiten in der Frage, wie es zu verwirklichen sei, zu keiner Zeit bestritten worden.⁶⁹² Was im besonderen die Schia angeht, so bedeutet die Naturgemässheit der Sachwalterschaft, dass die Geltung dieses Prinzips auch nicht von der physischen Anwesenheit des unfehlbaren Imams abhängt: Auch während der Zeit der Entrücktheit des unfehlbaren Imams darf, ja: muss, der Rechtsgelehrte das Gemeinwesen der Muslime sachwalterisch leiten.⁶⁹³ Es sind dies ähnliche Überlegungen, die zehn Jahre später Āyatollāh Khomeini in seiner Schrift Die Sachwalterschaft des Rechtsgelehrten⁶⁹⁴ anstellt, einem Werk, das in vielem eine theoretische Grundlegung der Islamischen Republik darstellt.⁶⁹⁵ Damit erweist sich Ṭabāṭabāʾī in der Rückschau als einer der wirkmächtigsten und einflussreichsten Vordenker unter den vorrevolutionären Reformern.⁶⁹⁶ Im Gegensatz zu einigen islamischen Apologeten des späten 19. Jahrhunderts betont Ṭabāṭabāʾī, dass die von ihm umrissene Form von Sachwalterschaft weder mit Sozialismus oder Kommunismus noch mit Demokratie gleichzusetzen sei.⁶⁹⁷ Beide Staatsformen vernachlässigen aus seiner Sicht die Spiritualität und überbewerten die materiellen Aspekte des menschlichen Lebens.⁶⁹⁸ Ausserdem straft der Sozialismus seine eigene Sicht der Geschichte Lügen, indem er sich nicht in den entwickelten kapitalistischen Staaten, sondern in Drittweltländern durchgesetzt hat,⁶⁹⁹ und bei den parlamentarischen Demokratien des Westens handelt es sich um genau die Staaten, welche schwache, unterentwickelte Länder – wie etwa eben den Iran – ausbeuten.⁷⁰⁰ Was die Demokratie im besonderen betrifft, so finden wir zwar auch in ihr eine Unterscheidung zwischen unveränderlichen und veränderlichen Bestimmungen. Der entscheidende Unterschied zur Sachwalterschaft im Islam liegt aber darin, dass in dieser die unveränderlichen Bestimmungen in Gottes offenbartem Gesetz und in der Demokratie in der Verfassung bestehen.⁷⁰¹ Auch im Bereich der veränderlichen Bestimmungen beruht die Entscheidungsfindung in der Demokratie auf dem Willen – einschliesslich der Launen und Stimmungen – der Mehrheit, in einem islamischen Staat in Form der
691 Vgl. Dabashi, 2008:318. 692 Vgl. Dabashi, 2008:318; Lambton, 1964:127. 693 Vgl. Lambton, 1964:128; Dabashi, 2008:321. 694 Eigene Übersetzung von „velāyat-e faqīh“. 695 Vgl. Dabashi, 2008:321. 696 Vgl. Mirsepassi, 2000:89. 697 Vgl. Lambton, 1964:128; Dabashi, 2008:318. 698 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:116. 699 Vgl. Algar, 2006:346. 700 Vgl. Lambton, 1964:128; Jahanbakhsh, 2001:116; Dabashi, 2008:319; Algar, 2006:346. 701 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:115; Dabashi, 2008:318.
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Sachwalterschaft des Rechtsgelehrten jedoch auf der Wahrheit.⁷⁰² Somit erweisen sich in Ṭabāṭabāʾīs Sicht beide Staatsformen, sowohl die im Westen erdachte und ebendort auch verwirklichte Demokratie als auch der ebenfalls im Westen erdachte und im Ostblock verwirklichte Sozialismus, für ein islamisches Gemeinwesen als abträglich, jedenfalls als durchaus entbehrlich. In dieser Absage an „westliche“ Einflüsse, in diesem Falle Staatsformen, die als fremd und aufgezwungen und als schädlich für die „eigene“ Kultur empfunden werden, und der Berufung auf Werte und Güter, die als unverfälscht und eigen betrachtet werden, hier letztlich „den Islam“, zeigt sich eine Neigung, die sich bei vielen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre beobachten lässt und die auch schon als Romantisierung der islamischen bzw. der iranischen Tradition bezeichnet worden ist.⁷⁰³ Auch Entstehung und Inhalt von Ṭabāṭabāʾīs exegetischem Hauptwerk, dem Korankommentar Mīzān, ist in gewissem Masse im Zusammenhang mit den Entwicklungen seiner Zeit innerhalb des theologischen Seminars und ausserhalb zu sehen.⁷⁰⁴ Der Lehrplan am theologischen Seminar war in Ṭabāṭabāʾīs Augen mit Gesetzeswissenschaft auf Kosten von Philosophie und Koranexegese überfrachtet, ein Umstand, der aus seiner Sicht die Fähigkeit der angehenden Gelehrten und Leiter der schiitischen Gemeinde einschränkte, den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. So war es ihm auch ein Hauptanliegen in seiner Tätigkeit in Qom, beiden Fächern wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.⁷⁰⁵ Die Frucht dieser seiner Bemühungen auf dem Gebiet der Koranexegese, eines Faches, das er auch selbst unterrichtete, ist nun eben Mīzān. Das Werk setzt einerseits die jahrhundertealte Tradition der Kommentierung des Koran fort, hebt sich von den meisten seiner Vorgänger aber durch die Anwendung einer besonderen hermeneutischen Methode, der sogenannten Deutung des Koran mithilfe des Koran, ab.⁷⁰⁶ Diesem Verfahren liegt die Auffassung zugrunde, dass der Koran ungeachtet der zeitlichen Abfolge in der Offenbarung seiner Teile einen einzigen Sprechakt, hervorgegangen aus einer einzigen Quelle, darstellt, in dem sich die Bedeutung bestimmter Teile im Lichte anderer Teile ergibt und in dem jeder Teil dazu beiträgt, die Bedeutung des Ganzen zu umreissen.⁷⁰⁷ Im Sinne dieses Verständnisses vom Koran untersucht Ṭabāṭabāʾī eine jede Stelle im Lichte aller anderen Stellen zum selben Inhalt unter besonderer Berücksichtigung des Aufbaus der Suren und des
702 Vgl. Lambton, 1964:128; Jahanbakhsh, 2001:115; Dabashi, 2008:318 f. 703 Vgl. Mirsepassi, 2000:76 ff. 704 Vgl. Algar, 2006:338 ff .; Dabashi, 2008:308 f. 705 Vgl. Algar, 2006:338. 706 Vgl. Algar, 2006:339; Dabashi, 2008:308. 707 Vgl. Algar, 2006:339; Dabashi, 2008:308.
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Zusammenhangs der einzelnen Verse miteinander und mit dem Textganzen.⁷⁰⁸ Die Anwendung dieses Verfahrens steht im Zeichen von Ṭabāṭabāʾīs Überzeugung, dass es darum gehe, den Koran für sich selbst sprechen zu lassen.⁷⁰⁹ Dies ist nicht etwa als Abwertung der Koranwissenschaften zu verstehen, sondern eher als Bekenntnis, dass Gottes Offenbarung nicht erst vermittels dieser Hilfsdisziplinen überhaupt fähig ist, Gehalte mit Bedeutung auszusagen, es sich bei ihr vielmehr um ein Wort eigenen Rechts handelt.⁷¹⁰ Aber nicht nur gegenüber den Fächern der islamischen Tradition, auch gegenüber zeitgenössischen und daher aus Ṭabāṭabāʾīs Sicht geschichtlich bedingten Lehren wie eben etwa dem Materialismus stellt er Übergeschichtlichkeit und Eigenständigkeit von Gottes Wort heraus und nimmt es gegen Deutungsversuche im Lichte oder im Dienste solcher Lehren in Schutz.⁷¹¹ Es geht nicht um die Frage, wie der Koran im Lichte dieses oder jenes Themas zu verstehen sei, vielmehr kommt es darauf an, was der Koran seinerseits zu bestimmten Belangen zu sagen hat,⁷¹² ein Gedanke, den Ṭabāṭabāʾī in der mehr für ein allgemeines Publikum bestimmten Schrift Der Koran im Islam⁷¹³ entwickelt.⁷¹⁴ So finden sich denn eingearbeitet in seinen Korankommentar zum Teil ausführliche Erörterungen aktueller Fragen⁷¹⁵ sowie Exkurse über verschiedene philosophische, geschichtliche und soziologische Themen.⁷¹⁶ Auch Ṭabāṭabāʾīs Tätigkeit als Korankommentator steht, so gesehen, im Zeichen seines Anliegens, dem Wort Gottes und damit dem Islam überhaupt bei der Entscheidung von Fragen, welche die Gemeinde der Muslime betreffen, gebührende Geltung zu verschaffen,⁷¹⁷ dies nicht zuletzt im Angesicht von Lehren wie dem Materialismus, aber auch wichtigen der Pahlavī-Herrschaft zugrundeliegenden Strömungen, die der Religion im zivilisatorischen Prozess keine Rolle mehr zuerkannten. Was schliesslich Ṭabāṭabāʾīs Lehrbücher in Philosophie mit dem Titel Bidāyat al-ḥikmah bzw. Nihāyat al-ḥikmah angeht, so steht die Tatsache, dass sie sowohl für den Gebrauch am theologischen Seminar als auch an der Universität bestimmt waren, im Zusammenhang mit einer Entwicklung, an welcher der Gelehrte selbst massgeblichen Anteil hatte, der Verschmelzung zwischen den 708 Vgl. Algar, 2006:339; Dabashi, 2008:308. 709 Vgl. Algar, 2006:339. 710 Vgl. Dabashi, 2008:308. 711 Vgl. Dabashi, 2008:303 ff.; 308 f. 712 Vgl. Dabashi, 2008:304. 713 „Qorʾān dar eslām“: vgl. Dabashi, 2008:304 ff. 714 Vgl. Dabashi, 2008:303 ff. 715 Vgl. Algar, 2006:345. 716 Vgl. Algar, 2006:339. 717 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:113.
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Kreisen iranischer Intellektueller mit religiösem und solcher mit akademischem Ausbildungshintergrund nämlich.⁷¹⁸ Im Zuge dieses Vorgangs, der seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte – unter anderem als Reaktion der religiösen Gelehrten auf ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Bildungssystem durch die Pahlavī-Herrscher⁷¹⁹ –, unterrichteten eine Reihe namhafter schiitischer Gelehrter an den Universitäten des Landes, wo sie Veranstaltungen in islamischer Philosophie abhielten.⁷²⁰ Auch über Ṭabāṭabāʾī selbst berichtet Ṭālebzādeh in diesem Zusammenhang: „Der führende Gelehrte Ṭabāṭabāʾī […] traf sich zu jener Zeit, als zwischen theologischen Lehranstalten und Universitäten noch eine eiserne Mauer stand, […] mit den Professoren der Universitäten und hielt für sie Lehrveranstaltungen ab.“⁷²¹ Die beteiligten Gelehrten betrachteten diesen ihren Einsatz als einen Weg, Ausbildungshintergrund und intellektuelle Ausrichtung der neu entstehenden geistigen Eliten in ihrem Sinne zu beeinflussen.⁷²² Zugleich ging es Ṭabāṭabāʾī bei der Abfassung seiner beiden Lehrwerke in Philosophie darum, die Stellung dieser Verstandesdisziplin am theologischen Seminar zu stärken, unter anderem eben mit dem Ziel, die Studenten so für die geistige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Zeit wie etwa dem Materialismus zu wappnen. Auch die Entstehung von Bidāyat al-ḥikmah und Nihāyat al-ḥikmah lässt sich daher im Zuge von Ṭabāṭabāʾīs Anliegen begreifen, dem Islam im Zeichen der Verstandesdisziplinen zu Geltung als entscheidende Stimme in den anstehenden Auseinandersetzungen zu verhelfen.⁷²³ Alles in allem stehen Abfassung und Verbreitung der bisher erwähnten Werke Ṭabāṭabāʾīs und ebenso des noch zu besprechenden Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus im Zeichen einer weitreichenden Neuausrichtung der Gelehrtenschaft in der geistigen und politischen Landschaft des Iran. Diese betraf zum einen das Verhältnis des religiösen Establishments zum Pahlavī-Staat:⁷²⁴ Die Beziehung der schiitischen Gelehrtenschaft zur weltlichen Obrigkeit war seit jeher eine wechselvolle gewesen und reichte von der Auffassung, dass Herrschaft in Abwesenheit des verborgenen Imams schlechthin nichts als Anmassung sei, bis zu gleichmütiger, ja, bisweilen wohlwollender Hinnahme.⁷²⁵ Diese Wechselhaftigkeit zeigt sich auch in der Einstellung der religiösen Institution zur Herrschaft der Pahlavīs. In der Tat hatten die Reformen Reżā 718 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 131 ff.; Halm, 2005:94 ff. 719 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 131 ff; Esposito, 1995, IV:161b; Halm, 2005:94 ff. 720 Vgl. Boroujerdi, 1996:95 f. 721 Ṭālebzādeh, 1385b:126; vgl. auch Esposito, 1995, IV:161b. 722 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 131 ff.; Esposito, 1995, IV:161b; Halm, 2005:94 ff. 723 Vgl. Jahanbakhsh, 2001:113: „[…] empowering Islam on rational […] grounds“. 724 Über das Verhältnis zwischen religiöser Institution und Pahlavī-Staat s. Akhavi, 1980. 725 Vgl. Boroujerdi, 1996:78; Akhavi, 1980:6 ff.
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Pahlavīs, darunter so augenfällige Massnahmen wie das Verbot der Verschleierung von Frauen in der Öffentlichkeit, das religiöse Establishment und seinen Einfluss erheblich geschwächt.⁷²⁶ In der Zeit zwischen der Abdankung Reżā Pahlavīs 1941 und der Durchsetzung der Herrschaft seines Sohnes und Nachfolgers Moḥammad Reżā Pahlavīs 1953 jedoch gewannen die religiösen Kräfte eine Reihe von Freiheiten zurück, so etwa die Wiederzulassung öffentlicher Trauerveranstaltungen zu Ehren der Märtyrer der schiitischen Heilsgeschichte sowie der Pilgerfahrt nach Mekka und eine gewisse Lockerung des Verschleierungsverbotes.⁷²⁷ Auch versuchte Moḥammad Reżā Pahlavī, sich das Wohlwollen oder zumindest das Stillschweigen der Religionsgelehrten gegenüber seinen Reformvorhaben durch eine Reihe von Zugeständnissen zu sichern.⁷²⁸ Zu diesen gehörten etwa die Erhöhung der Stundenzahl für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die Schliessung von Unterhaltungslokalen an religiösen Feiertagen, Errichtung neuer Moscheen und die Zulassung grösserer Kontingente zur Pilgerfahrt nach Mekka.⁷²⁹ Ausserdem erkannten sowohl Monarchie als auch die Gelehrtenschaft in republikanischen und linken Strömungen einen gemeinsamen Gegner.⁷³⁰ Die Regierung von Premierminister Moṣaddeq etwa hatte sich stark auf die Tūdeh-Partei gestützt, was vielen Vertretern der religiösen Institution suspekt war.⁷³¹ Auch Moṣaddeqs Partei, die Nationale Front, war ihr wegen ihrer liberalen Ausrichtung nicht geheuer.⁷³² Als der Monarch, nachdem er sich gegen Moṣaddeq durchgesetzt hatte, daran ging, sowohl die Nationale Front als auch die Tūdeh-Partei und überhaupt die iranische Linke zu zerschlagen, fand dies die allgemeine Zustimmung der Gelehrten.⁷³³ Noch in den späteren 50er Jahren unterhielt Gross-Āyatollāh Borūǧerdī Beziehungen zu hochrangigen Beamten der Monarchie und drückte für den Schah Bewunderung aus.⁷³⁴ Auch die massgeblichen Vertreter der religiösen Institution an den Schreinen des Irak, den wichtigsten heiligen Stätten der Schia, liessen erkennen, dass sie die Pahlavī-Herrschaft billigten.⁷³⁵ In ihrem Kampf gegen den Kommunismus bediente sich die Monarchie sogar ihrerseits zuweilen religiöser Rechtfertigungen.⁷³⁶
726 Vgl. Akhavi, 1980:60. 727 Vgl. Akhavi, 1980:61, 63. 728 Vgl. Akhavi, 1980:91. 729 Vgl. Akhavi, 1980:92. 730 Vgl. Akhavi, 1980:74; Boroujerdi, 1996:86 f. 731 Vgl. Akhavi, 1980:65. 732 Vgl. Halm, 1988:153. 733 Vgl. Akhavi, 1980:76. 734 Vgl. Akhavi, 1980:92. 735 Vgl. Akhavi, 1980:75. 736 Vgl. Akhavi, 1980:112.
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Das Einvernehmen zwischen Monarchie und religiöser Institution zerbrach, als der Herrscher, nunmehr der linken und nationalistischen Opposition ledig, 1959 daran ging, eine Reihe von Umgestaltungen ins Werk zu setzen, zu denen eine Landreform gehörte.⁷³⁷ Diese drohte die Verfügungsgewalt der Gelehrtenschaft über das religiöse Stiftungsland anzutasten und wurde von ihr deshalb als Bedrohung ihrer finanziellen Grundlagen und damit ihrer Unabhängigkeit wahrgenommen.⁷³⁸ Sogar der bis dahin quietistische Borūǧerdī wandte sich offen gegen diese Massnahme.⁷³⁹ Gegen die Reformpläne des Schahs kam es 1963 zum offenen Aufstand, in dem Āyatollāh Khomeini erstmals als religiöser Anführer in Erscheinung trat.⁷⁴⁰ Der Bruch zwischen religiöser Institution und Monarchie bedeutete auch, dass sich die Gelehrtenschaft nunmehr alleine gegen die Herausforderung durch konkurrierende geistige Strömungen behaupten musste. Wichtige Vertreter der Gelehrtenschaft nahmen die Herausforderung an, indem sie sich mit eigenen Schriften in den intellektuellen Diskurs zu Themen wie Säkularismus, Marxismus, westlicher Zivilisation, Ost-West-Gegensatz, iranischem Nationalismus und islamischen Ansichten über Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einschalteten.⁷⁴¹ Viele Wortmeldungen der religiösen Gelehrten in der intellektuellen Debatte bestanden neben Büchern auch aus Artikeln in Zeitschriften, von denen manche von Vertretern der religiösen Institution selbst herausgegeben wurden, wie etwa Die Schule der Schia⁷⁴², zu der Ṭabāṭabāʾī massgebliche Beiträge beisteuerte.⁷⁴³ Angefochten sahen sich die Gelehrten an verschiedenen Fronten: Als Erwiderung auf Vertreter eines iranischen Nationalismus, der die Beiträge des Islam zur iranischen Kultur leugnete, verfasste Muṭahharī das Buch Gegenseitige Beiträge zwischen Islam und Iran.⁷⁴⁴ Āyatollāh Nāṣer Makārem Šīrāzī propagierte 1969 in Gründe für die Rückständigkeit des Ostens⁷⁴⁵ eine islamische Alternative zu westlicher Zivilisation, Wissenschaft und Politik. Bereits 1944 hatte Āyatollāh Khomeini sich veranlasst gesehen, in seiner Schrift Enthüllung der Geheimnisse⁷⁴⁶ Einwände zu wiederlegen, die von dem modernistischen Theologen Mīrzā Reżā
737 Vgl. Akhavi, 1980:91; Halm, 1988:154. 738 Vgl. Akhavi, 1980:95; Halm, 1988:154. 739 Vgl. Akhavi, 1980:91; Halm, 1988:154. 740 Vgl. Halm, 1988:156 f. 741 Vgl. Boroujerdi, 1996:87. 742 Eigene Übersetzung von Maktab-e tašayyoʿ. 743 Vgl. Boroujerdi, 1996:89; Mirsepassi, 2000:89. 744 Eigene Übersetzung von Ḫadamāt-e motaqābel-e eslām va īrān: Vgl. Boroujerdi, 1996:88; Haar, 2008:119 f. 745 Eigene Übersetzung von Asrār-e bāzmāndegī-ye šarq. 746 Eigene Übersetzung von Kašf al-asrār.
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Qolī Šarīʿat Sangalaǧī und von ʿAlī Akbar Ḥakamīzādeh, einem Anhänger des antiklerikalen, liberalen Journalisten und Historikers Aḥmad Kasravī, an der schiitischen Lehre vorgebracht worden waren.⁷⁴⁷ Was die Herausforderung des religiösen Establishments durch die Linke betraf, so hatte diese ja seit der Zerschlagung ihrer Parteien ihre Proganda- und Rekrutierungstätigkeiten mehr und mehr von Bauern und Arbeitern auf Intellektuelle verlegt. Ihr bevorzugtes Zielpublikum bestand zunehmend aus jungen, gebildeten Angehörigen der modernen städtischen Mittelklasse.⁷⁴⁸ Auch Kader und Mitglieder linker Gruppen setzten sich vorwiegend aus Gymnasiasten, Hochschülern und Angehörigen von Berufen, die eine höhere Ausbildung voraussetzen, wie Ingenieuren oder Lehrern zusammen.⁷⁴⁹ Bei Bauern und Arbeitern nun handelte es sich sowieso schon um eine wichtige Anhängerschaft der schiitischen Gelehrten. Die jungen, gebildeten Angehörigen der modernen städtischen Mittelschicht aber bildeten genau diejenige Gruppe, welche auch die Religionsgelehrten mit ihren Beiträgen zum intellektuellen Diskurs ihrer Zeit zu erreichen suchten, wie eben etwa Ṭabāṭabāʾī mit seiner Schrift Schia. Linke und religiöse Kräfte wetteiferten, so gesehen, um dasselbe Publikum. Als umso ernster musste dem religiösen Establishment die Herausforderung durch die Linke erscheinen. Im Zuge der Einmischung der religiösen Gelehrten in die intellektuelle Debatte stehen auch Ṭabāṭabāʾīs in dieser Arbeit erwähnten Werke im Zeichen eines zweifachen Anliegens: Einerseits geht es ihm darum, die Angehörigen der religiösen Institution für die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lehren zu rüsten, andererseits, durch die Auseinandersetzung mit diesen den Gang der Geistesgeschichte der schiitischen Gemeinde in seinem Sinne zu beeinflussen.
2.4.1 Das Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus vor dem Hintergrund des vorrevolutionären Kulturkampfes In den Zusammenhang der Einmischung der religiösen Gelehrten in den intellektuellen Diskurs gehört auch die Entstehung des Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus.⁷⁵⁰ Ermöglichte es die Berufung von Gelehrten mit religiösem Ausbildungshintergrund an die Universitäten ihnen, die islamische Philosophie und – vielleicht wichtiger noch – ihr Verständnis von isla-
747 Vgl. Boroujerdi, 1996:87 f. 748 Vgl. Mirsepassi, 2000:163. 749 Vgl. Mirsepassi, 2000:171 ff. 750 Die Entstehungsgeschichte des Werkes ist erwähnt bei M, I:20 ff., Ṭālebzādeh, 1385b:115 und Dabashi, 2008:313 ff.
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mischer Philosophie und von Philosophie überhaupt den Studierenden daselbst nahezubringen, so erwuchs Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus aus dem Bestreben Ṭabāṭabāʾīs, die Auseinandersetzung mit den Lehren der abendländischen Philosophie unter den Studenten der theologischen Seminarien selbst anzuleiten.⁷⁵¹ Hinter diesem Anliegen dürfen wir wohl durchaus eine gewisse Einsicht des Gelehrten in die Lage und die Erfordernisse seiner Zeit vermuten:⁷⁵² Dass die Studierenden der theologischen Seminarien wie andere intellektuell Interessierte des Iran auch mit abendländischer Philosophie in Berührung kamen, war eine Gegebenheit, an der sowieso keine weltliche oder religiöse Autorität etwas ändern konnte. Diese Bekanntschaft, wie oberflächlich oder zufällig auch immer, mit abendländischem Gedankengut war ja auch einer der Gründe, weshalb viele Seminarstudenten, wie Ṭabāṭabāʾī selbst sagt, die religiösen Lehranstalten beladen mit Fragen und Zweifeln betraten.⁷⁵³ Wenn sich die neue Generation unter den Seminarstudenten also ohnehin schon mit abendländischer Philosophie befasste, so geschah dies in Ṭabāṭabāʾīs Auffassung am besten unter berufener Führung durch einen philosophisch qualifizierten Gelehrten wie ihn selbst, um geistiger Verwirrung vorzubeugen.⁷⁵⁴ So gesehen, geht Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus auf das schon erwähnte Anliegen Ṭabāṭabāʾīs zurück, sich selbst und überhaupt den religiösen Gelehrten in der Auseinandersetzung mit dem Westen, zumal mit dem Gedankengut des Westens, unter den Kreisen ihrer Schüler und darüber hinaus die Meinungsführerschaft zu sichern. So äussert sich auch Ṭabāṭabāʾīs Schüler Muṭahharī, der die Ausführungen seines Meisters in dessen Auftrag mit einem Kommentar versah, in der Vorrede zum ersten Band der gedruckten Fassung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus über die Beweggründe desselben: „[…] das Interesse unserer jungen Intellektuellen an den philosophischen Werken der europäischen Gelehrten […] auf der einen Seite und auf der anderen die […] Propagandaschriften der modernen materialistischen Philosophie (des dialektischen Materialismus) haben den hochverehrten Gelehrten mehr denn je dazu bewogen, sein Vorhaben umzusetzen. So hat er es schon einige Jahre zuvor […] unternommen, eine Vereinigung für philosophische Diskussion, Erörterung und Kritik zu gründen, die sich aus einer ganzen Reihe Gelehrter zusammensetzt […].“⁷⁵⁵ Nach einer anderen Überlieferung zur Vorgeschichte des Werkes soll der Anstoss zu dessen Entstehung überhaupt erst auf die Bitten einiger Studenten Ṭabāṭabāʾīs,
751 Vgl. Dabashi, 2008:278, 313 ff. 752 Vgl. Dabashi, 2008:274 f., 278 f., 281 ff., 284 f., 314; Boroujerdi, 1996:80 ff. 753 Vgl. Dabashi, 2008:274 f., 278 f., 281 ff. 754 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff.; Dabashi, 2008:274 f., 278 f., 281 f., 284 f. 755 M, 1381, I:20.
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darunter Muṭahharī, nach einer philosophischen Antwort auf den Materialismus zurückgegangen sein.⁷⁵⁶ Davon erwähnt Muṭahharī in seiner Vorrede jedoch nichts und führt über die Entstehung des Werkes vielmehr aus: „Der Autor des vorliegenden Buches […] trägt sich schon seit Jahren mit dem Gedanken, einen Lehrgang in Philosophie zu verfassen, der einerseits die gehaltvollen Forschungen der islamischen Philosophie in ihrer tausendjährigen Geschichte behandeln sollte und in dem andererseits auch die modernen philosophischen Lehren und Theorien berücksichtigt würden, so dass diese grosse Entfernung, die zwischen den früheren und den modernen philosophischen Lehren aufs erste zu bestehen scheint und die den beiden den Anschein zweier völlig unterschiedlicher Disziplinen ohne Zusammenhang miteinander gibt, aufgehoben werde und sie in einer Gestalt auftreten, die den geistigen Erfordernissen unserer Zeit besser angepasst ist und vor allem der Wert der Metaphysik, deren führende Verfechter jene islamischen Gelehrten [wie Fārābī, Ibn Sīnā, Suhrawardī und Mullā Ṣadrā] sind und deren Zeitalter die materialistische Philosophie in ihrer Propaganda für beendet erklärt, klar und deutlich werde.“⁷⁵⁷ Die Meisterdenker der islamischen Philosophie werden uns hier als die führenden Verfechter der Metaphysik, der Gegenposition zur materialistischen Philosophie, vorgestellt. Der Metaphysik und damit der islamischen Philosophie erkennt Ṭabāṭabāʾī dabei Muṭahharī zufolge einen besonderen Wert zu, einen Wert, den er philosophischen Lehren, die er als nichtmetaphysisch betrachtet, wie der materialistischen offenbar nicht zuspricht. Die Auseinandersetzung mit der abendländischen Philosophie, namentlich der materialistischen, soll nach diesen Worten also im Lichte der islamischen Philosophie als der Hüterin der Metaphysik erfolgen, und dabei würde sich zugleich der Wert der Metaphysik gegenüber den materialistischen Lehren erweisen. In diesen Worten klingt die Zuversicht an, dass die islamische Philosophie den intellektuellen Wettbewerb mit den philosophischen Lehren des Westens bestehen würde. Solches Vertrauen auf die Überlegenheit der islamischen Philosophie schwingt auch in einer Bemerkung Ṭabāṭabāʾīs mit, in welcher er die Überzeugung ausdrückt, dass sich, weil Philosophie auf verstandesmässigen Argumenten beruhe, jegliche Nichtübereinstimmung zwischen den westlichen und den islamischen philosophischen Lehren auf eine logische Unstimmigkeit zurückführen lassen müsse, weshalb es gelte, der Abweichung zwischen den Philosophen in Ost und West auf den Grund zu gehen.⁷⁵⁸ Offenbar steht für den Gelehrten fest, dass der Nachweis solcher logischer Unstimmigkeiten zulasten der westlichen Philoso-
756 Vgl. Dabashi, 2008:314. 757 M, 1381, I:20. 758 Dabashi, 2008:299 f.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
phie ausfallen würde.⁷⁵⁹ Auf jeden Fall muss er nach dem Zeugnis seiner Studenten überzeugt gewesen sein, dass allein die Philosophie die gemeinsame logische Grundlage sei, auf der sowohl Vertreter theistischer als auch atheistischer Lehren ihre Positionen beweisen oder widerlegen könnten.⁷⁶⁰ Von seiner Entstehungsgeschichte her handelt es sich bei dem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus um die schriftliche und kommentierte Fassung einer Reihe von Vorträgen in Philosophie, die Ṭabāṭabāʾī in Qom gehalten hatte. Muṭahharī, Ṭabāṭabāʾīs langjähriger Schüler und, wie gesagt, Kommentator des Werkes, bemerkt in seinem Vorwort zur Erstausgabe des ersten Bandes desselben, das er im Jahre 1954⁷⁶¹ verfasste, dass der Kreis, in dem diese Vorträge stattfanden, noch immer Bestand habe und bis anhin vierzehn Artikel⁷⁶² schriftlich vorlägen.⁷⁶³ In der Tat handelt es sich beim vierzehnten Artikel um den Inhalt des fünften und letzten Bandes der Gesamtausgabe von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus. Die vierzehn Artikel und die zugehörigen Vorträge müssen also vor 1954 entstanden sein. An derselben Stelle sagt Muṭahharī, dass er selbst bis vor anderthalb Jahren an diesen Vortragsrunden teilgenommen habe.⁷⁶⁴ Ferner berichtet er dort, dass das bestehende Verfahren dieser Veranstaltungen zweieinhalb Jahre zuvor eingeführt worden sei,⁷⁶⁵ was bedeutet, dass sie auch schon früher abgehalten worden waren, halt nur mit einem anderen Ablauf. Wie lange früher schon, gibt Muṭahharī nicht an. Bedenken wir jedoch, dass Ṭabāṭabāʾī seine Lehrtätigkeit in Qom im Jahre 1945 aufnahm, so fällt der Anfang dieser Sitzungen in die ganz frühen Jahre seines Wirkens daselbst. Auch Ṭālebzādeh erwähnt die Jahre um 1952⁷⁶⁶ als die Anfangszeit dieser Veranstaltungen.⁷⁶⁷ Diese zeitliche Eingrenzung der Entstehung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus mag zum einen geboten scheinen, weil sie uns erlaubt, den Beitrag Ṭabāṭabāʾīs zu dem Werk, der in seinen Vorlesungen, die ihm zugrunde liegen, sowie in dem Haupttext desselben besteht, in den Verlauf der Ereignis- und Geistesgeschichte einzuordnen. Zum anderen aber ist sie auch hinsichtlich der Quellengeschichte des Werkes von Belang.
759 Ebda. 760 Dabashi, 2008:314. 761 Errechnet aus der Monats- und Jahresangabe „Esfand 1332 [HS]“ in M, 1381, I:34. 762 „maqālah/maqāleh“. 763 M, 1381, I:21. 764 M, 1381, I:20 f. 765 M, 1381, I:20. 766 Errechnet aus der Jahresangabe „1330 [HS]“ in Ṭālebzādeh, 1385b:115. 767 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:115.
Ṭabāṭabāʾīs Werk im vorrevolutionären „Kulturkampf“
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2.4.2 Quellenlage und Quellengeschichte von Ṭabāṭabāʾīs Haupttext Was den Haupttext von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus aus der Feder von Ṭabāṭabāʾī betrifft, so ist es im einzelnen besonders schwierig auszumachen, auf welche Quellen für seine Kenntnisse westlicher Philosophie der Gelehrte sich stützt. Dabei handelt es sich bei dem Haupttext selbst um die Zusammenstellung von Vorlesungen des Gelehrten vor einem ausgesuchten Kreis von Schülern und Interessierten, Vorlesungen, die bereits zur Zeit ihres Vortrages in einigermassen ausgearbeiteter schriftlicher Form vorgelegen haben müssen, denn, wie Muṭahharī berichtet, „[…] pflegte der verehrte Meister während der Woche einige Abteilungen vorzubereiten und sie in den Sitzungen des Kreises, für die zwei Abende pro Woche vorgesehen waren, vorzulesen, und jeder konnte Bemerkungen vorbringen.“⁷⁶⁸ Ausserdem erzählt Muṭahharī, dass noch vor der kommentierten Veröffentlichung in Buchform Abschriften von Ṭabāṭabāʾīs Vorlesungstext unter Interessierten innerhalb und ausserhalb des Seminars von Qom umliefen.⁷⁶⁹ Im Haupttext selbst jedoch finden sich wohl etliche Namen westlicher Philosophen und ein reicher Bestand an Fachausdrücken abendländischer philosophischer Lehren, aber keine Hinweise auf die Quellen derselben. Von Seyyed ʿEzz od-Dīn Zanğānī, der selbst an jenen Sitzungen teilnahm und offenbar auch bei der Vorbereitung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus eine Rolle spielte,⁷⁷⁰ erfahren wir zwar, dass Meister und Schüler sich auf die Veranstaltungen vorbereiteten, indem sie die einschlägigen Kapitel aus dem Werk Geschichte der Philosophie in Europa⁷⁷¹ von Moḥammad ʿAlī Forūġī (st. 1943) lasen und zusammenfassten.⁷⁷² Wie weit Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus in seinem Haupttext von dieser Quelle abhängt, welche Quellen zur abendländischen Philosophie Ṭabāṭabāʾī sonst noch vorlagen und wie er mit den verfügbaren Quellen verfuhr, teilt der Gelehrte jedoch nicht mit. Der Haupttext ist auch in der gedruckten Ausgabe ohne Quellenangaben, sei es in Fussnoten oder einem Anhang, erschienen und enthält selbst keine direkten Quellenhinweise. Auch Muṭahharī geht in Vorrede und Kommentar zu dem Werk auf die Quellenlage von Ṭabāṭabāʾīs Text nicht ein.
768 M, 1381, I:20. 769 Vgl. M, 1381, I:21. 770 Dabashi, 2008:314. 771 Meine Übersetzung des persischen Titels „Seyr-e ḥekmat dar Orūpā“; vgl. Literaturverzeichnis. 772 Dabashi, 2008:314.
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Was Forūġīs⁷⁷³ Geschichte der Philosophie in Europa angeht angeht, so galt diese bis in die 50er Jahre als die verlässlichste Quelle auf ihrem Gebiet, alleine schon deshalb, weil ihr Verfasser, der sich auch als Staatsmann und Diplomat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Namen machte, über hervorragende Kenntnisse des Französischen und anderer Fremsprachen verfügte, was ihm unmittelbaren Zugang zu Standardwerken der europäischen Philosophie und einschlägiger Sekundärliteratur zum Thema gewährte.⁷⁷⁴ Zudem verfügte er selbst über philosophische Bildung, was ihm das Verständnis des Gegenstandes erleichterte. Seine Kenntnisse europäischer Sprachen und seine Einsicht der Verhältnisse in Europa zu seiner Zeit, die ihm seine Tätigkeit als Diplomat ermöglichte, nutzte er, um Werke europäischer Autoren, die er als massgeblich für das Verständnis der westlichen Zivilisation ansah, so eben auch philosophische, ins Persische zu übertragen.⁷⁷⁵ Dieser Tätigkeit lag seitens Forūġīs ein weit gefasstes kulturpolitisches Anliegen, eine Art zivilisatorische Mission, zugrunde, das Anliegen nämlich, der iranischen Gesellschaft die Kenntnisse über den Westen zu verschaffen, die es ihr erlauben würden, diesem in politischer, kultureller und intellektueller Hinsicht ebenbürtig zu werden.⁷⁷⁶ In den drei Bänden der Geschichte der Philosophie in Europa, die einer nach dem anderen in den 30er und frühen 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals erschienen sind – die letzten beiden wenige Jahre vor dem Tod des Verfassers –, stellt Forūġī die aus seiner Sicht wichtigsten Lehren der Philosophie des Abendlandes von den Vorsokratikern bis zur Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts, vor. Der letzte Philosoph, dessen Lehre er in einem eigenen Kapitel behandelt, ist Henri Bergson. Dabei handelt es sich um eine Darstellung des philosophischen Gedankengutes des Abendlandes, nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit demselben. Als Ziel des Werkes erklärt der Autor einerseits, das interessierte Publikum des Iran mit dem Gedankengut der abendländischen Philosophen bekanntzumachen und den Gebildeten andererseits eine Methode an die Hand zu geben, eigene Schriften im Geiste der „modernen“ Philosophie auf Persisch zu verfassen.⁷⁷⁷ Nicht nur also konnten sich Ṭabāṭabāʾī und seine Schüler in den 50er Jahren bei ihrer Auseinandersetzung mit den philosophischen Lehren des Abendlandes auf keine verlässlichere und umfassendere Darstellung derselben stützen; was
773 Zu Forūġīs Leben und Werk vgl. auch den Artikel Forūġī Mohammad-ʿAlī in Encyclopaedia Iranica. 774 Vgl. Boroujerdi, 1996:59, ebda: Anm. 9 mit Verweisen auf Qāsem Ġanī und Aḥmad Vāredī als weitere Quellen zu Forūġīs Leben und Werk. 775 Vgl. ebda. 776 Vgl. ebda. und ausserdem Seidel, 2012:141 f. 777 Vgl. Naṣrī, 1386, II:21.
Muṭahharīs Leben und Werk
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Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī im besonderen betrifft, so waren sie alleine deshalb schon auf ein Werk wie die Geschichte der Philosophie in Europa angewiesen, weil keiner der beiden eine europäische Sprache beherrschte. Der eigenständige Zugriff auf originalsprachliche Primärquellen war den beiden Gelehrten also verwehrt. Andererseits waren sie beide des Arabischen mächtig, konnten also arabische Übersetzungen abendländischer philosophischer Werke sowie arabische Literatur über abendländische Philosophie, die es auch damals durchaus gab, lesen. Wie weit Ṭabāṭabāʾī von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, erfahren wir aus seinem Haupttext von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus ebenfalls nicht – mit Muṭahharī werden wir uns noch gesondert befassen. Die zeitliche Einordnung, die wir in bezug auf Ṭabāṭabāʾīs Abfassung des Haupttextes von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus vorgenommen haben, ist quellengeschichtlich noch in einem weiteren Punkt von Belang: Sie macht nämlich deutlich, dass Ṭabāṭabāʾīs Haupttext vor der Bekanntschaft des Gelehrten mit dem französischen Philosophen und Orientalisten Henry Corbin abgeschlossen war. Diese setzte nachweislich erst 1958 ein, und beide Denker nutzten sie, um philosophisches und mystisches Gedankengut, das zum geistigen Hintergrund von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī gehörte, zum Teil im Vergleich mit den Hauptströmungen des abendländischen Denkens zu erörtern.⁷⁷⁸ Was auch immer Ṭabāṭabāʾī dabei von Corbin über die Lehren der westlichen Philosophie gelernt und wie immer dies seine Wahrnehmung des Westens und seiner geistigen Grundlagen beeinflusst haben mag, diese Aneignung konnte daher nicht mehr Eingang in den Haupttext von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus gefunden haben.
2.5 Muṭahharīs Leben und Werk Nun ist aber das Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus nicht in der Form von Ṭabāṭabāʾīs Haupttext allein erschienen, sondern zusammen mit Muṭahharīs Kommentar und Erläuterungen. Bevor wir auf Entstehungsgeschichte und Inhalt von Muṭahharīs Erklärungen zum Haupttext zu sprechen kommen, befassen wir uns hier zunächst mit Muṭahharīs Person und Leben.⁷⁷⁹ 778 Vgl. Dabashi, 2008:315 f. 779 Einschlägige Quellen zu Muṭahharīs Leben und Werk Dabashi, 2008: 148 ff.; EI(2) „Muṭahharī“:764a) ff.; Esposito, 1995, III:213a) ff.; Ṭālebzādeh, 1385b:128; Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi, vol.31:372b) ff.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
Murtażā Muṭahharīs Hintergrund, was familiäre Herkunft und Ausbildungsgang betrifft, gleicht in manchen wichtigen Punkten dem Lebenslauf seines Meisters Ṭabāṭabāʾī. Auch Muṭahharī war der Sohn eines religiösen Gelehrten, der auch als sein erster Lehrer auf seinem Bildungsweg eine Rolle spielt.⁷⁸⁰ Geboren wurde er 1920 in Farīmān⁷⁸¹, einer Ortschaft im weiteren Umland von Mašhad, einer Stadt, der als Grabstätte des achten Imams der Schia ihrerseits der Rang einer heiligen Stadt und eines Zentrums schiitischer Gelehrsamkeit zukommt.⁷⁸² So war Muṭahharī nicht einmal eine Generation jünger als sein späterer Lehrer Ṭabāṭabāʾī, und damit entfaltet sich sein Leben auch ungefähr vor demselben ereignisgeschichtlichen Hintergrund. Im Alter von zwölf Jahren nahm er am theologischen Seminar von Mašhad seine Grundausbildung in den religiösen Fächern auf, unter denen ihn offenbar Theologie, Mystik und Philosophie besonders anzogen.⁷⁸³ Nach dem Abschluss seiner Grundausbildung setzte er von 1936 an seine Studien in Qom fort.⁷⁸⁴ Dass er dazu nicht in Mašhad blieb, wird mit dem Tod seines Lehrers in Philosophie daselbst, Mīrzā Mehdī Šahīdī Rażavī, erklärt.⁷⁸⁵ Wenn diese Erklärung zutrifft, wäre dies ein Beleg für sein früh erwachtes Interesse an Philosophie. In Qom hörte er islamische Gesetzeswissenschaft und Theologie bei so namhaften Gelehrten wie den Āyatollāhs Ḥoğğat Kūhkamarī, Seyyed Moḥammad Dāmād, Moḥammad Reżā Golpāygānī, Ṣadr al-Dīn Ṣadr und später bei Gross-Āyatollāh Borūğerdī.⁷⁸⁶ Als besonders bedeutend sollte sich aber seine Beziehung zu dem späteren Āyatollāh, damals noch Ḥoğğat al-Islām, Khomeini, seinem Lehrer, und eben zu Āyatollāh⁷⁸⁷ Ṭabāṭabāʾī erweisen: Bei Khomeini liess er sich in Ethik sowie in Schlüsseltexten der islamischen Philosophie, so etwa den Vier Reisen des Mullā Ṣadrā und dem Lehrgedicht des Mullā Hādī Sabzevārī, unterrichten, zwei Werken in der Tradition der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die auch in Ṭabāṭabāʾīs Ausbildung eine Hauptrolle spielten. Bei Ṭabāṭabāʾī besuchte er Veranstaltungen über Ibn Sīnās Werk Die Heilung und nahm einige Zeit lang an eben jenen Sitzungen teil, aus denen durch seine Mitwirkung später das Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus hervorgehen sollte.⁷⁸⁸ 780 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764a; Esposito, 1995, III:213a) f. 781 Vgl. Dabashi, 2008:148; EI(2) „Muṭahharī“:764a; richtige Schreibung des Ortsnamens bei Ṭālebzādeh, 1385b:128. 782 Vgl. Dabashi, 2008:148; EI(2) „Muṭahharī“:764a; Esposito, 1995, III:213a) f. 783 Vgl. Dabashi, 2008:148; EI(2) „Muṭahharī“:764a; Esposito, 1995, III:213a) f. 784 Vgl. Dabashi, 2008:148; EI(2) „Muṭahharī“:764a. 785 Vgl. Dabashi, 2008:148. 786 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764a. 787 Mit diesem Titel erwähnt in EI(2) „Muṭahharī“:764a. 788 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764a; Dabashi, 2008:149; Esposito, 1995, III:213b) f.
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1952, nach fünfzehn Jahren Studium in Qom, begab sich Muṭahharī nach Teheran, wo er erst an der Madrase-ye Marvī Philosophie unterrichtete und später an der theologischen Fakultät der Universität Teheran als Dozent wirkte.⁷⁸⁹ Dieser Abschnitt von Muṭahharīs beruflichem Werdegang ist ein Zeugnis für die bereits besprochene Verschmelzung zwischen den Kreisen iranischer Intellektueller mit religiösem und solcher mit akademischem Ausbildungshintergrund, eben jenen Vorgang also, den Muṭahharīs Meister, Ṭabāṭabāʾī, ja selbst massgeblich angeregt hatte.⁷⁹⁰ Auch Muṭahharī ging es bei diesem Schritt darum, die Ausrichtung der geistigen Eliten, die an staatlichen Lehrstätten ausgebildet wurden, in seinem Sinne zu beeinflussen. Wenn wir von einigen fachphilosophischen Veröffentlichungen absehen, die hauptsächlich aus Kommentaren zu Werken Sabzevārīs und Ibn Sīnās bestehen,⁷⁹¹ so erscheint überhaupt sein ganzes Wirken seit den 50er Jahren, so auch seine Tätigkeit als Lehrer, mit dem Bestreben verbunden, die Gemeinschaft der Muslime zu befähigen, die Herausforderung durch den Westen in allen Bereichen, gerade auch im intellektuellen, zu bestehen. In dieser Zielsetzung weist Muṭahharīs Denken und Handeln Gemeinsamkeiten mit seinem Meister auf. Während Ṭabāṭabāʾī in seinen Bemühungen jedoch vor allem bei den Religionsgelehrten selbst ansetzte, zielte sein Schüler Muṭahharī bei seinen Anstrengungen auf unterschiedliche Gruppen und Schichten der muslimischen Gemeinde. Entsprechend vielfältig hinsichtlich Themenwahl und Methode zeigen sich denn auch die Ansätze, mit denen er sein jeweiliges Publikum für seine Anliegen zu gewinnen sucht. Muṭahharīs Einsatz zeigt sich in seiner Mitwirkung in mehreren Vereinigungen von Gleichgesinnten. So nahm er an den Erörterungen in den monatlichen Vorträgen des Teheraner Religionsvereins⁷⁹² teil, in denen es um die Neuordnung der inneren Verhältnisse der schiitischen Gelehrtenschaft nach dem Tod von Gross-Āyatollāh Borūğerdī 1961 ging. Zu den behandelten Fragen gehörte neben der nach der Führungsstruktur der Geistlichkeit auch der Beschluss, islamische Gesetzeswissenschaft als Schwerpunktfach an den theologischen Seminarien unter anderem durch Ethik und Philosophie zu ersetzen,⁷⁹³ ein Anliegen, das massgeblich von Muṭahharīs Lehrer Ṭabāṭabāʾī vorgebracht worden war. Weiter war Muṭahharī entscheidend an der Gründung der sogenannten „Gesellschaft
789 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764a; Dabashi, 2008:149; Esposito, 1995, III:213b. 790 Vgl. Boroujerdi, 1996:80 ff., 94 ff., 113 ff.; Halm, 2005:94 ff. 791 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:128. 792 Übersetzung des persischen Anğoman-e māhāne-ye dīnī: vgl. Halm, 1988:155 f. 793 Vgl. Boroujerdi, 1996:81 f.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
der kämpferischen Geistlichkeit“⁷⁹⁴ beteiligt. Diese Massnahme erfolgte unter dem Eindruck der gescheiterten Erhebung von Teilen der iranischen Gelehrtenschaft 1963 in Qom unter Führung von Muṭahharīs Lehrer Khomeini gegen die unter dem Namen „Weisse Revolution“ bekannt gewordenen Reformbestrebungen des Schahs, in denen viele Geistliche eine Bedrohung ihrer Stellung in der Gesellschaft sahen.⁷⁹⁵ Die Gesellschaft der kämpferischen Geistlichkeit sollte die Ziele, die Gelehrte wie Khomeini in diesem Aufstand verfochten hatten, weiterverfolgen, zumal Khomeini selbst im Anschluss an diesen verbannt worden war.⁷⁹⁶ Muṭahharī, der mit einer leichten Haftstrafe davongekommen war, engagierte sich in der Folge nicht nur in der Gesellschaft der kämpferischen Geistlichkeit, sondern diente auch als bevollmächtigter Verbindungsmann und Sachwalter Khomeinis im Iran,⁷⁹⁷ ein Beweis für die enge persönliche Verbundenheit und Gleichgesinntheit der beiden Gelehrten. Neben seiner Mitwirkung in diesen beiden Vereinigungen, die dem religiösen Establishment nahestanden, engagierte sich Muṭahharī auch in der sogenannten Ḥoseyniyye-ye Eršād, einem Zentrum für die Bestrebungen religiös interessierter intellektueller Laien wie etwa des Islamwissenschaftlers und Soziologen ʿAlī Šarīʿatī (st. 1977)⁷⁹⁸, der schiitischen Überlieferung, für welche der Märtyrertod des Prophetenenkels Ḥoseyn in Kerbela im Jahre 680 von prägender Bedeutung ist, im Lichte neuzeitlicher Lehren – manche davon revolutionär – neuen Sinn zu verleihen.⁷⁹⁹
Muṭahharīs Werk im vorrevolutionären Kulturkampf Muṭahharīs Veröffentlichungen genauso wie sein Einsatz in den genannten Vereinigungen sind ebenfalls von dem Anliegen getragen, den Islam als Grundlage eines Welt- und Seinsverständnisses zu empfehlen, das entgegen den Behauptungen jener Strömungen, die in ihm eine überwundene oder zu überwindende Stufe der Geschichte sahen, seine ungebrochene Gültigkeit betonte.⁸⁰⁰ Genau wie Ṭabāṭabāʾī verstand er unter Islam dabei letztlich die theosophische Schule von Isfahan, genauer: die Lehre ihres Hauptvertreters Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins.⁸⁰¹
794 Eigene Übersetzung des persischen Ğāmeʿe-ye rūḥāniyyat-e mobārez. 795 Vgl. Halm, 1988:154 f., 157 f. 796 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b; Esposito, 1995, III:213b. 797 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b; Dabashi, 2008:150; Esposito, 1995, III:213b. 798 Zu Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:105 ff.; Esposito, 1995, IV:46a) ff.;Halm, 1988:157 f. 799 Vgl. Halm, 1988:157 f. 800 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b. 801 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b; Halm, 1988:120.
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Da sich Muṭahharī in seinem Anliegen, wie gesagt, an unterschiedliche Gruppen und Schichten der iranischen Gesellschaft seiner Zeit wendet, zeigen auch seine Publikationen ein hohes Mass an Vielfalt in Thematik und Genre.⁸⁰² So handelt es sich bei seinem Werk Dāstān-e Rāstān – Geschichten von den Aufrichtigen – um ein Stück Erbauungsliteratur in schlichtem, eingängigem Stil und gerade deshalb von literarischem Wert. Darin setzt der Verfasser allseits bekannte Gestalten der islamischen Heilsgeschichte als Träger und Verkörperungen derjenigen persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden und Werte in Szene, denen er als Grundlage für ein in seinem Sinne islamisches Gemeinwesen im Angesicht der Herausforderung durch den Westen wieder zu Geltung zu verhelfen sucht.⁸⁰³ In Form und Inhalt sollte sich das Buch an die Allgemeinheit richten, was Muṭahharīs erklärter Überzeugung entsprach, dass die sittliche Erneuerung einer Gesellschaft von unten zu beginnen habe.⁸⁰⁴ Wie die zahlreichen Neuauflagen sowie die Tatsache, dass es auch als Radiosendung verbreitet wurde, beweisen, hat es die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt.⁸⁰⁵ In dem Werk Seyrī dar nahğ ol-balāġeh wiederum – Streifzug durch die Nahğ al-Balāġah, eine Sammlung von Predigten, die dem ersten Imam ʿAlī zugeschrieben werden und in der schiitischen Überlieferung an religiösem Rang nur dem Koran nachstehen –⁸⁰⁶ strebt Muṭahharī nach einem aktualisierten Verständnis von ʿAlīs Aussagen zu gesellschaftlichen und politischen Belangen wie Staatswesen, Gerechtigkeit, Erziehung und Bildung.⁸⁰⁷ Hervorgegangen aus einer Reihe von Vorträgen des Gelehrten an der Ḥoseyniyye-ye Eršād, wendet sich die Schrift an eine Leserschaft aus nicht unbedingt religiös gebildeten, wohl aber religiös interessierten Intellektuellen, eben jene Schicht also, die auch das Zielpublikum der Ḥoseyniyye-ye Eršād selbst ausmachte. Ebenfalls auf die Intellektuellen, besonders die jungen Intellektuellen, jener Tage zielt das Werk ʿElal-e gerāyeš be māddīgarī – Die Ursachen für die Neigung zum Materialismus –, das ebenfalls die schriftliche Ausarbeitung einer Reihe von Vorträgen Muṭahharīs auf Einladung der Vereinigung muslimischer Studierender am Lehrerseminar in Teheran darstellt.⁸⁰⁸ Darin versucht er den Anspruch der materialistischen Philosophie, besonders des dialektischen Materialismus, auf intellektuelle Überlegenheit gegenüber einem metaphysisch
802 Für eine Übersicht über seine Werke vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b; Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi, vol.31:374a). 803 Vgl. Dabashi, 2008:157 ff. 804 Vgl. Dabashi, 2008:158. 805 Vgl. Dabashi, 2008:159 f. 806 Für Einzelheiten zu Entstehung und Inhalt des Werkes vgl. Dabashi, 2008:188 ff. 807 Dabashi, 2008:188 ff. 808 Vgl. Dabashi, 2008:183.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
begründeten Denken, so auch der Religion, als haltlos zu erweisen.⁸⁰⁹ Auf einige der Ursachen, die er als entscheidend für die Anziehungskraft des Materialismus im Westen ebenso wie im Iran hervorhebt, kommt er auch in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus zu sprechen: Da ist zum einen das aus seiner Sicht unzulängliche Gottesverständnis der christlichen Religion, unzulänglich in der Hinsicht, dass es einer rein naturwissenschaftlichen Erklärung der physikalischen Welt nichts entgegenzusetzen hatte, so dass bei zunehmendem Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik die christliche Religion aus dem geistesgeschichtlichen Prozess des Abendlandes ausscheiden musste.⁸¹⁰ Als eine weitere Ursache macht er die Unzulänglichkeit der philosophischen Lehren des Abendlandes für die Entwicklung einer wohlbegründeten Metaphysik geltend.⁸¹¹ Schliesslich erklärt er die Anfälligkeit iranischer Intellektueller für die Philosophie des Materialismus zum Teil mit dem Umstand, dass sich zu deren Widerlegung allzu oft Gelehrte berufen fühlten, denen es zwar nicht an gutem Willen und Glaubenseifer, aber leider an Kenntnis in Philosophie fehle; diese verstiegen sich deshalb zur Wiederherstellung des Überlegenheitsanspruches der islamischen Lehre gegenüber westlicher Naturwissenschaft und Technik nicht selten etwa zu Behauptungen wie der, dass sich die Errungenschaften dieser Disziplinen im Koran bereits vorweggenommen fänden, wenn man dieses Buch nur „richtig“ deute.⁸¹² Muṭahharī spricht hier ein Deutungsverfahren an, das unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Koranauslegung“ bekannt geworden ist.⁸¹³ Angesichts solcher Einmischung unqualifizierter Gelehrter in die philosophische Debatte musste es diesem Denker als umso gebotener erscheinen, dass philosophisch qualifizierte wie Ṭabāṭabāʾī und er selbst in die allgemeine Auseinandersetzung eingriffen. Dass Muṭahharī den Auftrag seines Meisters, den Haupttext von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus zu kommentieren, übernahm, ist daher wohl ebenfalls im Zeichen dieses Anliegens zu sehen.
809 Über Einzelheiten über Entstehung und Inhalt des Werkes vgl. Dabashi, 2008:182 ff. 810 Vgl. Dabashi, 2008:184. 811 Vgl. Dabashi, 2008:184 f. 812 Vgl. Dabashi, 2008:186. 813 Vgl. Nagel, 1991:19; Esposito, 1995, III:120a, 404a, 411a; siehe auch die Kritik von Abū zayd, 1997:114 ff.
Muṭahharīs Leben und Werk
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Entstehungsgeschichte und allgemeine Absicht von Muṭahharīs Kommentierung von Die Prinzipien der Philosphie und die Methode des Realismus Nach Muṭahharīs eigenem Bekunden in seiner Vorrede zum ersten Band des Werkes geht seine Kommentierung desselben auf einen entsprechenden Auftrag seines Lehrers Ṭabāṭabāʾī zurück: „Der verehrte Meister“, so Muṭahharī, „übertrug infolge seiner zahlreichen Beschäftigungen als Lehrer und Verfasser auf dem Gebiet der Gesetzeswissenschaft, Theologie, Exegese und Philosophie diese Aufgabe mir.“⁸¹⁴ Dies lässt auf das Vertrauen des Meisters in Muṭahharīs Fähigkeit und Bereitschaft schliessen, den Haupttext sachlich richtig und getreu den Intentionen des Autors zu erläutern. Diesen Auftrag soll Ṭabāṭabāʾī auf Drängen einiger Interessierter erteilt haben, unter denen offenbar handschriftliche Kopien von Ṭabāṭabāʾīs Haupttext umliefen und die den Gelehrten ersuchten, diesen in Druck zu geben.⁸¹⁵ „Seit der Abfassung dieser Artikel“, so schildert Muṭahharī den Vorgang, „fertigten zahlreiche Interessierte Abschriften davon an. Sogar einige wissenschaftlich Gebildete von ausserhalb des theologischen Seminars in Qom, die von der Sache erfahren hatten, beschafften sich Kopien. So kamen diese Artikel in Umlauf, bis schliesslich vor ungefähr anderthalb Jahren eine Reihe Interessierter darum bat, diese unverzüglich drucken zu lassen, damit sie einer allgemeinen Leserschaft zur Verfügung stünden. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass die Artikel, obwohl sie auf Persisch verfasst worden sind und Mühe darauf verwendet worden ist, sie nach Möglichkeit einfach zu halten, für das allgemeine Verständnis zu schwer seien und daher Erläuterungen benötigten.“⁸¹⁶ Muṭahharīs weitere Ausführungen in diesem Zusammenhang lassen Rückschlüsse darauf zu, um was für Leute es sich bei diesen Interessierten und den wissenschaftlich Gebildeten, überhaupt jener allgemeinen Leserschaft, die das Werk voraussichtlich nur mit Erläuterungen würden verstehen können, handeln könnte. „[…] obwohl seit der Initiative des grossen Gelehrten“ – gemeint ist Ṭabāṭabāʾīs Einrichtung der Philosophie als Lehrfach am Seminar – „erst ein paar Jahre vergangen sind“, so Muṭahharī, „gibt es unter den Studenten am theologischen Seminar in Qom viele, die über ziemlich umfassende Kenntnisse in Philosophie verfügen und besonders auch mit den Inhalten und Theorien der materialistischen Philosophie vertraut sind und deren Irrlehren sehr wohl durchschaut haben.“⁸¹⁷ Den Seminarstudenten, der angehenden religiösen Elite, bescheinigt Muṭahharī also ausreichende Vorbildung, um die Die Prinzipien der Philosphie und die Methode 814 M, 1381, I:21. 815 Vgl. M, 1381, I:21. 816 M, 1381, I:21. 817 M, 1381, I:21.
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des Realismus auch ohne weitere Erklärungen zu verstehen – manche von ihnen hatten ja ausserdem Ṭabāṭabāʾīs Vorträge, auf welche der Haupttext zurückgeht, selber gehört. Sie kann er als jene „allgemeine Leserschaft“, der eine kommentierte Ausgabe des Buches zugute kommen sollte, kaum im Auge haben. Von den Gruppen an Interessierten, die er erwähnt, kommen als Zielpublikum also nur noch jene wissenschaftlich Gebildeten ausserhalb des theologischen Seminars in Frage. Bei diesen handelt es sich um diejenigen Intellektuellen, die in einem Gemeinwesen, das aus den Reformmassnahmen der Pahlavī-Herrschaft hervorgehen sollte, als geistige Elite ausersehen waren und an den dafür vorgesehenen Einrichtungen wie Gymnasien, Lehrerseminarien, Universitäten und technischen Hochschulen ausgebildet wurden.⁸¹⁸ Genau diese Schicht suchten Gelehrte wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī für eine Umgestaltung der islamischen Gemeinde, wie sie ihnen vorschwebte, ebenfalls zu gewinnen.⁸¹⁹ Muṭahharīs Kommentierung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus war genau wie seine Lehrtätigkeit in Philosophie an den Universitäten des Landes dazu angetan, diese entscheidende Zielgruppe zu erreichen und auf ihre geistige Ausrichtung einzuwirken. Es war dies im übrigen dieselbe Zielgruppe, welche zur selben Zeit linke Strömungen für ihr Gedankengut einzunehmen suchten. So gesehen, ist diese Ausweitung der Leserschaft von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus durch Muṭahharīs Kommentierung ein weiteres Beispiel für den Wettbewerb zwischen linken Strömungen, der Pahlavī-Führung und religiösen Kräften um die neuen geistigen Eliten des Landes. Ṭabāṭabāʾīs Auftrag an Muṭahharī, das Werk zu kommentieren, fällt mit der Übersiedelung des letzteren von Qom nach Teheran im Jahr 1952 zusammen, wo er, wie bereits erwähnt, 1954 seine Tätigkeit als Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität aufnahm.⁸²⁰ Ebenfalls auf 1954 ist Muṭahharīs Vorwort zur Erstausgabe des ersten Bandes datiert, der die ersten vier der insgesamt vierzehn Artikel des Haupttextes enthält. Diese vier ersten Artikel stehen je unter dem Titel „Was ist Philosophie?“, „Realismus und Idealismus“, „Erkenntnis und Wahrnehmung“ sowie „Der Wert der Erkenntnisgehalte“.⁸²¹ Der Zeitraum allerdings, innerhalb dessen die restlichen Artikel veröffentlicht werden, umfasst drei Jahrzehnte, wobei die Abstände von Lieferung zu Lieferung stark variieren.⁸²² So erscheinen der fünfte und sechste Artikel unter dem Titel „Das Auftreten der Vielheit in den Wahrnehmungen“ und „Relative Wahrnehmungen“ als zweiter
818 Vgl. Dabashi, 2008:153, 214, 315. 819 Vgl. Dabashi, 2008:314 f. 820 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764a; Dabashi, 2008:149; Esposito, 1995, III:213b. 821 Für eine Inhaltsübersicht vgl. auch Dabashi, 2008:155. 822 Dabashi, 2008:149.
Muṭahharīs Leben und Werk
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Band im Jahre 1955, wobei der sechste Artikel nicht zu Ende kommentiert ist, was Muṭahharī damit zu entschuldigen sucht, dass die Veröffentlichung des Bandes ansonsten zu lange auf sich hätte warten lassen.⁸²³ Die Erstausgabe des dritten Bandes mit dem siebten, achten und neunten Artikel unter dem Titel „Die Wirklichkeit und das Sein der Dinge“, „Notwendigkeit und Möglichkeit“ sowie „Ursache und Verursachtes“ fällt ins Jahr 1957.⁸²⁴ Nur ein kleiner Teil zum Schluss bleibt unkommentiert, was Muṭahharī im Vorwort aber damit erklärt, dass die betreffenden Themen im Kommentar zu nachfolgenden Artikeln genauer behandelt würden.⁸²⁵ Nach der Erstveröffentlichung des dritten Bandes tritt bis zur Herausgabe des Folgebandes eine Unterbrechung bis 1972 ein, was der Gelehrte im Vorwort desselben mit seinen anderweitigen Verpflichtungen während all der Jahre zu entschuldigen sucht.⁸²⁶ Bei dem 1972 erschienen Band handelt es sich auch nicht um den vierten, sondern um den fünften, der den vierzehnten und letzten Artikel mit dem Titel „Der Gott der Welt und die Welt“ enthält. Als Grund für diese Durchbrechung der Reihenfolge gibt Muṭahharī an, dass seine Anmerkungen zum vorliegenden Band bereits fertig seien, während er an denen zum vierten Band noch arbeite;⁸²⁷ da das Verständnis des vierzehnten Artikels zudem auch ohne die Lektüre der Artikel möglich sei, die der vierte Band enthält, habe er auch in dieser Hinsicht keine Notwendigkeit gesehen, das Erscheinen des fünften Bandes noch weiter zu verschieben.⁸²⁸ Die Veröffentlichung des ausstehenden vierten Bandes sollte Muṭahharī nicht mehr erleben: 1979, mitten in den Revolutionswirren, fiel er einem Anschlag durch eine zwar ebenfalls religiöse, aber antiklerikal eingestellte revolutionäre Gruppierung namens Furqān zum Opfer.⁸²⁹ Die Erstausgabe wurde erst im Jahre 1986 besorgt.⁸³⁰ Der Band enthält den zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Artikel mit dem Titel „Potenz und Akt, Möglichkeit und Aktualität“, „Urewigkeit und Erschaffenheit in der Zeit“, „Einheit und Vielheit“ sowie „Wesen, Substanz, Akzidens“. Von diesen ist jedoch nur der zehnte Artikel mit Kommentar versehen.
823 M, 1381, II:10 f. 824 M, 1381, III:12. 825 M, 1381, III:12. 826 M, 1381, V:9 f. 827 M, 1381, V:9. 828 M, 1381, V:9. 829 Vgl. EI(2) „Muṭahharī“:764b; Esposito, 1995, III:213b; Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi, vol.31:373a. 830 M, 1381, IV:5.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
Quellenlage und Quellengeschichte von Muṭahharīs Kommentar Was die Quellen betrifft, aus denen Muṭahharī seine Einsichten und Ansichten über westliche Philosophie geschöpft hat, so sehen wir immerhin ein wenig klarer als im Falle von Ṭabāṭabāʾīs Haupttext, bei dem es sich ja im wesentlichen um nichts weiter als mehr oder weniger ausgearbeitete Vortragsvorlagen handelte. So finden wir am Ende eines jeden der fünf Bände von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus ein Verzeichnis der Autoren und eines der Werke, die Muṭahharī in seinem Kommentar erwähnt. In der Tat geht Muṭahharī, was seine Kenntnisse des dialektischen Materialismus betrifft, sogar ausdrücklich auf seine Hauptquellen sowie die Gründe für seine Wahl derselben ein. So nennt er als seinen Hauptgewährsmann Taqī Arānī (st. 1940), einen iranischen Marxisten und massgeblichen Vordenker der Tūdeh-Partei,⁸³¹ und er begründet diese Wahl mit den Worten: „Dr. Arānī gehört nach dem Bekunden der Anhänger der Schule des dialektischen Materialismus selbst zu den besten Gelehrten dieser Richtung. […] Obwohl fast fünfzehn Jahre seit dem Tode Dr. Arānīs vergangen sind, ist es den Vertretern des dialektischen Materialismus im Iran noch nicht gelungen, besser als er zu schreiben. Aufgrund seiner Kenntnis der persischen Sprache und Literatur sowie seiner recht guten Kenntnis der arabischen Sprache hat er den dialektischen Materialismus besser als Marx, Engels, Lenin und andere dargelegt, und deshalb sind seine philosophischen Werke denjenigen seiner Vorgänger ebenbürtig.“⁸³² Muṭahharī erhebt Arānī hier also aufgrund der Anerkennung, welche dieser in der Tūdeh-Partei geniesst, zu seinem Hauptgewährsmann in Sachen dialektischer Materialismus. Es fällt auf, dass der Gelehrte unter Arānīs Sprachkenntnissen zwar Persisch und Arabisch, nicht aber Deutsch erwähnt: Dessen muss Arānī aber mächtig gewesen sein, denn seine Bekanntschaft mit dem Gedankengut des philosophischen Materialismus geht auf seine Zeit als Student der Chemie in Berlin in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zurück.⁸³³ Gerade diese Deutschkenntnisse müssen es Arānī erlaubt haben, die Werke von Hegel, Marx und Engels im Original und nicht in persischen oder arabischen Übersetzungen oder Bearbeitungen zu lesen.⁸³⁴ Muṭahharīs Erwähnung der Beherrschung des Arabischen als Voraussetzung für die Erschliessung westlichen Gedankengutes könnte damit zu tun haben, dass es sich bei einem weiteren Gewährsmann für seine Kenntnisse über die materialistische Philosophie des Abendlandes, den er ausdrücklich hervorhebt,⁸³⁵ um den
831 Zu Leben und Werk vgl. den Artikel Arānī Taqī in Encyclopaedia Iranica. 832 M, 1381, I:33 f. 833 Vgl. Encyclopaedia Iranica, II:263b. 834 Vgl. Encyclopaedia Iranica, II:264a. 835 So etwa M, 1381, I:24, 27, 32.
Muṭahharīs Leben und Werk
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libanesischen Reformdenker Šiblī Šumayyil (st. 1917) handelt.⁸³⁶ Dieser spielte für die Vermittlung und Verbreitung der Kenntnis materialistischen Gedankengutes im Nahen Osten in der Tat eine nicht unerhebliche Rolle. Dieses hatte er seinerseits – wohl zur Zeit seines Aufenthaltes in Paris, wo er Medizin studierte – aus der französischen Übersetzung der Schriften Ludwig Büchners (st. 1899), eines zu seiner Zeit vielgelesenen Verfassers populärwissenschaftlicher und populärphilosophischer Werke, bezogen.⁸³⁷ Büchner, selbst seines Zeichens Arzt, hatte eine materialistische Lehre mit philosophischem Anspruch entwickelt, welche die neuesten naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit, so namentlich Darwins Evolutionstheorie, aufgriff.⁸³⁸ Muṭahharī spricht von Büchner als „dem berühmten Materialisten des 19. Jahrhunderts“, der einen Kommentar zu Darwins Theorie verfasst habe, den Šiblī Šumayyil übersetzt habe.⁸³⁹ Der Gelehrte bezieht sich hier auf Šumayyils kommentierte arabische Übersetzung der französischen Fassung von Büchners Vorträgen über Darwins Lehre.⁸⁴⁰ Aus dieser führt Muṭahharī wohl in eigener Übersetzung aus dem Arabischen ins Persische einige Bemerkungen Büchners zu Geschichte und Lehre des Materialismus an.⁸⁴¹ Ausserdem bringt er zuweilen, wenn er selbst auf Darwins Lehre zu sprechen kommt, aus Šumayyils Werk Evolutionsphilosophie⁸⁴², das dieser unter dem Eindruck von Büchners Schriften verfasst hatte, Stellen in eigener Übersetzung ins Persische.⁸⁴³ Eine weitere Quelle für die Kenntnisse des dialektischen Materialismus, aus der er zitiert, ist eine persische Übersetzung des populärphilosophischen Werkes Die Grundprinzipien der Philosophie⁸⁴⁴ des Marxisten und Philosophielehrers Georges Politzer (st. 1942).⁸⁴⁵ Auch ein Überblickswerk über die Philosophie des Abendlandes, auf das sich Muṭahharī neben dem des Forūġī stellenweise ausdrücklich bezieht, nämlich die Einleitung in die Philosophie des deutschen Psychologen und Philosophen Oswald Külpe (st. 1915), ist im Iran auf Umwegen bekannt geworden, und zwar durch die persische Übersetzung des Naturwissenschaftlers Aḥmad
836 Über Leben und Werk vgl. EI(2) „Shumayyil“. 837 Vgl. M, 1381, I:24, im Namensverzeichnis fälschlich als „Edward Büchner“ aufgeführt; EI(2) „Shumayyil“. 838 Vgl. EI(2) „Shumayyil“. 839 Vgl. M, 1381, I:24. 840 Vgl. EI(2) „Shumayyil“. 841 So etwa M, 1381, I:24 ff. 842 Eigene Übersetzung von Falsafat al-nušūʾ wa-al-irtiqāʾ; gebräuchliche englische Übersetzung The Philosophy of Evolution and Ascent; vgl. EI(2) „Shumayyil“. 843 So etwa M, 1381, I:27 f., 32. 844 Eigene Übersetzung des persischen Oṣūl-e moqaddamātī-ye falsafeh: vgl. M, 1381, I:205 f. 845 Vgl. Dabashi, 2008:149; dort fälschlich in der Schreibung „Pulizer“ erwähnt.
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Ṭabāṭabāʾīs Leben und Wirken
Ārām⁸⁴⁶ aus der arabischen Fassung, die der ägyptische Philosophieprofessor und Islamwissenschaftler Abū al-ʿAlāʾ ʿAfīfī 1942 seinerseits aus einer englischen Übersetzung des deutschen Originals besorgt hatte.⁸⁴⁷ Um eine wiederum eher popularisierende Gesamtdarstellung philosophischer Lehren des Abendlandes, auf die Muṭahharī sich stützt, handelt es sich bei dem Werk The Story of Philosophy in persischer Übersetzung von William Durant (st. 1981).⁸⁴⁸ Diese keineswegs vollständige Übersicht zeigt, dass die meisten Hauptquellen, die Muṭahharī für die Kenntnis der Lehren der abendländischen Philosophie heranzog, eher in Darstellungen derselben als in Auseinandersetzungen mit diesen bestehen. Bei fast allen handelt es sich um Sekundärquellen, alle erschloss sich der Denker, wie gesagt, entweder in persischer oder in arabischer Übersetzung. Wie weit diese Häufung von Gesamtdarstellungen in Muṭahharīs Quellen auf einer Auswahl des Gelehrten selbst beruht, wie weit sie damit zu erklären ist, dass solche Überblickswerke zu der Zeit, da Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī sich mit westlicher Philosophie zu befassen begannen, die zuverlässigsten Sekundärquellen waren, die der Buchmarkt überhaupt zu bieten hatte, darüber gibt der Gelehrte selbst seinen Lesern keinen Aufschluss. Nur im Falle von Taqī Arānī, seinem wichtigsten Gewährsmann für die Kenntnis des dialektischen Materialismus, teilt er mit, was ihn bei der Wahl seiner Quelle geleitet hat. Dass jedenfalls in den 50er Jahren, in denen die ersten drei Bände von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus erschienen, nicht viel mehr als blosse Darstellungen abendländischer Philosophie – zudem oft Darstellungen mit sehr breiten Zielsetzungen – erhältlich waren, wird immerhin wahrscheinlich, wenn wir bedenken, dass die kritische Auseinandersetzung mit philosophischen Lehren des Westens im Iran damals überhaupt erst richtig einsetzte – insbesondere eben mit dem Werk von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī.⁸⁴⁹ Immerhin scheint beiden, Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, bei ihrer Auswahl – soweit sie eine solche hatten – die Zuverlässigkeit ihres Quellenmaterials wichtig gewesen zu sein: Dies erklärt, warum beide, welche andere Quellen sie auch immer sonst noch benutzt haben mögen, sich vorwiegend auf das bereits erwähnte Standardwerk Forūġīs stützten, das ja im Rufe grosser Verlässlichkeit stand. Sowohl Ṭabāṭabāʾī als auch Muṭahharī verraten ausserdem das Bemühen, ihren Kenntnisstand über westliche Philosophie weiterzuentwickeln: Ṭabāṭabāʾī liess sich von Henry Corbin abendländische Lehren erklären, was allerdings, wie erwähnt, in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus nicht mehr einfliessen konnte; 846 Vgl. Dabashi, 2008:152. 847 Vgl. M, 1381,V: 125. 848 Persischer Titel: „Tārīḫ-e falsafeh“; vgl. M, 1381, IV:91. 849 Vgl. Seidel, 2012:143.
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Muṭahharī, dem überhaupt, was das Quellenstudium zur europäischen Philosophie angeht, sowohl tiefe als auch breite Belesenheit bescheinigt wird,⁸⁵⁰ benutzt in seinem Kommentar zu den Bänden IV und V des Werkes, die ja erst in den 70er bzw. 80er Jahren erschienen sind, Quellen, die erst nach dem Erscheinen der Bände I bis III in den 50er Jahren auf Persisch zugänglich wurden, so etwa das 1957 erstmals im Original erschienene Werk Métaphysique von Paul Foulquier, einem Verfasser philosophischer Lehrwerke, in der persischen Übersetzung des in Frankreich promovierten Philosophiedozenten Yaḥyā Mahdavī (st. 2001).⁸⁵¹ Obwohl also die Ausgabe von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus mit Autoren- und Werkeverzeichnis zu Muṭahharīs Kommentar versehen ist, fällt es im Einzelfall aber doch oft schwer zu entscheiden, auf welche Quellen der Gelehrte sich bei seinen Bemerkungen bezieht. Dies liegt nicht zuletzt an dessen unsystematischer Zitierweise. So nennt er zwar des öfteren seinen Gewährsmann mit Namen, erwähnt nicht selten sogar den Übersetzer ins Persische, und zudem ist das Zitat in der Ausgabe durch seine Schriftart abgehoben. Bei Muṭahharīs Zwischentext jedoch ist selten erkennbar, wo es sich noch um Gedanken seiner Quelle, um Erläuterungen und Vertiefungen dieser Gedanken seitens Muṭahharīs oder um eigenständige Bemerkungen des Verfassers handelt. Ferner erlauben uns Muṭahharīs Quellenangaben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu entscheiden, auf welche dieser Quellen sich auch schon sein Meister Ṭabāṭabāʾī bei der Verfassung des Haupttextes gestützt hatte und welche nur er selbst für seine Kommentierung desselben benutzte. Im Lichte dieser Übersicht über die Referenzen, die dem Haupttext und dem Kommentar von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus zugrunde liegen, drängt sich freilich die Frage auf, wie sich diese Quellenlage auf die intellektuelle Qualität von Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie auswirkte, ja, welches geistige Bild vom Westen ihnen diese überhaupt nahelegten. Darüber wird im Anschluss an unsere Darlegung von Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Behandlung einer Reihe von abendländischen philosophischen Lehren in ihrem Werk auch noch das eine oder andere zu bemerken sein. Auf jeden Fall dürfen wir annehmen, dass die Quellen, aus denen diese beiden religiösen Intellektuellen schöpften, mehr oder weniger dieselben waren oder jedenfalls aus demselben Fundus stammten, der seinerzeit auch dem Publikum, das sie mit ihrer Schrift erreichen wollten, zugänglich war – den Seminarstudenten im Falle von Ṭabāṭabāʾī, den Intellektuellen mit nicht-religiösem Bildungshintergrund im Falle von Muṭahharī. Bei Muṭahharīs Hauptquelle zum dialektischen Materialismus etwa, den Schriften Arānīs, handelte es sich 850 Vgl. Dabashi, 2008:152. 851 Vgl. M, 1381, IV:65 ff., 70 ff., 90 ff.
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um dieselben Texte, welche auch die wichtigste Gruppe unter den dialektischen Materialisten des Iran, die Anhänger der Tūdeh-Partei, ihrerseits als massgeblich betrachteten. Forūġīs Bände über die wichtigsten Lehren der westlichen Philosophie wurden in gebildeten Kreisen des Iran weitherum für ihre Verlässlichkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit geschätzt. Und die Intellektuellen, welche die beiden Verfasser von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus als Zielpublikum im Blick hatten, waren meistens auch nicht in der Lage, die Hauptwerke der abendländischen Philosophie im Original zu lesen und daher genau wie Ṭabāṭabāʾīund Muṭahharī auf persische Sekundärquellen angewiesen. Dieser Gleichstand bei beiden Parteien der Debatte hinsichtlich Quellenlage hatte auf jeden Fall den praktischen Vorteil, dass er die Adressaten der beiden Gelehrten von vornherein der Möglichkeit beraubte, einzuwenden, die beiden Denker argumentierten von einem Kenntnisstand aus, der ihnen nicht auch zugänglich sei. Gestützt also einerseits auf die seinerzeit allgemein verfügbaren Sekundärquellen zu westlicher Philosophie und andererseits auf die Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins sowie auf eine Auffassung der islamischen Geistesgeschichte, die sich in ebendieser Lehre gewissermassen erfüllt, setzten sich Ṭabāṭabāʾīund Muṭahharī mit den philosophischen Lehren des Abendlandes, in denen sie dessen geistige Grundlagen sahen, auseinander. Diese Auseinandersetzung soll im folgenden anhand eines Durchgangs durch das Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus eingehender dargestellt werden.
3 Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westbetrachtung im Zeichen des vierten Weges anhand des Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus 3.1 „Was ist Philosophie?“ – und was nicht? An verschiedenen Stellen dieses Werkes unternehmen es Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī – zuweilen in der Form regelrechter Definitionen¹ –, einmal grundsätzlich zu bestimmen, was unter Philosophie überhaupt zu verstehen sei.² Dabei stellen sie Philosophie zum einen dem Relativismus,³ zum anderen dem Idealismus⁴ und ferner der Einzelwissenschaft⁵ gegenüber.
3.1.1 Philosophie in Gegenüberstellung zu Relativismus Dem Relativismus stellen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie im Zeichen der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte gegenüber, d. h. der Frage, ob Massstab und Verbürgung für die Wahrheit der Erkenntnis im Erkenntnissubjekt – im Bereich des Innergeistigen, im Bewusstsein also – oder im Erkenntnisobjekt – in der aussergeistigen Wirklichkeit also, im Sein – liegen.⁶ Diese Frage – eine epistemologische Frage – findet sich bei Muṭahharī unter anderem in der Fassung: „Können wir hinsichtlich dessen, was wir mittels unserer Sinne oder unseres Verstandes wahrnehmen, gewiss sein, dass die Wirklichkeit und die Sache an sich genau so sind, wie wir sie wahrnehmen, oder ist es möglich, dass es eine Wirklichkeit und eine Sache an sich überhaupt nicht gibt und die Welt der Erkenntnisobjekte nichts und wieder nichts ist oder dass die Wirklichkeit und die Sache an sich auf eine bestimmte Weise sind und wir auf eine andere Weise, die von unserem Geist unter den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen
1 Etwa T, 1381, I:39; M, 1381, I:40 f. 2 Besonders in dem Kapitel „Falsafeh čīst?“: M/T, 1381, I:35 ff. 3 Besonders in dem Kapitel „ʿElm va maʿlūm (arzeš-e maʿlūmāt)“: M/T, 1381, I:131 ff.; z. B. M, 1381, I:79 ff., 134, 158 f., 160 f. 4 Besonders in dem Kapitel „Falsafeh va safsaṭeh (reʾālīsm va īdeʾālīsm)“: M/T, 1381, I:53 ff.; z. B. M, 1381, I:39; T, 1381, I:50; M, 1381, I:57, 59; T, 1381, I:66; M, 1381, I:80, 134, 150 ff., 157 ff., 173 f. 5 Z. B. M, 1381, I:31 ff.; T, 1381, I:39; M, 1381, I:40, 43, 44, 45, 48, 160. 6 Vgl. Brugger, 1963:262 („Relativismus“).
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Westbetrachtung im Zeichen des vierten Weges
bedingt ist, wahrnehmen?“⁷ Jede der beiden letztgenannten epistemologischen Positionen, die Muṭahharī der erstgenannten Position, dass die Wirklichkeit und die Sache an sich genau so sind, wie wir sie wahrnehmen, gegenüberstellt, ist relativistisch, und beide Positionen zusammengenommen decken die Bandbreite des Relativismus ab. Und zwar sind sie deshalb beide relativistisch, weil jeder der beiden Positionen als Massstab und Verbürgung der Wahrheit des Urteils der Erkenntnis nicht der Gegenstand selbst gilt, über den geurteilt wird, nicht das Objekt, das Sein, also, sondern „unser Geist“ – der innergeistige Bereich der Subjekte der Erkenntnis – „unter den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen“, das Subjekt also bzw. das Bewusstsein.⁸ Indem der Relativismus – nach welcher der beiden oben dargestellten Positionen desselben auch immer – nicht das Objekt als den für alle Subjekte gültigen Massstab der Wahrheit anerkennt, ganz gleich unter welchen Bedingungen die Erkenntnis zustandekommt, gibt er die Allgemeingültigkeit der Wahrheit preis.⁹ Die Wahrheit ist im Verständnis des Relativismus somit relativ im Sinne von „subjektsabhängig“, „subjektiv“ also und eben nicht objektiv, und das bedeutet nichts anderes, als dass sie sowohl für das eine Subjekt bestehen als auch für das andere nicht bestehen kann.¹⁰ Genau diesen letzten Punkt hebt auch Muṭahharī hervor dort, wo er die zweite der beiden oben erwähnten relativistischen Positionen ausführlicher wiedergibt mit den Worten: „[…] Das Wesen der Gegenstände, auf welche die Erkenntnis sich bezieht, kann unmöglich so, wie es an sich ist, und ohne Beeinflussung in den Wahrnehmungskräften des Menschen erscheinen und evident werden. Vielmehr wirken bei jeder Wesenheit, die dem Menschen evident wird, einerseits der Wahrnehmungsapparat selbst, andererseits die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse in die Art hinein, wie das Objekt der Wahrnehmung dem einzelnen Subjekt der Wahrnehmung erscheint und sich ihm zeigt. Deshalb nimmt ein jedes Individuum das jeweilige Ding unterschiedlich wahr, ja, das jeweilige Individuum selbst nimmt in zwei verschiedenen Situationen das jeweilige Ding auf zwei Arten wahr. […] Zum Beispiel mag ich einen Körper in einem bestimmten zeitlichen Moment an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Umgebung mit einem bestimmten Umfang, einer bestimmten Gestalt und einer bestimmten Farbe wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist auch richtig und wahr, aber nur in bezug auf mich und für mich, nicht in bezug auf einen anderen und für einen anderen. Denn vielleicht nimmt ja ein anderer Mensch oder ein anderes Lebewesen, dessen Wahrnehmungskräfte sich in ihrer Struktur von den meinen unter7 M, 1381, I:133. 8 Vgl. Brugger, 1963:262 („Relativismus“). 9 Vgl. ebda. 10 Vgl. ebda.
„Was ist Philosophie?“ – und was nicht?
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scheiden, dasselbe Ding zur selben Zeit und in derselben Umgebung mit einem anderen Umfang, einer anderen Gestalt und einer anderen Farbe wahr, und auch für dieses und in bezug auf dieses ist die Wahrheit nichts anderes als das, was es selbst wahrnimmt. Auch ich selbst kann in einem anderen Moment oder in einer anderen Umgebung den betreffenden Körper mit einem anderen Umfang, einer anderen Gestalt und einer anderen Farbe wahrnehmen, und dann wird die ‚Wahrheit‘ für mich in dem betreffenden Moment und in der betreffenden Umgebung etwas anderes sein.“¹¹ Dass nach dem Wahrheitsverständnis des Relativismus – wieder: nach welcher der beiden oben dargestellten Positionen desselben auch immer – die Wahrheit sowohl für das eine Subjekt bestehen als auch für das andere nicht bestehen kann, bedeutet aber selbst nichts anderes, als dass der Relativismus auch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch preisgibt.¹² Nach dem Verständnis von Philosophie, das Gelehrte wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, handelt es sich beim Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch aber um die letzte Grundlage allen Philosophierens und geordneten Denkens überhaupt.¹³ Er verhält sich zu der Disziplin, die auf ihm gründet, hinsichtlich seiner Bedeutung für diese wie die Axiome zur Mathematik. Muṭahharī beschreibt die Bedeutung dieses – wir könnten sagen: – „philosophischen Axioms“ mit den Worten: „[…] das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch ist die Grundlage sämtlicher Erkenntnisse und Wahrnehmungen. Wenn dieses eine Denkprinzip preisgegeben wird, wird keine Erkenntnis mehr Bestand haben. Deshalb haben die Philosophen seit alters her auch gesagt, dass unter Leugnung dieses Prinzips keine Wahrheit behauptet werden kann.“¹⁴ Im selben Sinne äussert sich Ṭabāṭabāʾī: „[…] alle Erkenntnisse beruhen letztlich auf diesem Satz, und unter Anerkennung desselben kann keine Wahrheit geleugnet werden, ebenso wie unter Nichtanerkennung desselben keine Wahrheit behauptet werden kann.“¹⁵ Die Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte, in deren Zeichen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī Philosophie und Relativismus einander gegenüberstellen, läuft, so gesehen, auf die Frage nach der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch hinaus, und so könnten wir auch sagen, dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie dem Relativismus im Zeichen der Frage nach der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch gegenüberstellen, wobei die Philosphie dasselbe anerkennt und
11 M, 1381, I:154. 12 Vgl. Brugger, 1963:262 („Relativismus“). 13 Vgl. Ders., 1963:384 („Wiederspruch, Satz vom“). 14 M, 1381, I:67 f. 15 T, 1381, I:66 f.
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der Relativismus es nicht anerkennt. Die philosophische Fachbezeichnung für diejenige Position nun, welche das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch anerkennt, die Gegenposition zum Relativismus also, die, wie Muṭahharī es formuliert, besagt, „dass die Wirklichkeit und die Sache an sich genau so sind, wie wir sie wahrnehmen“,¹⁶ lautet Dogmatismus.¹⁷ Und so können wir sagen, dass Philosophie nach dem Verständnis von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, wenn es um die Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte bzw. um die Frage nach der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch geht, gleichbedeutend ist mit Dogmatismus und in diesem Sinne den Gegensatz zum Relativismus¹⁸ darstellt. Nun erwähnt Muṭahharī ja zwei relativistische Positionen, d. h. zwei Positionen, die das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch nicht anerkennen. Die eine gibt er wieder mit den Worten, „dass es eine Wirklichkeit und eine Sache an sich überhaupt nicht gibt und die Welt der Erkenntnisobjekte nichts und wieder nichts ist“,¹⁹ die andere mit der Formulierung, „dass die Wirklichkeit und die Sache an sich auf eine bestimmte Weise sind und wir auf eine andere Weise, die von unserem Geist unter den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen bedingt ist, wahrnehmen.“²⁰ Die erste dieser beiden Positionen erkennen wir als die des Sophismus²¹ wieder. Dessen Vertreter, die Sophisten,²² behaupten, wie Muṭahharī es formuliert, „dass eine Wirklichkeit ausserhalb des Bereiches des Geistes des Menschen nicht existiert.“²³ Daher kann die aussergeistige, objektive Wirklichkeit für die Sophisten schlicht deshalb nicht das Mass und die Verbürgung für Wahrheit sein, weil sie die Existenz einer aussergeistigen, objektiven Wirklichkeit gar nicht anerkennen. Folglich können sie auch Wahrheit nicht als objektiv verstehen, d. h. als verbürgt durch die Übereinstimmung des Urteils des Subjektes der Erkenntnis mit 16 M, 1381, I:133. 17 Vgl. Brugger, 1963:59; bei T/M kommt der Begriff vor als „dogmātīsm“, z. B.: M, 1381, I:134, 158, als „ǧazm“ bzw. „yaqīn“ oder „ǧazm va yaqīn“, z. B.: M, 1381, I:80, 83, sowie als „falsafe-ye ǧazmī“, z. B.: M, 1381, I:134, 158. Die Vertreter der so bezeichneten Position werden erwähnt als „aṣḥāb-e ǧazm va yaqīn“, z. B.: M, 1381, I:80, 83, sowie als „ǧazmiyyūn“ und als „yaqīniyyūn“, z. B.: M, 1381, I:159. 18 Vgl. Brugger, 1963:261 f.; bei T/M kommt der Begriff vor als „rūlātīvīsm“, z. B.: M, 1381, I:154, sowie als „nesbiyyat“, z. B.:M, 1381, I:153. 19 M, 1381, I:133. 20 Ebda. 21 Bei T/M kommt der Begriff vor als „sūfīsm“, z. B. M, 1381, I:31, 56, 157, als „safsaṭah/safsaṭeh“, z. B. T, 1381, I:50, 53, 66, sowie als „sūfesṭāʾīgarī“, M, 1381, I:31. 22 Bei T/M kommt der Begriff vor als „sūfīst“, z. B. M, 1381, I:55 f., als „sūfesṭī“, z. B. M, 1381, I:56; T, 1381, I:50, 87, sowie als „sūfesṭāʾī“, M, 1381, I:55, 56, 79 f. 23 M, 1381, I:57.
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dem Objekt, über das dieses urteilt, sondern nur als subjektiv, oder wie Muṭahharī ihre Position wiedergibt: „[…] Wahrheit allgemein ist abhängig von der Einsicht und der Wahrnehmung des Menschen. Was auch immer von den Dingen der Welt irgendjemand wahrnimmt, ist richtig.“²⁴ Indem es für den Sophismus keine aussergeistigen Objekte gibt, und damit auch keine aussergeistigen Objekte als Massstab für Wahrheit, muss er unterschiedliche Wahrnehmungen unterschiedlicher Subjekte alle im selben Masse und im selben Sinne als Wahrheit gelten lassen – in der Auffassung des Dogmatismus ein Verstoss gegen das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch. Muṭahharī führt über das Wahrheitsverständnis des Sophismus denn auch weiter aus: „[…] wenn die Wahrnehmungen zweier Personen voneinander abweichen, sind beide Wahrnehmungen richtig.“²⁵ und: „[…] Wahrheit ist nichts anderes als das, was der Mensch wahrnimmt, und wenn verschiedene Individuen auf unterschiedliche Weise wahrnehmen und der eine eine Sache, die ein anderer als wahr ansieht, für unwahr hält und ein dritter hinsichtlich der Frage, ob sie wahr oder unwahr sei, im Zweifel ist, so ist die eine Sache sowohl wahr als auch unwahr, sowohl richtig als auch falsch.“²⁶ Was die Sophisten angeht, so ist es letztlich also ihre Nichtanerkennung der Existenz einer aussergeistigen, objektiven Wirklichkeit, die sie zur Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch führt. Muṭahharī drückt es so aus: „[…] die Sophisten […] sprechen den Erkenntnisgehalten keinerlei Wert zu, denn gemäss ihrer Lehre existiert jenseits des innergeistigen Bereiches keine Wirklichkeit, mit der Wahrnehmungen übereinstimmen oder nicht übereinstimmen könnten.“²⁷ Die zweite der beiden Positionen, diejenige, die Muṭahharī in die Worte fasst, „dass die Wirklichkeit und die Sache an sich auf eine bestimmte Weise sind und wir auf eine andere Weise, die von unserem Geist unter den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen bedingt ist, wahrnehmen“,²⁸ ist die Position des Skeptizismus.²⁹ Zu dessen Vertretern, den Skeptikern oder Skeptizisten,³⁰ zählt Muṭahharī zwei Gruppen von Denkern: Bei der einen handelt es sich um die Vertreter der Schule des Pyrrhon (370–280 v. Chr.), deren Lehre Muṭahharī
24 M, 1381, I:56. 25 Ebda. 26 Ebda. 27 M, 1381, I:79. 28 M, 1381, I:133. 29 Vgl. Brugger, 1963:296; Hügli/Lübcke, 2005:581a. Bei T/M kommt der Begriff vor als „maslak-e šakk“, z. B. M, 1381, I:39, als „maktab-e šakk“, z. B. M, 1381, I:83, 158, als „mazhab-e šakkākān“, so M, 1381, I:82, als „maktab-e šakkākān“, z. B. M, 1381, I:158, als „falsafe-ye šakkākān“, M, 1381, I:134, sowie als „septīsīsm“, z. B. M, 1381, I:57, 83, 158. 30 Bei T/M kommt der Begriff vor als „šakkāk“, z. B. M, 1381, I:57, 80 ff., 158 f., sowie als „lā adrī“, M, 1381, I:57.
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an einer Stelle wie folgt wiedergibt: „Was die Skeptiker angeht, so leugnen sie zwar nicht die [Existenz der] Dinge einer aussergeistigen Wirklichkeit, sie sprechen den Erkenntnissen und Wahrnehmungen aber keinen absoluten Wahrheitswert zu […].“³¹ Den einen Grund für diese Position der Skeptiker hinsichtlich des Wertes von Erkenntnis stellt Muṭahharī an einer anderen Stelle folgendermassen dar: „Die Vertreter dieser Schule sagen, dass die Wahrnehmungen des Menschen von den Dingen der [aussergeistigen] Welt gänzlich von der besonderen Verfasstheit des Geistes des wahrnehmenden Individuums abhängen und dass das, was jemand von den Dingen der [aussergeistigen] Welt jeweils begreift, so ist, wie der Geist des Betreffenden es bedingt, nicht so, wie das betreffende Ding in der Wirklichkeit und an sich ist.“³² Die Verschiedenheit in der Wahrnehmung der einzelnen Subjekte, von welcher hier die Rede ist, erwähnt Muṭahharī als einen der insgesamt zehn Gründe, die Pyrrhon für seine Leugnung des absoluten Wahrheitswertes der Erkenntnisse vorbringt³³; er formuliert ihn an einer Stelle mit den Worten: „Zu den Gründen, die Pyrrhon, der berühmte griechische Skeptiker, für seine Lehre anführt, gehörte die Verschiedenheit in der Art und Weise der Wahrnehmung beim Menschen und beim Tier sowie bei den einzelnen Menschen untereinander und bei jedem einzelnen Menschen unter jeweils verschiedenen Umständen.“³⁴ Der Schluss, den Pyrrhon aus diesem sowie aus den übrigen der zehn Gründe zieht, lautet in der Fassung bei Muṭahharī: „Also dürfen wir nicht überzeugt sein, dass das, was wir wahrnehmen, auch Wahrheit ist, sondern müssen all unsere Wahrnehmungen mit Vorbehalt aufnehmen.“³⁵ Bei der zweiten Gruppe von Denkern, die Muṭahharī zu den Skeptikern zählt, handelt es sich nach seinen Worten um „eine Anzahl neuzeitlicher Gelehrter […], welche die absolute Gültigkeit der Wahrheit leugnen und die Lehre von einer ‚relativen Wahrheit‘ vertreten.“³⁶ Die Angehörigen dieser Gruppe von Skeptikern bezeichnet Muṭahharī als Relativisten³⁷ in der engeren Bedeutung des Wortes, und einen der Gründe, den sie für ihre Lehre von der relativen Wahrheit anführen, gibt Muṭahharī wieder wie folgt: „[…] die Nerven von Mensch und Tier und ebenso die Nerven der Menschen untereinander sind in der Art und Weise, wie sie funktionieren, voneinander verschieden. So sehen etwa die Menschen sieben Grundfarben […], manche Tiere aber sehen alle Farben grau, und unter den 31 M, 1381, I:80. 32 M, 1381, I:158. 33 Vgl. M, 1381, I:80, 83, 155. 34 M, 1381, I:155. 35 Ebda. 36 M, 1381, I:153. 37 Bei T/M erwähnt als „rūlātīvīst“, z. B.: M, 1381, I:153, sowie als „nesbiyyūn“, z. B.: M, 1381, I:81, 153.
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Menschen wiederum finden sich manche, die farbenblind sind. Ja, in unserem Alltag sehen wir gar, dass die Nerven eines einzelnen Menschen unter jeweils verschiedenen Umständen auf zwei verschiedene Weisen funktionieren: Beispielsweise schmeckt eine bestimmte Speise, je nach dem, ob wir gesund oder krank sind, verschieden und erscheint ein bestimmter Duft mal angenehm, mal unangenehm.“³⁸ Damit läuft die Lehre derjenigen Schar unter den neuzeitlichen Gelehrten, welche die absolute Gültigkeit der Wahrheit leugnen, aber letztlich auf diejenige des Pyrrhon und seiner Anhänger hinaus. Denn, wie Muṭahharī bemerkt, die eine wie die andere Gruppe begründet ihre Ablehnung der Lehre von der absoluten Gültigkeit der Wahrheit mit der Verschiedenheit in der Art und Weise der Wahrnehmung beim Menschen und beim Tier sowie bei den einzelnen Menschen untereinander und bei jedem einzelnen Menschen unter jeweils verschiedenen Umständen.³⁹ Deshalb zählt Muṭahharī auch die eine wie die andere Gruppe zu den Skeptikern.⁴⁰ Der einzige Unterschied zwischen der einen und der anderen Gruppe von Skeptikern mag darin gesehen werden, dass der Schluss, den die letztere Gruppe aus der Verschiedenheit in der Wahrnehmung der einzelnen Subjekte zieht, nicht wie bei Pyrrhon lautet: „Also dürfen wir nicht überzeugt sein, dass das, was wir wahrnehmen, auch Wahrheit ist, sondern müssen all unsere Wahrnehmungen mit Vorbehalt aufnehmen.“⁴¹, sondern: „Das, was wir wahrnehmen, ist Wahrheit, aber eine relative, d. h. die Wahrheit ist je nach Individuum verschieden.“⁴² Dieser Unterschied ändert für Muṭahharī aber nichts daran, dass sowohl jene neuzeitlichen Gelehrten, welche die Lehre von der relativen Wahrheit vertreten, als auch Pyrrhon und seine Anhänger als Skeptiker zu betrachten sind. Und weil sie beide als Vertreter der Position des Skeptizismus zu betrachten sind, die Position des Skeptizismus aber eine der zwei relativistischen Positionen darstellt, d. h. eine der zwei Positionen, die das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch nicht anerkennen, so sind sie auch beide als Vertreter des Relativismus zu betrachten, der Gegenposition der Philosophie im Sinne des Dogmatismus also. Zwar mögen die Vertreter des Relativismus selbst ihre Lehre der Philosophie zuordnen, und es kommt vor, dass sogar ihre Gegner diese Zuordnung übernehmen –Muṭahharī selber spricht bisweilen von der Lehre der Skeptiker als der „Philosophie der Skeptiker“⁴³ –, aber wenn ihre Gegner dies tun, so geschieht dies nur – wie Muṭahharī gleich klarstellt – aus Rücksicht auf die
38 M, 1381, I:81, 154. 39 M, 1381, I:82 f., 155. 40 M, 1381, I:83, 155. 41 M, 1381, I:155. 42 Ebda. 43 „falsafe-ye šakkākān“: M, 1381, I:134, 158.
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Selbstbezeichnung der Vertreter des Relativismus.⁴⁴ Für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī jedenfalls bleibt es dabei: „Sämtliche Gelehrte, die im Namen einer bestimmten Lehre denjenigen Wahrnehmungen, die eine aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung haben, die absolute Gültigkeit absprechen und die Position vertreten, dass die Nerven oder das Gehirn, kurz: überhaupt der innergeistige Bereich und der Wahrnehmungsapparat in die Art und Weise, wie alle Dinge jeweils erscheinen und evident werden, hineinwirkt, gehören gewollt oder ungewollt zu den Skeptikern, so sehr sie selbst sich auch dagegen verwahren mögen, Skeptiker zu sein.“⁴⁵ Wenn es um die Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte bzw. eben um die Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch geht, haben daher sowohl Sophisten wie auch Skeptiker, und zwar die erste genauso wie die zweite Gruppe dieser letzteren, als Relativisten zu gelten, denn beide anerkennen sie es nicht. Der einzige Unterschied zwischen Sophisten und Skeptikern in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch besteht darin, dass die Sophisten dieses Prinzip deshalb nicht anerkennen, weil es gemäss ihrer Lehre eine aussergeistige, objektive Wirklichkeit als Massstab für Wahrheit nicht gibt, und die Skeptiker deshalb nicht, weil es gemäss ihrer Lehre die Möglichkeit sicherer Erkenntnis über eine aussergeistige, objektive Wirklichkeit als Massstab für Wahrheit nicht gibt. Erklären wir diesen Unterschied der Skeptiker gegenüber den Sophisten für erheblich, so werden wir nicht die Skeptiker im Verein mit den Sophisten der Gegenposition zur Philosophie im Sinne des Dogmatismus zuordnen, sondern vielmehr die Philosophen als Vertreter des Dogmatismus im Verein mit den Skeptikern der Gegenposition zum Sophismus. Dies würde auch der Selbstwahrnehmung der Skeptiker entsprechen, die ihre Lehre als Mittelweg zwischen der von der Philosophie vertretenen Position des Dogmatismus und dem Sophismus verstehen.⁴⁶ Gemäss Muṭahharī würde es auch der philosophiegeschichtlich älteren Entgegensetzung zwischen Philosophen und den Vertretern der Gegenposition zur Philosophie entsprechen: Zu ersteren seien nämlich zuerst sowohl die Vertreter des Dogmatismus als auch die Skeptiker gezählt worden, zu letzteren die Sophisten allein.⁴⁷ Erklären wir besagten Unterschied hingegen für unerheblich, so ergibt sich: Einen Massstab für Wahrheit gibt es weder nach der Lehre der Sophisten noch der Skeptiker, und dann würden wir allein die Vertreter des Dogmatismus zu den Philosophen zählen und zu den Vertretern der 44 Vgl. M, 1381, I:83. 45 M, 1381, I:156. 46 Vgl. M, 1381, I:57, 158. 47 Vgl. M, 1381, I:159.
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Gegenposition zur Philosophie die Skeptiker genauso wie die Sophisten. Gemäss Muṭahharī würde dies auch der philosophiegeschichtlich jüngeren Entgegensetzung zwischen den Philosophen und den Vertretern der Gegenposition zur Philosophie entsprechen, denn, so bemerkt er, „[…] die Vertreter des Dogmatismus betrachteten später die Scheinargumente der Skeptiker ebenfalls als eine Art von Sophismus, zählten auch die Skeptiker zu den Sophisten und liessen eine Unterscheidung zwischen ‚Sophisten‘ und ‚Skeptikern‘ nicht gelten […].“⁴⁸ Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī folgen im wesentlichen dieser letzteren Entgegensetzung. So stellt etwa Ṭabāṭabāʾī die Gegenposition zur Philosophie in der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte bzw. eben in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch der Position der Philosophie in dieser Frage unter dem Namen „Sophismus“ gegenüber mit der Bemerkung: „[…] die Philosophie sagt, dass die Grundlage [für die Identifizierung] des Sophismus [aus Sicht des Dogmatismus] das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch ist […].“⁴⁹ Und Muṭahharī hält fest: „Die Frage der Bestimmung von Wert und Geltung der Erkenntnisgehalte kann in gewisser Hinsicht als die grundsätzlichste Frage überhaupt betrachtet werden. Denn genau an diesem Punkt trennen sich […] die Wege von Dogmatismus […] und Skeptizismus […].“⁵⁰ Nun gibt der Relativismus, sei es unter dem Namen des Skeptizismus oder des Sophismus, das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch aber nicht nur deshalb preis, weil er das Urteil „wahr“ oder „nicht wahr“ nicht von einem betrachtungsunabhängigen Objekt, sondern von der Betrachtung der jeweiligen Subjekte abhängig macht, so dass bei verschiedener Betrachtung der Subjekte die Wahrheit sowohl so als auch anders ausfallen mag. Vielmehr stellen der Satz des Sophismus „Es gibt keine Wirklichkeit“ bzw. der des Skeptizismus „Es gibt keine Möglichkeit sicherer Erkenntnis über die Wirklichkeit“ im Zeichen des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch auch jeder einen Widerspruch in sich dar. Denn wollen sie zu Recht beanspruchen, Grundlage der Position des Sophismus bzw. des Skeptizismus zu sein, müssen sie auch beanspruchen, wahr zu sein, und zwar „wahr“ nun eben nicht im relativen, sondern im absoluten Sinne von Wahrheit. Dies widerspricht aber seinerseits der Behauptung beider Positionen, dass es Wahrheit im absoluten Sinne nicht gebe. Muṭahharī selbst gibt diesen Punkt zu bedenken, indem er die Frage aufwirft: „Ist es möglich, dass eben diese Behauptung [der Relativisten] […] ‚Es ist möglich, dass eine Sache sowohl wahr
48 Ebda. 49 T, 1381, I:66. 50 M, 1381, I:134.
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als auch unwahr ist‘ ihrerseits sowohl wahr als auch unwahr, sowohl richtig als auch falsch ist?“⁵¹ Ferner stellt Muṭahharī klar, dass Relativismus, verstanden als Relativismus der Wahrheit im Sinne der Gegenposition zum Dogmatismus, nicht dasselbe bedeutet wie Relativismus in dem Sinne, dass sich der jeweils neueste Stand unserer Kenntnis über einen Gegenstand im Vergleich – in „Relation“ eben – zu unserem vorigen Kenntnisstand weiterentwickeln mag. In Anbetracht der Veränderbarkeit unseres jeweiligen Kenntnisstandes im Lichte neuer Befunde bezeichnen etwa Vertreter der Einzelwissenschaften die jeweils neuesten Erkenntnisse in ihrem Fach zuweilen als relative Wahrheit. So bemerkt Muṭahharī: „Immer, wenn moderne Wissenschaftler eine Theorie aufstellen, welche die aktuellen Erfahrungen bestätigen, beanspruchen sie hinsichtlich derselben keine absolute Gewissheit und erklären sie nicht zu einer sicheren Wahrheit.“⁵² „Manche Wissenschaftler“, wie Muṭahharī an anderer Stelle ausführt, „bezeichnen die Wahrheit, die sich aus Erfahrung ergibt, in der Hinsicht, dass sie mit einem gewissen Mass an Wahrscheinlichkeit behaftet ist, als ‚relative Wahrheit‘[…].“⁵³ In diesem Verständnis von Relativität ist aber nicht eigentlich die Wahrheit als solche relativ. Denn auch der jeweilige Stand der Kenntnis eines Objektes, den manche Wissenschaftler relative Wahrheit zu nennen pflegen, richtet sich doch nach dem Objekt und nach nichts anderem. Der Ausdruck „relativ“ in dieser Art von relativem Wahrheitsverständnis bezieht sich einzig auf das jeweilige Mass unserer Kenntnisse über den betreffenden Gegenstand. Es handelt sich hier um jene Art von Relativismus, die wir in einem früheren Zusammenhang mit dem Ausdruck „quantitativer Relativismus“ eingeführt haben.⁵⁴ Dieser quantitative Relativismus ist auch im Schlussteil der klassischen Selbstdefinition der Philosophie gemeint, die Muṭahharī in der Fassung anführt: „Philosophie ist die Erkenntnis der Zustände der Wesenheiten der in der aussergeistigen Wirklichkeit existierenden Dinge, so wie sie an sich sind, gemäss menschlichem Vermögen.“⁵⁵ Den Zusatz „gemäss menschlichem Vermögen“ kommentiert Muṭahharī: „[…] mit der Hinzufügung dieser Bemerkung […] soll darauf hingewiesen werden, dass der Mensch bei richtiger Durchführung des Denkens zwar Aufschluss über die wirklich existierenden Dinge erlangen kann, dass andererseits aber die wirklich existierenden Dinge der Welt unbegrenzt sind, die Fähigkeit des Menschen jedoch begrenzt, so dass der Mensch nur Aufschluss über einen Teil der wirklich existierenden Dinge der
51 M, 1381, I:143. 52 M, 1381, I:152. 53 M, 1381, I:156. 54 Vgl. ausserdem M, 1381, I:172. 55 M, 1381, I:159; vgl. Ders., 1381, I:57.
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Welt erlangen kann, die ‚Allwissenheit‘ aber niemandem zuteil wird.“⁵⁶ Bei dem quantitativen Relativismus, um den es in diesem Kommentar geht, handelt es sich nicht um den Relativismus, der jeweils gemeint ist, wenn von Relativismus als der Gegenposition zur Philosophie im Sinne von Dogmatismus die Rede ist. Relativismus, verstanden als Gegenposition zum Dogmatismus im Zeichen der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch, findet sich bei Muṭahharī an anderer Stelle als qualitativer Relativismus erwähnt – „qualitativ“ deshalb, weil die Vertreter dieser Position den menschlichen Geist nicht seinem Fassungsvermögen – seiner „Quantität“ – nach für unfähig erachten, Erkenntnis über die wirklich existierenden Dinge zu erlangen, sondern aufgrund der Besonderheit seiner artlichen Veranlagung – eben seiner „Qualität“.⁵⁷
3.1.2 Philosophie in Gegenüberstellung zu Idealismus Dem Idealismus⁵⁸ stellen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie im Zeichen der Frage gegenüber, ob eine aussergeistige Wirklichkeit, mit anderen Worten: eine betrachtungsunabhängige, objektive Aussenwelt, existiert oder nicht existiert. Diese Frage steht etwa hinter Muṭahharīs Bemerkung über den Idealismus, in der er diesen als eine Richtung beschreibt, welche „[…] die Aussenwelt für nichts und wieder nichts hält […].“⁵⁹ Entsprechend lautet seine Definition von deren Anhängern, den Idealisten: „Ein Idealist⁶⁰ ist jemand, der die [Existenz einer] Welt ausserhalb des innergeistigen Bereiches leugnet […].“⁶¹ In äusserster Kürze formuliert Ṭabāṭabāʾī die Auffassung des Idealismus in der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit mit den Worten: „[…] eine Wirklichkeit existiert nicht.“⁶² Und gemäss diesem letzteren Gelehrten ist als Idealist jemand zu bezeichnen, der in der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit die Gegenposition zur Philosophie vertritt, wobei die Philosophie die Existenz derselben bejaht, der Idealismus sie folglich verneint.⁶³ 56 M, 1381, I:159 f., 172. 57 Vgl. M, 1381, I:172. 58 Bei T/M erwähnt als „īdeʾālīsm“, z. B. T/M, 1381, I:53 ff.; M, 1381, I:60, sowie als „eṣālat-e taṣavvor“, z. B. M, 1381, I:60. 59 M, 1381, I:59. 60 Bei T/M erwähnt als „īdeʾālīst“, z. B. M, 1381, I:60; T, 1381, I:86 ff. 61 M, 1381, I:60. 62 T, 1381, I:66. 63 Vgl. T, 1381, I:50.
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Es sind, genau besehen, zwei Positionen, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mit Idealismus gleichsetzen und die beide zusammengenommen die Bandbreite des Idealismus abdecken, nämlich Sophismus und Skeptizismus. Von diesen zwei Positionen ist es der Sophismus, mit dem Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī den Idealismus unmittelbar gleichsetzen. Als einen von vielen Belegen dafür können wir Muṭahharīs Definition des Idealismus anführen, an welche die beiden Denker sich in dem ganzen Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus halten, nämlich: „Die Bedeutung des Begriffes nun, an welche […] diese Abhandlung sich hält, besagt, dass […] Idealismus die Richtung derjenigen ist, welche […] die innergeistigen Vorstellungen für eigentlich halten, d. h. diese Vorstellungen für ein blosses Produkt des innergeistigen Bereiches und nichts anderes halten und diesen innergeistigen Bildern keine aussergeistige Existenz in der Aussenwelt zuschreiben. In der Hinsicht, dass diese Richtung […] die Aussenwelt für nichts und wieder nichts hält und auch der Sophismus […] darin gründet, dass die Aussenwelt nichts und wieder nichts sei, wird Idealismus in dieser Abhandlung als gleichbedeutend mit Sophismus […] behandelt.“⁶⁴ Ṭabāṭabāʾī selbst erläutert die Begriffe „Sophist“ bzw. „Sophismus“ eins übers andere Mal mit „Idealist“ bzw. „Idealismus“ oder umgekehrt, so etwa dort, wo er sagt: „Ein Idealist im eigentlichen Sinne ist jemand, der die [Existenz der] Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit als solche leugnet. […] Dies sind die Idealisten (Sophisten) im eigentlichen Sinne des Wortes.“⁶⁵ Nun hängt aber die Frage von Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit, in deren Zeichen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie dem Idealismus gegenüberstellen, mit der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte zusammen, in deren Zeichen die beiden Gelehrten die Philosophie als Dogmatismus dem Relativismus gegenüberstellen, d. h. der Frage, ob Massstab und Verbürgung für die Wahrheit der Erkenntnis im Erkenntnissubjekt – im Bereich des Innergeistigen, im Bewusstsein also – oder im Erkenntnisobjekt – in der aussergeistigen Wirklichkeit also, im Sein – liege. Denn die Gründung der Wahrheit der Erkenntnis in der aussergeistigen Wirklichkeit setzt ja überhaupt erst die Anerkennung der Existenz einer solchen voraus. Was die Sophisten angeht, so ist es, wie wir festgestellt haben, eben diese ihre Nichtanerkennung der Existenz einer aussergeistigen, objektiven Wirklichkeit, die sie zur Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch führt, weil sie das Urteil „wahr“ oder „nicht wahr“ nicht von dem betrachtungsunabhängigen Objekt einer aussergeistigen Wirklichkeit, sondern von der Betrachtung der jeweiligen Subjekte abhängig machen, so dass je nach betrachtendem Subjekt die Wahrheit sowohl 64 M, 1381, I:59. 65 T, 1381, I:86 f.
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so als auch anders ausfallen mag. Die Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der aussergeistigen Wirklichkeit ist, so gesehen, gleichbedeutend mit der Frage – der epistemologischen Frage – nach dem Wert der Erkenntnisgehalte, nur dass die Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der aussergeistigen Wirklichkeit auf die Bindung der epistemologischen Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte an das Thema Sein oder Nichtsein, das Gebiet der Ontologie also, verweist. Die philosophische Fachbezeichnung für diejenige Position nun, welche im Gegensatz zum Idealismus die Existenz einer aussergeistigen Wirklichkeit anerkennt, einer aussergeistigen Wirklichkeit, die ihr auch als Massstab und Verbürgung von Wahrheit gilt, lautet Realismus.⁶⁶ Und so können wir sagen, dass Philosophie nach dem Verständnis von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, wenn es um die Frage nach Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit geht, gleichbedeutend ist mit Realismus und in diesem Sinne den Gegensatz zum Idealismus darstellt. Belege für die Gleichsetzung von Philosophie mit Realismus im Zeichen der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit finden sich in Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Werk zuhauf. So wird der Titel der zweiten Abhandlung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus, der da lautet „Philosophie und Sophismus“, in Klammern erläutert mit „Realismus und Idealismus“,⁶⁷ wobei „Idealismus“ offenbar als gleichsinnig mit „Sophismus“ und dementsprechend „Realismus“ als gleichsinnig mit „Philosophie“ zu verstehen sind. Ṭabāṭabāʾī sagt über die Bezeichnungen der verschiedenen Positionen in der Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit: „[…] Ein Sophist (Idealist) […] gehört der Gegenposition zu der eines ‚Philosophen‘ an; so lässt sich die Richtung, die sich mit der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der Dinge [der aussergeistigen Wirklichkeit] befasst, gemäss der […] Einteilung [hinsichtlich der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung einer aussergeistigen Wirklichkeit] in zwei Gruppen, nämlich ‚Philosophie‘ und ‚Sophismus‘ (Realismus und Idealismus), unterteilen.“⁶⁸ Ebenso wie dieser Gelehrte hier Sophismus mit Idealismus gleichsetzt, erläutert er „Philosophie“ also mit dem Begriff „Realismus“. Und Muṭahharī erklärt an derselben Stelle, an der er Sophismus mit Idealismus in eins setzt: „[…] die Richtung des ‚Sophismus‘ […] ist in gewisser Hinsicht gleichbedeutend mit Idealismus, und diese beiden
66 Bei T/M erwähnt als „reʾālīsm“, z. B. T, 1381, I:Werktitel; M, 1381, I:60, sowie als „eṣālat-e vāqeʿiyyat“, z. B. M, 1381, I:59, bzw. als „eṣālat-e vāqeʿ“, z. B. M, 1381, I:60; die Anhänger dieser Richtung werden erwähnt als „reʾālīst“, z. B. M, 1381, I:60; T, 1381, I:65. 67 T, 1381, I:6, 53. 68 T, 1381, I:50.
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Richtungen nehmen die Gegenposition zum Realismus (Philosophie) ein […].“⁶⁹ Ferner erwähnt er, dass gemäss der philosophiegeschichtlich jüngeren Entgegensetzung zwischen den Philosophen und den Vertretern der Gegenposition zu diesen, der auch er selbst und Ṭabāṭabāʾī im wesentlichen folgen, ein Philosoph hinsichtlich der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz einer aussergeistigen Wirklichkeit definiert ist als einer, der „[…] die Aussenwelt nicht für nichts und wieder nichts hält“⁷⁰ – mit anderen Worten: als ein Realist. So ist denn Philosophie im Verständnis von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, wenn es um die Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte bzw. die Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch geht, dasselbe wie Dogmatismus und, wenn es um die Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung einer aussergeistigen Wirklichkeit geht, dasselbe wie Realismus. In der Tat gibt es ausser den Realisten überhaupt nur eine Gruppe von Denkern, die wir bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zuweilen unter dem Namen „Philosophen“ erwähnt finden, nämlich die Relativisten.⁷¹ Aber was die Relativisten betrifft, so nennen die beiden Gelehrten sie ja, wenn überhaupt, so nur aus Rücksicht auf deren Selbstbezeichnung Philosophen, nicht weil sie selbst deren Anspruch, eine philosophische Lehre zu vertreten, anerkennen würden. Im Gegenteil: Muṭahharī sieht im Relativismus nichts als eine neuzeitliche Richtung des Skeptizismus. Was nun wiederum den Skeptizismus angeht, so bestreiten dessen Anhänger zwar nicht wie die Sophisten die Existenz der aussergeistigen Wirklichkeit selbst, wohl aber deren Erkennbarkeit. In diesem Zusammenhang können wir noch einmal Muṭahharīs Bemerkung anführen: „Was die Skeptiker angeht, so leugnen sie zwar nicht die [Existenz der] Dinge einer aussergeistigen Wirklichkeit, sie sprechen den Erkenntnissen und Wahrnehmungen aber keinen absoluten Wahrheitswert zu […].“⁷² Und andernorts bemerkt er über die Skeptiker und deren Unterschied gegenüber den Sophisten: „[…] sie schlossen sich nicht den Sophisten an, die behaupteten, dass eine Wirklichkeit ausserhalb des Bereiches des Geistes des Menschen nicht existiert […]. Diese Gruppe behauptete vielmehr, dass der Mensch kein verlässliches Mittel hat, um zur Wahrheit der Dinge [der aussergeistigen Wirklichkeit] zu gelangen […].“⁷³
69 M, 1381, I:57. 70 M, 1381, I:159. 71 M, 1381, I:134, 158. 72 M, 1381, I:80. 73 M, 1381, I:57.
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Wie in der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte, so gilt auch in der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der aussergeistigen Wirklichkeit: Erklären wir den Unterschied zwischen Skeptikern und Sophisten in dieser Frage für erheblich, so werden wir nicht die Skeptiker im Verein mit den Sophisten der Gegenposition zur Philosophie im Sinne des Realismus zuordnen, sondern vielmehr die Philosophen als Vertreter des Realismus im Verein mit den Skeptikern der Gegenposition zum Sophismus. Dies würde auch der Selbstwahrnehmung der Skeptiker entsprechen, die ihre Lehre als Mittelweg zwischen der von der Philosophie vertretenen Position des Realismus und dem Sophismus verstehen.⁷⁴ Gemäss Muṭahharī würde es auch der philosophiegeschichtlich älteren Entgegensetzung zwischen Philosophen und den Vertretern der Gegenposition zur Philosophie entsprechen, nach welcher sowohl die Vertreter des Realismus als auch die Skeptiker den Philosophen zugerechnet worden seien und nur die Sophisten der Gegenposition zur Philosophie.⁷⁵ Andererseits gilt: Die Skeptiker ebenso wenig wie die Sophisten anerkennen die aussergeistige Wirklichkeit als Massstab und Verbürgung von Wahrheit, letztere deshalb, weil sie die Existenz einer aussergeistigen Wirklichkeit leugnen, erstere deshalb, weil sie deren Erkennbarkeit leugnen. Sehen wir aber von diesem Unterschied in der Herleitung der jeweiligen Position ab, so ergibt sich für Skeptiker genauso wie für Sophisten: Die aussergeistige Wirklichkeit gehört nicht zum Gegenstandsbereich ihres Denkens.⁷⁶ Von daher können wir den Unterschied zwischen Skeptikern und Sophisten in der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der aussergeistigen Wirklichkeit auch ebenso gut für unerheblich erklären. Dann ergibt sich wieder: Einen Massstab für Wahrheit gibt es weder nach der Lehre der Sophisten noch der Skeptiker, und dann würden wir allein die Vertreter des Realismus zu den Philosophen zählen und zu den Vertretern der Gegenposition zur Philosophie die Skeptiker genauso wie die Sophisten. Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī folgen im wesentlichen dieser letzteren, gemäss Muṭahharī philosophiegeschichtlich jüngeren Entgegensetzung. Denn an derselben Stelle, an der Muṭahharī einen Philosophen hinsichtlich der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der aussergeistigen Wirklichkeit gegenüber den Sophisten als einen definiert, der „[…] die Aussenwelt nicht für nichts und wieder nichts hält“⁷⁷ – mit anderen Worten: als einen Realisten –, definiert er ihn hinsichtlich derselben Frage gegenüber den Skeptikern als einen, der „[…] Aufschluss über die Wirklichkeit der Dinge der Aussenwelt für möglich 74 Vgl. ebda.f. 75 Vgl. M, 1381, I:159. 76 Vgl. Pfister, 2006:105. 77 M, 1381, I:159.
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hält.“⁷⁸ Sowohl gegenüber den Sophisten wie auch gegenüber den Skeptikern ist ein Vertreter der Philosophie gemäss Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Verständnis dieser Disziplin demnach als Anhänger des Realismus definiert und sowohl Sophisten wie auch Skeptiker als Vertreter des Idealismus. Über das Verhältnis zwischen Realismus und Idealismus gilt also dasselbe, was Muṭahharī über das Verhältnis zwischen Dogmatismus und Relativismus bemerkt hat: „[…] die Vertreter des Dogmatismus“ – wir könnten auch sagen: des Realismus – „betrachteten später die Scheinargumente der Skeptiker ebenfalls als eine Art von Sophismus“ – wir könnten auch sagen: von Idealismus –, „zählten auch die Skeptiker zu den Sophisten“ – den Idealisten also – „und liessen eine Unterscheidung zwischen ‚Sophisten‘ und ‚Skeptikern‘ nicht gelten […].“⁷⁹ Dass auch Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī diese Unterscheidung nicht gelten lassen, zeigt sich etwa an einer Stelle, an der Ṭabāṭabāʾī den Skeptizismus selbst als eine blosse Abwandlung des Sophismus darstellt mit den Worten: „[…] wenn sie […] die Bühne von Denken und Diskurs betreten, nehmen [die Betreffenden] Idealismus und Sophismus an und sagen: ‚Es gibt keine Wirklichkeit.‘ Weil einige von ihnen aber sehen, dass sie bereits in diesem einen Satz eine ganze Menge Wirklichkeiten bejaht haben, ändern sie die Form des Satzes und sagen: ‚Wir haben kein Wissen von der Wirklichkeit.‘ Von diesen sehen einige nach genauerer Prüfung, dass sie bereits in dieser ihrer Aussage und diesem ihrem Wissen wiederum [die Existenz von] ‚Denken‘ bejaht haben. Deshalb sagen sie: ‚Wir haben keine Wirklichkeit ausserhalb unseres Selbst (unserer Person und unseres Denkens)‘, d. h. wir haben kein Wissen von der Wirklichkeit ausserhalb unserer selbst und unseres Denkens. Manche gehen noch einen Schritt weiter und leugnen alles ausser sich selbst und ihrem Denken (‚Ausser mir und meinem Denken weiss ich nichts.‘).“⁸⁰ Die Aussage der Skeptiker „Ich habe kein Wissen von der Wirklichkeit“ ist für Tabābatāʾī also nur eine Änderung der Form, aber nicht des Inhalts, der Aussage der Sophisten „Es gibt keine Wirklichkeit“; sowohl Skeptiker als auch Sophisten sind ihm zufolge daher Idealisten. Dass der Skeptizismus sich Ṭabāṭabāʾī zufolge aus dem Sophismus herausentwickelt hat und somit später auftritt – auch Muṭahharī erwähnt als Entstehungszeit für den Sophismus das 5. Jahrhundert v. Chr., für den Skeptizismus das 4. Jahrhundert v. Chr. –⁸¹, ist, wenn überhaupt, so nur geschichtlich von Belang und unterscheidet die beiden Lehren nicht inhaltlich voneinander. Ferner setzt Ṭabāṭabāʾī die Vertreter des Idealismus nicht nur mit den Sophisten gleich wie in der bereits 78 Ebda. 79 Ebda. 80 T, 1381, I:66. 81 M, 1381, I:56 f., 157 f., 57, 158 f.
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zitierten Bemerkung: „Ein Idealist im eigentlichen Sinne ist jemand, der die [Existenz der] Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit als solche leugnet. […] Dies sind die Idealisten (Sophisten) im eigentlichen Sinne des Wortes“⁸², sondern ebenso mit Skeptizismus wie in der folgenden Definition, in der es heisst: „[…] ein Idealist im eigentlichen Sinne ist […] einer, dem manche theoretischen Wissens- und Denkgehalte zweifelhaft sind und in dessen Geist zwar eine Reihe praktischer und theoretischer Wissens- und Denkgehalte, die für das tägliche Leben notwendig sind, gesichert sind und den Ursprungsort ihres Wirkens haben, der aber aufgrund der Unstimmigkeiten und Widersprüche, die er in den Gedanken und Auffassungen der Gelehrten sieht, oder der Fehler, die er an seinen eigenen Sinnen beobachtet, die gesicherten Erkenntnisgehalte seines Geistes nicht gebührend veranschlagt und die Wirklichkeitseinsicht derselben verkennt und, ganz im Banne der erwähnten Fehlleistungen und Widersprüche, sagt: ‚Unsere Erkenntnisse und Wahrnehmungen ergeben keine Evidenz über die Aussenwelt, d. h. wir haben von nichts Wissen.‘“⁸³ Der einzige Unterschied zwischen Sophismus und Skeptizismus, den Anhänger des Realismus wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī überhaupt als wenigstens einigermassen erheblich anerkennen mögen, hängt mit dem Unterschied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Wert von Erkenntnis zusammen, einem Unterschied, den Muṭahharī darlegt mit den Worten: „Wenn vom Wert der Erkenntnisgehalte in theoretischer Hinsicht die Rede ist, geht es eigentlich um die Frage, ob es sich bei den Gehalten unserer Wahrnehmung und Erkenntnis um die in unserem Geiste nachvollzogene aussergeistige Wirklichkeit und die Dinge an sich handelt oder um etwas anderes. […] Mit ‚praktischem Wert [der Erkenntnisgehalte]‘ hingegen ist eigentlich gemeint, dass unsere Erkenntnisgehalte uns zwar nicht die Wahrheit evident machen, uns aber immerhin in der Praxis anleiten, d. h. dass wir immerhin soviel wissen, dass nämlich zwischen unseren Wahrnehmungen und den Dingen der Aussenwelt eine unmittelbare Beziehung besteht. […] Anders ausgedrückt: Wenn uns unsere Erkenntnisgehalte auch nicht darüber Auskunft geben, wie die Dinge der Aussenwelt sind, so geben sie uns immerhin darüber Auskunft, dass sie überhaupt sind.“⁸⁴ Darin also, dass mir eine Wahrnehmung Einsicht in das Wesen, das „Wie“, der Aussenwelt verschafft, liegt für Muṭahharī ihr theoretischer Erkenntniswert. Die Leugnung allein des theoretischen Wertes meiner Erkenntnis ist aus philosophischer Sicht daher gleichbedeutend mit der Leugnung der Möglichkeit der Erkenntnis des Wesens der Aussenwelt und entspricht der Position des Skeptizismus. Ein Skep82 T, 1381, I:86 f. 83 T, 1381, I:87. 84 M, 1381, I:173.
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tiker ist, so gesehen, einer, der den theoretischen – nur den theoretischen – Wert von Erkenntnis und Wahrnehmung leugnet, und zwar von Sinneswahrnehmung genauso wie von jeglicher anderen. Die Leugnung des theoretischen Wertes meiner Erkenntnis, die Leugnung der Möglichkeit der Erkenntnis des Wesens der Aussenwelt also, ist aber nicht gleichbedeutend mit der Leugnung der Existenz der Aussenwelt selbst. Leugne ich auch noch diese, bedeutet dies, dass ich nicht nur den theoretischen Wert meiner Erkenntnis leugne, sondern auch deren praktischen Wert, und dies entspricht der Position des Sophismus. Ein Sophist ist, so gesehen, einer, der sowohl den theoretischen als auch den praktischen Wert von Erkenntnis und Wahrnehmung leugnet, und zwar von Sinneswahrnehmung genauso wie von jeglicher anderen.⁸⁵ Bestreite ich also beispielsweise grundsätzlich die Möglichkeit der Erkenntnis in der Frage, ob sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde dreht, so spreche ich mir zwar die Einsicht in das Wesen der Dinge in dieser Frage ab, und was auch immer ich über die Bewegungen von Sonne und Erde zueinander urteilen mag, enthält für mich keinen theoretischen Erkenntniswert. Ich wäre dann also ein Skeptiker. Aber was auch immer ich Skeptiker über die Bewegung von Sonne und Erde zueinander urteilen mag, enthält für mich immerhin noch einen praktischen Erkenntniswert, indem es mir nämlich etwa erlaubt, aufgrund der Bewegung von Sonne und Erde Kalenderberechnungen anzustellen. Denn soweit es diesen praktischen Zweck angeht, brauche ich keine Gewissheit in der Frage, ob sich nun in Wirklichkeit die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht. Bestreite ich hingegen, dass Sonne und Erde sowie Bewegung überhaupt existieren, spreche ich allem, das mir in dieser Frage in den Sinn kommen mag, nicht nur den Wert einer Einsicht in das Wesen der Dinge, d. h. den Wert einer theoretischen Erkenntnis, ab – denn es gibt ja keine Dinge einer aussergeistigen Wirklichkeit und damit auch kein Wesen von Dingen –, ich kann ihnen auch nicht den Wert einer Grundlage für Kalenderberechnungen, einen praktischen Erkenntniswert also, zusprechen. Ich wäre dann also ein Sophist. Die realistische Gegenposition zum Idealismus, die Gelehrte wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī einnehmen, besagt nun aber eben auch nicht, dass es sich schlichtweg bei allem innergeistig Existentem in uns um die Erkenntnis von aussergeistig Existentem handeln würde. Der Realismus besagt nur, dass eine aussergeistige Wirklichkeit als Massstab und Verbürgung für die Wahrheit unserer Bewusstseinsinhalte existiert und erkennbar ist, er besagt deshalb nicht auch schon, dass unsere Bewusstseinsinhalte schlechthin mit der aussergeistigen Wirklichkeit übereinstimmen und so schlechthin wahr seien. Vielmehr ist es
85 Vgl. ebda.
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nach der Lehre des Realismus geboten, dass wir unsere Bewusstseinsinhalte an dem Massstab der aussergeistigen Wirklichkeit auf ihre Wahrheit hin überprüfen und dadurch, wie Ṭabāṭabāʾī sagt, „[…] das wirklich und aussergeistig Existente (mit dem Fachausdruck der Philosophie: die Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit) von dem bloss gedanklich Existenten ([…] Einbildungen) unterscheiden.“⁸⁶ Aber da nach der Lehre des Realismus eine aussergeistige Wirklichkeit als Massstab für die Wahrheit unserer Bewusstseinsinhalte existiert und erkennbar ist, ist die gebotene Überprüfung auf wahr und unwahr bzw. die gebotene Unterscheidung in wahr und unwahr ja auch überhaupt möglich. Dies lässt auf ein Verständnis von Wahrheit bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī schliessen, das der Definition von Wahrheit gleichkommt, wie sie Aristoteles formuliert hat, nämlich als Übereinstimmung der Wahrnehmung mit der Wirklichkeit. Kurz: Innergeistig „Wahrheit“ besagt aussergeistig „Wirklichkeit“. Tatsächlich finden wir entsprechende Formulierungen der Definition von Wahrheit bei Muṭahharī, etwa dort, wo er Sophismus, d. h. Idealismus, und Philosophie, d. h. Realismus, hinsichtlich der Anerkennung dieser Wahrheitsdefinition einander gegenüberstellt mit den Worten: „[…] ‚Philosophie‘ nimmt die Gegenposition zu ‚Sophismus‘ ein, und da ein Sophist die Wirklichkeit ausserhalb des innergeistigen Bereiches leugnet und alle Wahrnehmungen und Begriffe des Geistes für gegenstandslose Gedanken hält, so hat in seiner Sicht auch ‚Wahrheit‘, verstanden als Wahrnehmung in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, keine Bedeutung. Ein Philosoph hingegen anerkennt die [Existenz der] Dinge der Wirklichkeit ausserhalb des innergeistigen Bereiches und nimmt einen Teil der Wahrnehmungen als Wahrheiten und als Wahrnehmungen in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit an […].“⁸⁷ Diese „Wahrheiten“ definiert Muṭahharī als „Gehalte, die in der Aussenwelt eine aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung haben.“⁸⁸ Diese gilt es für den Philosophen von Wahrnehmungen zu unterscheiden, auf die Muṭahharī in der Fortsetzung der soeben zitierten Gegenüberstellung zwischen Idealismus und Realismus zu sprechen kommt mit der Bemerkung: „[…] andererseits anerkennt [ein Philosoph] ebenfalls, dass es eine Reihe von Wahrnehmungen gibt, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen […].“⁸⁹ Unter diesen erwähnt Muṭahharī Wahrnehmungen, die „Einbildungen“⁹⁰ heissen und die er definiert als „Wahrnehmungen, die keinerlei Instanz der Wahrheitsverbürgung in der Aussenwelt
86 T, 1381, I:37. 87 M, 1381, I:37; vgl. M, 1381, I:136. 88 M, 1381, I:38. 89 M, 1381, I:37 f. 90 „wahmiyyāt/vahmiyyāt“: z. B. T/M, 1381, I:37; M, 1381, I:37 f.
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haben und schlichtweg nichtig sind wie etwa die Vorstellung von Ungeheuern, dem Sagenvogel, von Zufall und dergleichen.“⁹¹ Wer die „Begriffe, die in der Aussenwelt eine aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung haben“ und die „Einbildungen“, die blossen „Gebilde des Geistes“⁹², nicht auseinanderhält, und zwar in dem Sinne, dass er alle Bewusstseinsinhalte für blosse Gebilde des Geistes hält, beschreitet in Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Auffassung den Weg des Idealismus.⁹³ Von diesem Weg hält sich Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, welche diese beiden Gelehrten vertreten, mit ihrem erkenntnistheoretischen Realismus eindeutig fern. Andererseits würde jemand, der die „Gehalte, die in der Aussenwelt eine aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung haben“ und die blossen „Gebilde des Geistes“ in dem Sinne nicht auseinanderhält, dass er alle Bewusstseinsinhalte für Entsprechungen von aussergeistig Existierendem hält, den Weg des naiven Realismus beschreiten. Und von diesem Weg wiederum hält sich Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ebenfalls fern, indem es sich bei ihrem erkenntnistheoretischen Realismus ja eben nicht um naiven Realismus handelt, sondern um kritischen Realismus. Zwischen der erkenntnistheoretisch gewissermassen überkritischen Position des Idealismus hinsichtlich der Frage nach der aussergeistigen Existenz unserer Bewusstseinsinhalte und der erkenntnistheoretisch unkritischen Position des naiven Realismus hinsichtlich derselben Frage gibt die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins also gleichsam den goldenen Mittelweg vor. Auf dieselbe Unterscheidung zwischen „Wahrheiten“ und „Einbildungen“, die Muṭahharī darlegt, kommt auch Ṭabāṭabāʾī zu sprechen, so etwa dort, wo er erörtert, wie ein Vertreter des Realismus gleich ihm selbst einen Verfechter der Position des Idealismus in dieser Frage davon überzeugen könne, dass zwischen Bewusstseinsgehalten mit Instanz der Wahrheitsverbürgung in der Aussenwelt und Bewusstseinsgehalten ohne Instanz der Wahrheitsverbürgung in der Aussenwelt ein Unterschied besteht.⁹⁴ Für „Wahrheiten“ bzw. „Einbildungen“ verwendet er dabei Ausdrücke wie „gesicherte Erkenntnis- und Bewusstseinsgehalte“⁹⁵ oder „geordnete (zwangsläufige) Gedanken“⁹⁶ bzw. „ungeordnete Gedanken (Gedanken, die er jederzeit nach eigenem Belieben anstellen kann)“⁹⁷. Erstere definiert 91 M, 1381, I:38. 92 Ebda.: „sāḫte-hā-ye zehn“. 93 Vgl. M, 1381, I:38 f. 94 Vgl. T, 1381, I:87 f. 95 T, 1381, I:87: „ʿolūm va edrākāt-e maḥfūẓe“. 96 T, 1381, I:88: „afkār-e monaẓẓam (qahrī)“, „andīše-hā-ye monaẓẓam“. 97 T, 1381, I:87: „andīše-hā-ye ġeyr-e monaẓẓam (andīše-hā-yī ke be-del-ḫ(w)āh-e ḫ(w)od hame vaqt mī tavānad bokonad.)“; T, 1381, I:88: „afkār-e ġeyr-e monaẓẓam (del-be-ḫ(w)āh)“.
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Ṭabāṭabāʾī als „Gedanken, die mit der Wirklichkeit in Berührung stehen“⁹⁸, letztere als „Gedanken ohne Grundlage [in der aussergeistigen Wirklichkeit]“⁹⁹. Um dem Verfechter des Idealismus nun den Unterschied zwischen diesen beiden Ordnungen von Gedanken nachzuweisen, stellt Ṭabāṭabāʾī diese in der Form von drei Aussagen vor, als deren Subjekt sich der Idealist selbst betrachten soll.¹⁰⁰ Die erste der drei Aussagen lautet: „Manchmal ist er hungrig, und als Folge davon isst er.“¹⁰¹ In dieser Aussage besagt „manchmal ist er hungrig“ eine Wahrnehmung in Übereinstimmung mit der aussergeistigen Wirklichkeit und „als Folge davon isst er“ einen Sachverhalt in der aussergeistigen Wirklichkeit. Die zweite der drei Aussagen lautet: „Manchmal stellt er sich vor, dass er isst, er ist aber nicht gezwungen zu essen.“¹⁰² In dieser Aussage ist von einer blossen Einbildung die Rede, einer Wahrnehmung ohne Übereinstimmung mit der aussergeistigen Wirklichkeit, einem „Gedanken ohne Grundlage in der aussergeistigen Wirklichkeit“ eben. Die dritte der drei Aussagen lautet: „Manchmal ist er wirklich hungrig, und der Gedanke, dass er esse, befriedigt ihn nicht.“¹⁰³ In dieser Aussage besagt „Manchmal ist er wirklich hungrig“ einen Sachverhalt in der aussergeistigen Wirklichkeit im Gegensatz zu „der Gedanke, dass er esse“, wo ein „Gedanke ohne Grundlage in der aussergeistigen Wirklichkeit“ gemeint ist, ein Gedanke also, der mit dem Sachverhalt in der aussergeistigen Wirklichkeit, von dem im ersten Teil der Aussage die Rede ist, nicht in Berührung steht. „In diesen drei Beispielsätzen“, so folgert Ṭabāṭabāʾī, „sind seine [d. h. des Idealisten] Vorstellungen und Gedanken nicht gleich. Vielmehr stehen manche derselben mit der Wirklichkeit in Berührung und manche andere sind nichts weiter als Gedanken ohne Grundlage [in der aussergeistigen Wirklichkeit].“¹⁰⁴ Es gibt also einen Unterschied zwischen der Vorstellung, dass ich esse, und dem Sachverhalt, dass ich esse, und das, was diesen Unterschied ausmacht, ja: das einzige, was diesen Unterschied überhaupt ausmachen kann, ist eben, dass es eine aussergeistige Wirklichkeit gibt. Dieser Beweisführung Ṭabāṭabāʾīs liegt die Seinslehre des Mullā Ṣadrā zugrunde, der zufolge die aussergeistige Wirklichkeit eines Dings – in Ṭabāṭabāʾīs Beispiel die Handlung „Essen“ – in seiner Existenz besteht. Denn was das Wesen, die Essenz des Dings, sein „Wie“ also, angeht, so bestimmt die blosse Angabe des
98 T, 1381, I:88: „afkār [ke] bā vāqeʿ tamāss dārad“. 99 Ebda.: „andīše-ye bī-pāyeh“. 100 Vgl. T, 1381, I:87. 101 T, 1381, I:88. 102 Ebda. 103 Ebda. 104 Ebda.
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Dings – hier der Handlung „Essen“ – zwar, um was für ein Ding es sich handelt, seine Essenz eben. Ob es existiert oder nicht – in unserem Beispiel: ob es sich bei der besagten Handlung „Essen“ um einen Sachverhalt in der aussergeistigen Wirklichkeit handelt oder bloss um das Thema einer innergeistigen Vorstellung von mir –, bleibt damit aber unbestimmt. Denn wenn ich das „Wie“ der Handlung „Essen“ als einer innergeistigen Vorstellung von mir beschreibe, so wird diese Beschreibung genau gleich lauten wie meine Beschreibung des „Wie“ der Handlung „Essen“ als eines Sachverhaltes in der aussergeistigen Wirklichkeit. „Essen“ als aussergeistiger Sachverhalt und „Essen“ als innergeistige Vorstellung unterscheiden sich voneinander also nicht hinsichtlich Essenz, sondern hinsichtlich Existenz. Die Wirklichkeit des Aussergeistigen gegenüber dem Innergeistigen muss daher in Existenz liegen. Darin fassen wir aber denselben Gedankengang, den Muṭahharī als Mullā Ṣadrās Begründung für die Eigentlichkeit der Existenz anführt,¹⁰⁵ nur dass Muṭahharī in seiner Darstellung dieser Überlegung anstatt wie Ṭabāṭabāʾī das Beispiel „Essen“ halt das Beispiel „Mensch“ wählt.¹⁰⁶ Dass Ṭabāṭabāʾī an dieser Stelle also überhaupt gegen die Verfechter des Idealismus argumentiert, weist ihn als Anhänger des Realismus aus, die Argumente, auf die er sich dabei stützt, zudem als Anhänger des Realismus im Sinne der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins. Und wenn sich Ṭabāṭabāʾī in der Frage von Erkennen und Existieren als Vertreter dieser Lehre zeigt, so ist es nur folgerichtig, dass er sich auch in seinem Verständnis von jenem – wir könnten sagen: – „erkennenden Existierenden“, dem Menschen, als Verfechter derselben erweisen soll. Dies wird ebenfalls im Zuge von Ṭabāṭabāʾīs Musterwiderlegung des Idealisten deutlich, dort nämlich, wo er rät, wie mit einem Idealisten zu verfahren sei, der trotz besserer Einsicht aus blosser Rechthaberei die Beweisführung zugunsten der Existenz einer aussergeistigen Wirklichkeit als Grundlage wahrer Erkenntnis aufgrund der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nicht gelten lässt: „[…] wenn wir einem rechthaberischen Idealisten gegenüberstehen, müssen wir […] mit ihm wie mit einem seelenlosen Schädling verfahren, denn jemand, der keine Erkenntnis hat, ist tote Materie.“¹⁰⁷ Was das erkennende Existierende, eben den Menschen, von allem anderen Existierenden unterscheidet, ist also sein Erkennen; ohne dieses wäre er in der Tat nichts anderes als „tote“ – also „seelenlose“ – „Materie“, denn die Erkenntnisfähigkeit wird als Funktion der Seele betrachtet. Ebenso gilt aber, dass die aussergeistige Wirklichkeit des Menschen wie die eines jeden anderen aussergeistig Existierenden in Existenz besteht. Daraus folgt, dass beim Menschen Existieren und Erkennen eins sind: Die ontologische Grundlage 105 Vgl. M, 1381, III:50 ff. 106 Vgl. M, 1381, III:53. 107 T, 1381, I:88.
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„Existenz“ bedeutet im Falle des Menschen Erkenntnis. Im Lichte dieser Auffassung vom Menschen ist auch eine andere Bemerkung Ṭabāṭabāʾīs über die Anhänger des Idealismus zu verstehen, in der er erklärt: „[…] wir können nicht glauben, dass es einen Menschen geben soll, der zwar von richtiger Beschaffenheit¹⁰⁸ ist und wie alle anderen menschlichen Einzelwesen den Tätigkeiten des Menschengeschlechts nachgeht und in dem sich doch nicht dieselben Erkenntnis- und Bewusstseinsgehalte finden sollen, die in allen anderen Einzelwesen des Menschengeschlechts zu finden sind.“¹⁰⁹ Demnach ist in Ṭabāṭabāʾīs Augen der Realismus diejenige Lehre von Sein und Erkennen, die als einzige der Beschaffenheit des Menschen entspricht. Ähnlich äussert sich Muṭahharī, wenn er schreibt: „[…] Die Idealisten […] leugnen die Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit (aufgrund ihrer philosophischen Tendenz, nicht aufgrund natürlicher Veranlagung¹¹⁰) […]“,¹¹¹ wobei er den Idealisten die Beschreibung „philosophisch“ hier wieder nur aus Rücksicht auf deren eigenen intellektuellen Anspruch beilegt. So verstehen denn Anhänger von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī unter Erkenntnis, die im Falle des Menschen eins mit Existenz, seiner ontologischen Grundlage, ist, Erkenntnis im Sinne des Realismus: Der Mensch ist für Denker dieser Schule gemäss seiner existenziellen Wirklichkeit selber Realist. Für Anhänger des Realismus wie Ṭabāṭabāʾī kann und soll der Mensch als das Subjekt der Erkenntnis also anhand der aussergeistigen Wirklichkeit, dem Sein, die Gehalte seines Bewusstseins in solche mit aussergeistiger Instanz der Wahrheitsverbürgung und solche ohne aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung auseinanderhalten.
Das Problem des Irrtums Nun erwähnen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī unter den Bewusstseinsgehalten des Menschen aber eine Gruppe von Wahrnehmungen, die zwar ohne aussergeistige Instanz der Wahrheitsverbürgung sind, die aber dennoch nicht unter das fallen, was Ṭabāṭabāʾī als „ungeordnete Gedanken (Gedanken, die der Mensch jederzeit nach eigenem Belieben anstellen kann)“¹¹² beschreibt. Die Rede ist vom Irrtum,
108 Arabisch/persisch: „ḫilqah/ḫelqat“. 109 T, 1381, I:87. 110 Arabisch/persisch: „fiṭrah/feṭrat“. 111 M, 1381, I:84 f. 112 T, 1381, I:87.
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einem Urteil also, in dem der Urteilende, ohne es zu wissen, den Sachverhalt verfehlt.¹¹³ Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī behandeln das Problem des Irrtums in ihrer Erörterung des Wertes der Erkenntnisgehalte – dies im Wissen, dass eben dieses Problem von Relativisten bzw. Idealisten als Einwand gegen die Position des Dogmatismus bzw. Realismus verwendet werden kann, wie Muṭahharī am Beispiel der Sophisten festhält: „Die grösste Handhabe der Sophisten zugunsten der Behauptung, dass die Aussenwelt nicht wirklich sei, sowie der Leugnung, dass den Erkenntnisgehalten überhaupt Wert zukomme, ist der Irrtum der Sinne; dabei lautet die ausführliche Darlegung [ihres Gedankenganges] wie folgt: Sämtliche Erkenntnisgehalte des Menschen werden auf dem Wege der Sinneswahrnehmung erworben. Die Sinneswahrnehmung ist aber kein Beweis für die wirkliche Existenz des sinnlich Wahrgenommenen. Denn, wie jeder weiss, zeigen unsere Sinne ein [und dasselbe] Ding mal unterschiedlich […], obwohl es doch nicht möglich ist, dass das eine wirkliche Ding in verschiedener Weise existiere, mal zeigen sie ein Ding in einer Weise, von der wir gewiss sind, dass sie falsch ist […]. Also ist klar, dass ‚Sinneswahrnehmung‘ kein Beweis für die wirkliche Existenz des sinnlich Wahrgenommenen ist. Und da all unsere Erkenntnisgehalte und Informationen über die Aussenwelt einen sinnlichen Ursprung haben und auf dem Wege der Sinnesempfindung gewonnen worden sind, so hat denn keine unserer Wahrnehmungen und Erkenntnisse den Wert von Wirklichkeitseinsicht.“¹¹⁴ An anderer Stelle bemerkt er im selben Sinne: „Die Sophisten und Idealisten führen das Auftreten von Irrtümern seitens der Sinneswahrnehmung und der Verstandestätigkeit als Beweis für ihre eigene Lehre an.“¹¹⁵ Und Ṭabāṭabāʾī formuliert die Verlegenheit der Realisten gegenüber den Idealisten in dieser Frage unter anderem wie folgt: „[…] wir [d. h. die Realisten] bekennen uns ja […] zur [Auffassung von der] grundsätzlichen Erkennbarkeit der aussergeistigen Wirklichkeit, nicht aber jene, und deshalb können sie mit vergleichsweise geringerer Mühe aus der Sackgasse dieses Problems herausfinden […].“¹¹⁶, eines Problems, das er an anderer Stelle in die Worte fasst: „[…] wenn wir doch [wie wir als Realisten behaupten] mit unseren Sinnen das wirkliche Wesen der Dinge erfassen, was hat dann all diese Unterschiedlichkeit und Abweichung in der Sinneswahrnehmung zu bedeuten?“¹¹⁷ – eines Problems, das für Idealisten nicht auftreten kann, denn, wie Muṭahharī festhält: „[…] die Wahrheit [im Verständnis der Idealisten]
113 Vgl. Brugger, 1963:154 f. 114 M, 1381, I:178. 115 M, 1381, I:140. 116 T, 1381, I:182. 117 T, 1381, I:181.
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ist immer nur relativ, und bei den Fällen, die fälschlicherweise ‚Sinnesirrtümer‘ genannt werden, handelt es sich um relative Wahrheiten. Dieses Missverständnis kommt nur daher, dass man gemeint hat, die Wahrheit sei absolut […], aber da die Wahrheit ja immer und überall nur relativ ist, löst sich dieses Missverständnis ganz von selbst.“¹¹⁸ Und an einer bereits angeführten Stelle definiert Ṭabāṭabāʾī einen Idealisten ja unter anderem mit den Worten: „[…] ein Idealist im eigentlichen Sinne ist […] einer, […] der […] aufgrund der […] Fehler, die er an seinen eigenen Sinnen beobachtet, die gesicherten Erkenntnisgehalte seines Geistes nicht gebührend veranschlagt und die Wirklichkeitseinsicht derselben verkennt und, ganz im Banne der erwähnten Fehlleistungen und Widersprüche, sagt: ‚Unsere Erkenntnisse und Wahrnehmungen ergeben keine Evidenz über die Aussenwelt, d. h. wir haben von nichts Wissen.‘“¹¹⁹ Ṭabāṭabāʾī nennt auch Beispiele von Irrtümern, wie sie auf der Stufe unserer Sinne auftreten: „[…] Wir sehen die Körper von weitem kleiner und von nahem grösser als ihr wirklicher Umfang. […] Wenn ihr eure eine Hand in heissem Wasser erwärmt und eure andere Hand in kaltem Wasser abkühlt und anschliessend alle beide miteinander in lauwarmes Wasser steckt, werden sie euch zwei völlig gegensätzliche Auskünfte über den Zustand des Wassers, die ihrerseits beide mit der aussergeistigen Wirklichkeit nicht übereinstimmen, vermitteln.“¹²⁰ Und Irrtümer wie diese wirken sich nicht nur auf unsere Sinneswahrnehmung aus, sondern betreffen auch die höheren Stufen auf unserem Erkenntnisweg, denn: „Zwar liegen Irrtümer in der Vorstellung und ebenso im übergeordneten Denken […] nicht unmittelbar an der Sinneswahrnehmung, aber indem jene Gruppen von Wahrnehmungen letztlich auf die Sinneswahrnehmung zurückgehen, kann man auch deren Verfehlungen der Sinneswahrnehmung anlasten.“¹²¹ Ṭabāṭabāʾīs Widerlegung der Position des Idealismus in der Frage des Irrtums erweist sich als fest gegründet in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn es den Irrtum gäbe, so müsste es sich bei ihm wie bei allem, das es gibt, entweder selbst um etwas aussergeistig Existierendes handeln oder sonst um etwas innergeistig Existierendes im Sinne der Erkenntnis von etwas aussergeistig Existierendem. So oder so müsste ihm ein Sachverhalt in der aussergeistigen Wirklichkeit zugrunde liegen. Dies würde aber nichts anderes bedeuten, als dass in der Wirklichkeit Sachverhalte existieren, die nicht existieren, mit anderen Worten: dass in der Wirklichkeit, die nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ja selbst gleichbedeutend ist mit Exis118 M, 1381, I:179. 119 T, 1381, I:87. 120 T, 1381, I:181 f. 121 T, 1381, I:182.
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tenz, Nichtexistierendes existiert, und das wäre widersinnig: „[…] in der Welt des Seins“, so Ṭabāṭabāʾī selbst, „kann in Wahrheit kein Irrtum vorliegen.“¹²² Umgekehrt gesprochen: Irrtum, definiert als Urteil, das den Sachverhalt verfehlt, ist der Gegensatz zu einem Urteil, das den Sachverhalt trifft, zur Wahrheit also. Und innergeistig „Wahrheit“ besagt aussergeistig „Wirklichkeit“. Dann lässt sich Irrtum aber gerade so gut definieren als Gegensatz zur Wirklichkeit. Dem Irrtum kommt demnach keine Wirklichkeit zu und, da Wirklichkeit nach der Lehre, die Realisten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, ihrerseits als Existenz definiert ist, folglich keine Existenz. Bei dem, was wir Irrtum zu nennen pflegen, kann es sich gemäss dieser Auffassung somit auch nicht um das handeln, was in der philosophischen Fachsprache Substanz heisst, um ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit also unter Absehung von jeglicher ontologischen Abhängigkeit von einer Wirkursache, in der es immer stehen mag. Es kann sich beim sogenannten Irrtum folglich höchstens um etwas handeln, das seinerseits ontologisch von einer Substanz als seinem Träger abhängig ist und das in der philosophischen Fachsprache Akzidens heisst. Dem Irrtum kommt ontologisch daher nur der Status eines Akzidens, nicht der einer Substanz zu, ein Gedanke, den Muṭahharī so ausdrückt: „[…] das Vorkommen des Irrtums ist akzidentell, nicht substantiell […].“¹²³ Denn sonst würde es zur Funktionsweise unserer Wahrnehmungs- und Erkenntniskräfte als solcher gehören, Irrtümer zu begehen. Aber, wie Muṭahharī bemerkt: „[…] keine einzige Wahrnehmungskraft des Menschen begeht in ihrer jeweiligen Funktion Fehler.“¹²⁴ So liegt ja auch etwa das Ersticken beim Menschen – dies ein veranschaulichender Vergleich aus einer anderen Quelle¹²⁵ – nicht an der Funktion seiner Atmungsorgane, sondern am Ausfall derselben. Die Wahrnehmungs- und Erkenntniskräfte des Menschen mit ihren jeweiligen Funktionen stellen aber die Stationen auf dem Wege seiner Erkenntnis dar, und bei Erkenntnis und Wissen unterscheidet Ṭabāṭabāʾī im Rahmen seiner Widerlegung der Position des Idealismus in der Frage des Irrtums zwischen begriffsbildender Erkenntnis oder Begriffswissen¹²⁶ und stellungnehmender Erkenntnis oder Urteilswissen¹²⁷: Dabei wären beispielsweise das Wahrnehmungsbild, das „Inbild“, eines einzelnen Menschen, eines einzelnen Pferdes oder eines einzelnen Baumes Gehalte des Begriffswissens. Demgegenüber bestehen die Gehalte
122 T, 1381, I:213. 123 M, 1381, I:179. 124 Ebda. 125 Schwarz, 1996:208. 126 „ʿilm taṣawwurī/ʿelm-e taṣavvorī“: T, 1381, I:178. 127 „ʿilm taṣdīqī/ʿelm-e taṣdīqī“: Ebda.
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des stellungnehmenden Wissens, des Urteilswissens eben, in Urteilen, die mit Aussagen wie „Vier ist grösser als drei“, „Heute kommt nach gestern“, „Der Mensch ist existent“ oder „Der Baum ist existent“, mit Behauptungssätzen also, ausgedrückt werden.¹²⁸ Was nun die Gehalte der begriffsbildenden Erkenntnis angeht, so ist die Frage nach wahr oder falsch auf sie gar nicht erst anwendbar. Denn bei den Gehalten der begriffsbildenden Erkenntnis handelt es sich ja eben um Begriffe, und der Begriff erschöpft sich im Darstellen von Inhalten ohne jede Stellungnahme.¹²⁹ Begriffe sind keine Behauptungen, und nur Behauptungen können überhaupt einen Anwendungsfall für die Frage „wahr oder falsch?“ darstellen, nur Behauptungen sind – mit dem Ausdruck der philosophischen Fachsprache – wahrheitsdifferent.¹³⁰ Mit den Begriffen in der Philosophie verhält es sich wie mit den Elementen in der Mathematik – etwa „gerade Zahl“, „hoch 3“ oder „17“: Auch die Elemente der Mathematik können nicht Gegenstand der Frage nach wahr oder falsch sein. Nur Aussagen – also etwa „6 ist eine gerade Zahl“, „2 hoch 3 gibt 7“ oder „17 – 5 = 12“ – können Gegenstand der Frage „wahr oder falsch?“ sein. So nennt Ṭabāṭabāʾī als eine der Bedingungen für die grundsätzliche Anwendbarkeit der Frage „wahr oder falsch?“ das Vorliegen eines Urteils im Sinne der Aussage: „Dies ist das“ – „A ist B“.¹³¹ Denn, so führt er aus: „[…] wenn wir zwei Dinge [A und B] nehmen, die zwar grundsätzlich miteinander übereinstimmen können,“ – im Sinne einer Übereinstimmung eben, die sich in der Aussage „A ist B“ ausdrücken lässt – „wir aber in der Frage ihrer Übereinstimmung kein Urteil bilden, so wird sich […] kein Fall für die Frage nach richtig oder falsch ergeben.“¹³² Ausführungen wie diese verweisen auf das Gedankengut antiker Philosophen, besonders klar auf das des Aristoteles. Bei diesem finden wir etwa die Bemerkung: „Das Denken nicht weiter zerlegbarer Begriffe nun gehört zu dem, hinsichtlich dessen [die Frage nach Wahrheit oder] Falschheit nicht möglich ist; vielmehr besteht das, in dem sowohl Falschheit als auch Wahrheit vorliegen können, erst in einer Zusammensetzung von Begriffen zu einer Art Einheit […].“¹³³ Was hier von der begriffsbildenden Erkenntnis gesagt wird, gilt erst recht für diejenigen Wahrnehmungskräfte, aus denen die Begriffsbildung ihre Daten überhaupt bezieht und deren erste die Sinneswahrnehmung ist. Was bei dieser
128 Vgl. ebda. 129 Vgl. Brugger, 1963:287 („Setzung“). 130 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:642b. 131 Vgl. T, 1381, I:201. 132 T, 1381, I:203. 133 Arist. De Anima:430a, 26 ff.; vgl. auch Ders., De Anima:432a, 11 f.; Ders. De Interpret.:16a, 13 ff.; vgl. ausserdem Plat. Sophistes:262B-E; 263B.
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vorgeht, beschreibt Ṭabāṭabāʾī wie folgt: „Das Sinnesorgan des Lebewesens empfängt im Gefolge der besonderen Berührung und Begegnung, die zwischen ihm selbst und dem Körper in der Aussenwelt entsteht, von diesem Eindrücke. Dabei geht etwas von der Wirklichkeit der Eigenschaften des Körpers in das Sinnesorgan ein, und nach deren Umsetzung durch das Sinnesorgan mit seinen natürlichen Eigenschaften entsteht ein Eindruck, bei dem es sich gleichsam um eine Kombination (nicht um die Kombination selbst) aus der Wirklichkeit der Eigenart des Körpers […] und der Wirklichkeit der Eigenart des betreffenden Sinnesorgans handelt […].“¹³⁴ Diese Beschreibung der Sinneswahrnehmung ist ein weiterer Beleg für den erkenntnistheoretischen Realismus Ṭabāṭabāʾīs: Die Sinneswahrnehmung wird nicht als ein im wahrnehmenden Subjekt eingeschlossener Vorgang aufgefasst, sondern als eine Beziehung des wahrnehmenden Subjekts mit der aussergeistigen Wirklichkeit, dem Objekt. Dass es sich bei Ṭabāṭabāʾīs Realismus ausserdem um gemässigten oder kritischen Realismus handelt, wird an seiner Bemerkung ersichtlich, dass es sich bei dem Eindruck, dem „Sinnesbild“¹³⁵, das aufgrund des Kontaktes zwischen körperlicher Aussenwelt und Sinnesorgan entsteht, „gleichsam“ um eine Kombination aus der Wirklichkeit der Eigenart des Körperlichen und der des Sinnesorgans handle – nur „gleichsam“ also, nicht im eigentlichen Sinne: „nicht um die Kombination selbst“, wie Ṭabāṭabāʾī hervorhebt.¹³⁶ Mit anderen Worten: Das Sinnesorgan übermittelt den Sinneseindruck in Analogie – „gleichsam“ eben – zum Gegenstand der sinnlichen Erfahrung. Im Sinnesbild zeigen sich die Körper der Aussenwelt mit ihrer Eigenart entsprechend der Eigenart der Sinne.¹³⁷ Dies entspricht der Auffassung des kritischen Realismus und unterscheidet sich von der des naiven Realismus. Letzterem zufolge liegen unsere Eindrücke von der Aussenwelt wie Farbe oder Klang, welche unsere Sinne uns, den Subjekten der Wahrnehmung, übermitteln, eben nicht in Analogie, d. h. im übertragenen Sinne, sondern gleichsinnig in den Objekten vor, d. h. genau so, wie sie uns unsere Sinne übermitteln.¹³⁸ Demgegenüber handelt es sich für den kritischen Realismus bei dem, als was uns unsere Sinne die körperliche Aussenwelt darstellen, um Bewusstseinszustände, welche die objektive Wirklichkeit nicht unmittelbar wiederspiegeln – um sogenannte Entsprechungszuständlichkeiten.¹³⁹ Diese entstehen dadurch, dass das wahr-
134 T, 1381, I:204 ff. 135 Vgl. Brugger, 1963:290; bei T/M als „ṣūrah maḥsūsah/ṣūrat-e maḥsūseh“, z. B.: T, 1381, I:180 f.; M, 1381,I:92. 136 T, 1381, I:205. 137 Vgl. Brugger, 1963:290. 138 Vgl. Ders., 1963:291 („Sinnesqualitäten“). 139 Vgl. ebda.
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nehmende Subjekt die Gegebenheiten in der Aussenwelt nach Massgabe seiner eigenen Struktur – „analog“ – umsetzt, eine Umsetzung, die von der Beschaffenheit des Objekts mitbedingt ist.¹⁴⁰ Damit ist für die Vertreter des kritischen Realismus die Objektivität der Erkenntnis aber genügend gewahrt: Sie kann ihnen zufolge analog zur Feststellung einer chemischen Substanz nach deren Reaktion aufgefasst werden.¹⁴¹ Eben dieser Auffassung im Sinne des kritischen Realismus hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt bei der Sinneswahrnehmung begegnen wir auch in der Erkenntnislehre Mullā Ṣadrās, dem Ṭabāṭabāʾī sich also auch in dieser Frage anschliesst: Was wir soeben als die eigene Struktur des wahrnehmenden Subjekts bezeichnet haben, meint nämlich nichts anderes als die subjektiven Formen, von denen bei jenem Denker die Rede ist – Bewusstseinszustände also, die unsere Seele, so Mullā Ṣadrā, jeweils dann aufweist, wenn sich ein Objekt unseren Sinnen darbietet, und die wir Sinneseigenschaften nennen und für gewöhnlich den körperlichen Objekten zuschreiben, obwohl es sich bei ihnen doch eigentlich um Formen in unserer Seele als wahrnehmender Subjekte handelt.¹⁴² Auch auf dieser Stufe, der Stufe der Sinneswahrnehmung, ergibt sich kein Anwendungsfall für die Frage nach wahr oder falsch. Denn in der Sinneswahrnehmung, der „naturgemässen Tätigkeit der Sinnesorgane“, wie Ṭabāṭabāʾī sie auch nennt,¹⁴³ „[…] ist kein Urteil gegeben, und folglich kann auch kein Anwendungsfall für die Frage nach richtig oder falsch vorliegen. So fallen zum Beispiel im Gefolge des besonderen Kontaktes, den das Auge mit den Körpern der Aussenwelt aufnimmt, Lichtstrahlen in es ein, mischen sich mit den geometrischen und physikalischen Eigenschaften des Auges und treffen auf den gelben Punkt: Es ist klar, dass sich bei diesem Vorgang kein Anwendungsfall für die Frage nach richtig oder falsch ergibt.“¹⁴⁴ Denn der hier geschilderte Vorgang auf der Stufe der Sinneswahrnehmung ist ein rein physikalischer, auf den die Frage nach wahr oder falsch nicht anwendbar ist: Sinneswahrnehmung ist eben nicht Urteilen, der Sinneseindruck kein Urteil und somit nicht wahrheitsdifferent. Zwar spricht Ṭabāṭabāʾī davon, dass im weiteren Verlauf der Sinneswahrnehmung die von den Körpern ausgehenden Einwirkungen auf die Sinnesorgane in der Weise weiterverarbeitet werden, dass die nachfolgende Kraft der Sinneswahrnehmung „[…] dieselbe materielle Erscheinung erfasst […] und unter den
140 Vgl. ebda. 141 Vgl. ebda. 142 Vgl. Kamal, 2006:93. 143 T, 1381, I:211. 144 T, 1381, I:206 f.
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Teilen derselben nach der Zahl von deren Verhältnissen, die auftreten, hinsichtlich Grösse, Kleinheit, Richtung, Bewegung usw. Urteile fällt.“¹⁴⁵ Als Beispiel führt Ṭabāṭabāʾī wieder das Sehen an: Bei diesem, so bemerkt er, „[…] bringt die Helligkeit, die auf den gelben Punkt trifft, mit ihren Teilen, von denen ein jeder eine eigene Farbe aufweist und eine besondere geometrische Gestalt hat, ein Verhältnis im Sinne von Grösse, Kleinheit, Ferne, Nähe, räumlicher Zuordnung und Bewegung hervor und wird wahrgenommen. Dabei erfolgt zwar die Bildung von Urteilen nach der Zahl der Zusammensetzungen, die sich aus den sinnlichen Wahrnehmungsgehalten ergeben, [wie etwa]: ‚Dieser Teil ist grösser als jener‘, ‚Diese Seite des Bildes ist weiss‘, ‚Jenes Rot ist weit weg‘ und ‚Dieses Gebilde ist in Bewegung‘ […].“¹⁴⁶ Aber auch auf dieser Stufe der Sinneswahrnehmung, die Ṭabāṭabāʾī auch als „Vollzug der Sinneswahrnehmung“ bezeichnet,¹⁴⁷ der Stufe also, auf der die Auszeugung des Sinnesbildes erfolgt,¹⁴⁸ ergeben sich keine wahrheitsdifferenten Aussagen über die Aussenwelt. Denn die Urteilsbildung auf der Stufe der Sinneswahrnehmung, die Ṭabāṭabāʾī erwähnt, ist ein Vorgang, der sich ganz und gar innerhalb der Sinneswahrnehmung selber abspielt. Und bei den Urteilen auf dieser Stufe, von denen er spricht, findet kein Vergleich des Sinnesbildes mit der Aussenwelt statt. Deshalb, so Ṭabāṭabāʾī, „liegt auf dieser Stufe zwar ein Urteil vor, aber da kein Vergleich und keine Abwägung [des Sinnesbildes mit der Aussenwelt] dabei ist, ergibt sich dennoch keine Frage nach richtig oder falsch.“¹⁴⁹ Wenn auf dieser Stufe also überhaupt von Urteilen die Rede sein kann, so nur im uneigentlichen Sinne des Wortes. Wenn sich nun die Frage nach richtig oder falsch aber auf der Stufe der Sinneswahrnehmung nicht ergibt, dann ergibt sie sich auch nicht auf der nachfolgenden Stufe der Wahrnehmung, nämlich der Vorstellung, der die Vorstellungs- oder Einbildungskraft¹⁵⁰ zugewiesen ist. Denn die Gehalte der Vorstellung, die Vorstellungsbilder¹⁵¹, sind nichts anderes als die Gehalte der Sinneswahrnehmung, die Sinnesbilder, abzüglich der körperlichen Eigenschaften dieser letzteren.¹⁵² Muṭahharī bemerkt zu diesem Unterschied: „[…] Das Sinnesbild wird immer
145 T, 1381, I:207 f. 146 T, 1381, I:208 ff. 147 T, 1381, I:211. 148 Vgl. Brugger, 1963:290. 149 T, 1381, I:210. 150 „(quwwat) ḫayāl/(qovve-ye) ḫiyāl; quwwah mutaḫayyilah/qovve-ye motaḫayyeleh; taḫayyul/taḫayyol“: Vgl. etwa T, 1381, I:214; M, 1381, I:92 f.; vgl. ausserdem Brugger, 1963:236 f. („Phantasie“), 368 f. („Vorstellung“). 151 „ṣūrah mutaḫayyalah/ṣūrat-e motaḫayyaleh; ṣūrat-e ḫiyālī“: Vgl. etwa M, 1381, I:92 f.; T, 1381, I:180 f., 214. 152 Vgl. M, 1381, I:92 f.
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mit einer bestimmten Lage (einem besonderen Verhältnis zu den umgebenden Teilen), einer bestimmten räumlichen Zuordnung (auf der rechten oder linken Seite oder gegenüber oder hinter usw.) und einem bestimmten Ort wahrgenommen. Immer wenn der Mensch ein Ding beispielsweise sieht, bemerkt er dieses an einem bestimmten Ort, mit einer bestimmten Zuordnung im Raum und in einer bestimmten Umgebung. Wenn er sich aber dasselbe Ding, das er schon mehrmals in verschiedenen Lagen und räumlichen Zuordnungen und an verschiedenen Orten gesehen hat, vorstellen will, kann er es allein für sich vor seinem inneren Auge erstehen lassen, ohne dass er es in einer bestimmten Lage, räumlichen Zuordnung oder an einem bestimmten Ort beobachten würde.“¹⁵³ und: „[…] Die Vorgänge der Sinneswahrnehmung setzen Kontaktnahme und Beziehung zwischen Sinneskräften und Aussenwelt voraus. Im Falle, dass diese Beziehung vergeht, vergeht die Sinneswahrnehmung ganz von selbst. Die Vorgänge der Vorstellung unseres Geistes aber benötigen gar keine [Kontaktnahme mit der] Aussenwelt. Deshalb finden die Vorgänge der Sinneswahrnehmung unabhängig vom Willen des wahrnehmenden Subjektes statt. So kann ein Mensch für gewöhnlich das Gesicht einer Person, die nicht anwesend ist, nicht sehen oder ihre Stimme nicht hören oder den Duft einer Blume, die nicht da ist, nicht riechen. Aber unter Zuhilfenahme der Vorstellungskraft kann er sich all dies nach eigenem Belieben und gemäss seinem Willen, wann immer er will, vorstellen.“¹⁵⁴ Auch dieser Gedanke findet sich in knapperer Formulierung bereits bei Aristoteles: „Die Gehalte der Vorstellung sind […] genau wie die Gehalte der Sinneswahrnehmung, nur ohne Materie.“¹⁵⁵ Da der Mensch die Gehalte seiner Vorstellung also unabhängig von der zeitlichen Anwesenheit der betreffenden Objekte in der Körperwelt abrufen kann, heisst die der Vorstellung zugewiesene Vorstellungskraft zuweilen Gedächtniskraft.¹⁵⁶ Aber ganz gleich, ob wir sie nun Gedächtnis- oder Vorstellungskraft nennen, die Frage nach wahr oder falsch ist auf ihre Gehalte nicht anwendbar. Die einzige Stufe auf dem Wege unseres Erkennens, auf welcher die Frage nach wahr oder falsch überhaupt angebracht sein kann, wenngleich auch hier nur im akzidentellen Sinne, ist diejenige, bei deren Gehalten es sich um Urteile in der eigentlichen Bedeutung des Wortes handelt. Diese Stufe ist die rein geistige des Verstandes, des Intellekts¹⁵⁷, der sich im Urteilen betätigt, eine Betäti-
153 M, 1381, I:92 f. 154 M, 1381, I:93. 155 Arist. De Anima:432a, 9 f. 156 „ḥāfiẓah/ḥāfeẓeh“: So etwa M, 1381, I:92. 157 Vgl. M, 1381, I:93; Brugger, 1963:357 f.
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gung, der die Urteilskraft¹⁵⁸ zugewiesen ist. Denn anders als der Begriff, bei dem unbestimmt bleibt, ob von dem Gehalt, den er besagt, „ist“ oder „ist nicht“ gilt, bezieht das Urteil die Gehalte auf das Sein. Diese Seinsbezogenheit der Urteilsgehalte kann sprachlich ausgedrückt werden in einem Behauptungssatz mit der Struktur „A ist B“ – z. B. „Der Stern (A) ist hell (B)“ –, wobei „A“ das Subjekt und „B“ das Prädikat des Satzes sind, die mittels des Verbindungswortes „ist“, der sogenannten Kopula des Satzes, aufeinander bezogen werden. Dabei stehen die Ausdrücke „A“, also etwa „Stern“, und „B“ – hier „hell“ – jeder für einen Begriff oder ein „Erkenntnisbild“, wie es bei Ṭabāṭabāʾī auch heisst.¹⁵⁹ Das wiederum, von dem die Erkenntnisbilder, die Begriffe, das Bild sind, sind die Dinge der aussergeistigen Wirklichkeit. Und zwar bezeichnet Ṭabāṭabāʾī die Beziehung, in der sie zu diesen stehen, als Analogie¹⁶⁰, ein Verhältnis also, das besagt, dass zwischen den Dingen der aussergeistigen Wirklichkeit und den entsprechenden innergeistigen Begriffen bei aller Übereinstimmung, in wie mancher Hinsicht auch immer, ein Unterschied in zumindest einer Hinsicht bestehen muss. Dieser Unterschied liegt gemäss Ṭabāṭabāʾī in folgendem: Ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit als Gegenstand für unsere Wahrnehmung und Erkenntnis hat den Status eines Ursprungs von Wirkungen¹⁶¹ – eben Wirkungen auf unsere Wahrnehmungskräfte etwa. Dass ein Ding aber überhaupt der Ursprung von Wirkungen ist, beruht auf seiner aussergeistigen Existenz: Nur was aussergeistig existiert und eben nicht nur als innergeistiges Gebilde wie etwa ein Begriff, kann überhaupt Ausgangspunkt von Einwirkungen auf unsere Wahrnehmung, etwa unsere Sinne, sein. Der Begriff nun, das Wissensbild, ist nichts anderes als das Ding der Aussenwelt abzüglich seines Status eines Ursprungs von Wirkungen. Da sein Status als Ursprung von Wirkungen aber gleichbedeutend ist mit seiner Existenz, können wir ebenso gut sagen: Der Begriff eines Dings ist nichts anderes als das Ding der Aussenwelt abzüglich seiner Existenz. In Existenz liegt nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins aber die aussergeistige Wirklichkeit des Dings. Und dies bedeutet, dass es sich bei dem Begriff des betreffenden Dings nicht ebenfalls um etwas aussergeistig Wirkliches, sondern um etwas bloss Innergeistiges, ein Gedankending eben, ein Konzept, handelt. Das nun wiederum, was nach eben dieser Lehre in bezug auf ein Ding nur den Status eines Konzeptes hat, ist die Essenz, das Wesen, des Dinges. Das Erkenntnisbild, der Begriff, von einem Ding der Aussenwelt ist daher gleichbedeutend mit dem Wissen der Essenz des betreffenden Dings. Da dieses Wissen sich ausserdem nur über ein 158 „quwwah ḥākima/qovve-ye ḥākemeh“: So etwa T, 1381, I:210 ff.; vgl. auch Brugger, 1963:351 f. 159 „ṣūrat-e ʿelmī“: So etwa T, 1381, I:177, 181. 160 Vgl. T, 1381, I:180. 161 „martabe-ye tarattob-e āsār“, „manshaʾiyyat-e āsār“: So etwa T, 1381, I:177, 181.
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Wissensbild auf die Aussenwelt bezieht, handelt es sich bei unserem Wissen von der Essenz eines Dings um ein mittelbares, ein „vermitteltes“ Wissen¹⁶² – vermittelt eben durch den Begriff, das innergeistige Bild für das Ding. So sagt Ṭabāṭabāʾī: „Das mittelbare Wissen ist die Gegenwart der Essenz des Wissensobjekts beim Wissenssubjekt.“¹⁶³ In dem Sinne, dass der Begriff den Gegenstand unseres Wissens in der Aussenwelt nur mittelbar darstellt, bezeichnet Ṭabāṭabāʾī das Verhältnis zwischen dem Begriff und dem Ding der Aussenwelt denn auch als ein analoges, wie etwa dort, wo er sagt: „[…] die Existenz [eines aussergeistigen Dings] ist nicht analog, sondern selbst schon der Ursprung von Wirkungen und also kein ‚Begriff‘.“¹⁶⁴ In ähnlichem Sinne äussert sich auch Muṭahharī über das Verhältnis zwischen dem Begriff und dem Ding der Aussenwelt. Er tut dies an einer Stelle, an der er zu beschreiben sucht, was in unserer Seele, dem Sitz unserer Erkenntnisvermögen, beim Urteilen vorgeht, die Frage des Urteils also aus psychologischer Sicht behandelt. Dort sagt er: „[…] wenn wir“ in einem Satz mit der Struktur „A ist B“, wobei „A“ das Subjekt und „B“ das Prädikat ist, „von einem Subjekt behauptend ein Prädikat aussagen […]“, also eben etwa „Der Stern (A) ist hell (B)“, „dann bildet unser Geist dabei nicht nur die Begriffe des Subjekts und des Prädikats, sondern vollzieht darüber hinaus noch eine andere, besondere Tätigkeit.“¹⁶⁵ „Diese besondere Tätigkeit“, so fährt der Gelehrte fort, „unterscheidet sich unter allen anderen Inhalten der Seele in einer Hinsicht […].“¹⁶⁶ „Und zwar“, so führt Muṭahharī zur Erklärung dieses Unterschiedes aus, „fallen die seelischen Inhalte […] in zwei Gruppen: Die erste Gruppe besteht aus eben jenen innergeistigen Bildern“, also etwa den Begriffen, „welche mit dem jeweiligen Wahrnehmungsorgan in Verbindung stehen. Diese Bilder sind passiv, d. h. dass die Wahrnehmungskraft sie unter der Einwirkung des Kontaktes mit einer [aussergeistigen] Wirklichkeit auf die jeweilige Eigenart ihres Empfangens von Wahrnehmungsbildern hervorgebracht hat. Weiter handelt es sich bei ihnen um mittelbare Inhalte, d. h. dass sie eine Wirklichkeit wiedergeben, welche nicht die Wirklichkeit ihrer selbst ist.“¹⁶⁷ Es muss sich bei ihnen daher um eine Wirklichkeit ausserhalb ihrer selbst handeln, um eine Wirklichkeit also, die nicht im Bereich des Innergeistigen, sondern des Aussergeistigen liegt, im Gegenstand eben, im Objekt, des Begriffes, und die deshalb objektiv heisst. So meint ja etwa
162 „ʿilm ḥuṣūlī/ʿelm-e ḥoṣūlī“: Vgl. T, 1381, I:129. 163 Ebda. 164 T, 1381, I:180. 165 M, 1381, II:65. 166 M, 1381, II:66. 167 Ebda.
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der Begriff „Mensch“ zwar den Menschen, aber nicht in dem Sinne und in dem ontologischen Status, wie dieser in dem zugehörigen Begriff selbst vorliegt, d. h. den Menschen als bloss begriffliche Vorstellung.¹⁶⁸ „Ausserdem“, so Muṭahharī weiter, „sind sie [d. h. die seelischen Inhalte der ersten Gruppe] innergeistig: D. h., ihre Existenz ist eine [bloss] analoge [zu den aussergeistig existierenden Dingen], und dass sie [wenn überhaupt] ein Selbst haben und sich von ihnen [überhaupt] sagen lässt: ‚Es ist eben dieses und nicht etwa jenes‘, gilt nur insofern, als es sich bei ihnen [immerhin] um Bilder [bzw. Begriffe] von etwas anderem handelt, und die Unterschiede dieser Bilder voneinander hängen von den Unterschieden ab, die zwischen den Dingen, von denen sie die Bilder [bzw. Begriffe] sind, bestehen. So gilt etwa von dem Begriff ‚Mensch‘, dem Begriff ‚Baum‘ und dem Begriff ‚Pferd‘ nur insofern, dass sie ein Selbst haben und dieses betreffende Etwas sind und eben nicht ein anderes, als sie Bilder bestimmter aussergeistiger Dinge sind, und der Unterschied eines jeden dieser Bilder gegenüber dem anderen beruht allein darauf, dass das eine sich auf den Menschen [in der aussergeistigen Wirklichkeit], das andere auf den Baum [in der aussergeistigen Wirklichkeit] und ein drittes auf das Pferd [in der aussergeistigen Wirklichkeit] bezieht.“¹⁶⁹ Ein Begriff ist nach Muṭahharīs Definition also nicht eigentlich selbst ein Etwas. Mit ihm ist nur ein Etwas gemeint, und was sich ihm an Wirklichkeit auch immer zuschreiben lässt, besteht allein darin, dass mit ihm ein Etwas gemeint ist. Dass der Begriff ein bestimmtes Etwas meint, ist nun aber auch nicht so zu verstehen, dass er von diesem aussagen würde, dass es existiert oder dass es nicht existiert.¹⁷⁰ Er setzt das mit ihm gemeinte Etwas zur Frage „Sein oder nicht Sein“ gar nicht in Beziehung. Er sagt von ihm nur aus, was es ist, nicht, dass es ist. So meint der Begriff „Mensch“ etwa die Washeit, aber nur die Washeit, des wirklichen Menschen. Der Begriff meint also die Essenz eines Dings, nicht seine Existenz. Und weil nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins die aussergeistige Wirklichkeit auf Existenz, nicht auf Essenz, beruht, so handelt es sich bei dem im Begriff vermittelten Wissen – dem mittelbaren Wissen eben – um rein innergeistige, subjektive Gehalte. So ergibt sich auch aus Muṭahharīs Bemerkungen genau wie aus denen Ṭabāṭabāʾīs, dass Wissen der Essenz mittelbares Wissen ist. Von der zweiten der beiden Gruppen, in welche die seelischen Inhalte fallen, sagt Muṭahharī: „Die zweite Gruppe besteht aus Seelengehalten, die nicht innergeistig sind.“¹⁷¹ Die Existenz der Seelengehalte dieser zweiten Gruppe ist also keine bloss analoge zu den aussergeistig existierenden Dingen. Auch dass sie 168 Vgl. Brugger, 1963:32. 169 M, 1381, II:66. 170 Vgl. auch Brugger, 1963:32. 171 M, 1381, II:66.
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ein Selbst haben und sich von ihnen sagen lässt: ‚Es ist eben dieses und nicht etwa jenes‘, gilt von ihnen nicht nur insofern, als es sich bei ihnen immerhin um Bilder – aber eben nur um Bilder – von etwas anderem, Aussergeistigem, d. h. dem Objekt, handelt. „Diese Gruppe von seelischen Inhalten“, so fährt Muṭahharī fort, „gehört zu den übrigen seelischen Anlagen, d. h. zum Bereich jenseits der innergeistigen Darstellung [von Aussergeistigem], wie etwa zu Wollen, Begehren, Lust, Schmerz und anderem.“¹⁷² Und den Unterschied dieser zweiten Gruppe von Seeleninhalten gegenüber der ersten erklärt Muṭahharī wie folgt: „Erstens sind diese Seeleninhalte nicht Bilder [bzw. Begriffe] von etwas. Der Unterschied zwischen Wollen und der Bildung des Begriffes ‚Baum‘ etwa ist der, dass das Wollen ein innerseelischer Vorgang ist und uns nicht ein Ding aus der Aussenwelt zeigt, während uns der Begriff ‚Baum‘ die aussergeistige Wirklichkeit Baum erschliesst. Zweitens sind sie [d. h. die Seeleninhalte der zweiten Gruppe] gegenwärtige Inhalte, nicht mittelbare […]“¹⁷³ wie die Seeleninhalte der ersten Gruppe, d. h. dass es sich bei den Seeleninhalten der zweiten Gruppe um eine Wirklichkeit handelt, welche die Wirklichkeit ihrer selbst ist. „Drittens“, so Muṭahharī weiter, „sind sie aktiv, nicht passiv“¹⁷⁴ bzw. bloss rezeptiv, denn innerseelische Vorgänge wie Wollen oder Lust sind nicht die Umsetzung aussergeistiger Dinge in innergeistige Bilder und sind daher auch nicht auf das bloss passive Empfangen von Einwirkungen und Eindrücken aus der Aussenwelt angewiesen. Die Besonderheit der Tätigkeit des Urteilens nun beschreibt Muṭahharī im Lichte seiner vorigen Bemerkungen wie folgt: „Im Urteil finden sich beide Aspekte [d. h. sowohl die Besonderheit der ersten als auch der zweiten Gruppe der Seeleninhalte]: In einer Hinsicht handelt es sich beim Urteil um ein Bild,“ aber eben nur um ein Bild, „das die Wirklichkeit und den Sachverhalt als solchen wiedergibt […], und in dieser Hinsicht haben wir es als einen [bloss] mittelbaren Wissensgehalt, ein [bloss] innergeistiges Bild und eine [bloss] passive Zuständlichkeit aufzufassen.“¹⁷⁵ Über diese erste Hinsicht, in der wir das Urteil zu betrachten haben, sagt Muṭahharī weiter: „In der ersten Hinsicht, in der diese besondere Tätigkeit [d. h. das Urteil] bloss passiv, mittelbar und innergeistig ist, bezeichnen die späteren Logiker sie als ‚prädikative Behauptung‘ […]“, als einen Satz mit der Struktur „A ist B“ also, wobei „A“ das Subjekt und „B“ das Prädikat ist, wie etwa „Der Stern (A) ist hell (B)“, „und gemäss der ersten Hinsicht lässt sich das Urteil auch sprachlich formulieren und mit dem Wort ‚ist‘ ausdrücken.“¹⁷⁶
172 Ebda. 173 Ebda. 174 Ebda. 175 Ebda. 176 M, 1381, II:67.
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Die sprachliche Fassung des Urteils in Subjekt, Kopula und Prädikat gibt somit nur den logischen Aufbau desselben wieder, sein Gefüge im Denken des Subjekts.¹⁷⁷ So besteht zwar der Ausdruck unseres Urteils in dem Behauptungssatz „Der Stern ist hell“ aus dem Begriff „Stern“, dem Subjekt des Satzes, und dem Begriff „hell“, dem Prädikat, sowie der Beziehung zwischen den beiden in der Kopula „ist“. Dieser Aufgliederung in die Zweiheit von Subjekt und Prädikat im Behauptungssatz „Der Stern ist hell“ entspricht in dem betreffenden Sachverhalt der aussergeistigen Wirklichkeit aber nicht eine Zweiheit von „Stern“ und „hell“ zuzüglich einer Beziehung zwischen den zweien, wie sie sich in der Kopula „ist“ ausgedrückt findet. Der Sachverhalt, um den es im Urteil geht, ist bloss „Helligkeit des Sterns“,¹⁷⁸ und dieser ist eines und stellt keine Zweiheit dar. Die logisch-sprachliche Formulierung des Urteils ist mit anderen Worten die Art, wie wir, die Subjekte der Erkenntnis, einen Sachverhalt im Denken nachvollziehen, nicht der Sachverhalt, das Objekt, das wir denken, selbst.¹⁷⁹ Muṭahharī führt dies an anderer Stelle aus mit den Worten: „[…] es lässt sich auf keinen Fall behaupten, dass das Urteil“, verstanden als sein logisch-sprachlicher Ausdruck, „auf dem Wege eines der Sinne dem Bereich des Innergeistigen zugekommen sei, und ebenso ist es unsinnig [zu behaupten], dass die Beziehung und die Verbindung zwischen Prädikat und Subjekt in der Aussenwelt, auf die sich das Urteil bezieht, dem Innergeistigen auf dem Wege eines der Sinne zugekommen sei. Denn der Beziehung in der Aussenwelt kommt unabhängig von den beiden Seiten (Subjekt und Prädikat) keine Wirklichkeit zu. Was dem Geist auf dem Wege der Sinne zukommt, besteht aus Bildern von wirklich Existierendem, die unter der Einwirkung des besonderen Kontaktes jener wirklich existenten Dinge mit den Sinnesorganen im Geiste zustande kommen.“¹⁸⁰ In dieser ersten Hinsicht also, verstanden als Denk- und Aussagegefüge, ist das Urteil, genau wie Muṭahharī sagt, mittelbar und innergeistig, subjektiv also und nicht objektiv, und hat daher denselben ontologischen Status wie der Begriff und folglich denselben epistemologischen Status wie das Wissen der Essenz. Nun besteht die Besonderheit des Urteils als innerer Tätigkeit Muṭahharī zufolge ja aber darin, dass ihm neben der soeben beschriebenen ersten noch eine zweite Hinsicht zukommt, und über diese zweite Hinsicht sagt Muṭahharī: „[…] in dieser [zweiten] Hinsicht ist die Existenz desselben [d. h. des Urteils] keine analoge und unterscheidet sich von allen übrigen Seeleninhalten in Ansehung seiner eigenen Seinsweise (nicht in Abhängigkeit von dem Gegenstand, den es 177 Vgl. Brugger, 1963:270 („Sachverhalt“). 178 Vgl. auch Brugger, 1963:269 f. 179 Vgl. Ders., 1963:350. 180 M, 1381, II:31.
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erschliesst) […].“¹⁸¹ Muṭahharī hebt an dieser Stelle den Unterschied des Urteils gegenüber dem Begriff hervor: Begriffe, aufgefasst als innergeistige Bilder von aussergeistigen Gegenständen, sind voneinander überhaupt nur insofern verschieden, als die Gegenstände in der denkunabhängigen Aussenwelt, deren Bilder sie sind, sich selbst voneinander unterscheiden. So ist der Begriff „Pferd“ genauso Begriff und nur Begriff wie etwa der Begriff „Mensch“. In ihrem Begriffsein unterscheiden sie sich voneinander daher überhaupt nicht, sondern nur darin, von was der eine und der andere der Begriff ist. Demgegenüber unterscheidet sich der Seeleninhalt „Urteil“ etwa von dem Seeleninhalt „Lust“ nicht in Abhängigkeit von irgendwelchen Dingen der Aussenwelt. Denn bei beiden Seeleninhalten, bei Urteil ebenso wie Lust, handelt es sich gar nicht um innergeistige Darstellungen bzw. Bilder von aussergeistig Existentem, die bloss passiv zustandekommen, indem die Wahrnehmungskraft sie unter der Einwirkung des Kontaktes mit einer aussergeistigen Wirklichkeit auf die jeweilige Eigenart ihres Empfangens von Wahrnehmungsbildern hervorgebracht hat. Das Urteil gemäss der zweiten Hinsicht besteht deshalb auch selbst nicht in passivem Empfangen, und weil es also nicht in Passivität besteht, muss es in Aktivität bestehen: Beim Urteil gemäss der zweiten Hinsicht handelt es sich daher um einen Akt. Muṭahharī drückt das so aus: „[…] in jener [zweiten] Hinsicht ist das Urteil ein Akt der Seele, der nicht das [subjektive] Bild [bzw. der Begriff] eines objektiven Sachverhaltes ist […].“¹⁸² Und Ṭabāṭabāʾī sagt: „[…] obwohl es sich beim Urteil [gemäss der ersten Hinsicht] um einen Gehalt unserer Wahrnehmung handelt, ist es uns doch nicht wie die übrigen Wahrnehmungsbilder aus der Aussenwelt durch das [bloss passive] Empfangen und Aufnehmen von Bildern zugekommen.“¹⁸³ Passivität kommt somit nur dem Begriff, nicht aber dem Urteil in dieser zweiten Hinsicht zu. Passivität kommt dem Begriff aber deshalb zu, weil Passivität in einer Reihe mit Mittelbarkeit und Innergeistigkeit bzw. Subjektivität den ontologischen und epistemologischen Status des Begriffes selbst ausmacht. Dass das Urteil in seiner zweiten Hinsicht also nicht Passivität, sondern Aktivität ist, bedeutet deshalb, dass Aktivität in einer Reihe mit Unmittelbarkeit, d. h. Gegenwärtigkeit, und Aussergeistigkeit bzw. Objektivität den ontologischen und epistemologischen Status des Urteils selbst ausmacht. Das Urteil in dieser seiner zweiten Hinsicht kann folglich nicht mittelbares Wissen sein, sondern muss unmittelbares, gegenwärtiges, Wissen sein, kann nicht innergeistig bzw. subjektiv, sondern muss ausser-
181 M, 1381, II:66 f. 182 M, 1381, II:67. 183 T, 1381, I:211.
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geistig, objektiv sein: „In der zweiten Hinsicht“, so Muṭahharī, „[…] ist das Urteil ein gegenwärtiger und nicht-subjektiver Akt […].“¹⁸⁴ Wenn der ontologische und epistemologische Status des Urteils in seiner zweiten Hinsicht nicht in Mittelbarkeit wie beim Begriff, sondern in Unmittelbarkeit, d. h. Gegenwärtigkeit, besteht, so handelt es sich beim Urteil auch nicht um Wissen der Essenz wie beim Begriff, sondern um Wissen der Existenz. In diesem Sinne bemerkt denn auch Ṭabāṭabāʾī: „[…] das gegenwärtige Wissen ist die Gegenwart der Existenz des Wissensobjekts beim Wissenssubjekt.“¹⁸⁵ Es ist dies ausserdem derselbe Gedanke, der uns bei Mullā Ṣadrās Beweisführung dafür begegnet, dass nicht Essenz, sondern Existenz die ontologische Grundlage der Wirklichkeit ist: Auch Mullā Ṣadrās Beweisführung hebt ja darauf ab, dass der Begriff, verstanden als Angabe der Essenz – etwa der Essenz „Mensch“ oder der Essenz „Essen“ –, für sich genommen nicht aussagt, ob die betreffende Essenz existent ist oder nicht, die blosse Angabe „Mensch“ – wie in Muṭahharīs Darlegung von Mullā Ṣadrās Gedankengang – oder „Essen“ – dies Ṭabāṭabāʾīs Beispiel für denselben Gedanken – zwar bestimmt, um was für ein Ding es sich handelt, d. h. seine Essenz, nicht aber, ob es existiert oder nicht, d. h. seine Existenz. Die Angabe der Existenz kann nur in einem Urteil mit der Aussagestruktur „Diese oder jene Essenz“ – etwa „der Mensch“ oder „das Essen“ – „ist existent“ liegen.¹⁸⁶ Dass der Unterschied im ontologischen und epistemologischen Status, der zwischen Urteil und Begriff besteht, in der Tat der zwischen Wissen der Existenz, d. h. gegenwärtigem Wissen, und dem Wissen der Essenz, d. h. mittelbarem Wissen, bzw. der zwischen Objektivität und Subjektivität ist, versucht Ṭabāṭabāʾī anhand der folgenden Überlegungen zu beweisen, deren erste lautet: „[…] wenn wir das betreffende Urteil“ – also etwa das Urteil „Der Stern ist hell“ – „in unserer Vorstellung zu einem Begriff umbilden und dem weiteren Zusammenhang eines Behauptungssatzes“ – z. B. des Satzes „Es ist Nacht“ – „hinzufügen“ – so dass sich der erweiterte Satz ergibt „Wenn gilt: ‚Der Stern ist hell‘, ist es Nacht“-, „so kann es die volle Seinsbezogenheit, die es als Behauptung hat, nicht bewahren (ihm kommt nicht dieselbe Gültigkeit zu wie dann, wenn es ohne weiteren Zusammenhang steht) […].“¹⁸⁷ Hier wird also das, was zuvor als Urteil stand – „Der Stern ist hell“ –, als Begriff in einen weiteren Aussagezusammenhang – „Wenn gilt: ‚Der Stern ist hell‘, ist es Nacht“ – eingefügt. Dadurch gilt von ihm nun das, was von jedem Begriff gilt, nämlich dass er lediglich Gehalte bildet, ohne dass er von ihnen aussagen würde, ob sie eine Beziehung zum Sein, eine „Seinsbezogenheit“, 184 M, 1381, II:67. 185 T, 1381, I:129. 186 Vgl. M, 1381, III:53. 187 T, 1381, I:211.
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haben oder nicht, mit anderen Worten: ob von ihnen gilt, dass sie sind oder dass sie nicht sind.¹⁸⁸ Als Begriff verliert die Aussage, die zuvor als Urteil stand, ihre Seinsbezogenheit. Diese muss sie also zuvor, da sie noch als Urteil stand, gehabt haben, denn sonst hätte sie sie nicht verlieren können jetzt, da sie als Begriff steht. Erläuternd führt Ṭabāṭabāʾī diese Überlegung weiter aus mit den Worten: „In der Fachsprache der Logik: Jeder prädikative Aussagesatz“ – also jeder Aussagesatz mit der Struktur „A ist B“, wobei „B“ das Prädikat ist – „kann als Vordersatz einer hypothetischen Aussage“ – „wenn…, dann…“ – „eingesetzt werden, und dieser Vorgang hebt die volle Seinsbezogenheit des prädikativen Aussagesatzes auf, obwohl das ursprüngliche Gefüge des Satzes belassen worden ist.“¹⁸⁹ In eine ähnliche Richtung wie die erste Überlegung weist die zweite, die da lautet: „[…] wenn wir unsere Behauptung, unser Urteil, in unserer Vorstellung zu einem selbständigen Ausdruck (im Sinne eines Substantivs) umbilden und es so als Subjekt oder Prädikat in einen anderen Behauptungssatz einsetzen, indem wir z. B. sagen: ‚Dieses oder jenes Urteil ist richtig‘“ – also etwa „Das Urteil ‚Der Stern ist hell‘ ist wahr“ –, „verliert das Urteil ebenfalls seine volle Seinsbezogenheit.“¹⁹⁰ Denn auch als substantivischer Ausdruck ist „Der Stern ist hell“ ein innergeistiger, also subjektbezogener Begriff, und als diesem kommt ihm nicht volle Objektbezogenheit, und das heisst: Seinsbezogenheit, zu. Dass ihm diese, wenn „Der Stern ist hell“ als Urteil steht, zukommt, muss bedeuten, dass das Urteil seinem ontologischen und epistemologischen Status nach nicht wie ein Begriff innergeistig, subjektiv, sondern eben objektiv ist. Und indem es objektiv ist, genau wie sein Objekt in der denkunabhängigen Wirklichkeit eben objektiv ist, kommt ihm derselbe ontologische Status zu wie seinem Gegenstand in der aussergeistigen Wirklichkeit selbst. Die dritte Überlegung lautet: „[…] wir mögen die aussergeistige Entsprechung zu einem Urteil beobachten (d. h. sie in Bilder unserer Wahrnehmung umsetzen), ohne dass unsererseits eine Stellungnahme“ im Sinne einer Behauptung „ist“ oder „ist nicht“ „oder ein Urteil vorliegen würde.“¹⁹¹ Dies beschreibt gewissermassen den gegengleichen Fall zur ersten und zweiten Überlegung: Genauso wenig, wie das innergeistige Gefüge unseres Urteils, der logisch-sprachliche Ausdruck desselben, in der aussergeistigen Wirklichkeit vorliegt – darauf laufen die beiden vorigen Überlegungen hinaus –, besteht das Objekt, der Gegenstand des Urteils, nur in unserem Geiste. Und daraus folgt für Ṭabāṭabāʾī: „Also müssen wir sagen, dass ‚Urteil‘ ein objektiver Akt der Urteilskraft ist, der mit seiner Seins188 Vgl. Brugger, 1963:349 f. 189 T, 1381, I:211. 190 Ebda. 191 T, 1381, I:211 f.
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bezogenheit in den Urteilssatz, den wir [in uns] wahrnehmen, eingeht. Weiter müssen wir, insofern es ein Wissensgehalt ist, sagen, dass es ein Wissensgehalt im Zeichen gegenwärtigen Wissens ist.“¹⁹² Dabei ist wieder anzufügen, dass das Bewussthaben des Urteilssatzes in uns ein Wahrnehmungsgehalt ist, der uns selbst nicht wie die übrigen Wahrnehmungsbilder aus der Aussenwelt durch das bloss passive Empfangen und Aufnehmen von Bildern zugekommen ist. Im selben Sinne wie seine vorige Bemerkung ist auch Ṭabāṭabāʾīs Feststellung zu verstehen: „[…] das Urteil […] ist ein objektiver Akt, der dieselbe Seinsweise wie Erkenntnis hat“, genauso wie andere Akte oder Gehalte unserer Seele wie Lust, Wollen oder Schmerz jeweils ihre Seinsweise haben, „und mit der ganzen Fülle seiner Existenz bei uns gegenwärtig ist, d. h. ein Wissensgehalt im Zeichen gegenwärtigen Wissens ist und nicht ein Wissensgehalt im Zeichen mittelbaren Wissens.“¹⁹³ Und ähnlich äussert sich derselbe Denker an anderer Stelle, wo er sagt: „[…] das Urteil selbst ist ein objektiver Akt der Seele, der mit seiner objektiven Wirklichkeit in unserem Geiste etwa zwischen zwei innergeistigen Begriffen vorliegt […].“¹⁹⁴ So verbindet das Urteil, ausgedrückt in dem Verbindungswort „ist“, etwa die zwei Begriffe „Stern“ und „hell“ zu „Der Stern ist hell“. „[…] und weil es sich bei dem Urteil ja um die Verbindung“ – ausgedrückt in dem Verbindungswort „ist“ – „zwischen dem Subjekt“ – etwa dem Begriff „Stern“ – „und dem Prädikat“ – etwa dem Begriff „hell“ – „handelt“, so der Gelehrte weiter, „ist seine Existenz nichts anderes als die Existenz dieser beiden.“¹⁹⁵ Denn einer Verbindung, so Muṭahharī an einer bereits angeführten Stelle, kommt in der Aussenwelt unabhängig von den beiden Seiten, die sie verbindet, wie eben etwa „Stern“ auf der einen und „hell“ auf der anderen Seite, die das Urteil „ist“ zu „Der Stern ist hell“ verbindet, keine Wirklichkeit – und das bedeutet: keine Existenz – zu.¹⁹⁶ Weil nun die Existenz des Wissensobjektes dessen Wirklichkeit ausmacht, liegt im gegenwärtigen Wissen, der Gegenwart der Existenz des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt, auch die Einheit von Wissenssubjekt und Wissensobjekt nach dem Verständnis der Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins. Denn bei der Vergegenwärtigung des Objektes der Erkenntnis, des Seins, durch das Subjekt der Erkenntnis, das Bewusstsein, wird dieses sich in eben diesem Akt des Erkennens auch selbst gegenwärtig, so dass im gegenwärtigen Wissen
192 T, 1381, I:212. 193 T, 1381, I:211. 194 T, 1381, II:64. 195 Ebda. 196 Vgl. M, 1381, II:31.
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Objekt und Subjekt des Erkennens, Sein und Bewusstsein, eins werden.¹⁹⁷ Nur ist das Urteil, in dem sich die Bezogenheit des Erkenntnissubjekts auf das Sein, die Grundlage der Wirklichkeit, und damit die Einheit von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt vollziehen, den Stufen der Sinneswahrnehmung und der Begriffsbildung auf unserem Erkenntnisweg nachgeordnet, während das Sein als Prinzip und Grundlage der erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit allen Seinsstufen der Seinsordnung vorgeordnet bzw. übergeordnet ist. Von gegenwärtigem Wissen sprechen freilich auch Suhrawardī und die Anhänger der Erleuchtungsphilosophie, wenn sie das überbegriffliche und insofern auch überdiskursive Wissen im Sinne eines unmittelbaren geistigen Erfassens der Wirklichkeit meinen. Nur verstehen die Erleuchtungsphilosophen, da sie die Lehre von der Eigentlichkeit der Essenz vertreten, unter der Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, Essenz, so dass für sie gegenwärtiges Wissen die Gegenwart der Essenz des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt bedeutet, während die Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī unter der Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, eben Existenz verstehen, so dass für sie gegenwärtiges Wissen, genau wie Ṭabāṭabāʾī es formuliert, „die Gegenwart der Existenz des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt“ bedeutet. Ausserdem handelt es sich für die Erleuchtungsphilosophen beim mittelbaren Wissen im Sinne des begrifflichen, diskursiven Wissens nach der Methode der peripatetischen Philosophie und beim gegenwärtigen Wissen im Sinne des überbegrifflichen, überdiskursiven Erleuchtungswissens gemäss der platonischen Lehre um zwei wohl nicht einander entgegengesetzte, aber doch voneinander abgesetzte Erkenntnisakte, jeder auf einer eigenen Stufe, wobei die Stufe des gegenwärtigen Wissens der Stufe des begrifflichen Wissens übergeordnet ist. Für die Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins hingegen sind mittelbares Wissen im Sinne des begrifflichen, diskursiven Wissens nach der peripatetischen Methode und gegenwärtiges Wissen im Sinne des überbegrifflichen, überdiskursiven Erleuchtungswissens gemäss der platonischen Lehre in einem einzigen Erkenntnisakt, eben dem des Urteils, vereint, wobei Wissen nach dem ersteren Verständnis die erste und Wissen nach dem letzteren Verständnis die zweite Hinsicht des Urteils bilden. Auch in diesem Punkt erscheint die Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins als Vereinbarung zwischen aristotelischer und platonischer Philosophie. Das gegenwärtige Wissen, verstanden als Gegenwart der Existenz des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt, macht ja aber das Urteil gemäss seiner zweiten Hinsicht aus im Unterschied zu dessen sprachlichem Ausdruck, 197 Betrachter der abendländischen Geistesgeschichte mag diese Auffassung der Vereinigung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt an die Erkenntnislehre des Thomas von Aquin erinnern: Vgl. Schwarz, 1996:215.
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dem Urteil gemäss der ersten Hinsicht, in welcher dieses ein mittelbarer Gehalt ist, der die Gegenwart der Essenz des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt vermittelt. So liegt die Unzulänglichkeit derjenigen Lehren, die nicht die Einheit von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt nach dem Verständnis der Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins vertreten, aus Sicht dieser letzteren denn auch im Grunde darin, dass jene Lehren zwischen dem sprachlichen Ausdruck des Urteils und dem Gegenstand des Urteils nicht unterscheiden. Und zwar ergibt sich diese Unzulänglichkeit im Falle der Erleuchtungsphilosophen daraus, dass sie die Essenz, die nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nur zum sprachlichen Ausdruck des Urteils gehört, als den Gegenstand, und zwar als den einzigen Gegenstand, des Urteils auffassen und davon ausgehend dann Essenz überhaupt mit der Wirklichkeit gleichsetzen. Im Falle der Peripatetiker ergibt sich diese Unzulänglichkeit daraus, dass sie in der Zweiheit von Essenz und Existenz, die nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ebenfalls nur zum sprachlichen Ausdruck des Urteils gehört – etwa des Urteils „Der Stern ist existent“ –, sowohl Essenz – in diesem Beispiel „Stern“ – als auch Existenz – hier ausgedrückt im Prädikat „existent“ – beide zusammen als den Gegenstand des Urteils auffassen und davon ausgehend dann die Zweiheit von Essenz und Existenz mit der Wirklichkeit gleichsetzen. Weil aber den Vertretern von Mullā Ṣadrās Lehre zufolge die Wirklichkeit, d. h. der Gegenstand unseres Urteils, nicht dasselbe ist wie der sprachliche Ausdruck unseres Urteils über die Wirklichkeit, laufen für sie Auffassungen wie diese auf eine Entgegensetzung und eben nicht auf eine Einheit zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt hinaus.¹⁹⁸ So wollen denn Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī im Zeichen der Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit der Existenz genau zwischen dem gedanklichsprachlichen Ausdruck und dem Gegenstand eines Urteils unterschieden wissen, wobei das Urteil nach ersterem Verständnis bloss innergeistig und subjektiv ist und Essenz besagt, nach letzterem aber objektiv – und dies bedeutet: von voller Seinsbezogenheit – ist und Existenz besagt. Was nun ferner das Urteil im ersteren Sinne betrifft, so mag es manchem einfallen, unter diesem die Formulierung und damit eben die Form des Urteils zu verstehen. Diese Wortwahl könnte aufs erste Verwirrung stiften, setzt die Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins doch Form eben nicht mit Essenz, welcher der gedanklich-sprachliche Ausdruck unserer Urteile entspricht, sondern vielmehr mit Existenz gleich, mit dem Aussergeistigen und dessen Sachverhalten also, den denkunabhängigen Gegenständen unserer Urteile.¹⁹⁹ Diese Gleichsetzung zwischen Form und Existenz gilt in Mullā Ṣadrās Lehre aber nur für das, was von Gott ausgeht, d. h. für die aussergeistige 198 Vgl. Kamal, 2006:8; Ṭālebzādeh, 1385b:100 ff. 199 Vgl. Kamal, 2006:67.
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Wirklichkeit. Die Form – die Formulierung – eines Urteils ist aber nicht etwas, das von Gott ausgeht. Sie ist nicht Gottes Wort oder Gottes Werk. Sie ist Menschenwort und Menschenwerk. Sie geht von uns Menschen aus. Für das, was von Gott ausgeht, d. h. die aussergeistige Wirklichkeit und damit die Gegenstände unserer Urteile, gilt also nach Mullā Ṣadrās Lehre, dass Form Existenz bedeutet. Für das, was vom Menschen ausgeht, d. h. für den gedanklich-sprachlichen Ausdruck, die Formulierung von Urteilen als Vollzug der Erkenntnis unseres Verstandes, gilt nach dieser Lehre, dass Form Essenz bedeutet. Essenz ist, so gesehen, das, was nur vom Menschen ausgeht, d. h. das Innergeistige, Subjektive. Was von Gott ausgeht, d. h. das Aussergeistige, Objektive, als die aussergeistige Wirklichkeit, ist Existenz.²⁰⁰ So vollendet sich die Erkenntnis im Sinne der Vereinigung zwischen Erkennendem und Erkannten denn also im Urteil, indem dieses sich als objektiver, d. h. voll seinsbezogener Akt, mit dem Sein, der Grundlage der Wirklichkeit, auch der Wirklichkeit seiner selbst, verbindet. Der Vollzug des Seins im Urteil ist es auch, was das Urteil wahrheitsdifferent, somit die Frage „Wahr oder falsch“ überhaupt anwendbar macht.²⁰¹ Was es im Lichte der vorigen Überlegungen dann aber mit dem, was wir gemeinhin Irrtum nennen, überhaupt auf sich hat, dies erklärt Ṭabāṭabāʾī unter anderem anhand des folgenden Beispiels: „[…] wenn wir sagen: ‚Ein Dieb ist ins Haus gekommen‘ und diese Aussage, einmal angenommen, falsch ist […], dann ist der Fehler auf eines der beiden Glieder des Aussagesatzes [d. h. Subjekt oder Prädikat] (oder auf beide) zurückzuführen, nicht auf das Urteil […].“²⁰² Denn, wie der Gelehrte in der Einleitung zu diesem Beispiel bemerkt: „[…] das Urteil kann nicht falsch sein, weil es ein aussergeistiger Sachverhalt ist, einem aussergeistigen Sachverhalt das Attribut ‚falsch‘ aber gar nicht zukommen kann […].“²⁰³ Und seine Bemerkung in dem Beispiel selbst, dass, einmal angenommen, unsere Aussage „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“ sei falsch, dieser Fehler entweder auf das Subjekt, d. h. „Dieb“, oder auf das Prädikat, d. h. „ins Haus kommen“, zurückzuführen sei, erläutert Ṭabāṭabāʾī mit den Worten: „[…] entweder ist also eine Person ins Haus gekommen, aber es ist z. B. unser Bruder, nicht ein Dieb, so dass wir ‚Dieb‘ an die Stelle von ‚Bruder‘ gesetzt haben, oder aber es handelt sich tatsächlich um einen Dieb, aber er ist nicht ins Haus gekommen, sondern draussen an der Türe vorbeigegangen, und wir haben gemeint, er sei ins Haus hereingekommen und haben deshalb ‚Hereinkommen‘ an die Stelle von ‚draussen an der Türe Vorbeigehen‘ gesetzt (oder aber wir haben 200 Vgl. Nasr, 1996:287. 201 Vgl. Brugger, 1963:288 („Setzung“). 202 T, 1381, I:212. 203 Ebda.
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uns in beider Hinsicht geirrt). Letztlich haben wir also ein nicht zugehöriges Subjekt an die Stelle des zugehörigen Subjekts gesetzt oder ein nicht zugehöriges Prädikat an die Stelle des zugehörigen Prädikates oder beides.“²⁰⁴ Allerdings, so gibt der Gelehrte in der Einführung zu dem Beispiel zu bedenken, „[…] unterliegen auch die Glieder des Aussagesatzes selbst insofern, als es sich bei ihnen um ‚isolierte Begriffe‘ ohne Urteil handelt, nicht der Frage nach [richtig oder] falsch.“²⁰⁵ „In dem Fall nun“, so fährt Ṭabāṭabāʾī fort, „dass wir ein nicht zugehöriges Subjekt an die Stelle des zugehörigen Subjekts gesetzt haben,“ – diesen Fall nimmt Ṭabāṭabāʾī am eingehendsten durch – „müssen wir zwischen dem nicht zugehörigen Subjekt und dem betreffenden Subjekt eine Verbindung und Selbigkeit gesehen haben, so dass wir geurteilt haben, dass die beiden eins seien, und das eine für das andere gehalten haben. So kennen wir etwa, was das obige Beispiel angeht, den Dieb als Person mit hohem Wuchs, dichtem Haupthaar und schwarzer Kleidung und erkennen auch unseren Bruder an eben diesen Merkmalen […].“²⁰⁶ Auf der Stufe der Sinneswahrnehmung ist nach Tabātabāʾi in der vorliegenden Situation deshalb folgendes vorgegangen: „[…] in Wirklichkeit haben wir gesehen, dass eine Person mit hohem Wuchs, dichtem Haar und schwarzer Kleidung ins Haus gekommen ist (und dieses Urteil ist richtig) […].“²⁰⁷ Auf der Stufe des Sehens, unserer Sinne also – denn von einem Urteil in der Bedeutung eines Sinnesurteils ist hier die Rede –, liegt demnach kein Irrtum vor. Ebenso wenig liegt in der Feststellung auf den weiteren Stufen, dass hoher Wuchs, dichte Hauptbehaarung und schwarze Gewandung gemeinsame Merkmale des Diebes und unseres Bruders sind, ein falsches Urteil vor.²⁰⁸ „Wenn wir sagen: ‚Ein Dieb ist ins Haus gekommen‘“, so erläutert Ṭabāṭabāʾī, „haben wir von der Person, die das Haus betreten hat, nur die gemeinsamen Merkmale beobachtet. Noch dazu war es Nacht, und die Türe des Hauses wurde geräuschlos geöffnet, und dies gehört beides zu den allgemeinen Merkmalen eines Diebes […].“²⁰⁹ Weil also in unserem Geiste die Merkmale „hoher Wuchs“, „dichte Behaarung“ und „schwarze Gewandung“ mit unserem Bruder verbunden – in der Fachsprache: „assoziiert“ – sind, an unserem Bruder hinsichtlich dieser Merkmale aber eine Ähnlichkeit mit dem Dieb besteht, haben wir bei der Feststellung der genannten Merkmale dieselben nicht auf den Bruder, sondern gleich auf den Dieb bezogen und so „Dieb“ an die Stelle von „Bruder“ gesetzt – mit dem Ausdruck der Philosophie: „substituiert“.
204 Ebda. 205 Ebda. 206 Ebda. 207 T, 1381, I:213. 208 Vgl. ebda. 209 T, 1381, I:212 f.
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Was Ṭabāṭabāʾī in diesem Teil seines Beispiels beschreibt, ist also eine Substitution. Dies führt uns letztlich zu Aristoteles, der als eines der Gesetze für das Zustandekommen von Assoziationen die Ähnlichkeit erwähnt, die sich selbst wieder auf die Substitution zurückleiten lässt.²¹⁰ Die Assoziation aber ist der Vorstellungskraft zugeordnet.²¹¹ Die Vorstellung ist denn auch mit der Kraft gemeint, von der Ṭabāṭabāʾī im Anschluss an seine vorigen Bemerkungen sagt: „[…] aufgrund eben dieser Kraft, welche Dieb und Bruder in eins gesetzt [d. h. den einen dem anderen substituiert] hat, haben wir dort, wo in Übereinstimmung mit dem, was wir gesehen haben, die Aussage ‚Eine Person mit hohem Wuchs, dichtem Haar und schwarzer Kleidung ist ins Haus gekommen‘ einen Anwendungsfall hat, gesagt: ‚Ein Dieb ist ins Haus gekommen.‘ Und auch dieses Urteil“, so fährt Ṭabāṭabāʾī fort, „im Bezugsrahmen eben dieser Kraft ist richtig […].“²¹² Denn das Urteil der Vorstellungskraft, von der hier die Rede ist, sprachlich ausgedrückt in dem Satz „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“, meint mit „Dieb“ gar nicht ein Objekt der aussergeistigen Wirklichkeit, sondern lediglich den Träger der besagten Merkmale „hoher Wuchs“, „dichte Hauptbehaarung“ und „schwarze Gewandung“. Dass ein Dieb im allgemeinen Träger dieser Merkmale ist, trifft aber zu, und insofern, d. h. „im Bezugsrahmen eben dieser Kraft“, der Vorstellungskraft eben, ist die Aussage „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“ richtig. Ein Irrtum ergibt sich erst, wenn wir „Dieb“ im Sinne eines Trägers der besagten Merkmale „hoher Wuchs“, „dichte Hauptbehaarung“ und „schwarze Gewandung“ von „Dieb“ im Sinne eines Objektes der aussergeistigen Wirklichkeit, eines Objektes, das wir etwa, wie im behandelten Beispiel, durch unseren Gesichtssinn wahrnehmen, nicht unterscheiden. Erst dann, erst „[…] wenn“, in Ṭabāṭabāʾīs Worten, „es [d. h. das Urteil der Vorstellungskraft] mit dem Zeugnis der Sinne in Beziehung gesetzt wird, wird es falsch.“²¹³ Eine Vorstellung, verstanden als ein blosser innergeistiger Gehalt ohne Ansehung einer Beziehung zur Aussenwelt, kann also nicht der Frage nach richtig oder falsch unterliegen. Erst wenn wir eine Vorstellung im Sinne eines innergeistigen Abbildes von einem Ding der aussergeistigen Wirklichkeit verstehen, behaupten wir, dass zwischen dem Abbild, unserer Vorstellung eben, und dem, von dem es Abbild ist, dem Ding der aussergeistigen Wirklichkeit also, eine Beziehung – eine Beziehung etwa im Sinne einer Ähnlichkeit – besteht, und erst diese Behauptung unterliegt der Überprüfbarkeit durch die Frage nach richtig oder falsch. Auch in Ṭabāṭabāʾīs Gedankengang an dieser Stelle klingt Peripatetisches an: So weist Aristoteles selbst darauf hin, dass eine 210 Vgl. Brugger, 1963:21. 211 Vgl. ebda. 212 T, 1381, I:213. 213 Ebda.
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Vorstellung, aufgefasst als blosser innergeistiger Gehalt, als Anschauung „an und für sich selbst“²¹⁴, wie er es ausdrückt, mit keinem Anspruch auf Wahrheit verbunden ist, sondern „in der Seele eigentlich nur ein Gedanke ist.“²¹⁵ Wenn man hingegen die Vorstellung „als Abbild“²¹⁶ auffasst – aber erst dann –, kann sie wahr oder falsch sein.²¹⁷ Und auch für Aristoteles tritt der Irrtum genau dann auf, „wenn man ein Nicht-Abbild als Abbild anschaut.“²¹⁸ Dass es sich bei derjenigen Kraft, welche Dieb und Bruder, d. h. ein nicht zugehöriges Subjekt und das zugehörige Subjekt, in eins gesetzt hat, tatsächlich um die Kraft der Vorstellung handelt, stellt Ṭabāṭabāʾī ausdrücklich fest dort, wo er im Rahmen seines Beispiels den Fall behandelt, wo wir an die Stelle des zugehörigen Prädikats „draussen an der Türe Vorbeigehen“ das nicht zugehörige Prädikat „ins Haus Kommen“ setzen. In diesem Fall hat die Vorstellung zwischen „an der Türe Vorbeigehen“ und „durch die Türe ins Haus Kommen“ eine Assoziation vorgenommen aufgrund gemeinsamer Merkmale zwischen den beiden Handlungen, gemeinsamer Merkmale, die Ṭabāṭabāʾī mit den Worten beschreibt: „[…] in der Tat haben wir eine Bewegung auf dem Weg und ein Hingelangen bis vor die Türe gesehen, was beides den gemeinsamen Bereich zwischen ‚Hereinkommen‘ und ‚Vorbeigehen‘ ausmacht.“²¹⁹ „Und dieses Urteil ist richtig“²²⁰, so fährt der Gelehrte fort, wobei er hier mit Urteil das Urteil der Vorstellung meint, dass Bewegung auf dem Weg und Hingelangen bis vor die Türe die gemeinsamen Merkmale zwischen Hereinkommen und Vorbeigehen sind.²²¹ Wenn die Vorstellung also, gestützt auf dies ihr Urteil, sagt: „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“, wenn wir also, wie Ṭabāṭabāʾī es ausdrückt, „nachdem wir Hereinkommen und Vorbeigehen in eins gesetzt haben, ‚Hereinkommen‘ an die Stelle von ‚Vorbeikommen‘ setzen, so ist dieses Urteil richtig, aber nur innerhalb des Bereiches der Betätigung dieser Kraft (der Vorstellung), welche die beiden in eins setzt, nicht innerhalb des Bereiches des Urteils der Sinne.“²²² Denn auch in diesem Fall meint das Urteil der Vorstellungskraft, die hier mit Namen genannt ist, sprachlich ausgedrückt in dem Satz „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“, mit „ins Haus Kommen“ nicht einen Sachverhalt der aussergeistigen Wirklichkeit, sondern lediglich den Träger der besagten Merkmale „Bewegung auf dem Weg“ und „Hingelangen bis vor die Türe“. Dass 214 Arist. De Mem.:450b, 24 f. 215 Arist. De Mem.:451a, 1. 216 „oἷoν εἰκών“. 217 Vgl. Arist. De Mem.:450b, 27. 218 Arist. De Mem.:451a, 11 f. 219 Ebda. 220 Ebda. 221 Vgl. ebda. 222 Ebda.
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die Handlung „ins Haus Kommen“ Trägerin dieser Merkmale ist, trifft aber zu, und insofern, d. h. „innerhalb des Bereiches der Betätigung dieser Kraft (der Vorstellung)“, ist die Aussage „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“ richtig. Ein Irrtum ergibt sich auch in diesem Fall erst, wenn wir „ins Haus Kommen“ im Sinne eines Trägers der besagten Merkmale „Bewegung auf dem Weg“ und „Hingelangen bis vor die Türe“ von „ins Haus Kommen“ im Sinne eines Sachverhaltes der aussergeistigen Wirklichkeit, eines Sachverhaltes, den wir etwa, wie im behandelten Beispiel, durch unseren Gesichtssinn wahrnehmen, nicht unterscheiden. Aus all dem geht hervor, dass, in den Worten Ṭabāṭabāʾīs, „[…] dort, wo wir Fehler machen, keine einzige unserer Wahrnehmungs- und Urteilskräfte in der ihr eigenen Betätigung einen Fehler macht […].“²²³ Genau dies meint auch Muṭahharī mit seiner Äusserung: „[…] keine einzige Wahrnehmungskraft des Menschen begeht in ihrer jeweiligen Funktion Fehler.“²²⁴ Deshalb, so Ṭabāṭabāʾī, „[…] kann keine Wahrnehmung ein Fehler im absoluten Sinne sein […].“²²⁵ Denn keine Wahrnehmungskraft begeht als solche, d. h. substantiell, Fehler, und genau das meinen die beiden Gelehrten mit Bemerkungen wie „[…] das Vorkommen des Irrtums ist akzidentell, nicht substantiell […]“²²⁶ – so Muṭahharī – oder – so Ṭabāṭabāʾī – „[…] das Auftreten von Fehlern […] ist akzidentell […].“²²⁷ Was wir gemeinhin Fehler oder eben Irrtum nennen, ist also akzidentell, und zwar ist es akzidentell in dem Sinne, dass wir, wie Ṭabāṭabāʾī es formuliert, „[…] das richtige Urteil der einen Wahrnehmungskraft dem Anwendungsfall des richtigen Urteils einer anderen Wahrnehmungskraft beilegen.“²²⁸ Ähnlich drückt es Muṭahharī aus: „Ein jeder der Fehler, die wir auch immer untersuchen mögen, so stellt sich nach genauerer Prüfung heraus, ist kein Fehler im eigentlichen Sinne; vielmehr haben wir die Betätigung, die der einen Wahrnehmungskraft zukommt, auf eine andere Wahrnehmungskraft bezogen.“²²⁹ So hätten wir denn in dem vorigen Beispiel das Urteil der Vorstellung „Ein Dieb ist ins Haus gekommen“, ein Urteil, das im Bezugsrahmen der betreffenden Wahrnehmungskraft, eben der Vorstellung, durchaus richtig ist, einer anderen Wahrnehmungskraft, nämlich den Sinnen, beigelegt, in deren Bezugsrahmen das Urteil „Eine Person mit hohem Wuchs, dichtem Haupthaar und schwarzer Kleidung ist ins Haus gekommen“ richtig ist. Ebenso beschreibt Ṭabāṭabāʾī die Akzidentalität des
223 T, 1381, I:214. 224 M, 1381, I:179. 225 T, 1381, I:213. 226 Ebda. 227 T, 1381, I:214. 228 T, 1381, I:213. 229 M, 1381, I:179.
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Irrtums mit den Worten: „[…] in den jeweiligen Anwendungsfällen zweier verschiedener Urteile, deren jedes eine in den Bereich der zugehörigen Wahrnehmungskraft fällt, legen wir etwa das Urteil der einen Wahrnehmungskraft dem Anwendungsfall [des Urteils] der anderen Wahrnehmungskraft bei (das Urteil der Vorstellung dem Anwendungsfall des Urteils der Sinne oder dem Anwendungsfall des Urteils des Verstandes). Und dieser Punkt,“ so schliesst der Gelehrte seine Ausführung, „liegt der Aussage der Philosophen zugrunde, die da lautet: ‚Der Irrtum in den Verstandesurteilen kommt durch das Eindringen der Vorstellungskraft zustande‘“,²³⁰ wobei Ṭabāṭabāʾī mit Philosophen hier Philosophen im eigentlichen Sinne, d. h. Realisten, meint. Diese Definition von Irrtum – denn um eine Definition handelt es sich hier – geht aber auf philosophische Lehren des Altertums, besonders auf die des Aristoteles, zurück. So bemerkt dieser etwa, dass, wenn der Verstand aus irgendeinem Grunde ausfällt, seine Stelle nicht einfach unbesetzt bleibt – was ja immerhin auch denkbar wäre –, sondern es dann halt die nächstuntere Erkenntniskraft ist, die Vorstellungskraft eben, die an dessen Stelle tritt,²³¹ und dass dann, weil Verstand und Vorstellungskraft nicht dasselbe Urteil abgeben,²³² die Besetzung des Zuständigkeitsbereiches des Verstandes durch die Vorstellung zu Täuschung führt.²³³ Innergeistiges setzt sich dann also an die Stelle von Aussergeistigem, Schein tritt an die Stelle von Sein, Meinung kommt als Erkenntnis daher. Und genauso wie Ṭabāṭabāʾīs Ausführungen über den Irrtum selbst auf Aristoteles zurückgehen, so stehen sie bei ihm wie bei Aristoteles zum Teil auch²³⁴ im Zeichen der Widerlegung der Idealisten. Dass es sich bei dem, was wir Irrtum nennen, nicht um etwas Substantielles handelt, bedeutet, dass es nicht eigentlich existiert. Daraus wiederum ergibt sich, dass grundsätzlich keine Fehlbarkeit des Menschen gegeben ist, der Mensch als solcher also grundsätzlich wahrheitsbefähigt ist. Mit ihrer Begründung der grundsätzlichen Wahrheitsbefähigung des menschlichen Geistes beanspruchen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, der idealistischen Position die Handhabe gegen den Realismus zu entziehen. Mit dieser Auffassung von der grundsätzlichen Unfehlbarkeit des Menschen überhaupt scheint die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nun aber aufs erste der Lehre der Schia zu widersprechen, dass unter den Menschen nämlich nur den Imamen, jenen ganz besonderen Menschen, Unfehlbarkeit zukomme. Der Widerspruch lässt sich aber leicht als scheinbar erweisen: Nach dem Verständnis von Irrtum im Lichte der Lehre von der Eigentlichkeit des
230 T, 1381, I:214; vgl. Brugger, 1963:270 („Schein“). 231 Vgl. Bundy, 1927:78. 232 Vgl. Arist. De Insom.:460b, 16 ff. 233 Vgl. Bundy., 1927:77. 234 Vgl. Arist. Met.:1009a, 38 ff.; Schofield, 1997:256 ff.
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Seins sind alle Menschen, Imame ebenso wie Nicht-Imame, in der Tat im substantiellen Sinne unfehlbar. Alle Menschen ausser den Imamen sind aber sehr wohl fehlbar im akzidentellen Sinne, während die Imame unter den Menschen auch im akzidentellen Sinne nicht fehlbar sind.
3.1.3 Philosophie in Gegenüberstellung zu Einzelwissenschaft Setzen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie dem Relativismus als Dogmatismus und dem Idealismus als Realismus entgegen, so stellen sie sie der Einzelwissenschaft als Universalwissenschaft²³⁵, ja, als die Universalwissenschaft schlechthin, gegenüber, sei es unter dem Namen Philosophie oder Universalwissenschaft selbst, sei es unter einer Reihe verschiedener anderer Namen gleichen Sinnes, je nach dem, welche Besonderheit der Philosophie die beiden Gelehrten bei der Erklärung von deren universalwissenschaftlichem Rang gegenüber den Einzelwissenschaften hervorheben wollen. Der Rang der Philosophie als der Universalwissenschaft gegenüber der Einzelwissenschaft gründet für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zum einen darin, dass der Gegenstand der Philosophie selbst universaler ist, als es jeder Gegenstand der Einzelwissenschaft ist oder überhaupt sein kann, und zwar deshalb, weil es sich bei dem besonderen Gegenstand der Philosophie um den universalsten Gegenstand überhaupt handelt, nämlich das Sein. So sagt etwa Muṭahharī: „Die Philosophie handelt von Sein oder Nichtsein der Dinge und untersucht die Bestimmungen des Seins als solchen […].“²³⁶ Und er weist darauf hin, dass die Philosophie seit alters her auch als Universalwissenschaft bezeichnet worden sei, und zwar „[…] in Hinblick darauf, dass es in ihr stets um den universalsten aller Gegenstände ging, nämlich das ‚Sein‘, und sie die universalste aller Fragen umgriff […].“²³⁷ Angesichts dieses ihres besonderen Untersuchungsgegenstandes ist Philosophie im Verständnis von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī daher eigentlich Seinslehre, Ontologie, und im Sein gründet für sie auch die Stellung der Philosophie als Universalwissenschaft gegenüber den anderen Wissenschaften, eine Stellung, die ihr auch Fārābī in seinem Katalog der Wissenschaften zuweist, ebenso wie ja auch ihr Anspruch auf Realismus in der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte sowie auf Dogmatismus in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit im Sein gründet. 235 Arabisch/persisch „ʿilm kullī/ʿelm-e kollī“: Vgl. M, 1381, I:40. 236 M, 1381, I:44. 237 M, 1381, I:40 f.
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Dass diese beiden Denker die Universalwissenschaftlichkeit der Philososphie mit der Gleichsetzbarkeit derselben mit Ontologie begründen, lässt sich in der Tat geradezu daraus herleiten, dass sie Philosophie ja auch mit Realismus, der Gegenposition zum Relativismus oder Idealismus, gleichsetzen. Denn realistisch kann in ihrer Auffassung nur eine Disziplin sein, für die Erkennen im Sein gründet. Dies bedeutet aber, dass der Gegenstand der betreffenden Disziplin, unter welcher Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie verstehen, das Sein als solches sein muss und nicht einer der Gegenstände der Einzelwissenschaften sein kann. Dies wiederum setzt voraus, dass es sich bei der betreffenden Disziplin, der Philosophie eben, nicht selbst um Einzelwissenschaft handeln kann, sondern um Universalwissenschaft handeln muss. Philosophie, so verstanden, lässt sich geradezu definieren als die Vereinigung von Realismus und Universalwissenschaftlichkeit. Daraus ergibt sich des weiteren, dass genauso, wie das Sein als solches, der Gegenstand der Philosophie, die ontologische Grundlage aller anderen Gegenstände und damit auch all der Gegenstände ist, mit denen sich die Einzelwissenschaft auch immer befassen mag, die Philosophie, verstanden als Seinslehre, die epistemologische Grundlage der Einzelwissenschaften ist. Das Verhältnis zwischen der Universalwissenschaft Philosophie in ihrem Verständnis als Seinslehre und den Einzelwissenschaften führt Muṭahharī an einer Stelle aus mit den Worten: „[…] eine jede wissenschaftliche Disziplin, Naturwissenschaft genauso wie mathematische Fächer, ob sie nun empirisch vorgeht oder mittels Demonstration und Syllogismus, setzt ein bestimmtes Ding, das nach gängiger Sprachregelung als Gegenstand der betreffenden Wissenschaft bezeichnet wird, als existent und wirklichkeitshaltig voraus und befasst sich mit der Untersuchung der Wirkungen und Zustände desselben. Dabei ist klar, dass die Erweisbarkeit eines Zustandes sowie das Ausüben einer Wirkung einem Ding nur dann zukommen können, wenn das betreffende Ding selbst existent ist. Wenn wir uns also vergewissern wollen, dass ein solcher Zustand und solche Wirkungen dem betreffenden Ding zukommen, müssen wir uns zuvor der Existenz des betreffenden Dinges selbst vergewissern, und diese Gewissheit kann uns nur die ‚Philosophie‘ geben.“²³⁸ Und, so äussert sich Ṭabāṭabāʾī im selben Sinne, „eine Ordnung demonstrativer Untersuchungen, welche eben diesem Ziel und Zweck dienen und aus denen sich der Aufweis der wirklichen Existenz der Dinge, die Bestimmung der Ursachen und Gründe für ihre Existenz sowie von Existenzweise und Existenzstufe derselben ergeben, wird ‚Philosophie‘ genannt.“²³⁹ „Die anderen Wissenschaften“, so derselbe Gelehrte weiter, „unterscheiden sich davon hinsichtlich 238 M, 1381, I:39. 239 T, 1381, I:39.
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der Vorgehensweise bei ihrer Untersuchung als auch hinsichtlich des Ergebnisses ihrer Forschung. Welche andere Wissenschaft wir auch immer betrachten, so sehen wir, dass sie einen oder mehrere Gegenstände als existent voraussetzt und sich erst dann mit der Suche nach den Eigenschaften und Wirkungen desselben befasst und diese erklärt. Keine dieser Wissenschaften sagt, dass dieser oder jener Gegenstand existent sei oder in welcher Weise er existent sei. Vielmehr legt sie die Eigenschaften und Bestimmungen eines als existent vorausgesetzten Gegenstandes dar und überantwortet [die Frage nach] Sein und Seinsweise desselben einer anderen Stelle (der Sinneswahrnehmung oder der philosophischen Demonstration).“²⁴⁰ Die Frage nach Sein oder Nichtsein eines Gegenstandes ist aber, so macht Ṭabāṭabāʾī im selben Zusammenhang klar, säuberlich von der Frage nach dessen Eigenschaften und Bestimmungen zu unterscheiden, denn: „Ebenso, wie wir in der Frage der Eigenschaften und Bestimmungen der Dinge zuweilen in Irrtum oder Zweifel geraten, indem wir beispielsweise sagen: ‚Die und die Zusammensetzung hat nicht den und den Geschmack‘ […], obwohl sie ihn hat, oder umgekehrt, so unterliegen wir auch in der grundsätzlichen Frage von Sein oder Nichtsein der Dinge zuweilen dem Irrtum oder der Unwissenheit, indem wir beispielsweise sagen: ‚Immaterielles ist nicht aussergeistig existent‘ oder ‚Zufall und Zufallsglück sind existent.‘ Daraus erhellt, dass die Methode der Untersuchung in den beiden angeführten Beispielen nicht von gleicher Art ist. Vielmehr gilt es erst, die Existenz eines Dinges festzustellen oder dieses als existent vorauszusetzen, und erst dann, die Eigenschaften und Bestimmungen desselben zu behandeln.“²⁴¹ Diese Unterscheidung Ṭabāṭabāʾīs zwischen der Frage nach dem Sein der Dinge, dem Gegenstand der Philosophie, und der Frage nach den Eigenschaften und Bestimmungen der Dinge, dem Gegenstand der Einzelwissenschaft, verweist wieder auf Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins. Dass Ṭabāṭabāʾī an dieser Stelle nämlich das Sein der Dinge und die Frage nach diesem nicht in eine Reihe mit den Eigenschaften und Bestimmungen der Dinge und der Frage nach diesen stellt, bedeutet, dass es sich für ihn beim Sein der Dinge eben nicht selbst auch um eine der Eigenschaften und Bestimmungen der Dinge handelt. Denn die Eigenschaften und Bestimmungen eines Dinges geben wohl an, um was für ein Ding es sich handelt – sein Wesen also, seine Essenz –, nicht aber, dass es existiert – das Sein, die Existenz des Dinges eben. Die Wesensbestimmung des Dinges durch die Angabe von dessen Eigenschaften wird nämlich gleich ausfallen, unabhängig davon, ob ich mit ihnen das Ding nun als einen blossen Gehalt meiner Vorstellung oder als ein Ding in der Aussenwelt beschreibe. Im Wesen, in der Essenz, können also nicht die aussergeistige Exis240 T, 1381, I:39 ff. 241 T, 1381, I:42 f.
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tenz und damit die Wirklichkeit des Dings begründet sein. Dies ist aber nichts anderes, als was Muṭahharī am Beispiel „Mensch“²⁴² und Ṭabāṭabāʾī am Beispiel „Essen“²⁴³ als den Grundgedanken der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins dargelegt haben. Die Wirklichkeit der Dinge als den Trägern von Eigenschaften und Bestimmungen, dem Gegenstand der Einzelwissenschaften, liegt also im Sein, dem Gegenstand der Philosophie als der Universalwissenschaft. So ergibt sich aus Ṭabāṭabāʾīs Bemerkung denn im weiteren, dass für Denker wie ihn die Universalwissenschaft Philosophie, verstanden als Seinslehre, und zwar als Seinslehre im Sinne von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, überhaupt erst die Existenz der Untersuchungsgegenstände der Einzelwissenschaften begründet. In diesem Sinne äussert auch Muṭahharī im Anschluss an seine Bemerkung, dass die Philosophie von Sein oder Nichtsein der Dinge handle und die Bestimmungen des Seins als solchen untersuche: „[…] sie befasst sich niemals mit den Bestimmungen und Wirkungen, die einem oder mehreren bestimmten Gegenständen eigen sind, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die ständig einen oder mehrere Gegenstände als existent voraussetzen und sich mit der Untersuchung von deren Bestimmungen und Wirkungen beschäftigen. Die Forschung der Einzelwissenschaften gilt grundsätzlich aber nicht [der Frage nach] dem Sein oder Nichtsein der Dinge.“²⁴⁴ Und er erläutert diesen Punkt unter anderem mit folgendem Beispiel: „[…] wenn wir etwa über Körper die Behauptung aufstellen: ‚Jeder Körper hat eine Form‘ oder: ‚Jeder Körper hat Strahlung‘, so gehört dies in die Naturwissenschaften. Wenn wir aber sagen: ‚Sind Körper (Dinge mit dreidimensionaler Ausdehnung) in der Aussenwelt existent oder nicht, oder ist dieses oder jenes Ding, das wir mit unseren Sinnen als Körper und als dreidimensional ausgedehnt wahrnehmen, in Wirklichkeit eine Zusammensetzung aus Teilchen ohne Ausdehnung?‘, so gehört dies in die Philosophie.“²⁴⁵ Dass die Philosophie, wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī sie verstehen, also überhaupt erst die Existenz der Untersuchungsgegenstände der Einzelwissenschaften epistemologisch begründet, ist in der Auffassung der beiden Gelehrten auch die wichtigste Hinsicht, in der die Einzelwissenschaften der Philosophie bedürfen. So sagt Ṭabāṭabāʾī: „[…] mit welcher Disziplin unter den Wissenschaften wir uns auch befassen, so bedarf der Nachweis einer jeder Eigenschaft an den aussergeistig existierenden Dingen, die Gegenstand [und Träger] der betreffenden Eigenschaft sind, des vorgängigen Nachweises des betreffenden Gegenstandes.“²⁴⁶ Da
242 Vgl. M, 1381, III:53. 243 Vgl. T, 1381, I:88. 244 M, 1381, I:44. 245 Ebda. 246 T, 1381, I:38 f.
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die Wirklichkeit eines jeden Dinges nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī vertritt, aber in dessen Existenz liegt, ist mit dem Nachweis des betreffenden Gegenstandes, den nur die Philosophie leistet, nichts anderes gemeint als der Nachweis der Existenz des betreffenden Gegenstandes. Sache der Philosophie ist also das Urteil über Existenz oder Nichtexistenz der Dinge. So ist auch Ṭabāṭabāʾīs Bemerkung zu verstehen: „[…] alle Wissenschaften bedürfen für die Grundlegung ihrer Forschungen der Philosophie […].“²⁴⁷, und für Muṭahharī ergibt sich die Bedürftigkeit der Einzelwissenschaften nach der Philosophie ebenfalls „auf dem Wege des Nachweises der Existenz der Gegenstände jener ersteren.“²⁴⁸ Des weiteren gründet der Rang der Philosophie als der Universalwissenschaft gegenüber der Einzelwissenschaft für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī darin, dass die Philosophie auch in epistemologischer Hinsicht im Verhältnis zur Einzelwissenschaft auf der Stufe des Allgemeineren und Grundsätzlicheren steht. Und zwar ergibt sich dies für die beiden Denker daraus, dass von der Philosophie in ontologischer Hinsicht gilt, dass der Gegenstand derselben, das Sein als solches, selbst der universalste, allgemeinste Gegenstand überhaupt ist und damit allgemeiner als der Gegenstand jeder Einzelwissenschaft. Da nach der Lehre, welcher Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī anhängen, Epistemologie aber in Ontologie, Erkennen in Sein gründet, muss für sie auch gelten, dass, wenn die Philosophie in ontologischer Hinsicht im Verhältnis zur Einzelwissenschaft allgemeiner ist, sie dies auch in epistemologischer Hinsicht ist. Auch aufgrund der Allgemeinheit in epistemologischer Hinsicht steht für sie die Philosophie in der Gegenüberstellung mit der Einzelwissenschaft folglich im Rang der Universalwissenschaft. Dieser Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft betrifft den Unterschied zwischen den beiden in Erkenntnisweise und Erkenntniswert, einen Unterschied, auf den Muṭahharī etwa mit der Bemerkung hinweist: „Die Philosophie mischt sich niemals in die Fragen ein, die zu den Einzelwissenschaften gehören, und ebensowenig lässt sie es zu, dass die Einzelwissenschaften sich in ihren Bereich einmischen.“²⁴⁹ Denn das Verhältnis, das zwischen Philosophie als der Universalwissenschaft und Einzelwissenschaft besteht, ist, so betont der Gelehrte ebenfalls, nicht etwa so zu aufzufassen, „dass ein Teil der Probleme der Einzelwissenschaften in eine Reihe mit den Problemen der Philosophie treten würde oder dass ein philosophisches Problem aus einem einzelwissenschaftlichen Problem abgeleitet würde […].“²⁵⁰ Und was an dieser Stelle unter Ableitung zu verstehen ist, definiert Muṭahharī gleich im Anschluss an 247 T, 1381, I:45. 248 M, 1381, I:45. 249 M, 1381, I:43 f. 250 M, 1381, I:45.
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diese mit den Worten: „[…] Ableitung sagt man dort, wo der Geist aus einem allgemeinen Urteil ein besonderes Urteil folgert bzw. vom Allgemeinen auf das Besondere schliesst […].“²⁵¹ Bei der hier beschriebenen Ableitung handelt es sich mit anderen Worten also um die Deduktion, denn die Deduktion ist die Ableitung, die vom Allgemeinen auf das weniger Allgemeine oder auf das Besondere oder vom Wesen eines Gegenstandes auf dessen notwendige Eigenschaften schliesst.²⁵² Dieses Schliessen mag sich in einer logischen Abfolge von Urteilen, dem Syllogismus, vollziehen wie etwa „Alle Menschen sind sterblich“ – „Sokrates ist ein Mensch“ – also: „Sokrates ist sterblich“, wobei „Alle Menschen sind sterblich“ und „Sokrates ist ein Mensch“ die beiden Vordersätze oder Prämissen bilden und „Sokrates ist sterblich“ den Schlusssatz. Von den beiden Vordersätzen wiederum handelt es sich beim ersten, „Alle Menschen sind sterblich“, um den Obersatz, der den Oberbegriff oder Allgemeinbegriff „Mensch“ enthält und in diesem Sinne ein allgemeines Urteil ausdrückt, und beim zweiten um den Untersatz, der hier den weniger allgemeinen, weil partikularen bzw. individuellen, Begriff „Sokrates“ enthält. Dieser Individualbegriff tritt im Schlusssatz „Sokrates ist sterblich“ als Subjekt auf. Gegenüber dem Obersatz, in dem das Prädikat „sterblich“ von dem Allgemeinbegriff „Mensch“ ausgesagt wird und der daher ein allgemeines Urteil ausdrückt, ist der Schlusssatz, in dem das Prädikat „sterblich“ von einem einzelnen, besonderen Menschen, eben „Sokrates“, ausgesagt wird, weniger allgemein und drückt daher ein besonderes, partikulares Urteil aus. „[…] bei genauer Betrachtung wird erkennbar“, so kommentiert Muṭahharī ein eigenes, logisch gleichwertiges Beispiel für einen solchen deduktiven Syllogismus, „dass das Wissen des Besonderen aus dem Wissen des Allgemeinen hervorgegangen ist und als das Produkt und Ergebnis desselben erscheint.“²⁵³ Damit versucht der Gelehrte zu begründen, dass „[…] ein philosophisches Problem weder dasselbe wie ein einzelwissenschaftliches Problem noch eine Deduktion aus diesem ist […].“²⁵⁴ Denn „[…] natürlich ist es niemals möglich, die Probleme der Philosophie aus den Problemen der Einzelwissenschaften zu deduzieren, denn das, aus dem bei der Deduktion geschlossen wird, muss allgemeiner sein als das Deduzierte selbst. Nun sind aber die Probleme der Philosophie selbst schon die allgemeinsten Probleme, denn der Gegenstand derselben ist das Sein als solches, und das ‚Sein‘ ist der allgemeinste Gegenstand überhaupt.“²⁵⁵
251 Ebda. 252 Vgl. Brugger, 1963:47 („Deduktion“), 148 („Induktion“). 253 M, 1381, I:45. 254 Ebda. 255 Ebda.
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In dem obigen Syllogismus-Beispiel nun ist das Allgemeine, aus dem mittels Deduktion geschlossen wird, der Obersatz, bestehend in dem allgemeinen Urteil „Alle Menschen sind sterblich“. Was den Obersatz „Alle Menschen sind sterblich“ aber überhaupt zu einem allgemeinen Urteil macht, ist, dass er einen Allgemeinbegriff enthält, nämlich den Allgemeinbegriff „alle Menschen“ im Sinne von „der Mensch überhaupt“ oder „die Gattung Mensch“. Der Bereich der Philosophie, eben jener Bereich also, in den die Philosophie keine Einmischung seitens der Einzelwissenschaften zulässt, liegt somit auf der Ebene des Obersatzes und dessen Gehalten in ihrer Allgemeinheit. Was die Gehalte des Untersatzes angeht, so handelt es sich bei diesen in dem vorliegenden Beispiel „Sokrates ist ein Mensch“ nicht um ein allgemeines, sondern um ein besonderes, partikulares, Urteil, denn der Begriff „Sokrates“ über den geurteilt wird, ist seinerseits nicht ein Allgemeinbegriff, sondern bezeichnet nur dieses besondere Einzelwesen „Sokrates“. Allerdings erwähnen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī auch ein Ableitungsverfahren, das im Gegensatz zur Deduktion vom Besonderen, den Einzelwesen also, ausgeht und auf das Allgemeine schliesst. Die Bezeichnung, unter der sie es erwähnen,²⁵⁶ lässt sich mit „Abstraktion“ wiedergeben. Muṭahharī beschreibt sie mit den Worten: „[…] nachdem der Geist mehrere ähnliche Dinge wahrgenommen hat, vergleicht er diese miteinander, sondert die jeweils nur jedem einzelnen von ihnen eigenen Merkmale von dem ihnen allen gemeinsamen Merkmal und bildet aufgrund jenes gemeinsamen Merkmals einen allgemeinen Begriff, der zutreffend von all jenen vielen Einzelwesen ausgesagt werden kann. In diesem Fall sagt man, dass dieser Allgemeinbegriff von den betreffenden Einzelwesen auf dem Wege der Abstraktion gewonnen worden sei wie etwa der [allgemeine] Begriff ‚Mensch‘, der von Zayd, ʿAmr und anderen durch Abstraktion gewonnen worden ist.“²⁵⁷ Bei dem hier geschilderten Verfahren handelt es sich mit anderen Worten also um die Induktion, denn die Induktion ist die Ableitung, die aus beobachteten Einzelfällen oder Einzelwesen ein allgemeines Gesetz zu gewinnen sucht, das auch für die nicht beobachteten Fälle gilt.²⁵⁸ In das Gebiet der Induktion gehören die Gesetze der Einzelwissenschaften, der Naturwissenschaften etwa, die sich auf Beobachtung, Erfahrung also – griechisch: „Empirie“ –, stützen.²⁵⁹ Der Bereich der Einzelwissenschaft, eben jener Bereich also, in den die Philosophie sich nie einmischt, liegt somit auf der Ebene der Induktion bzw. der Einzeldinge, von denen die Induktion ausgeht. Die Einzeldinge und die zugehörigen Einzelbegriffe bilden aber die Gehalte des 256 „intizāʿ/entezāʿ“: T/M, 1381, I:45 f., bzw. „taǧrīd“: M, 1381, I:46. 257 M, 1381, I:46. 258 Vgl. Brugger, 1963:148 f. („Induktion“). 259 Vgl. Ders., 1963:148.
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besonderen Urteils des Untersatzes im Syllogismus, so wie etwa das Einzelwesen „Sokrates“ Gegenstand des besonderen Urteils „Sokrates ist ein Mensch“ in dem obigen Beispiel ist. So können wir auch sagen, dass, während der Bereich der Philosophie auf der Ebene des Obersatzes und dessen allgemeinen Gehalten liegt, der Bereich der Einzelwissenschaft auf der Ebene des Untersatzes und dessen besonderen, partikularen, Gehalten liegt. Auf dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft deutet auch Muṭahharīs Bemerkung, dass die Philosophie in ihren Verfahren, eben etwa dem des Syllogismus, „[…] ein Problem der Einzelwissenschaft dem Untersatz ihres syllogistischen Schlusses (nicht dem Obersatz) zuweist […].“²⁶⁰ Nun geht der Erkenntnisanspruch der Einzelwissenschaft freilich über die schlichte Beobachtung und Beschreibung jeweiliger Einzelfälle oder Einzelwesen hinaus. Blosse Erfahrung von Einzelnem würde auch nicht Wissenschaftlichkeit begründen – ja, eigentlich nicht einmal Wissen, denn zu den entsprechenden Leistungen sind selbst Tiere fähig. Der Anspruch der Einzelwissenschaft auf Wissenschaftlichkeit, ja, überhaupt auf Wissen beruht vielmehr auf der Verallgemeinerung ihrer Befunde aus verhältnismässig wenigen empirisch untersuchten Einzelfällen in dem Sinne, dass sie auf dem Wege der Induktion von den verhältnismässig wenigen beobachteten Einzelfällen auf alle gleichartigen Fälle schliesst.²⁶¹ Solches induktives Schliessen ist aber selbst nur gerechtfertigt, wenn gewisse Prinzipien zugrunde liegen, etwa das Prinzip der Gleichartigkeit, nach dem sich mit Gewissheit bestimmen lässt, welche Fälle überhaupt in die Verallgemeinerung gehören, oder das Kausalitätsprinzip, das eine zufällige Gleichartigkeit der regelmässig beobachteten Einzelfälle ausschliesst und darum eine gewisse Notwendigkeit – ein weiteres Prinzip – des zugrundeliegenden Vorgangs unter den beobachteten Bedingungen fordert.²⁶² Prinzipien wie diese erst gewährleisten die Schlusskraft der Induktion, die Verallgemeinerbarkeit des empirisch beobachteten Einzelnen im Zeichen wissenschaftlicher Gesetzmässigkeit und damit die Wissenschaftlichkeit der Einzelwissenschaft, die sich ja ihrerseits auf Empirie und Induktion stützt.²⁶³ Bei Prinzipien wie Gleichartigkeit, Kausalität und Notwendigkeit handelt es sich daher um Gehalte, die nicht selbst aus der Erfahrung – etwa der Sinneserfahrung – und damit aus der Einzelwissenschaft zu gewinnen sind, sondern nur aus dem Nichtempirischen, Nicht-Sinnlichen, rein Geistigen oder Intellektuellen, und dieses ist eben der ausschliessliche Zuständigkeitsbereich der Philosophie. So sagt Muṭahharī: „[…] Gesetzmässig260 M, 1381, I:46. 261 Vgl. Brugger, 1963:149. 262 Vgl. ebda. 263 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:42 f.
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keit und Schlüssigkeit sämtlicher Gesetze der Einzelwissenschaften beruhen auf einer Ordnung allgemeiner Prinzipien, deren Gültigkeit nur die Philosophie gewährleisten kann.“²⁶⁴ Im Lichte dieser ihrer Bedeutung für die Einzelwissenschaft nennt Muṭahharī die Philosophie, verstanden als Universalwissenschaft, auch die erste, d. h. die grundlegende, Philosophie²⁶⁵ oder auch die erste Weisheit²⁶⁶ – ein Sprachgebrauch, der auf Aristoteles zurückgeht. „Und weil“, wie er im selben Zusammenhang ausführt, „die erste Weisheit […] ausschliesslich das Produkt der Verstandeskraft des Menschen ist und ihre Gehalte ausserhalb der Sinneserfahrung liegen, ist meistens, wenn von Philosophie die Rede ist, eben jene [erste Weisheit] gemeint.“²⁶⁷ Auf jeden Fall ist klar, dass diese Gleichsetzung Muṭahharīs eigenem Verständnis von Philosophie entspricht, denn: „[…] mit Philosophie ist in dieser Abhandlung [des Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus]“, in der es um die Frage „Was ist Philosophie?“ geht, „dasselbe gemeint wie ‚erste Philosophie‘, welche ausschliesslich spekulativ und rein verstandesgestützt ist […].“²⁶⁸ Diese erste Philosophie nun findet sich bei Aristoteles am eingehendsten behandelt in einer Schrift, die unter dem Titel „Metaphysik“, d. h. „Nach der Physik“, bekannt geworden ist. Die Wahl des Titels rührt vielleicht tatsächlich nur daher, dass die betreffende Schrift in den üblichen Aristoteles-Ausgaben nach dem Werk über Physik kommt.²⁶⁹ Jedoch liegen auch die Gehalte der ersten Philosophie selbst, um die es in der Metaphysik geht, in ihrer reinen Geistigkeit ausserhalb der Gegenstände der Physik bzw. des Physischen und damit der Körperwelt, die den Zuständigkeitsbereich der Sinneserfahrung bzw. überhaupt der Erfahrung, der Empirie eben, ausmachen. So ist das Wort „Metaphysik“ denn mit der Zeit auch nicht mehr vorwiegend als eine herausgeberisch motivierte Bezeichnung für das Werk über die erste Philosophie verstanden worden, sondern als eine Bezeichnung für die erste Philosophie, den Inhalt des Werkes, selbst, weil diese mit ihren rein geistigen Prinzipien ja auf einer Ebene „nach“ bzw. „jenseits“ – griechisch „meta“ – der Physik und deren Zuständigkeitsbereich stehe.²⁷⁰ Und mit Metaphysik nach diesem Verständnis wird die erste Philosophie in ihrer Bedeutung als Universalwissenschaft deshalb ebenfalls gleichgesetzt. Die epistemologische Universalität und Allgemeinheit der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften und damit gegenüber der
264 M, 1381, I:46; vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:42 f. 265 „al-falsafah al-ūlā/falsafe-ye ūlā“: Vgl. M, 1381, I:50. 266 „al-ḥikmah al-ūlā/ḥekmat-e ūlā“: Vgl. M, 1381, I:40. 267 M, 1381, I:40 f. 268 M, 1381, I:43. 269 Vgl. M, 1381, I:50. 270 Vgl. ebda.
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Empirie und ihrem Bereich, dem Physischen, beruht aber ihrerseits auf ihrer Universalität und Allgemeinheit in ontologischer Hinsicht, indem es sich bei ihrem Gegenstand um den allgemeinsten überhaupt, nämlich das Sein als solches, handelt. Und wenn die Philosophie nun aufgrund ihrer epistemologischen Allgemeinheit gegenüber den Einzelwissenschaften und dem Zuständigkeitsbereich derselben, dem Physischen, mit Metaphysik gleichgesetzt wird, diese ihre epistemologische Allgemeinheit aber auf ihrer ontologischen Allgemeinheit beruht, aufgrund derer sie mit Ontologie gleichgesetzt wird, so lässt sich auch Metaphysik selbst mit Ontologie gleichsetzen. Daher finden wir bei Ṭālebzādeh, der intellektuell Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nahesteht, die Definition: „Philosophie ist die Wissenschaft der Seinslehre, und in dieser Rücksicht nennt man sie auch ‚Metaphysik‘. Die Metaphysik beschäftigt sich mit der Erkenntnis der Dinge einzig und allein in der Hinsicht, dass sie sind und ‚Sein‘ haben.“²⁷¹ Weiter handelt es sich bei dem obersten Seins- und Erkenntnisprinzip im Zuständigkeitsbereich der Metaphysik in den meisten und wichtigsten Lehren der islamischen Geistesgeschichte um eine sogenannte Ursache der Ursachen²⁷², wie in der islamischen Peripatetik, oder ein Licht der Lichter²⁷³, wie in der Erleuchtungsphilosophie, auf jeden Fall aber um etwas, das als seinsnotwendig²⁷⁴ gilt. Dieses Seinsnotwendige, unter welchem Namen auch immer, wird in der islamischen Geistesgeschichte aber mit Gott gleichgesetzt, und wenn das oberste Prinzip mit Gott gleichgesetzt wird – aber nur dann! –,²⁷⁵ lässt sich Metaphysik auch mit der Lehre von Gott, mit Theologie, gleichsetzen.²⁷⁶ Dazu kommt, was Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz angeht, dass in ihr das oberste metaphysische Prinzip das Sein als solches, der Gegenstand der Ontologie, ist und dieses mit Gott, dem Gegenstand der Theologie, in eins gesetzt wird. Dies rechtfertigt im Falle von Mullā Ṣadrās Lehre die Gleichsetzung von Metaphysik mit Theologie in besonderer Weise. Dabei ist der Ausdruck Theologie in der hier vorliegenden Bedeutung von Metaphysik als der ersten Philosophie jedoch von Theologie im Sinne der einen religiösen Überlieferungswissenschaft neben der Rechtsgelehrsamkeit säuberlich zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die im Arabischen und Persischen auch sprachlich durchgeführt wird²⁷⁷. Bei Theologie in letzterem 271 Ṭālebzādeh, 1385b:2. 272 „ʿillat al-ʿilal“: Vgl. M, 1381, I:41. 273 „nūr al-anwār“. 274 „wāǧib al-wuǧūd“: Vgl. M, 1381, I:41. 275 Vgl. M, 1381, I:51; Ṭālebzādeh, 1385b:2, Anm. 2. 276 Vgl. M, 1381, I:41; ferner Ders., 1381, I:50 f. und Ṭālebzādeh, 1385b:2, Anm.2. 277 So wird für „Theologie“ im Sinne von „Gotteslehre als philosophischem Untersuchungsgebiet“ der Ausdruck „ilāhiyyāt“ verwendet und für „Theologie“ im Sinne der Überlieferungswissenschaft der Ausdruck „kalām“.
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Sinne handelt es sich wieder um eine Einzelwissenschaft, der aus philosophischer Sicht bloss dialektischer Erkenntniswert zukommt. Dass sich die Einzelwissenschaft im Unterschied zur Philosophie nicht mit dem Sein als solchem befasst, bedeutet aus Sicht der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nun aber nichts anderes, als dass die aussergeistige Wirklichkeit als solche nicht zum Gegenstandsbereich der geistigen Betätigung der Einzelwissenschaft gehört, denn nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ist das, was die aussergeistige Wirklichkeit ausmacht, nichts anderes als das Sein als solches. Dies scheint die Einzelwissenschaft in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit und in der damit verbundenen Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte aufs erste in die Nähe des Idealismus zu rücken. Denn auch vom Idealismus, sei es in seiner sophistischen, sei es in seiner skeptizistischen Fassung, gilt, dass die aussergeistige Wirklichkeit nicht zum Gegenstandsbereich seines Denkens gehört. Der einzige Unterschied zwischen Sophismus und Skeptizismus in der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte liegt darin, dass der Skeptizismus lediglich besagt, dass uns unsere Erkenntnisgehalte zwar nicht darüber Auskunft geben, wie die Dinge der Aussenwelt sind, aber immerhin darüber, dass sie überhaupt sind, und somit der Erkenntnis zwar nicht einen theoretischen, aber immerhin einen praktischen Wert zubilligt, während der Sophismus die Existenz einer Aussenwelt überhaupt bestreitet und somit der Erkenntnis weder theoretischen noch praktischen Erkenntniswert beimisst. Demnach würde die Einzelwissenschaft von den beiden Richtungen des Idealismus der des Skeptizismus näherstehen. Denn zwar ist sie nicht für die Frage nach Sein oder Nichtsein der Gegenstände ihrer Forschung zuständig – dies überlässt sie der Philosophie –, indem sie die Existenz derselben aber voraussetzt, bestreitet sie nicht wie der Sophismus die Existenz einer Aussenwelt überhaupt, billigt den Gehalten der Erkenntnis also immerhin einen praktischen Wert zu, gibt aber keine Auskunft darüber, wie die Dinge der Aussenwelt sind. Denn wenn in der Einzelwissenschaft von Erkenntnis oder gar von Wahrheit hinsichtlich der Dinge, die sie erforscht, die Rede ist, ist damit nicht eigentlich die Wirklichkeit der betreffenden Dinge als solcher gemeint, sondern lediglich der neueste Forschungsstand über diese. Muṭahharī weist darauf am Beispiel der Naturwissenschaften hin mit den Worten: „In den modernen Naturwissenschaften gibt es keine ewig gültige Theorie. Jede Theorie tritt nur vorübergehend auf der Bühne der Wissenschaft in der Gestalt eines wissenschaftlichen Gesetzes auf und überlässt nach einer Weile ihren Platz einer anderen. Die heutige Wissenschaft kennt auf dem Gebiet der Naturwissenschaften kein unveränderliches, unwandelbares wissenschaftliches Gesetz, in dem keinerlei Irrtum denkbar wäre. […] Nach Ansicht der modernen Wissenschaftler stellt der Glaube an die Schlüssigkeit und Gewissheit eines Gesetzes der Einzelwissenschaft […]
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eine rückständige Überzeugung dar.“²⁷⁸ Deshalb verbürgt die Einzelwissenschaft auch keine theoretische Gewissheit. Dies erläutert der Gelehrte ebenfalls am Beispiel der empirischen Wissenschaften, indem er ausführt: „Die Ursache dafür, dass die Wissenschaften, die sich ausschliesslich auf die Erfahrung stützen, keine [theoretische] Gewissheit verbürgen, ist die, dass die Theorien, welche in den Einzelwissenschaften entwickelt werden, als einzige Begründung und Gewähr die Anwendbarkeit in der Praxis sowie das Hervorbringen praktischer Ergebnisse haben, das Hervorbringen praktischer Ergebnisse aber keine Begründung für die Richtigkeit einer Theorie und für ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit darstellt. Es ist nämlich möglich, dass eine Theorie ganz und gar falsch ist, sich in der Praxis aus ihr aber dennoch richtige Ergebnisse folgern lassen […].“²⁷⁹ Wie dies möglich sei, erklärt Muṭahharī damit, „[…] dass manchmal zwei oder mehr Dinge ein und dieselbe Eigenschaft haben und gleichartige Ergebnisse hervorbringen. Wenn in einem Sachverhalt nun das eine dieser beiden Dinge vorliegt, wir aber die Existenz des anderen, das nicht vorliegt, voraussetzen und dieses dann unserer Berechnung zugrunde legen, gewinnen wir aus unserer Berechnung zwangsläufig in der Praxis ein Ergebnis, da die Berechnung auf der Grundlage eines jeden der beiden Dinge ja auf ein und dasselbe Ergebnis hinausläuft. Ob sich beispielsweise die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht, in jedem Fall ergibt sich mit Notwendigkeit, dass an dem und dem Tag der Mond zwischen die beiden Himmelskörper tritt und sich eine Finsternis einstellt. Ob wir bei unserer Berechnung davon ausgehen, dass es die Sonne ist, die sich bewegt, oder die Erde, unsere Berechnung wird letztlich ergeben, dass an dem und dem Tag zu einer bestimmten Stunde und in einer bestimmten Minute eine Finsternis eintreten wird.“²⁸⁰ Und doch ergibt sich allein aus der Feststellung, dass die Einzelwissenschaft keine Gewissheit in theoretischer, sondern nur in praktischer Hinsicht verbürgt, sowie aus den anderen Ähnlichkeiten, die zwischen Einzelwissenschaft und Skeptizismus zu bestehen scheinen, für Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins mit ihrem erkenntnistheoretischen Realismus wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī eben nicht der Schluss, dass Einzelwissenschaft mit Skeptizismus gleichzusetzen sei. Ebenso wenig lassen sich Muṭahharīs Bemerkungen über den fehlenden Gewissheitswert der Einzelwissenschaften in theoretischer Hinsicht als Ausdruck von Wissenschaftsfeindlichkeit verstehen. Denn wohl beziehen Einzelwissenschaft ebenso wie Skeptizismus die aussergeistige Wirklichkeit im Zeichen der Frage nach Sein oder Nichtsein der Dinge der Aussenwelt nicht in den 278 M, 1381, I:151 f. 279 M, 1381, I:150. 280 Ebda.
„Was ist Philosophie?“ – und was nicht?
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Gegenstandsbereich ihres Denkens ein, jedoch verbindet die Einzelwissenschaft anders als der Skeptizismus damit keinen philosophischen Anspruch – oder mit einer Wortwahl, die sich an Muṭahharī anlehnt: Die Einzelwissenschaft als solche erlaubt sich keine Einmischung in den Bereich der Philosophie, genauer: in den Bereich dessen, mit dem Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie gleichsetzen, nämlich Seinslehre und Metaphysik. Daraus ergibt sich für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī des weiteren, dass Aussagen der Einzelwissenschaften weder Handhabe noch Anfechtung für die Lehren der Philosophie darstellen können. Vielmehr behandeln die beiden Gelehrten ähnlich wie Fārābī Philosophie und die Einzelwissenschaften als unterschiedliche Diskurse, nennt es Muṭahharī doch ausdrücklich eine „Diskursvermischung“, philosophische und einzelwissenschaftliche Probleme und die damit jeweils verbundenen Wahrheitsansprüche nicht auseinanderzuhalten.²⁸¹ Und als ein Beispiel für das, was er Diskursvermischung nennt, erwähnt Muṭahharī die Haltung der Anhänger der materialistischen Philosophie gegenüber Darwins Evolutionstheorie, einer biologischen und daher einzelwissenschaftlichen Lehre also, eine Haltung, die darin besteht, dass „ […] die Materialisten diese [Lehren Darwins] als das beste Mittel für den Fortschritt der materialistischen Philosophie auffassten.“²⁸² Denn Materialisten sehen in Darwins Lehre den Beweis dafür, dass die Entstehung der Lebewesen nicht auf den Schöpfungsakt eines Gottes zurückgeht. Gegen diese Vereinnahmung von Darwins Theorie durch die Materialisten wendet Muṭahharī ein: „Darwin persönlich war in seinen eigenen Überzeugungen kein Materialist. Er stellte seine These nur im Rahmen der Biologie auf. Die Materialisten seiner Zeit jedoch machten von dieser Theorie zugunsten der materialistischen Philosophie Gebrauch.“²⁸³ und: „[…] Darwin hat die Evolutionstheorie, die sich ausschliesslich auf Lebewesen bezieht, nur im Rahmen der Einzelwissenschaft (nicht der Philosophie) aufgestellt. Erst einige Anhänger der materialistischen Philosophie […] haben sie als Beleg für den Materialismus und die materialistische Philosophie aufgefasst.“²⁸⁴ Und ebensowenig, so könnten wir anfügen, wie eine Lehre mit philosophischem Anspruch wie die des Materialismus, die einen Schöpfergott als oberstes ontologisches und epistemologisches Prinzip verwirft, die einzelwissenschaftliche Lehre der Evolutionstheorie als Handhabe für die Wahrheit ihrer eigenen Aussagen anerkennen darf, muss eine philosophische Lehre wie die von der Eigentlichkeit des Seins, die einen Schöpfergott als oberstes ontologisches und epistemologisches Prinzip anerkennt, eine 281 Vgl. M, 1381, I:43. 282 M, 1381, I:27. 283 Ebda. 284 M, 1381, I:27 f. unter Berufung auf den arabischen Denker Dr. Šiblī Šumayyil.
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einzelwissenschaftliche Lehre wie die Evolutionstheorie als Anfechtung ihres eigenen Wahrheitsanspruches verwerfen. Denkern mit demselben Verständnis von Philosophie wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī muss daher die Verstörung, welche Darwins Theorie von der Entstehung der Arten im geistigen Leben des Abendlandes ausgelöst hat, als sachlich unbegründet erscheinen. Und ebenso unbegründet muss es ihnen vorkommen, dass gewisse Strömungen in der islamischen Gemeinde, etwa die Salafiyyah, diese Theorie im Namen der Religion ablehnen oder sie mit dieser zu vereinbaren suchen. Denn nach dem Verständnis von Wanderern des dritten – bzw. eben des „vierten“ – Weges wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī handelt es sich bei Philosophie ja nicht um eine Gegenbewegung zur Religion. Vielmehr sind für sie, zumal für Anhänger von Mullā Ṣadrās theosophischer Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, Unterscheidungen wie die zwischen Religion und Philosophie, Bekenntnis und Erkenntnis, Offenbarung und Denken, Geistlichem und Geistigem, zwischen „spirituell“ und „intellektuell“ gegenstandslos. Dass in der Einzelwissenschaft im Lichte ihrer Auffassung von dem Verhältnis zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie keine Anfechtung der Philosophie liegen kann, bedeutet für sie daher, dass sie auch in religiöser Hinsicht keine Herausforderung darstellen kann.
3.2 Untersuchung und Beurteilung philosophischer Lehren des Abendlandes im Lichte des vierten Weges Von dem soeben beschriebenen Verständnis von Philosophie gehen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī bei ihrem Durchgang durch die in ihren Augen grundlegenden philosophischen Systeme des Westens in dem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus aus, von einem Verständnis also, nach welchem Philosophie dem Relativismus in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch als Dogmatismus, dem Idealismus in der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit als Realismus und der Einzelwissenschaft in der Frage der Allgemeinheit des Gegenstandes einer jeden Wissensdisziplin als Universalwissenschaft gegenübersteht. Dabei hängen diese drei Fragen im Zeichen der Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins selbst wieder miteinander zusammen: Es ist nach dieser Lehre letztlich das Sein, das den Anspruch der Philosophie sowohl auf Dogmatismus gegenüber dem Relativismus, als auch auf Realismus gegenüber dem Idealismus als ferner auch auf Universalwissenschaftlichkeit gegenüber der Einzelwissenschaft begründet. Bei der Behandlung der philosophischen Systeme des Westens geht es Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī deshalb nicht nur darum, die betreffenden Lehren selbst darzulegen,
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sondern auch um eine Beurteilung von deren intellektueller Qualität – dies wiederum nicht zuletzt im Lichte der Frage, wie weit sie ihrem eigenen Verständnis von Philosophie entsprechen – sowie von deren Bedeutung in der abendländischen Geistesgeschichte.
3.2.1 Descartes und die Begründung der „modernen“ Philosophie Dabei ist derjenige Abschnitt der abendländischen Geistesgeschichte, mit dem sich die beiden Gelehrten vor allem befassen, die Neuzeit oder Moderne²⁸⁵, als deren geistiger Wegbereiter René Descartes (st. 1650) gilt. Muṭahharī erwähnt Descartes‘ Bedeutung als Überwinder des vormodernen, mittelalterlichen, Denkens und Geisteslebens im Banne der Scholastik und als Begründer einer neuzeitlichen, modernen, Philosophie etwa mit den Worten: „[…] in Europa […] streifte Descartes […] die Schlinge der Nachahmung der Alten ab und beschritt einen neuen Weg […].“²⁸⁶ und: „In der modernen Philosophie Europas wird den Fragen, die zuvor im Mittelalter von besonderem Interesse waren, weniger Aufmerksamkeit zuteil und dafür eine Reihe neuer Fragen aufgeworfen, für die sich die Alten weniger interessierten.“²⁸⁷ Über den neuen Weg, den Descartes beschritt, sagt Muṭahharī: „[…] Descartes, der berühmte französische Gelehrte, in der Absicht, seine sämtlichen Wissensgehalte zu überdenken und sie auf eine neue Grundlage zu stellen, unterzog alle Inhalte seines Denkens, ob es sich dabei nun um die Ergebnisse der Sinneswahrnehmung, der reinen Verstandestätigkeit oder der Überlieferung handle, dem Zweifel und dem Vorbehalt. Er sagte sich: ‚Vielleicht verhält es sich nicht so, wie ich empfinde, denke oder wie es mir erzählt worden ist, und dies alles ist genau wie das, was mir in der Welt des Traumes erscheint, bloss Vorstellung und Denken: Welchen Beweis gibt es, dass es nicht so ist?‘“²⁸⁸ Mit Zweifel und Vorbehalt meint Descartes aber nicht die Geisteshaltung der Skeptiker, der einen Gruppe unter den Vertretern des Relativismus und Idealismus, welche den menschlichen Geist aufgrund seiner artlichen Veranlagung – in qualitativer Hinsicht also – für unfähig erachten, Gewissheit im Erkennen und Urteilen über die wirklich existierenden Dinge zu erlangen. Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zählen Descartes denn auch nicht zu den Idealisten.²⁸⁹ Vielmehr versteht Descartes unter dem, was er
285 Bei Muṭahharī „dowre-ye ǧadīd“, z. B. M, 1381, I:32. 286 M, 1381, I:17. 287 Ebda. 288 M, 1381, I:67. 289 Vgl. M, 1381, I:80; T, 1381, I:72.
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Zweifel und Vorbehalt nennt, ein Verfahren – bekannt geworden als „methodischer Zweifel“ –, in dem das, was dem Zweifel nicht standhält, als ungewiss und daher als nicht erkenntnisbegründend ausgeschieden und nur das, was dem Zweifel standhält, als gewiss und erkenntnisbegründend zugelassen wird. Die in dem Verfahren des methodischen Zweifels gewonnene Grundlage allen Erkennens – dies macht ihre Gewissheit aus – bedarf selbst keiner weiteren Grundlage und verbürgt so die Gültigkeit ihrer selbst sowie aller Erkenntnisse, die in ihr gründen.²⁹⁰ „Descartes“, bemerkt Muṭahharī, „[…] in der Absicht, in der rationalistischen Philosophie einen Umschwung zu bewirken und ein neuartiges Fundament zu legen, […] begann damit, dass er alles bezweifelte […].“²⁹¹ Was aber, wenn überhaupt etwas, ist es, das dem methodischen Zweifel standhält? Dazu sagt Muṭahharī in Weiterführung seiner vorigen Bemerkung: „[…] das einzige, das er [d. h. Descartes] als gewiss und verlässlich betrachtete und eben deshalb als Ausgangspunkt in der Philosophie voraussetzte, ist die Existenz seiner selbst (ich bin existent), wenngleich er die Existenz seiner selbst ihrerseits wieder auf dem Wege der Existenz des Denkens bewies. Eigentlich setzte Descartes also die Existenz des Denkens als den Ausgangspunkt [der Philosophie] voraus.“²⁹² „Descartes sagt:“, so Muṭahharī, ‚Wenn ich an irgendeiner Sache zweifle, so werde ich sagen: Es [d. h. mein Zweifeln] ist Denken, am Denken selbst aber kann ich nicht zweifeln.‘“²⁹³ Diese Überlegung Descartes’ führt der Gelehrte im Anschluss an die Stelle, an der Descartes sich fragt, welchen Beweis es gebe, dass die Wirklichkeit sich nicht anders verhalte als seine Empfindungen und Gedanken, mit den Worten aus: „[Descartes sagte sich:] ‚So sind meine sämtlichen Gedanken (sogar das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch) nichtig, und kein Prinzip ist mir verblieben, auf das ich mich verlassen könnte.‘ Da merkte er: ‚An welcher Sache auch immer ich zweifle, letztlich werde ich sagen: Es [d. h. mein Zweifeln] ist Denken: An der Existenz des Denkens selbst also kann ich nicht zweifeln.‘ Darauf nahm er eben das Denken selbst als den Beweis für die Existenz des Denkens an und wurde [dadurch] der Existenz seiner selbst gewiss und sagte: ‚Ich denke, also bin ich.‘ Als nächstes setzte er eben dieses Prinzip als Grundlage für alle weiteren Prinzipien voraus und baute darauf weiter.“²⁹⁴
290 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:142a) f. 291 M, 1381, III:34. 292 Ebda. 293 M, 1381, III:35. 294 M, 1381, I:67.
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3.2.1.1 Das Prinzip „Ich denke, also bin ich“ Es ist dieses Prinzip des „Ich denke, also bin ich“, auf das Descartes die moderne, nachscholastische und im weiteren Sinne „nachklassische“ Philosophie in Seinsund Erkenntnislehre gründet. Zu dieser Grundlegung nun bemerkt Muṭahharī: „[…] Descartes’ berühmte Begründung des ‚Ich bin‘ mit ‚Denken‘, ausgedrückt in dem entsprechenden Satz ‚Ich denke, also bin ich‘ ist nicht stichhaltig, denn das Sein einer jeweiligen Person ist genauso selbstevident wie das Denken als solches, ja, noch selbstevidenter. Denn das Bewusstsein hinsichtlich ‚Denken‘ ergibt sich hier, wo ‚Denken‘ zu ‚ich‘ in Beziehung gesetzt wird (‚ich‘ ‚denke‘), selbst erst aus dem Bewusstsein und der Wahrnehmung des ‚Ich‘.“²⁹⁵ Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass ich in der Aussage „ich denke“ die Handlung „denken“ mit „ich“ verbinde, setzt ihrerseits mein Bewusstsein voraus, dass ich bin – das Bewusstein meiner Existenz also. Daher kann Descartes’ Prinzip „Ich denke, also bin ich“, in dem ja mein Bewusstsein, dass ich bin, eben nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis der Aussage „ich denke“ ist, für Muṭahharī nicht gelten. Vielmehr müsste der Satz bei ihm, wenn schon, genau umgekehrt lauten, nämlich „Ich bin, also denke ich.“ Denken und Erkennen gründen nach Muṭahharī im Sein, Epistemologie gründet in Ontologie, und dies entspricht genau der Erkenntnislehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins, in dessen Nachfolge Muṭahharī ja steht.²⁹⁶ Dass überhaupt gelten kann: „Ich denke“, setzt seinerseits ein Ich, das denkt, voraus. Die Wirklichkeit dieses Ich, des Subjekts des Denkens, ist nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins aber gleichbedeutend mit dem Sein, der Existenz, dieses Ich – damit, dass ich bin, also. Es ist somit das Sein, und nur dieses, welches letztlich das Denken begründet und so auch jedes philosophische Denken, jede Philosophie, ganz gleich, ob modern oder klassisch. Schon daher kann Descartes’ Satz „Ich denke, also bin ich“, in dem das Denken das Sein begründen soll und nicht umgekehrt, der Anforderung seines Urhebers, ein Denken mit philosophischem Anspruch zu begründen, nicht genügen. Was in Descartes’ Philosophie die Erkenntnislehre im besonderen betrifft, so bemerkt Muṭahharī, dass es Descartes bei dieser unter anderem darum gehe, auch die klassische Logik, als deren Urheber Aristoteles gilt, durch eine nachklassische, moderne, Logik abzulösen – in Muṭahharīs Worten: „Die bekanntesten und vielleicht ältesten logischen Verfahren sind dieselben, deren Ausarbeitung Aristoteles gelungen ist. In der neuzeitlichen Entwicklung Europas ist Aristoteles’ Logik auf Einwand und Kritik seitens der Gelehrten gestossen, und manche Gelehrte wie Descartes […] beanspruchten die Urheberschaft einer neuen
295 M, 1381, I:122. 296 Vgl. auch Kamal, 2006:94.
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Logik.“²⁹⁷ Immerhin begreifen beide Philosophen, Descartes genauso wie Aristoteles, Logik als die Norm des richtigen Denkens.²⁹⁸ Was darunter wieder genau zu verstehen sei, erklärt Muṭahharī wie folgt: „Gehen wir über eine Reihe selbstevidenter Wahrheiten hinaus, die unser Geist mit vollkommener Selbstverständlichkeit und Klarheit begreift, treffen wir auf andere Probleme, die uns nicht [von selbst] klar sind und die wir mittels Denkens und Beweisführung erschliessen müssen. Und ebenso wie uns die Existenz einer Reihe selbstevidenter Wahrheiten selbstverständlich ist, steht für uns auch selbstverständlich fest, dass der Mensch bei seinen Anstrengungen nach Erkenntnis und [richtiger] Beweisführung manchmal irrt und fehlgeht. Deshalb müssen wir schauen, ob es ein Mittel für die Unterscheidung zwischen richtig und fehlerhaft, zwischen Wahrheit und Falschheit gibt und, wenn ja, was dieses Mittel ist. Der Massstab und Standard für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit wird ‚Logik‘ genannt.“²⁹⁹ Das Neue an der von Descartes geschaffenen nachklassischen, modernen, Logik gegenüber der von Aristoteles ausgearbeiteten klassischen Logik besteht jedoch nun im Grunde darin, dass Descartes’ moderne Logik genau wie seine Philosophie als ganze auf dem Prinzip des „Ich denke, also bin ich“ errichtet ist, während die aristotelische, „klassische“, Logik letztlich auf dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs beruht. So können wir eigentlich überhaupt sagen, dass in Descartes’ Philosophie der Satz „Ich denke, also bin ich“ die Stelle des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch als des grundlegenden Erkenntnisprinzips der klassischen Philosophie einnimmt. Auch Muṭahharī merkt ja bei der Wiedergabe von Descartes’ Gedankengang, der ihn auf das Prinzip „Ich denke, also bin ich“ geführt habe, an, dass dieser seine sämtlichen Gedanken für nichtig gehalten habe und kein Prinzip mehr habe gelten lassen – nicht einmal das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – ausser eben das Prinzip des „Ich denke, also bin ich.“³⁰⁰ Daraus geht hervor, dass für Descartes das Prinzip des „Ich denke, also bin ich“ grundlegender sein muss als das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch. Jedenfalls versteht Muṭahharī dies so, denn er wendet dagegen ein: „[…] wenn der Mensch dieses Prinzip (das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch) ebenfalls bezweifelt, kann er jenen Folgerungssatz ‚Ich denke, also bin ich‘ nicht aufstellen. Denn einmal angenommen, das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch gelte nicht, kann er sagen: ‚Ich denke und denke zugleich überhaupt nicht‘ und ebenso kann er sagen: ‚Ich bin und bin zugleich auch nicht.‘“³⁰¹
297 M, 1381, I:141 f. 298 Vgl. etwa M, 1381, I:195; Hügli/Lübcke, 2005:142a) ff.; Brugger, 1963:156 f. 299 M, 1381, I:141. 300 Vgl. M, 1381, I:67. 301 Ebda.
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Die Gültigkeit des kartesianischen Prinzips „Ich denke, also bin ich“ setzt folglich seinerseits notwendig die Anerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch voraus – dieses muss also grundlegender sein als jenes, und nicht umgekehrt, wie Descartes dies anzunehmen scheint. Auch in der vorliegenden Hinsicht wird Descartes’ Seins- und Erkenntnislehre ihrem Anspruch nicht gerecht, eine neue Philosophie zu begründen: Indem Descartes, wenn auch unbeabsichtigt, das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch preisgibt, entzieht er nicht nur seiner eigenen Philosophie die Grundlage, vielmehr ist das, was er zu begründen gedenkt, genau besehen, gar keine Philosophie. Denn die Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch ist das Kennzeichen des Relativismus im Gegensatz zum Dogmatismus, und nur diesen anerkennen Gelehrte wie Muṭahharī überhaupt als Philosophie. Aber nicht nur im Zeichen des Dogmatismus, d. h. im Zeichen der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch, ficht Muṭahharī das kartesianische Prinzip des „Ich denke, also bin ich“ als Begründung einer „modernen“ Philosophie an. Auch im Zeichen der Frage, ob eine aussergeistige Wirklichkeit, mit anderen Worten: eine betrachtungsunabhängige, objektive Aussenwelt, existiert oder nicht, d. h. im Zeichen des Realismus, wendet er gegen das kartesianische Prinzip folgendes ein: „[…] grundsätzlich liegt darin, diesen Weg [nämlich den methodischen Zweifel] zum Ausgangspunkt der Philosophie zu wählen, kein Nutzen. Denn nach Descartes’ eigenem Bekunden war sein Zweifel an allem ausser der Existenz seiner selbst [im Sinne des Satzes ‚Ich denke, also bin ich‘] nicht ein wirklicher Zweifel im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern ein normativer und hypothetischer Zweifel […].“³⁰² Und was wir hier unter dem Ausdruck „normativ“ zu verstehen haben, geht aus einer anderen Stelle bei Muṭahharī hervor, einer Stelle, an der er den Unterschied zwischen den Gesetzen von Philosophie und Einzelwissenschaften auf der einen Seite und der Methode der Logik auf der anderen Seite beschreibt mit den Worten: „Das Gesetz der Philosophie und das wissenschaftliche Gesetz aller Einzeldisziplinen geben eine aussergeistige objektive Wirklichkeit wieder. Das Gesetz der Logik hingegen lehrt die Methode und das Verfahren des Denkens und gibt die Norm der Denkweise vor, die zum Erkenntnisziel führt. In dieser Hinsicht gleich es dem Gesetz der Ethik, das [auch] keine [aussergeistige objektive] Wirklichkeit wiedergibt, sondern lediglich die Norm des guten Handelns vorgibt. Die Disziplin der Ethik gibt die Norm des richtigen Handelns vor und die Logik die Norm des richtigen Denkens, und da diese beiden Disziplinen normativ sind, hängt es vom Willen der einzelnen Individuen ab, ob sie angewendet
302 M, 1381, III:35.
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werden: Der Einzelne kann gemäss diesen Normen handeln [und denken] oder auch nicht […].“³⁰³ Wohlgemerkt: Nur die Frage, ob die Regeln von Logik bzw. Ethik in einem gegebenen Fall angewendet werden oder nicht, hängt von der Willkür des Einzelnen ab, nicht die Regeln von Logik und Ethik an sich: Die Regeln von Logik und Ethik selbst lassen sich nicht willkürlich setzen. „Ein philosophisches Gesetz aber“, so fährt Muṭahharī fort, „(wie das Gesetz der Bewegung [etwa das von Mullā Ṣadrā formulierte Gesetz der substantiellen Bewegung]) oder ein physikalisches Gesetz (wie das Gesetz der Schwerkraft) herrschen in ein und derselben Weise für alle Individuen.“³⁰⁴ Zwar setzt Muṭahharī an der Stelle, an der er Descartes’ Verfahren des methodischen Zweifels als hypothetisch und normativ bezeichnet, dieses nicht mit dem Gesetz der Logik oder der Ethik gleich. Das tut in diesem Zusammenhang aber nichts zur Sache. Dass der methodische Zweifel normativ ist, bedeutet auf jeden Fall, dass Anwendung oder Nichtanwendung desselben genau wie bei einem Gesetz der Logik oder der Ethik von meinem Willen abhängen, was seinerseits die Existenz meines Willens voraussetzt. Ob ich eine Methode befolge oder nicht, ob ich eine Hypothese aufstelle oder verwerfe wie etwa eben im Rahmen von Descartes’ methodischem Zweifel, den dieser Muṭahharī zufolge selber als hypothetisch beschreibt, beruht auf einer bewussten Wahl meines Willens. Wenn Descartes also die Frage „Bin ich oder bin ich nicht?“ zum Gegenstand seines Zweifels im Sinne eines methodischen und damit hypothetischen Zweifels macht, hat er, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, die Existenz seines Bewusstsein, seines Wählens und seines Willens vorausgesetzt. Dass Descartes seine Existenz ausserdem bloss im Zeichen des hypothetischen Zweifels bezweifelt, muss daran liegen, dass es ihm offenbar nicht möglich ist, sie im Zeichen des wirklichen Zweifels zu bezweifeln, denn sonst, so müssen wir annehmen, würde er dies im Interesse des Erkenntnisgewinnes, den er mit dem Zweifel anstrebt, tun, da ja der wirkliche Zweifel gründlicher ist als der bloss hypothetische und daher in Descartes’ Augen auch die aussichtsreichere Methode wäre, zu sicherer Erkenntnis zu gelangen. Aber, wie Muṭahharī bemerkt, „[…] natürlich kann jemand unmöglich seine natürlichen Gewissheiten, von denen er ja zwangsläufig und mit Notwendigkeit überzeugt ist, im Zeichen des wirklichen Zweifels bezweifeln, und, wie Pascal sagt, ‚einen wirklichen Skeptiker gibt es nicht.‘ Ja, selbst das sophistischste Individuum ist aufgrund der natürlichen Veranlagung seines Wahrnehmens und Wollens im Grunde seines Herzens von vielen Wahrheiten eindeutig überzeugt“ – eben etwa von der Existenz seines Bewusstseins, seines Wählens und seines Willens – „und verhält sich
303 M, 1381, I:195. 304 Ebda.
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in seiner alltäglichen Lebensführung gemäss diesen Überzeugungen.“³⁰⁵ Der hypothetische Zweifel, mit dem Muṭahharī Descartes’ methodischen Zweifel gleichsetzt, ist eben nicht dasselbe wie der Zweifel, der im philosophischen Sprachgebrauch als wirklicher Zweifel³⁰⁶ bekannt ist, sondern steht eher dem Zweifel nahe, der in der philosophischen Fachsprache als fingierter oder scheinbarer Zweifel³⁰⁷ bezeichnet wird. Eben diesen Unterschied scheint Descartes bei der Wahl seines Verfahrens des methodischen Zweifels als Erkenntnisweg nicht beachtet zu haben. Der wirkliche Zweifel, und nur dieser, besteht in einer Unentschiedenheit zwischen Ja und Nein. Dabei ist das Bewussthaben eines Urteilsgedankens, im vorliegenden Fall eben des „Ich bin“, zu dem bejahend oder verneinend Stellung zu nehmen ist, vorausgesetzt – und damit auch ein Bewusstsein, das diesen Gedanken bewussthat –, ferner das Vorliegen von Gründen sowohl für das Ja als auch das Nein in der betreffenden Frage.³⁰⁸ Im Unterschied zum wirklichen Zweifel besagt der fingierte Zweifel bloss, dass ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Fragestellung von der natürlichen Gewissheit, an der im übrigen festhalte, für die Dauer und für die Zwecke meiner Untersuchung absehe, um durch Prüfung und ausdrückliches Herausarbeiten des Grundes oder der Gründe zu wissenschaftlicher Gewissheit in der betreffenden Frage zu gelangen.³⁰⁹ Wenn es sich bei Descartes’ methodischem Zweifel also um etwas Ähnliches wie fingierten Zweifel handelt, bedeutet dies, dass Descartes im Rahmen seiner wissenschaftlichen Fragestellung „Bin ich oder bin ich nicht?“ von der natürlichen Gewissheit, die besagt: „Ich bin“, für die Dauer und die Zwecke seiner Untersuchung absieht, um durch Prüfung und ausdrückliches Herausarbeiten des Grundes, der ihn zu einer eindeutigen Stellungnahme in der Frage „Bin ich oder bin ich nicht?“ berechtigt, zu wissenschaftlicher Gewissheit zu gelangen. Descartes’ Stellungnahme in dieser Frage heisst: „Ja, ich bin“, und der Grund, der ihn zu dieser Stellungnahme in dieser Frage berechtigt, besteht für ihn in der Erkenntnis „Ich denke.“ Dass Descartes aber von seiner natürlichen Gewissheit, die besagt: „Ich bin“, im Zeichen des hypothetischen Zweifels absieht, um in dieser Frage zu wissenschaftlicher Gewissheit zu gelangen, muss bedeuten, dass er seine eigene Existenz im Sinne einer natürlichen Gewissheit unverändert voraussetzt, denn sonst könnte er im Rahmen seiner wissenschaftlichen Fragestellung „Bin ich oder bin ich nicht?“ nicht bewusst und willentlich von ihr absehen – es gäbe für ihn eine solche natürliche Gewissheit „Ich bin“, von der er überhaupt bewusst
305 M, 1381, III:35. 306 Vgl. Brugger, 1963:400 f. 307 Vgl. Brugger, 1963:401. 308 Vgl. Brugger, 1963:400 f. 309 Vgl. Brugger, 1963:401.
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und willentlich absehen könnte, ja gar nicht. Die natürliche Gewissheit „Ich bin“ gewinnt durch Descartes’ Begründung „Ich denke“ daher in ihrem Status als natürliche Gewissheit nichts hinzu, und in dieser Hinsicht liegt in Descartes’ Wahl des methodischen Zweifels zum Ausgangspunkt der Philosophie, wie Muṭahharī sagt, kein Nutzen. Dass Descartes an der Existenz seiner selbst nicht wirklich und deshalb nur hypothetisch zweifeln kann, muss daran liegen, dass es sich bei der Existenz seiner selbst um einen Sachverhalt handelt, der eben an sich nicht wirklich und deshalb nur hypothetisch zu bezweifeln ist. Zwar, so Muṭahharī, „[…] kann man, wenn man den normativen und hypothetischen Zweifel zugrunde legt, an allen selbstevidenten Gewissheiten (ohne Ausnahme), sogar an der Existenz eben dieses Gedankens und Zweifels selbst wieder zweifeln und […] sagen: ‚Alles ist nur ein Gedanke, und jeder Gedanke, sogar eben dieser Gedanke selbst, ist nur ein Gedanke.‘ Dann gibt es für uns keinen Grund, unter unseren natürlichen Gewissheiten die einen gegenüber den anderen zu privilegieren.“³¹⁰ Es gäbe für uns dann also etwa keinen Grund, die Gewissheit „Ich bin“ nicht ebenso zu bezweifeln wie alle anderen Gewissheiten, deren Zweifelhaftigkeit wir mit der Gewissheit „Ich bin“ ja eben auszuräumen beanspruchen. Ebenso gut können wir dann aber auch alle Gewissheiten im selben Range und Sinne wie die Gewissheit „Ich bin“ als Gewissheiten gelten lassen. So oder so bringt uns der bloss hypothetische Zweifel an dem „Ich bin“ – und ein wirklicher Zweifel daran ist nicht möglich – keinen Zuwachs an Gewissheit und ist deshalb ohne philosophischen Nutzen. Zwar können wir den hypothetischen Zweifel beliebig weit treiben, aber wie weit wir ihn auch treiben, er wird dabei hypothetischer Zweifel bleiben und nicht zu wirklichem Zweifel werden. Anders gesagt: Der hypothetische Zweifel im Rahmen einer wissenschaftlichen Fragestellung ergibt bestenfalls selbst wieder nichts anderes als wissenschaftliche Gewissheit, keinesfalls aber natürliche Gewissheit. Vielmehr hängt die Gewinnung wissenschaftlicher Gewissheit letztlich ihrerseits von natürlicher Gewissheit ab. Dass es sich bei meiner eigenen Existenz also um einen Sachverhalt handelt, der nicht wirklich und deshalb nur hypothetisch zu bezweifeln ist, muss nun wiederum daran liegen, dass das „Ich bin“ eben selbst nicht ausschliesslich im bloss hypothetischen Sinn, also etwa als blosser Gedanke oder als rein innergeistige Vorstellung, vorliegt, sondern als aussergeistige, objektive Wirklichkeit. Die Unbezweifelbarkeit und meine daraus sich ergebende subjektive Gewissheit dessen, dass ich bin, liegen also darin, dass es sich dabei um eine aussergeistige, objektive Wirklichkeit von objektiver Gewissheit handelt. Nach Denkern wie Muṭahharī ist es folglich die objektive Wirklichkeit und die darauf beruhende
310 M, 1381, III:35.
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objektive Gewissheit des Gegenstandes der Erkenntnis, welche die subjektive Gewissheit und die mit dieser verbundene subjektive Erkenntnis begründen, und eben gerade nicht wie nach Descartes die subjektive Erkenntnis – also eben „Ich denke, also bin ich“ –, aus der sich die objektive Gewissheit der Erkenntnis ergäbe.³¹¹ Wenn es sich bei der Existenz meiner selbst nun aber um eine objektive Wirklichkeit handelt, so kommt ihr nach Anhängern der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz dieselbe Wirklichkeitswertigkeit zu wie allem anderen objektiv Wirklichen auch, denn gemäss dieser Lehre ist die objektive Wirklichkeit meiner selbst genau so wie die objektive Wirklichkeit alles anderen als meiner selbst ja eben ihrerseits gleichbedeutend mit Existenz. Und wenn Unbezweifelbarkeit und Gewissheit in einer Sache auf dem Status eben dieser Sache als einer aussergeistigen Wirklichkeit im Sinne von Existenz beruhen, so „sieht der Mensch“, wie Muṭahharī bemerkt, „wenn wir die natürlichen Gewissheiten gelten lassen, in der Tat keinen Unterschied zwischen der Existenz seiner selbst und der Existenz aller anderen selbstevidenten und gewissen Erkenntnisgehalte; so sieht er in dieser Hinsicht etwa keinen Unterschied zwischen der Existenz seiner selbst auf der einen und der Existenz dieses Stiftes, dieses Blattes, das ich zur Hand genommen habe, und dieser Lampe, in deren Schein ich schreibe, auf der anderen Seite […]“³¹² – mit anderen Worten: den Dingen der aussergeistigen Wirklichkeit ausser seiner selbst. Die natürlichen Gewissheiten gelten zu lassen, ist aber die einzige Stellungnahme diesen gegenüber, die uns übrig bleibt. Denn sie hypothetisch zu bezweifeln, ergibt, wie wir gesehen haben, keinen Zuwachs an Gewissheit und Erkenntnis, ist philosophisch daher nutzlos, und sie im Zeichen des wirklichen Zweifels zu bezweifeln, ist nicht möglich. In der Hinsicht ihres objektiven Wirklichseins, das im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wiederum mit Existenz gleichgesetzt wird, gibt es also keinen Grund, zwischen der Existenz meiner selbst und der Existenz eines anderen zu unterscheiden bzw. das eine für wirklicher als das andere zu halten, denn wirklich sind sie alle gleich, da von einem jeden von ihnen, ganz gleich, was für ein jeweiliges Etwas es ist, gilt, dass es ist. Zwar ist mir die Existenz meiner selbst ohne die Zwischenschaltung von Gedankenschritten erkennbar und die Existenz von so manchem ausser mir selbst nur mittels Zwischenschaltung mehr oder weniger zahlreicher Gedankenschritte, und in dieser Hinsicht mag zwischen mir und dem ausser mir ein Unterschied gesehen werden. Aber dieser Unterschied zwischen mir und dem ausser mir liegt in der Erkennbarkeit des einen und des anderen und nicht in der Existenz im Sinne blosser Existenz als der ontologischen Grundlage der Wirklichkeit 311 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:143a. 312 M, 1381, III:35.
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des einen und des anderen selbst: Zwar bin ich mir selbst leichter erkennbar als anderes, aber dass ich mir selbst leichter erkennbar bin als anderes, bedeutet nicht, dass ich existenter bin als anderes. Auch dann, wenn wir die natürlichen Gewissheiten gelten lassen, kann deshalb die Unzweifelhaftigkeit und Gewissheit der Existenz von objektiv Wirklichem ausser mir, das überhaupt Gegenstand objektiver Erkenntnis sein kann, nicht aus der Unzweifelhaftigkeit und Gewissheit der Existenz meiner selbst abgeleitet werden. Denn die Grundlage von Unzweifelhaftigkeit und Gewissheit ist beim einen wie beim anderen letztlich das Wirklichsein, verstanden als Existenz. Und existent bin ich nicht mehr und nicht weniger als anderes. Auch dann, wenn wir die natürlichen Gewissheiten gelten lassen, erweist sich Descartes’ Verfahren des methodischen Zweifels somit als philosophisch nutzlos. Die Grundlage für Unzweifelhaftigkeit und Gewissheit liegt nach den Vertretern der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins also in der Anerkennung des Prinzips, dass es eine aussergeistige, betrachtungsunabhängige Wirklichkeit gibt, und damit letztlich in der Anerkennung der Existenz im Sinne blosser Existenz als des wirklichkeitsbegründenden ontologischen Prinzips. Darin bestehen auch die Position des Realismus nach dem Verständnis von Mullā Ṣadrās Lehre und damit die Gegenposition zum Idealismus, etwa dem Sophismus. „[…] die Folgerichtigkeit des Denkens“, führt Muṭahharī aus, „erfordert, dass wir, nachdem wir das Lied der Sophisterei, welche Existenz und Existentialität leugnet und für widersinnig erklärt, zum Verstummen gebracht haben, die Gegenposition einnehmen, welche in eben jenem gewissen und selbstevidenten Prinzip ‚Es gibt eine [aussergeistige, betrachtungsunabhängige] Wirklichkeit‘ besteht, und uns sodann in einem zweiten Schritt […] an die Einzelfallanwendung und Weiterentwicklung dieser Wahrheit machen […].“³¹³ Von diesem Prinzip und nicht von dem kartesianischen des „Ich denke, also bin ich“ hat alles Denken, so auch alles philosophische Denken, seinen Anfang zu nehmen, wobei, so ruft Muṭahharī in Erinnerung, „[…] dieses allgemeine Prinzip [d. h. das Prinzip der Existenz einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit], das der Ausgangspunkt allen philosophischen Forschens ist, selbst wieder nach der Anerkennung des allgemeinen Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch kommt, welches der ‚Unterbau‘ sämtlicher Gedanken und Überlegungen des Menschen ist […].“³¹⁴ Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī greifen an diesem Punkt auch gleich den üblichen Einwand der Idealisten gegen die Realisten in der Frage auf, ob es eine betrachtungsunabhängige Wirklichkeit gibt oder nicht, bzw. kommen ihm zuvor. Dieser stützt sich auf das Auftreten von Fehlleistungen und Irrtümern unserer Wahrnehmungs- und 313 M, 1381, III:35. 314 M, 1381, III:33.
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Erkenntnisorgane, einen Umstand, den ja übrigens die Realisten selbst nicht leugnen. So sagt Muṭahharī selbst: „Nach der Anerkennung des allgemeinen Prinzips ‚Es gibt eine [aussergeistige, betrachtungsunabhängige] Wirklichkeit‘ sowie nach der Fruchtbarmachung und Vervielfältigung dieser Wahrheit und der Erschliessung einiger Erkenntnisgehalte im Zeichen derselben stösst der Mensch auf einen weiteren klaren und eindeutigen Punkt, der mit ihm und seinem Wahrnehmungs- und Denkapparat zu tun hat, nämlich das Auftreten von Fehlern und Irrtümern, in die er gerät, ob er will oder nicht, so dass er manchmal etwas für existent hält, was nicht existent ist, und etwas für nicht existent hält, was existent ist […].“³¹⁵ Die Nichtwirklichkeit, d. h. die aussergeistige Nichtexistenz, des sogenannten Irrtums hat Ṭabāṭabāʾī schon an anderer Stelle³¹⁶ nachzuweisen versucht, und in Übereinstimmung mit jenen Überlegungen bezeichnet Muṭahharī an dieser Stelle das Auftreten von Fehlern und Irrtümern als einen Punkt, der lediglich mit dem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat des Menschen zu tun hat, als einen Punkt also, dem im aussergeistigen Bereich keine Wirklichkeit zukommt. Deshalb erfordert das Auftreten von Fehlern und Irrtümern nicht etwa, dass wir das Prinzip der Existenz einer aussergeistigen Wirklichkeit als solcher preisgeben, sondern vielmehr, „[…] dass wir in einem dritten Schritt, wenn wir in scheinwahre Irrtümer geraten, das richtige Verfahren wählen und uns mit dessen Hilfe um Wirklichkeitseinsicht und Seinserkenntnis bemühen […].“³¹⁷ Und das richtige Verfahren, Scheinwahrheit und Irrtum von Wahrheit und Wirklichkeit zu unterscheiden, „der Massstab und Standard für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit“, wie Muṭahharī an anderer Stelle erklärt, „wird ‚Logik‘ genannt“³¹⁸, und zwar meint Muṭahharī genauer eben jene Logik, „[…] deren Ausarbeitung Aristoteles gelungen ist“³¹⁹, wie er an derselben Stelle bemerkt. So gibt es nicht nur im Namen des Dogmatismus, sondern auch im Namen des Realismus, im Namen der Frage also, ob eine aussergeistige Wirklichkeit, mit anderen Worten: eine betrachtungsunabhängige, objektive Aussenwelt existiert oder nicht, keinen Grund, die moderne Philosophie auf der Grundlage des kartesianische Prinzip „Ich denke, also bin ich“ als ein der klassischen Philosophie intellektuell überlegenes System anzuerkennen. Vielmehr kann Descartes’ Prinzip „Ich denke, also bin ich“, wie Muṭahharī deutlich zu machen sucht, weder an die Stelle des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch, des grundlegendsten logischen Prinzips der klassischen Philosophie, noch an die Stelle des
315 M, 1381, III:34. 316 T, 1381, I:196 ff. 317 M, 1381, III:35. 318 M, 1381, I:141. 319 M, 1381, I:141 f.
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Prinzips der Existenz einer aussergeistigen Wirklichkeit, des grundlegendsten ontologischen Prinzips derselben, gesetzt werden, wobei Muṭahharī Wirklichkeit getreu der Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins als gleichbedeutend mit Existenz versteht. Dass die Grundlage von Muṭahharīs Stellungnahme gegen Descartes’ moderne Philosophie auf der Grundlage des „Ich denke, also bin ich“ selbst die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ist, erweist sich an einem weiteren Einwand dieses Gelehrten gegen die Stichhaltigkeit des kartesianischen Prinzips. Und zwar macht Muṭahharī in diesem Einwand geltend, dass es sich beim Denken um einen Zustand der Seele bzw. um eine Wirkung und Betätigung von deren Vermögen und Anlagen handle. „Ich denke“ bedeutet demzufolge einen Zustand meiner Seele bzw. eine Wirkung und Betätigung der Vermögen und Anlagen derselben oder – mit anderen Worten – einen jener eigenen privaten Bewusstseinszustände, von denen Descartes als weitere Beispiele nennt: „Ich denke an Paris“, „Ich empfinde Kopfschmerzen“, „Es kommt mir vor, als sei weit vorn eine Oase.“³²⁰ Von solchen Bewusstseinszuständen, deren grundlegendster das „Ich denke“ ist, den Zuständen bzw. Wirkungen und Betätigungen meiner Seele und ihrer Vermögen und Anlagen, soll ich nun Descartes zufolge auf die Existenz meiner Seele, meines Selbst, d. h. des „Ich“, schliessen. Dagegen gibt Muṭahharī zu bedenken: „[…] was das Bewussthaben der Wirkungen und Betätigungen […] und ebenso der Vermögen und Anlagen der Seele […] betrifft, so ist es in Anbetracht dessen, dass diese Erscheinungen zu den Unterordnungen und Abstufungen des Seins des ‚Ich‘ gehören [es sich bei ihnen also nicht um das Sein als solches handelt] und sie hinsichtlich von Wirklichkeit und Existenz mit der Wirklichkeit und Existenz des ‚Ich‘ verbunden sind, so dass ihre Existenz gleichbedeutend mit dem Verhältnis und der Bezogenheit [zu dem ‚Ich‘] ist und die Annahme der Aufhebung dieser Bezogenheit gleichbedeutend mit der Annahme der Nichtexistenz jener Erscheinungen wäre, auf keinen Fall denkbar, dass der Geist diese [Wirkungen und Betätigungen und ebenso die Vermögen und Anlagen der Seele] unabhängig von dem Bewussthaben des ‚Ich‘ selbst bewussthabe. Wenn der Geist etwa sein eigenes Sehen bewussthat, so ist das Bewussthaben seines eigenen Sehens, da er eben das Sehen seines selbst (‚mein Sehen‘, [d. h. die Betätigung] ‚Sehen‘ in seiner Beziehung zu ‚ich‘) und nicht das beziehungslose Sehen bewussthat, stets notwendig mit dem Bewussthaben des Selbst verbunden.“³²¹ Der Bewusstseinsgehalt „Ich sehe“ ist eben nicht derselbe Bewusstseinsgehalt wie „sehen“ für sich genommen, sondern schliesst das „Ich“ in sich. „Ich“ ist gemäss der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins aber gleichbedeutend mit der Existenz von „Ich“, 320 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:143a. 321 M, 1381, II:53.
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und so könnten wir auch sagen: Der Bewusstseinsgehalt „Ich sehe“ ist nicht derselbe Bewusstseinsgehalt wie „sehen“ für sich genommen, sondern schliesst die Existenz des „Ich“ in sich. Und was für den Gehalt „Ich sehe“ gilt, gilt auch für den Gehalt „Ich denke“, und so kommt Muṭahharī noch einmal auf das „Ich denke“ in Descartes’ Grundsatz „Ich denke, also bin ich“ zu sprechen mit den Worten: „Wir haben […] Descartes’ Gedankengang ‚Ich denke, also bin ich‘, in dem dieser von der Existenz des Denkens auf die Existenz des Selbst schliesst, bereits einmal für nicht stichhaltig erklärt und gesagt: ‚Der Mensch hat schon auf der Stufe, bevor er die Existenz des Denkens bewussthat, die Existenz seines Selbst bewusst.‘ Daran, dass Descartes selbst sagt: ‚Ich denke‘, lässt sich erkennen, dass er nicht [die] beziehungslose [Betätigung] Denken bewussthat, sondern [die] in Beziehung gesetzte [Betätigung] Denken (in Beziehung gesetzt zu ‚ich‘ in: ‚ich‘ denke), dass er also, noch ehe er das Denken des Selbst bewussthat, das Selbst schon bewussthat.“³²² Mein Denken als ein Zustand, eine Betätigung – wir könnten auch sagen: als eine Eigenschaft – meiner Seele bzw. meines Selbst ist ontologisch also seinerseits von meinem Selbst, und das bedeutet nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins eben: von der Existenz meines Selbst, abhängig und kann daher auch gedanklich nicht die Existenz meines Selbst begründen. Und noch in einer anderen Hinsicht verrät dieser Einwand Muṭahharīs Züge der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins: Dass Muṭahharī das Schliessen von einem Zustand, einer Eigenschaft, meiner Seele wie dem Denken auf die Existenz meiner Seele für nicht stichhaltig erklärt, bedeutet nämlich, dass für ihn die Existenz eines Dings – also etwa der Seele oder meines Selbst wie hier – nicht selbst auch eine der Eigenschaften des Dings ist. Eine Eigenschaft wie das Denken sagt von einem Ding – hier der Seele – aus, wie es ist, aber nicht, dass es ist.
Das kartesianische „Ich denke, also bin ich“ und Ibn Sīnās Beweis des „freischwebenden Menschen“ Dieser Hintergrund von Muṭahharīs Gedanken zeigt sich noch deutlicher in der Fortsetzung seines vorigen Einwandes, in welcher der Gelehrte seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringt, „dass manche europäische und auch manche iranische Gelehrte, welche in den Werken Ibn Sīnās lesen, vermeinen, dass der bekannte Beweis des ‚freischwebenden Menschen‘, den der Meister zum Nachweis der reinen Geistigkeit der Seele geführt hat, mit Descartes’ bekanntem Beweis [‚Ich denke, also bin ich‘] eins sei und Descartes’ Beweis eigentlich von Ibn Sīnā stamme.“³²³ Bei Ibn Sīnās Beweis des „freischwebenden Menschen“ – 322 Ebda.f. 323 M, 1381, II:54.
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nach anderen Übersetzungen: des „fliegenden Menschen“ – handelt es sich um ein Gedankenexperiment, in dem uns der Meister auffordert, uns einen Menschen vorzustellen, der in reifem Alter ins Dasein getreten ist, ohne Sinneswahrnehmung, frei schwebend und mit ausgebreiteten Gliedern, die einander nicht berühren,³²⁴ kurz: einen Menschen, dem aufgrund seiner Lage keinerlei sinnliche Erfahrung irgendeiner Sache, einschliesslich seines eigenen Körpers, möglich ist. Ausgehend von der Vorstellung eines solchen frei schwebenden Menschen, so Ibn Sīnā, möge sich sodann jeder die Frage zu beantworten suchen, „ob du deine eigene Existenz leugnen und dein Selbst in Abrede stellen kannst.“³²⁵ Und Ibn Sīnā selbst beantwortet diese Frage gleich im Anschluss mit den Worten: „Ich meine nicht, dass dies einem aufmerksamen Betrachter möglich ist. Selbst ein Schlafender oder ein Betrunkener geht seines Selbst niemals verlustig, auch wenn er in seinem Gedächtnis nicht immer eine Vorstellung davon besitzt.“³²⁶ Wie diese Bemerkungen zeigen, geht es Ibn Sīnā mit dem Gedankenexperiment des freischwebenden Menschen aber nicht darum, von der Existenz einer Betätigung oder einer Eigenschaft des Selbst – der Seele – des Menschen, dem Denken etwa, auf die Existenz von dessen Selbst zu schliessen, wie Descartes dies in seinem Beweis des „Ich denke, also bin ich“ unternimmt. Die Existenz des Selbst, der Seele, des Menschen wird in Ibn Sīnās Gedankengang gar nicht in Frage gestellt. Mit seinem Beweis des freischwebenden Menschen, eines Menschen ohne die Möglichkeit sinnlicher Erfahrung also, will er lediglich erklären, wie und warum es möglich ist, dass der Mensch sich der Existenz seines Selbst auch ohne die Möglichkeit sinnlicher Erfahrung gewiss ist, nämlich deshalb, weil diese Gewissheit ihrerseits an keine sinnliche Erfahrung gebunden ist, und dass der Mensch deshalb die Existenz seines Selbst nicht leugnen oder in Abrede stellen kann. Und dass die Gewissheit der Existenz des Selbst, d. h. der Seele, des Menschen an keine sinnliche Erfahrung gebunden ist, muss bedeuten, dass die Seele selbst nicht sinnlich wahrnehmbar, mit anderen Worten: immateriell und rein geistig ist.³²⁷ Auch Muṭahharī sagt: „Es ist ein grosses Missverständnis, diese beiden Beweise [d. h. den Beweis des freischwebenden Menschen bei Ibn Sīnā und des ‚Ich denke, also bin ich‘ bei Descartes] in eins zu setzen. Denn Ibn Sīnā geht von dem unmittelbaren und direkten Bewussthaben der Seele [und das heisst im Verständnis der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins: der Existenz der Seele] selbst […] aus, und Descartes geht vom Bewussthaben der Wirkungen der Seele [also etwa des Denkens] […] aus [aber eben nicht vom Bewussthaben der 324 Vgl. Strohmaier, 1999:69. 325 Rudolph, 2004:49 f. 326 Rudolph, 2004:50. 327 Vgl. ebda.
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Existenz der Seele selbst], setzt die Existenz des Denkens als Mittel und Grundlage voraus und nimmt diese als Beweis für die Existenz der Seele.“³²⁸ Ausgangspunkt und Ziel der Beweisführung sind bei Ibn Sīnā und bei Descartes in ihrer Reihenfolge also gerade vertauscht. Umso mehr wundert sich Muṭahharī über dieses Missverständnis, als „diese Gelehrten [die Ibn Sīnās Beweis des freischwebenden Menschen mit Descartes’ Beweis des ‚Ich denke, also bin ich‘ gleichsetzen] nicht beachtet haben, dass Ibn Sīnā in seinem Werk ‚Hinweise und Ermahnungen‘ ausdrücklich auf Descartes’ Beweisführung und auf deren Ungültigkeit sowie den Nachweis der Ungültigkeit derselben eingeht und sie für nicht stichhaltig erklärt. Er sagt […], nachdem er den bekannten Beweis des freischwebenden Menschen geführt hat […]: ‚Du könntest nun sagen: Ich habe mein eigenes Selbst nicht unmittelbar bewusst, sondern schliesse auf dem Wege von dessen Wirkung und Betätigung auf die Existenz desselben. Darauf würde ich antworten: Erstens zeigt unser Beweis auf, dass der Mensch sein Selbst unter Absehung von jeder Betätigung und Bewegung bewussthat. Zweitens: Handelt es sich bei dem, was du in demselben Moment, in dem du eine Betätigung und Wirkung bewussthast und diese als Beweis für die Existenz des Selbst verwenden willst, erfährst, um die beziehungslose Betätigung und Wirkung oder um die in Beziehung gesetzte Betätigung, d. h. die Betätigung des Selbst, (in Beziehung gesetzt zu ‚ich‘)? Im ersten Fall kannst du nicht den Schluss ziehen ‚Also bin ich‘, denn die beziehungslose [d. h. nicht weiter spezifizierte] Betätigung [wie etwa ‚sehen‘ für sich genommen] verweist auch nur auf einen unspezifischen Täter [bzw. auf dessen Existenz], nicht auf einen individuell spezifizierten Täter (‚ich‘). Was den zweiten Fall angeht, so hast du, noch bevor du die Betätigung bewussthast, spätestens aber in demselben Moment, in dem du die Betätigung des Selbst bewussthast, dein Selbst [bzw. dessen Existenz] bewusst. Also steht für dich die Existenz deines Selbst spätestens in demselben Moment, in dem die Existenz der Betätigung für dich feststeht, mit eindeutiger Gewissheit fest.“³²⁹ Als Adressaten seines Nachweises der inhaltlichen Unvereinbarkeit zwischen Descartes’ Lehre auf der Grundlage des „Ich denke, also bin ich“ und der des Ibn Sīnā, einer der prägenden Gestalten der islamischen Philososophie, dürfte Muṭahharī nicht zuletzt die besagten Gelehrten in Europa sowie im Iran selbst im Blick haben, welche gerade die Gleichsetzbarkeit zwischen dem kartesianischen Prinzip und dem Beweis des Ibn Sīnā vom freischwebenden Menschen vertreten. Und zwar scheint es ihm darum zu gehen, ihnen deutlich zu machen, dass Descartes’ moderne Philosophie, welche die Prinzipien der klassischen Philoso328 M, 1381, II:54. 329 Ebda., mit Muṭahharīs eigener persischer Übersetzung der von ihm zitierten Stelle aus Ibn Sīnās Hinweisen und Ermahnungen.
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phie mit dem Prinzip des „Ich denke, also bin ich“ zu ersetzen beansprucht, angesichts ihrer Unzulänglichkeiten in Epistemologie und Ontologie, die Muṭahharī gegen sie geltend macht, gegenüber der islamischen Philosophie, welche auf der Grundlage der Prinzipien der klassischen Philosophie von Denkern wie Ibn Sīnā entwickelt und von Mullā Ṣadrā vervollkommnet worden ist, weder als inhaltlich vergleichbar noch als intellektuell ebenbürtig, geschweige denn höherwertig, zu betrachten sei.
3.2.1.2 Die Begründung meiner Erkenntnis des Objekts in meiner Erkenntnis meiner selbst Gemäss Descartes’ Lehre gilt es, wie gesagt, meine objektive Erkenntnis, d. h. meine Erkenntnis über die Aussenwelt, etwa über die physischen Gegenstände, vergangene Ereignisse oder das Wetter, soll sie gewiss und unbezweifelbar sein, aus meiner subjektiven Erkenntnis meiner selbst als eines denkenden Wesens im Zeichen des „Ich denke, also bin ich“ abzuleiten.³³⁰ Dieser Übergang von meiner subjektiven Erkenntnis zu objektiver Erkenntnis ist gemäss Descartes aber nur möglich, wenn ich jeden Grund ausschliessen kann, die Fähigkeit meiner Vernunft, etwas klar und deutlich zu begreifen, zu bezweifeln.³³¹ Denn zwar kann ich Descartes zufolge aufgrund des „Ich denke, also bin ich“, d. h. der Vergewisserung der Existenz meines Selbst als des Subjekts von Erkenntnis, nicht daran zweifeln, dass ich überhaupt eine Wahrnehmung hinsichtlich einer Aussenwelt habe, dass ich also z. B. davon überzeugt bin, dass 7 plus 5 12 ergebe, dass ein gütiger Gott existiere, dass es entweder regne oder nicht regne. Dass ich aber im Zeichen des „Ich denke, also bin ich“ nicht bezweifeln kann, ob ich diese Wahrnehmungen als solche habe, berechtigt mich nicht schon zu der Gewissheit, dass meiner Wahrnehmung auch ein wirkliches Ding, meiner Erinnerung eine Vergangenheit oder meinem Begriff ein Gegenstand entspricht.³³² All das, so Descartes, glaube ich zwar, aber eben nur, weil ich meiner Vernunft, die mir dies sagt, vertraue.³³³ Dieses Vertrauen in meine Vernunft kann ich aber nicht ohne weiteres als begründet anerkennen. So kann ich nicht ausschliessen, dass nicht ein gütiger Gott mich mit vertrauenswürdigen geistigen Anlagen ausgestattet hat, sondern mir vielmehr ein böser Geist eine irreführende Vernunft mitgegeben hat samt der unwiderstehlichen Neigung, ihre Ergebnisse überzeugend zu finden.³³⁴
330 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:143a. 331 Vgl. ebda. 332 Vgl. Aster, 1998:199. 333 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:142b. 334 Vgl. ebda.
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Um jeden Grund für die Bezweifelbarkeit meiner Vernunft auszuschliessen, habe ich also die Annahme vom bösen Geist zu widerlegen bzw. die Existenz eines gütigen Gottes zu beweisen.³³⁵
Der ontologische Gottesbeweis bei Descartes und Muṭahharīs Widerlegung desselben Zu diesem Zweck unternimmt Descartes eine Reihe von Gottesbeweisen. Bei einem von diesen handelt es sich um die Neufassung eines Gottesbeweises, den der Scholastiker Anselm von Canterbury (st. 1109) entwickelt hat und der als ontologischer Gottesbeweis bekannt geworden ist.³³⁶ Seine Besonderheit gegenüber anderen Gottesbeweisen liegt darin, dass er die Existenz Gottes aus dem Begriff Gottes, der Vorstellung Gottes, zu beweisen sucht.³³⁷ Nun ist Gott dem Begriff nach das schlechthin vollkommene Wesen. Deshalb lässt sich ein Wesen vollkommener als Gott nicht vorstellen. Folglich muss das schlechthin vollkommene Wesen Gott existieren. Denn würde es nicht existieren, ginge ihm also die Existenz ab, so würde ihm etwas fehlen, eben die Existenz, und dann wäre es nicht vollkommen und damit auch nicht das schlechthin vollkommene Wesen.³³⁸ Wenn nun das schlechthin vollkommene Wesen Gott aber ohne Existenz wäre, so liesse sich ein vollkommeneres Wesen als das schlechthin vollkommene Wesen Gott vorstellen, ein vollkommeneres Wesen, dessen Vollkommenheitsvorsprung gegenüber dem schlechthin vollkommenen Wesen Gott darin bestünde, dass es Existenz hätte.³³⁹ Dies widerspräche aber dem Begriff von Gott als dem schlechthin vollkommenen Wesen, der ja eben beinhaltet, dass ein vollkommeneres Wesen als dieses sich nicht vorstellen lässt. Also muss Gott existieren.³⁴⁰ Auf diesen Gottesbeweis nun geht Muṭahharī ausführlicher ein,³⁴¹ und zwar bringt er ihn in der folgenden Fassung: „Jeder Mensch, selbst ein geistig minderbemittelter, hat einen [innergeistigen] Begriff [im Sinne einer Vorstellung] von einem Wesen, über das hinaus es kein grösseres gibt, und ein solches Wesen muss Existenz haben. Denn wenn es keine Existenz hat, ist das grösste Wesen, das Existenz hat, grösser als jenes, und dies ist widersinnig. Also gibt es mit Gewissheit ein Wesen, das sowohl [als innergeistiger Begriff] in der Vorstellung
335 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:143a. 336 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:43a) ff.;143b; 245b; Brugger, 1963:223 f. 337 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:245b;Brugger, 1963:223 f. 338 Vgl. ebda. 339 Vgl. ebda. 340 Vgl. ebda. 341 Vgl. M, 1381, V:125 ff.
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als auch in der [aussergeistigen] Wirklichkeit das grösste Wesen ist, und das ist Gott.“³⁴² Muṭahharī kommt ebenfalls darauf zu sprechen, dass die Besonderheit dieses Gottesbeweises darin gesehen wird, „dass in ihm ein Ding [der aussergeistigen Wirklichkeit] (in diesem Fall die Existenz Gottes) aus einem [innergeistigen] Begriff gefolgert wird.“³⁴³ Zur Form der Folgerung bemerkt Muṭahharī ausserdem, dass es sich bei ihr um einen indirekten Beweis handelt, um einen Beweis also, der im Unterschied zum direkten Beweis, der aus gegebenen Voraussetzungen ohne Umweg den zu beweisenden Satz herleitet,³⁴⁴ den zu beweisenden Satz auf dem Umweg über die Widerlegung von dessen Gegensatz zu beweisen sucht,³⁴⁵ so etwa, wenn ich über den Nachweis, dass es hier und jetzt nicht Nacht ist, beweise, dass es hier und jetzt Tag sein muss. Dabei ist, wie Muṭahharī ebenfalls erwähnt, eine der Grundlagen des indirekten Beweises das Prinzip, dass nicht sowohl der zu beweisende Satz als auch der Gegensatz zu diesem ausgeschlossen sein können,³⁴⁶ es also etwa hier und jetzt nicht sowohl nicht Nacht als auch nicht Tag sein kann – ebenso, wie es umgekehrt hier und jetzt nicht sowohl Nacht als auch Tag sein kann. Dieser letztere Satz besagt nun aber nichts anderes als den gegengleichen Fall zum Satz davor, und ebenso stellt er ein Beispiel für das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch dar. Das Prinzip, dass nicht sowohl der zu beweisende Satz als auch dessen Gegensatz ausgeschlossen sein können, ist demnach selbst nichts anderes als eine Abwandlung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch. So liesse sich von einem allgemeinen Interesse an philosophischen Fragen her gegen die Verwendung des ontologischen Gottesbeweises durch Descartes einwenden, dass die Durchführbarkeit desselben seinerseits wieder von der Anerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch abhänge, eben jenes Prinzips also, das Descartes im Zuge seiner Neugründung der Philosophie auf dem Prinzip des „Ich denke, also bin ich“ Muṭahharī zufolge preisgegeben hat. Jedoch ist dies nicht der Einwand, den Muṭahharī in seiner Auseinandersetzung mit Anselms ontologischem Gottesbeweis vorbringt, vielleicht deshalb nicht, weil er sich mit dem Einwand, den er gegen diesen tatsächlich vorbringt, nicht nur gegen Descartes, sondern gleich gegen mehrere Benutzer desselben wie Leibniz, Spinoza sowie dessen Urheber, Anselm selbst, richtet.
342 M, 1381, V:125. 343 Ebda. 344 Vgl. Brugger, 1963:147 f. 345 Vgl. M, 1381, V:125 f.; Brugger, 1963:148. 346 Vgl. M, 1381, V:126.
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Der Einwand nun, den Muṭahharī tatsächlich gegen den ontologischen Gottesbeweis vorbringt, kommt von der Auffassung der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins und ihres erkenntnistheoretischen Realismus über die Beziehung zwischen aussergeistigem und innergeistigem Bereich her. Dabei machen den ersteren die objektiv, d. h. wahrnehmungsunabhängig, existenten Dinge und Sachverhalte mit dem blossen Sein als ihrer Wirklichkeit aus, und zu den Gehalten des letzteren gehören meine Vorstellungen und Begriffe als des wahrnehmenden Subjekts sowie die Verknüpfungen, welche mein Geist zwischen diesen vornimmt. Ausgehend hiervon, macht Muṭahharī geltend, dass „sich das, was in diesem Beweis [d. h. dem ontologischen Gottesbeweis] zu beweisen ist, in zwei Fassungen formulieren lässt: In der einen ist das zu Beweisende der blosse Begriff [im Sinne einer Vorstellung] des höheren und grösseren Wesens. Dann lautet die Form des Beweises: ‚Wir bilden [in unserem Geiste] den Begriff [bzw. die Vorstellung] des grösseren Wesens oder der vollkommenen Existenz, und das, was wir uns in unserem Geiste als Begriff bilden, muss [aussergeistige] Existenz haben. Denn wenn es keine [aussergeistige] Existenz hat, würde dies bedeuten, dass wir uns in unserem Geiste nicht den Begriff des grösseren Wesens gebildet hätten‘.“³⁴⁷ Wir könnten dann eben in unserem Geist den Begriff eines noch grösseren, eines noch vollkommeneren Wesens bilden. Muṭahharī jedoch hält dem entgegen: „[…] daraus, dass jenes höchste und vollkommenste Wesen keine [aussergeistige] Existenz hat, folgt nicht notwendig, dass wir uns in unserem Geiste nicht den Begriff desselben gebildet hätten und unser Begriff von dem grösseren Wesen nicht der Begriff“ – aber eben nur der Begriff – „von dem grösseren Wesen wäre.“³⁴⁸ Mit anderen Worten: Dass im Sinne des Realismus der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, auf deren Boden Muṭahharī steht, die aussergeistige Wirklichkeit der Dinge im Sinne von deren Existenz der Massstab für die Wahrheit unserer innergeistigen Gehalte, also etwa unserer Begriffe und Vorstellungen wie unseres Begriffes des grösseren Wesens, ist, besagt nicht, dass die aussergeistige Wirklichkeit der Dinge selbst schon gewährleisten würde, dass es sich schlichtweg bei allem innergeistig Existenten in uns, eben etwa wie hier bei dem Begriff oder der Vorstellung von einem grösseren Wesen, um die Wiedergabe von aussergeistig Existentem handle. „Ganz gleich, ob das grössere Wesen [aussergeistige] Existenz hat oder nicht“, so setzt Muṭahharī den obigen Gedanken fort, „unser [innergeistiger] Begriff von dem grösseren Wesen ist auf jeden Fall [nur] der Begriff von dem grösseren Wesen.“³⁴⁹ Dieser Gedanke folgt einem der Beweise, die Mullā Ṣadrā selbst für die Eigentlichkeit des Seins als der 347 M, 1381, V:126. 348 Ebda. 349 Ebda.
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ontologischen Grundlage der aussergeistigen Wirklichkeit anführt, indem er auf den Unterschied zwischen diesem oder jenem Ding im Sinne eines innergeistigen Gehaltes wie etwa eines Begriffes auf der einen und im Sinne eines aussergeistigen Sachverhaltes auf der anderen Seite hinweist mit den Worten: „[…] wenn wir sagen: ‚Dieses ist im aussergeistigen Bereich existent‘ und ‚Jenes ist im innergeistigen Bereich existent‘, hat das, was mit ‚[im] aussergeistigen Bereich‘ und mit ‚[im] innergeistigen Bereich‘ gemeint ist, nichts mit Umständen im Sinne von räumlichen und örtlichen Zuweisungen zu tun.“³⁵⁰ Mit anderen Worten: Die Verschiedenheit zwischen dem Ding als innergeistigem Gehalt auf der einen und als aussergeistigem Sachverhalt auf der anderen Seite besteht nicht einfach in einer räumlichen Verschiebung des Dings aus dem Bereich des Aussergeistigen in den Bereich des Innergeistigen oder umgekehrt. Denn wenn das so wäre, würde es sich bei dem betreffenden Ding ja wie mit Wasser verhalten, das, ob es nun aus einem Gefäss hinaus geschüttet oder von ausserhalb des Gefässes in das Gefäss hinein geschüttet wird, sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Gefässes in demselben Sinne als Wasser existiert. Was hingegen den Bereich des Aussergeistigen und des Innergeistigen in Mullā Ṣadrās Beweis angeht, so existiert das Ding, von dem dort die Rede ist, nicht in demselben Sinne als das betreffende Ding, je nach dem, ob es im Bereich des Innergeistigen als einer von dessen Gehalten, im Sinne eines Begriffes oder einer Vorstellung etwa, oder im Bereich des Aussergeistigen besteht. „Vielmehr“, so führt Mullā Ṣadrā seinen Beweis weiter aus, „ist die Existenz eines Dings im Bereich des Aussergeistigen gleichbedeutend damit, dass ihm eine Existenz zukommt, von der die ihm eigenen Wirkungen und Bestimmungen ausgehen.“³⁵¹ Das heisst, die aussergeistige Existenz eines Dings ist gleichbedeutend mit seinem Status als Ausgangspunkt von Wirkungen. In Übereinstimmung damit ist in Mullā Ṣadrās Lehre das Ding als Begriff, d. h. als Gehalt des Innergeistigen, geradezu definiert als das betreffende Ding abzüglich seines Status als Ausgangspunkt von Wirkungen, d. h. seiner aussergeistigen Existenz, und wird als solches mit Essenz gleichgesetzt. Mullā Ṣadrā drückt es so aus: „[…] mit der Existenz des betreffenden Dings im Bereich des Innergeistigen verhält es sich genau anders“³⁵², anders eben als mit der Existenz des Dings im Bereich des Aussergeistigen, d. h. die Gewärtigkeit des Dings im Bereich des Innergeistigen im Sinne eines Begriffs oder einer Vorstellung etwa ist gleich der aussergeistigen Existenz des betreffenden Dings abzüglich seines Status als Ausgangspunkt von Wirkungen. In der aussergeistigen Existenz liegt nach der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz aber die Wirklichkeit des betreffenden 350 Mullā Ṣadrā, 2000:62; vgl. auch Kamal, 2006:49 f. 351 Mullā Ṣadrā, 2000:62. 352 Ebda.
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Dings. Nur die aussergeistige Existenz eines Dings, nicht aber seine Gewärtigkeit im Bereich des Innergeistigen im Sinne eines Begriffes oder einer Vorstellung, kann also die Wirklichkeit eines Dings ontologisch oder epistemologisch begründen. Ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit aus seinem innergeistigen Begriff zu folgern wie im ontologischen Gottesbeweis eben die Existenz Gottes aus dem innergeistigen Begriff „Gott“, kann in den Augen eines Anhängers der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz wie Muṭahharīs daher nichts Schlüssiges ergeben und somit auch keinen Beweis erbringen – weder einen indirekten noch sonst einen. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens bringen wir noch den Schlussteil von Mullā Ṣadrās Beweis, wo der Theosoph getreu seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz das Ding im Sinne eines innergeistigen Gehaltes als Essenz erwähnt und sagt: „Denn wenn der aussergeistigen Existenz keine Wirklichkeit zukäme als lediglich die Vollverwirklichung der Essenz, dann gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Bereich des Aussergeistigen und dem Bereich des Innergeistigen. Dies ist aber widersinnig, denn es kommt vor, dass die Essenz im Bereich des Innergeistigen in Vollverwirklichung gewärtig und doch im Bereich des Aussergeistigen nicht existent ist.“³⁵³ Im Lichte der Lehre von Mullā Ṣadrās Philosophie besehen, läuft der Gedankengang des ontologischen Gottesbeweises somit gar der Ordnung des Seins sowie dem Verhältnis, das zwischen Sein und Denken, zwischen Ontologie und Epistemologie, besteht, gerade zuwider. Muṭahharī bemerkt in diesem Sinne denn auch: „Daher lässt sich aus dem Begriff des grösseren Wesens nicht die aussergeistige Existenz des grösseren Wesens herleiten. Das heisst also: ‚Ein Ding kann nicht aus einem Begriff hergeleitet werden.‘“³⁵⁴ Ebenso wenig kann dann aber aus der Existenz des Begriffs bzw. der Vorstellung eines Dings auf dem Weg des indirekten Beweises die Nichtexistenz des Dings unserer Vorstellung in der Wirklichkeit, die ja vorstellungsunabhängig ist, ausgeschlossen werden.³⁵⁵ Muṭahharī zufolge lässt sich das, was es im ontologischen Gottesbeweis zu beweisen gilt, aber noch in einer anderen Fassung formulieren: In dieser anderen Fassung, so der Gelehrte, „ist das zu Beweisende die Wirklichkeit des grösseren Wesens. In diesem Fall müssen wir formulieren, dass wir uns das grössere Wesen [als Ding] in der Aussenwelt denken, und sodann sagen wir: ‚Dieses grössere Wesen in der Aussenwelt muss auch Existenz haben, sonst ist es nicht das grössere Wesen. Denn ein grösseres Wesen mit Existenz wäre dann ja grösser als dieses [bloss] gedachte grössere Wesen. Also wäre das gedachte grössere Wesen
353 Ebda. 354 Ebda. 355 Vgl. M, 1381, V:126.
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nicht das grössere Wesen [und das ist ausgeschlossen]‘.“³⁵⁶ Muṭahharīs Widerlegung dieser Fassung des ontologischen Gottesbeweises verrät noch deutlicher als sein Einwand gegen die vorige Fassung desselben das Gedankengut der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins. So bemerkt er gleich im Anschluss an seine eben zitierte Formulierung des ontologischen Gottesbeweises: „Es ist offensichtlich, dass in dieser Fassung Existenz als gleichrangig mit einer Eigenschaft oder mit einem dem Selbst der Dinge rein äusserlichen Zusatz zugrunde gelegt wird. Den Dingen (in unserem Beispiel der höchsten und vollkommensten Wesenheit) werden unter Absehung von Existenz ein Wesen und eine Wirklichkeit zugrunde gelegt. Sodann wird gesagt, dass Existenz eine notwendige Folge aus der grösseren Wesenheit sei, und zwar mit der Begründung, dass, wenn die grössere Wesenheit keine Existenz habe, sie nicht die grössere Wesenheit wäre, denn dann wäre ja die grössere Wesenheit, die Existenz hat, grösser als die grössere Wesenheit, die keine Existenz hat.“³⁵⁷ Und über diese Auffassung von dem Verhältnis zwischen Existenz und Wesen der Dinge der Aussenwelt urteilt Muṭahharī getreu der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins: „Wesen und Existenz der Dinge im Bereich der Aussenwelt voneinander zu trennen und zu vermeinen, dass Existenz sich zu den Dingen verhalte wie ein Akzidens zu seinem Träger oder eine notwendige Eigenschaft zu ihrem Träger, ist schlichtweg falsch. Unter Absehung von der Existenz kommt den Dingen gar kein Wesen zu.“³⁵⁸ Denn das eine Prinzip, das die aussergeistige Wirklichkeit der Dinge ausmacht, ist die Existenz, während das Wesen, die Essenz, eine rein innergeistige Zuschreibung gegenüber den Dingen ist. Ohne Existenz gäbe es die Dinge im aussergeistigen Bereich gar nicht. Dann gäbe es sie also auch nicht als Gegenstände der innergeistigen Zuschreibung von Essenz, und in diesem Sinne käme ihnen demnach keine Essenz, kein Wesen, zu. „Dass unser Geist“, so Muṭahharī weiter, „an den Dingen eine Essenz und Washeit abstrahiert und dieser Essenz Existenz zuordnet und sie [so] zum Träger von Existenz macht, ist eine rein innergeistige Betrachtungsweise, weiter nichts.“³⁵⁹ Es liegt hier von Seiten Muṭahharīs derselbe Gedanke vor, den er selbst bei der Darlegung von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz am Beispiel „Mensch“³⁶⁰ und Ṭabāṭabāʾī in anderem Zusammenhang am Beispiel „Essen“³⁶¹ entwickelt hat: Existenz kann nicht eine Eigenschaft des Dings sein, denn sonst würde sie sich auf dessen Essenz beziehen. Die Essenz eines Dinges liegt bei der
356 Ebda. 357 Ebda. 358 M, 1381, V:126. 359 Ebda. 360 M, 1381, III:53. 361 T, 1381, I:88.
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Gewärtigung aller Eigenschaften desselben in meinem innergeistigen Bereich aber ebenso vollständig vor wie an dem Ding im aussergeistigen Bereich. Was den Unterschied zwischen dem Ding als einem Gehalt des Innergeistigen auf der einen und als einem Sachverhalt im Aussergeistigen auf der anderen Seite ausmacht, kann daher nicht in einer Eigenschaft und damit letztlich auch nicht in seiner Essenz, deren Bestimmung eine Eigenschaft darstellt, bestehen: Es muss in seiner Existenz liegen. Das, was wir einem Ding innergeistig im Sinne der Essenz zuschreiben, ebenso wie unsere innergeistige Begriffsbildung samt ihren Ergebnissen, den Begriffen und Vorstellungen etwa, mit deren Hilfe wir diese Zuschreibungen vornehmen, setzen daher selbst die aussergeistige Existenz des Dinges voraus. Auch deshalb muss gelten, dass ein Ding nicht aus einem Begriff hergeleitet werden, aus dem Begriff des grösseren Wesens – hier Gottes – also nicht die aussergeistige Existenz des grösseren Wesens gefolgert werden kann. Auch hier schreitet die Beweisführung beim ontologischen Gottesbeweis, im Lichte von Mullā Ṣadrās Philosophie besehen, genau in Gegenrichtung zur Ordnung des Seins sowie zum Verhältnis zwischen Sein und Denken. Nicht der Begriff des Dings im Bereich des Innergeistigen begründet die Existenz des Dings im Bereich des Aussergeistigen, vielmehr ist umgekehrt gerade die aussergeistige Existenz des Dings Grundlage und Beweis für unseren innergeistigen Begriff von diesem. Einzig die Schrittfolge der Beweisführung von der aussergeistigen Existenz, dem Sein, des Dings hin zum Begriff desselben gibt die Seinsordnung und das Verhältnis zwischen Sein und Denken wieder. Sie setzt aber selbst wieder die Anerkennung der Existenz einer betrachtungsunabhängigen, objektiven Aussenwelt voraus, die Gegenposition zum Sophismus also. Muṭahharī drückt dies aus mit den Worten: „So besteht denn das richtige Verfahren [der Beweisführung] einzig darin, dass wir sagen: Es ist offensichtlich, dass eine Wirklichkeit jenseits des innergeistigen Bereiches existiert, dass also entgegen der Ansicht der Sophisten nicht alles nur pure Einbildung ist.“³⁶² Mit dieser Bemerkung zum Abschluss seiner Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises leitet Muṭahharī nun zu einem eigenen Gottesbeweis über, einem Gottesbeweis, der im Gegensatz zum ontologischen Gottesbeweis nicht von dem Begriff auf das Ding, vom Denken auf das Sein, schliesst, sondern im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz vom blossen Sein ausgeht. „Darauf wollen wir sagen:“, so hebt Muṭahharī an, „Das, was in Wahrheit existent, wirklich und eigentlich ist, ist die Existenz und das Sein selbst, nicht die anderen Dinge, die der Geist zugrunde legt und denen er Sein zuordnet. Vielmehr richtet
362 M, 1381, V:126.
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sich das Wirklichsein eines jeden Dings nach dem Masse, in dem es Sein hat, ja, das Wirklichsein eines jeden Dings ist gleichbedeutend mit seiner Teilhabe am Sein.“³⁶³ Wenn nun aber die Existenz oder das Sein selbst, das blosse Sein also, als das wahrhaft Existente, Wirkliche und Eigentliche die ontologische Grundlage der Dinge, des Seienden, ist – so der nächste Gedanke in Muṭahharīs Beweisführung –, dann muss das blosse Sein eins mit dem Seinsnotwendigen sein, und als dieses wiederum ist es mit Gott gleichzusetzen.³⁶⁴ Die Auffassung von Gott als dem Seinsnotwendigen findet sich ja auch bei islamischen Philosophen vor Mullā Ṣadrā,³⁶⁵ nur dass diese ihn nicht wie die Anhänger von Mullā Ṣadrās Lehre mit dem blossen Sein gleichsetzen. Ebenso gut aber, wie sich Gott, da er das blosse Sein ist, als Seinsnotwendigkeit verstehen lässt, kann er als Seinsfülle aufgefasst werden, denn alles Seiende ist von ihm als dem Sein als solchem abhängig, nicht aber er als das Sein als solches von irgendeinem Seienden. Die Seinsfülle, die Gott ist, lässt sich daher auch mit Unabhängigkeit, Unbedürftigkeit oder Vollkommenheit gleichsetzen. Was nun das von Gott, dem blossen Sein, Abhängige betrifft, so sagt Muṭahharī darüber: „Auf der anderen Seite treffen wir auf Existenzen, welche im Verhältnis [zu ihrem Abstand von der blossen Existenz in der Seinsordnung] der […] Vollkommenheit […] und Unabhängigkeit ermangeln. So verstehen wir, dass diese Existenzen nicht dasselbe sind wie jenes Existente, welches sich mit Notwendigkeit aus dem eigentlichen [d. h. blossen] Sein ergibt. Diese Existenzen können nicht die blosse Existenz sein. Es sind Existenzen, denen Mangel, Beschränktheit und Unvollkommenheit anhaften.“³⁶⁶ Muṭahharīs Bemerkungen an dieser Stelle geben Mullā Ṣadrās Lehre über das Verhältnis zwischen dem blossen Sein, das er mit Gott in eins setzt, und dem Seienden, das er das entfaltete Sein nennt, wieder, genau jenes Verhältnis eben, das sich mit dem Gleichnis einer stufenweise verstellbaren Lichtquelle veranschaulichen lässt, wobei die Abstufungen des Lichtes der Lichtquelle für das Seiende, das entfaltete Sein, und das Licht als solches unter Absehung von jeder Abstufung für das blosse Sein stehen. Das Verhältnis zwischen blossem Sein und entfaltetem Sein ist aber eins mit dem Verhältnis zwischen Schöpfer, d. h. Gott, und Geschöpf, denn das blosse Sein wird ja mit Gott gleichgesetzt. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf wiederum ist gleichbedeutend mit dem zwischen Ursache und Verursachtem. Dann können wir aber genauso gut sagen: Das Verhältnis zwischen blossem Sein und entfaltetem Sein ist gleichbedeutend mit dem Verhältnis zwischen 363 M, 1381, V:127 364 Vgl. ebda. 365 Vgl. etwa Rudolph, 2004:47; Ṭālebzādeh, 1385b:43. 366 M, 1381, V:127.
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Ursache und Verursachtem. Folglich besteht auch das Vollkommenheitsgefälle der Geschöpfe, des entfalteten Seins also, gegenüber dem blossen Sein, d. h. Gott dem Schöpfer, darin, dass das entfaltete Sein von dem absoluten Sein verursacht ist – in Muṭahharīs Worten: „Mangel, Unvollkommenheit und Beschränktheit erwachsen aus Verursachtheit, d. h. aus Nachgeordnetheit gegenüber der Stufe des Seins als solchen.“³⁶⁷ Ähnlich formuliert es Ṭālebzādeh: „Verursachtheit und Abhängigkeit der seienden Dinge erwachsen aus der geringeren Seinsfülle ihrer Seinsstufe.“³⁶⁸ Für diese Abhängigkeit bzw. Bedürftigkeit ist in der Schule von der Eigentlichkeit des Seins der Ausdruck „ontologische Bedürftigkeit“³⁶⁹ geprägt worden.³⁷⁰ Weiter sagt Ṭālebzādeh: „Je tiefer ein aussergeistig existierendes Ding hinsichtlich seiner Seinsstufe steht und eine je geringere Seinsfülle es hat, desto unvollkommener und folglich abhängiger von den ihm übergeordneten Stufen ist es.“³⁷¹ Ob ein Seiendes einem anderen Seienden gegenüber also Ursache oder Verursachtes ist, hängt davon ab, ob es in der Seinsordnung ihm gegenüber auf einer übergeordneten oder untergeordneten Stufe steht – in Ṭālebzādehs Worten: „Also muss das Kriterium für die Abhängigkeit des Verursachten von der Ursache in der geringeren Seinsfülle und in der Unvollkommenheit seiner Seinsstufe gesehen werden.“³⁷² So wird in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins Kausalbeziehung mit Seinsbeziehung, kausale Abhängigkeit mit ontologischer Abhängigkeit erklärt. Wir könnten ergänzen: Die ontologische Abhängigkeit, die in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ontologische Bedürftigkeit heisst, lässt sich, von „oben“ nach „unten“ betrachtet, als Kausalabhängigkeit und, von „unten“ nach „oben“ betrachtet, als Liebe auffassen, beides als ein und dasselbe. Muṭahharī bemerkt über das Verhältnis zwischen Ursache und Verursachtem zudem: „[…] das Verursachte ist nicht etwas, das sich von der Ursache verselbständigen und gleich wie ein Neugeborenes aus der Mutter hervorgehen würde und dieser gegenüber fortan als ein Zweitwesen [auf derselben Stufe der Seinsordnung] zu gelten hätte.“³⁷³ Freilich ist ein Neugeborenes für seine Existenz auf Gedeih und Verderb von der Mutter abhängig und in diesem Sinne ihr gegenüber keineswegs ein selbständiges Zweitwesen. Aber das ist nicht der Punkt, auf den Muṭahharī in dieser Veranschaulichung hinaus will. Was er meint, ist vielmehr, dass, obwohl das Neugeborene zu seiner Mutter in einem Verhältnis der Abhän-
367 Ebda. 368 Ṭālebzādeh, 1385b:104. 369 „faqr wuǧūdī/faqr-e voǧūdī“: Vgl. ebda. 370 Ebda. 371 Ebda. 372 Ebda. 373 M, 1381, V:127.
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gigkeit steht, Mutter und Neugeborenes nicht auf verschiedenen Stufen der Seinsordnung stehen: Das Neugeborene ist ebenso sehr und im selben Sinne Mensch, wie seine Mutter Mensch ist, und in dieser Hinsicht eben doch ihr gegenüber ein zweites Wesen und ein zweiter Angehöriger derselben Stufe der Seinsordnung wie sie. „Das Verursachte“, so führt Muṭahharī seinen Gedanken fort, „ist gleichbedeutend mit der Beziehung und Bedürftigkeit gegenüber der Ursache, ist selbst nichts anderes als Offenbarung und Erscheinung der Ursache. Das Sein des Verursachten beruht auf seiner Ursache, und somit gilt es gegenüber der Ursache nicht als ‚Zweitwesen‘.“³⁷⁴ So beweist denn Muṭahharī die Existenz Gottes anders als etwa Anselm und Descartes im ontologischen Gottesbeweis nicht aus dem Begriff Gottes, sondern daraus, dass er Gott als das Seinsnotwendige mit dem blossen Sein gleichsetzt, dem einen ontologischen Prinzip also, in dem nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins die Wirklichkeit des Seienden bestehen muss. Gemäss diesem Beweis, so schliesst Muṭahharī seine vorigen Bemerkungen, „ist das, was existiert, einzig das unvergängliche göttliche Selbst samt seinen Wirkungen, welche seine Offenbarungen, Erscheinungen und Abstufungen sind.“³⁷⁵ Muṭahharī selbst hebt den Unterschied in Methode, Inhalt und intellektueller Qualität zwischen dem Gottesbeweis der Schule Mullā Ṣadrās und Anselms ontologischem Gottesbeweis hervor mit den Worten, dass bei dem ersteren „[…] das Prinzip, ‚dass Existenz im Bereich des Aussergeistigen kein Zusatz zur Essenz ist‘, als schlüssig und gesichert anerkannt worden ist […].“³⁷⁶ Die Berechtigung dieser Anerkennung gründet ihrerseits wieder in dem Beweis Mullā Ṣadrās, dass Existenz, nicht Essenz, die aussergeistige Wirklichkeit des Seienden ausmacht, einem Beweis, den Muṭahharī an dem Beispiel „Mensch“ bereits an anderer Stelle dargelegt hat.³⁷⁷ „Sodann“, wie Muṭahharī fortfährt, „ist der Beweis [für die Existenz Gottes gemäss der Lehre Mullā Ṣadrās] unter Berufung auf das eigentliche, tiefe und grundstürzende philosophische Prinzip, nämlich die ‚Eigentlichkeit der Existenz‘, sowie auf die [daraus abgeleiteten] Prinzipien […] der ‚Notwendigkeit der Existenz [als Grundlage] für die Selbstheit [eines Seienden]‘, der ‚Gleichbedeutung von Existenz mit Aktualität, Universalität und Vollkommenheit‘ [und auf das Prinzip, dass Existenz im Bereich des Aussergeistigen kein Zusatz zur Essenz ist] durchgeführt worden. Demgegenüber ist bei Anselms ontologischem Gottesbeweis eines der grundlegendsten und evidentesten ontologischen Prin-
374 Ebda. 375 Ebda. 376 Ebda. 377 Ebda.; vgl. M, 1381, III:53.
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zipien, nämlich das Prinzip, ‚dass Existenz im Bereich des Aussergeistigen kein Zusatz zur Essenz ist‘, missachtet worden.“³⁷⁸ Selbst wenn ich mir also aufgrund von Descartes’ Prinzips „Ich denke, also bin ich“ meiner eigenen Existenz als des Subjekts von Wahrnehmung und Erkenntnis vergewissern könnte, so dürfte ich aus dieser meiner subjektiven Gewissheit unter Zwischenschaltung des ontologischen Gottesbeweises immer noch keine Gewissheit hinsichtlich der Verlässlichkeit meiner Erkenntnismittel bei der Gewinnung objektiver Erkenntnis ableiten. Der ontologische Gottesbeweis, da in sich selbst philosophisch anfechtbar, taugt nicht als Brücke, auf der ich von meiner subjektiven Erkenntnis zu objektiver Erkenntnis hinüberschreiten könnte. Begreifen wir daher den Ausdruck „modern“ als Beschreibung der kartesianischen Lehre im Sinne von „nachklassisch“, so wird Descartes’ Philosophie in den Augen von Gelehrten aus derselben Schule wie Muṭahharī diesem Anspruch auf Modernität nicht gerecht. Und zwar wird sie es deshalb nicht, weil ihre Methode zur Gewinnung sicherer objektiver Erkenntnis derjenigen der klassischen Philosophie, deren Fortsetzung und Vollendung für Gelehrte wie Muṭahharī die islamische Philosophie, ihrerseits vollendet in der Lehre Mullā Ṣadrās, darstellt, intellektuell nicht überlegen ist. Begreifen wir andererseits den Ausdruck „modern“ in bezug auf die kartesianische Lehre im Sinne von „nachscholastisch“, so wird Descartes’ Philosophie in den Augen von Gelehrten wie Muṭahharī ihrem Anspruch auf Modernität abermals nicht gerecht, weil nämlich ihr Beweis für die Existenz Gottes nicht ein nachscholastischer, sondern ein scholastischer, eben Anselms ontologischer Gottesbeweis, ist, und noch dazu einer, der sich seinerseits als intellektuell unzulänglich erweisen lässt.
3.2.1.3 Ein „Grundfehler“ des abendländischen Denkens seit dem Mittelalter Dabei entspringt die Unzulänglichkeit des ontologischen Gottesbeweises aus Sicht von Denkern wie Muṭahharī im Grunde genommen einem fehlerhaften Verständnis des Verhältnisses zwischen Ding und Begriff, wir könnten auch sagen: einer mangelhaften oder überhaupt fehlenden Unterscheidung zwischen den beiden. Dieser Grundfehler liegt für sie bereits in der vormodernen abendländischen Philosophie vor – dies zeigt Anselms ontologischer Gottesbeweis – und wird von der modernen abendländischen Philosophie entgegen ihrem eigenen Anspruch auf geistige Höherwertigkeit gegenüber der scholastischen Philosophie des Mittelalters nicht etwa behoben – dies zeigt die Weiterverwendung von Anselms ontologischem Gottesbeweis durch Descartes und andere –, sondern vielmehr in diese
378 M, 1381, V:127.
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eingeschleppt und in dieser fortan in verschiedenen Ausprägungen wiederholt. So bemerkt denn Muṭahharī etwa: „[…] die Abweichung in den Auffassungen, die in der Frage nach dem ‚Weg des Erkenntniserwerbs‘ zwischen den Gelehrten des Ostens und denen des Westens […] besteht, betrifft die Gehalte von Erkenntnis und Wahrnehmung auf der Ebene der Begriffe, d. h. der einfachen Grundbegriffe (ohne Urteil) […].“³⁷⁹ und: „[…] jene Abweichung in den Auffassungen betrifft die Begriffe, nicht die Gehalte der stellungnehmenden Erkenntnis [im Urteil], und zwar genauer im Lichte der Frage, auf welchem Wege die Begriffe in unserem Geiste ursprünglich entstehen. Dieses Problem hat vor allem einen ‚psychologischen‘ Aspekt und lässt die Richtungen der Philosophen in der Frage nach Ursprung und Ausgangspunkt der Begriffe auseinandergehen.“³⁸⁰ Damit meint Muṭahharī nicht, dass alle Denker der islamischen Geistesgeschichte und alle Denker der abendländischen Geistesgeschichte in der Frage der Begriffe untereinander jeweils ein und dieselbe Auffassung vertreten würden. Seine Äusserungen sind wohl eher so zu verstehen, dass sich in der abendländischen Geistesgeschichte kein einziger Denker findet, der in dieser Frage eine Auffassung vertreten würde, die sich auch bei irgendeinem islamischen Denker feststellen liesse. Viele massgebliche philosophische Lehren der modernen abendländischen Geistesgeschichte lassen sich aus Sicht von Gelehrten wie Muṭahharī daher geradezu als verschiedenartige Wiederholungen dieses selben Grundfehlers der fehlenden Unterscheidung zwischen Ding und Begriff erklären und anfechten.
Der Universalienstreit der Scholastik Im Fall der scholastischen Philosophie des abendländischen Mittelalters erkennt Muṭahharī das Auftreten des besagten Grundfehlers, der mangelnden Unterscheidung zwischen Begriff und Ding, darin, dass die Scholastiker nicht zwischen dem Problem der Existenz der Begriffe – genauer: der Allgemeinbegriffe; lateinisch: Universalien – und dem Problem der Ideen nach dem Verständnis des Platonismus unterschieden hätten.³⁸¹ Letztere werden als Wesenheiten oder Gegenstandseinheiten, zuweilen gleichgesetzt mit den schöpferischen Gedanken Gottes, aufgefasst, die, selbst unsinnlich und allgemein, den sinnlichen Einzeldingen als deren Seins- und Erkenntnisgrund übergeordnet sind und unabhängig
379 M, 1381, II:30. 380 M, 1381, II:102. 381 Vgl. M, 1381, I:61.
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von diesen bestehen.³⁸² Nach dieser Auffassung lassen sich die Ideen in der Tat als Dinge bezeichnen, zumal sie, selbst Erkenntnisgrund, an sich unabhängig vom Geist des Menschen bestehen, es sich bei ihnen daher auch nicht um blosse Erzeugnisse des menschlichen Geistes, um sogenannte Gedankendinge, handeln kann. Die fehlende Unterscheidung zwischen den allgemeinen Begriffen, den Universalien, auf der einen Seite und jenen allgemeinen Dingen namens Ideen auf der anderen ist in Muṭahharīs Augen denn auch überhaupt der Anlass für den rückblickend so genannten Universalienstreit³⁸³ unter den Scholastikern, auf den der Gelehrte zu sprechen kommt mit den Worten: „Unter den Scholastikern des Mittelalters war die einzige Diskussion, welche sie stets beschäftigte und eine gewaltige Kontroverse auslöste, die Diskussion um die Existenz der ‚Allgemeinbegriffe‘, in der es darum ging, ob Allgemeinbegriffe (wie etwa [der Allgemeinbegriff] ‚Mensch‘) existent sind oder nicht, ob ihre Existenz, angenommen, sie seien existent, im Bereich des Innergeistigen liegt oder im Bereich des Aussergeistigen und ob ihnen im Bereich des Aussergeistigen eine Existenz unabhängig [von den Einzeldingen] zukommt oder nicht.“³⁸⁴ Muṭahharī erwähnt drei Positionen im Universalienstreit. Von den Vertretern der einen sagt er: „Diejenigen, welche dem ‚Allgemeinen‘ keinerlei Existenz, weder in der Aussenwelt noch im [menschlichen] Geiste, zuschrieben und das ‚Allgemeine‘ nur für ein gegenstandsloses Wortzeichen“ – einen blossen Namen, lateinisch „Nomen“ – „hielten, hiessen ‚Nominalisten‘.“³⁸⁵ Die Nominalisten leugnen also schlechthin die Existenz des Allgemeinen. Und weil sie im Zeichen der mangelnden Unterscheidung zwischen Begriff und Ding hinsichtlich des Allgemeinen nicht zwischen dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeinbegriffs auf der einen und dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeindings, einer Idee, unterscheiden, ist ihre Leugnung der Existenz des Allgemeinen gleichbedeutend mit der Verneinung sowohl der Existenz von Allgemeinbegriffen als auch der Existenz von Ideen. Als eine weitere Position im Universalienstreit erwähnt Muṭahharī eine genaue Gegenposition zu der vorherigen, und zwar mit den Worten: „Diejenigen, welche dem ‚Allgemeinen‘ eine Wirklichkeit unabhängig von den Einzeldingen zuschrieben, hiessen ‚Realisten‘.“³⁸⁶ Die Anhänger dieser Richtung bejahen also schlechthin die Existenz des Allgemeinen. Und weil sie im Zeichen der mangelnden Unterscheidung zwischen Begriff und Ding hinsichtlich des Allgemeinen
382 Vgl. M, 1381, I:59; Brugger, 1963:240 („Platonismus“), 253 („Rationalismus“),257 („Realismus“); Hügli/Lübcke, 2005:638b. 383 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:638b) ff. 384 M, 1381, I:60 f. 385 M, 1381, I:61. 386 Ebda.
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nicht zwischen dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeinbegriffs auf der einen und dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeindings, einer Idee, unterscheiden, ist ihre Bejahung der Existenz des Allgemeinen gleichbedeutend mit der Bejahung der Existenz von Allgemeinbegriffen im Sinne von Ideen. Genauso, wie im Geiste des Menschen das Allgemeine im Sinne allgemeiner, rein geistiger Begriffe in der Ordnung des Denkens oberhalb der Sinnen- und Vorstellungsbilder von diesem oder jenem Einzelnen steht, so besteht gemäss den Vertretern dieser Position das, was mit den rein geistigen Allgemeinbegriffen gemeint ist, ausserhalb des Geistes des Menschen – manche sagen: im Geiste Gottes – als ebenfalls allgemeine, rein geistige Dinge, die in der Ordnung des Seins im Rang oberhalb und in einem Bereich ausserhalb dieses oder jenes sinnlich wahrnehmbaren Einzeldings stehen – als Ideen eben.³⁸⁷ Schliesslich stellt Muṭahharī noch eine Gegenposition zum Nominalismus vor, eine Position, über deren Anhänger er bemerkt: „[…] sie sprachen dem ‚Allgemeinen‘ sowohl eine innergeistige Existenz als auch eine aussergeistige Existenz in den Einzeldingen zu, und man nannte sie ‚Idealisten‘.“³⁸⁸ Dabei meint Muṭahharī mit „Idealisten“ an dieser Stelle für einmal nun aber eben nicht die Vertreter des erkenntnistheoretischen Idealismus, den er mit Relativismus oder auch Skeptizismus bzw. Sophismus gleichsetzt, der Gegenposition zur Philosophie im Sinne von Realismus und Dogmatismus also. Zwar sind auch für die Idealisten, von denen Muṭahharī hier spricht, die Gehalte des Geistes, die „Ideen“, Massstab und Gewähr für die Wahrheit, ist das Sein, die aussergeistige Wirklichkeit, letztlich vom Geist her bestimmt. Aber anders als im Falle des erkenntnistheoretischen Idealismus sind mit den Gehalten des Geistes hier nicht die Gehalte des Geistes des Menschen, sondern die Gehalte des Geistes Gottes gemeint. Dieser ist aber selbst das blosse Sein, nach dessen Gehalten oder eben Ideen alles Seiende, das selbst nicht das blosse Sein ist, geformt ist.³⁸⁹ Deshalb auch ist alles Seiende von seiner ontologischen Grundlage her geistig und somit geistig erkennbar.³⁹⁰ Was Muṭahharī an dieser Stelle Idealismus nennt, ist der sogenannte echte Idealismus, der zum Gedankengut gerade auch der scholastischen Philosophie gehört.³⁹¹ Und zwar versteht diejenige Strömung der Scholastik, um die es in Muṭahharīs Bemerkung geht, die Formung des aussergöttlichen Seienden durch die Ideen, die Gehalte von Gottes Geist, als Teilhabe eines jeden aussergöttlichen Seienden an den göttlichen Ideen und als ihr Abbild: Einem jeden Ding ist eine
387 Vgl. Brugger, 1963:257. 388 M, 1381, I:61. 389 Vgl. Brugger, 1963:142 („Idealismus“). 390 Ebda. 391 Ebda.
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Idee, verstanden als ein Gedanke Gottes, eingeprägt, der es von vornherein in seiner Eigenart bestimmt – eine scholastische Lehre, deren Urheber Thomas von Aquin ist.³⁹² In diesem Sinne ist denn auch Muṭahharīs Bemerkung zu verstehen, dass diese Gruppe unter den Scholastikern dem Allgemeinen eine aussergeistige Existenz in den Einzeldingen zuspreche. Die Idee als Gedanken Gottes in den Einzeldingen gilt es für den Menschen nach dieser scholastischen Lehre beim begrifflichen Erkennen in diesen zu erfassen. Gelingt dies, existiert die Idee als Erkenntnisinhalt im Geist des Menschen. In diesem Sinne ist Muṭahharīs Bemerkung zu verstehen, dass diese Gruppe von Scholastikern, die er Idealisten nennt, dem Allgemeinen nicht nur eine aussergeistige Existenz in den Einzeldingen, sondern auch eine innergeistige Existenz zuspreche. Auch die Anhänger dieser Richtung bejahen also schlechthin die Existenz des Allgemeinen. Und weil sie im Zeichen der mangelnden Unterscheidung zwischen Begriff und Ding hinsichtlich des Allgemeinen nicht zwischen dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeinbegriffs auf der einen und dem Allgemeinen im Sinne eines Allgemeindings, einer Idee, unterscheiden, ist auch ihre Bejahung der Existenz des Allgemeinen gleichbedeutend mit der Bejahung der Existenz von Allgemeinbegriffen im Sinne von Ideen. Genauso, wie im Geiste des Menschen das Allgemeine im Sinne allgemeiner, rein geistiger Begriffe in der Ordnung des Denkens oberhalb der Sinnen- und Vorstellungsbilder von diesem oder jenem Einzelnen steht, so besteht gemäss den Vertretern dieser Position das, was mit den rein geistigen Allgemeinbegriffen gemeint ist, ausserhalb des Geistes des Menschen – genauer: im Geiste Gottes – als ebenfalls allgemeine, rein geistige Dinge, als Ideen eben, die in der Ordnung des Seins im Rang oberhalb, nicht aber in einem Bereich ausserhalb dieses oder jenes sinnlich wahrnehmbaren Einzeldings stehen, sondern eben in den Einzeldingen selbst existieren. Beide Positionen, der sogenannte Realismus genauso wie der „echte“ Idealismus, setzen die innergeistige Existenz des Allgemeinbegriffs mit der dinglichen Existenz der Idee, des Allgemeindings, gleich: Wie im Begriff also das Allgemeine oberhalb der Sinneswahrnehmung des Einzelnen steht und losgelöst vom Einzelnen gedacht wird, so bestehen auch ausserhalb des Denkens eigene allgemeine Dinge, sei es in den Einzeldingen selbst wie im „echten“ Idealismus, sei es von ihnen getrennt wie in der Position, die Muṭahharī als Realismus erwähnt.³⁹³ Zwar vertritt die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, welcher Muṭahharī selbst anhängt, ebenfalls einen Realismus. Nach dieser Lehre aber handelt es sich bei der Existenz des Allgemeinen als Allgemeinbegriff im Geiste des Menschen auf der einen und bei der Existenz des Allgemeinen als Allgemeinding, als Idee, aus392 Vgl. Brugger, 1963:144 („Idee“). 393 Vgl. Ders, 1963:257.
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serhalb des Geistes des Menschen auf der anderen Seite nicht um Existenz im gleichen Sinne.³⁹⁴ Es handelt sich bei ihnen um Existenz in lediglich vergleichbarem und folglich doch auch verschiedenem Sinne, mit anderen Worten: Die Existenz des Allgemeinen als Allgemeinbegriff im Geiste des Menschen und die Existenz des Allgemeinen als Allgemeinding ausserhalb des Geistes des Menschen stehen zueinander im Verhältnis einer Analogie, in genau dem Verhältnis eben, in dem nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins Begriff und Ding überhaupt zueinander stehen. Das Verhältnis zwischen Begriff und Ding ist aber, wie Ṭabāṭabāʾī bemerkt, in dem Sinne als ein analoges zu verstehen, dass ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit im Status eines Ursprungs von Wirkungen existiert und sein Begriff als das nämliche Ding der aussergeistigen Wirklichkeit abzüglich seines Status eines Ursprungs von Wirkungen. Dass dem Begriff eben dieser Status eines Ursprungs von Wirkungen abgeht, bedeutet ja auch, dass dem Begriff im Unterschied zum Urteil keine Seinsbezogenheit zukommt. Der Realismus, den Muṭahharī im Namen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins in der Frage der Allgemeinbegriffe oder der Begriffe überhaupt vertritt, ist also ein anderer Realismus als der, den er als eine der Richtungen der mittelalterlichen Scholastik des Abendlandes erwähnt. Und in der Hinsicht, dass nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins Begriff und Ding zueinander nicht im Verhältnis der Gleichheit wie im scholastischen Realismus, sondern nur im Verhältnis der Analogie stehen, lässt sich der Realismus, den die Anhänger von Mullā Ṣadrās Philosophie vertreten, auch in der Frage der Allgemeinbegriffe als gemässigter Realismus³⁹⁵ bezeichnen. Im Zeichen des gemässigten Realismus der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins unterscheiden Denker wie Muṭahharī zwischen Begriff und Ding und so auch zwischen Allgemeinbegriff und Allgemeinding, d. h. Idee. Im übrigen hält Muṭahharī diese Unterscheidung nicht nur für ein Verdienst der Lehre, die er selber vertritt, sondern für einen Vorzug der islamischen Philosophie als ganzer gegenüber der abendländischen. Die Deutlichkeit, mit der in der islamischen Geistesgeschichte zwischen Begriff und Ding unterschieden wird, unterstreicht Muṭahharī mit dem Hinweis darauf, dass „[…] das erste Problem [d. h. das der Begriffe einschliesslich der Allgemeinbegriffe] in der ‚Logik‘ und zuweilen in der ‚Philosophie‘“ – und damit meinen Denker wie Muṭahharī im Grunde Seinslehre – „behandelt wurde […], das zweite Problem aber [d. h. das der Dinge einschliesslich der Allgemeindinge, der Ideen] in der Philosophie Gegenstand eines eigenen Teilgebietes war […].“³⁹⁶
394 Vgl. ebda. 395 Über den Ausdruck „gemässigter Realismus“ vgl. ebda. 396 M, 1381, I:61.
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Die Bedeutung der Abstraktion als Weg der Erkenntnis Die Notwendigkeit, Begriff und Ding zu unterscheiden, ergibt sich daraus, dass einem Begriff überhaupt nur insofern ontologischer Status zukommt, als er Begriff von etwas, d. h. einem Ding, ist. Wenn es aber nur seine Beziehung zu dem jeweils gemeinten Ding ist, was dem Begriff ontologischen Status verleiht, so ist alles, was ohne diese Beziehung auch immer vorliegt, ohne den Status eines Begriffs: Was nicht Begriff eines Dings ist, ist nämlich entweder das Ding selbst und nur dieses – dann liegt der ontologische Status des Dings selbst, nicht aber der des Begriffs vor – oder weder das Ding selbst noch der Begriff desselben und damit gar nichts – und dann liegt gar kein ontologischer Status vor, weder der eines Dings noch der eines Begriffs. Dieser selbe Gedanke findet sich bei Ṭabāṭabāʾī ausgedrückt, und zwar dort, wo dieser im Zeichen der Einteilung der Wissensgehalte in einzelne bzw. individuelle und allgemeine bzw. universale den Weg der Herleitung des rein geistigen Allgemeinen aus dem sinnlich erfahrbaren Einzelnen erläutert. Dabei definiert der Gelehrte allgemeine und individuelle Wissensgehalte mit den Worten: „[…] wenn sich ein Wissensgehalt nicht mehr als einem Einzelnen beilegen lässt, ist er ‚individuell‘, wie etwa diese Wärme, die ich gerade sinnlich wahrnehme, und dieser Mensch, den ich gerade sehe; wenn er sich aber mehr als einem Einzelding beilegen lässt, ist er ‚allgemein‘, wie eben der Begriff ‚Mensch‘ und der Begriff ‚Baum‘, der sich jedem beliebigen Menschen oder Baum beilegen lässt.“³⁹⁷ Im Zuge dieser Darlegung formuliert er den obigen Gedanken anhand der Bildung der Allgemeinbegriffe wie folgt: „[…] wenn wir, einmal angenommen, einen ‚Allgemeinbegriff‘ ohne Bezugnahme auf ein vorliegendes Sinnenbild [des betreffenden Dings in der Aussenwelt] bilden könnten, so würden wir bei der Bildung desselben den Status eines Ausgangspunktes von Wirkungen entweder einbeziehen oder nicht.“³⁹⁸ Der Status eines Ausgangspunktes von Wirkungen ist es aber, was den ontologischen Status des Dings in der aussergeistigen Wirklichkeit selbst ausmacht. Ṭabāṭabāʾī fährt fort: „Das heisst, wir würden beim Bilden des Allgemeinbegriffes ‚Mensch‘ entweder von einem Einzelwesen [‚Mensch‘] in der Aussenwelt, das Ausgangspunkt von Wirkungen ist, ausgehen und einen Allgemeinbegriff, der ohne die Wirkungen des Einzelwesens in der Aussenwelt ist, bilden oder nicht. Im ersteren Fall müssen wir das Ding in der aussergeistigen Wirklichkeit, das Ausgangspunkt von Wirkungen ist, bereits erfasst haben; dies ist aber das ‚Sinnenbild‘. Im zweiten Fall hätten wir eine aussergeistige Wirklichkeit unter anderen aussergeistigen Wirklichkeiten gebildet, nicht einen innergeistigen Begriff […].“³⁹⁹ 397 T, 1381, I:180. 398 Ebda. 399 Ebda.
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Der Weg unserer Erkenntnis nun, der vom Sinnenbild, und damit letztlich vom sinnlich erfahrbaren einzelnen Ding in der Aussenwelt selbst, zum innergeistigen Begriff, dem Erkenntnisbild desselben, führt, heisst in der philosophischen Fachsprache Abstraktion, ein Weg, dessen wichtigste Stationen Ṭabāṭabāʾī folgendermassen beschreibt: „[…] alle Gehalte der Erkenntnis und Begriffsbildung gehen auf die Sinne zurück; damit ist gemeint, dass jeder beliebige Begriff entweder unmittelbar selbst ein Gehalt der Sinneswahrnehmung [d. h. das Sinnenbild] ist oder der nämliche Gehalt der Sinneswahrnehmung, nur weiterverarbeitet und in einem neuen ontologischen Status. So ist etwa die Wärme eines sinnlich erfahrenen Einzeldings das ‚Sinnenbild‘, das sich als gerade dieses und nicht etwa jenes betreffende Einzelne hervorheben lässt und veränderlich ist. Dem ‚Vorstellungsbild‘ desselben wiederum kommt zwar die Essenz des Warmseins und individuelle Hervorhebbarkeit zu, es ist aber in der Hinsicht, dass es ein Gehalt der Vorstellung ist, nicht veränderlich […]“,⁴⁰⁰ d. h. die Vorstellung eines Gegenstandes ist nicht wie die unmittelbare sinnliche Erfahrung desselben an dessen Anwesenheit im Hier und Jetzt in der Aussenwelt gebunden. „Dem [rein geistigen] ‚Allgemeinbegriff‘ desselben schliesslich“, so Ṭabāṭabāʾī weiter, „kommt nur die Essenz des Warmseins, nicht aber individuelle Hervorhebbarkeit und Veränderlichkeit zu.“⁴⁰¹ Dass wir die Allgemeinbegriffe, die rein geistig sind, auf dem Weg der Abstraktion aus den sinnlich erfahrbaren einzelnen Dingen entwickeln, bedeutet nun aber nichts anderes, als dass Ursprung und Grundlage der Begriffe als gedanklicher Gehalte nicht selbst wieder gedankliche Gehalte sind, sondern vielmehr sachliche Gehalte, im Falle der Allgemeinbegriffe eben die Dinge der Aussenwelt. Unter anderem dies verbürgt für Anhänger des Realismus im Sinne der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Gründung unseres Denkens im Sein. Denn zwar sind die Gehalte des Begriffswissens selbst nicht auf das Sein bezogen – der Begriff gibt nur an, was etwas ist, seine Essenz, nicht aber, dass es ist –, und insofern handelt es sich beim Begriffswissen um mittelbares Wissen. Jedoch gehen die Begriffe ja letztlich auf die Sinneserfahrung zurück, und die Sinneserfahrung besteht im unmittelbaren Kontakt unserer Sinnesorgane mit der Aussenwelt und ist insofern ein unmittelbares, gegenwärtiges Wissen. Denn, wie Ṭabāṭabāʾī bemerkt, „[…] die Gegenstände der Sinneswahrnehmung […] sind mit ihrer Wirklichkeit in den Sinnen existent“,⁴⁰² wobei „Wirklichkeit“ im Lichte der Lehre, welche dieser Denker vertritt, „Existenz“ im Unterschied zu Essenz bedeutet. Daran zeigt sich, dass jeder mittelbare Wissensgehalt auf 400 T, 1381, I:181. 401 Ebda. 402 T, 1381, II:46.
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einem Gehalt gegenwärtigen Wissens beruht, oder, wie Ṭabāṭabāʾī es ausdrückt: „Zu jedem mittelbaren Wissensgehalt gehört, was seinen Gegenstand betrifft, ein unmittelbarer Wissensgehalt.“⁴⁰³ Das gegenwärtige, unmittelbare Wissen, auf dem das mittelbare Begriffswissen aufbaut, ist also die Sinneserfahrung, und Abstraktion ist, so gesehen, ein Erkenntnisvorgang, in dem, wie Ṭabāṭabāʾī es formuliert, „gegenwärtiges Wissen […] unter Abzug des Status als Ausgangspunkt von Wirkungen in mittelbares Wissen umgewandelt wird.“⁴⁰⁴ Für Anhänger von Lehren mit fehlender oder ungenügender Unterscheidung zwischen Begriff und Ding hingegen kommt die Abstraktion als Weg des Erkenntniserwerbs entweder gar nicht erst in Frage oder verbürgt keine Gewissheit, genauer: keine theoretische Gewissheit, jene Gewissheit also, bei der es Muṭahharī zufolge „[…] eigentlich um die Frage geht, ob es sich bei den Gehalten unserer Wahrnehmung und Erkenntnis um die in unserem Geiste nachvollzogene aussergeistige Wirklichkeit und die Dinge an sich handelt oder um etwas anderes […].“⁴⁰⁵ Da die Abstraktion aber von der Sinneserfahrung ihren Ausgang nimmt, können wir ebensogut sagen: Für Anhänger von Lehren mit fehlender oder ungenügender Unterscheidung zwischen Begriff und Ding kommt die Sinneserfahrung als Weg des Erkenntniserwerbs entweder gar nicht erst in Frage oder verbürgt keine theoretische Gewissheit. In diesem Sinne bemerkt denn auch Muṭahharī, für den alle philosophischen Lehren des Abendlandes der Neuzeit, die er, beginnend mit Descartes, durchnimmt, auf einer fehlenden oder ungenügenden Unterscheidung zwischen Begriff und Ding beruhen: „[…] diese Art von Erkenntniswert [d. h. der theoretische Erkenntniswert] ist es, den samt und sonders alle neuzeitlichen Gelehrten [des Abendlandes] seit Descartes den Gehalten der Sinneswahrnehmung absprechen, so dass sie sagen: ‚Die Sinneswahrnehmung ist kein Mittel zur Erschliessung der Wahrheit‘.“⁴⁰⁶
Descartes’ eigener Ansatz zur Erschliessung der Aussenwelt ohne Rückgriff auf die Sinneserfahrung Was nun Descartes’ Lehre aus Sicht von Denkern wie Muṭahharī betrifft, so zieht sich die fehlende oder fehlerhafte Unterscheidung zwischen Begriff und Ding, die ja schon dem Gottesbeweis zugrunde liegt, mit dem Descartes von der subjektiven zur objektiven Erkenntnis – von der Erkenntnis meines Ich zu meiner
403 T, 1381, II:139. 404 T, 1381, II:47. 405 M, 1381, I:173. 406 Ebda.
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Erkenntnis der Aussenwelt – überleiten will, von diesem geradewegs hinüber in die Grundlagen seiner Lehre von der Erkenntnis der Aussenwelt. Erkenntnis im Sinne von Gewissheit, und zwar theoretischer Gewissheit, hinsichtlich der Aussenwelt lässt sich Descartes zufolge nicht auf dem Weg der Sinneserfahrung gewinnen. Muṭahharī führt dazu an: „Was die Inhalte, welche unserem Geist mittels der fünf Sinne aus der Aussenwelt zukommen, angeht, so können wir nicht sicher sein, dass sie in der aussergeistigen Wirklichkeit eine Instanz der Wahrheitsverbürgung haben, und wenn sie eine solche haben sollten, so besteht keine Gewissheit, dass das Bild, das in unserem Geiste vorliegt, mit dem aussergeistigen Sachverhalt übereinstimmt.“⁴⁰⁷ Muṭahharī führt auch Beispiele für Inhalte an, welche unserem Geist mittels der fünf Sinne aus der Aussenwelt zukommen: „So stimmt etwa das Bild, das von der Sonne in unserem Geiste vorliegt, gewiss nicht mit der Wirklichkeit überein. Denn aufgrund der astronomischen Gesetze wissen wir, dass die Sonne vieltausendfach grösser als die Erde ist, während ihr Bild in unserem Geiste nicht einmal so gross ist wie eine Handfläche.“⁴⁰⁸ und: „[…] das Ohr hört zwar Geräusche, aber dem Schall selbst kommt keine Wirklichkeit zu […].“⁴⁰⁹ Das, was uns über unsere Sinne als Farbe, Härte, Duft, Temperatur und Geschmack eines Körpers vorkommt, können wir uns Descartes zufolge von dem Körper wegdenken, ohne dass dieser an sich aufgehoben würde.⁴¹⁰ Deshalb besteht für Descartes auch kein sicherer Grund dazu, Inhalte wie diese als die Wirklichkeit des Körpers in der Aussenwelt und damit als objektiv zu verstehen. „Von manchen Körpern kommt mir die Wahrnehmung von Wärme zu“, wie Muṭahharī als Beispiel zitiert, „und ich vermeine, dass diese Körper in eben der Weise Wärme haben, wie ich in meinem Wesen Wärme habe […], aber aus dieser Sinnesempfindung darf ich hinsichtlich der ‚Wirklichkeit der Dinge‘ keine Gewissheit beziehen […].“⁴¹¹ Das einzige, was wir uns Descartes zufolge von dem Körper nicht wegdenken können, ohne dass dieser an sich aufgehoben würde, ist, dass er Raum einnimmt – seine Ausgedehntheit.⁴¹² Ein unausgedehnter Körper ist ein Nichts.⁴¹³ Die Wirklichkeit des Körpers liegt also in seiner Ausgedehntheit sowie in den physikalisch beschreibbaren Wandlungen derselben wie Grösse, Form, Ort, Dauer und Bewegung.⁴¹⁴ Auf die Erkenntnis, dass in der Ausgedehntheit des Körpers dessen Wirklichkeit liegt, kommen wir 407 M, 1381, I:161, 163. 408 M, 1381, I:163. 409 M, 1381, I:162. 410 Vgl. Aster, 1998:200 f. 411 M, 1381, I:162. 412 Vgl. Aster, 1998:201. 413 Ebda. 414 Vgl. Aster, 1998: 200 f.; Hügli/Lübcke, 2005:144a.
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aber nicht auf dem Weg der Sinneswahrnehmung, sondern nur auf dem Weg des Denkens. Die Wirklichkeit wird also nicht mit den Sinnen, sondern allein mit dem Verstand erkannt – in Muṭahharīs Worten: „[…] in Descartes’ Auffassung erbringen nur die Gehalte des Verstandes Gewissheit […].“⁴¹⁵ und: „Descartes […] verlässt sich nur auf die Gehalte des Verstandes und berücksichtigt die Gehalte der Sinneserfahrung nicht.“⁴¹⁶ Ebenso bemerkt er: „Descartes betrachtet von den Bestimmungen des Körpers nur Gestalt, Ausgedehntheit und Bewegung, die in seiner Überzeugung [allein] mit dem Verstand erkennbar […] sind und nicht auf dem Wege der Sinne erschlossen werden, als ‚wirklich‘. Alle übrigen Zuständlichkeiten des Körpers hingegen, die er ‚sekundäre Eigenschaften‘ nennt, betrachtet er als eine Reihe innergeistiger Bilder, die infolge einer Reihe aussergeistiger materieller Bewegungen sowie des Kontaktes des Menschen mit der Aussenwelt und [der Vorgänge] seines Geistes zustande kommen wie Farbe, Geschmack, Duft und andere.“⁴¹⁷ Dabei meint Descartes mit der Gewissheit, die einzig der Verstand erbringt, theoretische Gewissheit, während ihm zufolge, wie Muṭahharī es formuliert, „den Gehalten der Sinneswahrnehmung und der sinnlichen Erfahrung nur der Wert praktischer Gewissheit zukommt.“⁴¹⁸ Diese Auffassung Descartes’ über den Gewissheitswert der Sinneserfahrung, der Empirie, führt Muṭahharī noch etwas genauer aus mit den Worten: „Obwohl Descartes der Sinneserfahrung Bedeutung zuerkannte und selbst in einem gewissen Masse Empiriker war, erachtete er dieselbe doch nur als ein Mittel für die Kontaktnahme des Menschen mit der Aussenwelt zum Gebrauch im [praktischen] Leben für nützlich, nicht zur Erschliessung der Wirklichkeit.“⁴¹⁹ Im selben Sinne führt er an: „[…] die sinnlichen Wahrnehmungen im Menschen dienen allein der Unterscheidung zwischen Nutzen und Schaden sowie der Erkennung der Daseinsbedürfnisse und sind kein Mittel zum Erfassen der Gehalte der Wirklichkeit.“⁴²⁰ und: „Descartes zeigt wissenschaftlich auf, dass die Gehalte der Sinneserfahrung des Menschen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Sie sind nur ein Mittel der Kontaktnahme des Leibes mit der Körperwelt und schaffen uns ein Bild von der Welt, das nicht wirklichkeitshaltig ist; die Wirklichkeit ist etwas anderes.“⁴²¹ So gibt es für Descartes denn keine Erkenntnisgehalte mit Gewissheitswert, die als rein geistige Verstandesgehalte von überempirischem Erkenntniswert aus
415 M, 1381, I:161. 416 Ebda. 417 M, 1381, I:162. 418 M, 1381, I:161. 419 Ebda. 420 M, 1381, I:162. 421 Ebda.
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Gehalten der Empirie, der Sinneserfahrung, entwickelt worden wären. Es gibt für Descartes nur gewissheitswertige Erkenntnisgehalte, die als rein geistige Verstandesgehalte von überempirischem Erkenntniswert im Verstand bestehen, ohne aus Gehalten der Empirie entwickelt worden zu sein. Die Entwicklung von rein geistigen, verstandesmässigen Erkenntnisgehalten mit überempirischer Geltung aus der Empirie beschreibt aber eben den Vorgang der Abstraktion, und so können wir auch sagen: Für Descartes gibt es keine rein geistigen Erkenntnisgehalte – wie eben etwa die Begriffe, insbesondere die Allgemeinbegriffe –, die aus der Abstraktion stammen würden,⁴²² und in diesem Sinne gilt für Descartes, dass er der Abstraktion und also letztlich den Gehalten der Sinneswahrnehmung den Wert theoretischer Gewissheit abspricht. Alle rein geistigen Erkenntnisgehalte des Verstandes entstammen selbst dem Verstand, der „Ratio“. Deshalb sind Descartes und seine Anhänger in der Philosophiegeschichte auch unter dem Namen „Rationalisten“ und ihre Denkströmung als „Rationalismus“ bekannt geworden, und in dieser Bedeutung, und nur in dieser, werden Ausdrücke wie „Rationalismus“, „Rationalist“ und „rationalistisch“ von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī verwendet:⁴²³ „Diese Gruppe“, wie Muṭahharī erläutert, „nennt man in Anbetracht dessen, dass sie [nur] Verstandesgehalte gelten lässt, die nicht auf Sinneswahrnehmung beruhen, ‚Rationalisten‘.“⁴²⁴ „Die Lehre dieser Denker“, so bemerkt er weiter, „lässt sich mit den Worten zusammenfassen, dass [nur] Verstandesgehalten Gewissheits- und Erkenntniswert zukommt, die Gehalte der Sinneswahrnehmung aber nur praktischen Wert haben.“⁴²⁵
Descartes’ Lehre über die Bildung unserer grundlegenden Verstandesgehalte im Lichte der von Muṭahharī vertretenen Lehre Auf die Lehre der Rationalisten über die Begriffe, insbesondere die allgemeinen Begriffe, unter den Verstandesgehalten kommt Muṭahharī verschiedentlich zu sprechen. Seinen Bemerkungen über die Begriffslehre der Rationalisten legt er selbst eine Einteilung der allgemeinen Begriffe in zwei Gruppen zugrunde, von denen er die erste wiederum in zwei Untergruppen unterteilt. Über die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen diesen zwei Untergruppen sagt er: „[…] bei allen selbstevidenten Verstandesgehalten im Sinne des Begriffswissens handelt es sich um abstraktive Inhalte, die der Verstand aus sinnlichen Erfah-
422 Vgl. Brugger, 1963:253. 423 Vgl. ebda.f.; M, 1381, I:161 ff., II:23 f., wo der Ausdruck „Rationalisten“ in der Lehnübersetzung „ʿaqliyyūn“ erscheint. 424 M, 1381, I:164. 425 Ebda.
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rungsgegebenheiten durch Abstraktion gewinnt. Dabei besteht allerdings ein Unterschied zwischen der Abstraktion derjenigen allgemeinen Begriffen, die sich sinnlich erfahrbaren Dingen beilegen lassen wie etwa der [allgemeine] Begriff ‚Mensch‘, der [allgemeine] Begriff ‚Pferd‘ oder der [allgemeine] Begriff ‚Baum‘, auf der einen Seite und der Abstraktion selbstevidenter [begrifflicher] Grundgehalte und allgemeiner Grundbegriffe wie etwa des Grundbegriffes ‚Existenz‘, ‚Nichtexistenz‘, ‚Einheit‘, ‚Vielheit‘, ‚Notwendigkeit‘, ‚Möglichkeit‘ oder ‚Unmöglichkeit‘ auf der anderen. Dieser Unterschied liegt darin, dass die Abstraktion der ersten Untergruppe dem Verstand unmittelbar auf dem Wege von Abstraktion und Verallgemeinerung aus sinnlich erfahrbaren Einzeldingen zukommt, während die zweite Untergruppe ihrerseits auf eine andere Weise aus der ersten Untergruppe abstrahiert wird – mit anderen Worten: Bei der ersten Untergruppe handelt es sich um nichts anderes als um die nämlichen Sinnenbilder, die dem Geist auf dem Wege eines der Sinne zukommen und aus denen der Verstand darauf mit der ihm eigenen Abstraktionskraft einen Allgemeinbegriff bildet. Die zweite Untergruppe aber kommt dem Geist nicht unmittelbar auf dem Wege der Sinne zu. Vielmehr abstrahiert der Geist erst nach dem Vorliegen der Sinnenbilder diese Begriffe mittels einer besonderen Art von Tätigkeit und eines besonderen Vorgehens aus jenen Sinnenbildern. Die erste Untergruppe heisst im philosophischen Sprachgebrauch deshalb ‚primäre Verstandesgehalte‘ und die zweite Untergruppe, die sich auf die erste Untergruppe stützt, ‚sekundäre Verstandesgehalte‘ […]. Aber ganz gleich, ob primäre Verstandesgehalte oder sekundäre Verstandesgehalte, allemal sind ihnen allen die sinnlichen Einzelwahrnehmungen vorgeordnet.“⁴²⁶ Lassen wir die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Untergruppe ausser Acht, können wir sagen: Die Begriffe der ersten Gruppe werden alle letztlich an Hand äusserer Erfahrungsgegebenheiten gewonnen, d. h. Erfahrungsgegebenheiten, die wir mit unseren äusseren Sinnen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – aufnehmen. Was nun die sogenannten primären Verstandesgehalte angeht, d. h. die Begriffe, die bei Muṭahharī unter die erste Untergruppe fallen, also Allgemeinbegriffe wie „Mensch“, „Pferd“ oder „Baum“ etwa, die sich sinnlich erfahrbaren Dingen beilegen lassen, so gehen diese für Descartes ebenfalls auf die Sinneserfahrung zurück. Weil Descartes der Sinneserfahrung selbst aber schon nur praktischen bzw. empirischen, keinen theoretischen Erkenntniswert und daher auch keine Gewissheit beimisst, beinhalten für ihn die Allgemeinbegriffe wie „Mensch“, „Pferd“ oder „Baum“, die der Verstand mittels Abstraktion aus sinnlich erfahrbaren Einzeldingen bildet, ebenfalls nur praktischen bzw. empirischen,
426 M, 1381, II:20 f.
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keinen theoretischen Erkenntniswert und daher keine Gewissheit. Sie mögen für die Schaffung von Übersichtlichkeit bei der Betrachtung der Körperwelt durchaus nützlich sein, geben aber nicht die objektive Wirklichkeit der betrachteten Dinge in der Aussenwelt wieder. Denn die Wirklichkeit eines Dings der Aussenwelt besteht für Descartes einzig in dessen Ausgedehntheit als Körper, ganz gleich, ob es sich bei dem betreffenden Ding etwa um „Pferd“ oder um „Baum“ handelt. Muṭahharī führt dazu an: „Zur Erklärung der Beschaffenheit und der Wirklichkeit der Körperwelt hielt Descartes diese zwei Dinge allein, nämlich Ausgedehntheit und Bewegung, für ausreichend […].“⁴²⁷ und: „Allgemein ist die Körperwelt [für Descartes] eines, und die verschiedenen Körper sind Teile eines Ganzen. Mit anderen Worten ist jeder Körper ein begrenzter Teil eines unbegrenzten Raumes, und die Unterschiedlichkeit der Körper voneinander beruht allein auf Gestalt und Lage derselben. Veränderungen und Zustandseigenschaften der Körper wie Wärme, Helligkeit, Schwere, Anziehung und Abstossung sowie überhaupt alle natürlichen Wirkungen ergeben sich aus den Bewegungen der Körper. Bewegung ist aber nichts anderes als Ortsveränderung, und diese wiederum besteht in der Lageveränderung der Teile und Körper im Verhältnis zueinander.“⁴²⁸ Die Wirklichkeit des Körpers von Lebewesen – so auch des Leibes des Menschen – besteht ebenfalls in Ausgedehntheit und Bewegung: „Beseelte Körper“, so zitiert Muṭahharī, „folgen denselben Gesetzen wie unbeseelte. Beseeltheit setzt nicht die Existenz von irgendetwas voraus, das zu den Eigenschaften des Körpers, die in Ausgedehntheit und Bewegung bestehen, hinzuträte. So sind Lebewesen nichts als Maschinen und Apparate […]. Sogar auf den Leib des Menschen trifft diese Beschreibung zu: Auch der Leib des Menschen ist nichts anderes als eine Maschine […].“⁴²⁹ Für Denker wie Muṭahharī und Ṭabāṭabāʾī jedoch, die im Gegensatz zu Descartes der Sinneserfahrung und der Abstraktion, welche von ersterer ausgeht, nicht nur praktischen bzw. empirischen, sondern auch theoretischen Erkenntniswert und daher auch Gewissheit beimessen, müssen Allgemeinbegriffe wie „Mensch“, „Pferd“ oder „Baum“, die der Verstand mittels Abstraktion aus sinnlich erfahrbaren Einzeldingen bildet, ebenfalls nicht nur praktischen bzw. empirischen, sondern auch theoretischen Erkenntniswert und daher Gewissheit beinhalten. Denn, wie Ṭabāṭabāʾī ausführt, „die Erkenntnis des Allgemeinbegriffs kann erst nach Erkennen der Einzeldinge zustande kommen. So können wir etwa nicht den Allgemeinbegriff ‚Mensch‘ bilden, ohne uns zuvor das Inbild einiger Individuen und Einzelexemplare des Menschen geschaffen zu haben. Denn wenn 427 M, 1381,IV:105. 428 Ebda.f. 429 M, 1381,IV:106.
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wir den Allgemeinbegriff ohne jegliche Übereinstimmung und Verbindung mit den Einzeldingen, die unter ihn fallen, bilden könnten, so wäre die Beziehung des jeweiligen Allgemeinbegriffs mit den Einzeldingen, die unter ihn fallen, und den anderen Einzeldingen einerlei, d. h. er liesse sich allen Einzeldingen beilegen oder aber gar keinem. Doch legen wir etwa den [allgemeinen] Begriff ‚Mensch‘ stets nur den Einzelwesen bei, die unter ihn fallen, und halten ihn auf die Einzelwesen, die nicht unter ihn fallen, nicht für anwendbar. Also muss eine Art Verbindung zwischen dem allgemeinen Begriff ‚Mensch‘ und dem Bild der Einzelwesen ‚Mensch‘ existieren und die Beziehung zwischen beiden fest und unveränderlich sein.“⁴³⁰ Diese Festigkeit und Unveränderlichkeit in der Beziehung zwischen Einzelding und Allgemeinbegriff verbürgt die Verlässlichkeit und Gewissheit der Abstraktion, mit der unsere Erkenntnis vom Einzelnen, Sinnlichen, zum Allgemeinen, Geistigen, fortschreitet. Was die sogenannten sekundären Verstandesgehalte angeht, d. h. die Begriffe, die bei Muṭahharī unter die zweite Untergruppe fallen, also Allgemeinbegriffe im Sinne allgemeiner Grundbegriffe wie etwa des Grundbegriffes „Existenz“, „Nichtexistenz“, „Einheit“, „Vielheit“, „Notwendigkeit“, „Möglichkeit“ oder „Unmöglichkeit“, so erwähnt Muṭahharī zwei davon, nämlich Existenz und Einheit, in seiner Wiedergabe der rationalistischen Erkenntnislehre in einer Reihe mit anderen Begriffen, Begriffen, die in der Auffassung der Rationalisten, so Muṭahharī, „[…] der Verstand von sich aus erschaffen hat und die dem Verstand […] substantiell eigen sind.“⁴³¹ Bei den Begriffen, um die es hier geht, handelt es sich somit nicht einfach um Wissensgehalte, für die der Verstand bloss Träger und Gefäss wäre, so dass der Verstand als solcher bestehen würde, ganz gleich, ob sie in ihm vorliegen oder nicht. So etwa besteht ja auch ein Gefäss als solches weiter, ganz gleich, was in ihm ist und ob überhaupt etwas in ihm ist. Vielmehr machen die Begriffe, um die es hier geht, den Verstand als solchen überhaupt aus, genauso wie die Pointe nicht einfach ein Zusatz zum ohnehin bestehenden Witz ist, sondern den Witz als solchen ausmacht. „Solche begrifflichen Gehalte“, fährt Muṭahharī fort, „haben nach Überzeugung der Rationalisten keinen anderen Ursprung oder Ausgangspunkt als den Verstand selbst. Diese Gehalte der Begriffsbildung kommen dem Verstand vor jeder Sinneserfahrung und Sinnestätigkeit zu, und, einmal angenommen, unserem Geist fliesse kein einziges Sinnenbild zu, so würde unser Geist diese Begriffsgehalte doch aus sich und bei sich vorfinden.“⁴³² Es sind eben diese Begriffe, über die Muṭahharī in seiner Besprechung der rationalistischen Lehre sagt: „Descartes, das Oberhaupt 430 T, 1381, I:180. 431 M, 1381, II:23. 432 M, 1381, II:23 f.
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der Rationalisten, erwähnt eine Reihe von Begriffen und begrifflichen Gehalten wie etwa Existenz und Einheit, ja: sogar Ausgedehntheit, Gestalt, Bewegung und Dauer, und er sagt, dass diese Begriffsgehalte in keiner Weise auf Sinneserfahrung beruhen und dem Verstand […] substantiell eigen sind.“⁴³³ Die Begriffe, von denen hier die Rede ist, lassen sich mit anderen Worten als Erkenntnisgehalte bezeichnen, die im Unterschied zu den Gehalten der Sinneserfahrung als rein geistige Verstandesgehalte von überempirischem Erkenntniswert im Verstand selbst bestehen, ohne aus Gehalten der Empirie entwickelt worden zu sein. Dies sind aber eben jene Erkenntnisgehalte, denen für die Vertreter des Rationalismus als einzigen Gewissheitswert zukommt. Nur sie, so führt Muṭahharī an, „[…] sind [gemäss rationalistischer Lehre] mit Gewissheit richtig; in ihnen kann unserem Geist kein Irrtum unterlaufen. Zu ihnen zählen etwa Gestalt, Bewegung, Erstreckung [in den drei Dimensionen] […], Existenz, Dauer und Einheit […].“⁴³⁴ So gehören für Descartes und die Rationalisten überhaupt die Begriffe Existenz und Einheit in einer Reihe mit Begriffen wie Ausgedehntheit und Bewegung zu den reinen Verstandesbegriffen, den Verstandesgehalten also, die auf keinerlei Sinneserfahrung zurückgehen und eben deshalb gewiss sind. Dagegen gehören dieselben Begriffe für Muṭahharī zur zweiten Untergruppe der allgemeinen Begriffe, jener Untergruppe also, die aus den sogenannten sekundären Verstandesgehalten besteht, jenen allgemeinen Begriffen, die dem Geist zwar nicht unmittelbar auf dem Wege der Sinne zukommen, aber doch mittelbar, indem dieser sie mittels einer besonderen Art von Tätigkeit und eines besonderen Vorgehens aus den Gehalten der ersten Untergruppe, den primären Verstandesgehalten, abstrahiert. Während für die Vertreter des Rationalismus die Begriffe Existenz und Einheit als rein geistige Gehalte also weder unmittelbar noch mittelbar auf die Sinneserfahrung zurückgehen und eben deshalb gewiss sind, gehen sie für Muṭahharī zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar auf die Sinneserfahrung zurück, was für ihn nun aber eben nicht bedeutet, dass sie nicht gewiss sind, weil er die Sinneserfahrung ja grundsätzlich als Quelle von Gewissheit gelten lässt. Jene besondere Tätigkeit nun, jenes besondere Vorgehen, mit dem unser Verstand den Begriff Existenz und – in weiteren Schritten – den Begriff Einheit als sekundäre Verstandesgehalte aus den primären Verstandesgehalten und damit mittelbar aus den Gehalten der äusseren Sinneswahrnehmung abstrahiert, heisst bei Muṭahharī schlicht Vergleich⁴³⁵. Er erwähnt diesen als „eine der besonderen Betätigungen unseres Geistes“⁴³⁶ und beschreibt ihn genauer mit den 433 M, 1381, II:24. 434 M, 1381, I:163. 435 „muqāyasah/moqāyeseh; sanǧeš“: Vgl. M, 1381, II:58. 436 Ebda.
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Worten: „Diese Betätigung erfolgt hinsichtlich der Reihenfolge [der Stufen auf dem Erkenntnisweg] […] nach der Betätigung der Vorstellung (der Umwandlung des unmittelbaren Wissens in mittelbares Wissen) und nach dem Übergeben von mindestens zwei Sinnenbildern an die Gedächtniskraft.“⁴³⁷ Die Stufe unseres Erkenntnisweges, auf der sich die Tätigkeit des Vergleichs vollzieht, steht also nicht mehr unmittelbar mit einem in der Aussenwelt im Hier und Jetzt vorliegenden Objekt der Sinneserfahrung in Verbindung. Dies bedeutet, dass es sich bei der Tätigkeit des Vergleichs um ein rein innergeistiges Vorgehen handelt. Muṭahharī fährt in seiner Beschreibung fort: „Allerdings ist für die Betätigung des Vergleichs die Existenz [zweier Dinge als der aussergeistigen Entsprechungen] zweier Bilder nicht unabdingbar. Denn es kann auch ein Ding allein mit sich selbst verglichen und in Beziehung gesetzt werden. Die Fähigkeit des Geistes zu dieser Tätigkeit jedoch entsteht erst dann, wenn er mindestens zwei Bilder bei sich gegenwärtig hat.“⁴³⁸ Das Ding, das in diesem Fall beim Vergleich mit sich selbst verglichen wird, existiert in der aussergeistigen Wirklichkeit zwar nur als ein Ding – als dieses eine Ding –, im Bereich des Innergeistigen aber als zwei Bilder, und diese zwei Bilder sind es, deren eines im Vorgang des Vergleichs mit dem anderen verglichen wird: Weder wird dabei nämlich das innergeistige Bild des Dings mit dem Ding in der aussergeistigen Wirklichkeit verglichen noch das Ding in der aussergeistigen Wirklichkeit als das Ding in der aussergeistigen Wirklichkeit mit sich selbst. Ein Beispiel für diese Geistestätigkeit des Vergleichs – eben das Beispiel, das Muṭahharī mit den eben zitierten Ausführungen erläutert – gibt Ṭabāṭabāʾī: „[…] einmal angenommen, wir sehen ein Schwarz und ein Weiss […], und wir nehmen z. B. zuerst das Schwarz wahr, das wir mit der Tätigkeit des Gesichtssinns aufnehmen, und nach diesem erst das Weiss. Dann würden wir dabei natürlich, wenn wir das Schwarz erst einmal [sinnlich] wahrgenommen hätten, den Gehalt desselben losgelöst von der Sinneserfahrung erfassen, d. h. bei uns ablegen und verwahren […].“⁴³⁹ Was Ṭabāṭabāʾī hier erwähnt, ist nichts anderes als zwei Stufen auf dem Erkenntnisweg mittels Abstraktion, nämlich Sinneserfahrung und Vorstellung sowie, mit dieser eng verbunden, Erinnerung. Diese beiden letzten Stufen sind es auch, die Muṭahharī in seinem Kommentar zur Stelle mit der Bemerkung erwähnt, dass erst nach ihnen die Geistestätigkeit des Vergleichs erfolge. Ṭabāṭabāʾī führt sein Beispiel fort mit den Worten: „[…] an das Erfassen des Weiss machen wir uns erst hinterher [d. h. nachdem wir das Schwarz in seinem Gehalt losgelöst von der Sinneserfahrung schon bei uns abgelegt und verwahrt haben]. Zu dem Zeitpunkt, da wir mit der zweiten Tätig437 Ebda. 438 Ebda. 439 T, 1381, II:57 f.
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keit [des Gesichtssinns] das Weiss aufnehmen, haben wir das Schwarz schon in uns. Sowie wir dann das Weiss aufnehmen, werden wir das Schwarz [das wir ja schon in uns haben] dort nicht vorfinden. Und da wir den zweiten Gegenstand unseres Erkennens [d. h. das Weiss] dorthin bringen, wo wir schon den ersten [d. h. das Schwarz] hingebracht haben [nämlich in den innergeistigen Bereich der Vorstellung und Erinnerung], stellen wir fest, dass der zweite auf den ersten nicht so zu liegen kommt, wie der erste auf sich selbst zu liegen kommt und auf sich selbst liegt. Wir sehen also, dass das Schwarz mit dem Schwarz ein Verhältnis und eine Beziehung hat, die wir zwischen dem Weiss und dem Schwarz nicht vorfinden. Was wir dabei als Ergebnis gewinnen, ist eine prädikative Beziehungsbildung [nämlich:] ‚Dieses Schwarz ist dieses Schwarz‘ […].“⁴⁴⁰ Und zwar ist in der Aussage „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“, die Ṭabāṭabāʾī als prädikative Beziehungsbildung bezeichnet – kürzer könnten wir vielleicht Prädizierung sagen –, das erste „dieses Schwarz“ das Subjekt und das zweite „dieses Schwarz“ das Prädikat, das in der Prädizierung auf das Subjekt bezogen wird. Diese Bezogenheit zwischen Prädikat und Subjekt in der Aussage „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ aber besteht in dem „ist“. „Das heisst“, so schliesst Ṭabāṭabāʾī daraus, „unser Geist […] bildet zwischen dem Schwarz [das in der Aussage Subjekt ist] und dem Schwarz [das in der Aussage Prädikat ist] ein Urteil und stellt eine Beziehung her […].“⁴⁴¹ Dies tut unser Geist eben mittels des „ist“, so dass eine stellungnehmende Aussage – ein Urteil eben – mit der gedanklich-sprachlichen Struktur „A ist B“ vorliegt. So handelt es sich bei der Geistestätigkeit des Vergleichs im Grunde also um ein Urteil, allerdings um ein besonderes Urteil – besonders deshalb, weil, wie Muṭahharī es ausdrückt, „[…] der Vergleich sich zwischen zwei Begriffen vollzieht, ohne Hinblick auf die [Dinge der aussergeistigen] Wirklichkeit […]“.⁴⁴² Weder wird beim Vergleich nämlich ein Begriff, d. h. das innergeistige Bild des Dings, mit dem Ding der aussergeistigen Wirklichkeit verglichen noch das Ding der aussergeistigen Wirklichkeit als das Ding der aussergeistigen Wirklichkeit mit sich selbst: Sowohl beim Subjekt als auch beim Prädikat des Urteils handelt es sich im Vergleich um einen Begriff, weder beim Subjekt noch beim Prädikat des Urteils handelt es sich im Vergleich um ein Ding der aussergeistigen Wirklichkeit. Die Beziehungsbildung zwischen Subjekt und Prädikat im Vergleichsurteil durch das „ist“ bedarf auch, wie Muṭahharī ebenfalls hervorhebt, keiner Vermittlung durch einen Mittelbegriff.⁴⁴³ So bin ich für die Beziehungsbildung zwischen 440 T, 1381, II:58 f. 441 T, 1381, II:59. 442 M, 1381, II:58. 443 Vgl. ebda.
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Subjekt und Prädikat im Falle des Urteils „Jeder Philosoph ist sterblich“, in dem „Philosoph“ das Subjekt und „sterblich“ das Prädikat ist, auf die Vorschaltung zweier weiterer Aussagen mit prädikativer Beziehungsbildung angewiesen, nämlich erstens „Jeder Mensch ist sterblich“ und zweitens „Jeder Philosoph ist ein Mensch“. Diese beiden Urteilsaussagen bilden die beiden Vordersätze in dem Syllogismus, dessen Folgerungssatz in der Aussage „Jeder Philosoph ist sterblich“ besteht. Zwischen den beiden Vordersätzen vermittelt der Begriff „Mensch“, der sogenannte Mittelbegriff, der beiden gemeinsam ist. In dem Urteil „Jeder Philosoph ist sterblich“ kann ich nur über diesen Mittelbegriff auf die Beziehungsbildung zwischen dem Subjekt „Philosoph“ und dem Prädikat „sterblich“ gelangen. In dem Vergleichsurteil „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ hingegen kann ich die Beziehung zwischen dem Subjekt „dieses Schwarz“ und dem Prädikat „dieses Schwarz“ durch das „ist“ ohne Einschaltung eines Mittelbegriffs bilden. So geht uns beim Vergleich in dem „ist“ des Urteils zwischen zwei Begriffen der Begriff „Existenz“ auf – denn „ist“ besagt „Existenz“. „Existenz“ als epistemologischer Gehalt im Sinne eines Begriffes ergibt sich für uns also aus einem vordersatzlosen Urteil, in dem es sich sowohl beim Subjekt als auch beim Prädikat um einen Begriff handelt, aus einem Vergleich eben. „Daran wird erkennbar“, so merkt Muṭahharī an, „dass sich die ersten“ – d. h. die grundlegendsten – „Stellungnahmen im Sinne von Urteilen, die unser Geist erlangt, auf die Welt der Begriffe, nicht auf die Welt des Aussergeistigen beziehen […].“⁴⁴⁴ Damit tritt der Gelehrte auch Denkern entgegen, die „[…] meinen, dass das erste Urteil, das unser Geist fällt, das Urteil ist, das die Existenz der Aussenwelt besagt […]“,⁴⁴⁵ das Urteil „Die Aussenwelt ist existent“ also mit „Aussenwelt“ als Subjekt und „existent“ als Prädikat. Diese Auffassung ist für Muṭahharī aber zumindest in der Hinsicht anfechtbar, dass „[…] das Urteil ‚Die Aussenwelt ist existent‘ seinerseits daraus hervorgeht, dass unser Geist sich von ‚existent Sein‘ (‚Sein‘) überhaupt erst einen Begriff gebildet hat […].“⁴⁴⁶ Genauso, wie „Die Aussenwelt ist existent“ als aussergeistiger Sachverhalt in seinem Wirklichsein auf Existenz als seiner ontologischen Grundlage beruht, beruht auch der innergeistige Urteilsbefund „Die Aussenwelt ist existent“ in seinem Zustandekommen auf dem Begriff Existenz als seiner epistemologischen Grundlage. Was den Begriff Einheit betrifft, den Muṭahharī als ein weiteres Beispiel für sekundäre Verstandesgehalte anführt, so bildet unser Verstand diesen – wie auch seinen Gegenbegriff Vielheit – ebenfalls auf dem Wege der Geistestätigkeit des Vergleichs, und zwar in einer Folge von Schritten, die sich an eben jene anschlies444 M, 1381, II:58. 445 M, 1381, II:59. 446 Ebda.
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sen, mit denen unser Verstand den Begriff Existenz bildet. Dieser geht unserem Verstand beim Vergleich in dem „ist“ auf, jenem „ist“ des Vergleichsurteils, das im Zeichen der prädikativen Beziehungsbildung die Bezogenheit zwischen Prädikat und Subjekt wie etwa in Ṭabāṭabāʾīs Beispielssatz „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ besagt. Die prädikative Beziehungsbildung im Sinne von „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ ergibt sich wiederum aus dem Verhältnis und der Beziehung, die, in Ṭabāṭabāʾīs Worten, „das Schwarz mit dem Schwarz hat und die wir zwischen dem Weiss und dem Schwarz nicht vorfinden“, wobei in Ṭabāṭabāʾīs Beispiel das sinnliche Wahrnehmen des Schwarz dem des Weiss vorausgeht, so dass wir zu dem Zeitpunkt, da wir mit der zweiten Betätigung unseres Gesichtssinnes das Weiss aufnehmen, das Schwarz schon in uns verwahrt haben. Und da sich die prädikative Beziehungsbildung im Sinne des Urteils „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ aus der Beziehung ergibt, die das Schwarz mit dem Schwarz hat und die wir deshalb zwischen dem Schwarz und dem Schwarz auch vorfinden, so ergibt sich, weil wir zwischen dem Weiss und dem Schwarz diese Beziehung nicht vorfinden, zwischen dem Weiss und dem Schwarz für uns auch keine prädikative Beziehungsbildung oder kurz: kein Urteil – in Ṭabāṭabāʾīs Worten: „[…] unser Geist findet eine Beziehung, die zwischen dem Schwarz und dem Schwarz besteht, zwischen dem Schwarz und dem Weiss nicht vor. Anders ausgedrückt: Zwischen dem Schwarz und dem Schwarz bildet unser Geist ein Urteil und stellt eine Beziehung her, aber zwischen dem Weiss und dem Schwarz nimmt er gar keine Tätigkeit vor […].“⁴⁴⁷ Das einzige, das unserem Geist im Falle des Weiss und des Schwarz in der Situation vorliegt, in der wir vor dem Wahrnehmen des Weiss das Schwarz schon aufgenommen und in uns verwahrt haben, ist das Weiss und das Schwarz, die einzige Tätigkeit, die unser Geist in dieser Situation vornimmt, ist die Entwicklung des Begriffes „Schwarz“ aus dem sinnlichen Erfahrungsgehalt „Schwarz“ in der Aussenwelt und die Entwicklung des Begriffs „Weiss“ aus dem sinnlichen Erfahrungsgehalt „Weiss“ in der Aussenwelt. Muṭahharī erläutert dies anhand eines eigenen, dem Schwarz-Weiss-Beispiel bei Ṭabāṭabāʾī logisch gleichwertigen Beispiels, in welchem er anstelle von „Weiss“ „Mensch“ und anstelle von „Schwarz“ „Baum“ einsetzt: „[…] nach der Bildung des Begriffes […] ‚Mensch‘ und der Bildung des Begriffes ‚Baum‘ betätigt sich unser Geist nicht weiter und bildet kein Urteil und stellt zwischen ‚Mensch‘ und ‚Baum‘ keine Beziehung her […]“⁴⁴⁸, so dass also zwischen „Mensch“ und „Baum“ kein Urteil und keine Beziehung vorliegen. Dieses sein eigenes Nichts-Tun im Sinne des Nicht-Urteilens, des Nicht-Herstellens einer Beziehung zwischen „Mensch“ und „Baum“ bzw. zwischen „Weiss“ und „Schwarz“ nun fasst unser Geist für sich in die gedankliche 447 T, 1381, II:59. 448 M, 1381, II:63 (mit leichtem Eingriff in den Wortlaut).
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Formulierung „Dieser Mensch ist nicht dieser Baum“ bzw. „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz.“⁴⁴⁹ Unser Geist stellt sich sein nicht Urteilen als ein „nicht“-Urteilen dar – sein nicht „A ist B“ Behaupten als ein „A ist nicht B“ Behaupten. Denn ein Urteil ist ja nichts anderes als „A ist B“ Behaupten – wir können auch sagen: Ein Urteil ist das Behaupten einer „Ist“-Beziehung wie eben „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz.“ Das Nicht-Behaupten einer „Ist“-Beziehung denkt sich unser Geist somit als das Behaupten einer „Ist nicht“-Beziehung, das Nicht-Bilden eines „Ist“-Urteils wie im Falle von „Weiss“ und „Schwarz“ bzw. „Mensch“ und „Baum“ als ein „Ist nicht“-Urteil, formuliert als „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“ bzw. „Dieser Mensch ist nicht dieser Baum.“ „[…] unser Geist“, wie Muṭahharī es ausdrückt, „denkt sich dieses sein eigenes nicht Urteilen als ein ‚Ist nicht‘-Urteil und bildet gegenüber dem Begriff ‚Ist‘, der ein ‚Ist‘-Urteil wiedergibt, den rein gedanklichen Begriff ‚Ist nicht‘ […]“⁴⁵⁰ Und zwar lässt sich der Begriff „Ist nicht“, der Begriff des Nichts im Sinne des Nichtseins also, deshalb als ein rein gedanklicher bezeichnen, weil er nicht wie der Begriff „Ist“, der Begriff des Seins also, die gedankliche Wiedergabe eines bestehenden Gehaltes ist, sondern vielmehr gerade die gedankliche Wiedergabe des Nicht-Bestehens eines Gehaltes, und zwar seines Nicht-Bestehens sowohl in unserem Geiste als auch im aussergeistigen Bereich. Im selben Sinne wie Muṭahharī sagt Ṭabāṭabāʾī: „[…] unser Geist […] fasst seine eigene Untätigkeit […] als ‚Tätigkeit‘ auf und denkt sich das Nichtsein einer bejahenden Beziehung zwischen dem Weiss und dem Schwarz ebenfalls als eine Beziehung, als eine Beziehung, die sich von der bejahenden Beziehung unterscheidet. Dabei entsteht eine rein gedankliche Beziehung namens ‚Ist nicht‘ gegenüber der aussergeistig existenten Beziehung ‚Ist‘ […].“⁴⁵¹ und: „[…] mit der ersten Behauptung [‚Dieses Schwarz ist dieses Schwarz‘] hat es in Wahrheit die Bewandtnis, dass unsere Wahrnehmungskraft zwischen dem Subjekt [‚Dieses Schwarz‘] und dem Prädikat [‚dieses Schwarz‘] eine Tätigkeit vornimmt namens ‚Urteil‘ (‚Dieses ist jenes‘ [d. h. ‚A ist B‘]). Die Bewandtnis hingegen, die es in Wahrheit mit der zweiten Behauptung [‚Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz‘] hat, ist die, dass unsere Wahrnehmungskraft zwischen ‚Weiss‘ und ‚Schwarz‘ gar keine Tätigkeit vornimmt, sich dieses Nichtstun und diese Untätigkeit aber als ein ‚Tun‘ denkt und sie als eine zweite Betätigung gegenüber der ersten Betätigung (‚ist nicht‘ gegenüber ‚ist‘) behandelt […].“⁴⁵² Mit einer Urteilsaussage wie „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“, die von ihrer Struktur her das Bestehen einer „Ist nicht“-Beziehung, sei es in unserem Geiste, sei es im aussergeistigen Bereich, 449 Vgl. T, 1381, II:59 f. 450 M, 1381, II:63. 451 T, 1381, II:59. 452 T, 1381, II:60 f. (mit leichtem Eingriff in den Wortlaut).
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wiederzugeben scheint, gibt unser Geist in Wahrheit lediglich sein eigenes NichtHerstellen einer Beziehung zwischen dem Weiss und dem Schwarz wieder und damit auch das Nicht-Bestehen einer Beziehung zwischen dem Weiss und dem Schwarz im aussergeistigen Bereich. Denn in eben diesem Nicht-Bestehen einer Beziehung zwischen den beiden im aussergeistigen Bereich gründet ja das NichtHerstellen der betreffenden Beziehung seitens unseres Geistes. Das „Ist nicht“ besteht, so gesehen, weder als ein Gehalt in unserem Geist noch als ein Gehalt ausserhalb unseres Geistes, sondern nur als die innergeistige Wiedergabe des Nicht-Bestehens eines Gehaltes sowohl in unserem Geist als auch ausserhalb unseres Geistes. Nach dieser Auffassung besteht das „Ist nicht“, das Negative, jedenfalls nicht ausserhalb unseres Geistes, d. h. in der aussergeistigen Wirklichkeit. Warum aber denkt sich unser Geist sein eigenes Nicht-Herstellen einer Beziehung zwischen „Weiss“ und „Schwarz“ aufgrund des Nicht-Bestehens einer solchen im Bereich des Aussergeistigen überhaupt als eine „Ist nicht“-Beziehung mit der Aussagestruktur „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“ zwischen den beiden? Auch dies erklärt Ṭabāṭabāʾī im Zuge seines Schwarz-Weiss-Beispiels, nach welchem wir ja zu dem Zeitpunkt, da wir mit der zweiten Betätigung unseres Gesichtssinnes das Weiss aufnehmen, das Schwarz schon in uns, genauer: in unserer Vorstellung und Erinnerung, verwahrt haben. Doch ganz gleich, in welcher Reihenfolge uns das Weiss und das Schwarz als Gehalte unserer Sinneserfahrung und unserer Vorstellung zukommen, um Gehalte der Sinneserfahrung und der Vorstellung handelt es sich bei dem einen genauso wie bei dem anderen. Weil bei der zweiten Betätigung unseres Gesichtssinnes das Weiss auf den beiden Stufen Sinneserfahrung und Vorstellung nun aber eben die Stelle einnimmt, die bei der ersten Betätigung unseres Gesichtssinnes das Schwarz eingenommen hat, das in dem Vergleichsurteil mit der Aussagestruktur „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ als das Subjekt „Dieses Schwarz“ vorkommt, deshalb setzt unser Geist auch bei der gedanklichen Wiedergabe seines Nicht-Herstellens einer Beziehung zwischen dem Weiss und dem Schwarz das Weiss an eben die Stelle, an die er bei der gedanklichen Wiedergabe der Beziehung zwischen dem Schwarz und dem Schwarz das Schwarz gesetzt hat, nämlich an die Stelle des Subjektes „Dieses Schwarz“ in dem Vergleichsurteil „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“. Dass wir beim sinnlichen Aufnehmen des Weiss das Schwarz dort nicht vorfinden, weil wir zu dem Zeitpunkt, da wir mit der zweiten Betätigung des Gesichtssinnes das Weiss aufnehmen, das Schwarz ja schon in uns haben, dies berücksichtigt unser Geist dadurch, dass er sein Nicht-Herstellen einer Beziehung zwischen dem Weiss und dem Schwarz gedanklich nicht in die Formulierung fasst „Dieses Weiss ist dieses Schwarz“, sondern in die Formulierung „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“. Nur weil unser Geist, wie Ṭabāṭabāʾī es ausdrückt, „[…] sich im ersten
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Fall [d. h. bei der prädikativen Beziehungsbildung zwischen diesem Schwarz und diesem Schwarz in „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“] […] als beziehungsherstellend und urteilsbildend erfährt, fasst er seine eigene Untätigkeit [im zweiten Fall, d. h. beim Wahrnehmen des Weiss, nachdem das Schwarz schon in uns ist] als ‚Tätigkeit‘ auf […].“⁴⁵³ Und im selben Zusammenhang sagt er: „[…] genauso, wie die besagte Kraft [d. h. unsere Wahrnehmungskraft] ihr eigenes Tun, das im Urteil besteht, mit einer gedanklichen Formulierung (Dieses ist jenes) wiederzugeben pflegt, so bildet sie auch für das Nicht-Tun unter Rücksicht darauf, dass dieses Nicht-Tun an eben die Stelle getreten ist, wo sonst das Tun [d. h. das Urteilen] vor sich geht, eine Formulierung, mit der sie das Nicht-Tun wiedergibt. Sie richtet sich [bei der Formulierung des eigenen Nicht-Tuns] aber notgedrungen nach der ersten Formulierung […].“⁴⁵⁴ Mit dieser meint Ṭabāṭabāʾī die Formulierung des eigenen Tuns im Sinne eines Urteils. „Denn“, wie der Gelehrte anmerkt, „die Formulierung des eigenen Nicht-Tuns ist dem Gedankengang im ersten Fall nachgebildet“,⁴⁵⁵ d. h. dem Fall, in dem seitens unserer Wahrnehmungskraft ein Tun erfolgt ist, indem diese nämlich eine prädikative Beziehungsbildung im Sinne eines Urteils wie „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ vorgenommen hat. Diese Nachbildung bedeutet Ṭabāṭabāʾī zufolge, dass unser Geist sich das Nicht-Sein einer prädikativen Beziehungsbildung seinerseits als das Sein einer Beziehungsbildung im Sinne von „Ist nicht“ denkt.⁴⁵⁶ So ergibt sich denn für Ṭabāṭabāʾī, was die Bildung des Begriffes „Ist nicht“, des Begriffes Nichtsein also, betrifft, folgender Befund: „[…] der Begriff ‚Ist nicht‘ […] wird auf dem Wege eines notgedrungenen […] Fehlers, der sich unserem Geist anheftet, aus dem bejahenden Urteil (Ist) gewonnen […]“,⁴⁵⁷ und dieser sogenannte notgedrungene Fehler besteht eben darin, dass unser Geist sich sein eigenes Nicht-Urteilen als ein „Ist nicht“-Urteil wie etwa eben „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“ denkt. Mit dieser ihrer Auffassung über die Bewandtnis von „Ist“-Urteilen und „Ist nicht“-Urteilen – bejahenden und verneinenden Urteilen also – erweisen sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī für einmal übrigens nicht als strenge Vertreter der Lehre Mullā Ṣadrās in dieser Frage, sondern folgen der Mehrheitsrichtung einer Gruppe von Denkern, die Muṭahharī als die Späteren unter den islamischen Logikern bezeichnet.⁴⁵⁸
453 T, 1381, II:59. 454 T, 1381, II:61 f. 455 T, 1381, II:62. 456 Vgl. ebda. 457 T, 1381, II:66. 458 Vgl. M, 1381, II:60.
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Nach deren Lehre, so Muṭahharī, „[…] besteht eine bejahende Urteilsaussage“ – d. h. eine Urteilsaussage, die ein „Ist“-Urteil wiedergibt – „aus drei Teilen: dem Subjekt und dem Prädikat sowie dem Urteil bzw. der Urteilsbeziehung [zwischen Subjekt und Prädikat]. Das Erarbeiten des Erkenntnisbildes des Subjekts und des Prädikats reicht aus, dass unser Geist zum Urteilen und zur Bildung eines Urteils fähig wird, das die Einheit der beiden im Bereich des Aussergeistigen wiedergibt. Genauso enthält auch der sprachliche Ausdruck der Urteilsaussage, bei dem es sich um die Stufe der sprachlichen Wiedergabe der betreffenden Denkgehalte handelt ([z. B.] Zayd ist aufrichtig), nicht mehr als drei Teile. Gemäss dieser Lehre sind Urteil und Urteilsbeziehung nicht zweierlei, sondern ein und dasselbe.“⁴⁵⁹ Nach der Lehre, als deren Vertreter Muṭahharī Ibn Sīnā und Mullā Ṣadrā nennt, besteht eine Urteilsaussage, und zwar sowohl eine bejahende als auch eine verneinende, aus vier Teilen: „Bejahende und verneinende Urteilsaussage“, wie Muṭahharī ausführt, „bestehen alle beide aus dem Erkenntnisbild des [jeweiligen] Subjekts, des [zugehörigen] Prädikats, dem Erkenntnisbild der Urteilsbeziehung [zwischen Subjekt und Prädikat] und dem Urteil.“⁴⁶⁰ Gemäss dieser Lehre sind Urteilsbeziehung und Urteil also zweierlei. Und zwar ist die Urteilsbeziehung, wie Muṭahharī den Unterschied zwischen den beiden beschreibt, in jedem Fall bejahend und besagt in jedem Fall Selbigkeit im Sinne von „Dieses ist jenes“.⁴⁶¹ „Auf der Stufe jedoch, auf welcher der Mensch auf die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser selbigkeitsbesagenden Urteilsbeziehung, die in seinem Geiste als Erkenntnisbild vorliegt, mit der Wirklichkeit und dem Sachverhalt an sich blickt – und dies ist die Stufe von Behauptung und Urteil –, stellt er in seinem Geist im Falle der bejahenden Urteilsaussage die Aussergeistigkeit und das Wirklichsein dieser selbigkeitsbesagenden Beziehung fest und im Falle der verneinenden Urteilsaussage die Nichtexistenz im Aussergeistigen und das Nicht-Wirklichsein dieser selbigkeitsbesagenden Beziehung, die im Geist als Erkenntnisbild vorliegt.“⁴⁶² Bei der Urteilsbeziehung handelt es sich selbst um einen bloss innergeistigen Gehalt – Muṭahharī spricht von ihr selbst als einem Erkenntnisbild im Geiste des Menschen –, einen innergeistigen Gehalt, der die zwei ihrerseits bloss innergeistigen Gehalte, den Begriff des Subjekts und des Prädikats nämlich, miteinander verbindet. Erst auf der Stufe des eigentlichen Urteilens werden diese innergeistigen Gehalte auf ihr aussergeistiges Sein hin überprüft, indem die innergeistige Urteilsbeziehung, welche ihrerseits die inner459 Ebda. (mit Ersetzung des Beispielsatzes des Originals durch einen logisch gleichwertigen). 460 M, 1381, II:62. 461 Vgl. ebda. 462 Ebda.
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geistigen Gehalte Subjekt und Prädikat miteinander verbindet, gegen die aussergeistige Wirklichkeit gehalten wird. „Mit anderen Worten:“, wie Muṭahharī weiter ausführt, „Im Falle einer bejahenden Urteilsaussage urteilt der Mensch, dass diese selbigkeitsbesagende Beziehung in der Wirklichkeit und als Sachverhalt an sich existiert, und im Falle der verneinenden Urteilsaussage urteilt er, dass diese selbigkeitsbesagende Beziehung in der Wirklichkeit und als Sachverhalt an sich nicht existiert.“⁴⁶³ Die Annahme der Urteilsbeziehung als einer weiteren rein innergeistigen Stufe nach der Bildung der Begriffe von Subjekt und Prädikat und vor der nicht rein innergeistigen, sondern aussenweltbezogenen Stufe des Urteils lehnen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in Übereinstimmung mit den Späteren unter den islamischen Logikern allerdings ab. Für sie besteht eine bejahende Urteilsaussage auch nicht aus vier, sondern nur aus drei Teilen, nämlich Subjekt, Prädikat und Urteil. „[…] die Annahme einer Urteilsbeziehung“, wie Muṭahharī gegen die von Ibn Sīnā und Mullā Ṣadrā vertretene Lehre einwendet, „ist nicht notwendig. Denn in Sinnesurteilen […] wie etwa ‚Dieses Weiss ist weiss‘ oder ‚Dieses Weiss ist süss‘ handelt es sich sowohl beim Subjekt als auch beim Prädikat um einen Gehalt der Sinneserfahrung, während das Urteil ein Akt der Seele ist […].“⁴⁶⁴ Letzteres bedeutet, dass es sich beim Urteil selbst nicht auch um einen Gehalt der Sinneserfahrung handelt, da das Urteilen als ein Akt, der selbst von der Seele ausgeht, nicht im Empfangen von Sinnesgehalten besteht. „Es gibt aber keinen Gehalt der Sinneserfahrung“, so Muṭahharī weiter, „dessen Entsprechung die Urteilsbeziehung wäre. Denn wir besitzen keinen Sinn, der die Beziehung zwischen zwei Dingen wahrnehmen würde.“⁴⁶⁵ Wenn die Urteilsbeziehung also kein passiv empfangener Gehalt der Sinneswahrnehmung sein kann, so kann es sich bei ihr nur noch um einen seelischen Akt handeln: Als solcher wäre sie aber nichts anderes als das Urteil, und folglich gibt es keine Notwendigkeit, zwischen Urteilsbeziehung und Urteil zu unterscheiden. „Also“, wie Muṭahharī abschliessend bemerkt, „müssen wir sagen, dass eine [bejahende] Urteilsaussage sich in weiter nichts als in Subjekt, Prädikat und Urteil vollendet.“⁴⁶⁶ Was nun eine „Ist nicht“-Aussage wie „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“ angeht, so liegen einer solchen gemäss der Lehre, der Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī folgen, nur zwei Teile zugrunde, nämlich „Weiss“ und „Schwarz“, und nicht mehr als zwei.⁴⁶⁷ Denn die Herstellung einer Beziehung zwischen den beiden, bei der
463 Ebda. 464 M, 1381, II:63. 465 Ebda. 466 Ebda. 467 Vgl. ebda.
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es sich überhaupt um einen dritten Teil handeln könnte, erfolgt nach dieser Lehre ja eben nicht: Was unser Geist mit dem „Ist nicht“ in „Dieses Weiss ist nicht dieses Schwarz“ in Wahrheit ausdrückt, ist ja genau dieses sein eigenes Nicht-Herstellen jeglicher Beziehung zwischen den beiden. Und doch gibt es zwischen der Mehrheitslehre der späteren islamischen Logiker, der sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī anschliessen, und der von Ibn Sīnā und Mullā Ṣadrā vertretenen Position in der Frage der „Ist“- und „Ist nicht“Urteile eine entscheidende Gemeinsamkeit: Beide Lehren besagen, was „Ist nicht“-Aussagen angeht, dass das „Ist nicht“, das Negative, Nichtseiende, in der aussergeistigen Wirklichkeit nicht existiert. In der Auffassung, der Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī anhängen, besteht das „Ist nicht“ sowieso weder als ein Gehalt in unserem Geist noch als ein Gehalt ausserhalb unseres Geistes, sondern nur als die innergeistige Wiedergabe des Nicht-Bestehens eines Gehaltes sowohl in unserem Geist als auch ausserhalb unseres Geistes. Indem wir „Ist nicht“ denken und sagen, beschreiben wir in Wahrheit das Nicht-Herstellen einer Urteilsbeziehung zwischen zwei Gehalten seitens unseres Geistes, ein Nicht-Herstellen, das seinerseits auf dem Nicht-Bestehen, dem Nicht-Sein, jeglicher Beziehung zwischen den beiden Gehalten in der aussergeistigen Wirklichkeit beruht. Und nach der Lehre, der Ibn Sīnā und Mullā Ṣadrā folgen, gibt ein „Ist nicht“-Urteil, das unser Geist bildet, nicht das Existieren einer „Ist nicht“-Beziehung in der aussergeistigen Wirklichkeit wieder, sondern eben gerade das Nicht-Existieren einer „Ist“Beziehung in der aussergeistigen Wirklichkeit. Nach der einen wie der anderen Lehre ist eine „Ist nicht“-Aussage somit überhaupt nur dann wahr, wenn der in ihr verneinte Sachverhalt in der Seinsordnung eben gerade nicht existiert.⁴⁶⁸ In dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich beide Lehren von anderen Positionen, die Muṭahharī im Zuge seiner Erörterung des Problems der „Ist“- und „Ist nicht“-Aussagen ebenfalls darlegt. Eine dieser anderen Positionen besagt laut Muṭahharī, „[…] dass in einer bejahenden Urteilsaussage jeweils ein bejahender Gehalt im Sinne des Prädikats mit dem Subjekt verbunden und auf es bezogen wird und in einer verneinenden Urteilsaussage ein verneinender Gehalt mit dem Subjekt verbunden und auf es bezogen wird.“⁴⁶⁹ „Gemäss dieser Auffassung“, so Muṭahharī weiter, „besteht der Unterschied zwischen einer bejahenden und einer verneinenden Urteilsaussage nur im Bereich des ‚Prädikats‘. So ist [etwa] die Aussage ‚Zayd ist nicht aufrichtig‘ in Wahrheit gleichbedeutend mit der Aussage ‚Zayd ist unaufrichtig‘ […].“⁴⁷⁰ Das Verneinende liegt gemäss dieser Auffassung also im Prädikat „unaufrichtig“, das mittels des „ist“ mit dem Subjekt „Zayd“ 468 Vgl. Brugger, 1963:270 („Sachverhalt“). 469 M, 1381, II:61. 470 Ebda. (mit Ersetzung des Beispiels des Originals durch ein logisch gleichwertiges).
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verbunden wird: „Bei einer verneinenden Aussage“, wie Muṭahharī bemerkt, „geht es ihrem Bedeutungsgehalt nach sozusagen um einen ‚Anschluss der Verneinung‘.“⁴⁷¹ Eine weitere dieser anderen Positionen hinsichtlich des Problems der „Ist“und „Ist nicht“-Aussagen legt Muṭahharī wie folgt dar: „Der Unterschied, der zwischen diesen beiden [einer bejahenden und einer verneinenden Urteilsaussage] besteht, liegt im Bereich der Beziehung [zwischen Subjekt und Prädikat durch das Urteil], nicht im Bereich des Prädikats. Es gibt nämlich zwei Arten von Urteilsbeziehung: Entweder ist sie bejahend oder verneinend. Eine bejahende Urteilsaussage beinhaltet eine bejahende Urteilsbeziehung, und eine verneinende Urteilsaussage beinhaltet eine verneinende Urteilsbeziehung. Mit anderen Worten: Unser Geist verbindet in beiden Fällen das Subjekt und das Prädikat miteinander und stellt zwischen den beiden eine Beziehung her, nur dass die Art der Verbindung und Beziehung je verschieden ist. In einer bejahenden Urteilsaussage handelt es sich bei der Verbindung um eine ‚Ist‘-Beziehung, und in einer verneinenden Urteilsaussage handelt es sich bei der Verbindung […] um eine ‚Ist nicht‘-Beziehung. So schaffen wir, wenn wir etwa urteilen ‚Zayd ist aufrichtig‘, zwischen ‚Zayd‘ [dem Subjekt] und ‚Aufrichtigkeit‘ [dem Prädikat] eine bejahende und verbindende Beziehung, und wenn wir urteilen ‚Zayd ist nicht aufrichtig‘, schaffen wir zwischen ‚Zayd‘ und ‚Aufrichtigkeit‘ eine verneinende und unterscheidende Beziehung. In beiden Fällen aber verbinden wir diese beiden Begriffe [‚Zayd‘ und ‚Aufrichtigkeit‘] miteinander und beziehen sie aufeinander. Also geht es bei einer verneinenden Urteilsaussage in Wahrheit nicht um einen ‚Anschluss der Verneinung‘, sondern um einen ‚Anschluss durch Verneinung‘.“⁴⁷² Ob aber „Anschluss der Verneinung“ oder „Anschluss durch Verneinung“, beide Lehren besagen, was „Ist nicht“-Aussagen angeht, dass das „Ist nicht“, das Negative, Nichtseiende, in der aussergeistigen Wirklichkeit existiert, entweder enthalten im Prädikat – so nach der „Anschluss der Verneinung“-Position – oder in der Urteilsbeziehung des „Ist nicht“ – so nach der „Anschluss durch Verneinung“-Position. Ausgehend nun von den Begriffen Sein und Nichtsein, deren ersten unser Geist anhand prädikativer Beziehungsbildungen wie etwa „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“ und deren zweiten er anhand innergeistiger „Ist nicht“-Formulierungen wie etwa „Dieses Weiss ist nicht jenes Schwarz“ entwickelt hat, bildet unser Geist gemäss eben der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in der Frage der „Ist“- und „Ist nicht“-Urteile vertreten, in weiteren Schritten auch den Begriff Einheit sowie seinen Gegenbegriff Vielheit. Ṭabāṭabāʾī beschreibt diesen 471 Ebda. 472 M, 1381, II:61 f.
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innergeistigen Vorgang wie folgt: „Wenn unsere Wahrnehmungskraft nach der Bildung dieser zwei Begriffe (‚Ist‘, ‚Ist nicht‘) die besondere Bewandtnis von ‚Beziehung‘ einsieht, welche in der Abhängigkeit von den zwei Seiten [der Beziehung, nämlich Subjekt und Prädikat] besteht, bezieht sie im Falle einer verneinenden Aussage (wie etwa ‚Dieses Weiss ist nicht jenes Schwarz‘) die Verneinung auf die zwei Seiten [nämlich Subjekt und Prädikat] der Aussage.“⁴⁷³ Darüber, wie die erwähnte Abhängigkeit der Beziehung von den zwei Seiten zu verstehen ist, findet sich weiterer Aufschluss in einer Bemerkung Muṭahharīs an anderer Stelle, wo er sagt: „[…] einer Beziehung kommt im aussergeistigen Bereich keine Wirklichkeit unabhängig von der Wirklichkeit der zwei Seiten (Subjekt und Prädikat) zu […].“⁴⁷⁴ „Infolge dieser Tätigkeit“, so Ṭabāṭabāʾī weiter, wobei er mit „dieser Tätigkeit“ die Verbindung der Verneinung mit den zwei Seiten der Aussage meint, „wird jede der beiden Seiten von der jeweils anderen getrennt und schliesst die jeweils andere aus. Und eben von dorther kommt unserer Wahrnehmungskraft der Gehalt ‚Vielheit […]‘ (bzw. ‚Zahl‘ [im Sinne von ‚Vielzahl‘]) zu. Wenn unsere Wahrnehmungskraft im Falle der bejahenden Aussage daher die beiden Seiten [d. h. Subjekt und Prädikat] ohne diesen Gehalt (der Vielheit bzw. Vielzahl) vorfindet, belegt sie diesen Zustand mit dem Namen ‚Einheit‘. Von daher dürfte einleuchten, dass es sich bei ‚Vielheit‘ um einen negativen Gehalt handelt und bei ‚Einheit‘ um eine Verneinung der Verneinung. Weil diese Verneinung der Verneinung aber mit der bejahenden Beziehung (‚Ist‘) übereinkommt“, – Minus mal Minus gibt Plus – „sind eine Beziehung im Sinne von Einheit und eine Beziehung im Sinne von Bejahung in ihrer Wahrheitsbezogenheit eins.“⁴⁷⁵ Unser Denken erschliesst sich den Begriff Einheit also auf dem Umweg über den Begriff Vielheit. Der Begriff Vielheit wiederum besagt „Ist nicht“ und damit Nichtsein, denn von Vielheit kann nur die Rede sein, wo wir es mit mindestens zwei Gehalten zu tun haben, deren einer in mindestens einer Hinsicht eben nicht der andere ist. Wenn aber Vielheit Nichtsein besagt, dann ist Einheit gleichbedeutend mit Sein. Die Gleichsinnigkeit von Einheit und Sein erwähnt denn auch Muṭahharī als eines der Prinzipien, die sich aus der Eigentlichkeit des Seins, jenem „eigentlichen, tiefen und grundstürzenden philosophischen Prinzip“ ergeben.⁴⁷⁶ Im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nun liegt die Einheit des Seienden darin, dass ein jedes Seiende unter Absehung von dem, was es ist, – unter Absehung von seiner Washeit, seiner Essenz also – eins ist mit dem blossen Sein und damit auch ein jedes eins mit einem jeden anderen. Unter Anse473 T, 1381, II:63. 474 M, 1381, II:31. 475 T, 1381, II:63 f. 476 Vgl. M, 1381, V:127.
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hung dessen, was es ist, – unter Ansehung seiner Washeit, seiner Essenz also – ist ein jedes Seiende aber auch wiederum nicht eins mit dem blossen Sein und damit auch ein jedes nicht eins mit einem jeden anderen, sondern verschieden, und Verschiedenheit bedeutet Vielheit. Dass wir nun in dem letzten Satz ein „Ist nicht“, ein Nichtsein also, ausgesagt haben, liegt an unserer Berücksichtigung von Washeit, von Essenz. Das Negative, das Nichtsein, liegt folglich in Essenz. Dies kommt vollauf mit der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins überein, nach welcher ja nicht Essenz, sondern eben Existenz die aussergeistige Wirklichkeit des Seienden ausmacht und es sich bei Essenz um einen rein innergeistigen Betrachtungsgehalt handelt. Dass wir in dem vorigen Satz, demselben, in dem wir ein „Ist nicht“, ein Nichtsein also, ausgesagt haben, aber auch Verschiedenheit und damit Vielheit ausgesagt haben, liegt ebenfalls an unserer Berücksichtigung von Washeit, von Essenz. Verschiedenheit, Vielheit, liegt folglich ebenfalls in Essenz. Wenn Vielheit aber ebenso auf Essenz beruht wie Nichtsein, können wir genauso gut sagen: Vielheit und Nichtsein besagen dasselbe. Damit kommen wir aber genau bei Ṭabāṭabāʾīs oben wiedergegebenem Gedankengang heraus. Gemäss der Erkenntnislehre, der Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī folgen, entstehen die Begriffe der ersten von den zwei Gruppen, in die Muṭahharī die allgemeinen Begriffe einteilt, demnach alle dadurch, dass wir sie auf dem Wege der Abstraktion aus äusseren Erfahrungsgegebenheiten entwickeln, sei es unmittelbar aus der Sinneserfahrung wie die Begriffe der ersten Untergruppe, die sogenannten primären Verstandesgehalte, oder mittelbar wie die Begriffe der zweiten Untergruppe, die sogenannten sekundären Verstandesgehalte. Gemäss dieser Auffassung über die Entstehung der begrifflichen Gehalte unseres Denkens sind die Begriffe der ersten Gruppe also nicht, wie die Vertreter des Rationalismus dies lehren, dem Verstand substantiell eigen.
Muṭahharīs Einwände gegen die empirische Lehre über die Bildung der sekundären Verstandesgehalte Ebenso richtet sich Muṭahharī aber gegen die Lehre, nach welcher die sekundären Verstandesgehalte wie Sein und Nichtsein, Einheit und Vielheit zu den Gehalten der Erfahrung unserer inneren Sinne wie Wahrnehmung, Willen, Vermögen, Lust und Schmerz gehören.⁴⁷⁷ „Es leuchtet von selbst ein“, so Muṭahharīs Widerlegung, „dass es falsch ist, Existenz und Einheit in Analogie zu Seelenund Bewusstseinsinhalten wie Wahrnehmung, Willen, Vermögen, Lust und Schmerz zu verstehen. Denn die Bildung der Begriffe Wahrnehmung, Willen usw.
477 Vgl. M, 1381, II:77 f.
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kommt dadurch zustande, dass der Mensch aufgrund seines Bewusstseins eine bestimmte seelische Erscheinung in sich als Wahrnehmung ausmacht und eine andere Erscheinung als Willen und wieder eine andere Erscheinung als Lust und so fort. Aber erstens bezieht sich eine jede dieser Erscheinungen [nur] auf die Seele und lässt sich nicht zutreffend auch von ausserseelischen Gehalten aussagen. Zweitens schafft unser Geist für eine jede dieser Erscheinungen je einen eigenen Begriff, deren jeder einzelne sich wiederum zutreffend nur von jeweils einem seelischen Inhalt aussagen lässt und sich von sämtlichen Gehalten ausser den seelischen nicht zutreffend aussagen lässt. Es ist völlig offensichtlich, dass es nicht auch eine bestimmte Erscheinung [analog zu Wahrnehmung, Willen, Lust usw.] gibt, die das Bewusstsein des Menschen in sich als Existenz oder Einheit ausmachen würde. Jeder Mensch weiss mit natürlicher Gewissheit, dass es vielmehr zu den Begriffen Existenz und Einheit gehört, dass sie [ihrerseits] für all jene innerseelischen und ebenso alle ausserseelischen Erscheinungen gelten. Deswegen lassen sich die Begriffe Sein und Nichtsein, Einheit und Vielheit, die zu den allgemeinen Begriffen gehören, nicht in Analogie zu den Begriffen Wahrnehmung, Willen und all den anderen jeweiligen innerseelischen Gehalten verstehen.“⁴⁷⁸ Bei der soeben widerlegten Lehre über die Entstehung der allgemeinen Begriffe der ersten Gruppe nach Muṭahharīs Einteilung handelt es sich um diejenige der Empiriker oder Empiristen, jener Denker, die in dieser wie in manch anderer Frage gewissermassen die Gegenposition zur Lehre der Rationalisten vertreten.
Die Bildung der allgemeinen Begriffe der zweiten Gruppe gemäss Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī Nun gibt es in Muṭahharīs Einteilung der allgemeinen Begriffe aber noch eine zweite Gruppe, und über die allgemeinen Begriffe, die er dieser zweiten Gruppe zuteilt, sagt er: „[…] bei manchen von ihnen handelt es sich ebenfalls um selbstevidente Primärgehalte und bei anderen nicht. Zu ihnen gehören etwa die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit, Substanz und Akzidens sowie Urteil […].“⁴⁷⁹ Was die Entstehung der Begriffe der zweiten Gruppe betrifft, so sind sie für Muṭahharī genau wie die Begriffe der ersten Gruppe dem Verstand nicht substantiell eigen.⁴⁸⁰ Auch was die Entstehung der Begriffe der zweiten Gruppe betrifft, verwirft dieser Denker also die Lehre der Rationalisten, welche Begriffe wie etwa Ursächlichkeit oder Verursachtheit als Gehalte betrachten, die dem Verstand 478 M, 1381, II:78. 479 M, 1381, II:25 f. 480 Vgl. M, 1381, II:69.
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substantiell eigen seien.⁴⁸¹ Ebenso wenig aber, wie Muṭahharī die allgemeinen Begriffe der zweiten Gruppe als dem Verstand substantiell eigen auffasst, erklärt er ihr Entstehen als eine Abstraktion aus äusseren Erfahrungsgegebenheiten wie im Falle der allgemeinen Begriffe der ersten Gruppe. Vielmehr bezeichnet er den geistigen Vorgang, durch den wir die Begriffe der zweiten Gruppe wie etwa die Begriffe Substanz und Akzidens, Ursächlichkeit und Verursachtheit gewinnen, als „eine besondere innerseelische Schau“⁴⁸², als eine „Schau in unser Inneres“⁴⁸³, eine „Schau ins Innere unserer Seele“⁴⁸⁴, aufgrund derer uns die Gehalte der zweiten Gruppe aufgehen. Den genauen Hergang dieser inneren Schau schildern Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī unter anderem an der Bildung der Begriffe Substanz und Akzidens. Dabei definiert Muṭahharī die Begriffe Substanz und Akzidens wie folgt: „Substanz bedeutet ein selbständiges Seiendes, unabhängig von einem Sitz oder einem Träger […]“⁴⁸⁵, ein Seiendes also, das für seine Existenz in der aussergeistigen Wirklichkeit keines Trägers bedarf. Demgegenüber bedarf ein Akzidens für seine Wirklichwerdung im Aussergeistigen eines Trägers. Muṭahharī erläutert diesen Unterschied zwischen Substanz und Akzidens mit folgendem Beispiel: „[…] allen Körpern kommt Quantität, Menge und Gestalt zu. Den Körper selbst bezeichnen wir als ‚Substanz‘ und Quantität und Gestalt desselben als ‚Akzidens‘. So bezeichnen wir auch im Falle dieses Blattes Papiers, das weiss ist, das Weiss als ‚Akzidens‘ und das Blatt Papier selbst als ‚Substanz‘.“⁴⁸⁶
Muṭahharīs Einwände gegen die empirische Lehre über die Bildung der Begriffe der zweiten Gruppe Muṭahharī in seinem Kommentar zu Ṭabāṭabāʾīs Ausführungen legt ausserdem dar, warum die Begriffe der zweiten Gruppe wie Substanz und Akzidens nicht wie die Begriffe der ersten Gruppe anhand äusserer Erfahrungsgegebenheiten gewonnen werden, wie dies namentlich die Empiriker, die Vertreter der Gegenposition zur rationalistischen auch in dieser Frage, lehren. Dass wir die Begriffe der zweiten Gruppe nicht aus äusseren Erfahrungsgegenheiten, auf dem Wege der äusseren Sinneswahrnehmung also, gewinnen können, begründet Muṭahharī unter anderem am Beispiel des Begriffes Akzidens: „[…] wir erfassen die akzi-
481 Vgl. M, 1381, II:72 f., 77. 482 M, 1381, II:26. 483 M, 1381, II:70. 484 Ebda. 485 M, 1381, II:68. 486 Ebda.
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dentellen Bestimmungen und Erscheinungen zwar sehr wohl mit unseren Sinnen und nehmen sämtliche Akzidentien der Aussenwelt auf dem Wege der [äusseren] Sinneserfahrung wahr: So erfahren wir etwa an einem Körper [die Akzidentien] Farbe, Gestalt, Geschmack und Quantität mittels unserer Sinne und nehmen [Akzidentien wie] Weiss, Kugelgestaltigkeit, Bitterkeit und Menge [nur] mit den Sinnen wahr. Dass es sich bei diesen [Gehalten der äusseren Sinneserfahrung] aber überhaupt um Akzidentien handelt, ihr Akzidens-Sein selbst also, welches eben darin besteht, dass sie für ihre Existenz in der aussergeistigen Wirklichkeit eines Sitzes und Trägers bedürfen, dies kommt uns nicht aus der Sinneserfahrung zu. So kann denn die sinnliche Erfahrung dieser akzidentellen Bestimmungen nicht der Ursprung für die Entstehung des Begriffes ‚Akzidens‘ in unserem Geiste sein. Deshalb geht es in diesem Zusammenhang, genau genommen, auch nicht um die Frage, von wo [unserem Geist] Begriffe wie Farbe, Gestalt und Menge zugekommen sind, sondern um den Begriff ‚Akzidentalität‘ [und von wo dieser unserem Geist zugekommen ist], wobei wir Akzidentalität als ‚existentielle Bedürftigkeit nach einem Sitz [und Träger]‘ definieren […]“,⁴⁸⁷ wie eben etwa das Akzidens Weiss für seine Existenz in der aussergeistigen Wirklichkeit des Blattes Papiers als Sitzes und Trägers bedarf. Dass es sich also bei dem Verhältnis der existentiellen Bedürftigkeit, in dem ein Akzidens zur Substanz steht und das seine Akzidentalität überhaupt ausmacht, nicht um eine äussere Erfahrungsgegebenheit handelt, die wir mit den äusseren Sinnen erfassen könnten, versucht Muṭahharī an anderer Stelle zu beweisen mit den Worten: „Manche mögen meinen, dass der Ursprung für die Entstehung dieser beiden Begriffe [Substanz und Akzidens] in der äusseren Sinneserfahrung liege, indem wir in der Aussenwelt ja zuweilen zwei materielle Dinge betrachten, deren eines sich auf das andere stützt. So sehen wir etwa einen kleinen Stein auf einem grossen Stein oder eine Kugel in unserer Hand oder uns selbst auf dem Erdboden. Sodann sehen wir aufgrund von Beobachtung und [sinnlicher] Erfahrung, dass jedesmal, wenn jener grosse Stein unter jenem kleinen Stein oder unsere Hand unter dem Ball weggezogen wird, der kleine Stein und jene Kugel zu Boden fallen. Also nehmen wir die Bedürftigkeit des einen der beiden Dinge von dem anderen sowie die Unbedürftigkeit des anderen Dinges von ersterem mit unseren äusseren Sinnen wahr. Anschliessend macht sich unser Geist ans Erweitern und Verallgemeinern und verfeinert diese Begriffe, wendet sie etwa auf den Fall von Körper und Gestalt an. Folglich ist die Entstehung dieser Begriffe [d. h. Substanz und Akzidens] letztlich ebenfalls sinnlichen und empirischen Ursprungs. Diese Meinung“, so formuliert Muṭahharī seinen Einwand, „rührt daher, dass ihre Vertreter die Grenzen der
487 M, 1381, II:69.
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Sinneserfahrung nicht genau genug erkannt haben und nicht wissen, dass es sich bei dem, was die Sinneserfahrung in dem erwähnten Beispiel erfasst und von dem in unserer Vorstellungskraft ein Bild geschaffen wird, nur um das Bild jener zwei Körper, um das Bild des Fallens und um das Bild der Abfolge der Entfernung des unteren Körpers und des Fallens des oberen Körpers handelt. ‚Bedürftigkeit‘ und ‚Angewiesenheit‘ aber sind mit den äusseren Sinnen nicht erfahrbar; die Sinneserfahrung kann unserem Geist kein Bild von ‚Bedürftigkeit‘ eintun.“⁴⁸⁸ Auf dem Wege der äusseren Sinneserfahrung, d. h. empirisch, können die allgemeinen Begriffe der zweiten Gruppe, wie Muṭahharī an den vorigen Beispielen dargelegt hat, also nicht gewonnen werden. Desgleichen ist es für Muṭahharī ausgeschlossen, dass es sich bei den Begriffen der zweiten Gruppe um Ausgeburten blosser Einbildung handeln könnte. Auch beim Einwand gegen diese Möglichkeit hat er die Empiriker im Blick, denen er damit Argumente zu entziehen sucht. Selbst „[…] bloss Eingebildetes“, so Muṭahharīs Begründung, „entsteht jeweils aus einer fehlerhaften Zusammensetzung oder Trennung (mindestens) zweier Begriffe, von denen sich entweder alle beide auf einen ‚Ist‘-Gehalt der aussergeistigen Wirklichkeit beziehen oder alle beide auf einen ‚Ist nicht‘-Gehalt oder einer auf einen ‚Ist‘- und der andere auf einen ‚Ist nicht‘-Gehalt. So erfolgt etwa die Bildung der Begriffe Riese, Sagenvogel, Zufall und anderer Einbildungsgehalte, die unserem Geist zuwachsen, im Zuge einer Art eigenmächtigen Zutuns, das unser Geist an wirklichkeitsbezogenen Begriffen vornimmt […].“⁴⁸⁹ Einbildung beruht also auf Fehler und Irrtum. Was aber Fehler, ihre Entstehung und ihren ontologischen Status betrifft, so haben Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī bereits an anderer Stelle ausgeführt, dass keine Wahrnehmungskraft als solche, d. h. substantiell, Fehler begeht, das Auftreten von Fehlern also bloss akzidentell ist. Deshalb kann auch das Werk unserer Einbildung nur akzidentell, nicht substantiell sein. In diesem Sinne bemerkt Muṭahharī auch einleitend zu seiner Erklärung der Entstehung von Begriffen wie Substanz und Akzidens: „[…] sogar die Gehalte unserer Einbildung gehen letztlich auf einen Ausgangspunkt im Wirklichen zurück, und die Grundbausteine dieser Einbildungsgehalte entstammen wirklichen Gehalten. Deshalb ist das Auftreten von Fehlern bloss akzidentell und setzt jeder Fehler stets ein Zutreffendes voraus und jeder bloss eingebildete Gehalt einen Gehalt der Wirklichkeit.“⁴⁹⁰ So kann es sich etwa bei der Behauptung „Dieses Kleid ist nicht schwarz“, angenommen sie sei falsch, überhaupt nur dann um einen Fehler handeln, wenn in der Wirklichkeit ein Sachverhalt – ein „Zutreffendes“ – besteht, den wir mit der 488 M, 1381, II:70 f. 489 M, 1381, II:69 f. 490 M, 1381, II:68.
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Behauptung „Dieses Kleid ist nicht schwarz“ eben verfehlt haben, der Sachverhalt „Dieses Kleid ist schwarz“ nämlich. „Die Begriffe Substanz und Akzidens aber fallen nicht in dieselbe Klasse [wie die Gehalte der blossen Einbildung],“ so setzt Muṭahharī seine Begründung, dass es sich bei den Begriffen der zweiten Gruppe nicht um die Produkte blosser Einbildung handeln kann, fort: „Denn Akzidens-Sein bedeutet ‚existentielle Bedürftigkeit nach einem Sitz [und Träger]‘. In der Tat können wir aber für jeden Bestandteil dieses zusammengesetzten Begriffs einen Ausgangspunkt im Bereich der Sinneserfahrung finden ausser für den Begriff Bedürftigkeit.“⁴⁹¹ Selbst wenn wir die Begriffe Substanz und Akzidens also als Ergebnisse von Einbildung bzw. von Fehler und Irrtum erklären würden, müssten wir, da jeder Fehler ein Zutreffendes voraussetzt, in der Wirklichkeit nun eben jenes Zutreffende finden und in seiner Entstehung erklären, welches der Fehler voraussetzt, als dessen Ergebnisse wir die Begriffe Substanz und Akzidens zu erklären suchten.
Der Ursprung der Begriffe Substanz und Akzidens, Ursächlichkeit und Verursachtheit gemäss Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī Der Ursprung der Begriffe Substanz und Akzidens aus der zweiten Gruppe der allgemeinen Begriffe in Muṭahharīs Einteilung liegt also weder in Einbildung noch in äusseren Erfahrungsgegebenheiten. Vielmehr, so stellt Muṭahharī klar, „[…] erschauen wir […] das Substanz-Sein der Substanz und das Akzidens-Sein des Akzidens, mit anderen Worten: die Wirklichkeit der existentiellen Unbedürftigkeit sowie die Wirklichkeit der existenziellen Bedürftigkeit, im Inneren unserer eigenen Seele, und der Ausgangspunkt für die Entstehung dieser beiden Begriffe ist diese innere Schau.“⁴⁹² Obwohl wir aber den Bezugspunkt dieser Begriffe mit der Wirklichkeit in unserer Seele finden, „ist es andererseits klar“, wie Muṭahharī ebenfalls zu bedenken gibt, „dass sich Substanz und Akzidens […] nicht zu den besonderen Seelenerscheinungen wie etwa Willen oder Liebe zählen lassen […].“⁴⁹³ Viel eher gehen uns das Substanz-Sein der Substanz, Substantialität also, und das Akzidens-Sein des Akzidens, Akzidentalität also, in der Betrachtung des Verhältnisses der Erscheinungen und Inhalte unserer Seele zu unserer Seele selbst auf, ein Vorgang, den Ṭabāṭabāʾī mit den Worten beschreibt: „[…] unsere Seele sowie die Vermögen und Tätigkeiten unserer Seele sind Wissensgehalte in uns […] im Zeichen gegenwärtigen Wissens, und unsere Wahrnehmungskraft steht mit ihnen in Verbindung. Deshalb erfasst sie dieselben auch unweigerlich 491 M, 1381, II:70. 492 Ebda. 493 M, 1381, II:69.
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und nimmt sie als Bilder auf.“⁴⁹⁴ Unsere Wahrnehmungskraft, selbst ein Seelenvermögen, stellt sich Seele, Seelenvermögen und Seelentätigkeit also als Bilder – gemeint sind Erkenntnisbilder, und das heisst Begriffe – dar. „Und bei diesem mittelbaren Wahrnehmen“, so Ṭabāṭabāʾī weiter, „werden […] unserer Wahrnehmungskraft das Wesen von Seele, das Wesen von Seelenvermögen und von Seelentätigkeiten in der Hinsicht, dass es Seelentätigkeiten und Seelenvermögen sind, gewärtig […].“⁴⁹⁵ Denn als Begriffe genommen, welche selbst eine Washeit, d. h. das Wesen, ausdrücken, handelt es sich bei Seele, Seelenvermögen und Seelentätigkeiten um Gehalte des mittelbaren Wissens, jenes Wissens also, das selbst wieder definiert ist als die Gegenwart des Wesens des Wissensobjektes beim Wissenssubjekt. Das Erkenntnisbild, der Begriff, meiner Seele, meines Selbst also, kommt mir, dem Erkenntnissubjekt, aber nicht wie im Falle der Erkenntnisbilder der Objekte der äusseren Sinneswahrnehmung über die Schritte Sinneserfahrung und Vorstellung zu, bei denen mir das Erkenntnisobjekt auf der Stufe der Sinneserfahrung als Sinnenbild und auf der Stufe der Vorstellung als Vorstellungsbild vorliegt. Deshalb kann im Falle meines Erkennens meiner Seele, meines Selbst, auch keine Vertauschung zwischen Bildern verschiedener Wahrnehmungsstufen, etwa zwischen Sinnenbild und Vorstellungsbild, eintreten und mir daher auch kein Fehler oder Irrtum unterlaufen. So kann kann ich weder darin fehlgehen, dass ich bin, noch darin, dass ich ich bin. Dann kann ich aber auch nicht daran zweifeln, dass ich bin. Und wenn ich schon deshalb nicht daran zweifeln kann, dass ich bin, weil bei meinem Erkennen meines Selbst keine Vertauschung zwischen Bildern verschiedener Wahrnehmungsstufen eintreten kann, deshalb muss ich meine Gewissheit, dass ich bin, auch nicht aus einer weiteren Gewissheit, etwa dem „Ich denke“, wie Descartes dies behauptet, herleiten. Schon von daher kann es sich bei Descartes’ methodischem Zweifel in den Augen von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nicht um wirklichen Zweifel handeln, und in diesem Lichte ist auch Muṭahharīs Bemerkung zu verstehen, dass Descartes’ Gedankengang „Wenn ich an irgend etwas zweifle, handelt es sich dabei doch um einen Akt des Denkens, aber am Denken selbst kann ich nicht zweifeln“ von bloss poetischem Erkenntniswert sei, also weit von demonstrativer Beweiskraft entfernt.⁴⁹⁶ Weiter bestehen im Falle meines Erkennens der Objekte der äusseren Sinneswahrnehmung das gegenwärtige, unmittelbare Wissen auf der Stufe der Sinneserfahrung und der mittelbare Wissensgehalt im Sinne des Begriffswissens, der auf dem Wege der Abstraktion aus dem Gehalt des gegenwärtigen Wissens gebildet wird, auf der Stufe der rein geistigen Erkenntnis. Gegenwärtiges, unmit494 T, 1381, II:67 f. 495 T, 1381, II:68. 496 Vgl. M, 1381, III:35.
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telbares Wissen steht also auf einer Stufe und mittelbares, begriffliches Wissen auf einer anderen. Im Falle meines Erkennens meines Selbst hingegen stehen Seele, Seelenvermögen und Seelentätigkeiten als Gehalte meines mittelbaren, begrifflichen Wissens nicht auf der einen Stufe und als Gehalte des unmittelbaren, gegenwärtigen Wissens auf einer anderen. Und während im Falle meines Erkennens der Objekte der äusseren Sinneserfahrung das unmittelbare, gegenwärtige Wissen im nicht mehr weiter durch Bilder vermittelten Kontakt meiner äusseren Sinnesorgane mit der Aussenwelt besteht und das durch Erkenntnisbilder, Begriffe, vermittelte rein geistige Wissen in meiner Seele, liegen im Falle meines Erkennens meines Selbst gegenwärtiges Wissen und mittelbares Wissen beide in meiner rein geistigen Seele. Deshalb ist mein Erkennen meiner Seele, meines Selbst, auch auf keine Gehalte ausserhalb meiner Seele, meines Selbst, angewiesen: Mein Erkennen meines Selbst erfolgt vermöge meines Selbst. Dass bei meinem Erkennen meiner Seele diese meine Seele mitsamt ihren Vermögen und Tätigkeiten daher sowohl im Sinne unmittelbarer, gegenwärtiger Erkenntnis als auch im Sinne mittelbarer, begrifflicher Erkenntnis das Objekt meines Erkennens ist, erwähnt Ṭabāṭabāʾī in der Fortsetzung seiner vorhin zitierten Bemerkung, dass unserer Wahrnehmungskraft, selbst ein Seelenvermögen, beim begrifflichen Darstellen der Inhalte und Tätigkeiten der Seele das Wesen von Seele, Seelenvermögen und Seelentätigkeiten gewärtig werde: „[…] und desgleichen wird [dabei] die Beziehung zwischen den Vermögen und Tätigkeiten der Seele auf der einen Seite und der Seele [selbst] auf der anderen, so wie sie erst als Gehalt der gegenwärtigen Erkenntnis bestanden hat, nun auch als Gehalt der mittelbaren Erkenntnis erkannt, genauso wie auch die Beziehungen zwischen den Gehalten der äusseren Sinneswahrnehmung erkannt und erfasst würden.“⁴⁹⁷ Denn auch die Gehalte der äusseren Sinneserfahrung werden ja erst im Sinne des unvermittelten, gegenwärtigen Wissens erfasst, im Kontakt unserer Sinneswahrnehmung mit den Objekten der Sinneserfahrung nämlich, und auf dem folgenden Erkenntnisweg von unserer rein geistigen Vernunftseele schliesslich zu Begriffen, zu Gehalten der mittelbaren Erkenntnis also, umgewandelt. Nur liegen im Falle meines Erkennens meiner Seele und so eben auch im Falle meines Erkennens der Beziehung zwischen Vermögen und Tätigkeiten meiner Seele und meiner Seele selbst unmittelbares, gegenwärtiges Wissen und mittelbares Wissen beide in meiner rein geistigen Seele. Im Erkennen eben dieser Beziehung zwischen den Inhalten meiner Seele wie Seelenvermögen und Seelentätigkeiten auf der einen Seite und meiner Seele selbst auf der anderen nun hat für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Bildung der
497 T, 1381, II:68.
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Begriffe Substanz und Akzidens ihren Ursprung. Denn, wie Ṭabāṭabāʾī sagt: „[…] sobald wir diese Beziehung [zwischen den Inhalten der Seele und der Seele] erschauen, erschauen wir unweigerlich auch die existentielle Bedürftigkeit und Unselbständigkeit und die Angewiesenheit der Inhalte der Seele gegenüber der Seele [selbst] sowie die existentielle Selbständigkeit der Seele, und in diesem Erschauen geht uns das Begriffsbild ‚Substanz‘ auf. Denn wir sehen, dass Seele ja genau dies bedeutet: dass nämlich, wenn wir ihr die Selbständigkeit entziehen, abgesehen von der Seele selbst auch all diese Vermögen und die Tätigkeiten derselben vergehen. Von daher sehen wir das Abhängigkeitsverhältnis der Vermögen und Tätigkeiten [der Seele zu der Seele selbst] und verstehen wir, dass eben diese Abhängigkeit die Existenz eines selbständigen Gehaltes voraussetzt […].“⁴⁹⁸ Dasselbe drückt Muṭahharī aus mit den Worten: „[…] die Wirklichkeit der Inhalte der Seele und die Wirklichkeit ihrer [existentiellen] Abhängigkeit von der Seele sind eins. Wir können jene Inhalte niemals ohne Berücksichtigung des Verhältnisses von Angewiesenheit und Abhängigkeit betrachten, das sie für ihr Bestehen zur Seele haben. Deshalb liegt hier der Anbeginn der Entstehung dieser beiden Begriffe [Substanz und Akzidens]. Nach dieser Stufe erweitert unser Geist sodann den Anwendungsbereich dieser zwei Begriffe nach bestimmten Regeln und fasst alle oder jedenfalls die meisten aussergeistig existenten Dinge unter diese beiden Begriffe.“⁴⁹⁹ Von dem Begriffspaar Substanz und Akzidens aus der zweiten Gruppe der allgemeinen Begriffe nach Muṭahharīs Einteilung ist es kein grosser Schritt zu dem Begriffspaar Ursächlichkeit und Verursachtheit aus derselben Gruppe. Denn nach der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, ist Verursachtheit eines Seienden ja ebenfalls definiert als existentielle Bedürftigkeit, als existentielle Abhängigkeit desselben von seiner Ursache bzw. als Nachgeordnetheit der Seinsstufe desselben gegenüber der Seinsstufe seiner Ursache in der Seinsordnung.⁵⁰⁰ Der Ausgangspunkt für die Entstehung der Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit ist daher letztlich ebenfalls die Schau ins Innere unserer Seele, dieselbe innere Schau also, aus der die Begriffe Substanz und Akzidens stammen: „[…] die Vorlage für Ursache und Verursachtes“, so erklärt Muṭahharī, „findet unser Geist anfänglich im Inneren der Seele, bildet daraus einen Begriff und erweitert in der Folge den Anwendungsbereich des betreffenden Begriffes. […] Die Seele nimmt sowohl sich selbst wahr als auch ihre Wirkungen und Tätigkeiten wie etwa Gedanken und Überlegungen […]. Die Seele nimmt also, indem sie die Wirklichkeit ihrer selbst wahrnimmt, gleich auch 498 T, 1381, II:68 f. 499 M, 1381, II:70. 500 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:104 ff.; M, 1381, V:127.
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die Wirklichkeit jener Wirkungen und Tätigkeiten wahr. Weil nun Verursachtheit nichts anderes ist als eben die Wirklichkeit und Existenz dieser Wirkungen [und Tätigkeiten der Seele im Verhältnis zur Seele selbst], deshalb ist das Wahrnehmen dieser Wirkungen dasselbe wie das Wahrnehmen ihrer Verursachtheit. Mit anderen Worten: Die Seele nimmt […] sowohl sich selbst wahr als auch die Wirkungen und Tätigkeiten ihrer selbst, und diese Wirkungen und Tätigkeiten nimmt sie als existentiell abhängig von sich selbst wahr. Ein solches Wahrnehmen aber ist nichts anderes als das Wahrnehmen von Verursachtheit.“⁵⁰¹ Muṭahharī erklärt die Bildung der Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit also mit demselben Gedankengang wie Ṭabāṭabāʾī die Bildung der Begriffe Substanz und Akzidens. Der einzige Unterschied in der Entstehung der Begriffspaare Substanz und Akzidens auf der einen und Ursächlichkeit und Verursachtheit auf der anderen Seite liegt darin, dass die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit über den Zwischenschritt der Begriffe Substanz und Akzidens aus der Schau ins Innere der Seele gewonnen werden. In dieser Hinsicht sind die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit aus der zweiten Gruppe der allgemeinen Begriffe den Begriffen Substanz und Akzidens aus derselben Gruppe gegenüber also sekundär.
Muṭahharīs Einwände gegen die empirische Lehre über die Bildung der Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit Weil wir ferner die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit aus den Begriffen Substanz und Akzidens entwickeln, welch letztere wir wiederum aus unserer Schau ins Innere unserer Seele gewinnen, deshalb kommt für die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit eine Entstehung aus der äusseren Sinneserfahrung ebenso wenig in Frage wie für die Begriffe Substanz und Akzidens. So entspricht denn auch Muṭahharīs Einwand gegen eine Erklärung der Entstehung dieser beiden Begriffe aus der äusseren Sinneserfahrung seinem Einwand gegen die Erklärung der Entstehung der Begriffe Substanz und Akzidens aus dieser. Und auch bei den Adressaten seines Einwandes handelt es sich wieder um die Vertreter der Gegenlehre zur rationalistischen in dieser Frage, die Empiriker: „Diese Aufassung“, dass die Begriffe Ursächlichkeit und Verursachtheit aus der äusseren Sinneserfahrung stammen, „rührt von fehlender Genauigkeit beim Bestimmen der Grenzen der Sinneserfahrung. Mittels unserer äusseren Sinne nehmen wir die Phänomene und Ereignisse in der Aussenwelt wahr, erfahren wir die Veränderungen und Wandlungen. Und weil wir [auch] die Zeit wahrnehmen, nehmen wir zwangsläufig auch Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge dieser Gehalte der
501 M, 1381, II:77.
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äusseren Sinneserfahrung wahr. Dass manche dieser Ereignisse aber auf manche andere eine ‚Wirkung‘ ausüben […], dies ist nicht sinnlich erfahrbar. So nehmen wir zwar sehr wohl mittels unserer äusseren Sinne etwa Feuer und Metall […] und den Kontakt des Feuers mit dem Metall sowie Temperatur, die quantitative Zunahme des Metalls (Ausdehnung) und die Gleichzeitigkeit von quantitativer Zunahme und Temperatur wahr. Dass es sich dabei aber auch um Ursächlichkeit und um eine Wirkung handelt, dies nehmen wir nicht mittels eines der äusseren Sinne wahr.“⁵⁰² Die Begriffe der zweiten Gruppe der allgemeinen Begriffe gemäss Muṭahharīs Einteilung werden also nicht wie die Begriffe der ersten Gruppe an Hand äusserer Erfahrungsgegebenheiten gewonnen, d. h. Erfahrungsgegebenheiten, die wir mit unseren äusseren Sinnen aufnehmen, sondern gewissermassen an Hand innerer Erfahrungsgegebenheiten, die uns in der Schau ins Innere unserer Seele aufgehen.
Weitere Unzulänglichkeiten von Descartes’ Begriffsbildungslehre aus Sicht Muṭahharīs Betrachten wir fürs erste die Lehre der Rationalisten, insbesondere Descartes‘, in der Frage der allgemeinen Begriffe im Lichte der Lehre über die Entstehung der Begriffe, welche die Anhänger derselben Denkschule wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, so ergibt sich folgender Befund: Die Rationalisten unterscheiden hinsichtlich der Entstehung nicht zwischen den Begriffen, die Muṭahharī in seiner Einteilung der ersten Gruppe, genauer: der zweiten Untergruppe der ersten Gruppe, zuteilt, wie Existenz und Einheit, und den Begriffen, die Muṭahharī der zweiten Gruppe zuteilt, wie Substanz und Akzidens sowie Ursächlichkeit und Verursachtheit – auch der Begriff Urteil, auf dessen Entstehung wir in der Behandlung von Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Lehre über Fehler und Irrtum eingegangen sind, fällt in die zweite Gruppe. In dieser Nichtunterscheidung zwischen den Begriffen dieser beiden Gruppen hinsichtlich ihrer Entstehung liegt aus Sicht von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī eine weitere intellektuelle Unzulänglichkeit der von Descartes begründeten rationalistischen Philosophie. Nun unterscheiden die Vertreter des Rationalismus deshalb nicht zwischen den Begriffen der ersten und den Begriffen der zweiten Gruppe, weil sie schlichtweg alle allgemeinen Begriffe, sei es der ersten oder der zweiten Gruppe, als dem Verstand substantiell eigen auffassen. In dieser Auffassung liegt für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī noch eine intellektuelle Unzulänglichkeit der ratio-
502 M, 1381, II:73.
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nalistischen Philosophie. Für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī lassen sich weder die Begriffe der ersten Gruppe noch die Begriffe der zweiten Gruppe als dem Verstand substantiell eigen erklären. Weiter erklären die Rationalisten die substantielle Zugehörigkeit der Begriffe zum Verstand damit, dass sie diesem angeboren seien.⁵⁰³ Auch Muṭahharī beschreibt die Auffassung der Rationalisten über das Verhältnis der Begriffe zum Verstand unter anderem mit den Worten, „[…] dass sie dem Verstand angeboren und ihm substantiell eigen sind.“⁵⁰⁴ Dabei hätten wir den Ausdruck, den wir hier mit „angeboren“ übersetzt haben⁵⁰⁵, auch mit „anerschaffen“ oder – einfacher – mit „natürlich“ bzw. „natureigen“ wiedergeben können. Im selben Sinne wie in der vorigen Beschreibung sagt Muṭahharī über die Begriffslehre der Rationalisten, „[…] dass die Rationalisten annehmen, dass dem Verstand eine Reihe von Begriffen und begrifflichen Gehalten von seiner Natur und Substanz her eigen sind […]“,⁵⁰⁶ sowie an anderer Stelle: „Descartes […] sagt, dass manche Begriffe […] wie etwa Existenz und Einheit […] dem Verstand von seiner Natur her und substantiell eigen sind.“⁵⁰⁷ Dabei meinen die beiden Ausdrücke „natürlich“ und „substantiell eigen“ im vorliegenden Zusammenhang offenbar dasselbe, denn es kommen bei Muṭahharī Stellen vor, an denen er bei der Wiedergabe der rationalistischen Begriffslehre entweder den einen oder den anderen Ausdruck allein verwendet. So spricht er an einer Stelle von „der Überzeugung der Rationalisten, der zufolge es eine Reihe von natürlichen Begriffen gebe“,⁵⁰⁸ mit denen er eben die dem Verstand substantiell eigenen Begriffe meint. Und andernorts sagt er, dass die Rationalisten den philosophischen Fachausdruck „natürliche Wahrnehmungsgehalte“⁵⁰⁹ verstünden als „Wahrnehmungsgehalte und Begriffe, bei denen es sich um eine substantielle Eigenschaft des Verstandes handelt […].“⁵¹⁰ Dieses Verständnis der Rationalisten von den Begriffen als angeborenen und gewissheitsverbürgenden Verstandesgehalten – kürzer könnten wir von natürlichen Gewissheiten sprechen – läuft auf die Gleichsetzung von Begriff mit Idee hinaus.⁵¹¹ Ideen sind aber letztlich Dinge, und so können wir auch sagen: Die Begriffslehre des Rationalismus unterscheidet nicht zwischen Idee und Begriff 503 Vgl. Brugger, 1963:32; 253 („Rationalismus“). 504 M, 1381, II:23. 505 Arabisch/persisch „fiṭrī/feṭrī“ von „fiṭrah/feṭrat“: „Art, wie etwas erschaffen/beschaffen ist; Beschaffenheit; anerschaffene Natur“. 506 M, 1381, II:25. 507 M, 1381, II:24. 508 M, 1381, II:69. 509 M, 1381, II:34: „edrākāt-e feṭrī“. 510 Ebda. 511 Vgl. Brugger, 1963:32; 253 („Rationalismus“),sowie Aster, 1998:200 .
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und daher letztlich auch nicht zwischen Ding und Begriff, und damit finden wir in der rationalistischen Philosophie eine der Ausprägungen eben jenes Grundfehlers, den Muṭahharī an den massgeblichen philosophischen Lehren des Abendlandes seit der Scholastik allgemein vermerkt und anficht.
Auswirkungen des „Grundfehlers“ der abendländischen Philosophie auf die abendländische Philosophiebetrachtung Dieser Grundfehler in der abendländischen Philosophie, was die Frage der Begriffe angeht, führt Muṭahharī zufolge bei vielen westlichen Gelehrten sowie denjenigen unter den iranischen, die sich ihnen anschliessen, auch zu einem Fehler in der Philosophiebetrachtung.⁵¹² Denn zwar handelt es sich bei den allgemeinen Begriffen nicht nur nach dem Verständnis der rationalistischen Lehre um Grundbausteine unseres Erkennens, um Grundwahrheiten. Der Fehler in der Philosophiebetrachtung besteht für Muṭahharī jedoch darin, dass „[…] manche Gelehrte vermeinen, dass alle diejenigen, welche die Lehre von grundlegenden begrifflichen Verstandesgehalten vertreten, diese Begriffsgehalte für angeboren und dem Verstand substantiell eigen halten. Deshalb sehen wir oft, dass sie Aristoteles, Fārābī und Ibn Sīnā unter die Rationalisten (nach dem neuzeitlichen [d. h. kartesianischen] Verständnis des Ausdrucks) zählen.“⁵¹³ Als Beispiel für diese aus seiner Sicht verfehlte Gleichsetzung zwischen Peripatetikern und Kartesianern führt Muṭahharī die Bemerkung des zeitgenössischen iranischen Philosophiehistorikers Moḥammad ʾAlī Forūġī⁵¹⁴ an, die da lautet: „Descartes … behauptet wie die Früheren unter den Rationalisten, dass ein Teil der Erkenntnisgehalte und manche Wahrheiten der Seele des Menschen anerschaffen und angeboren und substantiell seinem Verstand eigen sind und nicht von Sinneswahrnehmung und Empirie abhängen.“⁵¹⁵ Der Verfasser dieser Zeilen begeht dabei aus Sicht Muṭahharīs denselben Fehler wie so viele seiner Kollegen im Abendland, mit denen er auch die Meinung teilt, „[…] dass alle diejenigen, welche die Lehre von primären Verstandesgehalten im Sinne von Grundwahrheiten vertreten, diese Grundwahrheiten für angeboren und dem Verstand substantiell eigen halten.“⁵¹⁶ Dabei, so Muṭahharī, „unterscheidet sich das, wovon Descartes überzeugt ist, vollkommen von dem, was die Früheren […] sagen […]. Denn […] Descartes hält jene Begriffsgehalte für eine substantielle Eigenschaft des Verstandes und lehrt,
512 Vgl. M, 1381, II:32. 513 Ebda. 514 Forūġī, Moḥammad ʾAlī: „Seyr-e ḥekmat dar Orūpā“. Teheran 1379HS. 515 M, 1381, II:33. 516 Ebda.
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dass ebenso, wie es sich bei Ausgedehntheit um eine substantielle Eigenschaft des Körpers handle, die Wahrnehmung dieser natürlichen Begriffe eine substantielle Eigenschaft des Verstandes sei. Aber unsere Gelehrten [wie etwa Fārābī und Ibn Sīnā] sind überzeugt, dass sämtliche begrifflichen Verstandesgehalte in Schritten entstehen und ihren Anfang in den Gehalten der Sinneserfahrung haben und dass sämtliche begrifflichen Verstandesgehalte, selbst die ‚Grundwahrheiten‘, irgendwie von den Gehalten der Sinneserfahrung abhängen.“⁵¹⁷ „Denn es gibt keinerlei Notwendigkeit“, wie Muṭahharī im selben Zusammenhang nochmals betont, „dass wir die ‚grundlegenden begrifflichen Verstandesgehalte‘ für angeboren und substantiell dem Verstand eigen halten sollten. Nichts spricht dagegen, dass diese Grundwahrheiten unserem Geist in Schritten zukommen und unser Geist sie aus den Sinnenbildern abstrahiert.“⁵¹⁸
Muṭahharīs Verständnis von den „natürlichen Gewissheiten“ gegenüber dem kartesianischen Verständnis derselben Zu den natürlichen Gewissheiten im Sinne von Verstandesgehalten, die „der Seele des Menschen anerschaffen und angeboren und substantiell seinem Verstand eigen sind und nicht von Sinneserfahrung, von Empirie, abhängen“ und die, weil selbst von aller Sinneserfahrung unabhängig, auf dem Wege der Erkenntnis ihrerseits aller Sinneserfahrung vorgeordnet sind, zählen die Rationalisten aber nicht nur Begriffe wie Existenz, Dauer und Einheit⁵¹⁹. Auch Gehalte wie „Ein Dreieck hat drei Winkel“ oder „Zwei Dinge, die demselben dritten gleich sind, sind notwendig auch untereinander gleich“⁵²⁰ gehören für sie dazu, Gehalte also, bei denen es sich nicht um Begriffe, sondern um Sätze, d. h. um Verknüpfungen von Begriffen handelt, und zwar um Verknüpfungen von Begriffen im Sinne von Behauptungen, von Urteilen. Was zunächst die Begriffe wie Existenz und Einheit in dieser Aufzählung betrifft, so fallen diese auch für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in eine Gruppe von Erkenntnisgehalten, welche die beiden Gelehrten ebenfalls mit dem Ausdruck „natürlich“ belegen, Erkenntnisgehalten, die Muṭahharī ausserdem genauer beschreibt mit den Worten: „[Es sind] Wahrnehmungsgehalte, hinsichtlich derer der Geist aller Menschen gleich ist. Das heisst, dass sie dem Geist eines jeden Menschen zukommen und dem Geist aller Menschen gleich zukommen und dass es zwischen dem Geist des einen Menschen und dem eines anderen weder eine 517 Ebda. 518 M, 1381, II:32. 519 Vgl. M, 1381, I:163. 520 Vgl. ebda.
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Verschiedenheit gibt hinsichtlich ihres Zukommens oder Nicht-Zukommens selbst noch hinsichtlich der Weise ihres Zukommens, wie etwa die Überzeugung von der Existenz der Aussenwelt.“⁵²¹ Dabei setzt der Erkenntnisgehalt „Die Aussenwelt ist existent“, den Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als einen natürlichen Erkenntnisgehalt bezeichnen, seinerseits den Begriff Existenz voraus, den die beiden Denker ebenfalls als einen natürlichen Erkenntnisgehalt bezeichnen. Natürlichkeit bedeutet für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in diesem Zusammenhang aber nicht substantielle Verstandeszugehörigkeit im Sinne von Angeborenheit wie in der Fachsprache der kartesianischen Philosophie. Denn der Erkenntnisgehalt Existenz, der begriffliche Grundbaustein für den Erkenntnisgehalt „Die Aussenwelt ist existent“, muss nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, selbst erst von unserem Geist gebildet werden, um ihm zuzukommen. Und diese Bildung des Begriffes Existenz besteht in einer besonderen Tätigkeit unseres Geistes, die Muṭahharī Vergleich nennt. Bei diesem handelt es sich um eine prädikative Beziehungsbildung wie in Ṭabāṭabāʾīs Beispiel „Dieses Schwarz ist dieses Schwarz“. In dieser – und darin liegt das Besondere – beziehen wir zwar den Gehalt „Schwarz“, an dem unser Geist diese prädikative Beziehungsbildung, aus der wir den Begriff Existenz gewinnen, vornimmt, aus der Sinneserfahrung, der Empirie, nicht aber den aus dem Vergleich gewonnenen Begriff Existenz selbst, und ist keine Einschaltung eines Mittelbegriffs nötig. Der Begriff Existenz, auf dem der natürliche Erkenntnisgehalt „Die Aussenwelt ist existent“ aufbaut, ist also ein Gehalt, den der Geist des Menschen ohne Einschaltung eines Mittelbegriffs aus der Beziehungsbildung an einem Gehalt, der selbst auf die Sinneserfahrung zurückgeht, bildet. Es gehört für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī aber zur existentiellen Wirklichkeit, die der Mensch ist, dass sein Geist die beschriebene Begriffsbildung im Falle des Erkenntnisgehaltes „Existenz“ nach dem beschriebenen Verfahren des Vergleichs vornimmt und daraus im weiteren den Erkenntnisgehalt „Die Aussenwelt ist existent“ entwickelt. Wenn sich dies nämlich nicht so verhalten würde, wäre es ebenso gut denkbar, dass der Mensch seiner existentiellen Wirklichkeit nach zur Überzeugung „Die Aussenwelt ist nicht existent“ gelangen könnte. Dann wäre der Mensch seiner existentiellen Wirklichkeit nach aber Sophist, denn die Sophisten leugnen die Existenz einer betrachtungsunabhängigen, objektiven Aussenwelt. Nach Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Verständnis jedoch ist der Mensch seiner existentiellen Wirklichkeit nach Realist, denn die Überzeugung „Die Aussenwelt ist existent“, wie Muṭahharī bemerkt, ist ein Gehalt, „den selbst ein Sophist im tiefsten Grunde seines Geistes nicht verneinen kann.“⁵²² Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nennen den Gehalt „Die Aussenwelt ist existent“ und den Begriff 521 M, 1381, II:34; vgl. ausserdem T, 1381, I:55, 62; M, 1381, I:62. 522 M, 1381, II:34; vgl. ausserdem T, 1381, I:55, 62 ff.; M, 1381, I:62.
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Existenz, auf dem dieser aufbaut, also deshalb – und nur deshalb – natürlich, weil es für sie zur existentiellen Wirklichkeit des Menschen, zu seiner „Natur“, gehört, dass sein Geist die beschriebene Bildung des Begriffes „Existenz“ nach dem beschriebenen Verfahren des Vergleichs vornimmt und daraus im weiteren den Erkenntnisgehalt „Die Aussenwelt ist existent“ entwickelt. Dieses Verständnis von Natürlichkeit oder Naturhaftigkeit im Zusammenhang mit den sogenannten natürlichen Erkenntnisgehalten oder natürlichen Gewissheiten will Muṭahharī säuberlich unterschieden wissen von den natürlichen Gewissheiten nach dem rationalistischen Verständnis des Ausdrucks im Sinne angeborener Verstandesgehalte oder Ideen.⁵²³ Auch in diesem Punkt hält er den Vertretern der philosophischen Lehren des Abendlandes Nichtunterscheidung vor: „[…] soweit wir der Frage nachgegangen sind, sind in der europäischen Philosophie diese beiden Richtungen nicht auseinandergehalten worden. Das heisst, dass diejenigen, welche die Existenz natürlicher Gehalte nach der ersten Bedeutung bejahen, dieselben sind wie die, welche auch die Existenz natürlicher Gehalte nach der [letzteren] Bedeutung bejahen, und dass all jene, welche die Existenz natürlicher Gehalte nach der [letzteren] Bedeutung verneinen, auch die Existenz natürlicher Gehalte nach der ersten Bedeutung verneinen. Jene Gelehrten meinen eben, dass von begrifflichen und urteilenden Gehalten, die allgemein sind, indem sie allen Menschen gleich zukommen, überhaupt nur die Rede sein könne, wenn wir sie als substantielle Eigenschaft des Verstandes auffassen, und dass wir, wenn wir die Existenz von Gehalten, die dem Verstand substantiell eigen sind, verneinen, nicht umhin können, auch die Existenz von Gehalten, die allgemein sind, indem sie allen Menschen gleich zukommen, zu verneinen.“⁵²⁴ Diese Nichtunterscheidung stellt für Muṭahharī einen weiteren Grundfehler in den massgeblichen Lehren der abendländischen Geistesgeschichte dar, und er setzt ihr die Position, die er selbst in dieser Frage vertritt, entgegen mit den Worten: „[…] während wir die Existenz von Gehalten, die dem Verstand substantiell eigen sind (natürliche Gewissheiten nach der [letzteren] Bedeutung), verneinen, bejahen wir die Existenz begrifflicher und urteilender Gehalte, die allgemein sind, indem sie allen Menschen gleich zukommen (natürliche Gewissheiten nach der ersten Bedeutung) […].“⁵²⁵
523 Vgl. M, 1381, II:35. 524 Ebda. 525 M, 1381, II:35.
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Descartes’ Lehre über die Bildung der Verstandesgehalte im Lichte der von Muṭahharī vertretenen Lehre über die Bildung der Gehalte unseres Urteilswissens Nun zählen die Rationalisten zu den natürlichen Gewissheiten im Sinne von Verstandesgehalten, die „der Seele des Menschen anerschaffen und angeboren und substantiell seinem Verstand eigen sind und nicht von Sinneserfahrung, von Empirie, abhängen“ und die, weil selbst von aller Sinneserfahrung unabhängig, auf dem Wege der Erkenntnis ihrerseits aller Sinneserfahrung vorgeordnet sind, ja aber, wie gesagt, auch Gehalte wie „Ein Dreieck hat drei Winkel“ oder „Zwei Dinge, die demselben dritten gleich sind, sind notwendig auch untereinander gleich“⁵²⁶, Gehalte eben, bei denen es sich nicht um Begriffe handelt, sondern um Verknüpfungen von Begriffen im Sinne von Urteilen. Und weil es sich bei diesen Gehalten um Gehalte des Urteilswissens, nicht des Begriffswissens handelt, deshalb können diese Gehalte auch nicht Gegenstand derselben Abweichung in den Auffassungen sein, die Muṭahharī zufolge in der Frage nach dem „Weg des Erkenntniserwerbs“ unter anderem zwischen den Gelehrten des Ostens und denen des Westens besteht. Denn, so sagt er, „[…] jene Abweichung in den Auffassungen betrifft die Begriffe, nicht die Gehalte der stellungnehmenden Erkenntnis [im Urteil], und zwar genauer im Lichte der Frage, auf welchem Wege die Begriffe in unserem Geiste ursprünglich entstehen. Dieses Problem hat vor allem einen ‚psychologischen‘ Aspekt und lässt die Richtungen der Philosophen in der Frage nach Ursprung und Ausgangspunkt der Begriffe auseinandergehen.“⁵²⁷ Dass es im Falle der Urteile, anders als im Falle der Begriffe, zum Streit in der Frage, wie sie in unserem Geiste ursprünglich entstehen, gar nicht kommen kann, begründet Muṭahharī wie folgt: „[…] ein Urteil ist selbst nichts anderes als eine Art Tätigkeit […] unseres Geistes, und es lässt sich keinesfalls behaupten, dass das Urteil unserem Geist auf dem Wege eines der Sinnesorgane zugeflossen sei. Desgleichen kann auch das Verhältnis und die Beziehung zwischen Prädikat und Subjekt in der Aussenwelt, auf die sich das Urteil bezieht, unserem Geist unmöglich auf dem Wege eines der Sinnesorgane zugeflossen sein. Denn einer Beziehung in der Aussenwelt kommt keine Wirklichkeit unabhängig von der Wirklichkeit der beiden Seiten (Subjekt und Prädikat) zu. Das, was unserem Geist auf dem Wege der Sinnesorgane zukommt, sind nichts weiter als Bilder von Wirklichem, die infolge der besonderen Kontaktnahme jener Gehalte der aussergeistigen Wirklichkeit mit den Sinnesorganen in unserem Geist zustande kommen.“⁵²⁸ Da das Urteil selbst dem Geist also nicht von ausserhalb des Geistes zugeflossen sein kann, kann das 526 Vgl. ebda. 527 M, 1381, II:102. 528 M, 1381, II:31.
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Wo seines Ursprungs anders als im Falle der Begriffe nicht fraglich sein: Es muss innerhalb des Geistes selber liegen. Allerdings, so fügt Muṭahharī an, kann es im Falle der Urteile zu einer anderen Streitfrage kommen, einer Streitfrage, die der Gelehrte in die Worte fasst: „Es besteht kein Zweifel, dass manche Urteilsfindungen sich unserem Geiste nicht von selber einstellen. Das heisst: Die Bildung des Begriffsinhaltes des betreffenden Subjekts und des Begriffsinhaltes des betreffenden Prädikats allein reicht für die Bildung eines Urteilsbefundes durch unseren Geist nicht aus. Vielmehr müssen noch andere Faktoren hinzutreten, damit unser Geist ein Urteil abgeben kann. Es besteht ausserdem kein Zweifel, dass einer der Faktoren, die unseren Geist zum Finden und Abgeben von Urteilen über ein jeweiliges einzelnes Ding befähigen, die Sinneserfahrung ist (wie etwa die Urteilsfindung darüber, dass dieses Blatt Papier in meiner Hand weiss ist) und für das Finden von Urteilen mit universaler und allgemeiner Geltung die Empirie und Erprobung in der Praxis [z. B. im Experiment] wie etwa im Falle all unserer wissenschaftlichen Kenntnisse über die Natur. Zum Beispiel bilden wir das allgemeine Urteil ‚Körper dehnen sich infolge von Erwärmung aus‘, und es ist klar, dass ohne Einschaltung von Empirie und Experiment keines Menschen Geist diese Urteilsbildung vornehmen könnte. Nun stellt sich die Frage, ob alle stellungnehmenden Befunde und Urteilsbildungen mit allgemeiner und universaler Gültigkeit unter Vermittlung von Empirie und praktischer Erprobung zustande kommen oder ob es eine Reihe von Urteilen und Stellungnahmen gibt, die ohne jegliche äussere Instanz zustande kommen, von Urteilen also, bei denen die Bildung des Begriffsinhaltes des betreffenden Subjekts und des Begriffsinhaltes des betreffenden Prädikats allein für die Bildung eines Urteils durch unseren Geist ausreicht (in der Logik spricht man von ‚ersten, unvermittelten Erkenntnisinhalten im Sinne von Grundsätzen‘⁵²⁹). Weiter: Angenommen, unser Geist enthalte auch Urteilsaussagen, die nicht von der Sinneserfahrung vermittelt sind, verhält es sich dann so, dass unserem Geist anfänglich diese [erfahrungsunabhängigen] Urteilssätze vorliegen und dann erst die erfahrungsvermittelten Urteile, oder ist es umgekehrt?“⁵³⁰ Muṭahharī lässt an seiner eigenen Position in dieser Streitfrage im Falle der Urteile, d. h. in der Frage, ob in unserem Geist Urteile vorliegen, die nicht von der Sinneserfahrung vermittelt sind, und, wenn ja, welchen Rang sie in der Erkenntnisordnung einnehmen, keinen Zweifel: „[…] wenn wir unserem Geist jene erfahrungsunabhängigen Urteile entziehen,“ erklärt der Gelehrte, „ist es undenkbar und unmöglich, dass unser Geist auf dem Wege der Sinneserfahrung überhaupt 529 Ebda.: „badīhiyyāt-e avvaliyye-ye taṣdīqiyyeh“ („badīhiyyāt awwaliyyah taṣdīqiyyah“); vgl. ausserdem Brugger, 1963:77 f. („Erkenntnisprinzipien“). 530 M, 1381, II:31 f.
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auf einen urteilenden Erkenntnisgehalt kommt. Alle erfahrungsabhängigen Urteilserkenntnisse beruhen auf Prinzipien im Sinne von Urteilssätzen, die unser Geist auf anderem Wege als unter Vermittlung der Sinneserfahrung anerkennt. Wir können auch sagen: Wenn wir unserem Geist jene vorempirischen Urteilsinhalte entziehen, kann der Mensch keinerlei Erkenntnis von irgendetwas erlangen, sei es in empirischen oder nichtempirischen Fragen […].“⁵³¹ und: „[…] zwar haben wir keine Gehalte des Begriffswissens, die den Gehalten der Sinneserfahrung vorgeordnet wären, wir haben aber eine ganze Reihe von Gehalten des Urteilswissens, die den erfahrungsabhängigen Urteilsinhalten vorgeordnet sind.“⁵³² Auch hier hält Muṭahharī den Vertretern der massgeblichen philosophischen Schulen des Abendlandes Nichtunterscheidung vor: „Im allgemeinen werden diese beiden Themen, deren eines sich auf die Diskussion [der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz] von [erfahrungsunabhängigen] Begriffsinhalten bezieht und das andere auf die Diskussion [der Frage nach Existenz oder Nichtexistenz] von [erfahrungsunabhängigen] Urteilsinhalten, miteinander gleichgesetzt.“⁵³³ Diese Nichtunterscheidung führt dazu, dass die betreffenden Gelehrten entweder sowohl alle begrifflichen als auch alle urteilenden Grundlagen unseres Denkens und Erkennens für erfahrungsunabhängig betrachten oder sowohl alle begrifflichen als auch alle urteilenden Grundlagen unseres Denkens und Erkennens für erfahrungsabhängig. Auch diese Nichtunterscheidung vermerkt Muṭahharī als einen Grundfehler in der abendländischen Philosophie. Und auch dieser Grundfehler schlägt sich Muṭahharī zufolge bei vielen westlichen Gelehrten sowie denjenigen unter den iranischen, die sich ihnen anschliessen, in einer fehlerhaften Philosophiebetrachtung nieder. Als ein Beispiel für diese Fehlbetrachtung führt Muṭahharī die Gleichsetzung an, die manche Gelehrte zwischen der Lehre der Peripatetiker wie Fārābī und Ibn Sīnā und der kartesianischen vornehmen mit der Begründung, dass schliesslich beide Schulen die Existenz erfahrungsunabhängiger Erkenntnisgehalte anerkennen. Der Fehler dieser Auffassung besteht für Muṭahharī in folgendem: „[…] Descartes bezieht sich [wenn er von erfahrungsunabhängigen Erkenntnisgehalten spricht] für gewöhnlich auf eine Reihe ‚begrifflicher Erkenntnisgehalte‘, die er selbst mit Namen erwähnt, und ist überzeugt, dass wir […] vorempirische Begriffe haben. Was aber diese Denker [d. h. Fārābī und Ibn Sīnā] […] vertreten, bezieht sich auf ‚urteilende Erkenntnisgehalte‘, d. h. sie meinen damit, dass wir Gehalte des Urteilswissens haben, die
531 M, 1381, II:32. 532 Ebda. 533 Ebda.
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den erfahrungsabhängigen Urteilsgehalten gegenüber [in der Erkenntnisordnung] vorrangig sind […].“⁵³⁴ Als ein weiteres Beispiel für diese Fehlbetrachtung erwähnt Muṭahharī Unklarheiten und Missverständnisse, die er bei gewissen Gelehrten hinsichtlich der Aussagen von Aristoteles selbst wahrnimmt: „[…] genau diese Irrmeinung, dass nämlich jeder, der die Lehre von natürlichen Grundgewissheiten vertrete, diese Gehalte für angeboren und dem Verstand substantiell eigen halten müsse, führt dazu, dass die Gelehrten im Hinblick auf [die Philosophie des] Aristoteles verwirrt sind, so dass ihn manche für einen Empiriker und andere für einen Rationalisten halten und wieder andere ihm vorwerfen, er schwanke [zwischen diesen beiden Lehren] hin und her. Denn sie sehen, dass Aristoteles sich an einer Stelle gegen Platon richtet und die Sinneserfahrung als der Verstandeserkenntnis übergeordnet und die Wahrnehmungsgehalte [wie die der Sinneserfahrung], die sich auf die jeweiligen Einzeldinge beziehen, den universalen Wahrnehmungsgehalten [der reinen Verstandeserkenntnis] gegenüber als vorrangig auffasst und dass er an anderer Stelle, in seinem Werk über Logik, von rein geistigen [und also erfahrungsunabhängigen] Erkenntnisgrundlagen spricht. Die betreffenden Gelehrten können nicht einsehen, dass zwischen diesen beiden Aussagen kein Widerspruch besteht.“⁵³⁵ Dieser besteht für sie darin, dass Aristoteles die Gehalte der Verstandeserkenntnis einmal als abhängig von den Gehalten der Sinneserfahrung und dann wieder, dort, wo er Gehalte der Verstandeserkenntnis im Sinne rein geistiger Erkenntnisgrundlagen erwähnt, als von diesen unabhängig aufzufassen scheint. Der Grund für dieses Missverständnis liegt nach Muṭahharī ganz allein bei den betreffenden Betrachtern selbst, nicht bei Aristoteles, denn „zwar ist von Aristoteles nichts überliefert, das klarstellen könnte, was er wirklich gemeint hat, aber mit dem Vorgehen der islamischen Denker lässt sich Aristoteles’ Theorie erklären.“⁵³⁶ Dieses Vorgehen, das Muṭahharī den islamischen Denkern zugute hält, besteht darin, dass sie anders als die abendländischen Gelehrten zwischen begrifflichen Grundlagen unseres Denkens und Erkennens, die letztlich alle erfahrungsabhängig sind, auf der einen Seite und urteilenden Grundlagen unseres Denkens und Erkennens, die alle erfahrungsunabhängig sind, auf der anderen unterscheiden. Darin also, dass die islamischen Denker anders als die abendländischen Aristoteles’ Bemerkungen über die Vorrangigkeit der Sinneserfahrung gegenüber der Verstandeserkenntnis nur auf die Gehalte des Begriffswissens beziehen und seine Aussagen über die Unabhängigkeit der reinen Verstandeserkenntnis gegenüber der Sinneserfahrung nur auf bestimmte 534 M, 1381, II:33. 535 M, 1381, II:34. 536 Ebda.
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Gehalte des Urteilswissens, zeigen sie in Muṭahharīs Augen ein dem westlichen überlegenes Verständnis der aristotelischen, ja, überhaupt der antiken Philosophie, jener Philosophie also, als deren Fortsetzer und Vollender er die islamischen Denker sieht.
Descartes’ Lehre über die Bildung der Verstandesgehalte im Lichte der von Muṭahharī vertretenen Lehre über die Bildung der Erkenntnisprinzipien Als Beispiele für Gehalte des Urteilswissens, die von der Sinneserfahrung unabhängig und den erfahrungsabhängigen Urteilsgehalten auf dem Weg der Erkenntnis vorgeordnet sind, erwähnt Muṭahharī unter anderem den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der besagt, dass es unmöglich ist, dass dasselbe demselben Seienden unter der gleichen Rücksicht sowohl zukomme als auch nicht zukomme, ferner den Satz „Das Ganze ist grösser als ein Teil davon“ sowie den Satz „Grössen, die einer selben weiteren gleich sind, sind auch notwendig untereinander gleich“.⁵³⁷ Eine logisch gleichwertige Fassung des letzten Satzes, nämlich „Zwei Dinge, die demselben dritten gleich sind, sind notwendig auch untereinander gleich“, begegnet uns in einer Aufzählung natürlicher Gewissheiten nach kartesianischem Verständnis, d. h. von Verstandesgehalten, die nicht von der Sinneserfahrung, der Empirie, abhängen.⁵³⁸ Von all den soeben erwähnten Sätzen gilt nach Muṭahharī, dass „[…] sie nicht nur keines diskursiven Gedankenganges, der Suche nach einem ‚Mittelbegriff‘ oder der Bildung von Obersatz und Untersatz [zur Vorbereitung der Schlussfolgerung im Syllogismus] bedürfen, sondern auch sonst keines vermittelnden Gehaltes, nicht einmal der Beobachtung und Sinneserfahrung. Vielmehr reicht allein schon die Gewärtigung des Begriffsinhaltes des Subjekts und des Begriffsinhaltes des Prädikats in unserem Geiste, damit dieser sein gewissheitswertiges Urteil abgibt. Die Bildung des Begriffsinhaltes des Prädikats und des Begriffsinhaltes des Subjekts genügt also, damit unser Geist einem Subjekt ein Prädikat mit Gewissheit zuspricht […].“⁵³⁹ Urteilssätze, wie sie Muṭahharī hier beschreibt, sind in der philosophischen Fachsprache des Abendlandes als Erkenntnisprinzipien bekannt.⁵⁴⁰ Und zwar meint der Ausdruck Erkenntnisprinzip das, was in der Ordnung unseres Denkens und Erkennens das Ursprüngliche und Grundlegende ist, wie denn das Wort Prinzip für sich Anfang, Anfangsgrund oder Ursprung besagt.⁵⁴¹ Dabei muss,
537 Vgl. M, 1381, II:104. 538 Vgl. M, 1381, I:163. 539 M, 1381, II:104. 540 Vgl. Brugger, 1963:77 f. („Erkenntnisprinzipien“). 541 Vgl. ebda.
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wie schon Aristoteles feststellt, das, was in der Erkenntnisordnung das Anfängliche und Ursprüngliche ist, nicht auch das Anfängliche, Ursprüngliche in der Seinsordnung sein. So kann ich etwa aus der beobachteten Phasenbildung des Mondes auf seine Kugelgestaltigkeit schliessen, und dann ist in der Ordnung meines Denkens die Phasenbildung des Mondes Ausgangspunkt und Grundlage für meine Erkenntnis von dessen Kugelgestaltigkeit. Aber in der Seinsordnung ist die Kugelgestaltigkeit des Mondes der Grund für seine Phasenbildung.⁵⁴² Bei dem nun, was in der Ordnung der Erkenntnis als Prinzipien, als Erkenntnisprinzipien eben, bezeichnet wird, handelt es sich um die grundlegenden, unvermittelten Erkenntnisinhalte mit Urteilswert, um die Grundsätze, von denen das schlussfolgernd fortschreitende⁵⁴³ Denken seinen Ausgang nimmt, eben etwa ein diskursiver Gedankengang wie z. B. ein Syllogismus mit Untersatz, Obersatz und Schlussfolgerung.⁵⁴⁴ Noch genauer versteht man darunter die weder von Sinneserfahrung noch einem Mittelbegriff vermittelten allgemeinen Sätze wie eben „Zwei Grössen, die derselben dritten gleich sind, sind auch notwendig untereinander gleich“, Urteilsaussagen, die von allen Einzelnen, die unter den zugehörigen Subjektbegriff fallen, mit unbedingter Notwendigkeit ein Prädikat aussagen.⁵⁴⁵ Sätze wie diese haben in der Philosophie, genauer: der Logik, dieselbe Geltung und Bedeutung wie die Axiome in der Mathematik.⁵⁴⁶ Was die psychologische Frage, d. h. die Frage nach dem Zustandekommen der Erkenntnisprinzipien in unserer erkennenden Seele, angeht, so besagt die von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertretene Lehre, dass uns diese in einem erfahrungsunabhängigen, rein verstandesmässigen Erkennen aufgehen. Immerhin in dem Punkt also, dass es sich bei den Erkenntnisprinzipien um erfahrungsunabhängige, rein verstandesmässige Gehalte handelt, stimmen rationalistische Lehre und die von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertretene überein. Dieses von jeder Sinneserfahrung unabhängige, rein verstandesmässige Erkennen wird in der Fachsprache der abendländischen Philosophie in einem besonderen Sinne Einsicht genannt.⁵⁴⁷ In dieser Einsicht richtet sich der Blick unseres Geistes auf die beiden in Subjekt und Prädikat des betreffenden Satzes gegebenen Begriffsinhalte und bezieht sie aufeinander.⁵⁴⁸ Wie beim Vergleich, so nimmt der Geist also auch bei der Einsicht eine prädikative Beziehungsbildung und damit ein Urteil 542 Vgl. Aster, 1998:84. 543 In der Fachsprache, auf die T/M zurückgreifen, „naẓarī“: Vgl. etwa T, 1381, II:98 ff. bsd. 111, 140 („naẓarī“ hier als Gegensatz zu „badīhī“). 544 Vgl. auch Brugger, 1963:77 („Erkenntnisprinzipien“). 545 Vgl. ebda. 546 Vgl. ebda. 547 Vgl. ebda. sowie M, 1381, II:104 ff. 548 Vgl. ebda.
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ohne Zwischenschaltung eines Mittelbegriffes vor. Das aber, was im Falle des Vergleichs bei der prädikativen Beziehungsbildung, dem Urteil, herauskommt, ist ein Begriff wie etwa der Begriff Existenz, der seinerseits der begriffliche Grundbaustein für die natürliche Gewissheit „Die Aussenwelt ist existent“ ist. Das, was im Falle der Einsicht bei der prädikativen Beziehungsbildung, dem Urteil, herauskommt, ist nicht ein Begriff, sondern seinerseits ein Urteil wie eben etwa in dem Satz „Zwei Grössen, die derselben dritten gleich sind, sind auch notwendig untereinander gleich.“ Unvermittelte Urteilssätze wie dieser sind entsprechend ihrer Stellung als Erkenntnisprinzipien ihrerseits wieder denjenigen Urteilen vorgeordnet, die von einem vermittelnden Gehalt, sei es einem Mittelbegriff oder auch der Sinneserfahrung, abhängen.
Muṭahharīs Einwände gegen die empirische Lehre über die Bildung der Erkenntnisprinzipien Gemäss der empirischen Lehre jedoch, die in diesem wie in so manch anderem Punkt die Gegenposition zum Rationalismus vertritt, kann es sich bei den Erkenntnisprinzipien nicht um erfahrungsunabhängige, rein verstandesmässige allgemeine Urteile handeln. Denn, wie Muṭahharī die empirische Position wiedergibt, „bei allen universalen Urteilen, die jetzt im Geiste des Menschen vorliegen und von denen die Verfechter der reinen Verstandesmässigkeit derselben meinen, dass sie unvermittelte Grundsätze seien und dass unser Geist allein durch die Gewärtigung des Begriffsinhaltes des Subjekts und des Begriffsinhaltes des Prädikats sein Urteil abgebe, handelt es sich um eine Reihe erfahrungsabhängiger Urteilssätze, die wir im Laufe unseres Lebens gewonnen haben, wobei unser Geist jene Urteile anfänglich in Form von Sätzen abgibt, die sich auf Einzelerfahrungen beziehen, bevor sie schliesslich die Form allgemeiner Urteile annehmen.“⁵⁴⁹ Für die Vertreter des Empirismus gibt es schlichtweg keinen Erkenntnisgehalt, weder einen begrifflichen noch einen urteilenden, der von der Sinneserfahrung unabhängig wäre. Deshalb, wie Muṭahharī ihre Lehre in diesem Punkt darstellt, „behauptet die empirische Logik, dass wir erstens keine grundsätzlichen, unvermittelten Urteile haben, d. h. dass es gar keinen Fall gibt, in dem die Gewärtigung des Begriffsinhaltes des Subjekts und des Begriffsinhaltes des Prädikats für das Zustandekommen des Urteils ausreichen würde. Zweitens gelangt unser Geist im Falle seiner Urteile und Behauptungen stets ausgehend von einzelfallbezogenen Urteilen zu allgemeinen Urteilen […], nie vom Allgemeinen zum Einzelnen. Es entspricht mit anderen Worten der Gewohnheit unseres Geistes, vom Niederen zum
549 M, 1381, II:106.
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Höheren fortzuschreiten […], nicht vom Höheren zum Niederen.“⁵⁵⁰ Die Anhänger der Lehre von der Erfahrungsunabhängigkeit der Erkenntnisprinzipien vertreten diese gemäss den Empirikern überhaupt nur deshalb, „[…] weil sich der Mensch schon von Anbeginn seines Lebens mit solchen Urteilsbildungen befasst sieht und diese auf dem grossen Experimentierfeld des Lebens, nicht in der Schule oder in Laboratorien im üblichen Sinne erlernt hat […].“⁵⁵¹ Dass die Erkenntnisprinzipien nicht wie nach der empirischen Lehre erfahrungsabhängig sein können, sondern als rein verstandesmässige Gehalte erklärt werden müssen, dies versucht Muṭahharī mit folgenden Überlegungen zu beweisen: „[Erstens:] […] selbst einmal angenommen, wir würden im Falle einiger der unvermittelten Grundsätze wie etwa des Urteils ‚Das Ganze ist grösser als ein Teil davon‘ oder ‚Grössen, die einer selben weiteren gleich sind, sind auch notwendig untereinander gleich‘ […] anerkennen, dass sie uns auf dem Wege der Sinneserfahrung zugekommen seien, so sind doch manche Sätze, denen unser Geist Gültigkeit beimisst, in ihrem Gehalt der Sinneserfahrung und sinnlichen Beobachtung nicht zugänglich, so etwa das Urteil des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch […] oder von der Ungültigkeit des Zirkelschlusses […]. Es liesse sich höchstens einwenden, dass der Mensch der Vereinigung zweier Gegensätze [also etwa, dass es hier und jetzt sowohl Tag als auch Nacht ist] oder der Aufhebung beider Gegensätze [also etwa, dass es hier und jetzt sowohl nicht Tag als auch nicht Nacht ist] […] in seinen sinnlichen Beobachtungen und Erfahrungen nicht begegnet sei. Aber bloss einer Sache nicht begegnet zu sein, beweist noch nicht, dass diese nicht existiert oder dass sie unmöglich ist. Zweitens: Wenn wir gelten lassen, dass alle verstandesmässigen Urteile ausnahmslos aus den Erfahrungen auf unserem Lebensweg stammen, dann müssen wir ebenso anerkennen, dass der einzige logische Massstab für die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit von Urteilsaussagen selbst auch wieder in der Sinneserfahrung besteht. Wenn wir aber annehmen, dass einzig dasjenige Urteil richtig ist, dessen Richtigkeit von der Instanz der Sinneserfahrung bestätigt worden ist, ist dann eben dieses unser Urteil, dass nur das, was wir anhand der Sinneserfahrung gewonnen haben, richtig und logisch korrekt sei, richtig oder falsch? Wenn es falsch ist, dann ist die Behauptung der empirischen Logik überhaupt falsch, und dann ist die Behauptung der rein verstandesgegründeten Logik richtig, die eine solche Einschränkung nicht gelten lässt. Wenn es aber richtig und logisch korrekt ist, stammt dann eben dieses Urteil wieder aus der Sinneserfahrung, d. h. sind wir auf dem Wege der Sinneserfahrung auf die Richtigkeit der Sinneserfahrung gekommen, oder stammt nun eben dieses Urteil nicht aus der Sinneserfahrung? Wenn eben dieses Urteil 550 Ebda. 551 Ebda.
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nun nicht aus der Sinneserfahrung stammt, dann ergibt sich die Erkenntnis, dass wir es mit einem ‚unvermittelten Grundsatz‘ zu tun haben, d. h. einem Urteil, das sich uns ohne Vermittlung durch die Sinneserfahrung eingestellt hat. Wenn wir andererseits auf dem Wege der Sinneserfahrung auf die Richtigkeit der Sinneserfahrung gekommen sind, dann bedeutet dies, dass wir der Sinneserfahrung vor dem Vollzug der Sinneserfahrung noch keine Gültigkeit zusprechen, und wenn wir die betreffende Sinneserfahrung dann gemacht haben, legen wir an sie also etwas als Massstab an, dessen Richtigkeit für uns noch gar nicht bewiesen ist.“⁵⁵² Das, was wir an sie als Massstab zur Bemessung ihrer Richtigkeit anlegen, ist nämlich die Instanz der Sinneserfahrung, aber eben deren Gültigkeit ist ja selbst nicht erwiesen worden, und die einzige Instanz, die wir als Empiriker für den Nachweis der Gültigkeit der Sinneserfahrung als Massstab für Richtigkeit oder Falschheit von Urteilen anerkennen können, ist wieder die Sinneserfahrung, deren Gültigkeit wir aber nicht erwiesen haben usw. ohne Ende. Der Versuch der Empiriker, die Erkenntnisprinzipien als Verallgemeinerungen von Einzelerfahrungen zu erweisen, endet also in einem Fortgang ins Unendliche. Wenn wir nun nach Vollzug der betreffenden Sinneserfahrung aber etwas an sie als Massstab anlegen, dessen Richtigkeit für uns noch gar nicht bewiesen ist, so setzt Muṭahharī seine Überlegung fort, „dann bleibt auch die Richtigkeit der Sinneserfahrung für uns unbewiesen. Dann bleibt aber das folgende Urteil: ‚Nur dasjenige Urteil ist gültig und logisch korrekt, dessen Richtigkeit von [der Instanz] der Sinneserfahrung bestätigt worden ist‘ erst recht unbewiesen“⁵⁵³, und also, schliesst der Gelehrte, „müssen in Wahrheit alle vermittelten Urteile unseres Geistes auf unvermittelte Urteile zurückgehen. Denn wenn wir voraussetzen, dass alle Urteile einer vermittelnden Instanz bedürfen (der Sinneserfahrung oder einer anderen), dann könnte für unseren Geist überhaupt kein Urteil zustande kommen, und als Folge davon müsste unser Geist in absoluten Zweifel verfallen. So muss die Nichtanerkennung der Existenz unvermittelter Grundsätze denn mit anderen Worten auf absoluten Zweifel und auf das Versinken in den schauerlichen Abgrund der Sophisterei hinauslaufen.“⁵⁵⁴ Bei einem dieser unvermittelten Grundsätze handelt es sich aber um den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, genau um jenen Grundsatz also, an dessen Anerkennung oder Nichtanerkennung sich für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Frage entscheidet, ob eine Lehre der Philosophie im Sinne des Dogmatismus oder dem Relativismus, zu dem auch der Sophismus gehört, zuzurechnen ist.
552 M, 1381, II:107 f. 553 M, 1381, II:108. 554 Ebda.
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„Drittens“, so setzt Muṭahharī seine Beweisführung fort, „ist die Instanz von Beobachtung und Erfahrung immer auf eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort und eine bestimmte Anzahl beschränkt. Wenn wir aber voraussetzen, dass es sich bei allen Urteilssätzen, welche die Anhänger der rein verstandesgegründeten Logik ‚unvermittelte Grundsätze‘ nennen, um erfahrungsabhängige Sätze handelt, kann unser Geist, gestützt auf die Instanz der Erfahrung, nur gerade in den Fällen urteilen, die der Beobachtung und Erfahrung unterzogen worden sind, und in keinem weiteren. Angenommen etwa, wir kommen bei Beobachtung und Erfahrung an zehn, hundert oder tausend Fällen zu dem Befund ‚Grössen, die einer selben weiteren gleich sind, sind auch notwendig untereinander gleich‘ oder ‚Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben Seienden in derselben Hinsicht sowohl zukomme als auch nicht zukomme‘ oder anderen, mit welcher Begründung verallgemeinern wir dann dieses Urteil, so dass es für sämtliche Zeiten, Orte und für eine unbegrenzte Anzahl von Fällen gilt? Zwar finden wir diese Urteile als Gehalte von allgemeiner, zeitloser und ausnahmsloser (notwendiger) Gültigkeit in unserem Geiste vor, dabei kann von diesen drei Eigenschaften (Allgemeingültigkeit, Zeitlosigkeit, Notwendigkeit) doch keine einzige aus der Sinneserfahrung stammen. […] Wenn die Empiriker also behaupten, dass unser Geist stets ausgehend von einzelfallbezogenen Urteilen zu allgemeinen Urteilen gelangt, dann sagen wir: Auf welcher Grundlage und nach welchem Kriterium verallgemeinert unser Geist hier sein Urteil und weitet dessen Geltungsbereich von den beobachteten Fällen auf die nicht beobachteten Fälle aus und schreitet vom Einzelnen zum Allgemeinen fort […]? Anerkennt unser Geist also oder anerkennt er nicht, dass, wenn irgendein Urteil für verhältnismässig wenige [beobachtete] Einzelfälle, die unter einen Allgemeinbegriff fallen, als gültig erwiesen worden ist, seine Gültigkeit für alle Einzelfälle, die unter den betreffenden Allgemeinbegriff fallen, erwiesen ist, dass also gilt, wie es in der Fachsprache heisst, ‚Die Urteile über gleichartige Gegenstände sind selbst untereinander gleich‘?“⁵⁵⁵ Es geht also, kurz gefasst, um die Frage, ob unser Geist die Gültigkeit dieses zuletzt angeführten Satzes anerkennt, eines Satzes, der im Sprachgebrauch der abendländischen Philosophie als Satz vom zureichenden Grunde bekannt ist.⁵⁵⁶ „Wenn unser Geist [die Gültigkeit dieses Satzes] nicht anerkennt“, so führt Muṭahharī seine Überlegung weiter, „dann kann die Erfahrung anhand der beobachteten Einzelfälle nicht als Grundlage für ein Urteil über die nicht beobachteten Einzelfälle angenommen werden. Das wäre ja gerade so, als würde unser Geist, noch ehe es überhaupt zu irgendeiner Erfahrung oder Beobachtung gekommen ist, über jene nicht 555 M, 1381, II:108 f. mit Angleichung der Fachsprache an Brugger, 1963:85 („Ewigkeit“),149 („Induktion“) . 556 Vgl. Brugger, 1963:132 („Grund, Satz (Prinzip) vom zureichenden“), 149 („Induktion“).
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beobachteten Einzelfälle ein Urteil abgeben. Dabei hat unser Geist doch notwendigerweise und nach dem Bekunden der Vertreter der empirischen Lehre selbst über Gehalte der Sinneserfahrung, bevor die Sinneserfahrung stattgefunden hat, gar kein Urteil. Wenn unser Geist andererseits [die Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde] anerkennt, dann muss er dieses Urteil ohne Vermittlung durch sinnliche Beobachtung und Erfahrung gewonnen haben. Denn wenn auch dieses Urteil aus der Sinneserfahrung stammt, dann ist es für seine Verallgemeinerung zwangsläufig wieder auf ein Urteil angewiesen usw.“⁵⁵⁷ „Daraus ergibt sich die Erkenntnis“, so schliesst Muṭahharī, „dass unser Geist in sämtlichen Gegenständen im Bereich der Sinneserfahrung nur gestützt auf eine Reihe allgemeiner, nicht erfahrungsabhängiger Prinzipien von einem Urteil im Einzelfall zu einem allgemeinen Urteil fortschreiten kann.“⁵⁵⁸ „[…] Sinneserfahrung und Erprobung in der Praxis“, wie Muṭahharī den Gedanken desselben Schlusses an anderer Stelle ausdrückt, „sind nicht der einzige Standard und Prüfstein für Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit von Urteilsaussagen, und sogar die Empiriker selbst können nicht umhin, eindeutig von der Existenz einer Reihe [rein] verstandesmässiger Urteilssätze überzeugt zu sein (ohne es zu merken), die der Sinneserfahrung und der Erprobung in der Praxis nicht zugänglich sind.“⁵⁵⁹
Die Mittelstellung der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins über die Verstandesgehalte zwischen Rationalismus und Empirismus Der Gegensatz zwischen den Rationalisten, ja, überhaupt allen Anhängern der Lehre von der Erfahrungsunabhängigkeit der Erkenntnisprinzipien und der auf sie gegründeten Logik, darunter auch Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, und den Empirikern, was die grundlegenden Gehalte des Urteilswissens angeht, betrifft für Muṭahharī also „[…] die Frage der grundlegenden Gesetze und Massstäbe für das Denken und die Vorgehensweise unseres Geistes bei seinen gedanklichen Operationen.“⁵⁶⁰ Diesen Streit in der Frage der Gehalte unseres Urteilswissens belegt Muṭahharī mit der Bezeichnung „Meinungsverschiedenheit zwischen den Verfechtern der blossen Verstandesabhängigkeit und den Verfechtern der blossen Erfahrungsabhängigkeit“⁵⁶¹ der grundlegenden Gehalte unseres Urteilswissens. „[…] Dabei“, so führt er aus, „erklären die Empiriker die Sinneserfahrung zum grundlegenden Massstab [für Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der
557 M, 1381, II:109. 558 Ebda. 559 M, 1381, II:30. 560 M, 1381, II:103 f. 561 M, 1381, II:103: „eḫtelāf-e naẓar be-nām-e ‚taʿaqqolī va taǧrebī‘“.
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Urteile unseres Geistes] und lassen die Existenz eines anderen Massstabes nicht gelten. Die Verfechter der blossen Verstandesabhängigkeit der Gehalte unseres Urteilswissens hingegen behaupten die Existenz einer Reihe [rein] verstandesmässiger Grundsätze und Prinzipien, die von der Sinneserfahrung unabhängig sind, und betrachten diese als die letztgültige ‚Waage‘, den ‚Massstab‘ und das ‚Messgerät‘ [für Richtigkeit oder Falschheit] unserer Gedanken. So sehr auch die Sinneserfahrung selbst nach der Überzeugung der Verfechter der blossen Verstandesabhängigkeit der Gehalte unseres Urteilswissens Massstab und Messgerät in vielen Fragen ist, so ist sie doch nicht die letztgültige Massgabe, sondern nur eine Massgabe zweiten Ranges – mit anderen Worten: Wir haben eine Reihe grundsätzlicher Massgaben, anhand derer wir eine ganze Reihe von Gehalten, so eben etwa die Erkenntnis, dass auch die Sinneserfahrung eine Massgabe [wenn auch zweiten Ranges] ist, gewinnen.“⁵⁶² Weil es bei diesem Streit um die Frage der Massgeblichkeit der blossen Verstandeserkenntnis oder der blossen Sinneswahrnehmung für unser Denken geht, fällt diese Streitfrage für Muṭahharī in das Gebiet der Logik.⁵⁶³ Der Gegensatz zwischen den Anhängern des Rationalismus und den Vertretern des Empirismus, was die Gehalte des Begriffswissens angeht, betrifft für Muṭahharī hingegen die Frage, „[…] auf welchem Wege die Begriffe in unserem Geiste ursprünglich entstehen“, und „dieses Problem“, so fährt er fort, „hat vor allem einen ‚psychologischen‘ Aspekt und lässt die Richtungen der Philosophen in der Frage nach Ursprung und Ausgangspunkt der Begriffe auseinandergehen.“⁵⁶⁴ Dabei vertreten die abendländischen Rationalisten in der Nachfolge Descartes’ auch hinsichtlich der Gehalte unseres Begriffswissens die Lehre von der reinen Verstandeszugehörigkeit und völligen Erfahrungsunabhängigkeit derselben, während die Empiriker in diesem Punkt die Position von der völligen Erfahrungsabhängigkeit der Begriffe einnehmen. So verfechten denn die kartesianischen Rationalisten auf der einen und die Empiriker auf der anderen Seite sowohl in der Frage der Grundlagengehalte unseres Urteilswissens als auch in der Frage unseres Begriffswissens jeweils dieselbe Position: Die kartesianischen Rationalisten betrachten sowohl die grundlegenden Gehalte unseres Urteilswissens, die Erkenntnisprinzipien, wie auch die allgemeinen Gehalte unseres Begriffswissens als rein verstandesmässig und erfahrungsunabhängig, während die Empiriker nicht nur die Gehalte unseres Begriffswissens, sondern auch die grundsätzlichen Gehalte unseres Urteilswissens, die Erkenntnisprinzipien, als erfahrungsabhängig auffassen. Dieser Gegen562 Ebda. 563 Vgl. ebda. 564 M, 1381, II:102.
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satz in der Frage, wie Verstandeserkenntnis und Sinneserfahrung im Verhältnis zueinander zu werten seien, stellt für Muṭahharī eine Eigenheit der neuzeitlichen abendländischen Geistesgeschichte dar, und erst noch eine, die in der Philosophiegeschichte ohne Beispiel ist: „[…] die rationalistische und die empiristische Lehre in der Form, wie sie in der Neuzeit [im Abendland] vorgebracht worden sind, sind [philosophiegeschichtlich] beispiellos. Insbesondere die rationalistische Lehre, wonach manche Gehalte unseres Begriffswissens angeboren und dem Verstand substantiell eigen seien und diesem notwendig anhafteten – die zum ersten Mal von Descartes vorgebracht wurde –, ist [in der Philosophiegeschichte] gänzlich ohne Beispiel.“⁵⁶⁵ Und auf denselben Gegensatz zwischen Rationalisten und Empiristen in den erwähnten Punkten bezieht sich der Gelehrte mit der Bemerkung: „In Europa ist das erwähnte Problem seit dem 16. Jahrhundert in einer anderen Form [als in der islamischen Geistesgeschichte] erörtert worden und hat einen gewaltigen Streit ausgelöst. Die Geschichte dieses Problems unter den Europäern unterscheidet sich in Form und Qualität von dem, was wir oben besprochen haben.“⁵⁶⁶ Zwischen der rationalistischen Lehre von der grundsätzlichen Erfahrungsunabhängigkeit sowohl der allgemeinen Gehalte unseres Begriffswissens als auch der grundlegenden Gehalte unseres Urteilswissens auf der einen Seite und der empirischen Lehre von der grundsätzlichen Erfahrungsabhängigkeit sowohl der Allgemeinbegriffe als auch der Grundlagen unseres Urteilswissens auf der anderen nimmt die Lehre, welche Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, in gewissem Sinne eine Mittelposition ein. Nicht, dass sie zu diesem Zweck entwickelt worden wäre. Dies wäre allein schon entstehungsgeschichtlich nicht möglich. Denn Muṭahharī betrachtet die Position, die Ṭabāṭabāʾī und er selbst einnehmen, als Weiterentwicklung einer Erkenntnislehre, die er den islamischen Denkern überhaupt zuschreibt, wobei diese ihre Theorie in der Frage, wie wir Erkenntnis gewinnen, ihrerseits vor allem in Anlehnung an Aristoteles ausgearbeitet hätten.⁵⁶⁷ Eine Mittelposition nun stellt die von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī verfochtene Lehre in dem Sinne dar, dass sie in der Frage nach der Entstehung der Begriffe aus der ersten Gruppe nach Muṭahharīs Einteilung der empirischen Position nahesteht, indem sie deren Ursprung in der Sinneserfahrung sieht, in der Frage nach dem Ursprung der Grundgehalte unseres Urteilswissens aber der rationalistischen Position ähnlich ist, indem sie diese als rein verstandesgegründet und erfahrungsunabhängig erklärt.
565 M, 1381, II:32. 566 M, 1381, II:23. 567 Vgl. M, 1381, II:20.
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Die Zweigeteiltheit der Wirklichkeit, die sich für Muṭahharī aus der rationalistischen Lehre ergibt Wenn Rationalismus und Empirismus in ihrem Verhältnis zueinander aber auch manch gegensätzliche Position vertreten, so lassen sich aus Sicht von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī doch alle beide in ihrem Ursprung auf denselben Grundfehler der abendländischen Geistesgeschichte, nämlich die Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Idee bzw. Ding, zurückführen. Was den Rationalismus betrifft, so anerkennt dieser die Existenz von Begriffen im Grunde überhaupt nicht. Denn Begriffe sind definiert als allgemeine Gehalte des mittelbaren Verstandeswissens mit Gewissheitswert, die wir auf dem Wege der Abstraktion aus den individuellen Gehalten der unmittelbaren, gegenwärtigen Sinneswahrnehmung gewinnen. Nun sprechen die Rationalisten aber der Sinneswahrnehmung selbst schon keinen Gewissheitswert zu. Folglich können sie auch dem Erkenntnisweg der Abstraktion, der von der Sinneswahrnehmung seinen Ausgang nimmt, keinen Gewissheitswert zuerkennen. So gibt es für die Rationalisten denn keinen gewissheitsverbürgenden Erkenntnisweg, der von der Aussenwelt mit ihren Einzeldingen in die Innenwelt mit ihren allgemeinen Gehalten, aus dem Aussergeistigen in den Geist, von der Sinneserfahrung zur Verstandeserkenntnis führen würde. Vielmehr trennt der Rationalismus die Gehalte der reinen Verstandeserkenntnis als einzig gewissheitsbegründende Erkenntnisgrundlage von der Sinneserfahrung, die für ihn keine Gewissheit begründet, ab,⁵⁶⁸ und die reinen Verstandesgehalte versteht er nicht als Ergebnisse eines Erkenntnisweges, sondern als angeborenes, dem Verstand substantiell eigenes Wissen. Diese Trennung zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis, wie wir sie bei den Rationalisten finden, sehen manche Betrachter der abendländischen Geistesgeschichte in der scholastischen Strömung des Nominalismus angebahnt.⁵⁶⁹ Der Nominalismus leugnet im Zeichen der Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Ding ja schlechthin die Existenz allgemeiner Gehalte, sei es in der Aussenwelt oder in der Innenwelt. Damit bestreitet er auch den Erkenntnis- und Gewissheitswert der Abstraktion, mit der wir aus der Sinneserfahrung des Einzelnen die Begriffe als allgemeine Gehalte der Verstandeserkenntnis entwickeln,⁵⁷⁰ und durchtrennt so überhaupt das Band zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis. Unter dem Einfluss des Nominalismus und verwandter Strömungen der Scholastik⁵⁷¹ kommt gemäss jenen Betrachtern auch für 568 Vgl. Brugger, 1963:253 („Rationalismus“). 569 So etwa Brugger, 1963:253 („Rationalismus“). 570 Vgl. Brugger, 1963:217 („Nominalismus“). 571 Vgl. etwa Brugger, 1963:165 f. („Konzeptualismus“), 217 f („Nominalismus“).
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die nachscholastischen Richtungen der abendländischen Philosophie die Abstraktion als Weg des Erkenntniserwerbs entweder gar nicht in Frage – so im Falle des Rationalismus –⁵⁷² oder begründet keine Gewissheit, und in beiden Fällen bleibt in ihnen die Trennung zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis bestehen. So ergibt sich in der Erkenntnislehre des Rationalismus denn eine Zweiteilung zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis. Dabei liegen die Gegenstände der Sinneserfahrung in der Aussenwelt, im Bereich der Objekte, und die grundlegenden Gehalte der Verstandeserkenntnis in der Innenwelt meines Geistes, des Subjekts. Der erwähnten Zweiteilung im Bereich des Erkennens zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis entspricht im Rationalismus somit eine Zweiteilung im Bereich des Seins zwischen Subjekt und Objekt. Und genau wie Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis in der Erkenntnisordnung keine Beziehung zueinander haben, bestehen auch in der Seinsordnung Subjekt und Objekt beziehungslos nebeneinander her. Das Objekt ist für Descartes schlechthin definiert als Körper, einschliesslich des Leibes des Menschen. Die Wirklichkeit des Objekts, des Körpers, wiederum liegt für ihn in Ausgedehntheit und Bewegung: „Für die Erklärung […] der Wirklichkeit der Körperwelt“, wie Muṭahharī anführt, „hielt Descartes […] Ausgedehntheit und Bewegung für ausreichend. […] Dementsprechend wird [bei ihm] die Wissenschaft von der Natur (Physik) zu Bewegungslehre (Mechanik), und die Erörterungen aller diesbezüglichen Probleme fallen in die Mathematik.“⁵⁷³ und: „Die Körperwelt ist alles in allem eines, und die verschiedenen Körper sind Teile eines Ganzen. Mit anderen Worten: Jeder Körper ist ein begrenzter Teil des unbegrenzten Raumes, und die einzelnen Körper unterscheiden sich voneinander nur in Gestalt und Lage. Veränderungen und akzidentelle Zuständlichkeiten der einzelnen Körper wie Wärme, Helligkeit, Schwere, Anziehung und Abstossung und überhaupt alle physikalischen Wirkungen sind das Ergebnis der Bewegungen der Körper, und Bewegung ist nichts anderes als Ortsveränderung, und diese wiederum besteht in der Veränderung der Lage der Teile und einzelnen Körper im Verhältnis zueinander.“⁵⁷⁴ Das Subjekt ist für Descartes die Seele des Menschen, deren Wirklichkeit im Denken besteht. „Nach Descartes’ Überzeugung“, so erklärt Muṭahharī, „besteht der Mensch aus Leib und Seele. Der Leib des Menschen ist wie alle anderen Körper, seien sie anorganisch, pflanzlich oder tierisch, nichts weiter als eine Maschine. Die Seele des Menschen aber ist eine Substanz, die sich vom Leib völlig 572 Vgl. Brugger, 1963:253 („Rationalismus“). 573 M, 1381, IV:105. 574 M, 1381, IV:105 f.
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unterscheidet. Während Descartes die Welt [der Körper, d. h. das Objekt] als eine Maschine erklärt und seine Lehre [hinsichtlich der Aussenwelt] auf die Nichtanerkennung aller substantiellen und wesenhaften Unterschiede zwischen den Dingen gründet, vertritt er andererseits die Lehre von der Unabhängigkeit der menschlichen Seele vom Körper […].“⁵⁷⁵ Und ebenso führt er an: „[…] der Mensch hat [nach Descartes’ Lehre] […] eine Seele oder einen Geist, welcher der Urgrund für sein Empfinden, Bewusstsein und Denken ist, dem Leib als ein ihm uneigentliches Ding zukommt, sich vom Körper ganz und gar unterscheidet und nicht auf die tierischen Funktionen des Leibes einwirkt.“⁵⁷⁶ So gibt es gemäss der kartesianischen Philosophie denn, wie Muṭahharī weiter anführt, „[…] zweierlei Substanz: Zum einen den ‚Körper‘, dessen Wirklichkeit in Ausgedehntheit besteht, und zum anderen die ‚Seele‘, deren Wirklichkeit in Denken bzw. Erkennen besteht […].“⁵⁷⁷ Und mit dieser Entgegensetzung zwischen Körper, dem Objekt, und Seele, dem Subjekt, so Muṭahharīs Urteil, „vertritt Descartes […] in der Frage des Verhältnisses zwischen Leib und Seele die Lehre einer völligen Zweiheit zwischen den beiden und nimmt zwischen beiden einen Abstand an, grösser als der zwischen Himmel und Erde. Seither ist das Problem der Seele in der europäischen Philosophie mit dieser Zweiteilung behaftet, und dies hat selbst wieder unheilvolle Auswirkungen mit sich gebracht.“⁵⁷⁸ Dabei steht dieses Urteil Muṭahharīs über Descartes’ rationalistische Philosophie seinerseits im Zeichen von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, der er selber anhängt. Im Lichte dieser Lehre tritt an der kartesianischen und am Rationalismus überhaupt die erwähnte Zweiheit besonders scharf hervor: Während die Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins nämlich auf einer ontologischen Einheitslehre, einem ontologischen Monismus⁵⁷⁹, beruht, indem sie als die eine und einzige Grundlage der Wirklichkeit das Prinzip Sein anerkennt, gibt es nach der rationalistischen Philosophie gewissermassen zwei Wirklichkeiten, die eine, das Subjekt bzw. die Seele, mit dem Prinzip „Ich denke, also bin ich“ als ihrer Grundlage und die andere, das Objekt bzw. den Körper, mit dem Prinzip Ausgedehntheit und Bewegung als ihrer Grundlage. Daher ist der von Descartes begründete Rationalismus aus Sicht der Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins im Ansatz intellektuell unzulänglich, denn er bietet keine einheitliche und deshalb auch keine gegensatzlose und widerspruchsfreie Erklärung von Sein und Erkennen. Im Lichte dieses Befundes erweist sich der Anspruch des Rationa-
575 M, 1381, IV:105. 576 M, 1381, IV:106. 577 M, 1381, IV:110. 578 M, 1381, IV:105. 579 Vgl. Kamal, 2006:57.
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lismus auf geistige Überlegenheit gegenüber den vorangegangenen philosophischen Systemen wie etwa dem der „vormodernen“ Scholastik als unbegründet, und als ebenso unbegründet muss daher sein Anspruch auf intellektuelle Massgeblichkeit überhaupt erscheinen. Damit erweist sich aber auch die Berufung auf den Rationalismus, sei es auf den kartesianischen selbst, sei es auf die im Anschluss an diesen etwa in der Philosophie der Aufklärung eingeschlagenen Richtungen⁵⁸⁰, bei der geistigen Grundlegung „moderner“ theoretischer und praktischer Systeme mit Massgeblichkeitsanspruch als philosophisch unzureichend hinterlegt.
3.2.2 Fortbildungen des kartesianischen Rationalismus Auf die Vertreter der rationalistischen Systeme, die im unmittelbaren Anschluss an Descartes’ Denken entstanden, geht Muṭahharī nur kurz ein, so etwa mit der Bemerkung: „Eine weitere Gruppe von Philosophen wie z. B. Leibniz [st. 1716]⁵⁸¹, Malebranche [st. 1715]⁵⁸² und Spinoza [st. 1677]⁵⁸³, die nach Descartes kamen, sind im Grossen und Ganzen seiner Lehre über die Gehalte der Sinneserfahrung und darüber, dass die Gehalte der Sinneserfahrung keine Wirklichkeitsbezogenheit verbürgen, sowie seiner Lehre in der Frage der Gehalte der Verstandeserkenntnis, der angeborenen Erkenntnisgehalte und der Gewissheitswertigkeit derselben mit Abweichungen in einzelnen Punkten gefolgt.“⁵⁸⁴ Auch was Anselms ontologischen Gottesbeweis angeht, bemerkt Muṭahharī, so „haben viele, wie etwa Descartes, Leibniz und Spinoza diesen in unterschiedlichen Formulierungen übernommen.“⁵⁸⁵ Deshalb, wie er beifügt, „[…] lässt sich gegen die Lehre eines jeden von ihnen auch Ähnliches wie der Einwand, den wir gegen Anselm vorgebracht haben, anführen.“⁵⁸⁶ Wohl angesichts dieser Ähnlichkeit des Gedankengutes der genannten Philosophen mit der Lehre Descartes’ erübrigt sich für Muṭahharī eine eingehendere Auseinandersetzung mit diesem. Allen erwähnten Denkern gemeinsam ist jeden580 Vgl. Brugger, 1963:253 („Rationalismus“); Hügli/Lübcke, 2005:145a. 581 Über Leben und Lehre vgl. Aster, 1998:244 ff.; Brugger 1963:202 f. („Monade“); Hügli/Lübcke, 2005:373b) ff.; Vogt, 2003:172 ff. 582 Über Leben und Lehre vgl. Aster, 1998:210 ff.; Brugger 1963:221 („Okkasionalismus“), 224 („Ontologismus“); Hügli/Lübcke, 2005:408a) ff. 583 Über Leben und Lehre vgl. Aster, 1998:212 ff.; Brugger 1963:305 f. („Spinozismus“); Hügli/ Lübcke, 2005:587a) ff. 584 M, 1381, I:163 f.; vgl. ausserdem M, 1381, I:175. 585 M, 1381, V:125. 586 M, 1381, V:127.
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falls, dass es ihnen um die Lösung eben jener Zweiheit geht, mit der das Problem der Seele im abendländischen Denken seit Descartes Muṭahharī zufolge behaftet ist. Descartes hat seinem System auf der ontologischen Ebene die Seele auf der einen und den Leib oder Körper auf der anderen Seite als zwei verschiedene Substanzen zugrundegelegt und auf der epistemologischen Ebene dabei der Seele die Verstandeserkenntnis und dem Leib die Sinneserfahrung zugeordnet. Damit ergibt sich aber die Schwierigkeit – eine Schwierigkeit, die Descartes’ Lehre selbst eher aufzeigt als löst –, wie zwischen zwei so grundsätzlich voneinander verschiedenen Substanzen wie Leib und Seele bzw. zwischen der Sinneserfahrung und der Verstandeserkenntnis überhaupt eine Beziehung, namentlich eine Kausalbeziehung, bestehen kann.⁵⁸⁷
3.2.2.1 Der Okkasionalismus Malebranches Malebranche versucht dieses Problem zu lösen, indem er zwischen Leib und Seele bzw. zwischen Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis gar keine UrsacheWirkung-Beziehung annimmt. Genau genommen, gibt es für Malebranche überhaupt nur eine Wirkursache, nämlich Gott.⁵⁸⁸ So sind für Malebranche auch die Gegebenheiten der Körperwelt nicht Ursache dessen, was wir Sinneserfahrung zu nennen pflegen, sowie der nachgeordneten Bewusstseinsvorgänge, z. B. der Verstandeserkenntnis, sondern geben nur Anlass – lateinisch „occasio“, daher der Name „Okkasionalismus“ für die von Malebranche vertretene Lehre – dazu, dass Gott beständig eingreift.⁵⁸⁹ Das Vorkommen von Körperlichem wie etwa einer Verletzung am Arm veranlasst Gott, einen angemessenen Vorgang in unserem Bewusstsein, unserer Seele, zu erschaffen, in diesem Fall eben Schmerz.⁵⁹⁰
3.2.2.2 Spinozas „Ein-Substanz-Lehre“ Spinoza versucht, das von Descartes aufgeworfene Problem, wie zwei grundsätzlich verschiedene Substanzen miteinander eine Beziehung haben können, dadurch zu lösen, dass er seinem System nicht wie Descartes zwei, sondern nur eine einzige Substanz zugrundelegt. Mehr als eine Substanz kann es Spinoza zufolge auch nicht geben: Denn gäbe es mehrere Substanzen, dürften ihre wesentlichen Eigenschaften nicht miteinander eins sein, da sie sich sonst nicht unter-
587 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:144b, 145a. 588 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:408b; Brugger, 1963:221 („Okkasionalismus“). 589 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:408b. 590 Vgl. ebda.
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scheiden liessen.⁵⁹¹ Wenn sie aber unterschiedliche Eigenschaften besitzen – wie eben etwa die beiden Substanzen Ausdehnung und Bewusstsein bei Descartes –, kann eine Substanz nicht die Ursache einer anderen sein.⁵⁹² Andererseits müsste sich doch eine Ursache für diese Vielheit von Substanzen finden. Diese müsste dann aber ausserhalb der besprochenen Substanzen selbst liegen. Dann wären diese aber für ihr Sein von etwas anderem als von sich selbst abhängig. Substanz ist für Spinoza aber definiert als das, was in seiner Existenz von nichts ausser sich selbst abhängt.⁵⁹³ Also kann es nur eine Substanz geben, die ausserdem unbegrenzt sein muss: Denn begrenzt werden könnte sie, wenn sie denn begrenzt wäre, nur durch eine andere Substanz – aber mehr als eine Substanz kann es ja eben nicht geben.⁵⁹⁴ Diese eine, einzige und unbegrenzte Substanz nennt Spinoza „Gott bzw. Natur“,⁵⁹⁵ und dieser einen Substanz ordnet er die beiden kartesianischen Prinzipien Denken und Ausdehung, das Seelische und das Körperliche also, als Attribute zu.⁵⁹⁶ Genauer gesagt, handelt es sich für Spinoza bei diesen um die zwei Attribute an der Substanz, die dem Menschen an dieser als einzige erkennbar sind.⁵⁹⁷ Dass es sich beim Seelischen und beim Körperlichen anders als bei Descartes nicht selbst um Substanzen, sondern nur um Attribute der einen Substanz Gott bzw. Natur handelt, bedeutet für Spinoza auch, dass es zwischen Seelischem und Körperlichem keine Ursache-Wirkung-Beziehung geben kann. Vielmehr sind etwa die seelische Regung des Wollens einer Handbewegung und die körperliche Regung der Handbewegung selbst, genau wie das Seelische und das Körperliche allgemein nur zwei Seiten der einen selben Substanz Gott bzw. Natur sind, ebenfalls nur zwei Seiten desselben Vorgangs innerhalb der Natur bzw. Gottes:⁵⁹⁸ So bewirkt nicht die seelische Regung die körperliche, sondern zwischen den beiden, der seelischen und der körperlichen Regung, besteht ein Parallelismus wie bei einer Uhr mit einem Getriebe, aber zwei Zifferblättern.⁵⁹⁹
3.2.2.3 Leibniz’ Monadenlehre Leibniz schliesslich nimmt im Gegensatz zu Spinoza nicht eine einzige, unbegrenzte Substanz, gleichbedeutend mit Gott bzw. Natur, an, sondern viel591 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:589a. 592 Vgl. ebda. 593 Vgl. ebda. 594 Vgl. ebda. 595 Vgl. ebda. 596 Vgl. Brugger, 1963:305 („Spinozimus“); Hügli/Lübcke, 2005:589b. 597 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:589b. 598 Vgl. Vogt, 2003:170. 599 Vgl. ebda.
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mehr eine unbegrenzte Zahl einzelner, einfacher Substanzen, die er Monaden nennt.⁶⁰⁰ Die Wirklichkeit dieser Substanzen kann aber nicht in Ausdehnung und Bewegung bestehen, wie Descartes dies für Körper annimmt. Denn Ausdehnung ist für Leibniz ein blosser Gehalt der Mathematik und damit letztlich unseres Denkens und nicht der denkunabhängigen Wirklichkeit, und Bewegung ist ebenfalls vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters abhängig:⁶⁰¹ So sehen wir etwa von unserem Standpunkt auf der Erde eine Bewegung der Sonne um die Erde. Wenn die Wirklichkeit der Substanzen, die Leibniz Monaden nennt, aber nicht in Ausdehnung und Bewegung bestehen kann, den beiden Prinzipien also, die für Descartes die Körperlichkeit ausmachen, dann kann es sich bei den Monaden nicht um Körper handeln. Die Monaden sind folglich nicht materiell, sondern alle etwas Geistiges.⁶⁰² Diese Geistigkeit bedeutet, dass sie alle beseelt sind, manche allerdings mehr, manche weniger.⁶⁰³ Und weil die Monaden alle geistig sind und keine körperlich ist, stellt sich für Leibniz auch nicht wie für Descartes die Frage, wie Geistiges und Körperliches miteinander irgendeine Beziehung haben können. Von allen Monaden setzt Leibniz nur eine, die höchste, mit Gott dem Schöpfer gleich, während alle anderen, welche zusammen die Natur bilden, von Gott geschaffen sind.⁶⁰⁴ Genau wie für Malebranche, so ist auch für Leibniz Gott der Schöpfer die einzige Wirkursache. Die Geschöpfe, d. h. die Monaden, sind je in sich geschlossene Einheiten, die nicht nach aussen wirken können.⁶⁰⁵ Vielmehr ist eine jede Monade vergleichbar mit einem Uhrwerk, das, von Gott geschaffen, aufgezogen und in Lauf gesetzt, die in ihm als Möglichkeit angelegten Bewegungen vollführt.⁶⁰⁶ So gesehen, handelt es sich bei den Monaden um innerlich bewegte, dynamische, Kraftzentren, welche ein jedes die ihm vorgegebenen Möglichkeiten entwickeln. Im Entfalten dieser vorgegebenen Möglichkeiten liegt die Erreichung eines Zieles, und in diesem Sinne ist die innere Bewegung der Monaden zielgerichtet, d. h. finalistisch bzw. teleologisch.⁶⁰⁷ Dabei stimmen die Entfaltungsstufen all der einzelnen Monaden jeweils überein, weil Gott sie wie beim Abgleichen verschiedener Uhren in eine vorbestimmte Harmonie gebracht hat.⁶⁰⁸ Das, was wir als eine Beziehung von Ursache und Wirkung zwi600 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“); Hügli/Lübcke, 2005:374a; Vogt, 2003:173. 601 Vgl. Vogt, 2003:173. 602 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:374b. 603 Vgl. Vogt, 2003:174. 604 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“); Vogt, 2003:174. 605 Vgl. Leibniz’ Rede von der „Fensterlosigkeit“ der Monaden: Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“); Hügli/Lübcke, 2005:374b; Vogt, 2003:174. 606 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“). 607 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“);Hügli/Lübcke, 2005:374b. 608 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“);Hügli/Lübcke, 2005:374b) ff.; Vogt, 2003:174.
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schen einem Ereignis A, etwa dem Schuss eines Gewehres, und einem Ereignis B, etwa dem Tod eines Menschen, erfahren, besteht in der erfahrungsunabhängigen Wirklichkeit allein darin, dass die Entfaltungsstufe „Schuss“ der Monade „Gewehr“ und die Entfaltungsstufe „Tod“ der Monade „Mensch“ von der Monade Gott so aufeinander abgestimmt worden sind.⁶⁰⁹ Eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen den beiden Ereignissen A und B in der erfahrungsunabhängigen Wirklichkeit aber dürfen wir ebenso wenig annehmen, wie wir etwa daraus, dass wir ein Uhrwerk A die Stunde zwölf und ein Uhrwerk B ebenfalls die Stunde zwölf anzeigen sehen, schliessen dürfen, dass das Anzeigen der Stunde zwölf auf Uhrwerk A die Ursache für das Anzeigen der Stunde zwölf auf Uhrwerk B sei.
3.2.2.4 Maschinismus und Mechanismus Leibniz entwickelt seine Lehre von den Monaden deshalb, weil er, wie Muṭahharī bemerkt, „einer derjenigen Philosophen ist, die früh merkten, dass es in der Welt […] noch eine andere Wirklichkeit gibt ausser Ausdehnung und Bewegung […]“,⁶¹⁰ jenen beiden kartesianischen Prinzipien zur Erklärung der Körperwelt also. Und diese Erklärung, der zufolge, wie Muṭahharī es ausdrückt, „[…] der Bau der Welt nichts anderes ist als der einer Maschine“,⁶¹¹ ist nach Descartes weiterverfolgt worden.⁶¹² „Nach Descartes sind weitere [Denker] aufgetreten“, so der Gelehrte, „und haben behauptet, dass die Grundlage der Welt in Materie und Bewegung bestehe […], mit dem Unterschied [gegenüber Descartes] allerdings, dass diese den Menschen von jenem allgemeinen Gesetz nicht ausnahmen. Diese Denkweise wird für gewöhnlich ‚Maschinismus‘ oder ‚Mechanismus‘ genannt.“⁶¹³ Der mechanistischen Weiterentwicklung der kartesianischen Lehre wiederum sind Muṭahharī zufolge „[…] später eine Reihe von Besonderheiten […] zugeschrieben worden, welche das Antlitz derselben veränderten. So meinten manche, ‚Mechanismus‘ sei eine ganz und gar materialistische Philosophie und komme der Leugnung der Existenz eines Schöpfergottes gleich […].“⁶¹⁴ Der Mechanismus nach diesem Verständnis anerkennt in der Seinsordnung nichts Unkörperliches, Nicht-Physisches, nichts Geistiges, Metaphysisches, also und daher eben auch keinen Gott. „Wieder andere“, so fährt Muṭahharī fort, „gehen von einer eindeutigen und wechselseitigen Beziehung zwischen dieser Philoso-
609 Vgl. Brugger, 1963:202 („Monade“). 610 M, 1381, IV:112. 611 M, 1381, IV:107. 612 Ebda. 613 Ebda.f. 614 M, 1381, IV:108.
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phie und dem Prinzip von der Notwendigkeit des Ursache-Wirkungsverhältnisses aus, so dass sie sich Mechanismus als gleichbedeutend mit Determinismus (dem Prinzip von der Notwendigkeit des Ursache-Wirkungsverhältnisses) denken und Determinismus als gleichbedeutend mit Mechanismus und Mechanismus zuweilen [gar] als Gegenposition zum Finalismus (dem Prinzip von der Finalursache) behandeln.“⁶¹⁵ Zu einer solchen Gleichsetzung zwischen Mechanismus und Determinismus sieht Muṭahharī jedoch keine Notwendigkeit.⁶¹⁶ In der Tat handelt es sich beim Mechanismus eigentlich bloss um den Versuch, den inneren Aufbau der Naturkörper und das Naturgeschehen mechanisch, d. h. aufgrund von Körperlichkeit und Bewegung, zu erklären.⁶¹⁷ Und freilich gilt im Naturgeschehen, dem physikalischen, untergeistigen Bereich in der Seinsordnung also, dass jede Ursache-Wirkungsbeziehung als Naturkausalität aufzufassen ist, einer Kausalität mit anderen Worten, die mit blinder Naturnotwendigkeit waltet, was jede Finalität, jede Zielgerichtetheit, ausschliesst.⁶¹⁸ Denn im Gebiet der untergeistigen Natur herrscht keine freie Selbstbestimmung, und daher bringen die Naturursachen ihre Wirkungen mit Notwendigkeit hervor.⁶¹⁹ Der Mechanismus besagt aus sich heraus aber nicht zwingend, dass die Seinsordnung nur aus einem physikalischen Bereich bestehe und Kausalität folglich nur in Naturkausalität.⁶²⁰ Der Mechanismus braucht nicht zwingend als Leugnung der Metaphysik samt ihres obersten Prinzips, Gottes, verstanden zu werden und daher auch nicht als Leugnung der Möglichkeit einer frei wirkenden Ursache, die nicht nach den Gesetzen einer bloss physikalischen Kausalität, der Naturkausalität eben, sondern nach den Prinzipien einer metaphysischen Kausalität waltet.⁶²¹ Als eine solch frei wirkende Ursache könnte in letzter Instanz Gott gelten, wie es etwa in Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die Muṭahharī vertritt, der Fall ist. Was nun des weiteren gerade diese Lehre betrifft, so ist in ihr Kausalität ja geradezu definiert als das Gefälle zwischen der Seinsvollkommenheit der jeweils höheren gegenüber der jeweils tieferen Stufe in der Seinsordnung, ein Gefälle an Seinsfülle, das für das Seiende auf der jeweils tieferen Stufe gleichbedeutend ist mit ontologischer Abhängigkeit von der höheren Seinsstufe.⁶²² Das Verständnis von Kausalität nach dieser Seinslehre setzt zwingend voraus, dass die Seinsordnung in einer Vielheit von Seinsstufen und also nicht nur in einem Seinsbereich, etwa 615 Ebda. 616 Vgl. M, 1381, IV:112 f. 617 Vgl. Brugger, 1963:193 f. 618 Vgl. ebda. 619 Vgl. Brugger, 1963:209 („Naturkausalität“). 620 Vgl. Brugger, 1963:194; M, 1381, IV:112 f. 621 Vgl. Brugger, 1963:162 („Kausalitätsprinzip“). 622 Vgl. M, 1381, V:128; Ṭālebzādeh, 1385b:104 ff. („faqr wuǧūdī/faqr-e voǧūdī“).
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einem physikalischen Bereich allein, besteht; schon deshalb kann nach dieser Lehre Kausalität folglich auch nicht nur in Naturkausalität bestehen. Da Mechanismus aus sich heraus also nicht zwingend die Leugnung von Metaphysik mitsamt metaphysischem Kausalitätsprinzip besagt, so gibt es für Muṭahharī auch für die Zuschreibung jener Besonderheiten, die später an der mechanistischen Weiterentwicklung der kartesianischen Lehre vorgenommen worden ist, keine Handhabe, die in der Lehre des Mechanismus selbst begründet wäre: „Ist der Mechanismus zwangsläufig gleichbedeutend mit der Leugnung von Finalursächlichkeit […], ja, der Leugnung eines Schöpfergottes, wie die Europäer und jene […], die von ihrem Gedankengut beeinflusst sind, dies für gewöhnlich meinen“, so fragt der Gelehrte in rhetorischer Absicht, „und besagt die Ablehnung des Mechanismus zwingend auch die Leugnung des Kausalgesetzes oder jedenfalls die Leugnung des Prinzips von der Notwendigkeit [im Sinne einer Naturnotwendigkeit] von Ursache-Wirkungsbeziehungen [überhaupt]?“⁶²³ Und er beantwortet seine Frage gleich selbst mit den Worten: „Nach unserer Überzeugung ist eine solche Denkweise von Grund auf irrig.“⁶²⁴
Mechanismus und die Frage der artlichen Verschiedenheit der Dinge In Muṭahharīs Augen berührt der Mechanismus von sich aus eigentlich nur eine Lehre, und in dieser geht es um die Frage, ob die Einteilung der Einzeldinge in verschiedene Arten auf einer Verschiedenheit in den betreffenden Dingen, den Objekten, selbst beruht, womit ihr dann, da sie die objektive Wirklichkeit wiedergeben würde, auch objektiver, theoretischer Erkenntnis- und Gewissheitswert zukommen würde, oder ob es sich dabei lediglich um eine Betätigung unseres Geistes als der wahrnehmenden Subjekte zur Schaffung grösserer Übersichtlichkeit beim Betrachten der Körperwelt handelt, womit ihr wohl praktischer, nicht aber theoretischer und objektiver Erkenntnis- und Gewissheitswert zukommen würde. Für Descartes etwa, und darin zeigt sich sein Mechanismus, besteht die Wirklichkeit eines Dings der Körperwelt einzig in den mechanischen Bestimmungen Ausgedehntheit und Bewegung, ganz gleich, in welche Art – ob z. B. „Pferd“ oder „Baum“ – wir es einteilen mögen. Somit gibt es für ihn auch keine Verschiedenheit in den Dingen selbst, in der aussergeistigen, objektiven Wirklichkeit also, die eine Einteilung derselben in verschiedene Arten begründen könnte. Die Begründung für eine Einteilung der Dinge in Arten kann daher einzig in unserem Geist, im Subjekt, liegen. Und wenn es schon keine aussergeistige Begründung für die Einteilung der Dinge in Arten gibt, so gibt es auch keine Grundlage in den 623 M, 1381, IV:112. 624 M, 1381, IV:113.
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Dingen für die Definition, mit der wir den Artbegriff sprachlich-gedanklich wiedergeben.⁶²⁵ Dies wiederum tun wir, indem wir den Artbegriff – etwa „Mensch“ – aus dem Gattungsbegriff – z. B. „Lebewesen“ – durch Hinzufügung des artbildenden Unterschiedes – in diesem Beispiel „vernunftbegabt“ – herausheben, was wir sprachlich mit dem Satz „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen“ formulieren.⁶²⁶ „Wenn jemand nun also“, wie Muṭahharī ausführt, „[…] die Unterschiede der Substanzen untereinander nicht in deren Selbst […] begründet sieht, so wird es für ihn zwangsläufig auch keinen Anlass geben, von Gattung, [artbildendem] Unterschied und Art, welch letztere ja aus den beiden ersteren zusammengesetzt ist, zu sprechen, und ebenso wird es für ihn keinen Anlass geben, von […] Definitionen […] zu sprechen.“⁶²⁷ Denn, wie der Gelehrte im selben Zusammenhang bemerkt, „[…] der Diskurs über die ‚allgemeinen Aussageweisen‘ [über die Dinge wie ‚Gattung‘ und ‚Art‘] sowie der Diskurs über ‚Definitionen und Begriffsbestimmungen‘ […] ergeben sich als eine Verzweigung aus diesem Problem“⁶²⁸, d. h. aus der Auffassung, dass die Unterschiede der Substanzen untereinander in deren Selbst begründet sind.⁶²⁹ Als Grundlage für dieselbe Auffassung wiederum erkennt der Denker den „bekannten Diskurs über ‚Materie und Form‘“, den Hylemorphismus also, der aus der peripatetischen Lehre stammt.⁶³⁰ Nach dieser nämlich gründet die Zugehörigkeit dieser oder jener Einzelwesen zu dieser oder jener Art in ihrer gemeinsamen Form,⁶³¹ während das, was sie innerhalb der betreffenden Art als Einzelwesen voneinander unterscheidet, das „individuierende Prinzip“, wie es in der Fachsprache heisst, in der Materie besteht. Und so gibt es denn Muṭahharī zufolge für einen, der die Unterschiede der Substanzen untereinander nicht in deren Selbst begründet sieht, auch keinen Anlass, von Form und Materie im Sinne des Hylemorphismus zu sprechen.⁶³² Die Position des Mechanismus bzw. Maschinismus in der Frage der Verschiedenheit der Dinge nach Arten veranschaulicht Muṭahharī mit folgendem Vergleich: „[…] genau wie die Gebäude einer Stadt je eine besondere Gestalt und Zusammensetzung aufweisen, je einem bestimmten Zweck und einem bestimmten Ziel dienen und je einen eigenen Namen haben – eines Schule, ein anderes Ladenpassage, ein drittes Garage, ein viertes Moschee, ein fünftes Bad usw. – und dabei doch ein jedes von ihnen nichts anderes ist als ein Gefüge aus 625 Vgl. M, 1381, IV:102; Brugger, 1963:20 („Art“). 626 Vgl. Brugger, 1963:20 („Art“). 627 M, 1381, IV:102. 628 M, 1381, IV:103. 629 Vgl. M, 1381, IV:102. 630 Vgl. ebda. 631 Vgl. Brugger, 1963:20 („Art“). 632 Vgl. M, 1381, IV:102.
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Ziegeln, Stein, Eisen, Beton, Erde, Kalk, Mörtel usw., so verhält es sich auch mit den verschiedenen Arten von Maschinen wie Auto, Flugzeug, Stahlwerk, Waffenfabrik usw.: Sie alle sind nichts als ein Gefüge aus Metall und anderem, nur mit unterschiedlichem Aufbau und in unterschiedlicher Zusammensetzung. Die Unterschiede dieser Gebäude bzw. dieser Maschinen liegen allein in Zusammensetzung, Anordnung und Ziel, für das sie vorgesehen sind.“⁶³³ Dieser Position stellt der Denker die Lehre „der Alten“⁶³⁴ gegenüber, d. h. diejenige Auffassung der vorislamischen philosophischen Strömungen in dieser Frage, die von den islamischen Philosophen vor allem aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Und die Überlegungen „der Alten“ in der Frage, ob die artliche Verschiedenheit der Einzeldinge in diesen selbst begründet sei, oder – in Muṭahharīs Formulierung – in der Frage, ob die artbildenden Formen⁶³⁵, die Formen also, welche die Einzeldinge nach Arten voneinander scheiden, in den Dingen selbst liegen, stellt der Gelehrte dar mit den Worten: „[…] alle Körper und körperlichen Gegenstände, welche die Materie der Welt […] bilden, sind hinsichtlich Körperlichkeit, körperlicher Gegenständlichkeit und darin, dass sie Länge, Breite und Tiefe haben, einander gleich und weichen nicht voneinander ab. […] Jedoch sind die Dinge bei aller Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit, die sie in dieser Hinsicht […] haben, in der Hinsicht ihrer Wirkungen und Eigenschaften unterschiedlich und weichen voneinander ab. Zwangsläufig stellt sich folgende Frage: Wenn eine einheitliche Natur herrschen würde, bestünde in der Welt eine vollkommene Gleichartigkeit, Einförmigkeit und Gleichheit, gäbe es keine Zusammengesetztheit und Verschiedenheit, keine Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit, ja, auch keine Bewegung und Veränderung, keine unterschiedlichen Elemente und verschiedenartigen Zusammensetzungen. Woher stammt [also] diese Verschiedenheit in Wirkung, Gestalt, Farbe, Eigenschaften und Tätigkeit?“⁶³⁶ Aus einem materiellen Prinzip kann sie nach dieser Lehre jedenfalls nicht stammen, denn gerade in ihrer Materialität sind ihr zufolge ja alle Dinge miteinander gleich.⁶³⁷ Der Ursprung der artlichen Verschiedenheit der Dinge liegt Muṭahharī zufolge in einer „Kraft bzw. in Kräften“⁶³⁸, und über diese Kraft sagt er: „[…] es herrscht eine Kraft bzw. Kräfte über die Materie […]. Die Kraft nun, die über die Materie herrscht, ist nicht in allen materiellen Dingen gleich. Denn wenn die
633 M, 1381, IV:103. 634 „qudamāʾ/qodamā“: Vgl. M, 1381, IV:113. 635 „ṣuwar nawʿiyyah/ṣovar-e nowʿiyyeh“, z. B. M, 1381, IV:113, 115, oder „ṣuwar munawwiʿah/ ṣūrat-hā-ye monavveʿeh“, z. B. M, 1381, IV:115. 636 M, 1381,IV:113. 637 Vgl. ebda. 638 Vgl. ebda.
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Kraft in allen materiellen Dingen gleich wäre (genau so wie die Materie selbst [in ihrer Materialität] gleich ist), entstünde keine Unterschiedlichkeit und Verschiedenartigkeit. Also herrschen unterschiedliche Kräfte über die Materie.“⁶³⁹ Unter den verschiedenen Positionen in der Frage nun, in welchem Verhältnis diese Kraft zu den Dingen, über die sie herrscht, stehe, hebt Muṭahharī diejenige des Mullā Ṣadrā als besonders stichhaltig hervor.⁶⁴⁰ Nach dessen Lehre ist die Kraft eine Substanz und als solche mit der Materie geradezu vereint, nicht lediglich untrennbar mit ihr verbunden.⁶⁴¹ Genauer beschreibt Muṭahharī das Verhältnis von Kraft und Materie nach der Lehre des Mullā Ṣadrā wie folgt: „[…] Materie und Kraft verhalten sich wie Unvollkommenheit zu Vollkommenheit […]“.⁶⁴² Dabei kann mit Vollkommenheit im Rahmen von Mullā Ṣadrās Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins nur Seinsvollkommenheit gemeint sein. Dies geht auch aus der Fortsetzung von Muṭahharīs Darstellung hervor: „[…] der Materie wächst auf der Stufe ihres Selbst mit anderen Worten eine bestimmte Seinsvollkommenheit zu […]“⁶⁴³, und Seinsvollkommenheit ihrerseits ist nach dieser Lehre gleichbedeutend mit Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stufe der Seinsordnung. Unvollkommenheit wäre dementsprechend als mindere Seinsvollkommenheit und diese wieder als Zugehörigkeit zu einer niedrigeren Stufe der Seinsordnung zu verstehen. Dieses Verhältnis zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit, in dem Kraft und Materie zueinander stehen, setzt Muṭahharī im Zuge derselben Darlegung gleich mit dem Verhältnis zwischen dem Bestimmten bzw. dem Bestimmteren und dem Unbestimmteren⁶⁴⁴ und dieses wiederum mit dem Verhältnis zwischen artbildendem Unterschied und Gattung.⁶⁴⁵ Letztere Gleichsetzung gründet darin, dass es der artbildende Unterschied ist – z. B. „vernunftbegabt“ –, mit dem wir aus dem allgemeineren und in diesem Sinne auch unbestimmteren Gattungsbegriff – z. B. „Lebewesen“ – den weniger allgemeinen und, so gesehen, bestimmteren Artbegriff – etwa „Mensch“ – in einer Definition wie eben etwa „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen“ herausheben.⁶⁴⁶ So verhält sich Kraft zu Materie zum einen also wie höhere Seinsvollkommenheit zu minderer Seinsvollkommenheit. Dabei besagt höhere Seinsvollkommenheit grössere Nähe zum blossen Sein, genauso wie mindere Seinsfülle grössere Entfernung von demselben bedeutet. Desgleichen lässt sich das Verhältnis 639 M, 1381,IV:113 f. 640 Vgl. M, 1381,IV:114, Fussnote. 641 Vgl. ebda. 642 M, 1381,IV:114. 643 Ebda. 644 Vgl. M, 1381,IV:115. 645 Vgl. ebda. 646 Vgl. Brugger, 1963:20 („Art“).
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von Kraft zu Materie aber gleichsetzen mit dem zwischen artbildendem Unterschied und Gattung. Der artbildende Unterschied wiederum macht die höhere Bestimmtheit der Art gegenüber der Gattung, aus der er sie hervorhebt, aus. Höhere Bestimmtheit aber ist gleichbedeutend mit höherer Seinsfülle. Ebenso ist höhere Bestimmtheit aber gleichbedeutend mit höherer Geformtheit, im Falle der Art mit höherer Geformtheit im Vergleich zur Gattung, denn in der gemeinsamen Form gründet ja die Zugehörigkeit bestimmter Einzelwesen zu einer bestimmten Art innerhalb einer Gattung.⁶⁴⁷ Diese zweifache Gleichsetzbarkeit von höherer Bestimmtheit mit höherer Seinsfülle auf der einen und höherer Geformtheit auf der anderen Seite erlaubt uns ihrerseits wieder die Gleichsetzung von Seinsfülle mit Geformheit bzw. von Sein mit Form. Dies führt uns letztlich zu Mullā Ṣadrās Gleichsetzung von Form mit Sein in seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz,⁶⁴⁸ wobei er Sein wiederum mit Aktualität bzw. Wirklichkeit, dem Gegensatz zu Potentialität, in eins setzt. Was nun irgendein jeweiliges Seiendes betrifft, so steht Vollkommenheit, d. h. Seinsvollkommenheit, deren Verhältnis mit Unvollkommenheit Muṭahharī mit dem Verhältnis zwischen Kraft und Materie gleichsetzt, nach dieser Auffassung demnach dafür, dass die Wirklichkeit des betreffenden Seienden im blossen Sein gründet, es in dieser Hinsicht also mit dem blossen Sein eins ist, und Unvollkommenheit dafür, dass das betreffende Seiende nicht selbst das blosse Sein ist, es in dieser Hinsicht also auch wieder von dem blossen Sein verschieden ist. Und wenn das Verhältnis zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit dasselbe ist wie das zwischen Kraft und Materie, so können wir den vorigen Gedanken auch ebenso gut in die Worte fassen: In bezug auf irgendein materielles Seiendes ist das Verhältnis zwischen Kraft und Materie nach dieser Auffassung dasselbe wie das Verhältnis zwischen der Einsheit des betreffenden Seienden mit dem blossen Sein in dem Sinne, dass seine Wirklichkeit im blossen Sein gründet, und der Verschiedenheit eben dieses betreffenden Seienden von dem blossen Sein in dem Sinne, dass das betreffende Seiende nicht selbst das blosse Sein ist. So führt Muṭahharī seine bereits zitierte Bemerkung „[…] Materie und Kraft verhalten sich wie Unvollkommenheit zu Vollkommenheit […]“⁶⁴⁹, d. h. zu Seinsvollkommenheit, weiter aus mit den Worten: „[…] und aufgrund dieser substantiellen Seinsvollkommenheit wird die Materie zum Ausgangspunkt bestimmter Wirkungen.“⁶⁵⁰ Und im selben Sinn und Zusammenhang erklärt der Gelehrte: „[…] ‚Kraft‘ […] ist der Ausgangspunkt von Wirkun-
647 Vgl. ebda. 648 Vgl. Kamal, 2006:67. 649 M, 1381,IV:114. 650 Ebda.
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gen […]“⁶⁵¹ sowie „[…] der Materie kommt es nicht zu, als Ausgangspunkt von […] Wirkungen zu gelten.“⁶⁵² Der Status eines Ausgangspunktes von Wirkungen ist in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins aber selbst wieder gleichbedeutend mit aussergeistiger Existenz, und so erweist sich die Auffassung des Mullā Ṣadrā in der Frage, in welchem Verhältnis die Kraft zu den materiellen Dingen, über die sie herrscht, stehe, als fest gegründet in seiner Seinslehre. Muṭahharī betrachtet Mullā Ṣadrās Auffassung in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Kraft und Materie, nach welcher die Kraft eine Substanz und als solche mit der Materie geradezu vereint, nicht lediglich untrennbar verbunden sei, einerseits dem Ansatz gegenüber als stichhaltiger, der besagt, dass die Kraft eine Substanz und als solche mit der Materie untrennbar verbunden, nicht aber vereint sei. Vor allem aber bevorzugt er sie der Lehrmeinung gegenüber, nach welcher „die Kraft ein Akzidens und seinsabhängig von der Materie ist und zwangsläufig eine Eigenschaft der Materie darstellt.“⁶⁵³ Seine Widerlegung dieser Position formuliert er wie folgt: „Die Annahme, dass die Kraft ein Akzidens [und damit eine Eigenschaft der Materie] sei, ist eindeutig nichtig. Denn bei dieser Annahme stünde jenes Ding, das wir ‚Kraft‘ nennen und mit dem wir die Eigenschaften und Wirkungen erklären wollen, selbst in einer Reihe mit den Eigenschaften und Wirkungen, die dann ihrerseits wieder darauf angewiesen wären, mit einer weiteren Kraft erklärt zu werden. Mit anderen Worten: Wenn jemand sagt: ‚Die Kraft ist ihrerseits eine der Eigenschaften der Materie und aus der Materie selbst hervorgegangen‘, so liesse sich antworten: Wenn die Materie aufgrund dessen, dass sie überall gleich ist, der Ursprung der Kraft wäre, würde sie auch eine [überall] gleiche Kraft hervorbringen. Zudem sind wir ja deshalb gezwungen, die Existenz der Kraft anzuerkennen, weil es der Materie nicht zukommt, als Ausgangspunkt unterschiedlicher und verschiedenartiger Wirkungen zu gelten. Wie also können wir dann die gleichbleibende Materie für den Ursprung unterschiedlicher Kräfte halten? Und was die Annahme betrifft, dass eine weitere Kraft der Ursprung der fraglichen Kräfte sei, so verschiebt sich bei ihr die Diskussion nur auf die Frage, was denn jene andere Kraft wieder sei: ebenfalls eine Eigenschaft, die der Materie zugesetzt worden ist, oder etwas anderes? Angenommen nun, wir setzen sie als eine Eigenschaft voraus, dann taucht wieder dieselbe Frage auf. Daraus ersehen wir, dass wir von der Kraft annehmen müssen, dass sie auf der Stufe des Selbst der Materie steht und mit der Materie vereint ist [und nicht lediglich untrennbar mit ihr verbunden und schon gar nicht ihr bloss
651 Ebda. 652 M, 1381,IV:115. 653 M, 1381,IV:114.
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äusserlich wie ein Akzidens]. Materie und Kraft bilden also im Verein miteinander ein substantielles Eines […].“⁶⁵⁴
3.2.3 Empirismus Der Empirismus gilt gemeinhin als Gegenrichtung zum Rationalismus, und zwar sowohl, was die Inhalte seiner Lehre betrifft, als auch hinsichtlich seiner Entstehungsgeschichte.⁶⁵⁵ Was letztere angeht, so hat manchem Betrachter zufolge überhaupt erst die Überspitzung des Rationalismus zum Gegenschlag des Empirismus geführt.⁶⁵⁶ Auch Muṭahharīs Behandlung der empirischen Lehre lässt verschiedentlich erkennen, dass er von dieser geläufigen philosophiegeschichtlichen Auffassung weiss. So stellt er etwa die Vertreter des Empirismus, die Empiriker oder Empiristen, als Denker vor, die den Rationalisten gegenüberstünden,⁶⁵⁷ und überhaupt bespricht er die Empiriker dort, wo er ausführlicher auf sie eingeht, öfters gleich im Anschluss an seine Darstellung der rationalistischen Lehre.⁶⁵⁸ Und doch stehen Inhalt und Entstehung des Empirismus aus Sicht von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī im Zeichen desselben Grundfehlers der abendländischen Geistesgeschichte wie der Rationalismus, nämlich der Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Idee bzw. Ding, eben jener Nichtunterscheidung also, die, geschichtlich gesehen, in gewissen Strömungen der abendländischen Scholastik erstmals auftritt und in unterschiedlichen Ausprägungen in die nachscholastischen Schulen einfliesst. Aus der Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Ding wiederum ergibt sich die Leugnung des Erkenntnis- und Gewissheitswertes der Abstraktion, jenes Erkenntnisvorgangs also, mit dem wir aus der sinnlichen Erfahrung des einzelnen Dings die allgemeinen Begriffe, die rein geistigen Gehalte der Verstandeserkenntnis, entwickeln. Denn dass ich einen Vorgang, der von Ding zu Begriff überleitet, als Quelle von Erkenntnis überhaupt anerkennen kann, setzt ja voraus, dass ich die Unterscheidung zwischen Ding und Begriff selbst anerkenne. In der Nichtanerkennung des Erkenntnisweges der Abstraktion kommen Empirismus und Rationalismus also durchaus miteinander überein, nur dass der Empirismus aus dieser Ungültigkeitserklärung der Abstraktion andere Schlüsse zieht als der Rationalismus. So besteht wohl für beide Lehren zwischen der sinn-
654 M, 1381,IV:115. 655 Vgl. z. B. Brugger, 1963:253 („Rationalismus“). 656 Vgl. ebda. 657 Vgl. M, 1381, I:164. 658 Z. B. M, 1381, I:164; II:24.
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lichen Erfahrung des Einzeldings und der rein geistigen Erkenntnis des Allgemeinen im Begriff kein einigendes Band im Sinne der Abstraktion. Daraus ergibt sich nun für die Vertreter des Rationalismus, dass allein die Gehalte der reinen Verstandestätigkeit als Erkenntnisquelle gelten dürfen. Diese haben für ihn aber, da er sie nicht als das Ergebnis von Abstraktion auffasst, nicht den Status von Begriffen, sondern von dem Verstand substantiell eigenen, angeborenen Ideen und daher letztlich von Dingen. Für die Vertreter des Empirismus ergibt sich daraus hingegen, dass allein die Sinneserfahrung als Erkenntnisquelle zu gelten habe.⁶⁵⁹ „Nach der Überzeugung dieser Gruppe“, wie Muṭahharī es ausdrückt, „kann von angeborenen, [dem Verstand] substantiell eigenen Gehalten [wie der Rationalismus es lehrt] keine Rede sein. […] Gemäss dieser Auffassung bestehen die grundlegenden Inhalte des menschlichen Verstandes ausschliesslich aus dem, was unserem Geist auf dem Wege eines der äusseren oder inneren Sinne zukommt.“⁶⁶⁰ Dabei ist mit den grundlegenden Inhalten des menschlichen Verstandes hier sowohl das gemeint, was Muṭahharī als grundlegende Gehalte des Begriffswissens behandelt und in seiner Einteilung der Begriffe entweder der ersten Gruppe, sei es der ersten oder der zweiten Untergruppe derselben, oder der zweiten Gruppe zuweist, als auch das, was er als grundlegende Gehalte des Urteilswissens, als Erkenntnisprinzipien, behandelt. Was die grundlegenden Inhalte des menschlichen Verstandes aus der ersten Untergruppe der ersten Gruppe, die sogenannten primären Verstandesgehalte, angeht, so stimmen Muṭahharī und Gelehrte seinesgleichen sowie Empiriker immerhin in dem Punkt überein, dass die Quelle der betreffenden Erkenntnisgehalte letztlich die Erfahrung unserer äusseren Sinne ist. Was die grundlegenden menschlichen Verstandesinhalte der zweiten Untergruppe der ersten Gruppe oder die sogenannten sekundären Verstandesgehalte betrifft, so betrachten die Empiriker als die Quelle derselben die Erfahrung unserer inneren Sinne, eine Auffassung, die Muṭahharī am Beispiel der Bildung des sekundären Verstandesgehaltes Existenz zu widerlegen sucht: Für ihn liegt die unmittelbare Erkenntnisquelle des Gehaltes Existenz in jenem innergeistigen Vorgang, den er Vergleich nennt. Was ferner die zweite Gruppe der grundlegenden Verstandesgehalte anbelangt, so besteht deren Quelle nach der Lehre des Empirismus in äusseren Erfahrungsgegebenheiten, eine Position, die Muṭahharī am Beispiel der Bildung der Gehalte Substanz und Akzidens sowie Ursächlichkeit und Verursachtheit zu entkräften sucht: Für ihn liegt die Erkenntnisquelle der Gehalte der zweiten Gruppe in dem, was er als innere Schau bezeichnet.
659 Vgl. Brugger, 1963:70 („Empirismus“). 660 M, 1381, II:24, 25.
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3.2.3.1 Muṭahharīs Einwand gegen die empirische Auffassung von Urteil als Assoziation Zu den Gehalten dieser zweiten Gruppe gehört für Muṭahharī ausserdem das Urteil,⁶⁶¹ und auch in der Frage nach der Erkenntnisquelle für diesen Gehalt aus der zweiten Gruppe tritt er einer Lehre entgegen, der sich, wie er sagt, „[…] manche moderne Psychologen mit empiristischer Ausrichtung angeschlossen haben.“⁶⁶² Und zwar besagt diese, dass eine bejahende Behauptung, deren gedanklichsprachliche Formulierung dem Muster „A ist B“ wie etwa in dem Behauptungssatz „Zayd ist aufrichtig“ folgt, aus zwei, und nur aus zwei, Teilen besteht, nämlich dem Subjekt – hier „Zayd“ – und dem Prädikat – hier „aufrichtig“.⁶⁶³ Die Verknüpfung zwischen „Zayd“ und „aufrichtig“ in dem „ist“ zur Aussage „Zayd ist aufrichtig“ beruht gemäss dieser Lehre, wie Muṭahharī darlegt, „[…] nicht darauf, dass zusätzlich zur Bildung des Begriffes ‚Zayd‘ und des Begriffes ‚aufrichtig‘ ein weiterer Beitrag unserer Vernunftseele namens ‚Urteil‘ entstünde. Vielmehr geschieht eigentlich nichts weiter, als dass diese beiden Begriffe sich miteinander im Bewusstsein einstellen und miteinander unsere Aufmerksamkeit erlangen. Die Verknüpfung, die in allen bejahenden Behauptungssätzen zwischen Subjekt und Prädikat besteht, liegt [einzig] darin, dass zwischen der innergeistigen Existenz des einen und der innergeistigen Existenz des anderen eine wechselseitige Verhaftung in dem Sinne besteht, dass die Anwesenheit des einen der beiden in unserem Geiste die Anwesenheit und die Gewärtigung des anderen in unserem Geiste hervorruft. Dies erfolgt aufgrund des allgemeinen Gesetzes der ‚Assoziation‘.“⁶⁶⁴ Die Assoziationsgesetze beschreibt Muṭahharī näher mit den Worten: „Zu Assoziation und wechselseitiger Verhaftung zwischen zwei Begriffen kommt es mal aufgrund von Ähnlichkeit, mal aufgrund von Gegensätzlichkeit und dann wieder aus dem Grund, dass wir die beiden Begriffe zur selben Zeit und am selben Ort sinnlich erfahren“⁶⁶⁵, eine Beschreibung, die auf Aristoteles zurückgeht, der ebenfalls von drei Assoziationsgesetzen, nämlich Ähnlichkeit, Gegensätzlichkeit sowie zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft zweier Begriffe, spricht.⁶⁶⁶ Muṭahharī führt seine vorigen Bemerkungen an folgendem Beispiel aus: „Jedesmal, wenn wir etwa den Namen ‚Krösus‘ gehört haben, haben wir in unmittelbarer zeitlicher Folge desselben [den Begriff] ‚Reichtum‘ gehört:
661 Vgl. M, 1381, II:26. 662 M, 1381, II:61. 663 Vgl. M, 1381, II:60 (mit Ersetzung des Beispiels des Originals durch ein logisch gleichwertiges). 664 Ebda. 665 Ebda. 666 Vgl. Brugger, 1963:21.
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‚Krösus‘ und ‚Reichtum‘ sind unserem Geist also stets im Verein miteinander zugekommen. Dieses Miteinander und Vereintsein beim Eingang in unseren Geist erzeugen ein Verbundensein dieser beiden Begriffe in unserem Geist, und so hat es sich unser Geist angewöhnt, dass er jedesmal, wenn wir an ‚Krösus‘ denken oder dessen Namen hören, sogleich auch an ‚Reichtum‘ denkt und umgekehrt. Auf diesem Weg kommen wir in unserem Geiste zu dem Befund ‚Krösus ist reich‘ und vermeinen, dass in unserem Geist ausser dem Begriff ‚Krösus‘ und dem Begriff ‚Reichtum‘ noch etwas anderes namens ‚Urteil‘ entstanden sei.“⁶⁶⁷ Diese Gleichsetzung von Urteil mit Assoziation weist Muṭahharī zurück mit den Worten: „‚Assoziation‘ ist von Grund auf etwas anderes als ‚Urteil‘, und ihre Ursachen und Prinzipien sind nicht dieselben wie die des Urteils. Es kommt oft vor, dass wegen Ähnlichkeit, Gegensätzlichkeit oder Nachbarschaft eine Assoziation zwischen zwei Gehalten besteht, aber doch kein Urteil oder dass das Urteil [das zwei Begriffe A und B miteinander verbindet] anders ausfällt, als es eine Assoziation [zwischen denselben Begriffen] erfordern würde. So ist es wohl möglich, dass in unserem Geiste zwischen dem Begriff ‚Krösus‘ und dem Begriff ‚Reichtum‘ zwar eine Assoziation und eine wechselseitige Verhaftung bestehen, wir aber dennoch nicht urteilen, dass Krösus reich ist, oder wir urteilen, dass Krösus nicht reich ist oder dass in der Welt überhaupt keine solche Person existiert. Dann wieder kommt es vor, dass zwar ein Urteil vorliegt, aber keine Assoziation, wie in all den Urteilen, welche die Gelehrten in philosophischen oder einzelwissenschaftlichen Fragen nach Massgabe demonstrativer Beweise oder der Empirie fällen.“⁶⁶⁸ Im Unterschied zum Urteil nach nicht-empiristischem Verständnis besteht in der Assoziation ausserdem die Verbindung zwischen zwei Begriffen – wie eben etwa zwischen „Krösus“ und „reich“ – nicht im „ist“. Denn gemäss der soeben besprochenen empiristischen Lehre vermeinen wir ja bloss, dass in dem innergeistigen Befund „Krösus ist reich“ ausser dem Begriff „Krösus“ und dem Begriff „reich“ noch etwas anderes namens Urteil entstanden sei. Dieses andere müsste aber das „ist“ sein, denn dieses ist das einzige, das in der Aussage „Krösus ist reich“ ausser „Krösus“ und „reich“ noch vorliegt. In dem „Ist“ liegt aber nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, die Seinsbezogenheit einer Behauptung wie „Krösus ist reich“. Der Assoziation, anders als dem Urteil, kommt im Lichte dieser Auffassung also keine Seinsbezogenheit, und das bedeutet: keine Wirklichkeitsbezogenheit zu. Damit ist die Assoziation genauso wenig wirklichkeitsbestimmt wie die Begriffe, zwischen denen sie besteht, und führt uns daher auch im Erkennen nicht über die Stufe des blossen Begriffswissens hinaus.
667 M, 1381, II:60 f. (mit Ersetzung des Beispiels des Originals durch ein logisch gleichwertiges). 668 M, 1381, II:65. (mit Ersetzung des Beispiels des Originals durch ein logisch gleichwertiges).
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3.2.3.2 Muṭahharīs Einwand gegen die empirische Lehre von der Bildung der Erkenntnisprinzipien Was die grundlegenden Gehalte unseres Urteilswissens, die Erkenntnisprinzipien, betrifft, so versuchen die Anhänger des Empirismus, auch diese als erfahrungsabhängig, nämlich als Verallgemeinerungen von Einzelerfahrungen, zu erweisen. Dagegen macht Muṭahharī am Beispiel des Satzes der empirischen Lehre, dass einzig dasjenige Urteil richtig ist, dessen Richtigkeit von der Instanz der Sinneserfahrung bestätigt worden ist, geltend, dass der Versuch der Empiriker, selbst die Richtigkeit eben dieses Satzes rein empirisch, d. h. als Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen, zu erweisen, in einem Fortgang ins Unendliche enden muss. Weiter führt er im Zeichen des Satzes vom zureichenden Grunde an, dass die Grundsätze für die Verallgemeinerbarkeit von Erfahrungen, die am jeweiligen Einzelding der Sinnenwelt, des Physischen, gemacht werden, nicht selbst wieder sinnlich, physisch, sein können, sondern auf einer Stufe jenseits des Physischen, im Metaphysischen eben, liegen müssen.⁶⁶⁹ Ebenso kann das Erkenntnisprinzip des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, jenes Satzes also, an dessen Anerkennung oder Nichtanerkennung sich für Denker wie Ṭabāṭabāʾī die Frage entscheidet, ob eine Lehre der Philosophie im Sinne des Dogmatismus oder dem Relativismus, unter den auch der Sophismus fällt, zugehört, nicht von der Erfahrung vermittelt sein. Genau dies aber ist die Position des Empirismus in dieser Frage. Indem die empirische Lehre den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch wie alle Erkenntnisprinzipien als Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen aus dem Bereich des Physischen auffasst, leugnet sie ihn zwar nicht rundheraus und versinkt daher auch nicht in den „schauerlichen Abgrund der Sophisterei“. Indem sie ihn andererseits nicht als überempirisches, metaphysisches, Prinzip begreift, anerkennt sie ihn aber auch wieder nicht in seiner wahren epistemologischen Geltung, und insofern handelt es sich beim Empirismus doch nicht wirklich um eine Gegenposition zu Relativismus und Sophismus.
3.2.3.3 Empirismus, Sensualismus und die Frage der Grenzen unserer Erkenntnis Diese Unabgegrenztheit der empiristischen Lehre gegenüber Relativismus und Sophismus tritt für Muṭahharī umso deutlicher an deren Position in einer weiteren Frage zutage, der Frage nach der Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis.⁶⁷⁰ „Auch diese Frage“, so bemerkt der Gelehrte einleitend zu seiner Erörterung derselben, „ist in der Gestalt, wie sie in den letzten Jahrhunderten unter 669 Vgl. dazu auch Brugger, 1963:71 („Empirismus“), 77 („Erkenntnisprinzipien“). 670 Vgl. M, 1381, II:26 ff.
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den Gelehrten aufgebracht worden ist, völlig neu und beispiellos. […] Zwar haben auch die übrigen Gelehrten über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis Sätze aufgestellt wie etwa ‚Die wirklich existierenden Dinge der Welt sind unbegrenzt, die Fähigkeit des Menschen jedoch begrenzt, so dass die ‚Allwissenheit‘ niemandem zuteil wird‘⁶⁷¹, oder sie haben betreffs der Existenz (des Seins) im eigentlichen Sinne gesagt, dass es auf dem Wege des mittelbaren Wissens nicht erkennbar sei und dass das, was auf dem Wege des mittelbaren Wissens erkannt werde, zu den Essenzen gehöre, und ähnliches. Doch es ist klar, dass die Aussagen jener Gelehrten nicht auf dasselbe hinauslaufen wie diejenigen der neuzeitlichen Gelehrten.“⁶⁷² Jene Gelehrten erklären sich die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis nämlich entweder als eine Begrenztheit im Sinne des quantitativen Relativismus, aber eben nicht des qualitativen, oder sie erklären sie mit der Wahl einer unzulänglichen Methode für die Erkenntnis der Wirklichkeit – in Muṭahharīs Beispiel: des mittelbaren Wissens –, was aber eben voraussetzt, dass es überhaupt eine richtige Methode gibt, bei deren Wahl die Wirklichkeit erkennbar wird. Was die neuzeitlichen Gelehrten betrifft, um die es bei Muṭahharī an dieser Stelle geht, so ist die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, von der sie sprechen, im Sinne des qualitativen Relativismus zu verstehen, desjenigen Relativismus also, der für Denker wie Muṭahharī die Gegenposition zur Philosophie im Sinne des Dogmatismus darstellt. Genauer beschreibt Muṭahharī diese neuzeitliche Auffassung von der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis mit den Worten: „Eine Gruppe unter den Gelehrten ist überzeugt, dass die Urteilskraft des menschlichen Denkens auf die ‚Phänomene‘, d. h. die Erscheinungen und akzidentellen Zuständlichkeiten des Physischen sowie auf die Bestimmung der Beziehungen und Verhältnisse unter denselben, beschränkt ist, wobei es sich bei diesen Erscheinungen und akzidentellen Zuständlichkeiten um eben jene handelt, die der Sinneswahrnehmung und der Erfahrung zugänglich sind. Die Wahrheitsfindung hinsichtlich des Urgrundes der Dinge jedoch sowie dessen, was jenseits der akzidentellen Zuständlichkeiten und der Erscheinungen des Physischen liegt, sei es, dass es sich auf das Physische selbst oder auf das Metaphysische beziehe, liegt [jenen Gelehrten zufolge] ausserhalb der Reichweite der Beurteilung durch das menschliche Denken […].“⁶⁷³ Auch die Vertreter des Empirismus hängen im Zeichen ihrer Leugnung jeglicher nicht-empirischer, nicht-physischer – eben metaphysischer – Erkenntnisgrundlagen dieser Position in der Frage der Bestimmung der Grenzen unserer 671 M, 1381, I:159 f.; 172. 672 M, 1381, II:26. 673 M, 1381, II:26.
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Erkenntnis an.⁶⁷⁴ „Denn einerseits“, so Muṭahharī, „sind sie überzeugt, dass ‚im Verstand nichts vorliegt, das nicht sinnlich erfahren worden wäre‘, und sehen die Tätigkeit des Verstandes auf die Verarbeitung von Sinnenbildern beschränkt, ohne dass der Verstand über die Sinnenbilder hinaus einen Begriff bilden könnte, und andererseits sind sie sich der Beschränktheit der Sinnestätigkeit bewusst und haben erkannt, dass nur bestimmte Dinge von der Sinneserfahrung erfasst werden.“⁶⁷⁵ Die Beschränktheit der Sinnestätigkeit ist Muṭahharī zufolge auch die eine der beiden Argumentationen der Empiriker, ja, überhaupt aller „[…] Leugner der Gültigkeit der reinen Verstandesphilosophie, deren erhabenste Instanz die erste Philosphie“, d. h. die Metaphysik, „und ihre Unterdisziplinen darstellen,“⁶⁷⁶ zugunsten ihrer Position in der Frage der Anerkennung oder Nichtanerkennung erfahrungsunabhängiger, metaphysischer Erkenntnisgrundlagen. Diese eine Argumentation, wie der Gelehrte weiter darlegt, kommt „von der Psychologie her, d. h. sie macht geltend, dass die Grundausstattung und die Grundbausteine des menschlichen Geistes für die Lösung jener [metaphysischen] Fragen nicht ausreichen. Denn die Grundbausteine des menschlichen Geistes sind auf die Sinnenbilder beschränkt, und der Verstand kann nichts weiter tun, als jene Sinnenbilder zu verarbeiten, während die Fragen der Verstandesphilosophie ausserhalb des Bereichs der Sinne und der Sinneserfahrung liegen.“⁶⁷⁷ Die andere der beiden Argumentationen der Leugner der reinen Verstandesphilosophie, so auch der Empiriker, zugunsten ihrer Position in der Frage der Anerkennung oder Nichtanerkennung metaphysischer Erkenntnisgrundlagen kommt Muṭahharī zufolge „von der Logik her, d. h. sie macht geltend, dass der Massstab für Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der urteilenden Denkgehalte des Menschen auf Erfahrung und Erprobung in der Praxis beschränkt sei und dass jene rein verstandesgestützten Massstäbe, welche die Verstandeslogik als [das einzige] Mittel für die Prüfung unseres Denkens und für die Unterscheidung zwischen richtig und fehlerhaft […] anerkennt, […] keine Gewissheit verbürgen. Jede Theorie und jede These (selbst wenn sie sich auf die Phänomene und auf die Erklärung der physischen Erscheinungen bezieht), die sich nicht in der Praxis erproben lässt, bietet dieser Auffassung zufolge keine Sicherheit oder Gewissheit. Die Probleme der reinen Verstandesphilosophie sind aber nicht in der Praxis überprüfbar. Denn es lässt sich beispielsweise nicht überprüfen, ob Existenz oder Essenz das Eigentliche
674 Vgl. M, 1381, II:27. 675 Ebda. 676 M, 1381, II:29. 677 Ebda.
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ist oder ob der Zirkelschluss oder die unendliche Verkettung möglich sind oder unmöglich.“⁶⁷⁸ Die erste der beiden dargelegten Argumentationen hängt, was die Vertreter des Empirismus betrifft, mit der Frage zusammen, auf welchem Wege die Begriffe in unserem Geiste ursprünglich entstehen, einer Frage, die, so Muṭahharī an anderer Stelle, „vor allem einen ‚psychologischen‘ Aspekt hat und die Richtungen der Philosophen in der Frage nach Ursprung und Ausgangspunkt der Begriffe auseinandergehen lässt.“⁶⁷⁹ Diesen Streit in der psychologischen Frage nach dem Ursprung unserer Begriffe belegt Muṭahharī mit der Bezeichnung „Meinungsverschiedenheit zwischen den Verfechtern der blossen Sinneswahrnehmung und den Rationalisten“. Die zweite der beiden dargelegten Argumentationen hängt, was die Vertreter des Empirismus betrifft, mit der Frage „der grundlegenden Gesetze und Massstäbe für das Denken und die Vorgehensweise unseres Geistes bei seinen gedanklichen Operationen“⁶⁸⁰ zusammen, einer Frage, die für Muṭahharī in das Gebiet der Logik fällt, weil es bei ihr um die Massgeblichkeit der blossen Verstandeserkenntnis oder der blossen Sinneserfahrung für unser Denken geht.⁶⁸¹ Diesen Streit in der logischen Frage nach der Massgeblichkeit der blossen Verstandeserkenntnis oder der blossen Sinneserfahrung für unser Denken belegt Muṭahharī an anderer Stelle mit der Bezeichnung „Meinungsverschiedenheit zwischen den Verfechtern der blossen Verstandesabhängigkeit und den Verfechtern der blossen Erfahrungsabhängigkeit“⁶⁸² der grundlegenden Gehalte unseres Urteilswissens. Unter dem Gesichtspunkt der zweiten, logischen Argumentation nun, welche die Anhänger der empirischen Lehre zugunsten ihrer Position in der Frage nach der Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis vorbringen, wählt Muṭahharī für sie zumeist eine Bezeichnung, die eine wörtliche Wiedergabe des griechischen Ausdrucks „Empiriker“ darstellt.⁶⁸³ Unter dem Gesichtspunkt ihrer ersten, psychologischen Argumentation wiederum wählt derselbe Gelehrte für sie bzw. ihre Lehre zumeist eine Bezeichnung, deren wörtliche Übertragung in die gebräuchliche philosophische Fachsprache des Abendlandes den Ausdruck „Sensist“ oder „Sensualist“ bzw. „Sensismus“ oder „Sensualismus“⁶⁸⁴ ergibt.⁶⁸⁵ Im Lichte ihrer psychologischen Argumentation zugunsten ihrer Position in der 678 M, 1381, II:29 f. 679 M, 1381, II:102. 680 M, 1381, II:103 f. 681 Vgl. M, 1381, II:103. 682 Ebda.: „eḫtelāf-e naẓar be-nām-e ‚taʿaqqolī va taǧrebī‘“. 683 „taǧribī/taǧrebī“, so z. B. M, 1381, II:106 ff. 684 Vgl. Brugger, 1963: 287. 685 „ḥissī/ḥessī“, so z. B. . M, 1381, I:164 ff., II:24 ff., 27 ff.
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Frage der Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis gehören die Empiriker also der Lehre des Sensualismus an, jener Strömung des abendländischen Denkens, die besagt, dass zwischen Sinneswahrnehmung und Denken, d. h. reiner Verstandeserkenntnis, kein eigentlicher Unterschied bestehe.⁶⁸⁶ Dieser Unterschied besteht für die Empiriker deshalb nicht, weil sie als Erkenntnisquelle einzig die Sinneserfahrung anerkennen. So spricht Muṭahharī etwa von John Locke (st. 1704), dem berühmten englischen Empiriker⁶⁸⁷, wiederholt als dem „Oberhaupt der Sensualisten.“⁶⁸⁸ Und zur Erläuterung der Position derselben Gruppe in der Frage der Geltung erfahrungsunabhängiger, metaphysischer Erkenntnisgrundlagen führt er verschiedentlich Lockes Ausspruch an „Im Verstand liegt nichts vor, das nicht sinnlich erfahren worden wäre.“⁶⁸⁹ Diese Darstellung des Verhältnisses zwischen Empirismus und Sensualismus passt zu der philosophiegeschichtlichen Sicht, dass der Sensualismus unter anderem im englischen Empirismus grundgelegt sei.⁶⁹⁰
3.2.3.4 Empirismus, Sensualismus und die Frage nach der Gültigkeit von Naturwissenschaften und Psychologie Was nun überhaupt all die Denker betrifft, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit auf das Nicht-Metaphysische beschränkt sehen, in Muṭahharīs Worten die Leugner der Gültigkeit der Metaphysik, zu denen er die Sensualisten, einschliesslich der Empiriker, zählt, so „sind nach der Überzeung dieser Gruppe“, wie der Gelehrte erklärt, „die Naturwissenschaften wie etwa Physik, Chemie, Biologie und dergleichen gültig.“⁶⁹¹ Die Begründung dieser Denker für ihre Anerkennung der Gültigkeit der Naturwissenschaften gibt Muṭahharī mit den Worten wieder: „Denn in diesen Wissenschaften werden nur die äusseren Beziehungen und Verhältnisse derjenigen Dinge, die der Sinneswahrnehmung und der Erfahrung zugänglich sind, berücksichtigt.“⁶⁹² Desgleichen, so Muṭahharī, kommt der Psychologie für die Leugner der Metaphysik Gültigkeit zu, und zwar mit einer Begründung, die der Gelehrte wie folgt wiedergibt: „Denn diese Disziplin mit ihrem neuen Verfahren sieht von dem, was jenseits der akzidentellen Zuständlichkeiten und Befindlichkeiten der Seele liegt, ab (wie etwa der Untersuchung, ob die Seele
686 Vgl. Brugger, 1963: 287 („Sensismus“). 687 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:382a) ff. 688 Vgl. M, 1381, I:164; II:25. 689 Vgl. M, 1381, II:25, 27. 690 Vgl. Brugger, 1963: 287 („Sensismus“). 691 M, 1381, II:26 f. 692 M, 1381, II:27.
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eine Substanz sei oder nicht) und forscht lediglich nach den seelischen Phänomenen sowie den Beziehungen und Verhältnissen unter denselben.“⁶⁹³ Dabei ist mit dem „neuen Verfahren“ der Psychologie die sogenannte empirische Psychologie gemeint, die sich, besonders in ihrer Definition als Wissenschaft von den Bewusstseinstatsachen,⁶⁹⁴ nur mit den empirisch erfassbaren oder erschliessbaren psychischen Geschehnissen als solchen befasst, nicht aber wie die sogenannte philosophisch-metaphysische Psychologie mit der Seele als einer Substanz im Sinne der Trägerin unserer Bewusstseinserlebnisse.⁶⁹⁵
3.2.3.5 Muṭahharīs Einwände gegen die Gründe für die Gültigkeit der Mathematik gemäss empiristischer und sensualistischer Lehre Schliesslich darf auch die Mathematik, wie Muṭahharī weiter ausführt, in den Augen der Leugner der Metaphysik wie etwa der Sensualisten, einschliesslich der Empiriker, Gültigkeit beanspruchen. „Denn erstens“, wie der Gelehrte die Begründung der betreffenden Denker formuliert, „hat die Entstehung der mathematischen Begriffe wie etwa Zahl, Linie, Fläche und Körper ihren Ursprung und Ausgangspunkt im Sinnlichen, und zweitens lässt sich die Richtigkeit der mathematischen Sätze in der Praxis bestätigen.“⁶⁹⁶ Die Einwände, die Muṭahharī gegen dieses Verständnis von der Gültigkeit und Gewissheitswertigkeit der Mathematik vorbringt, laufen nicht etwa darauf hinaus, dass der Mathematik keine Gültigkeit oder Gewissheit zukämen. Auch daran, dass sich die Richtigkeit mathematischer Sätze in der Praxis bestätigen lasse, hat er nichts auszusetzen. Was er zurückweist, ist vielmehr die Auffassung der Nicht-Metaphysiker, dass Überprüfbarkeit in der Praxis und Herleitbarkeit aus dem sinnlich erfahrbaren Einzelnen wie etwa dieser oder jener sinnlich erfahrbaren zählbaren Menge, diesem oder jenem beobachteten Kreis, Dreieck oder anderen räumlichen Gebilde die Gewissheit der Begriffe und Sätze der Mathematik begründe. Und zwar bringt Muṭahharī seinen Einwand gegen diese Auffassung im Zuge einer breiter angelegten Erwiderung auf Einwände seitens der Leugner erfahrungsjenseitiger – eben metaphysischer – Erkenntnisprinzipien vor, zu denen auch die Empiriker zählen.⁶⁹⁷ Diese letzteren nun anerkennen als Erkenntnisprinzip nur die Erfahrung der Sinne, die sich auf dieses oder jenes jeweilige Einzelding bezieht. So ist für die Verfechter der Erfahrung
693 Ebda. 694 Vgl. Brugger, 1963:247 („Psychologie“). 695 Ebda. 696 M, 1381, II:27. 697 Vgl. M, 1381, II:106 ff.
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als der einzigen Erkenntnisquelle die Erkenntnis in jedem Fall ein Fortschreiten vom Einzelnen, Besonderen zum Allgemeineren, ein Erkenntnisweg, der in der philosophischen Fachsprache Induktion heisst.⁶⁹⁸ Für die Verfechter der Erfahrungsjenseitigkeit der Erkenntnisprinzipien, welche den metaphysischen Rang derselben in der Erkenntnisordnung ausmacht, ist Erkenntnis hingegen nicht einfach ein Fortschreiten vom Einzelnen zum Allgemeinen, besteht also nicht nur in Induktion. Für die Rationalisten unter ihnen ist sie dies in gar keinem Fall, da sie die Sinneserfahrung als Erkenntnisquelle überhaupt nicht gelten lassen. Für sie ist Erkenntnis vielmehr in jedem Fall ein Fortschreiten vom Allgemeineren zum weniger Allgemeinen, Besonderen oder Einzelnen, ein Erkenntnisweg, der in der philosophischen Fachsprache als Deduktion bekannt ist.⁶⁹⁹ Für Denker wie Muṭahharī wiederum, welche die Sinneserfahrung als Quelle von Teilen unserer begrifflichen Erkenntnis, nicht jedoch als letzte und alleinige Quelle unseres urteilenden Erkennens betrachten, bedeutet Erkenntnis zum Teil, aber nur zum Teil, ein Fortschreiten vom Einzelnen zum Allgemeinen, eine Induktion also. Für sie besteht der Weg der Erkenntnis im Falle von Teilen unseres urteilenden Erkennens in Deduktion. Eine solche liegt etwa vor in einem Syllogismus wie „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ – „Der Mensch ist ein Lebewesen“ – also gilt: „Der Mensch ist ein Körper“,⁷⁰⁰ in welchem unser Denken vom Allgemeineren, dem Urteil „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ im ersten Vordersatz, zum weniger Allgemeinen, Besonderen, dem Urteil „Der Mensch ist ein Körper“ im Schlusssatz, fortschreitet. Den Einwand, den die Verfechter der Induktion als des einzig gültigen Erkenntnisweges, und so auch die Empiriker, gegen die Gültigkeit der Deduktion vorbringen, wie sie etwa in dem angeführten Syllogismus vorliegt, gibt Muṭahharī wieder mit den Worten: „Dass die Verstandeslogik [d. h. die Logik, welche die Erfahrungsjenseitigkeit der Grundlagen unserer Erkenntnis lehrt] meint, dass unser Geist fähig sei, mit dem Verfahren des rein verstandesgemässen Syllogismus vom Allgemeinen zum Einzelnen fortzuschreiten und auf diesem Weg […] ein Unbekanntes zu erschliessen, ist falsch. Denn alle bekannten Formen [des Syllogismus] der Verstandeslogik, von denen diese behauptet, dass unser Geist mittels der Aufeinanderfolge von Obersatz“ – wie dem Satz „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ in dem angeführten Syllogismus –, „Untersatz“ – in dem angeführten Syllogismus „Der Mensch ist ein Lebewesen“ – „und der Zwischenschaltung eines Allgemeinbegriffs namens ‚Mittelbegriff‘“ – in unserem Beispiel des Begriffes
698 Vgl. Brugger, 1963:148 f. 699 Vgl. Brugger, 1963:47. 700 Vgl. M, 1381, II:107.
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„Lebewesen“ – „zu einem Schluss gelange, gehen auf die Grundform zurück,“⁷⁰¹ wie sie eben in dem angeführten Syllogismus vorliegt. Für die Leugner der Gültigkeit der Deduktion, wie Muṭahharī deren Position weiter ausführt, „bedeutet die Grundform [des Syllogismus] aber mit Notwendigkeit eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des zu Beweisenden.“⁷⁰² So erweist sich etwa im Falle des Syllogismus „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ – „Der Mensch ist ein Lebewesen“ – also gilt: „Der Mensch ist ein Körper“ „das Körpersein der Lebewesen für uns erst dann als wahr“, so der Gelehrte weiter, „wenn wir eines um das andere der einzelnen Lebewesen, darunter auch den Menschen, auf dem Wege der Induktion untersucht und dabei das Körpersein derselben festgestellt haben. Denn woher können wir sonst erkennen, dass Lebewesen Körper sind? Wenn wir nun eine vollständige Induktion vorgenommen haben und den obigen Syllogismus bilden, so ist dies eine Wiederholung des schon Bekannten.“⁷⁰³ Dann wären wir uns ja beim Obersatz „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ schon bewusst, dass sein allgemeiner Gehalt, das Körpersein der Lebewesen eben, das Besondere, in unserem Beispiel das Körpersein des Menschen, einschliesse.⁷⁰⁴ Denn das Körpersein des Menschen hätten wir bei unserer Untersuchung eines jeden einzelnen Lebewesens, darunter auch des Menschen, auf dem Wege der Induktion ja bereits festgestellt. Dann würde das Ergebnis der Deduktion, um die es sich in dem angeführten Syllogismus handelt, schon durch den Obersatz allein erkannt.⁷⁰⁵ „Wenn wir andererseits keine vollständige Induktion vorgenommen haben“, so Muṭahharī weiter in seiner Darlegung, „und behaupten ‚Jedes Lebewesen ist ein Körper‘, so ist dies eine Vorwegnahme des zu Beweisenden.“⁷⁰⁶ Mit anderen Worten: Das Ergebnis der Deduktion würde dann nicht mit Gewissheit aus den Vordersätzen folgen, da wir ja nicht wüssten, ob der Obersatz „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ allgemein, d. h. für ein jedes Lebewesen, gilt, denn ein jedes Lebewesen hätten wir bei der Aufstellung des Obersatzes ja noch gar nicht mittels Induktion auf sein Körpersein hin untersucht.⁷⁰⁷ Diese Darlegung greift Einwände auf, wie sie im Abendland seit Francis Bacon (st. 1626) gegen die Deduktion geltend gemacht werden.⁷⁰⁸ In seiner Erwiderung auf diese Einwände gegen die Stichhaltigkeit der Deduktion führt Muṭahharī dreierlei an: „Dem Einwand, den die empirische 701 M, 1381, II:106. 702 Ebda. 703 M, 1381, II:107. 704 Vgl. Brugger, 1963:47 („Deduktion“). 705 Vgl. ebda. 706 M, 1381, II:107. 707 Vgl. Brugger, 1963:47 („Deduktion“). 708 Vgl. ebda.
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Logik“, d. h. die Lehre, welche allein das Zeugnis der Sinneserfahrung als Massstab für die Richtigkeit unseres Denkens gelten lässt, „gegen das Verfahren der rein verstandesgegründeten Logik erhebt, dass nämlich der Fortschritt vom Allgemeinen zum Einzelnen und die syllogistische Beweisführung“, die Deduktion also, „entweder eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des erst noch zu Beweisenden sei, lässt sich folgendes entgegnen: Zum einen ist eben diese Beweisführung der empirischen Logik ihrerseits eine syllogistische Beweisführung und schreitet vom Allgemeinen zum Einzelnen fort und ist somit selbst entweder eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des zu Beweisenden.“⁷⁰⁹ Denn dieser Einwand der Gegner der Deduktion besagt im Grunde „Jede Deduktion ist entweder eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des noch zu Beweisenden“, eine Aussage, die in ihrer Allgemeingültigkeit selbst der Obersatz in einem Syllogismus sein könnte. Damit wäre sie aus Sicht der Verfechter der empirischen Logik bzw. der Induktion als des einzig gültigen Erkenntnisweges aber offen für dieselben Anfechtungen, welche diese gegen die Verfechter der Deduktion vorbringen. „Zum zweiten“, wie Muṭahharī in seiner Erwiderung fortfährt, „ist die Meinung der empirischen Logik, sämtliche allgemeinen Beweisführungen seien entweder eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des zu Beweisenden, darauf zurückzuführen, dass [nach ihrer Lehre] unser Geist stets vom einzelnen zum allgemeinen Urteil fortschreitet.“⁷¹⁰ Für die Widerlegung dieser Auffassung über den Gang unserer Erkenntnis verweist der Gelehrte auf seine Einwände, die er gegen die Lehre der Empiriker von der Erfahrungsabhängigkeit der Erkenntnisprinzipien vorgebracht hat. Aus diesen, so sagt er, wird klar, „dass unser Geist in seinen Urteilen nicht nur nicht immer vom Einzelnen zum Allgemeinen fortschreitet, sondern sich selbst in den Fällen, in denen er vom Einzelnen zum Allgemeinen fortschreitet und im Aufstieg vom Niederen zum Höheren die allgemeinen Gesetze der Naturwissenschaften aufstellt, auf eine Reihe noch allgemeinerer Prinzipien beruft, die unser Geist von allem Anfang in derselben Allgemeingültigkeit und ohne Vermittlung irgendeiner auswärtigen Instanz (der Erfahrung oder einer anderen) empfangen hat“⁷¹¹ – die Erkenntnisprinzipien eben. Zum dritten – und hier nun wendet sich Muṭahharī gegen die Lehre von der empirischen Begründbarkeit mathematischer Sätze – liesse sich, selbst wenn die Gegner der Deduktion mit ihren Einwänden gegen den Syllogismus „Jedes Lebewesen ist ein Körper“ – „Der Mensch ist ein Lebewesen“ – also gilt: „Der Mensch ist ein Körper“ recht hätten, ein anderes Beispiel wählen und etwa das Zeugnis 709 M, 1381, II:110 f. 710 M, 1381, II:111. 711 Ebda.
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der Mathematik anführen.⁷¹² „In der Mathematik“, so legt der Denker dar, „wird das Verfahren des rein verstandesbegründeten Syllogismus verwendet. So werden etwa in der Geometrie zwei, drei unwiderlegbare allgemeine Gesetze wie etwa das Gesetz der Gleichheit“, d. h. der Grundsatz „Grössen, die alle einer weiteren gleich sind, sind auch miteinander gleich“, „und das Gesetz des Ganzen und des Teils“, d. h. „Das Ganze ist grösser als ein Teil desselben“, „zugrunde gelegt und alle weniger allgemeinen Gesetze jedes einzeln aus diesen deduziert. Angenommen nun, die rein verstandesgestützten Beweisführungen und der Fortschritt vom Allgemeinen zum weniger Allgemeinen wären schlichtweg irrig und bloss eine Wiederholung des schon Bekannten oder eine Vorwegnahme des zu Beweisenden, so wären die mathematischen Beweisführungen samt und sonders wertlos. Wir müssten dann, um die paar wenigen anerkannten mathematischen Grundsätze zu finden wie etwa den Grundsatz der Gleichheit oder den Grundsatz des Ganzen und des Teils, zuerst ein jedes mathematische Problem einzeln auf dem Wege der Induktion behandeln und uns so die mathematischen Gehalte erschliessen und dann erst urteilen ‚Grössen, die alle einer weiteren gleich sind, sind auch miteinander gleich‘ und ‚Das Ganze ist grösser als ein Teil desselben‘.“⁷¹³ Aber nicht nur gegen die Lehre von der empirischen Herleitbarkeit mathematischer Sätze wendet sich Muṭahharī in diesem Zusammenhang, sondern auch gegen die Position einiger Gelehrter, die, wie er sagt, „[…] zwischen mathematischen und syllogistischen Beweisführungen unterscheiden und behaupten, dass mathematische Beweisführungen zwar nicht empirisch sind, aber auch kein Fortschritt vom Allgemeinen zum Einzelnen, sondern im Gegenteil ein Fortschritt vom Einzelnen zum Allgemeinen unter Anwendung einer ‚Verallgemeinerung‘.“⁷¹⁴ Zur Darstellung dieser – wir könnten sagen: – vermittelnden Position zwischen Anerkennung der Deduktion und alleiniger Anerkennung der Induktion als Erkenntnisweg in mathematischen Fragen führt Muṭahharī eine Stelle aus der Methodenlehre des französischen Philosophen Félicien Challaye (st. 1967) an, wo es heisst: „[…] in allen mathematischen Beweisen kommt ‚Verallgemeinerung‘ zur Anwendung, und das, was für ein Beispiel bewiesen worden ist, gilt auch in den anderen Fällen für wahr. Wenn wir also eine Aussage im Falle von Dreieck ABC bewiesen haben, verallgemeinern wir diese für alle Dreiecke. Doch zwischen der Verallgemeinerung, die in der Mathematik zur Anwendung kommt, und der Verallgemeinerung, die in den Wissenschaften der Physik und Chemie Verwendung findet, besteht ein grundsätzlicher Unterschied. Dieser liegt darin, dass die mathematische Verallgemeinerung im Gegensatz zur Verallgemeinerung in den 712 Vgl. ebda. 713 Ebda. 714 Ebda.
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empirischen Wissenschaften nicht auf dem Wege der Empirie erfolgt. Wenn wir also etwa ein Urteil, das wir im Falle von Dreieck ABC bewiesen haben, für alle Dreiecke verallgemeinern, so nehmen wir diese Verallgemeinerung gänzlich ohne Vermittlung der Empirie vor. Hingegen erkennen wir nur mittels Empirie [etwa im Experiment], dass ein Metall, zwei Metalle, drei Metalle und schliesslich dass überhaupt alle Metalle sich bei Wärme ausdehnen.“⁷¹⁵ Eine mathematische Verallgemeinerung nach dieser Auffassung wäre dann also eine Induktion ohne Vermittlung der Empirie – aber damit letztlich eben doch eine Induktion, ein Fortschritt vom Einzelnen zum Allgemeinen oder vom weniger Allgemeinen zum Allgemeineren. Gegen diese Begründung der Schlüssigkeit und Gültigkeit mathematischer Beweise wendet sich Muṭahharī mit den Worten: „[…] in mathematischen Beweisführungen lässt sich ‚Verallgemeinerung‘ nicht im Sinne eines Fortschrittes vom Einzelnen zum Allgemeinen oder vom weniger Allgemeinen zum Allgemeineren [d. h. als Induktion] verstehen. Denn das, was unser Denken im Falle mathematischer Sätze zwingend von der Gültigkeit derselben überzeugt, ist einzig und allein der mathematische Beweis, und ein mathematischer Beweis gilt mit Notwendigkeit nie nur für einen Einzelfall. Wenn wir einen mathematischen Beweis auf einen Einzelfall – z. B. Dreieck ABC – anwenden, so tun wir dies bloss, um den Gehalt des Beweises für unser Denken verständlicher und klarer zu machen. Wenn sich unser Geist daher den Gehalt eines mathematischen Beweises ohne Rückgriff auf einen jeweiligen Einzelfall vorstellen kann, wird er sogleich zwingend von der Gültigkeit desselben überzeugt werden. Mit anderen Worten: Die Instanz dafür, dass unser Geist zwingend von der Gültigkeit des allgemeinen Gehaltes eines mathematischen Beweises überzeugt wird, ist eben der Beweis selbst und nichts anderes. Nur muss sich unser Geist bei jeder Zustimmung und jedem Urteil den gegebenen Satz halt erst einmal klar vorstellen, bis er diesem zustimmen kann. Wir sind bei mathematischen Sätzen nur deshalb auf Einzelfälle angewiesen, um uns den Gehalt der Beweise vorstellen zu können, nicht, um die Wahrheit desselben anerkennen zu können.“⁷¹⁶ Der mathematische Schluss etwa, dass eine bestimmte Formel, die für eine Zahl n gilt, auch für n+1 gelte, wird aus der Art der Formel bewiesen, und ebenso, das die betreffende Formel für eine bestimmte Zahl gilt. Es ist eben die Gültigkeit der mathematischen Formel, welche ihre Anwendbarkeit im Einzelfall überhaupt erst gewährleistet; am Einzelfall wird nur die Einsehbarkeit der Gültigkeit der betreffenden Formel für unser Denken hergestellt, nicht die Gültigkeit der Formel selbst in der denkunabhängigen Wirklichkeit. Bei dem betreffenden Schluss und dem dazu
715 M, 1381, II:111 f. 716 M, 1381, II:112.
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gehörenden Beweis handelt es sich letztlich also um eine Deduktion, nicht um eine Induktion, auch nicht um eine Induktion ohne Vermittlung der Empirie.⁷¹⁷ Diejenigen Denker nun, für die es sich bei mathematischen Beweisen um eine Induktion ohne Vermittlung der Empirie, der Erfahrung, handelt, sehen in dieser Erfahrungsunabhängigkeit des weiteren die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen der mathematischen Beweisführung und dem Syllogismus der Philosophie. Auch für die Darstellung dieses Verständnisses von der Beziehung zwischen Philosophie und Mathematik beruft sich Muṭahharī auf das Zeugnis Challayes: „Die Gemeinsamkeit zwischen einem Syllogismus gemäss den Regeln der formalen Logik und einem mathematischen Beweis besteht darin, dass unser Geist in keinem der beiden Verfahren die Empirie einschaltet, sondern von selber die Beziehungen, die in logischer Hinsicht notwendig sind, zwischen den Gedanken herstellt. In einem Syllogismus gemäss den Regeln der formalen Logik werden die Gehalte einer aus dem anderen herausgezogen, weil manche Gehalte in anderen enthalten und manche gegenüber anderen allgemeiner sind. So ist etwa [der Begriff] ‚vergänglich‘ allgemeiner als [der Begriff] ‚Mensch‘ und [der Begriff] ‚Mensch‘ wiederum allgemeiner als [der Begriff] ‚Sokrates‘ (in dem Beispiel ‚Jeder Mensch ist vergänglich‘ – ‚Sokrates ist ein Mensch‘ – also gilt: ‚Sokrates ist vergänglich‘), und [der Begriff] ‚Sokrates‘ ist in [dem Begriff] ‚Mensch‘ und [der Begriff] ‚Mensch‘ wiederum in [dem Begriff] ‚vergänglich‘ enthalten. Dasjenige Urteil aber, das für das ‚Enthaltende‘ wahr ist, ist auch für das ‚Enthaltene‘ wahr. Die mathematische Beweisführung nun ist nichts anderes als eine Form des Syllogismus, in der keine Beziehung im Sinne eines [Enthaltens und] ‚Enthaltenseins‘ vorliegt, sondern in der wir es mit einer Beziehung im Sinne von ‚Gleichsein‘ und ‚Grössengleichheit‘ zu tun haben und in der wir gleiche Grössen für einander einsetzen und so die notwendigen Ergebnisse gewinnen.“⁷¹⁸ Diese letztere Beziehung aber geht wiederum auf den Grundsatz „Grössen, die alle einer weiteren gleich sind, sind auch miteinander gleich“ zurück, auf eines jener – in Muṭahharīs Worten – „zwei, drei unwiderlegbaren allgemeinen Gesetze“, die in der Mathematik zugrundegelegt werden. Ebenso zählt der erwähnte Grundsatz, der in der Mathematik als Gesetz zugrundegelegt wird, aber auch zu den Erkenntnisprinzipien. Ausgehend davon nun, versucht Muṭahharī zu zeigen, dass es gegenstandslos ist, zwischen philosophischem Syllogismus als einer Einschlussbeziehung auf der einen und dem Syllogismus der mathematischen Beweisführung als einer Gleichheitsbeziehung auf der anderen Seite zu unterscheiden: „Die vorige Behauptung über den Unterschied zwischen dem sogenannten Syllogis717 Vgl. Brugger, 1963:149 („Induktion“). 718 M, 1381, II:113.
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mus gemäss den Regeln der formalen Logik und dem mathematischen Beweis, wonach in ersterem eine Beziehung im Sinne von ‚Enthaltensein‘ vorliegt und in letzterem eine Beziehung im Sinne von ‚Gleichheit‘, ist anfechtbar.“⁷¹⁹ „Denn“, so die Begründung des Gelehrten, „wie die Logiker nachgewiesen haben, lässt sich der ‚Syllogismus auf der Grundlage der Gleichheitsbeziehung‘, der in der Mathematik Verwendung findet, in zwei Syllogismen auflösen, in deren zweitem eine Einschlussbeziehung vorliegt, und solange wir nicht den zweiten Syllogismus zu Hilfe nehmen, gelangt unser Denken nicht an sein Erkenntnisziel. Dort etwa, wo wir im Rahmen eines [mathematischen] Beweises formulieren ‚Winkel A ist gleich Winkel B, und Winkel B ist gleich Winkel C‘, lautet der unmittelbare Schlusssatz dieses Syllogismus ‚[Also gilt:] Winkel A ist gleich dem Gleichgrossen zu Winkel C‘ (nicht ‚[Winkel A ist] gleich Winkel C selbst‘). Sodann setzen wir diesen Schlusssatz wiederum als Vordersatz in einen zweiten Syllogismus ein, einen Syllogismus, in welchem eine Einschlussbeziehung vorliegt und unser Geist vom Allgemeinen zum weniger Allgemeinen fortschreitet; und zwar lautet dieser: ‚Beliebig viele Grössen, die alle einer weiteren gleich sind, sind auch untereinander gleich – Winkel A ist gleich dem Gleichgrossen zu Winkel C – Also gilt: Winkel A ist gleich Winkel C.‘ Wir stellen also fest, dass der Geist in der Erzeugung [von Erkenntnis] auf eben diesen Syllogismus ‚gemäss den Regeln der formalen Logik‘ angewiesen ist, denn dieser hat den Geist vom ‚Allgemeinen‘ zum ‚weniger Allgemeinen‘ geführt.“⁷²⁰ Dieser Syllogismus gemäss den Regeln der formalen Logik, der Syllogismus auf der Grundlage der Einschlussbeziehung also, auf den der Syllogismus auf der Grundlage der Gleichheitsbeziehung, der in der Mathematik Verwendung findet, zurückgeht, ist aber nichts anderes als der besagte philosophische Syllogismus. Die Prinzipien für Erkenntnis in der Mathematik liegen also in der Philosophie, und so ist für Muṭahharī die Mathematik denn auch nicht eine weitere syllogistische Disziplin neben der Philosophie und im selben Rang wie diese, indem ihr einziger Unterschied zur Philosophie darin bestehen würde, dass, wie Challaye es darstellt, ihr Syllogismus auf der Gleichheitsbeziehung beruht, während der Syllogismus der Philosophie auf der Einschlussbeziehung aufbaut. Vielmehr ist in Muṭahharīs Verständnis vom Verhältnis zwischen Philosophie und Mathematik diese letztere Wissenschaft als eine Teildisziplin genau wie alle anderen Teildisziplinen ihrerseits der Philosophie als der Universaldisziplin untergeordnet, da sie für die Bewahrheitung ihrer Aussagen selbst auf die Philosophie angewiesen ist. So setzt Muṭahharī in diesen Überlegungen sein eigenes Verständnis von der Wahrheitsbegründung mathematischer Aussagen sowie vom Verhältnis zwi719 Ebda. 720 M, 1381, II:113 f.
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schen Mathematik und Philosophie sowohl demjenigen der Verfechter der Induktion als des einzigen Erkenntnisweges wie etwa der Empiriker entgegen als auch der Position derjenigen Gelehrten, die glauben, zwischen mathematischem und philosophischem Syllogismus unterscheiden zu müssen. Und im Zuge seines Nachweises, dass selbst die Mathematik in der Wahrheitsverbürgung ihrer Aussagen letztlich auf den philosophischen Syllogismus, bei dem es sich um eine Deduktion handelt, angewiesen ist, begegnet der Gelehrte des weiteren dem allgemeinen Einwand der Empiriker gegen die Deduktion, nach welchem es sich bei dieser entweder um eine Wiederholung des schon Bekannten oder um eine Vorwegnahme des zu Beweisenden handle.
3.2.3.6 Muṭahharīs Vergleich der Positionen von Rationalismus und Empirismus in der Frage des Erkenntniswertes der Sinneserfahrung Darin nun, dass sich die Denker, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit auf das Nicht-Metaphysische begrenzt sehen, in Muṭahharīs Worten die Leugner der Gültigkeit der Metaphysik, zu denen er die Sensualisten, einschliesslich der Empiriker, zählt, der Beschränktheit der Sinnestätigkeit bewusst sind und erkannt haben, dass nur bestimmte Dinge von der Sinnestätigkeit erfasst werden, liegt aus Sicht dieses Gelehrten eine weitere Übereinstimmung der Empiristen mit den Rationalisten: Für die Vertreter beider Richtungen wie ja überhaupt für alle neuzeitlichen Gelehrten des Abendlandes seit Descartes verbürgt die Sinneserfahrung keine theoretische Gewissheit und ist kein Mittel zur Erschliessung der Wahrheit,⁷²¹ eine Gemeinsamkeit, die Muṭahharī und Denker seinesgleichen auf die fehlende Unterscheidung zwischen Begriff und Ding in den abendländischen Lehren zurückführen. Und zwar verbürgt die Sinneserfahrung für die Rationalisten deshalb keine Gewissheit, weil sie für die Rationalisten als Weg des Erkenntniserwerbs schon gar nicht in Frage kommt. Die Begründung der Empiriker für ihre Leugnung des Gewissheitswertes der Sinneserfahrung gibt Muṭahharī mit einer Stelle aus John Lockes Werk wieder, an der dieser erklärt: „Zwar ist es nicht eben vernünftig, die sinnlich erfahrbaren Wesenheiten zu leugnen. Doch andererseits ist die Gewissheit, die aus ihnen erwächst, nicht dieselbe wie die, welche aus den natürlichen Erkenntnisgehalten erwächst (aus jenen Dingen, in welchen unser Geist die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat unmittelbar bejaht wie etwa im Falle des Wissens des Selbst von seiner eigenen Existenz oder im Falle der Aussage, dass drei gleich eins plus zwei ist oder dass ein Dreieck nicht dasselbe wie ein Quadrat ist), oder wie die, welche aus den Erkenntnisgehalten des
721 Vgl. M, 1381, I:164.
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schlussfolgernd fortschreitenden Denkens erwächst (aus jenen Dingen, in denen unser Geist für die Erfassung der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat auf die begriffliche Gewärtigung weiterer Gehalte angewiesen ist wie etwa im Falle der Erkenntnis, dass die Winkelsumme im Dreieck gleichgross ist wie zwei rechte Winkel oder dass die Welt einen Schöpfer hat). Aus wissenschaftlicher und philosophischer Sicht lässt sie sich vielmehr der Klasse der Meinungen und willkürlichen Denkinhalte zurechnen […].“⁷²² Zwar anerkennen die Empiriker also die Sinneserfahrung als alleinige Quelle der Erkenntnis; andererseits hat selbst diese „Erkenntnis“, als deren alleinige Quelle sie die Sinneserfahrung gelten lassen, für sie nicht die Geltung von Gewissheit, sondern, wie Locke selbst sagt, nur von Meinung – nicht von Sein also, sondern von Schein. Damit hat sie nach Massgabe der Auffassung von Erkenntnis, der Philosophen wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī anhängen, aber eigentlich gar nicht den Rang von Erkenntnis. Denn bei dem, was die Empiriker Erkenntnis nennen, handelt es sich nicht um einen Denkinhalt, dessen Wahrheitsgehalt durch seine Übereinstimmung mit der denkunabhängigen Wirklichkeit verbürgt wäre, nicht um einen Bewusstseinsakt des Subjekts, der sich an der Wirklichkeit ausserhalb des Subjekts, am Objekt, bewahrheiten lassen würde. Was die Empiriker Erkenntnis nennen, ist also nicht objektiv im Sinne eines geistigen, subjektiven, Nachvollzuges von aussergeistig, objektiv, Existierendem, sondern letztlich subjektiv und steht damit im Zeichen des Relativismus und nicht des Dogmatismus. Nur letztere Position würdigen Gelehrte wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī ja aber überhaupt als Philosophie. Was John Locke im besonderen angeht, so hält Muṭahharī noch eine weitere Gemeinsamkeit dieses Empirikers mit den Rationalisten fest, eine Gemeinsamkeit, die sich auf die Frage des ontologischen Ranges der Eigenschaften der Körper bezieht: „John Locke“, wie der Denker ausführt, „vertritt auch hinsichtlich der Einteilung der Eigenschaften des Körpers [in primäre und sekundäre Eigenschaften] dieselbe Überzeugung wie Descartes und sagt: ‚Die Eigenschaften fallen in zwei Gruppen: Einige sind dem Körper substantiell eigen und von ihm untrennbar, und diese nennen wir Primäreigenschaften. Zu diesen gehören etwa Umfang, Ausgedehntheit, Gestalt, Bewegung und Unbewegtheit. Andere Eigenschaften wiederum beziehen sich nicht auf die Substanz des Körpers, sondern sind akzidentell. Es handelt sich bei ihnen nur um Empfindungen, die mittels der Primäreigenschaften in unserem Geiste entstehen wie etwa Farbe und Duft, und diese nennen wir Sekundäreigenschaften‘.“⁷²³
722 Ebda. 723 M, 1381, I:164 f.
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Gegen Lockes Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundäreigenschaften führt Muṭahharī einen Einwand an, den er wie folgt wiedergibt: „[…] vorausgesetzt, wir anerkennen – in Übereinstimmung mit Lockes Auffassung – als Grundlage all unserer Erkenntnisgehalte über die Aussenwelt nur die Sinneserfahrung, nehmen aber zugleich an, dass der Sinneserfahrung kein Gewissheitswert zukommt, auf welchem Wege können wir dann urteilen, dass einige Eigenschaften der Körper diesen substantiell eigen sind und andere akzidentell oder, mit anderen Worten, dass einige eigentlich sind und ihnen in der Aussenwelt Wirklichkeit zukommt und andere bloss innergeistig, wo sie doch alle mittels der Sinneserfahrung wahrgenommen worden sind, und welchen Grund gibt es, dass nicht auch die Primäreigenschaften genau wie die Sekundäreigenschaften bloss innergeistig sind?“⁷²⁴ und: „Ausgehend von der Lehre von der Eigentlichkeit der Sinneserfahrung, die er vertritt, auf welchem Wege spricht Locke einer Reihe von Erkenntnisgehalten, die er ‚natürliche‘ oder ‚selbstevidente‘ Wissensgehalte nennt, sowie einer Reihe anderer Erkenntnisgehalte, die er ‚Gehalte des schlussfolgernd fortschreitenden, diskursiven Wissens‘ nennt […], den Wert von Gewissheit zu?“⁷²⁵
3.2.4 Fortbildungen des Empirismus 3.2.4.1 Berkeley Genau dieser Einwand führt im weiteren Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte zu Fortbildungen des Empirismus, von denen Muṭahharī die Lehre George Berkeleys (st. 1753) eingehender bespricht. „Dieser Einwand“, so der Denker, „brachte einige Gelehrte wie z. B. George Berkeley, welche Lockes Auffassung von der ‚Eigentlichkeit der Sinneserfahrung‘ guthiessen, dazu, sämtliche Gehalte der Sinneserfahrung als bloss innergeistig zu betrachten.“⁷²⁶ Berkeley, wie Muṭahharī an anderer Stelle genauer darlegt, „[…] wird zu den Anhängern des Sensualismus und den ‚empiristischen‘ Philosophen gezählt. Das heisst, er lässt als Quelle aller Erkenntnisse [nur] die Sinneserfahrung gelten und anerkennt keine rein verstandesgestützten und angeborenen Wissensgehalte, wie manche europäische Philosophen“, nämlich die Rationalisten, „sie annahmen. In dieser Lehre folgt er seinem Zeitgenossen, dem englischen Denker John Locke. Zugleich aber spricht er den Gehalten der Sinneserfahrung keine Existenz in der Aussenwelt zu und betrachtet als Quelle der Sinneswahrnehmung nicht die Wir724 M, 1381, I:165. 725 Ebda. 726 Ebda.
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kungen aus der Aussenwelt.“⁷²⁷ In seinem Einwand gegen Locke bestreitet Berkeley die Wirklichkeitsbezogenheit und Gewissheitswertigkeit dessen, was Locke in Übereinstimmung mit den Rationalisten als Primäreigenschaften der Dinge von den rein wahrnehmungsbezogenen und daher nicht gewissheitswertigen Sekundäreigenschaften unterscheidet.⁷²⁸ So ist denn für Berkeley, da er auch den sogenannten Primäreigenschaften keinen Wirklichkeitsbezug zuerkennt, unsere Wahrnehmung nicht nur keine gewissheitswertige Wiedergabe der wahrnehmungsunabhängigen Wirklichkeit, sie steht schon gar nicht in Beziehung mit einer solchen. Damit kann für Berkeley Wahrheit auch nicht definiert sein als Übereinstimmung unseres Denkens mit der denkunabhängigen Wirklichkeit, denn von einer denkunabhängigen Wirklichkeit als Massgabe für Wahrheit ist in Berkeleys Lehre nicht die Rede. Vielmehr, wie Muṭahharī es darstellt, „spricht Berkeley den innergeistigen Gehalten selbst wirkliche Existenz zu […]“⁷²⁹, eine Position, die sich selbst wieder als ein Fall der Nichtunterscheidung zwischen Ding und Begriff, ja, überhaupt zwischen Aussergeistigem und Innergeistigem im Zuge der Nichtanerkennung der Abstraktion in der abendländischen Geistesgeschichte auffassen lässt. Tatsächlich bestreitet Berkeley die Möglichkeit, dass unsere Erfahrungen von Dingen einer erfahrungsunabhängig existierenden Aussenwelt verursacht seien, unter anderem mit der Begründung, dass etwas Räumliches – sinnlich erfahrbare Dinge einer erfahrungsunabhängigen Aussenwelt – nicht auf etwas Nicht-Räumliches – die allem Materiellen entkleidete blosse Verstandeserkenntnis – einwirken könne:⁷³⁰ Die Umwandlung der Gehalte der Sinneserfahrung in Gehalte der reinen Verstandeserkenntnis ist ja aber nichts anderes als der Vorgang der Abstraktion. „Berkeley gibt zwar an, dass er die Existenz der Dinge nicht bestreite“, so Muṭahharī, „doch, wie er ebenfalls sagt, wenn wir sagen ‚Dieses oder jenes Ding ist existent‘, so bedeutet diese Aussage, genau genommen, nur ‚Ich spreche ihm in meiner Wahrnehmung Existenz zu‘. Wenn wir etwa sagen: ‚Die Erde ist existent‘, ‚Der Himmel ist existent‘, ‚Der Berg ist existent‘, ‚Das Meer ist existent‘ oder auch wenn wir sagen: ‚Die Sonne ist hell‘, ‚Ein Körper hat räumliche Erstreckung‘ oder ‚Die Erde dreht sich‘, so ist dies alles richtig, aber wenn wir der wahren Bedeutung dieser Aussagen auf den Grund gehen, so besagen sie nur: ‚Wir haben diese Art von Wahrnehmung.‘ Existent Sein bedeutet [Berkeley zufolge] also dasselbe wie in der Wahrnehmung des wahrnehmenden Subjektes Sein.“⁷³¹ Sein ist nach dieser Lehre also nichts anderes als der
727 M, 1381, I:62 f. 728 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:91a). 729 M, 1381, I:63. 730 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:91a). 731 M, 1381, I:63; vgl. Hügli/Lübcke, 2005:92a), und Brugger, 1963:142.
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Bewusstseinsinhalt des Subjekts⁷³² – Sein bedeutet Wahrgenommensein.⁷³³ Aussagen wie die obigen geben denn auch nur Bewusstseinszustände wieder, keine Sachverhalte, sie besagen nicht Sein, sondern Bewusstsein. Gibt es für Berkeley aber auch keinen Weg, der mich von meinem Bewusstsein auf bewusstseinsunabhängiges körperlich Existentes schliessen lassen kann, so ist für ihn andererseits mein Bewusstsein aber seinerseits der Anhaltspunkt, der mich auf bewusstseinsunabhängiges unkörperlich Existentes schliessen lassen kann. Bei diesem bewusstseinsunabhängigen unkörperlich Existenten handelt es sich nach Berkeley einerseits um meine Seele, mein Selbst als des wahrnehmenden Subjekts, und andererseits um Gott. „[…] Berkeley“, wie Muṭahharī dessen Gedankengang in diesem Punkt darstellt, „[…] anerkennt die Existenz der Seele, bei der es sich um die wahrnehmende Kraft handelt, sowie die Existenz Gottes. Zum Beweis [der aussergeistigen Existenz] der Substanz Gott nimmt er die folgenden Gedankenschritte vor: Wo wir doch sehen, dass die Sinnenbilder sich in unserem Geist in einer bestimmten Reihenfolge und Ordnung einstellen und wieder vergehen und dieses Kommen und Gehen ausserhalb des Willens unserer Seele liegt, indem wir etwa zuweilen die sinnliche Erfahrung haben, dass es Tag ist, und wir in diesem Zustand nicht die sinnliche Erfahrung haben können, dass es Nacht ist, und wir dann wieder, einige Stunden später, die sinnliche Erfahrung haben, dass es Nacht ist, und in diesem Zustand nicht die sinnliche Erfahrung haben können, dass es Tag ist, und wir desgleichen überhaupt bei allen Bewusstseinsgehalten wie Sehen, Hören und anderem eine bestimmte Ordnung und Reihenfolge feststellen, so schliessen wir daraus, dass eine weitere Substanz existiert, eine Substanz, welche die Bildung dieser Gehalte in unserem Geiste in einer bestimmten Ordnung und Abfolge verursacht, und diese Substanz ist die Person Gottes, des Schöpfers.“⁷³⁴ Mit den meisten dieser seiner Ausführungen über Berkeley kommentiert Muṭahharī eine Bemerkung von Ṭabāṭabāʾī, in welcher dieser Berkeley als Beispiel für Menschen erwähnt, „welche die Wirklichkeit der Welt des Seins ausserhalb von uns, mit anderen Worten: das Prinzip, dass es eine Wirklichkeit gibt, nicht anerkennen.“⁷³⁵ Diese Menschen sind aber niemand anders als die Idealisten bzw. Sophisten. Berkeley gilt für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, welche Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins mit ihrem erkenntnistheoretischen Realismus vertreten, somit als Idealist oder Sophist, auf jeden Fall als Vertreter der Gegenposition zur Philosophie nach ihrem eigenen Verständnis 732 Vgl. Brugger, 1963:142 und Hügli/Lübcke, 2005:92a). 733 „esse est percipi“: Vgl. Brugger, 1963:142 und Hügli/Lübcke, 2005:92a). 734 M, 1381, I:63 f. 735 T, 1381, I:62.
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also. Auch dass Berkeley ja immerhin eine Wirklichkeit ausserhalb von uns und unseren Bewusstseinsinhalten anerkennt, nämlich Gott, kann an diesem Befund nichts ändern. Denn gemäss dem Verständnis der Lehre Mullā Ṣadrās von Gott als dem blossen Sein begründet Gott nicht einfach Bewusstsein wie bei Berkeley, sondern letztlich Sein, und in diesem wiederum gründet Bewusstsein, während in Berkeleys Lehre eine Gründung des Bewusstseins im Sein nicht vorkommt. Auch dass Berkeley selbst, wie Muṭahharī eigens erwähnt, sich dagegen verwahrt, als Sophist zu gelten,⁷³⁶ und ausdrücklich erklärt, er sei kein Sophist,⁷³⁷ kommt in Muṭahharīs Augen gegen seine und Ṭabāṭabāʾīs Beurteilung von Berkeley als Sophisten bzw. Idealisten nicht auf: „Das Kriterium dafür, ob es sich bei dieser oder jener Person, dieser oder jener Gruppe um Sophisten […] handelt, liegt nicht in dem, was sie selbst behaupten. Das Kriterium sind vielmehr die Auffassungen, die sie hinsichtlich des Wertes der Erkenntnisgehalte vertreten […].“⁷³⁸ Und da nach Berkeleys Auffassung vom Wert der Erkenntnisgehalte unsere Wahrnehmung mit einer wahrnehmungsunabhängigen Wirklichkeit schon gar nicht in Beziehung steht, Erkenntnisgehalte folglich nicht den Wert von Gewissheit haben können, trifft die Zuschreibung des Sophismus bzw. Idealismus zu, eines Idealismus, genau genommen, der, weil vom Empirismus herkommend, in der philosophischen Fachsprache als empirischer Idealismus⁷³⁹ bezeichnet wird.
3.2.4.2 Positivismus Als eine weitere Fortbildung des Empirismus – genauer vielleicht: als eine weitere empiristische Strömung des Sensualismus – behandelt Muṭahharī den Positivismus⁷⁴⁰, als dessen Gründer sich ihm zufolge der französische Denker Auguste Comte (st. 1857) betrachtete.⁷⁴¹ Anderen gilt der englische Empiriker David Hume (st. 1776) als Urheber, Comte als Hauptvertreter dieser Richtung.⁷⁴² Muṭahharī spricht vom Positivismus als der namhaftesten empiristischen – oder eben sensualistischen – Strömung,⁷⁴³ deren Lehren „[…] unter der Allgemeinheit der Euro-
736 Vgl. M, 1381, I:187. 737 Vgl. M, 1381, I:63. 738 Vgl. M, 1381, I:187. 739 Vgl. Brugger, 1963:143. 740 Bei T/M erwähnt als „pūzītīvīsm“; M erwähnt als geläufige Wiedergaben ins Persische „falsafe-ye taḥaqqoqī; sobūtī; vażʿī; ẓāherī“. 741 Vgl. M, 1381, II:28. 742 Vgl. Brugger, 1963:241 („Positivismus“). 743 Vgl. M, 1381, I:42.
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päer Annahme gefunden und natürlich auch von den Nachbetern derselben im Osten mit Zustimmung aufgenommen worden sind […].“⁷⁴⁴ Von der empiristischen Lehre Berkeleys, welche sich immerhin noch insofern mit erfahrungsjenseitigen – metaphysischen – Fragen befasst, als sie den einen erfahrungsjenseitigen – metaphysischen – Gehalt „Gott“, wenn auch nur als Begründer von Bewusstsein und nicht von Sein, anerkennt, unterscheidet sich die ebenfalls empiristische Lehre des Positivismus darin, dass für ihre Vertreter, wie Muṭahharī es ausdrückt, „[…] die Fragen der ‚ersten Philosophie‘“, d. h. der Metaphysik, „die rein spekulativ und verstandesgegründet sind und sich auf den Urgrund des wirklich Existierenden und auf sinnlich nicht wahrnehmbare Gehalte beziehen, unerheblich sind und solche Fragestellungen weder in verneinendem noch in bejahendem Sinne entschieden werden können“⁷⁴⁵ und deshalb „aus dem Bereich der Erörterung ausgeschlossen und zu unüberprüfbaren Gehalten erklärt werden müssen.“⁷⁴⁶ Für den Positivismus besteht Erkennen allein im Beschreiben und Ordnen des durch die sinnliche Erfahrung Nachprüfbaren⁷⁴⁷ – „Positiven“ im Sprachgebrauch Comtes, davon „Positivismus“. Deshalb gehören seine Anhänger zu denjenigen, die, in Muṭahharīs Worten, „[…] die erste Philosophie“, d. h. die Metaphysik, „angesichts dessen, dass sie rein spekulativ ist und ausserhalb der Sinneserfahrung liegt, als unerforschbar und nicht nachprüfbar betrachten […]“⁷⁴⁸, besteht das durch die sinnliche Erfahrung Nachprüfbare doch allein im Physischen. So kann denn das Nicht-Physische, Metaphysische, für den Positivismus, empiristische Lehre, die er ist, weder Grund noch Gegenstand von Erkenntnis sein. Dann kann der Positivismus in den Augen von Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, in deren Verständnis Philosophie im Grunde gleichbedeutend mit Metaphysik ist, aber auch nicht als Philosophie gelten. In der Tat erhebt der Positivismus, da er sich grundsätzlich aus metaphysischen Fragen heraushält, auch keinen Anspruch, eine Philosophie im Sinne von Metaphysik zu sein. Zwar bezeichnen Auguste Comte selbst und andere Positivisten sowie manche aussenstehende Betrachter den Positivismus zuweilen als Philosophie. Aber diese Bezeichnung ist, wie Muṭahharī zu bedenken gibt, „[…] nur in dem Sinne zu verstehen, dass er“ – gemeint ist Comte – „die Darlegung der wechselseitigen Zusammenhänge in den Einzelwissenschaften sowie manche allgemeine Thesen, die in allen oder jedenfalls den meisten Einzelwissenschaften zur Anwendung kommen, hinsichtlich ihrer mehr oder weniger grossen Ähnlichkeit mit der
744 M, 1381, V:112. 745 M, 1381, I:41. 746 Ebda. 747 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:124b). 748 M, 1381, I:41 f.
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Metaphysik, was Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit angeht, ‚philosophische Fragen‘ nennt.“⁷⁴⁹ Und, wie der Gelehrte an anderer Stelle über die Empiristen bzw. Sensualisten im allgemeinen bemerkt, „im Sprachgebrauch dieser Gruppe ist mit ‚Philosophie‘ für gewöhnlich nicht eine Reihe rein verstandesgestützter und spekulativer Fragestellungen gemeint; vielmehr werden manche physikalische, mathematische, psychologische oder vielleicht sogar logische Fragestellungen, die ein grösseres Mass an Allgemeingültigkeit aufweisen, mit dem Namen ‚Philosophie‘ belegt.“⁷⁵⁰ Auch wenn Muṭahharī selbst zuweilen vom Positivismus, ja, überhaupt von empiristischen bzw. sensualistischen Lehren, als einer Philosophie spricht, so geschieht dies nur aus Rücksicht auf die Selbstbezeichnung der betreffenden Denker. Andererseits: Handelt es sich beim Positivismus, weil er die Metaphysik nicht berührt, auch nicht um eine Lehre, die Muṭahharī und Denker derselben Richtung wie er von sich aus als Philosophie anerkennen, so fordert er aus eben diesem Grunde ihr Verständnis von Philosophie auch nicht wirklich heraus. So erklärt Muṭahharī ausdrücklich: „[…] mit denen, welche die erste Philosophie“, d. h. die Metaphysik, „angesichts dessen, dass sie rein spekulativ ist und ausserhalb der Sinneserfahrung liegt, als unerforschbar und nicht nachprüfbar betrachten, sind wir nicht befasst.“⁷⁵¹ Indem das Metaphysische für den Positivismus weder Grund noch Gegenstand von Erkenntnis sein kann, trifft auf ihn zu, was Muṭahharī über die Leugner der Metaphysik insgesamt sagt, nämlich: „[…] sie bestreiten die Gültigkeit des ‚demonstrativen Beweises‘ und des ‚Syllogismus‘ überhaupt“, zweier philosophischer Verfahren also, die in metaphysischen Erkenntnisprinzipien gründen, „und betrachten das empirische Vorgehen als das einzig richtige und verlässliche. Nach Überzeugung dieser Denker ist eine spekulative und verstandesgestützte Philosophie, unabhängig von [empirischer] Einzelwissenschaft, bar jeder Grundlage. Einzelwissenschaft wiederum ist aber das Ergebnis der [Erfahrung der] Sinne, und die [Erfahrung der] Sinne bezieht sich nur auf die Erscheinungen und akzidentellen Zuständlichkeiten des Physischen […].“⁷⁵² Aufgrund dieser ihrer Zurückweisung der Erfahrungsjenseitigkeit unserer Erkenntnisgrundlagen bzw. ihrer Gründung derselben in der Empirie verstehen die Leugner der Metaphysik, darunter eben auch die Positivisten, das Verhältnis zwischen Philosophie, der Universalwissenschaft, auf der einen und den Einzelwissenschaften, besonders den Erfahrungswissenschaften, auf der anderen Seite genau umgekehrt wie die Vertreter der geistigen und geistesgeschichtlichen Strömung, in 749 M, 1381, I:41. 750 M, 1381, II:27. 751 M, 1381, I:41 f. 752 M, 1381, I:41.
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der sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī sehen: Ist für die Anhänger des Empirismus die Philosophie auf die empirische Einzelwissenschaft angewiesen, da eine bloss verstandesgestützte, d. h. metaphysische Philosophie, die nicht in empirischer Einzelwissenschaft gründet, bar jeder Grundlage sei, so ist es für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī gerade die empirische Einzelwissenschaft, die ihrerseits auf die in ihrer Auffassung bloss philosophisch, d. h. metaphysisch, begründbaren Erkenntnisprinzipien angewiesen ist.
Das Fortschrittsdenken des Positivismus Darüber hinaus sieht aber insbesondere die positivistische Lehre Auguste Comtes die Anerkennung der Gültigkeit von Metaphysik, sei es im Rahmen von Philosophie oder von Religion, nicht nur als bar jeder Grundlage an, sondern betrachtet sie geradezu als Zeichen für geistige Unvollkommenheit des einzelnen Menschen und für geistes- und kulturgeschichtliche Unvollkommenheit der Menschheit als ganzer. Dabei besteht die geistige Vollkommenheit des Menschen für Comte eben darin, dass er, wie Muṭahharī es formuliert, „[…] einsieht, dass jene rein verstandesmässigen und philosophischen“ – d. h. metaphysischen – „Annahmen für die Erklärung der Geschehnisse ohne Beweiskraft sind und der einzige richtige Weg darin liegt, dass er es aufgibt, den wirklichen Ursachen nachzuforschen, und sich allein mit der Bestimmung der Beziehungen und Verhältnisse der sinnlich wahrnehmbaren Dinge befasst, deren Existenz nachprüfbar und gesichert ist, und nicht jene rein verstandesmässigen Annahmen, sondern die Geschehnisse des Physischen selbst als die Ursachen füreinander erkennt.“⁷⁵³ Diesen Zustand geistiger Vollkommenheit setzt Comte mit der letzten von insgesamt drei Stufen in der geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung des Menschen überhaupt gleich.⁷⁵⁴ Von diesen drei Stufen wird die erste die theologische genannt,⁷⁵⁵ wir finden bei Muṭahharī aber auch die Bezeichnung „mythologisch“⁷⁵⁶. In dieser Stufe werden die Geschehnisse des Physischen mit dem übersinnlichen – metaphysischen – Einfluss von Göttern erklärt oder mit dem Wirken eines einzigen Gottes, der am Anfang das Weltganze geschaffen hat und seine Phänomene dauernd lenkt, gegebenenfalls auch die von ihm selbst festgelegte Ordnung durch
753 M, 1381, II:28. 754 Vgl. M, 1381, II:28; Hügli/Lübcke, 2005:124b) f.; Aster, 1998:340 f.; Brugger, 1963:241 („Positivismus“). 755 Vgl. Aster, 1998:341; Brugger, 1963:241 („Positivismus“);Hügli/Lübcke, 2005:124b). 756 „afsāne-ʾī“: M, 1381, II:28; „asāṭīrī“: M, 1381, V:112.
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Wunder unterbricht.⁷⁵⁷ Die zweite Stufe wird die metaphysische genannt,⁷⁵⁸ von Muṭahharī, der Philosophie mit Metaphysik gleichsetzt, die philosophische⁷⁵⁹. Auf dieser Stufe, wie Muṭahharī es darstellt, „[…] bringt der Mensch rein verstandesmässige“ – d. h. metaphysische – „Annahmen für die Erklärung der Geschehnisse vor und setzt Naturkräfte und Arten sowie eine Vegetal-, eine Animal- und eine Vernunftseele voraus.“⁷⁶⁰ Die dritte und letzte Stufe schliesslich, jener Zustand geistiger und zivilisatorischer Vollkommenheit, heisst die positive,⁷⁶¹ bei Muṭahharī auch die wissenschaftliche⁷⁶² bzw. die erfahrungswissenschaftliche⁷⁶³. Muṭahharīs Einwände gegen die Positivisten unter den Leugnern der Metaphysik im besonderen beziehen sich genau auf diese Auffassung der geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung des Menschen sowie auf das zugrundeliegende Verständnis von Vollkommenheit und Fortschritt. Geistige sowie geistesund kulturgeschichtliche Vollkommenheit kann aus Sicht von Muṭahharī als einem Verfechter einer im Metaphysischen begründeten philosophischen Lehre keinesfalls in der Ausschaltung der Metaphysik aus dem geistesgeschichtlichen Prozess, sondern, wenn überhaupt, so nur in deren Beibehaltung und Weiterentwicklung liegen. Ferner ist für dieselben Denker auch eine Entgegensetzung zwischen Theologie bzw. Religion und Philosophie bzw. Metaphysik, wie sie Comte im Rahmen seiner geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklungslehre vornimmt, indem er im Zeichen von deren Drei-Stufen-Gesetz die Theologie mit der ersten und die Philosophie mit der zweiten Stufe verbindet, schlicht gegenstandslos: Anders als in der Auffassung, die seit der Aufklärung im Abendland – nicht zuletzt unter der Wirkung des Positivismus selbst – zur vorherrschenden geworden ist, handelt es sich für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī wie für die massgeblichen Vertreter der islamischen Philosophie überhaupt bei Philosophie nicht um eine Gegenbewegung – auch nicht um eine Parallelbewegung – zu Religion oder Theologie. Gerade die Bedeutung von Mullā Ṣadrās theosophischer Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wird von Anhängern und Betrachtern derselben eben darin gesehen, dass sie Theologie und Philosophie besonders überzeugend miteinander ausgleiche.⁷⁶⁴ Und jedenfalls die beiden philosophischen Haupströmungen, die Mullā Ṣadrās Lehre ihren Verfechtern und manchen Betrachtern 757 Vgl. Aster, 1998:341. 758 Vgl. Ebda; Brugger, 1963:241 („Positivismus“);Hügli/Lübcke, 2005:125a). 759 „falsafī“: M, 1381, II:28;M, 1381, V:112. 760 M, 1381, II:28. 761 Vgl. Aster, 1998:341; Brugger, 1963:241 („Positivismus“);Hügli/Lübcke, 2005:125a). 762 „ʿelmī“: M, 1381, V:112. 763 „ʿelmī va ḥessī“: M, 1381, II:28. 764 Vgl. M, 1381, I:12; Ṭālebzādeh, 1385b:92.
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zufolge ebenfalls miteinander vereinbart hat, nämlich die platonische und die aristotelische,⁷⁶⁵ stimmen mit der theologischen Lehre bei allen Unverträglichkeiten immerhin darin überein, dass auch sie die Notwendigkeit der Existenz eines Gottes als des höchsten ontologischen und epistemologischen Prinzips anerkennen. Des weiteren wendet sich Muṭahharī gegen die Entgegensetzung, die Comte ebenfalls im Zeichen des Drei-Stufen-Gesetzes zwischen den prägenden Geistesströmungen der ersten und zweiten Stufe auf der einen und der Wissenschaft – gemeint ist Erfahrungswissenschaft –, der prägenden Geistesströmung der dritten Stufe, vornimmt. „Die Wissenschaft“, so ein einschlägiges Zitat aus Comtes Werk bei Muṭahharī, „hat den Vater der Natur und ihrer Wesen seines Amtes enthoben und ihn in die Abgeschiedenheit geführt […].“⁷⁶⁶ Diese Ablösung des Gottvaters und des Glaubens an einen solchen durch die Wissenschaft im Laufe der jüngeren abendländischen Geistesgeschichte sieht Muṭahharī aber nicht als Zeichen für einen Fortschritt hin zu grösserer geistiger und kultureller Vollkommenheit wie Comte, sondern im Gegenteil als Zeichen für die Unvollkommenheit des abendländischen Gottesverständnisses, eines Verständnisses von Gott als einem „Vater der Natur und ihrer Wesen“ eben. Dieses Gottesverständnis entspricht aus Sicht Muṭahharīs der Lehre des Christentums von Gott: „Der ‚Vater der Natur‘, den Auguste Comte meint“, so der Gelehrte unter Bezug auf das vorige Comte-Zitat, „ist kein anderer als der himmlische Vater der christlichen Gotteslehre […].“⁷⁶⁷ Dieses Verständnis Gottes als eines Vaters der Natur und ihrer Wesen bedeutet in Muṭahharīs Augen aber nichts anderes, als dass „in der christlichen Gotteslehre Gott auf eine Stufe mit den physischen Ursachen gestellt wird […].“⁷⁶⁸ Jedoch, wie der Denker bemerkt, „das seinsnotwendige Selbst“, d. h. Gott, „auf eine Stufe mit einer der physischen Ursachen und einer der Wirkursachen der [physischen] Welt zu stellen […] kommt seiner Einfügung in das [physische] Weltganze und seiner Einreihung unter seine eigenen Geschöpfe gleich; das Seinsnotwendige wäre dann mit anderen Worten nicht mehr Gott, sondern eines der Geschöpfe Gottes.“⁷⁶⁹ Nach der Lehre, die Muṭahharī gegen das vorherrschende abendländische Gottesverständnis geltend macht, verhält sich Gott zu seinen Geschöpfen, der physischen Welt, eben nicht wie ein physisches Seiendes zu einem anderen physischen Seienden. Dann kann aber auch das Ursache-Wirkungsverhältnis zwischen Gott und dem Physischen nicht als dasselbe aufgefasst werden wie das zwischen einem physischen Seienden zu einem anderen physi-
765 Vgl. M, 1381, I:12. 766 M, 1381, V:112. 767 Ebda. 768 Ebda. 769 Ebda.
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schen Seienden. Insbesondere nach der Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins, der Muṭahharī selber folgt, verhält sich Gott, verstanden als das blosse Sein, zum Seienden überhaupt, so auch zum physischen Seienden, sowieso nicht wie ein Seiendes zu einem anderen Seienden, und schon gar nicht wie ein physisches Seiendes zu einem anderen physischen Seienden, sondern wie das blosse Sein zum Seienden. Dann kann aber auch das Ursache-Wirkungsverhältnis zwischen Gott, dem blossen Sein, und dem Seienden nicht als dasselbe aufgefasst werden wie das zwischen einem Seienden und einem anderen Seienden und schon gar nicht wie das zwischen einem physischen Seienden und einem anderen physischen Seienden. Nur die Auffassung von Gott als einer physischen Grösse sowie jeder Gottesgedanke, der, wenn auch nur einschlussweise, auf eine solche Auffassung hinausläuft, kann überhaupt zu einer Entgegensetzung zwischen den Aussagen der Gotteslehre – sei sie theologisch oder philosophisch – und denen der Erfahrungswissenschaften führen. Da die christliche Gotteslehre nun eine solche Auffassung von Gott vertritt, „deshalb“, so erklärt Muṭahharī, „ergaben sich Unverträglichkeiten zwischen dem Glauben an Gott und den Berechnungen der Erfahrungswissenschaften und kamen die Erfolge der Erfahrungswissenschaften zwangsläufig einer Niederlage der christlichen Gotteslehre gleich.“⁷⁷⁰ Übrigens vertritt Muṭahharī zufolge nicht nur die Gotteslehre des Christentums, sondern auch „in der islamischen Welt manche Theologen“⁷⁷¹ eine solche Auffassung von Gott. Als ein Beispiel dieser Gelehrten erwähnt Muṭahharī namentlich Faḫr al-Dīn Rāzī (st. 1210),⁷⁷² bei dem es sich um einen der Hauptvertreter der ašʿaritischen Lehre in der Nachfolge Ġazālīs handelt,⁷⁷³ der massgeblichen theologischen Strömung des sunnitischen Islam also. Und als Einwand gegen deren Gottesauffassung führt Muṭahharī eine Stelle aus Mullā Ṣadrās Werk an, die da lautet: „[…] immer, wenn diese Leute,“ – gemeint sind die Anhänger derselben Richtung wie Rāzī – „einen Artikel des Glaubens zu beweisen suchen wie etwa die Allmacht des Schöpfergottes oder das Prophetentum und die letzten Dinge, sind sie [aufgrund ihres Gottesverständnisses] gezwungen, die Eigenbewandtnis des Physischen zu verneinen und das Bestehen eines verstandesmässig einsehbaren Zusammenhanges zwischen den Dingen, einer […] Abstufung des Seins sowie einer […] notwendigen Ordnung zwischen allem Seienden […] auszuschliessen. So gehen sie regelmässig beim Beweis der meisten Glaubensartikel vor, genau wie es dieser Mann“, d. h. Rāzī, „der führende Gelehrte unter den Anhängern der diskursiven Beweisführung als 770 M, 1381, V:112. 771 M, 1381, V:113. 772 Vgl. M, 1381, III:238; V:113; Hendrich, 2005:95 f. 773 Vgl. Hendrich, 2005:95 f.
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Hilfsmittel der Theologie getan hat.“⁷⁷⁴ Im Zuge dieses Gottesverständnisses, wie Muṭahharī an anderer Stelle ausführt, „halten die Theologen“ – gemeint sind auch hier die Vertreter derselben Schule wie Rāzī – „[…] das Physische gewissermassen für einen Teilhaber Gottes des Schöpfers und halten das dem Physischen eigene Wirken nicht für abhängig von Gott dem Schöpfer. Aus diesem Grunde suchen sie auch stets nach Ausnahmefällen [im Naturgeschehen] und meinen, dass sich die Existenz des Allerschaffers nicht ohne die Verneinung der festen Ordnung alles Seienden bejahen lasse.“⁷⁷⁵ Diese Bemerkung bezieht sich auf die sunnitische Mehrheitslehre über das Verhältnis zwischen Gott und Natur, dem Physischen eben, nach welcher ein jedes noch so kleine Naturgeschehen einzeln in jeder noch so kleinen Zeit- und Raumeinheit ausschliesslich und unmittelbar von Gottes Wirken abhängt. Es ist dieses sunnitische Mehrheitsverständnis von der Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung, das Muṭahharī inhaltlich mit der Auffassung der christlichen Gotteslehre gleichsetzt, welche die Geschehnisse des Physischen mit dem Wirken eines Gottes erklärt, der am Anfang das Weltganze geschaffen hat und seine Phänomene dauernd lenkt, gegebenenfalls auch die von ihm selbst festgelegte Ordnung durch Wunder – Ausnahmen im Naturgeschehen – unterbricht. Und genau wie unter den Christen, die Muṭahharī zufolge alle diesem Gottesverständnis anhängen, so ergeben sich auch unter den Anhängern desselben unter den Muslimen „Unverträglichkeiten zwischen dem Glauben an Gott und den Berechnungen der Erfahrungswissenschaften“ und bedeuteten die Erfolge der Erfahrungswissenschaften eine Anfechtung in religiöser Hinsicht. Jedoch, wie der Gelehrte gegen eine solche Gotteslehre, sei sie christlich oder islamisch hinterlegt, anführt, „für eine eingehende philosophische Betrachtung beweist gerade die wohlgefügte Ordnung die Existenz des Schöpfers, nicht die Ausnahmen (einmal angenommen, es gäbe solche).“⁷⁷⁶ Dass Muṭahharī diesen Einwand auch gegen die vorherrschende sunnitische Gotteslehre richtet, bedeutet allerdings nicht, dass er das Verständnis des Islam von Gott als solches für unvollkommen erklären würde, so wie er das Verständnis des Christentums von Gott als solches für unvollkommen erklärt. Der Islam und so auch das Verständnis des Islam von Gott verwirklicht und vervollkommnet sich für Muṭahharī, welcher selbst der Schia angehört, nicht in der sunnitischen, sondern in der schiitischen Lehre und innerhalb dieser wieder letztlich in Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, der er selbst folgt. Auch hier zeigt sich wieder das Selbstverständnis des Schiitentums als einer geistlichen und eben auch geistigen Elite – der „Besonderen“ – gegenüber der Allgemeinheit der Gläubigen – den 774 Mullā Ṣadrā,o.J, IX:137; zitiert in M, 1381, III:238. 775 M, 1381, III:237. 776 M, 1381, V:237.
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„Gemeinen“. Und wird innerhalb der Gesamtgemeinde der Muslime der Unterschied zwischen Besonderen und Gemeinen im Zeichen dieses Selbstverständnisses mit dem Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten in eins gesetzt, so wird er innerhalb der schiitischen Gemeinde selbst wieder mit dem Unterschied zwischen verschiedenen Gruppen von schiitischen Gläubigen, etwa mit dem Unterschied zwischen den Anhängern der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins und den „anderen“, gleichgesetzt, darüber hinaus aber auch mit dem Unterschied zwischen dem „wahren“ Islam, der sich in der Schia verwirklicht, und nicht-islamischen Religionen wie dem Christentum. So zeigt sich der Positivismus im Lichte der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins in grundsätzlich zweierlei Hinsicht als intellektuell unzulänglich: Einerseits zieht er aus der Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Ding und der daraus folgenden Entwertung der Abstraktion den Schluss, dass nur die Gehalte der Sinneserfahrung als Quelle und Gegenstand von Erkenntnis in Frage kommen, eine Folgerung, die er, selbst empiristische Lehre, mit dem Empirismus überhaupt gemein hat. Andererseits setzt er im Rahmen seiner Dreistufenlehre Erfahrungswissenschaft und Gotteslehre einander entgegen, eine Entgegensetzung, die ihm allein eigen ist. In beidem setzt der Positivismus Unzulänglichkeiten fort, die in der Geistesgeschichte des Abendlandes vorbestanden haben oder jedenfalls angebahnt gewesen sind: Die Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Ding hat ihre Wurzeln in der scholastischen Philosophie des abendländischen Mittelalters. Die positivistische Entgegensetzung zwischen Erfahrungswissenschaft und Gotteslehre entspringt dem unzulänglichen Gottesverständnis des Christentums. Aus all dem ergibt sich, dass der Empirismus im allgemeinen und der Positivismus als die namhafteste seiner Lehren im besonderen aus Sicht der Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins im Ansatz intellektuell unzulänglich sind. Im Lichte dieses Befundes erweist sich der Anspruch des Empirismus auf geistige Überlegenheit gegenüber dem Rationalismus, als dessen Gegenbewegung er entwickelt worden ist, als unbegründet, und als ebenso unbegründet muss daher der Anspruch beider abendländischer Lehren, des Rationalismus genau wie des Empirismus, insbesondere des Positivismus, auf intellektuelle Massgeblichkeit überhaupt erscheinen. Damit erweist sich aber auch die Berufung auf den Empirismus bei der geistigen Grundlegung „moderner“ theoretischer und praktischer Systeme mit Massgeblichkeitsanspruch als philosophisch genauso unzureichend hinterlegt wie die Berufung auf den Rationalismus.
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3.2.5 Kritizismus Die Lehre Immanuel Kants (st. 1804) fassen manche Gelehrte unter anderem als Versuch auf, zwischen Rationalismus und Empirismus, den beiden Hauptströmungen der neueren europäischen Philosophie, zu vermitteln,⁷⁷⁷ und zwar im Hinblick darauf, dass sie weder wie der Empirismus allein die Gehalte der Sinneserfahrung noch wie der Rationalismus allein gänzlich erfahrungsunabhängige, rein verstandeseigene Gehalte als Erkenntnisquelle gelten lässt. Auch Muṭahharī bemerkt: „Kant […] versteht die Erkenntnisgehalte, die sich auf das aussergeistig Wirkliche beziehen, als das Ergebnis des Zusammenwirkens zwischen Verstand und Sinnen, und er behauptet, dass weder Sinneserfahrung allein noch der Verstand allein irgendeine Erkenntnis erzeugen könne.“⁷⁷⁸ Vielleicht deshalb findet sich bei Muṭahharī die längste zusammenhängende Besprechung der Philosophie Kants im Anschluss an seine Darlegung der Lehren von Rationalismus und Empirismus, genauer: ihrer jeweiligen Positionen in der Frage des Wertes der Erkenntnisgehalte.⁷⁷⁹ Er führt dort den Denker mit den Worten ein: „Kant, der berühmte deutsche Philosoph […], vertritt bemerkenswerte Theorien über den Wert der Erkenntnisgehalte und überhaupt alle Fragen, die mit Erkenntnis zusammenhängen. Kant zählt zu den vorzüglichsten Philosophen Europas, und die Europäer sind in hohem Masse von seiner Philosophie überzeugt.“⁷⁸⁰ Und über die Lehre desselben sagt er einleitend: „Aufgrund dessen, dass Kants Philosophie sich vornehmlich mit dem kritischen Wägen und Begutachten von Denken und Verstehen des Menschen befasst, indem sie die Grenzen von Verstandeserkenntnis und Sinneserfahrung bestimmt und die Gehalte, die dem Erkennen zugänglich sind, von den Gehalten, die dem Erkennen nicht zugänglich sind, scheidet, nennt man sie kritische Philosophie (Kritizismus⁷⁸¹).“⁷⁸²
3.2.5.1 Analytische Urteile, synthetische Urteile und die intellektuelle Anschauung Anders als für die Empiristen gibt es für Kant durchaus Erkenntnisgehalte, die dem Menschen, dem Subjekt der Erkenntnis, ganz unabhängig von aller Empirie, aller Sinneserfahrung, zukommen. Solche Erkenntnis ist etwa in Sätzen enthal-
777 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:333b. 778 M, 1381, II:29. 779 M, 1381, I:167 ff. 780 M, 1381, I:167. 781 „krītī sīsm“: M, 1381, I:167 (vgl. M, 1381, I:80). 782 M, 1381, I:167.
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ten wie „Alle physischen Körper sind ausgedehnt“ oder „Entweder es regnet oder es regnet nicht“, Sätzen, genauer: Urteilen, deren Wahrheitswert sich ganz ohne empirische Untersuchung entscheiden lässt.⁷⁸³ Kant verwendet für die Erkenntnis, die solche Urteile erbringen, weil sich ihre Wahrheit losgelöst von – in weniger glücklicher Wortwahl: „vorgängig zu“, lateinisch: „prior“ – aller Empirie entscheiden lässt, auch den Ausdruck „a priori“ bzw. „apriorisch“⁷⁸⁴. Vielmehr lässt sich der Wahrheitswert des Urteilssatzes „Alle physischen Körper sind ausgedehnt“ feststellen, indem wir eine logische Analyse der in ihm enthaltenen Begriffe – des Subjektsbegriffes „Körper“ und des Prädikatsbegriffes „ausgedehnt“ – vornehmen.⁷⁸⁵ So zeigt die Analyse des Begriffes „Körper“, dass Körper notwendig ausgedehnt sind, so dass es selbstwidersprüchlich wäre, von nichtausgedehnten Körpern zu sprechen.⁷⁸⁶ Der Prädikatsbegriff der Ausgedehntheit ist gewissermassen im Subjektsbegriff „Körper“, wenn auch unausgesprochen, enthalten – er stellt einen Teilinhalt des Subjektsbegriffes dar.⁷⁸⁷ Solche Urteile, deren Wahrheitswert durch eine logische Analyse ihrer Begriffe festgestellt werden kann, nennt Kant analytische Urteile.⁷⁸⁸ Von den analytischen Urteilen unterscheidet Kant Urteile, deren Wahrheitswert nicht durch eine logische Analyse von Subjekt- und Prädikatsbegriff festgestellt werden kann, und zwar deshalb nicht, weil in ihnen der Prädikatsbegriff nicht – auch nicht unausgesprochen – im Subjektsbegriff enthalten ist.⁷⁸⁹ Er verwendet für sie den Ausdruck „synthetisch“ – soviel wie „hinzufügend“ –, weil in ihnen das Prädikat zum Subjektsbegriff einen neuen gedanklichen Inhalt „hinzufügt“, neu in dem Sinne eben, dass wir es nicht schon aus dem Subjektsbegriff als Teilinhalt desselben ersehen können.⁷⁹⁰ Ein Beispiel für synthetische Urteile stellt der Satz „Alle Katzen haben neun Rückenwirbel“ dar,⁷⁹¹ in welchem „Katze“ der Subjektsbegriff und das Ausgestattetsein mit neun Rückenwirbeln das Prädikat ist. Zwar würde ein sogenannter unendlicher Intellekt, d. h. ein Intellekt, in dem wie etwa in einem allwissenden Schöpfergott Wissen und Schaffen der Dinge eins sind,⁷⁹² in einer jeden Katze, eben weil er sie ja selbst geschaffen hat, die Ausstattung mit einer bestimmten Anzahl Rückenwirbel als einen Teilinhalt derselben 783 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334a. 784 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:333b; 17a) ff. 785 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334a. 786 Vgl. ebda. 787 Vgl. Brugger, 1963:77 („Erkenntnisprinzipien“). 788 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334a. 789 Vgl. ebda.f.; Brugger, 1963:321 („Synthese“). 790 Vgl. Brugger, 1963:321 („Synthese“). 791 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:333b) f. 792 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:338a.
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wissen. Aber, genau besehen, würde auch eine solche unendliche schöpferische Vernunft das Ausgestattetsein mit einer bestimmten Anzahl Rückenwirbel nicht als einen Teilinhalt des Begriffs „Katze“ wissen, sondern als einen Teilinhalt des Dings Katze, der Katze als einer ausserbegrifflichen Wirklichkeit im Sinne eines seiner Geschöpfe. Dieses Wissensverhältnis zwischen einer solchen unendlichen schöpferischen Vernunft als dem Wissenssubjekt und seinen Geschöpfen als seinen Wissensobjekten heisst bei Kant intellektuelle Anschauung.⁷⁹³ Eine solche Anschauung spricht Kant dem Menschen aber ab:⁷⁹⁴ Der Intellekt des Menschen ist kein unendlicher Intellekt, keine unendliche schöpferische Vernunft. Des Menschen Intellekt ist letztlich nicht Absender von Wissensgegenständen im Sinne eines ursprünglichen Erschaffers derselben, sondern deren Empfänger. Deshalb ist für den Menschen der Wahrheitswert des synthetischen Urteils „Alle Katzen haben neun Rückenwirbel“ nur mittels der Sinneserfahrung, nämlich anhand einer empirischen Untersuchung des darin ausgedrückten Sachverhaltes, zu entscheiden.⁷⁹⁵
3.2.5.2 Auffassung und Bedeutung von „Form“ in Kants Erkenntnislehre Jegliche Erkenntnis aber, ob ich sie nun aus analytischen oder aus synthetischen Urteilen beziehe, hängt für ihr Zustandekommen, so Kant, von einer Reihe von Bedingungen ab, die er Formen nennt,⁷⁹⁶ und den Formen stellt er im Bereich der Sinneserfahrung die Sinneseindrücke als die Materie gegenüber.⁷⁹⁷ So können etwa das analytische Urteil „Alle physischen Körper sind ausgedehnt“ genauso wie das synthetische Urteil „Alle Katzen haben neun Rückenwirbel“ nur unter der Bedingung den Gehalt einer Erkenntnis haben, dass feststeht, dass physische Körper nicht sowohl ausgedehnt als auch nicht ausgedehnt und alle Katzen nicht sowohl neun Rückenwirbel als auch nicht neun Rückenwirbel haben können.⁷⁹⁸ Diese Bedingung nennt Kant eine logische Form.⁷⁹⁹ Desgleichen beruhen auch die Erkenntnis von „alle“ und „neun“ sowie die sinnliche Erfahrung von Körper, Katze und Rückenwirbel, die als Begriffe in die obigen Urteilssätze eingegangen sind, auf einer Reihe von Bedingungen, „Formen“, wie etwa – im Falle der Sinneserfahrung – den Formen von Raum und Zeit, nach Kant den beiden Formen,
793 Vgl. ebda. 794 Vgl. ebda. 795 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334a) f. 796 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:336a. 797 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334b. 798 Vgl. ebda. 799 Vgl. ebda.
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die überhaupt die Verbindung von mir, dem Subjekt, zu den Gegenständen, den Objekten, der Sinneswahrnehmung herstellen. Kant nennt sie auch Formen der Anschauung,⁸⁰⁰ denn, wie Muṭahharī bemerkt, „[Kant] sagt, dass der Mensch sich alles, was er sich vorstellt, im Rahmen von Raum und Zeit vorstellt und es für den Menschen nicht möglich ist, irgendeinen Gegenstand in der Welt ausserhalb dieser beiden Gefässe wahrzunehmen […].“⁸⁰¹ Die beiden Formen Raum und Zeit, wie Muṭahharī mit Hilfe eines Zitates aus Kant ausführt, „[…] beziehen sich aber nur auf die unmittelbaren Bewusstseins- und Wahrnehmungsgehalte, die wir von den Objekten […] haben. Wenn wir darüber hinaus nun jene Objekte, indem wir sie zum Gegenstand von Urteilen machen, allgemeinen Gehalten unterstellen und wissenschaftliche und allgemeingültige Gesetze bilden wollen, wirken eine Reihe von […] Verstandesbegriffen mit […].“⁸⁰² Der Ausdruck Verstandesbegriffe ist in Kants Fachsprache aber gleichbedeutend mit dem, was er auch Formen des Denkens oder Verstandesformen nennt, letzten Endes also wieder mit Form.⁸⁰³ Zu den Formen des Denkens – es sind nach Kant insgesamt zwölf – zählt er unter anderem Dasein, Einheit, Kausalität, Negation, Vielheit sowie Substanz bzw. Ding.⁸⁰⁴ Von den Verstandesformen gilt, dass „[…] ihnen letztlich alle Erkenntnisgehalte zwangsläufig unterstellt sind […].“⁸⁰⁵ Von allen Formen nun, seien es die Formen der Anschauung, die Formen des Denkens oder die logischen Formen, gilt gemäss Kant, dass sie in mir, d. h. im Subjekt der Erkenntnis, nicht in den Erkenntnisobjekten gründen, sie also subjektiv, nicht objektiv sind. Das, was die Objekte meiner Erkenntnis zu meiner Erkenntnis beisteuern, ist allein die Materie, und unter dieser versteht Kant das Sinnesmaterial, d. h. die von den Sinnen empfangbaren Einwirkungen aus der Körperwelt.⁸⁰⁶ „Laut Kant“, so Muṭahharī, „liefern die Sinnesorgane unserem Geist nur die Materialien der Bewusstseins- und Erkenntnisgehalte, und unser Geist steuert von sich einen Beitrag zu diesen bei, indem er sie formt, bis sie für uns wahrnehmbar werden.“⁸⁰⁷ Dies führt der Gelehrte in der Folge am Beispiel der Formen Raum und Zeit aus mit den Worten: „[…] Raum und Zeit haben [gemäss Kant] keine aussergeistige Existenz, sondern sind zwei dem Geist substantiell eigene Qualitäten, Formen, die unser Geist seinen sinnlich erfahrenen Gehalten zugibt, und wenn unser Geist von sich diesen Anteil nicht beifügen würde, käme 800 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:335b. 801 M, 1381, I:169; vgl. auch Hügli/Lübcke, 2005:335b. 802 M, 1381, I:169. 803 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:335b. 804 Vgl. ebda.f. 805 M, 1381, I:169 f. 806 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:334b. 807 M, 1381, I:169.
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unserem Geist nur eine Reihe loser, zerstreuter, unzusammenhängender Eindrücke zu, d. h. für unseren Geist würde sich von keinem Ding eine Wahrnehmung einstellen. So haben wir etwa eine deutliche Wahrnehmung von der Sonne, dabei kommen unserem Geist auf dem Wege der Sinneseindrücke doch nur Wärme, Helligkeit und Farbe zu. Wenn unser Geist aufgrund seiner eigenen Beschaffenheit ihnen also keinen ‚Platz in Raum und Zeit‘ anweisen und sie dadurch aufeinander beziehen würde, ergäbe sich für ihn nie eine Wahrnehmung der Sonne.“⁸⁰⁸ Auch die Formen des Denkens oder Verstandesformen sind – hier führt Muṭahharī Kants eigene Worte an – bloss „Schöpfungen unseres Geistes“⁸⁰⁹. Zu den Verstandesformen zählt Kant aber auch, wie Muṭahharī hervorhebt, Ursächlichkeit und Verursachtheit,⁸¹⁰ Kausalität eben. Auch „die Verbindung zwischen Ursache und Verursachtem“ – wieder zitiert Muṭahharī Kants eigene Worte – ist folglich bloss „das Erzeugnis unseres Verstandes […].“⁸¹¹ Und allgemein bemerkt Muṭahharī über die Formen nach Kants Verständnis: „Ausser einer Reihe veränderlicher, partikularer, zerstreuter und unzusammenhängender Eindrücke, die auf dem Wege der Sinnesorgane in unseren Geist eingehen, kommen [ihm] alle Erkenntnisse über die Aussenwelt nur auf dem Wege einer Reihe von Wissensgehalten, Begriffen und Gesetzen zu, die unser Geist aus sich selbst hervorgebracht hat. So zwingt uns unser Geist, die Welt mit diesen Strukturen und Formen und unter diesen Regeln und Gesetzen wahrzunehmen […].“⁸¹² Unter den Gehalten, die Kant als Formen bezeichnet, finden wir manches wieder, das Muṭahharī als die grundlegenden Inhalte des menschlichen Verstandes erwähnt, und zwar sowohl im Sinne der grundlegenden Gehalte des Begriffswissens, die der Gelehrte in seiner Einteilung der Begriffe entweder der ersten Gruppe, sei es der ersten oder der zweiten Untergruppe derselben, oder der zweiten Gruppe zuweist, als auch im Sinne der grundlegenden Gehalte des Urteilswissens, der Erkenntnisprinzipien. So begegnen uns etwa Dasein bzw. Existenz sowie Einheit und Vielheit, bei Kant Verstandesformen oder Formen des Denkens, in der Begriffslehre, die Muṭahharī im Zeichen von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins vertritt, als Gehalte unseres Begriffswissens, die der Denker der zweiten Untergruppe der ersten Gruppe, den sogenannten sekundären Verstandesgehalten, zuordnet. Weiter gehören Kausalität und Substanz, bei Kant ebenfalls Formen des Denkens, für Muṭahharī in die zweite Gruppe der grundlegenden Gehalte unseres Begriffswissens. Und Erkenntnisbedingungen
808 Ebda. 809 M, 1381, I:169, 170. 810 Vgl. M, 1381, I:170. 811 Ebda. 812 Ebda.
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wie beispielsweise, dass physische Körper nicht sowohl ausgedehnt als auch nicht ausgedehnt und alle Katzen nicht sowohl neun Rückenwirbel als auch nicht neun Rückenwirbel haben können, Erkenntnisbedingungen, die Kant logische Formen nennt, zählt Muṭahharī im Namen der Erkenntnislehre, der er folgt, zu den grundlegenden Gehalten des Urteilswissens, den Erkenntnisprinzipien. Subjektiv sind die Formen für Kant nun zum einen in dem Sinne, dass sie, wie er behauptet, vom erfahrenden Subjekt, dem Ich, selber an das Sinnesmaterial herangetragen werden und deshalb in jeder Erfahrung enthalten sein müssen; denn würden sie ausserhalb des Subjekts und damit im Objekt gründen, etwa im Sinnesmaterial, den sinnlich erfahrbaren Gegenständen des Physischen also, dann wäre es möglich, dass mir Gegenstände ohne Formen, ohne Einbettung in die Kausalität beispielsweise, begegnen.⁸¹³ Wenn die Formen, so etwa die Form Kausalität, nun aber in mir, dem Subjekt, gründen, ich sie also selber in jede Erfahrung einbringe, dann ist es eben deshalb unmöglich, dass ich ein Objekt ohne Formen, etwa ohne Einordnung in Kausalität, in einen Ursache-WirkungsZusammenhang, erfahren kann.⁸¹⁴ So erklärt Kant denn in Abweichung von der beherrschenden philosophischen Tradition vor ihm Erkenntnis schlechthin nicht als eine Angleichung des Erkenntnissubjekts, des Geistes oder Verstandes, an das Erkenntnisobjekt, sondern umgekehrt als Angleichung des Erkenntnisobjekts an das Erkenntnissubjekt.⁸¹⁵ Diese Umkehrung in der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt in der Philosophie versinnbildlicht er mit der Umkehrung in der Betrachtung der Bewegungsverhältnisse zwischen Sonne und Erde durch Kopernikus in den Naturwissenschaften und bezeichnet sie deshalb als kopernikanische Wende in der Philosophie.⁸¹⁶ Ferner versteht Kant die Formen in dem Sinne als subjektiv, dass sie dem Verstand des Menschen, dem Subjekt eben, substantiell eigen seien. Im Unterschied sowohl zum Empirismus als auch zu der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, und in Übereinstimmung mit dem Rationalismus kommt für Kant also eine Herleitung aller oder auch nur einiger begrifflicher oder urteilender Denkund Erkenntnisgrundlagen wie Existenz, Einheit, Vielheit, Kausalität und Substanz sowie des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch aus der Erfahrung des Physischen nicht in Frage. „Kant“, wie Muṭahharī erklärt, „[…] anerkennt ebenfalls [d. h. wie die Rationalisten] natürliche [d. h. dem Verstand substantiell eigene] Inhalte […] und bezeichnet eine […] Reihe innergeistiger Gehalte als
813 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:335b. 814 Vgl. ebda. 815 Vgl. M, 1381, I:170. 816 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:335a) f.; M, 1381, I:170 f.
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der Erfahrung des Sinnlichen vorgeordnet.“⁸¹⁷ Dass diese Bemerkung Muṭahharīs sich auf das bezieht, was Kant Formen nennt, zeigt sich gleich im Anschluss an dieselbe, wo Muṭahharī als Beispiele für die angedeuteten geistigen Gehalte Raum und Zeit, die Formen der Anschauung in Kants Lehre also, anführt.⁸¹⁸ Angesichts seiner Anerkennung substantiell verstandeseigener Erkenntnisgrundlagen rechnet Muṭahharī Kant auch den Rationalisten zu, so etwa, wenn er sagt: „Kant […] gehört ebenfalls zu den Rationalisten und anerkennt natürliche, dem Verstand substantiell eigene Gehalte.“⁸¹⁹ Im Unterschied zum Rationalismus, namentlich zur Lehre Descartes’, wiederum anerkennt der Kritizismus aber keinen gütigen Gott, keine metaphysische Instanz also, deren Existenz verbürgt, dass meine geistigen Anlagen – in Kants Lehre wären das die Formen – vertrauenswürdig und die Wahrnehmungsgehalte, die mir durch sie zukommen, eine wahrheitsgemässe und gewissheitswertige Wiedergabe der wirklichen Dinge sind, dass die geistigen Anlagen des Subjekts dieses also grundsätzlich zu objektiver Erkenntnis befähigen.⁸²⁰
3.2.5.3 Kants Ablehnung des ontologischen Gottesbeweises und seine Position in der Frage der Metaphysik Die Existenz eines solchen gütigen Gottes als metaphysischer Instanz, welche die grundsätzliche Wahrheitsbefähigung des Subjekts verbürgt, bejaht Descartes unter Berufung auf den ontologischen Gottesbeweis, jenen Beweis, in dem die Existenz Gottes aus dem Begriff desselben, aus der Bestimmung seines Wesens, gefolgert wird.⁸²¹ Eben diesen ontologischen Gottesbeweis, und zwar in allen Fassungen, in denen er seit Anselm von Canterbury vorgebracht worden ist, lehnt Kant nun aber ab. Muṭahharī vermerkt dies mit den Worten: „Der Urheber dieses Beweises ist der Heilige Anselm […], und viele andere wie etwa Descartes, Leibniz und Spinoza haben ihn in unterschiedlichen Formulierungen aufgestellt. Kant aber hat ihn kritisiert und ihn als ungültig betrachtet.“⁸²² Kant beruft sich bei seiner Ablehnung des ontologischen Gottesbeweises, des Beweises der Existenz Gottes aus dem Wesen Gottes also, auf seinen Nachweis, dass es sich bei der Existenz eines Dings nicht um eine Wesensbestimmung desselben handeln kann. Und zwar führt er diesen Nachweis unter anderem am Beispiel von 100
817 M, 1381, II:24. 818 Vgl. ebda. 819 M, 1381, II:29. 820 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:143a. 821 Vgl. ebda f.; Brugger, 1963:157 („Kartesianismus“); M, 1381, V:125 ff. 822 M, 1381, V:125.
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Talern: Das Wesen von 100 Talern, ganz gleich, ob damit 100 Taler als Gehalt meines Denkens, als Begriff also, gemeint sind oder 100 Taler in der denkunabhängigen Wirklichkeit, ist allemal der Wert 100 Taler. Das einzige, in was sich die 100 Taler in der aussergeistigen Wirklichkeit von dem innergeistigen Begriff „100 Taler“ unterscheiden, ja, überhaupt unterscheiden können, ist ihre Existenz. Das Wesen, die Essenz, von 100 Talern ist auch im Begriff „100 Taler“ restlos enthalten. Bei der Existenz eines Dings – hier des Dings 100 Taler, im ontologischen Gottesbeweis des metaphysischen Dings Gott – kann es sich folglich nicht um eine Wesensbestimmung desselben handeln. Daher lässt sich auch die Existenz Gottes nicht aus dem Wesen Gottes bzw. aus dem Begriff „Gott“, in dem das Wesen Gottes restlos enthalten ist, beweisen. Da für Kant ferner auch alle Gottesbeweise ausser dem ontologischen auf diesen letzteren zulaufen,⁸²³ gibt es für ihn gar keinen Weg, die Existenz eines Gottes als der metaphysischen Instanz, welche die grundsätzliche Wahrheitsbefähigung des Subjekts verbürgt, zu bejahen. So gilt denn von der Position des Kritizismus in metaphysischen Fragen, was Muṭahharī wie folgt formuliert: „Kant ist hinsichtlich der Gehalte der ersten Philosophie“, d. h. der Metaphysik, „überzeugt, dass sie grundsätzlich nicht Gegenstand von Erkenntnis werden können und dass alles, was bis anhin über diesen Gegenstand gesagt worden ist, nicht Erkenntnis, sondern eitles Gerede und Phantasterei darstellt.“⁸²⁴ „Folglich“, wie der Gelehrte gleich im Anschluss bemerkt, „ist der Wert derjenigen Erkenntnisgehalte in der ersten Philosophie, die Descartes und dessen Anhänger als ‚Gewissheiten‘ bezeichneten, [für Kant] gleich Null […].“⁸²⁵ Zum einen scheidet damit nach Muṭahharīs Auffassung die Metaphysik als Gegenstandsgebiet der Philosophie in Kants Kritizismus überhaupt aus und bleiben als einzige mögliche Felder philosophischer Betätigung nur die Mathematik und der Bereich des Physischen übrig. Da Kant aber, wie aus dem letzteren der beiden vorigen Zitate hervorgeht, den Grundgehalten des menschlichen Verstandes, welche die Rationalisten Gewissheiten, er selbst Formen nennt, keinen theoretischen Gewissheits- und Erkenntniswert zuspricht, erbringt auch die philosophische Beschäftigung mit diesen nichtmetaphysischen Gebieten im Urteil Muṭahharīs keine Gewissheit: „Was die Gegenstände des Physischen angeht“, wie der Gelehrte bemerkt, „so ist der Geist des Menschen [in Kants Auffassung] nur dazu fähig, die akzidentellen Zuständlichkeiten und Erscheinungen ([in Kants Wortwahl] die Phänomene), die sinnlich erfahrbar sind, wahrzunehmen, und unfähig, die Dinge an sich ([in Kants Wortwahl] die Noumena [d. h. das Ding
823 Vgl. Scruton, o. J.:76. 824 M, 1381, I:168. 825 Ebda.
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hinter den Erscheinungen])⁸²⁶, welche die Träger der akzidentellen Zuständlichkeiten und Erscheinungen sind, zu erfassen. Und auch hinsichtlich der Erscheinungen gilt, dass der Geist des Menschen diesen aufgrund seiner eigenen Besonderheiten eine jeweils besondere Form und Gestalt verleiht, so dass wir niemals gewiss sein können, ob die Dinge auch in Wirklichkeit und an sich in derselben Form und Gestalt, wie sie in unserem Geist erscheinen, existieren.“⁸²⁷ Und ähnlich äussert er sich an anderer Stelle mit den Worten: „Kant sagt, dass alles, was wir wahrnehmen, so ist, wie unser Geist es bedingt; ob aber die Wirklichkeit ebenso ist oder nicht, wissen wir nicht.“⁸²⁸ Denn – hier zitiert Muṭahharī Kant selber – „es ist möglich, dass in der objektiven Wirklichkeit für die Dinge andere Gesetze [als die Formen, die ja subjektiv sind] gelten.“⁸²⁹
Muṭahharīs Beurteilung von Kants Lehre als sensualistisch, skeptizistisch, sophistisch Damit gehört auch Kant zu jener Gruppe unter den neuzeitlichen Gelehrten des Abendlandes, die – in Muṭahharīs Worten – überzeugt ist, „dass die Urteilskraft des menschlichen Denkens auf die ‚Phänomene‘, d. h. die Erscheinungen und akzidentellen Zuständlichkeiten des Physischen, sowie auf die Bestimmung der Beziehungen und Verhältnisse unter denselben, beschränkt ist, wobei es sich bei diesen Erscheinungen und akzidentellen Zuständlichkeiten um eben jene handelt, die der Sinneswahrnehmung und der Erfahrung zugänglich sind. Die Wahrheitsfindung hinsichtlich des Urgrundes der Dinge jedoch sowie dessen, was jenseits der akzidentellen Zuständlichkeiten und der Erscheinungen des Physischen liegt, sei es, dass es sich auf das Physische selbst oder auf das Metaphysische beziehe, liegt [jenen Gelehrten zufolge] ausserhalb der Reichweite der Beurteilung durch das menschliche Denken […].“⁸³⁰ Es handelt sich um die Denker, die Muṭahharī im Lichte dieser ihrer psychologischen Argumentation zugunsten ihrer Position in der Frage der Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis als Sensualisten bezeichnet. Mit diesen teilt der Kritizismus Kants aus Sicht von Muṭahharī die Überzeugung, dass „[…] die erste Philosophie (die Metaphysik) […] keinerlei Grundlage hat, weil ihre Fragen ausserhalb des Bereiches der Erscheinungen des Physischen und des sinnlich Wahrnehmbaren und deshalb auch ausserhalb des Bereiches der Möglichkeit menschlichen Forschens
826 Vgl. auch Hügli/Lübcke, 2005:462 f. 827 M, 1381, I:168 f. 828 M, 1381, I:172. 829 M, 1381, I:170. 830 M, 1381, II:26.
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liegen.“⁸³¹ Diese Begründung für die Ablehnung der Metaphysik gibt genau die psychologische Argumentation in der Frage der Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis wieder, in deren Lichte Muṭahharī für die Empiriker die Bezeichnung „Sensualisten“ wählt. In der Tat vertritt Kant dieselbe Argumentation gegen die Gültigkeit der Metaphysik wie die Anhänger des Empirismus bzw. des Sensualismus, nur dass er dies nicht im Zeichen des Empirismus, sondern im Zeichen des Rationalismus tut, des Rationalismus insofern, als Muṭahharī Kant aufgrund von dessen Anerkennung substantiell verstandeseigener Erkenntnisgrundlagen den Rationalisten zurechnet. Muṭahharī drückt dies aus mit den Worten: „Ein Denker unter den ‚Rationalisten‘, der diese Überzeugung vertritt“, die Überzeugung von der Unbegründbarkeit der Metaphysik nämlich, „ist Kant.“⁸³² So gründen denn die Formen nach der Lehre des Kritizismus weder allein in den sinnlich erfahrbaren Objekten des Physischen wie alle grundlegenden begrifflichen und urteilenden Verstandesgehalte nach der Lehre des Empirismus noch allein in den sinnlich nicht erfahrbaren Objekten des Metaphysischen wie alle grundlegenden begrifflichen und urteilenden Verstandesgehalte nach der Lehre des Rationalismus und einige der grundlegenden begrifflichen und alle der grundlegenden urteilenden Verstandesgehalte nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten. Was das Verhältnis des Kritizismus zu Empirismus und Rationalismus angeht, so sieht Kant seine eigene Lehre in mittlerer Entfernung sowohl zu ersterem als auch zu letzterem und daher in einer Mittlerposition zwischen den beiden, da in ihr die Grundregeln der Betätigungen des menschlichen Geistes in Wahrnehmen und Denken weder allein vom Physischen noch vom Metaphysischen gesetzt werden.⁸³³ Und indem die Formen weder in physischen noch in metaphysischen Objekten gründen, sie also in doppeltem Sinne keine objektiven, sondern bloss subjektive Instanzen für Wahrnehmen und Denken sind, verbürgen sie auch keine Wahrheit des Erkennens im Zeichen der Definition von Wahrheit als Übereinstimmung des Denkens mit der denkunabhängigen Wirklichkeit⁸³⁴, und zwar ganz gleich, ob wir unter denkunabhängiger Wirklichkeit nun den Bereich der Objekte des Physischen oder des Metaphysischen oder beides verstehen. Denn hinsichtlich Erkennbarkeit der Objekte der aussergeistigen Wirklichkeit im Bereich des Physischen gilt im Lichte der Lehre des Kritizismus ja eben, „[…] dass“, wie Muṭahharī es formuliert, „der Geist des Menschen diesen aufgrund seiner eigenen Besonderheiten eine jeweils besondere Form und Gestalt verleiht, so dass wir niemals gewiss sein können, ob die Dinge auch in 831 M, 1381, II:28. 832 Ebda. 833 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:337b. 834 Vgl. M, 1381, I:136.
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Wirklichkeit und an sich in derselben Form und Gestalt, wie sie in unserem Geist erscheinen, existieren.“⁸³⁵ und „[…] dass alles, was wir wahrnehmen, so ist, wie unser Geist es bedingt; ob aber die Wirklichkeit ebenso ist oder nicht, wissen wir nicht.“⁸³⁶ Und hinsichtlich der Objekte der aussergeistigen Wirklichkeit im Bereich des Metaphysischen, gilt im Lichte von Kants Lehre, da sie die Existenz Gottes, der höchsten Instanz des Metaphysischen, als nicht beweisbar betrachtet, „[…] dass sie“, wie Muṭahharī es ausdrückt, „grundsätzlich nicht Gegenstand von Erkenntnis werden können und dass alles, was bis anhin über diesen Gegenstand gesagt worden ist, nicht Erkenntnis, sondern eitles Gerede und Phantasterei darstellt.“⁸³⁷ Angesichts dessen, dass Kant dem Subjekt die Möglichkeit objektiver Erkenntnis grundsätzlich abspricht, zählt ihn Muṭahharī zu den Skeptikern, angesichts dessen, dass er als letzten epistemologischen Massstab nicht das Objekt, sondern das Subjekt, den Menschen, gelten lässt, sogar gleich zu den Sophisten: „[…] Kant selbst verwahrt sich zwar […] dagegen, Sophist zu sein oder den Skeptikern zu folgen. Jedoch läuft Kants Behauptung [dass die grundlegenden Verstandesgehalte bloss innergeistig, d. h. subjektiv, seien] zumindest auf die Lehre des Skeptizismus hinaus. Ausserdem handelt es sich auch nicht um eine neue Behauptung: Schon Protagoras, der berühmte Sophist aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, hat zweitausenddreihundert Jahre vor Kant diese Behauptung aufgestellt und gesagt: ‚Das Mass aller Dinge ist der Mensch‘.“⁸³⁸
3.2.5.4 Die Kritik des Kritizismus im Lichte der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins So unterscheiden sich die Lehre, der Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī folgen, und der Kritizismus in der Frage der grundlegenden begrifflichen und urteilenden Verstandesgehalte einerseits hinsichtlich der Einschätzung des Gewissheitswertes derselben, und zwar in dem Sinne, dass erstere Lehre ihnen den Wert von Gewissheit zuerkennt und letztere nicht. Auf der anderen Seite unterscheiden sich die beiden Lehren in der Frage nach der Instanz, in der diese Verstandesgehalte gründen. In dieser Hinsicht gilt, dass der Kritizismus genauso wenig wie der Rationalismus und der Empirismus, zwischen denen er zu vermitteln beansprucht, einen gewissheitsverbürgenden Erkenntnisweg vorzeichnet, der von der Aussenwelt mit ihren Objekten – den Dingen an sich – in die Innenwelt, das 835 M, 1381, I:168 f. 836 M, 1381, I:172. 837 M, 1381, I:168. 838 M, 1381, I:171.
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Subjekt, aus dem Aussergeistigen ins Innergeistige, von der Sinneserfahrung zur Verstandeserkenntnis führen würde, einen Erkenntnisweg, wie er etwa in der Abstraktion vorliegt. Denn einerseits ermöglicht nur die Beigabe der Formen zum Sinnesmaterial, dem Objekt, dass dieses überhaupt Gegenstand meiner, des Subjektes, Erfahrung werden kann. Andererseits verunmöglicht eben diese Beigabe der Formen aber, dass ich das Objekt als solches, d. h. abzüglich der beigegebenen Formen, wahrnehmen kann. In diesem Zusammenhang bemerkt denn auch Muṭahharī, dass wir „[…] niemals gewiss sein können, ob die Dinge auch in Wirklichkeit und an sich in derselben Form und Gestalt, wie sie in unserem Geist erscheinen, existieren.“⁸³⁹ Dass sich so der Beitrag des Objekts und der Beitrag des Subjekts an Wahrnehmen und Denken im Einzelfall nicht auseinanderhalten lassen, mögen wir am Kritizismus als eine weitere Wiederholung des Grundfehlers der abendländischen Geistesgeschichte, der fehlenden Unterscheidung zwischen Aussergeistigem und Innergeistigem, Ding und Begriff, vermerken. Demgegenüber liegt die Gewissheitsverbürgung, welche Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī dem Erkenntnisweg der Abstraktion zugute halten, darin, dass in der Abstraktion dem Objekt auf seinem Weg aus dem Bereich des sinnlich Erfahrbaren in den Geist des Subjekts nicht etwas beigegeben, sondern von ihm vielmehr etwas abgezogen – eben „abstrahiert“ – wird, nämlich sein Status als Ausgangspunkt von Wirkungen, und abzüglich seines Status als Ausgangspunkt von Wirkungen, der für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in der aussergeistigen Existenz des betreffenden Objektes besteht, liegt es am Ende des Weges im Geiste des Subjektes vor. Dabei handelt es sich beim Objekt abzüglich seines Status als Ausgangspunkt von Wirkungen, abzüglich seiner aussergeistigen Existenz also, in der Erkenntnislehre, der diese beiden Denker im Zeichen von Mullā Ṣadrās Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins folgen, aber um nichts anderes als um die Essenz des betreffenden Objektes. Nach der Auffassung von Erkenntnis, die sie vertreten, gilt von dem Vorliegen des Objektes im Geiste des Subjektes, seiner „innergeistigen Existenz“⁸⁴⁰, daher, „[…] dass die Essenz der Objekte im selben Status, in dem sie im aussergeistigen Bereich vorliegen, im innergeistigen Bereich existieren“⁸⁴¹, wobei mit der Essenz der Objekte die Objekte abzüglich ihres Status der aussergeistigen Existenz gemeint sind. Aber auch die Erkenntnis des sinnlich erfahrbaren Physischen ist nur aufgrund von Verstandesgehalten wie etwa dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, einem der Erkenntnisprinzipien, möglich, Verstandesgehalten, die, wie Muṭahharī gegen die Empiriker nachzuweisen sucht, ihrerseits nicht wieder in 839 M, 1381, I:168 f. 840 „wuǧūd dihnī/voǧūd-e zehnī“: Vgl. z. B. M, 1381, I:172. 841 Ebda.
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der sinnlichen Erfahrung des Physischen gründen können. Die Unabhängigkeit dieser Verstandesgehalte von der sinnlichen Erfahrung der Objekte des Physischen bedeutet für Muṭahharī nun, dass sie im Metaphysischen gründen, wie er gegen die Empiriker ebenfalls nachzuweisen sucht, während für Kant die betreffenden Verstandesgehalte – der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch etwa als eine der logischen Formen – im Subjekt gründen. Dieser Unterschied wiederum geht darauf zurück, dass für Kant das Metaphysische als Gegenstand und Quelle von Erkenntnis schlechthin nicht in Frage kommt, gilt ihm doch schon die Existenz Gottes als der obersten metaphysischen Instanz als nicht beweisbar. Dieser Befund ergibt sich für ihn seinerseits daraus, dass er, wie gesehen, dem ontologischen Gottesbeweis, jenem Beweis also, in dem die Existenz Gottes aus dem Begriff „Gott“, aus der Wesensbestimmung Gottes, gefolgert wird, jede Schlüssigkeit abspricht. Und zwar lässt sich für Kant deshalb nicht von dem Wesen eines Dings – hier Gottes – auf dessen Existenz schliessen, weil Existenz grundsätzlich nicht als Bestimmung des Wesens verstanden werden kann, wie er mit dem 100 Taler-Beispiel aufzuzeigen sucht. Was Kant mit dem 100 Taler-Beispiel zu zeigen sucht, nämlich eben, dass sich Existenz nicht als Wesensbestimmung auffassen lässt, ist dasselbe, was Ṭabāṭabāʾī am Beispiel „Essen“ und Muṭahharī bei der Darlegung des Grundgedankens der Lehre Mullā Ṣadrās von der Eigentlichkeit des Seins am Beispiel „Mensch“ ausführt, Beispielen, die mit dem 100 Taler-Beispiel logisch gleichwertig sind. Auch im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins kann Existenz also nicht als Bestimmung des Wesens gelten. Als Folge dieser Auffassung versucht Muṭahharī denn auch im Zuge seiner Erörterung des Kartesianismus die Unhaltbarkeit des ontologischen Gottesbeweises herauszustellen. Sowohl im Lichte der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins als auch des Kritizismus muss der ontologische Gottesbeweis daher als ungültig betrachtet werden. So pflichtet Muṭahharī auch Kants Ablehnung dieses Gottesbeweises in jeder Fassung, in der er von verschiedenen Denkern vorgebracht worden ist, ausdrücklich bei mit den Worten: „Kant hält die Beweisführung jener Gelehrten zurecht für unzulänglich.“⁸⁴² Während der Kritizismus aus der Ungültigkeit des ontologischen Gottesbeweises aber schliesst, dass, wo schon die Existenz Gottes, der höchsten metaphysischen Instanz, nicht beweisbar ist, schlichtweg keiner Aussage über Metaphysisches der Wert philosophischer Erkenntnis zukommt, erweist die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins die Existenz Gottes als der höchsten metaphysischen Instanz als notwendig, indem sie Gott selbst mit Existenz im Sinne des blossen Seins als der notwendigen ontologischen Grundlage
842 M, 1381, V:128.
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der Wirklichkeit gleichsetzt. Und wenn die ontologische Grundlage der Wirklichkeit, das Sein selbst, mit der höchsten Instanz des Metaphysischen, Gott, eins ist, dann muss jede wirklichkeitsgemässe Aussage – wir können auch sagen: jede Erkenntnis – ihre Grundlage und Wahrheitsverbürgung im Metaphysischen und damit letztlich in der höchsten Instanz des Metaphysischen, dem Sein, haben. Erkennen gründet notwendig im Sein – ebenso wie das Erkannte, die Objekte der Erkenntnis, das Seiende. Wenn also das Prinzip, in dem sowohl die Erkenntnis des Subjekts als auch das Objekt der Erkenntnis gründen, eins ist, dann ist entgegen der Lehre Kants die Erkenntnis des Dings an sich grundsätzlich nicht nur für ein Subjekt möglich, bei dem es sich um einen unendlichen Intellekt wie etwa den eines allwissenden Schöpfergottes handelt, in dem Wissen und Schaffen der Dinge eins sind, sondern auch für den Menschen. Legen wir also in Übereinstimmung mit der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz das Sein als höchstes ontologisches und epistemologisches Prinzip zugrunde, so erweist es sich als nicht zwingend, ja, als nicht haltbar, unsere grundlegenden begrifflichen und urteilenden Verstandesgehalte im Subjekt zu verankern, wie es der Kritizismus für notwendig erachtet; als zwingend erweist sich dann vielmehr, sie ausserhalb des Subjekts, aber dort nicht in den Objekten des Physischen, wie der Empirismus es lehrt, sondern im Bereich des Metaphysischen zu gründen. Die Unhaltbarkeit von Kants Auffassung, dass die Gehalte, die er Formen nennt, im Subjekt gegründet seien, bzw. die Notwendigkeit der Lehre, dass sie im Metaphysischen und damit letzten Endes im Sein gegründet sind, versucht Muṭahharī am Beispiel der Kausalität – nach Kant eine der Formen des Denkens und als solche ein „Erzeugnis des Verstandes“ – zu erweisen, indem er sie als selbstwidersprüchlich hinstellt. Um Kants Position in der Frage der Kausalität vorzustellen, führt er dessen eigene Worte an: „Die Beziehung zwischen Ursache und Verursachtem ist ein Erzeugnis unseres Verstandes. Ob es in der Welt der Wirklichkeit ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verursachtem und Ursache gibt, lässt sich nicht erkennen.“⁸⁴³ „Kant“, so der Gelehrte in seiner Widerlegung, „zweifelt einerseits daran, dass in der Welt der aussergeistigen Wirklichkeit ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verursachtem und Ursache besteht; andererseits sagt er: ‚Wenngleich wir die Zuständlichkeiten und Erscheinungen mittels unserer Sinnesorgane wahrnehmen, so wissen wir doch, dass Erscheinen ein Erscheinendes voraussetzt. Es müssen also Substanzen existieren, die an diesen Zuständlichkeiten in Erscheinung treten‘.“⁸⁴⁴ Dann wären also die Substanzen, von denen Kant hier spricht, doch die Ursache für die wahrgenommenen Erscheinungen und damit die Ursache für unsere Wahrnehmungen, und es müsste in 843 M, 1381, I:170. 844 M, 1381, I:171.
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der wahrnehmungsunabhängigen, aussergeistigen Wirklichkeit also doch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verursachtem – eben den Erscheinungen – und einer Ursache – den zugrundeliegenden Substanzen – bestehen. Auf diesen Widerspruch weist Muṭahharī hin, indem er einen Einwand des deutschen Philosophen Schopenhauer (st. 1860) gegen diesen Punkt in Kants Lehre anführt, der da lautet: „Nachdem du“ – Schopenhauer wendet sich rhetorisch an Kant – „auf dem Wege der Kritik klar gemacht hast, dass Ursächlichkeit und Verursachtheit ein Erzeugnis des Geistes sind, mit welcher Begründung urteilst du dann, dass in der Aussenwelt Substanzen existieren, welche die Ursachen dieser Erscheinungen sind?“⁸⁴⁵ An diesen Einwand knüpft Muṭahharī seinerseits mit den Worten an: „Und überhaupt: Wenn jemand Ursächlichkeit und Verursachtheit nur als Erzeugnisse des Geistes anerkennt und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verursachtem und Ursache in der Welt der aussergeistigen Wirklichkeit nicht als notwendig anerkennt, fehlt ihm jede Begründung, mit der er die Existenz einer aussergeistigen Welt, in der die Einwirkungen auf unsere Sinne doch ihren Ursprung haben, bejahen könnte.“⁸⁴⁶ Und im selben Sinne bemerkt er: „Kant geht in den einzelnen Punkten seiner Kritik so weit, dass er die Gültigkeit des Gesetzes von Ursächlichkeit und Verursachtheit in der Aussenwelt in Frage stellt.“⁸⁴⁷ Dabei, so fährt er fort, „[…] laufen das Bezweifeln oder gar die Leugnung der Gültigkeit dieses Gesetzes in der Aussenwelt mit Notwendigkeit auf eine Verneinung der Philosophie und eine Nichtigkeitserklärung sämtlicher Erkenntnisse hinaus und stehen im selben Rang wie die Lehre der Sophisten.“⁸⁴⁸ Gerade die Gültigkeit der Kausalität im Subjekt und nicht im Metaphysischen, letztlich im Sein also, zu gründen, dürfte zudem einem Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins als besonders abwegig erscheinen, begreift diese Lehre doch das Verhältnis zwischen Ursache und Verursachtem als ein rein ontologisches im Sinne der ontologischen Abhängigkeit der jeweils tieferen Seinsstufe in der Seinsordnung von der jeweils höheren. Aufgrund dessen ist es auch nicht deshalb unmöglich, dass ich ein Objekt ohne Kausalität erfahren kann, weil, wie Kant behauptet, die Kausalität als Form in mir, dem Subjekt, selbst gründet, ich sie also von mir aus in jede Erfahrung einbringe, sondern umgekehrt deshalb, weil die Kausalität im Sein gründet, bei welchem es sich seinerseits um die Wirklichkeit des Seienden, des Objekts, handelt, sie also seitens des Objekts in jede Erfahrung eingeht. So billigt der Kritizismus denn weder dem aussersubjektiven Bereich des Physischen noch dem aussersubjektiven Bereich des Metaphysischen einen Wert 845 Ebda. 846 Ebda. 847 M, 1381, I:172. 848 Ebda.
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als Quelle und Gegenstand von Erkenntnis zu. Der einzige Bereich, dem Kant diesen Wert einräumt, ist die Mathematik.⁸⁴⁹ Muṭahharī kommt darauf zu sprechen mit den Worten: „Kant betrachtet die Mathematik als gewissheitswertig. Und zwar beruht ihre Gewissheitswertigkeit gemäss seiner Darlegung darauf, dass die Gegenstände der Mathematik bloss Erzeugnisse des Verstandes und Geistes des Menschen sind (im Unterschied zu den Gegenständen des Physischen oder denjenigen Gegenständen, deren Probleme die erste Philosophie [d. h. die Metaphysik] zu lösen beansprucht). So setzt unser Geist etwa Gehalte wie Kreis, Dreieck, Quadrat und andere und schreibt ihnen bestimmte Eigenschaften zu. Da diese Gegenstände also bloss Erzeugnisse des Verstandes selbst sind, muss jedes Urteil, das unser Geist über sie auch immer abgeben mag, zwangsläufig richtig sein und den Wert von Gewissheit haben.“⁸⁵⁰ Im selben Sinne äussert er sich an anderer Stelle: „Kant […] betrachtet die Mathematik […] als gültig, denn […] weil die Gehalte der Mathematik von den Annahmen unseres Geistes selbst abhängen, sind sie zwangsläufig wahr […].“⁸⁵¹ Muṭahharī geht im selben Zusammenhang auch auf den Unterschied der Lehre Kants in der Frage nach dem Ursprung der Gegenstände der Mathematik gegenüber der Position des Empirismus ein und sagt: „Für Kant hat die Entstehung der mathematischen Begriffe ihren Ursprung in der ‚natürlichen Einrichtung‘ [unseres Verstandes]. Im Unterschied zur Lehre der empirischen Philosophen, für die auch die Begriffe der Mathematik ihren Ursprung im sinnlich Erfahrbaren haben, spricht Kant ihnen einen Ursprung ausserhalb [des Bereichs] der Sinneserfahrung zu.“⁸⁵² „[…] in Kants Überzeugung“, so der Denker an anderer Stelle, „hat die Sinneserfahrung in der Mathematik keinen Einfluss und ist [die Mathematik] rein verstandeseigen.“⁸⁵³ Alles in allem lässt sich für ihn Kants Lehre in der Frage der Mathematik auf die folgenden zwei Punkte bringen: „Zum einen kommt den Grössen, welche die Gegenstände der Mathematik bilden, keine aussergeistige [d. h. objektive] Existenz zu und besteht die einzige Existenz, die ihnen zukommt, im Geiste [d. h. im Subjekt]. Zum anderen entspringen die mathematischen Begriffe unmittelbar der Verstandeskraft und hängen in keiner Hinsicht von der Sinneserfahrung ab.“⁸⁵⁴ Dass Kant der Mathematik den Wert von Gewissheit zuspricht, während er ihn der Erfahrung des Physischen, der Sinneswahrnehmung, abspricht, liegt also einzig daran, dass für ihn im Falle der Mathematik sowohl die Gegenstände –
849 Vgl. M, 1381, I:168; II:29; Brugger, 1963:169 („Kritizismus“). 850 M, 1381, I:168. 851 M, 1381, II:29. 852 M, 1381, I:168. 853 M, 1381, II:29. 854 M, 1381, I:168.
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wir könnten auch sagen: die Materie –, mit denen sie sich befasst, als auch die Art und Weise – wir könnten auch sagen: die Form –, in der sie sich mit diesen befasst, rein innergeistig, d. h. subjektiv, sind, während im Falle der Sinneswahrnehmung die Gegenstände – die Materie –, mit denen sie sich befasst, aussergeistig, d. h. objektiv, die Form – oder besser: die Formen –, in der sie sich mit diesen befasst, aber rein innergeistig, d. h. subjektiv, sind. Nun kann die Wahrheitsbegründung mathematischer Gehalte entgegen der Lehre des Empirismus weder für Muṭahharī als einen Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins noch für Kant in den Objekten des Physischen und der Sinneserfahrung liegen. Entgegen der Lehre des Kritizismus allerdings kann die Wahrheitsverbürgung mathematischer Sätze für Muṭahharī auch wieder nicht im Subjekt gründen. Wie der Gelehrte im Verlauf seiner Besprechung der empirischen Lehre, besonders in seiner Auseinandersetzung mit der von Félicien Challaye vorgebrachten Auffassung über das Verhältnis zwischen dem Syllogismus in der Mathematik und dem philosophischen Syllogismus, zu beweisen sucht, lassen sich die Prinzipien für Erkenntnis in der Mathematik vielmehr ihrerseits letztlich auf die Erkenntnisprinzipien der Philosophie zurückführen. Diese sind aber selbst wieder im Metaphysischen begründet, und folglich liegt auch die Wahrheitsverbürgung der mathematischen Erkenntnis in der Metaphysik und nicht, wie Kant behauptet, im Subjekt. Aus Muṭahharīs Erörterung des Kritizismus ergibt sich, dass Kants Lehre weder gegenüber der Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins, in der sich für die Vertreter derselben die islamische Geistesgeschichte überhaupt vollendet, noch gegenüber Rationalismus und Empirismus, die der Kritizismus miteinander auszugleichen beansprucht, als intellektuell überlegen angesehen werden kann. So muss denn sowohl der Anspruch des Rationalismus als auch der des Empirismus und eben auch der des Kritizismus auf geistige Überlegenheit und Massgeblichkeit als unbegründet erscheinen.
3.2.6 Schopenhauer Wie für Kant, als dessen eigentlichen Erben er sich verstand, sind es auch für Schopenhauer apriorische Formen, welche die Position des Erkenntnissubjekts gegenüber dem Objekt, dem Ding an sich, bestimmen.⁸⁵⁵ Diese Formen, von denen Schopenhauer im Unterschied zu Kant allerdings nur drei gelten lässt, nämlich Zeit, Raum und Kausalität, sind ebenfalls rein subjektiv und verstandes-
855 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:564a) f.
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eigen.⁸⁵⁶ Ebenfalls wie Kant betrachtet auch Schopenhauer des weiteren Mathematik bzw. Geometrie als Disziplin, in der sowohl die Gegenstände, mit denen sie sich befasst, als auch die Art und Weise, in der sie sich mit ihnen befasst, rein innergeistig, d. h. subjektiv, sind. Sie ist für ihn abstrakter Ausdruck der Zeit- und Raumanschauung,⁸⁵⁷ und wenn schon die Formen Zeit und Raum rein subjektiv und verstandeseigen sind, muss es ihr abstrakter Ausdruck erst recht sein. In Analogie dazu deutet Schopenhauer nun aber alle begrifflichen und urteilenden Verstandesgehalte als Ausdrücke des menschlichen Geistes⁸⁵⁸ und daher als bloss denkeigen und subjektiv. Sie sind für ihn lediglich praktische Hilfsmittel, mit denen wir uns in der Erscheinungswelt zurechtfinden,⁸⁵⁹ und somit ohne den Wert theoretischer Gewissheit. Gerade was die Form Kausalität betrifft, weist Schopenhauer zudem darauf hin, dass, wenn Kausalität ein blosses Erzeugnis des Geistes ist, wie Kant dies annimmt, wir keinen Grund zur Gewissheit haben, dass in der Aussenwelt Objekte, „Dinge an sich“, existieren, welche ihrerseits die Ursachen für sinnliche Erfahrung und geistige Erkenntnis des Subjekts sein könnten. Für Schopenhauer ist dieser Widerspruch nur vermeidbar, wenn wir anerkennen, dass Kausalität in der Tat ein blosses Erzeugnis unseres Geistes ist und folglich keine Verbindung zwischen dem Objekt, „dem Ding an sich“, und dem Subjekt auf dem Wege von Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis sein kann. Für einen Realisten im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wie Muṭahharī ergibt sich ein solcher Widerspruch hingegen überhaupt nur dann, wenn wir nicht annehmen, dass in der Aussenwelt in der Tat Objekte, „Dinge an sich“, existieren, welche ihrerseits die Ursachen für Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis des Subjekts sind, und Kausalität folglich nicht ein blosses Erzeugnis des Geistes ist. Das Ding an sich kann Schopenhauer zufolge daher überhaupt nicht Gegenstand geistiger Erkenntnis werden, und so kann es für unseren Geist denn auch keine Verbindung zu jenem Bereich geben, der sowohl ausserhalb des Subjekts als auch ausserhalb der Erscheinungen liegt, kurz: zum Metaphysischen. Entschiedener noch als Kant bestreitet Schopenhauer damit die Möglichkeit, auf dem Wege der Vernunft zu einer begründeten Metaphysik zu gelangen,⁸⁶⁰ und in dieser Hinsicht gilt Schopenhauer für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Idealist, als einer jener Denker also, „[…] die“, wie Ṭabāṭabāʾī sie beschreibt, „nicht an die Wirklichkeit der Welt der aussergeistigen Existenz oder überhaupt an das Prinzip,
856 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:564b. 857 Vgl. ebda. 858 Vgl. ebda. 859 Vgl. ebda. 860 Vgl. ebda.
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dass es eine aussergeistige Wirklichkeit gibt, glauben […].“⁸⁶¹ Muṭahharī begründet seine Beurteilung Schopenhauers als Idealisten mit den Worten: „Schopenhauer gilt in der Hinsicht als Idealist, dass er sämtliche Erkenntnisgehalte [des Verstandes] als wirklichkeitslos betrachtet und dass er die Welt, von der wir mittels Sinneserfahrung, Bewusstsein und Verstandestätigkeit einsehen, dass sie die Welt der Materie ist, für bloss innergeistig und für eine reine Vorstellung hält.“⁸⁶² Muṭahharī beurteilt ihn in dieser Hinsicht sogar als noch idealistischer als Berkeley, und zwar, weil dieser immerhin noch die Existenz des einen aussergeistigen Gegenstandes „Gott“ als Begründer von Wahrnehmung und Bewusstsein anerkennt: „[…] anders als Berkeley“, wie der Gelehrte ausführt, „der [immerhin] die Existenz von Wahrnehmung und Wahrnehmungskraft als wirklich annahm, hält Schopenhauer sogar die Existenz dieser beiden für wirklichkeitslos.“⁸⁶³ Im Gegensatz zu Kant sieht Schopenhauer für die Erkenntnis des Metaphysischen aber doch einen Weg, einen Weg allerdings, der nicht im Geistigen, im Verstand, liegt, sondern der in der Erfahrung, allerdings nur in der Erfahrung eines besonderen Objektes, nämlich des eigenen Körpers, seinen Anfang nimmt.⁸⁶⁴ Dabei besteht für Schopenhauer die Besonderheit des Objektes, das unser Körper ist, gegenüber den Objekten, die nicht unser Körper sind, im Hinblick auf die Erfahrung darin, dass das Objekt, das unser Körper ist, zugleich unser Subjekt, d. h. wir und nichts anderes, ist und alle anderen Objekte nur unsere Objekte sind. Das, was nach Schopenhauer also sowohl zu allem anderen als auch zu sich selbst ein Verhältnis haben kann, ist nicht wie in den vorherrschenden philosophischen Lehren der Geist, der Verstand, das Bewusstsein oder die Vernunftseele, sondern der Körper. In der Erfahrung des eigenen Körpers, eines reinen Sinnenwesens, erfahren wir auf rein sinnlichem Wege, ohne Verstellung durch den Verstand und seine Formen, ein Objekt, das zugleich Subjekt ist.⁸⁶⁵ Zwar erscheint uns auch der Körper im Rahmen der Formen Zeit, Raum und Kausalität.⁸⁶⁶ Aber die Erfahrung des eigenen Körpers zeigt auch, dass unsere Bewegungen Ausdruck des eigenen Willens sind, der bei Schopenhauer zumeist im Sinne von Trieb verstanden wird.⁸⁶⁷ Dieser Wille nun macht für Schopenhauer die Wirklichkeit unseres Körpers aus, die Wirklichkeit des Körpers also, der in der Erfahrung sowohl Subjekt als auch Objekt ist.⁸⁶⁸ Und wenn wir auf rein sinnli861 T, 1381, I:62. 862 M, 1381, I:64. 863 M, 1381, I:64 f. 864 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:564b) f. 865 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:565a. 866 Vgl. ebda. 867 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:565a) f. 868 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:565b.
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chem Weg ohne das Dazwischentreten von Geist und Verstand erfahren können, dass die Wirklichkeit unseres Körpers, desjenigen Körpers, der sowohl Subjekt als auch Objekt der Erfahrung ist, im Willen liegt und dass seine Raumzeitlichkeit und seine Kausalität eben auch nur seine Erscheinung ausmachen, dann muss, so schliesst Schopenhauer, auch die Wirklichkeit derjenigen Körper, die nicht Subjekt, sondern nur Objekt der Erfahrung sind, im Willen liegen.⁸⁶⁹ Die Wirklichkeit, das Ding an sich, besteht für Schopenhauer also im Willen, in einem Weltwillen, genauer gesagt, der den Objekten zugrundeliegt.⁸⁷⁰ Muṭahharī formuliert dies mit den Worten: „[…] Schopenhauer hält [anstelle der Existenz von Verstand und Bewusstsein] etwas [anderes] für die Wirklichkeit, nämlich den ‚Willen‘, und er sagt, dass die Wirklichkeit der Welt der Wille sei und dass der Mensch die Wirklichkeit seiner selbst, die [ebenfalls] im Willen besteht, ohne die Vermittlung von Sinneserfahrung und Verstandeserkenntnis einsieht.“⁸⁷¹ „[Schopenhauer] sagt“, so führt der Gelehrte weiter aus, „dass der Wille als solcher eine absolute und eigenständige Wirklichkeit ausserhalb des Rahmens von Raum und Zeit ist und dass alle Wirklichkeiten der Welt Abstufungen und Ränge des Willens sind.“⁸⁷² Das Prinzip von Wirklichkeit und Ordnung der Aussenwelt selbst ist Schopenhauer zufolge an sich schon nicht geistig und vernünftig, und so kann auch nicht der Geist oder die Vernunft Prinzip und Mittel zu ihrer Erkenntnis sein. Da die Wirklichkeit der Aussenwelt an sich im Willen, einem Trieb, besteht, muss das Prinzip und das Mittel zu ihrer Erkenntnis vielmehr seinerseits in der Triebseele liegen, genauer: in der Sinneserfahrung des eigenen Körpers. In der Tat anerkennt Schopenhauer also sehr wohl die Existenz einer Aussenwelt im Sinne eines erfahrungsunabhängigen Objekts sowie die grundsätzliche Erkenntnisfähigkeit des Subjekts, nur dass beides nicht in einem geistigen, sondern in einem nichtgeistigen Prinzip, dem Willen, gründet, und in dieser Hinsicht muss er auch wieder nicht als Idealist gelten. Muṭahharī trägt diesem Bedenken Rechnung mit der Bemerkung: „Obwohl Schopenhauer also die Welt der ‚Erkenntnisgehalte [des Verstandes]‘ als wirklichkeitslos betrachtet und in dieser Hinsicht als Idealist bezeichnet wird, anerkennt er doch eine wirkliche Welt, die jenseits der Welt der Erkenntnisgehalte [des Verstandes] liegt. Jene Welt lässt sich nicht auf dem Wege von Sinneserfahrung, Bewusstsein und Verstandestätigkeit begreifen. Es handelt sich bei ihr um die Welt des Willens, und in dieser Hinsicht kann Schopenhauer als ‚Realist‘ bezeichnet werden.“⁸⁷³
869 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:565b) f. 870 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:566a. 871 M, 1381, I:65. 872 Ebda. 873 Ebda.
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Vom Standpunkt der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins aus ist jedoch die Frage, ob Schopenhauer im Lichte seiner Lehre – gewissermassen einer Lehre von der Eigentlichkeit des Willens – nun als Idealist oder Realist zu gelten habe, letzten Endes nicht entscheidend. So oder so nämlich kann im Zeichen dieser Lehre der Wille nicht als das Prinzip für Sein und Erkennen schlechthin anerkannt werden. Denn Willen können wir nur entweder als einen geistigen, bewussten Seelengehalt auffassen oder als ein nichtgeistiges, unbewusstes Streben, als welch letzteres ihn Schopenhauer ausschliesslich verstanden wissen will. Aufgefasst nun als etwas Geistiges, Bewusstes, setzt Wille die Bejahung eines Wertes als des Gewollten, des Zieles des Willens, voraus,⁸⁷⁴ Wertbejahung wiederum Werterkenntnis und damit Erkenntnis.⁸⁷⁵ Erkenntnis aber gründet nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, notwendig im Sein, und folglich kann es sich nur beim Sein, nicht beim Willen, um das letztgültige ontologische und epistemologische Prinzip handeln. Und selbst wenn wir in Übereinstimmung mit Schopenhauer Willen als bloss nichtgeistigen, unbewussten Trieb begreifen wollten, so müssten wir das geistige, bewusste Wollen des Menschen und anderer Geistwesen als einen von dessen Rängen und Abstufungen in der Ordnung der Welt betrachten. Das Ungeistige, Unbewusste ist gegenüber dem Geistigen, Bewussten aber als eine niedrigere Stufe in der Weltordnung anzusetzen, und so hätte denn ein Höheres, eben das Geistige, Bewusste, seinen Grund in einem Niederen, nämlich dem Ungeistigen, Unbewussten, was wieder dem Satz vom zureichenden Grunde widerspräche.⁸⁷⁶
3.2.7 Hegel Für Hegel (st. 1831) beruhen Kants Einwände gegen die philosophische Beweisbarkeit und Gewissheitswertigkeit der Aussagen über metaphysische Gehalte im Grunde genommen darauf, dass Kant hinsichtlich der Gehalte des Metaphysischen selbst einer Auffassung verhaftet ist, die der Wirklichkeit derselben nicht gerecht wird.⁸⁷⁷ Wohl stimmt Hegel mit Kant in dem Punkt überein, dass wir die Existenz eines Dings, so auch die Existenz eines Dinges „Gott“, der Instanz des Metaphysischen schlechthin, nicht aus dem Begriff, dem Wesen, desselben beweisen können,⁸⁷⁸ wie die Befürworter des ontologischen Gottesbeweises dies
874 Vgl. Brugger, 1963:384 („Wille“). 875 Vgl. Brugger, 1963:385 („Wille“). 876 Vgl. ebda. 877 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:261a. 878 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:260b) f.
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annehmen. Verstehen wir das Metaphysische schlicht als metaphysische Dinge, als Dinge, die einem Bereich jenseits der physischen Dinge sowie auch des Subjektiven zuzuordnen sind, so lassen sich seine Gehalte in der Tat nicht beweisen und folglich auch dem Philosophieren nicht als Quelle und Gegenstand von Ontologie und Epistemologie zugrundelegen. Aufgefasst als Dinge, kommen die Gehalte des Metaphysischen als aussersubjektive – kurz: objektive – Instanz der Wahrheitsverbürgung nicht in Frage. Daraus schliesst Kant, dass dem Menschen, dem Subjekt, die wirklichkeitsgemässe Erkenntnis des Objekts, des Dings an sich, nicht möglich ist, woraus sich wieder eine Entgegensetzung zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit ergibt. Und genau in diesem Punkt stimmt Hegel mit Kant nun eben nicht überein: Dass metaphysische Begriffe wie etwa Gott keinen metaphysischen Dingen entsprechen, bedeutet für Hegel nicht, dass diese Begriffe nichts Wirkliches im Bereich des Metaphysischen besagen, sondern vielmehr, dass wir uns das Wirkliche bzw. die Wirklichkeit anders denn als Ding zu denken haben.⁸⁷⁹ Bei der Wirklichkeit handelt es sich nicht um ein Ding, sondern vielmehr um die ontologische und epistemologische Grundlage der Dinge, den umfassenden Zusammenhang derselben.⁸⁸⁰ Im Unterschied zu Schopenhauer wiederum, für den sich die Entgegensetzung zwischen Subjekt und Objekt, die sich aus Kants Erkenntnislehre ergibt, überhaupt nur dann vermeiden lässt, wenn wir die Wirklichkeit mit einem nichtgeistigen Prinzip für Sein und Erkennen, dem Willen eben, gleichsetzen, besteht die Wirklichkeit für Hegel in einem durchaus geistigen Prinzip, das er das Absolute⁸⁸¹, die absolute Idee⁸⁸² oder schlicht Geist⁸⁸³ nennt. Dass das Absolute als die Grundlage der Dinge im Sinne von deren Wirklichkeit selbst kein Ding ist, muss aber bedeuten, dass es auch nicht wie ein Ding endlich und begrenzt – statt „begrenzt“ können wir auch sagen „bestimmt“ – ist. Es muss also unendlich und unbegrenzt – unbestimmt – sein. Eben deshalb aber kann das undinghafte Absolute nicht als das Unendliche und Unbestimmte dem dinghaften Endlichen und Bestimmten gegenübergestellt werden.⁸⁸⁴ Denn wäre es bloss die eine Seite in der Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem, Begrenztem und Unbegrenztem, Bestimmtem und Unbestimmtem, so hätte es ja doch eine Grenze, nämlich am Endlichen, und wäre damit selber ein Endliches,
879 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:261a. 880 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:261a, 261b. 881 Vgl. ebda. 882 Vgl. Brugger, 1963:52; M, 1381, IV:71(„mitāl muṭlaq“/“mesāl-e moṭlaq“). 883 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:261a) ff. 884 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:261b.
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Begrenztes und Bestimmtes – kurz: ein Ding.⁸⁸⁵ Das unendliche Unbestimmte kann folglich gerade im Zeichen seiner Unendlichkeit und Unbestimmtheit nicht einfach jenseits des bestimmten Endlichen, der Dinge, stehen – dann hätte es zu ihnen ein bloss transzendentes Verhältnis –, sondern muss auch – aber eben nicht nur – irgendwie in ihnen sein – wäre es nur in ihnen, hätte es zu ihnen ein bloss immanentes Verhältnis.⁸⁸⁶ Hegel entwickelt in seiner Lehre nun eine Begründung und Erklärung für dieses weder bloss transzendente noch rein immanente Verhältnis, welches das unendliche Unbestimmte, das Absolute, mit dem bestimmten Endlichen, den Dingen, ihm zufolge hat, ja: haben muss. Was zunächst einmal den Begriff des Unbestimmten, der Unbestimmtheit, angeht, der dem Absoluten zukommt, so ist er genau die Beschreibung, die sich auch dem Sein beilegen lässt. Auch das Sein ist nicht in dem Sinne, dass es dieses oder jenes bestimmte Seiende ist. Vom Sein selbst gilt einfach, dass es ist im Zeichen seines Status als des blossen Seins. So könnten wir in einem ersten Schritt das Absolute mit dem absoluten, dem blossen Sein als der Grundlage der Dinge im Sinne von deren Wirklichkeit gleichsetzen und in diesem ersten Schritt über das Sein sagen: „Das Sein ist“.⁸⁸⁷ In diesem ersten Schritt also sagen wir über das Sein, das wir mit dem Absoluten gleichsetzen, ein „Ist“-Urteil aus, formulieren wir eine Bejahung. Hegel nennt diesen ersten Schritt These – „Setzung“.⁸⁸⁸ In der Hinsicht jedoch wieder, dass das Sein eben nicht ist in dem Sinne, dass es dieses oder jenes bestimmte Seiende ist – denn sonst wäre es ein Ding –, sondern nur im Sinne blossen, unbestimmten Seins, könnten wir in einem zweiten Schritt über das Sein auch sagen: „Das Sein ist nicht.“ Denn, wie Muṭahharī aus einer Darstellung dieses Punktes von Hegels Lehre zitiert, „[…] ein Sein, das völlig unbestimmt ist und von dem wir nicht sagen können ‚Es ist dieses‘ oder ‚Es ist jenes‘, ist gleich Nichtsein. So ergibt sich denn im Anschluss an die vorige Bejahung mit Notwendigkeit die Verneinung derselben, und wir sagen dann: ‚Das Sein ist nicht‘.“⁸⁸⁹ In diesem zweiten Schritt also sagen wir über das Sein ein „Ist nicht“-Urteil aus, formulieren wir eine Verneinung. Hegel nennt diesen zweiten Schritt Antithese – „Entgegensetzung“.⁸⁹⁰ In dem zweiten 885 Vgl. ebda. 886 Vgl. ebda. 887 M, 1381, IV:77 (Zitat aus Paul Foulquier); vgl. auch Aster, 1998:322 f. 888 Gebräuchliche Entsprechungen bei M/T:“tez“, z. B. M, 1381, IV:70 ff.; „itbāt/esbāt“, z. B. M, 1381, IV:70, T, 1381, IV: 88 ff.; „mawḍū/mowżūʿ“, z. B. M, 1381, IV:70, 77 (Zitat aus Paul Foulquier); „taṣdīq“, z. B. M, 1381, IV:77 (Zitat aus Paul Foulquier); „ḥukm/ḥokm“, z. B. T, 1381, IV:90; „waḍʿ/ vażʿ“, z. B. M, 1381, IV:90 ff.; vgl. auch Aster, 1998:322; Brugger, 1963:52, 54 („Dialektik“). 889 M, 1381, IV:77 (Zitat aus Paul Foulquier). 890 Gebräuchliche Entsprechungen bei M/T:“āntītez“, z. B. M, 1381, IV:70 ff.; „nafy“, z. B. M, 1381, IV:70, 77 (Zitat aus Paul Foulquier); T, 1381, IV: 88 ff.; „ḍidd mawḍūʿ/żedd-e mowżūʿ“, z. B.
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Schritt müssten wir aufgrund der Unbestimmtheit, die sich sowohl dem Absoluten als auch dem Sein beilegen lässt, das Absolute mit dem Nichtsein gleichsetzen. Fassen wir den Befund des ersten und zweiten Schrittes zusammen, so gilt vom Sein sowohl „Es ist“ – so die These – als auch „Es ist nicht“ – dies die Antithese –, und vom Absoluten würde gelten, dass es sowohl gleichbedeutend mit dem Sein als auch mit dem Nichtsein ist. Soweit liegt allerdings ein Widerspruch vor. Dieser Widerspruch zwischen erstem und zweitem Schritt, zwischen These und Antithese, Satz und Gegensatz wird jedoch aufgehoben in einem dritten Schritt, den Hegel Synthese⁸⁹¹ – „Zusammensetzung“ – nennt, einem Schritt, der in der Verneinung der Antithese besteht und, weil in der Antithese selbst eine Verneinung im Sinne eines „Ist nicht“-Urteils vorliegt, eine Verneinung der Verneinung darstellt. Die Aufhebung des Widerspruches zwischen Sein und Nichtsein nun liegt für Hegel im Werden,⁸⁹² besagt Werden doch – und dies nicht erst in Hegels Lehre – den Übergang vom Nichtsein zum Sein.⁸⁹³ Für Werden oder Veränderung tritt in philosophischer Fachsprache oft auch der Ausdruck „Bewegung“ ein, und unter Verwendung desselben bemerkt Muṭahharī in seinen Ausführung über Hegels Lehre: „In der Bewegung vereinigen sich Sein und Nichtsein miteinander. Von etwas, das in Bewegung ist, gilt sowohl, dass es ist, als auch, dass es nicht ist. Mit anderen Worten ist das ‚Werden‘, bei dem es sich um nichts anderes als um die Wirklichkeit der Bewegung handelt, eine Synthese aus Sein und Nichtsein.“⁸⁹⁴ sowie: „[…] ‚Werden‘ ist weder Sein noch Nichtsein, sondern eine Zusammensetzung aus Sein und Nichtsein.“⁸⁹⁵ Das Absolute als die Grundlage der Dinge im Sinne von deren Wirklichkeit besteht nach Hegels Lehre folglich im Werden, die Wirklichkeit selbst ist letztlich Werden,⁸⁹⁶ ein Werden, das im eben beschriebenen Dreischritt von These, Antithese und Synthese alles Wirkliche im Grossen wie im Kleinen als seine Erscheinungen entfaltet und gestaltet.⁸⁹⁷ Diesen Dreischritt im Werdevorgang, der sich als Gespräch – griechisch: „Dialog“, damit verwandt „Dialektik“ – mit Satz, Gegensatz und Vereinbarung
M, 1381, IV:70;“ḍidd ḥukm/żedd-e ḥokm“, z. B. T, 1381, IV:90; „waḍʿ muqābil/vażʿ-e moqābel“, z. B. M, 1381, IV:90 ff.; vgl. auch Aster, 1998:322; Brugger, 1963:52, 54 („Dialektik“). 891 Gebräuchliche Entsprechungen bei M/T:“santez“, z. B. M, 1381, IV:70 ff.; „nafy (dar) nafy“, z. B. M, 1381, IV:70 ff.; „tarkīb“, z. B. M, 1381, IV:70 ff.; T, 1381, IV: 88 ff.;“ḥukm murakkab/ḥokm-e morakkab“, z. B. T, 1381, IV:90; „waḍʿ muǧāmiʿ/vażʿ-e moǧāmeʾ“, z. B. M, 1381, IV:90 ff.; vgl. auch Aster, 1998:322; Brugger, 1963:52, 54 („Dialektik“). 892 Vgl. Brugger, 1963:52 f., 54 („Dialektik“); Aster, 1998:323. 893 Vgl. Brugger, 1963:378 („Werden“). 894 M, 1381, IV:77. 895 M, 1381, IV:78. 896 Vgl. Brugger, 1963:53 („Deutscher Idealismus“),54 („Dialektik“). 897 Vgl. Brugger, 1963:52.
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der beiden Gesprächsbeiträge versinnbildlichen lässt, nennt Hegel dialektisch in Anverwandlung früherer, vor allem antiker Verwendungen dieses Ausdrucks.⁸⁹⁸ Auch Muṭahharī erwähnt das Werden als dialektischen Vorgang in seiner Aufzählung der Grundlagen von Hegels Lehre mit den Worten: „Die Bewegung der Dinge geht aus dem Widerspruch, dem Gegensatz und der Unverträglichkeit, die in denselben besteht, hervor.“⁸⁹⁹ und: „Das Wesen der Bewegung der Dinge besteht aus dem Übergang eines Zustandes in seinen Gegenzustand und der anschliessenden Ausgleichung, Zusammensetzung und Vereinigung der beiden Gegensätze miteinander (der Dreischritt ‚These, Antithese, Synthese‘).“⁹⁰⁰ Weil nun die Wirklichkeit nach Hegels Lehre nicht im Sein besteht, sondern im Werden, deshalb besagt Wirklichkeit nach diesem Verständnis auch nicht eigentlich Wirklichsein, sondern vielmehr Wirklichwerden, Verwirklichung.⁹⁰¹ Verwirklichung wiederum bedeutet, dass etwas sein Selbst entwickelt – gleichsam entfaltet, was im Keim in ihm angelegt ist.⁹⁰² Verwirklichung ist damit in jedem Fall Selbstverwirklichung.⁹⁰³ Dass etwas sein Selbst verwirklicht, setzt seinerseits aber ein Selbst, ein Subjekt, voraus.⁹⁰⁴ Wenn aber Wirklichkeit im Grunde heisst, dass etwas sein Selbst verwirklicht, dann bedeutet dies nach Hegel letztlich, dass es sich zu sich selbst verhält.⁹⁰⁵ Und weil die Wirklichkeit, das Absolute, geistig ist, ja, mit Geist schlechthin in eins zu setzen ist, deshalb besteht dieses Selbstverhältnis im Falle des Absoluten in einem geistigen Selbstverhältnis. Geistiges Selbstverhältnis, geistige Selbstbeziehung, aber ist nichts anderes als Selbstbewusstsein.⁹⁰⁶ Der Geist als das Absolute verwirklicht sich in seinem Werden, das im Dreischritt von These, Antithese und Synthese alles Wirkliche im Grossen wie im Kleinen als seine Erscheinungen entfaltet und gestaltet, im Selbstbewusstsein oder genauer vielleicht: in der Selbstbewusstwerdung. Und dasjenige Wirkliche unter all dem Wirklichen, in dem der Geist letztlich zum Bewusstsein seiner selbst kommt, ist eben jenes eine Wirkliche, das der Geist in seinem Werdevorgang unter allem Wirklichen selbst als seine geistige Erscheinung entfaltet, nämlich der Menschengeist.⁹⁰⁷ Derselbe Dreischritt in der Entfaltung und Verwirklichung des Absoluten, der ontologischen und epistemologi898 Vgl. Brugger, 1963:54 („Dialektik“); M, 1381, IV:75 f. 899 M, 1381, IV:75. 900 Ebda. 901 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:263b. 902 Vgl. ebda. 903 Vgl. ebda. 904 Vgl. ebda. 905 Vgl. ebda. 906 Vgl. ebda. 907 Vgl. Brugger, 1963:53 („Deutscher Idealismus“).
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schen Grundlage des Wirklichen, der im Zeichen der Ontologie „Sein, Nichtsein, Werden“ lautet, lautet im Zeichen der Epistemologie wie folgt: Der Geist besteht in einem ersten Schritt als beziehungsloses Bewusstsein, beziehungslos in dem Sinne, dass er mit nichts eine Erkenntnisbeziehung entwickelt hat.⁹⁰⁸ In einem zweiten Schritt entwickelt er eine Erkenntnisbeziehung. Damit tritt er im Erkennen des Anderen, des ihm vorerst Fremden, des Objekts, aus sich heraus und wird damit selbst ein Anderer⁹⁰⁹ – die Hegelsche Anverwandlung jenes wirkmächtigen Gedankens des Aristoteles, dass der Geist, wenn er sich in der Erkenntnis über sich selbst hinaus weitet, in gewisser Weise alles wird, indem er das Andere in sich widerspiegelt.⁹¹⁰ Eben diese Weitung des Geistes über sich selbst hinaus ist in Hegels Lehre im Zeichen der Ontologie gleichbedeutend mit dem Werden. Gleich wie der Geist nun aber das Andere in sich widerspiegelt, sieht er auch sich selbst – dies der dritte Schritt – in dem Anderen widergespiegelt⁹¹¹ und hat damit eine Erkenntnisbeziehung mit sich selbst entwickelt – mit anderen Worten: ein Selbstbewusstsein. Kürzer könnten wir dieselben drei Schritte im Werdegang des Absoluten, die, ontologisch gesprochen, „Sein, Nichtsein, Werden“ heissen, epistemologisch „Beziehungslosigkeit, Fremdbezogenheit, Selbstbeziehung“ nennen. Aufgrund dieser Überlegung beansprucht Hegel, die Entgegensetzung zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit überwunden zu haben, jene Entgegensetzung, die er gerade an Kants Kritizismus bemängelt: Denken bzw. Bewusstsein und Wirklichkeit – letztere für Hegel das Werden im Zeichen des Geistes – befinden sich nicht in Gegenüberstellung zueinander.⁹¹² Weder steht die Wirklichkeit – aufgefasst etwa, wie von Kant, als das „Ding an sich“ – auf der einen Seite und das Denken, das Bewusstsein, auf der anderen Seite, gleichsam ausserhalb der Wirklichkeit und mehr oder weniger ohne Verbindung mit ihr. Noch steht das Denken, das Subjekt, gewissermassen innerhalb der Wirklichkeit als die eine Seite derselben, wobei es sich bei der anderen Seite derselben um das Objekt handelt. Vielmehr sind in Hegels Lehre das Ontologische und das Epistemologische gleichbedeutend, indem in ihr im Zeichen des Werdens als des Grundes des Wirklichen Selbstverwirklichung und Selbstbewusstwerdung und folglich Wirklichkeit und Bewusstsein eins sind. Diese Bedeutung des dialektischen Vorgangs des Werdens in Hegels Lehre vermerkt auch Muṭahharī mit den Worten: „Aus der Sicht Hegels handelt es sich bei Dialektik um einen Vorgang,
908 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:262a. 909 Vgl. ebda.f. 910 Vgl. Brugger, 1963:75 („Erkenntnis“). 911 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:262b. 912 Vgl. Hügli/Lübcke, 2005:263b) f.
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der das gesamte Sein umfasst: Sowohl der Verlauf des Denkens als auch der Gang der Natur sind dialektisch.“⁹¹³ und, im selben Sinne: „Die Dialektik Hegels ist ebenso eine philosophische wie eine logische Lehre. Das heisst, ebenso wie sie das Wesen und die Wirklichkeit der Dinge erklärt und beschreibt, formuliert sie das Gesetz des Denkens. Hegel ist überzeugt, dass alles, was Geist ist, Wirklichkeit ist und dass alles, was Wirklichkeit ist, Geist ist; er glaubt also an eine Art Übereinstimmung zwischen Geist und Wirklichkeit.“⁹¹⁴ Auch in Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, handelt es sich bei der Wirklichkeit nicht um ein Ding, sondern vielmehr um den Seins- und Erkenntnisgrund der Dinge selbst. Auch in der Lehre, der sie folgen, gilt die Wirklichkeit als geistiges Prinzip, gegründet im Metaphysischen, und ebenso im Metaphysischen gründet daher die Verbürgung der Wahrheit als der Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit. Desgleichen lässt sich auch in ihrer Lehre das Verhältnis, das dieses Prinzip mit dem, dessen Prinzip es ist, hat, ja: haben muss, weder als bloss transzendent noch als rein immanent beschreiben.⁹¹⁵ Anders jedoch als nach Hegels Lehre gründet nach Mullā Ṣadrās theosophischem System die Wirklichkeit nicht im Werden, sondern im Sein. Dass als Grundlage der Wirklichkeit nicht das Werden, sondern nur das Sein in Frage kommen kann, ist denn auch der Ausgangspunkt für Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Einwände gegen Hegels Philosophie. So macht etwa Muṭahharī grundsätzlich geltend, dass das „Ist nicht“, das Negative, Nichtseiende, in der aussergeistigen Wirklichkeit nicht existiert. Im Zeichen dieser Auffassung bedeutet auch Nichtsein eigentlich nichts anderes als die Verneinung des Urteils, dass einem Seienden aussergeistige Wirklichkeit, d. h. Existenz, zukomme,⁹¹⁶ und besagt eben nicht, dass in der aussergeistigen Wirklichkeit neben allem Seienden auch Nichtseiendes existiere.⁹¹⁷ Diese Bewandtnis des „Ist nicht“ und damit des Nichtseins und der Verneinung legen er und Ṭabāṭabāʾī auch im Zuge ihrer Ausführungen über die Bildung der grundlegenden Gehalte unseres Begriffswissens Existenz und Einheit dar, und Muṭahharī kommt im Laufe seiner Beweisführung gegen Hegels Lehre vom Werden als der Grundlage des Wirklichen im Zeichen des dialektischen Dreischritts von These, Antithese und Synthese noch einmal ausführlich darauf zurück.⁹¹⁸ Denn ein „Ist 913 M, 1381, IV:68. 914 M, 1381, IV:70 f. 915 Weitergehende Vergleiche zwischen Hegels und Mullā Ṣadrās Philosophie finden sich bei Kamal, 2006:64 ff., 82 f., allerdings mit Ergebnissen und im Zeichen von Erklärungsanliegen, die von denen dieser Arbeit zum Teil abweichen. 916 M, 1381, IV:78 f. 917 Ebda. 918 M, 1381, IV:78 ff.
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nicht“, eine Verneinung also, ein Nichtsein, begegnet uns in Hegels Lehre zum einen in der Antithese, dem Gegensatz zur Bejahung in der These, im Rahmen eben jenes dialektischen Dreischritts des Werdens sowie ferner in der Synthese, dort gleich in der Verdoppelung, als Verneinung der Verneinung und als deren Aufhebung nämlich. Wenn aber das „Ist nicht“, das Nichtseiende, und damit das Nichtsein selbst als Gehalt der aussergeistigen Wirklichkeit nicht existiert, dann kann es auch nicht als Gegensatz – als Antithese – zum „Ist“, der Bejahung, und damit dem Sein – der These – existieren, mit welch letzterem es sich in einem weiteren Schritt, in dem die Verneinung, die Antithese, wieder verneint wird, zum Werden – der Synthese – vereinigen könnte.⁹¹⁹ Dieses Verständnis Hegels vom Nichtsein stellt in gewissem Sinne eine weitere Wiederholung der fehlenden Unterscheidung zwischen Ding und Begriff oder – genauer – zwischen Aussergeistigem und Innergeistigem, ontologischen und epistemologischen Gehalten in der abendländischen Geistesgeschichte dar. So behandelt Hegel das Nichtsein, bei dem es sich für Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī doch überhaupt nur um einen begrifflichen Gegensatz, einen Gegenbegriff eben, zum Sein als der denkunabhängigen Wirklichkeit handeln kann, gerade so, als handle es sich dabei um das aussergeistig wirkliche Gegenteil zum Sein. Beidem, Sein wie Nichtsein, kommt in Hegels Auffassung ein und derselbe Wirklichkeitsstatus zu. Diese Gleichsetzung zwischen innergeistigem Begriff und aussergeistig Wirklichem, wie sie uns hier am Beispiel Nichtsein und Sein begegnet, steht aber selbst wieder im Zusammenhang seiner Lehre als ganzer, in der ontologische und epistemologische Gehalte schlechthin miteinander gleichgesetzt werden. Für Hegel verbürgt eben dieses Einssein von Ontologischem und Epistemologischem die Wirklichkeitsbezogenheit – den Realismus – der Erkenntnis unseres Geistes. Für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Anhänger des gemässigten Realismus im Sinne der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz hingegen liegt die Gewähr für die Wirklichkeitsbezogenheit unseres Erkennens nicht darin, dass Ontologisches und Epistemologisches selbst eins wären, sondern darin, dass die Grundlage für Ontologie und Epistemologie ein und dieselbe ist, nämlich das Sein. Des weiteren lässt Muṭahharī Bedenken in bezug auf Hegels Gleichsetzung des unbestimmten Seins mit Nichtsein anklingen. So hält er im Anschluss an sein Zitat aus einer Darstellung des dialektischen Dreischrittes von These, Antithese und Synthese im Falle des Seins in Hegels Lehre fest: „Vorerst […] wollen wir auf die Bemerkung [in dem betreffenden Zitat], dass ‚ein Sein, das völlig unbestimmt ist und von dem wir nicht sagen können ‚Es ist dieses‘ oder ‚Es ist jenes‘, gleich
919 Vgl. M, 1381, IV:81.
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Nichtsein ist‘, nicht eingehen.“⁹²⁰ Welches diese Bedenken sein könnten, die den Gelehrten ja überhaupt erst dazu veranlasst haben, eine solche Äusserung zu tun, ist in Anbetracht der Zugehörigkeit desselben zur philosophischen Schule von der Eigentlichkeit des Seins unschwer zu ersehen. Im Lichte dieser Lehre kann das völlig unbestimmte Sein keinesfalls mit Nichtsein gleichgesetzt werden. Das unbestimmte Sein, von dem wir nicht sagen können „Es ist dieses“ oder „Es ist jenes“, ist nach dieser Lehre vielmehr gleich dem blossen Sein, dem Sein unter Absehung von allen Abstufungen der Seinsordnung, gleichsam das Licht unter Absehung von allen Abstufungen der Lichtstärke. Im Zeichen derselben Lehre ist demgegenüber das bestimmte Sein, das Sein, von dem wir sagen können „Es ist dieses“ oder „Es ist jenes“, nichts anderes als das Sein unter Ansehung der Abstufungen der Seinsordnung, das sogenannte entfaltete Sein. Bei dem, was Hegel bei der Darlegung der dialektischen Bewegung des Seins als These ansetzt, handelt es sich im Lichte der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, um das entfaltete Sein, und bei dem, was er als Antithese annimmt, um das blosse Sein. Aus Sicht eben dieser Lehre ist das entfaltete Sein, da das Sein in ihr die Grundlage der Wirklichkeit des Seienden ist, aber gleichbedeutend mit dem Seienden. Nicht mit dem Unterschied zwischen Sein und Nichtsein haben wir es in dem Verhältnis zwischen These und Antithese in Hegels dialektischer Bewegung des Seins demnach also zu tun, sondern mit dem Unterschied zwischen dem Seienden und dem Sein. Dieselben Einwände gegen Hegels Verständnis von Nichtsein und dessen Verhältnis zum Sein, die Muṭahharī formuliert, liegen auch den Überlegungen zugrunde, mit denen Ṭabāṭabāʾī Hegels Auffassung vom Werden als einem Dreischritt von These, Antithese und Synthese als unhaltbar zu erweisen sucht. Ṭabāṭabāʾī formuliert seine Wiederlegung am Beispiel der Entwicklung eines Hühnerembryos zum Huhn, einer Entwicklung, zu deren Vollzug die Stufen „Ei“, „Kücken“ und „Huhn“ gehören. Fassen wir die Entwicklung vom Hühnerembryo zum Huhn als einen dialektischen Werdevorgang nach dem Verständnis Hegels auf, so würde es sich bei der Stufe „Ei“ um die These, bei der Stufe „Kücken“ um die Antithese und bei der Stufe „Huhn“ um die Synthese handeln. Die These ihrerseits besagt ein „Ist“, beinhaltet also eine Bejahung, die Antithese ein „Ist nicht“, beinhaltet also eine Verneinung, die Verneinung der These eben, und die Synthese schliesslich verneint wiederum die Verneinung, die in der Antithese vorliegt, und besteht also in einer Verneinung der Verneinung. In Anwendung auf das Ei-Kücken-Huhn-Beispiel legt Ṭabāṭabāʾī dies wie folgt dar: „Wenn wir also das Ei als den Ausgangspunkt zugrundelegen, dann handelt es sich bei dem
920 M, 1381, IV:77.
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Ei um eine Bejahung. Im zweiten Moment liegt sodann das Kücken vor und verneint das Ei, und im dritten Moment wird das Kücken verneint, indem das Huhn selbst entsteht, welches seinerseits die Verneinung der Verneinung des Eis sowie die Verneinung des Kückens ist.“⁹²¹ Und anhand desselben Beispiels legt der Gelehrte auch seine betreffenden Einwände dar: „Wenn wir nun die drei Schritte ‚Bejahung, Verneinung, Verneinung der Verneinung‘ [im Beispiel: Ei, Kücken, Huhn] betrachten und gegen die aussergeistige Wirklichkeit halten, finden wir als Entsprechung zu allen drei Schritten in der aussergeistigen Wirklichkeit jeweils nur eine Bejahung [d. h. ein ‚Ist‘]. Als Entsprechung zur Verneinung [des Eis in dem Schritt ‚Kücken‘, der Antithese] etwa finden wir ein Kücken, nicht die Verneinung des Eis.“⁹²² Denn der Verneinung und damit dem Nichtsein kommt nach der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī vertritt, keine aussergeistige Wirklichkeit zu, ein Verständnis von Nichtsein, auf das der Denker im Anschluss an seine vorige Bemerkung noch einmal eigens hinweist mit den Worten: „[…] bei Nichtsein und Verneinung handelt es sich um einen Gehalt, den unser Denken geschaffen hat […].“⁹²³ Was in der denkunabhängigen Wirklichkeit auf der Stufe der Antithese vorliegt, ist also nicht das Nichtsein des Eis, sondern das Sein des Kückens. Der Antithese als einer Verneinung, einem Nichtsein, kommt somit selbst nur der Status eines Denkgehaltes, nicht der einer aussergeistigen Wirklichkeit zu und folglich auch nicht der einer aussergeistigen Wirklichkeit im Sinne eines Schrittes auf dem Wege des Werdens. Im selben Sinne äussert sich auch Muṭahharī in einer Anmerkung zu Ṭabāṭabāʾīs Überlegungen: „Der Einwand [Ṭabāṭabāʾīs] beruht letztlich darauf, dass es sich bei Verneinung und Nichtsein um eine Betrachtung seitens unseres Geistes handelt, nicht um eine aussergeistige Wirklichkeit. Was sich der Betrachtung durch unseren Geist daher im zweiten Schritt [der Antithese] als Nichtsein darstellt, ist an sich eine Bejahung [bzw. ein ‚Ist‘] […].“⁹²⁴ Das Nichtsein, da selbst ohne ontologischen Status in der Aussenwelt, kann schlechthin nicht die ontologische Grundlage irgendeiner aussergeistigen Wirklichkeit sein, so auch nicht der aussergeistigen Wirklichkeit des Werdens. Wenn das Nichtsein dafür aber nicht in Frage kommt und es sich beim Werden selbst, wie Muṭahharī gegen Hegel nachweist, auch nicht um die Grundlage der Wirklichkeit handeln kann, dann kommt als die ontologische Grundlage der Wirklichkeit, so auch der Wirklichkeit des Werdens, nur das Sein in Frage. Und was im Zeichen der Lehre, auf die sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī berufen, schon von der Antithese, der einfachen Verneinung, gilt, muss von der Synthese, die in einer doppelten 921 T, 1381, IV:89. 922 T, 1381, IV:92. 923 Ebda. 924 M, 1381, IV:93.
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Verneinung besteht, erst recht gelten. Da es sich bei Verneinung und Nichtsein nicht um eine aussergeistige Wirklichkeit handelt, ist auch die Notwendigkeit der Annahme einer Synthese in der Bedeutung einer doppelten Verneinung, welche die einfache Verneinung der Antithese wieder aufheben soll, unbegründet. „[…] im Rahmen des aussergeistig Wirklichen“, wie Muṭahharī es ausdrückt, „gibt es nichts als aufeinanderfolgende Bejahungen. Das Nichtsein ist kein Moment der aussergeistigen Wirklichkeit, von dem sich annehmen liesse, dass eine Wirklichkeit sich in es wandle oder dass aus der Zusammensetzung [d. h. der Synthese] desselben mit etwas anderem eine Wahrheit oder Wirklichkeit gebildet werde.“⁹²⁵ Vielmehr bedeutet im Lichte der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī vertreten, schon der zweite Schritt auf dem Weg des Werdens gegenüber dem ersten einen Zuwachs an Vollkommenheit, nicht erst der dritte: „Vervollkommnung“, so Muṭahharī, „hängt für ihre Verwirklichung nicht davon ab, dass alle drei Stufen durchlaufen werden. Vielmehr stellt sich die Wirklichkeit der Vervollkommnung schon mit der Verwirklichung der zweiten Stufe ein, und die dritte Stufe ist die zweite Stufe [auf dem Weg] der Vervollkommnung.“⁹²⁶ Und Ṭabāṭabāʾī legt denselben Gedanken anhand des Ei-Kücken-Huhn-Beispiels wie folgt dar: „[…] das Kücken […] ist selbst die Vervollkommnung des Eis, und so ist das Ei für seine [Entwicklung auf dem Weg der] Vervollkommnung nicht auf das Hinzukommen [der Entwicklungsstufe] des Huhns angewiesen. Vielmehr ist das Huhn im Verhältnis zum Ei eine weitere Stufe der Vervollkommnung [zusätzlich zu der des Kückens].“⁹²⁷ Die Wirklichkeit des Werdens setzt als ihre Grundlage eben ihrerseits das Sein voraus,⁹²⁸ und so durchläuft das Werdende im Werden denn auch nicht eine Schrittfolge, in der Bejahung und Verneinung, Sein und Nichtsein, einander abwechseln, sondern jeder Schritt auf dem Weg des Werdens besteht in einer Bejahung, in einem „Ist“. Mit dem Sein als der Grundlage des Werdens bleibt auch bei jedem Schritt die Selbigkeit des Werdenden inmitten aller Änderungen gewahrt. Dies ist aber genau der Gedanke, welcher der Lehre von der substantiellen Bewegung oder Veränderung aus Mullā Ṣadrās Philosophie zugrundeliegt, und im Zeichen dieser Lehre vom Werden stehen letzten Endes auch die Einwände Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs gegen Hegels Auffassung des Werdens als eines dialektischen Vorgangs.
925 Ebda.f. 926 M, 1381, IV:94. 927 T, 1381, IV:94. 928 Vgl. auch Brugger, 1963:378 („Werden“).
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3.2.8 Die „modernen Dialektiker“ Dabei gehen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī auch auf den Unterschied ein, der zwischen Bedeutung und Verwendung des Ausdrucks Dialektik in den philosophischen Richtungen vor Hegel auf der einen und in Hegels eigener sowie in den von ihm beeinflussten Lehren auf der anderen Seite besteht. Und zwar folgen die beiden Gelehrten einer Unterteilung in eine alte und eine neue Dialektik, wobei als Begründer dieser neuen Dialektik eben Hegel gilt.⁹²⁹ Was wiederum die sogenannte alte Dialektik betrifft, so bezieht sich Muṭahharī auf eine Unterscheidung zwischen zwei Richtungen derselben, eine Unterscheidung, die er wie folgt darlegt: „Es heisst, dass dieses Wort vor dem Zeitalter von Sokrates und Platon für Beweisverfahren verwendet wurde, bei denen es darum ging, die Gründe des Gegners als ungültig zu erweisen […], und nicht darum, nach dem Erkennen der Wahrheit zu streben. Die Sophisten verwendeten es gar im Sinne von ‚Kunst der Beredtsamkeit und des Streitgesprächs, die mit Wahrheit nichts zu tun hat und bei der es darum geht, sich am Ende als der Überlegene zu erweisen.‘ In seiner Verwendung bei Sokrates und Platon aber nahm dieser Ausdruck eine Bedeutung an, die sich [nicht auf das Widerlegen gegnerischer, sondern] auf das Aufstellen eigener Beweise bezieht. Sokrates und Platon nannten die Wege ihres eigenen Denk- und Verstandesverfahrens – bei denen es um die Erschliessung der Wahrheit und die Gewinnung von Gewissheit ging, nicht bloss um die Widerlegung und das Besiegen des Gegners – ‚dialektisch‘. Aristoteles jedoch verwendete das Wort ‚Dialektik‘ abermals im Sinne von ‚Disputation‘, bei der es um den Sieg über den Gegner geht, und gebrauchte für die Demonstration, bei der es um die Erschliessung der Wahrheit und die Erlangung von Gewissheit geht, den Ausdruck ‚Analyse‘ […]. Von Aristoteles an bis zum neunzehnten Jahrhundert ist dieses Wort mal in Anlehnung an Aristoteles’ Sprachgebrauch, mal in allgemeinerer Bedeutung, welche auch die Methoden für die Entwicklung eigener Beweise [und nicht nur die Widerlegung der gegnerischen] und für die Demonstration umfasst, benutzt worden […].“⁹³⁰ Gegenüber all den hier beschriebenen dialektischen Verfahren besteht das Neue in Hegels Dialektik darin, dass sich in dem dialektischen Dreischritt des Werdens, der Grundlage der Wirklichkeit, eine Vereinigung des Gegensatzpaares „These – Antithese“ in der Synthese vollzieht, was sich, wörtlich verstanden, als ein Verstoss gegen das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch auslegen liesse,⁹³¹ während sich in den Strömungen der alten Dialektik keine Position ausmachen lässt, der die Preisgabe dieses Prinzips 929 Vgl. M, 1381, IV:67 ff. 930 M, 1381, IV:68. 931 Vgl. ebda.
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unterstellt werden könnte. Muṭahharī bemerkt hierzu: „[…] bis zur Zeit Hegels […] war mit dem Wort ‚Dialektik‘ nicht die Vereinigung der Gegensätze oder Widersprüche gemeint, und das Prinzip des ‚ausgeschlossenen Widerspruchs und Gegensatzes‘ war anerkannt und wurde nicht in Frage gestellt. Hegel in seiner Begrifflichkeit nun führte in den Ausdruck Dialektik den ‚Widerspruch‘ ein. Für Hegel ist der Widerspruch eine grundlegende Bedingung des Denkens und des Seienden. Die Dialektik ist für Hegel ein Vorgang, der das ganze Sein umfasst […], und der Widerspruch ist eine grundlegende Bedingung dieses Vorgangs. Dadurch gewann die Dialektik eine neue Bedeutung. So lässt sich die Entwicklungsgeschichte der Dialektik in eine neue und eine alte [Dialektik] unterteilen, und das Unterscheidungsmerkmal dieser beiden Epochen besteht in der Anerkennung bzw. der Ablehnung des [Prinzips des] ausgeschlossenen Widerspruchs […].“⁹³² Und im selben Zusammenhang führt der Gelehrte an: „Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Dialektik liegt in ihrer jeweiligen Position gegenüber dem Prinzip ‚des ausgeschlossenen Widerspruchs‘. Im Rahmen der alten Dialektik handelt es sich bei dem Prinzip ‚des ausgeschlossenen Widerspruches‘ um ein absolutes Gesetz für das Seiende und das Denken. […] Die neue Dialektik hingegen nimmt eine Gegensätzlichkeit in den Dingen selbst an und behauptet, dass die Dinge sowohl seien als auch nicht seien. Diese Gegensätzlichkeit betrachtet sie als den Urgrund für das Wirken des Seienden, und sie behauptet, dass, wenn es diese Gegensätzlichkeit nicht gäbe, die Dinge in Ruhe und ohne Bewegung bleiben würden.“⁹³³ Allerdings würden sich die neuen Dialektiker, wenn wir denn ihre Behauptung von der Vereinigung der Gegensätze wörtlich nehmen dürfen, damit auch der Begründung für die Gültigkeit ihrer eigenen Lehre berauben. Auch über diese liesse sich dann nämlich sagen, dass sie sowohl gelte als auch nicht gelte, sowohl wahr als auch unwahr, sowohl richtig als auch falsch sei. Wieder erweist sich, „dass“, so Muṭahharī, „dieses Prinzip [d. h. das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch] die grundlegende Stütze und Regel aller Erkenntnisgehalte und Gedanken des Menschen ist und dass es sich in keiner Hinsicht bezweifeln oder bestreiten lässt.“⁹³⁴ In Wahrheit aber hat das, was in der Fachsprache der neuen Dialektik unter dem Schlagwort „Vereinigung der Gegensätze“ bekannt geworden ist, mit der Vereinigung der Gegensätze, die nach der alten Dialektik als Verstoss gegen das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch gilt, nur den Namen gemein. „Das, was von den neuen Dialektikern als ‚Vereinigung der Gegensätze‘ oder ‚Vereinigung der Widersprüche‘ bezeichnet wird“, wie 932 Ebda. 933 M, 1381, IV:69. 934 M, 1381, IV:76 f.
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Muṭahharī bemerkt, „ist etwas anderes als das, was Philosophie und Logik seit alters her mit diesem Ausdruck bezeichnen und als seins- und denkunmöglich auffassen.“⁹³⁵ Muṭahharī zufolge ist dies den neuen Dialektikern übrigens auch sehr wohl bewusst, und nicht aus philosophischen Gründen, sondern aus reiner Aufmerksamkeitshascherei heften sie ihren Lehren den Namen „Vereinigung der Gegensätze“ an. „In Wahrheit“, so der Gelehrte, „hat […] blosse Neuerungssucht manche Denker“ – gemeint sind die neuen Dialektiker – „dazu gebracht, vorzugeben, sie bestritten das Prinzip vom ‚ausgeschlossenen Widerspruch‘, und darauf unter diesem Namen [d. h. der Vereinigung der Gegensätze] Lehrgehalte vorzubringen, die vom Prinzip des ‚ausgeschlossenen Widerspruchs‘ meilenweit entfernt sind.“⁹³⁶ So kann etwa die Lehre der neuen Dialektiker von der Vereinigung des Seins – der These – und des Nichtseins – der Antithese – zum Werden – der Synthese – keine Vereinigung von Gegensätzen darstellen, weil dem Sein und dem Nichtsein nicht derselbe ontologische Status zukommt.
3.2.8.1 Der dialektische Materialismus Zu den neuen Dialektikern zählen auch die Vertreter des dialektischen Materialismus, einer Umbildung von Hegels Lehre, als deren Urheber Muṭahharī Karl Marx (st. 1883) und Friedrich Engels (st. 1895) nennt.⁹³⁷ „Karl Marx“, so führt der Gelehrte aus, „welcher als der eigentliche Begründer des dialektischen Materialismus gilt, war für kurze Zeit Schüler Hegels […] und lernte von diesem die dialektische Logik.“⁹³⁸ Und an anderer Stelle erklärt er genauer: „Karl Marx hat die dialektischen Prinzipien Hegels in Form des Dreischrittes von ‚Bejahung [d. h. These]‘, ‚Verneinung [d. h. Antithese]‘ und ‚Verneinung mal Verneinung [d. h. Synthese]‘ übernommen […].“⁹³⁹
Die Stellung von Hegels Dialektik in der Lehre des dialektischen Materialismus Auch für Marx also bildet die Dialektik der Schrittfolge von These, Antithese und Synthese die Grundlage von Epistemologie und Ontologie, und in dieser Hinsicht handelt es sich bei ihm um einen der neuen Dialektiker. Allerdings sieht Marx selber zwischen seiner Dialektik und derjenigen Hegels einen Unterschied, den er an einer Stelle aus dem Vorwort seines Hauptwerks „Das Kapital“, die Muṭahharī
935 M, 1381, IV:77. 936 Ebda. 937 Vgl. M, 1381, I:28. 938 Ebda. 939 M, 1381, IV:71.
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zitiert, wie folgt darlegt: „Meine eigene dialektische Methode unterscheidet sich in ihren Grundlagen nicht nur von derjenigen Hegels, sondern ist zuweilen gar das genaue Gegenteil derselben. Nach Hegels Überzeugung ist die Welt des Denkens, die im Zeichen der Idee zu einer unabhängigen Welt wird, die Erschafferin der Wirklichkeit, während die Wirklichkeit nur die äussere Erscheinung des Denkens ist. Nach meiner Überzeugung jedoch ist die Welt des Denkens der Ausdruck der materiellen Welt im Bewusstsein des Menschen… Ungeachtet dieses Irrtums, in den Hegel geraten ist, ist Hegel der erste Philosoph, der die Dialektik vollständig und mit tiefer Einsicht formuliert hat. Er hat verschiedene Arten von Bewegung und Entwicklung dargelegt, hat diese Bewegung aber umgekehrt, und wir müssen, um den wirklichkeits- und vernunftgemässen Kern derselben zu entdecken, Hegels Philosophie auf den Kopf stellen.“⁹⁴⁰ Gegen diese Darstellung wendet Muṭahharī ein: „Sosehr Marx und seine Anhänger auch behaupten, dass sich Marx’ Dialektik von derjenigen Hegels unterscheide und das genaue Gegenteil derselben sei, erweist sich bei eingehender Betrachtung, dass sich Marx’ Dialektik von derjenigen Hegels in nichts unterscheidet […]. Was Hegel ‚Dialektik‘ nennt, ist nichts anderes als die Bewegung der Dinge in Denken und Wirklichkeit gemäss dem Dreischritt ‚These‘, ‚Antithese‘ und ‚Synthese‘ […].“⁹⁴¹ Genau das meinen aber auch Marx und seine Anhänger mit Dialektik. Freilich vertreten die dialektischen Materialisten ebenso wie alle anderen Materialisten die Lehre von der Eigentlichkeit der Materie, während für Hegel die Eigentlichkeit dem Geist, der Idee, zukommt. „Aber“, so Muṭahharī, „[…] ob die Eigentlichkeit der Materie zukommt oder etwas anderem, berührt nicht die Frage nach Hegels Verständnis von Dialektik.“⁹⁴² Für Hegel, dem zufolge die Grundlage der Wirklichkeit im Geist besteht, genauso wie für Marx und dessen Anhänger, für die sie in der Materie liegt, vollzieht sich jegliches Werden in derselben Schrittfolge von These, Antithese und Synthese.
Das Prinzip von der Eigentlichkeit der Materie in Sein und Erkennen nach der Lehre des dialektischen Materialismus So stellt der dialektische Materialismus denn entgegen der Behauptung seiner Vertreter nicht die Dialektik Hegels auf den Kopf; vielmehr unterscheidet er sich von Hegels Lehre darin, dass das Absolute für ihn nicht im Geist, sondern in der Materie besteht. „Im Grunde genommen“, wie Muṭahharī ausführt, „haben Marx und Engels lediglich die materialistische Philosophie des 18. Jahrhunderts mit 940 Ebda. 941 M, 1381, IV:72. 942 Ebda.
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der dialektischen Methode Hegels vermengt. In philosophischer Hinsicht haben sie sich den materialistischen Philosophen angeschlossen und hinsichtlich des Denkverfahrens – mit anderen Worten: in logischer Hinsicht – sind sie Hegel gefolgt. So handelt es sich beim dialektischen Materialismus um ‚materialistische Philosophie auf der Grundlage des dialektischen Denkverfahrens‘.“⁹⁴³ Im selben Sinne erklärt der Gelehrte an anderer Stelle: „[…] Karl Marx und Engels, welche die Schüler [Hegels] waren und von ihrem Meister die dialektische Logik gelernt hatten, vertraten […] materialistische Lehren und schlossen sich in dieser Hinsicht den materialistischen Philosophen des 18. Jahrhunderts an. Marx und Engels entwickelten ihre materialistischen Lehren auf der Grundlage von Hegels Logik, und so entstand der ‚dialektische Materialismus‘. Eigentlich ist der dialektische Materialismus eine Verbindung zwischen der materialistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts und der Logik Hegels, eine Verbindung zwischen den beiden Lehren, die Marx und Engels zwischen ihnen hergestellt haben.“⁹⁴⁴ Mit dieser Verbindung jedoch, so gibt Muṭahharī zu bedenken, „haben Marx und Engels weder zum philosophischen Materialismus etwas beigetragen noch zur dialektischen Logik.“⁹⁴⁵ In der Tat ändert sich an einer materialistischen Philosophie, wenn wir sie mit dialektischer Logik verknüpfen, insofern gar nichts, als sie nach wie vor auf der Eigentlichkeit der Materie gründet. Ebenso beruht die dialektische Logik, ob wir sie nun einer materialistischen Lehre beigeben oder einer anderen, unverändert auf dem Dreischritt von These, Antithese und Synthese. „Es besteht keinerlei Notwendigkeit“, wie Muṭahharī es ausdrückt, „dass eine materialistische Philosophie, die in einer materialistischen Weltsicht besteht, ein dialektisches Denkverfahren habe […].“⁹⁴⁶
Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Einwände gegen die Lehre von der Eigentlichkeit der Materie Was daher auf der einen Seite das dialektische Denkverfahren des dialektischen Materialismus betrifft, so lässt sich gegen dieses dasselbe einwenden, was Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī gegen die Dialektik Hegels vorbringen. Was andererseits die Lehre des dialektischen Materialismus von der Eigentlichkeit der Materie, des Stoffes, angeht, so treffen auf sie ihrem logischen Gehalt nach die gleichen Einwände zu, welche die beiden Denker gegen Hegels Lehre von der Eigentlichkeit des Geistes entwickeln. Denn ebenso, wie von dieser in Muṭahharīs 943 M, 1381, IV:72 f. 944 M, 1381, I:52. 945 M, 1381, IV:73. 946 Ebda.
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Worten gilt: „Hegel ist überzeugt, dass alles, was Geist ist, Wirklichkeit ist und dass alles, was Wirklichkeit ist, Geist ist; er glaubt also an eine Art Übereinstimmung zwischen Geist und Wirklichkeit“,⁹⁴⁷ liesse sich vom dialektischen Materialismus sagen: „Marx und seine Anhänger sind überzeugt, dass alles, was Materie ist, Wirklichkeit ist und dass alles, was Wirklichkeit ist, Materie ist; sie glauben also an eine Art Übereinstimmung zwischen Materie und Wirklichkeit“ – oder in Ṭabāṭabāʾīs Formulierung: „[…] in der Welt des Seins gibt es [dem dialektischen Materialismus zufolge] nichts als Materie (Materie ist gleich Existenz).“⁹⁴⁸ Nach dem dialektischen Materialismus genau wie nach Hegels Lehre befinden sich Denken und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, nicht in Gegenüberstellung zueinander, indem das Objekt, die Wirklichkeit, auf der einen Seite und das Subjekt, das Denken, auf der anderen Seite stünden. Vielmehr sind auch in Marx’ Lehre das Ontologische und das Epistemologische in dem Sinne gleichbedeutend, dass in ihr im Zeichen des Werdens als des Grundes des Wirklichen Selbstverwirklichung und Selbstbewusstwerdung und folglich Wirklichkeit – das Objekt – und Bewusstsein – das Subjekt – eins sind. Anders als bei Hegel steht in der Lehre des dialektischen Materialismus das Werden selbst jedoch nicht im Zeichen des Geistes, sondern im Zeichen der Materie. Und so beruht ihr zufolge auch die Gleichheit zwischen Objekt und Subjekt nicht darauf, dass der Geist als das Absolute im Geist des Menschen, jenem einen Wirklichen, das er in seinem Werdevorgang unter allem Wirklichen als seine geistige Erscheinung entfaltet, letztlich zum Bewusstsein seiner selbst kommt. Vielmehr besteht sie darin, dass die Materie als das Absolute in der Materie des Menschen, genauer: seines Zentralnervensystems, letztlich zum Bewusstsein ihrer selbst kommt: „Das Denken“, wie Muṭahharī die Lehre des dialektischen Materialismus in diesem Punkt wiedergibt, „ist die besondere Bewandtnis der Materie des Gehirns und demzufolge ein Teil des Physischen.“⁹⁴⁹ Und etwas ausführlicher bemerkt er: „Denken und Wahrnehmen gehören [für den dialektischen Materialismus] schlechthin zu den besonderen Eigenschaften der materiellen Organisation unserer Gehirnnerven, und diese Eigenschaft tritt jeweils dann in Erscheinung, wenn ein Eindruck aus der Aussenwelt auf unsere Nerven trifft wie etwa der Eindruck der Lichtwellen über das Auge oder der Schallwellen über das Ohr.“⁹⁵⁰ Darin, dass sowohl das Erkennen selbst – bestehend im Subjekt – als auch das, was erkannt wird, ja: was es überhaupt zu erkennen gibt – das Objekt –, materiell sind, liegt für den dialektischen Materialismus 947 M, 1381, IV:70 f. 948 T, 1381, I:76; vgl. Ders., 1381, I:213. 949 M, 1381, I:194. 950 M, 1381, I:189.
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das Einssein von Ontologischem und Epistemologischem, welches seinerseits die Wirklichkeitsbezogenheit – den Realismus – unserer Erkenntnis verbürgt. Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī hingegen sehen in dieser Begründung der Wirklichkeitsbezogenheit unserer Erkenntnis nichts als ein weiteres Beispiel für die fehlende Unterscheidung zwischen Ding und Begriff, Innenwelt und Aussenwelt. So beschreibt Muṭahharī die Position der dialektischen Materialisten in dieser Frage mit den Worten: „Diese Herrschaften meinen, dass, wenn ein Begriff wahr sei und mit der Wirklichkeit übereinstimme, er dieselbe Bewandtnis wie seine Instanz der Wahrheitsverbürgung haben müsse.“⁹⁵¹ Ein Denkgehalt kann den dialektischen Materialisten zufolge mit anderen Worten nur dann mit der Wirklichkeit, welche sie mit Materie gleichsetzen, übereinstimmen, wenn er seinerseits materiell ist. Und da er ihnen zufolge materiell sein muss, kommen ihm wie allem Materiellen die Eigenschaften von Wirkung und Veränderung zu – wobei letztere aus Sicht des dialektischen Materialismus wiederum in einer Entwicklung nach dem dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese besteht. „Weil nun die Instanzen der Wahrheitsverbürgung in der Aussenwelt die Eigenschaften von Entwicklung und gegenseitiger Einwirkung aufweisen“, wie Muṭahharī die Position der dialektischen Materialisten in diesem Punkt weiter ausführt, „deshalb müssen genau diese beiden Eigenschaften auch in den Begriffen unseres Denkens vorliegen, denn sonst würden diese mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.“⁹⁵² Dagegen gibt der Gelehrte, ausgehend von der Position in der Frage des Verhältnisses zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, die er selbst verficht, zu bedenken: „[Den dialektischen Materialisten] entgeht dabei, dass, wenn ein Begriff dieselbe Eigenschaft haben soll wie seine Instanz der Wahrheitsverbürgung, er sämtliche Eigenschaften derselben haben müsste und es sich in diesem Fall bei dem betreffenden Denkgehalt nicht um den Begriff eines Dings der denkunabhängigen Aussenwelt handeln würde, sondern seinerseits um eine Wirklichkeit im Rahmen jener [denkunabhängigen] Aussenwelt und aller anderen Wirklichkeiten des Physischen.“⁹⁵³ Erkenntnis wäre dann mit anderen Worten nicht mehr als eine Beziehung zwischen einem Erkenntnissubjekt und einem Erkenntnisobjekt zu verstehen, ein Gedanke, den an anderer Stelle auch Ṭabāṭabāʾī vorbringt mit den Worten: „[…] jemand, der diese Argumentation vertritt, stellt sich vor, dass, wenn es für uns überhaupt eine Wirklichkeit gibt, in dem Fall, dass sich unsere Erkenntnis auf diese bezieht, in uns die Wirklichkeit (die Wirklichkeit selbst) vorliegen muss, nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit. Dabei verhält es sich doch genau umgekehrt, denn was wir erlangen, ist die 951 M, 1381, I:200. 952 Ebda. 953 Ebda.
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Erkenntnis [des Objekts], nicht das Objekt der Erkenntnis (die Wirklichkeit).“⁹⁵⁴ Dabei besteht die Beziehungshaftigkeit von Erkenntnis für Ṭabāṭabāʾī darin, dass von Erkenntnis überhaupt nur die Rede sein kann, wenn sich dem Erkenntnissubjekt die Wirklichkeit, das Objekt, erschliesst. Diese Wirklichkeitserschliessung heisst in der philosophischen Fachsprache auch Evidenz⁹⁵⁵. Ṭabāṭabāʾī führt diese Überlegung gleich im Anschluss an seine vorigen Bemerkungen wie folgt aus: „[…] zwar kommt uns jeweils [nur] Erkenntnis zu, nicht das Erkenntnisobjekt, aber die Erkenntnis kommt uns jeweils samt der ihr eigenen Bewandtnis der Wirklichkeitserschliessung zu, nicht ohne sie. Denn sonst würde es sich auch nicht um Erkenntnis handeln, und es würde ja auch niemand behaupten, dass in uns, wenn wir Erkenntnis über die Aussenwelt [d. h. das Objekt] erlangen, die aussergeistige Wirklichkeit [d. h. das Objekt] selbst vorliegt, nicht Erkenntnis.“⁹⁵⁶ Und im selben Sinne äusserst sich auch Muṭahharī in seinem Kommentar zur Stelle: „[…] der Erkenntnis eignet die Bewandtnis der Wirklichkeitserschliessung, ja: Erkenntnis ist nichts anderes als Wirklichkeitserschliessung. So kann unmöglich Erkenntnis vorliegen, ohne dass die Eigenschaft der Evidenz ebenfalls gegeben ist, oder Erkenntnis und Evidenz vorliegen, ohne dass es die betreffende Wirklichkeit als das Objekt der Erschliessung gibt. Wenn, einmal angenommen, keine Wirklichkeit, die es zu erschliessen gibt, besteht, liegt auch keine Wirklichkeitserschliessung vor. Wenn umgekehrt keine Wirklichkeitserschliessung vorliegt, dann ist auch keine Erkenntnis gegeben […].“⁹⁵⁷ Wenn nun aber zwischen Erkennen und zu Erkennendem, zwischen Subjekt und Objekt, keine Beziehung besteht, weil sie beide eines sind in dem Sinne, dass sie beide materiell sind, dann handelt es sich bei Denken und Erkennen auch nicht um einen Akt der Wiedergabe der denkunabhängigen Wirklichkeit – der denkunabhängigen Wirklichkeit, die der dialektische Materialismus mit Materie gleichsetzt. Vielmehr, wie Muṭahharī es ausdrückt, „ist das Denken (Wahrnehmen) [in der Auffassung des dialektischen Materialismus] ein Bestandteil des Physischen und ein Erzeugnis aller anderen Teile des Physischen. Genau so, wie auch sonst alle Teile des Physischen als Folge physischer Wirkung und Wirkungsempfängnis entstehen, sind die Begriffe und begrifflichen Denkgehalte ihrerseits rein materielle Erscheinungen, die als Folge von Wirkung und Wirkungsempfängnis zwischen Aussenwelt und Hirn auftreten, und zwischen diesen Begriffen und der Aussenwelt besteht lediglich eine Beziehung wie zwischen Erzeugendem
954 T, 1381, I:69. 955 Bei T/M, 1381 „kašf“ und „kāšefiyyat“; vgl. T, 1381, I: 69; M, 1381, I:69; vgl. Brugger, 1963:84 f. („Evidenz“). 956 T, 1381, I:69. 957 M, 1381, I:69.
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und Erzeugtem.“⁹⁵⁸ So besteht gemäss der Lehre des dialektischen Materialismus mit anderen Worten zwischen Denkgehalt und Ding dieselbe Beziehung wie zwischen einem Ding und einem anderen Ding, nämlich eine Beziehung blosser Naturkausalität. „Hier nun tritt folgende Frage auf“, wie Muṭahharī im Anschluss an seine vorigen Bemerkungen zu bedenken gibt: „Wenn zwischen Erkenntnis und Erkenntnisobjekt eine Beziehung im Sinne blosser Erzeugung besteht, wie kann dann zum einen noch von Wirklichkeitswiedergabe der Erkenntnis die Rede sein?“⁹⁵⁹ In der Tat wäre nach dieser Auffassung Erkenntnis keine Wiedergabe, sondern ein Erzeugnis der erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit. Dann würde für das Zustandekommen der Erkenntnis und ihrer Gehalte die erkenntnisunabhängige Wirklichkeit – das Objekt – alleine aber restlos ausreichen, und es bedürfte keines bewussten Zutuns seitens des Erkenntnissubjektes. Von einem Erkenntnissubjekt könnte im Zusammenhang mit Erkenntnis dann aber letztlich überhaupt keine Rede sein. „Zum zweiten“, so führt Muṭahharī seinen Einwand weiter aus, „liesse sich von keinem Begriff, der in unserem Denken entsteht […] wie ‚Mensch‘, ‚Tier‘ [oder] ‚Pflanze‘ […], sagen, dass er eine Instanz der Wahrheitsverbürgung ausserhalb unseres Denkens habe. Es liesse sich vielmehr höchstens sagen, dass er einen Ursprung ausserhalb unseres Denkens habe […].“⁹⁶⁰ Zwar liegt die Wirklichkeit des Aussergedanklichen nach der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz, die Muṭahharī vertritt, ebenfalls in ihrem Status als Ursprung von Wirkungen – Wirkungen auf unsere Sinnesorgane etwa. Doch abgesehen davon, dass Wirklichkeit nach dieser Lehre nicht als Materie definiert ist, ist der Erkenntnisweg, dessen erste Station die Sinneswahrnehmung ist, ihr zufolge nicht eine naturnotwendige Einwirkung des Aussergedanklichen, des Objekts, ohne Zutun des Subjekts, sondern ein bewusster Akt des Subjekts. „Zum dritten“, so rundet der Gelehrte seinen Einwand ab, „wenn Erkenntnis als solche nicht wirklichkeitserschliessend ist, woher wollen wir dann erkennen, dass es eine aussergedankliche Wirklichkeit [überhaupt] gibt und dass diese aussergedankliche Wirklichkeit die hervorbringende Ursache und der Ursprung für diese Begriffe und Denkgehalte ist?“⁹⁶¹ So endet der Weg des dialektischen Materialismus denn in der Bezweiflung der Existenz einer denkunabhängigen Wirklichkeit und damit im Skeptizismus, wenn nicht gar im Sophismus, jedenfalls im Idealismus.⁹⁶²
958 M, 1381, I:85. 959 Ebda. 960 Ebda. 961 Ebda. 962 Vgl. M, 1381, I:85 f.
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Ferner macht Muṭahharī geltend, „[…] dass, einmal angenommen, unsere Denkinhalte würden wirklich der Materie des Gehirns innewohnen und sich zusammen mit allen anderen Bestandteilen des Physischen zu immer höherer Vollkommenheit entwickeln, wir diese Art von Entwicklung unserer Denkgehalte nicht den eigenen Gesetzen der ‚Logik‘ und der ‚Methode des Denkens‘ zurechnen könnten.“⁹⁶³ Unser Denken müsste sich dann mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ausschliesslich nach den Regeln der Dialektik des dialektischen Materialismus vollziehen, „denn“, wie Muṭahharī seinen Einwand fortführt, „bei dieser Veränderung und Umwandlung [der physischen Bestandteile unseres Hirns beim ebenfalls physisch verstandenen Vorgang des Denkens] handelt es sich selbstverständlich um ein zwangsläufiges und notwendiges Naturgesetz. Wenn unser Denken also zu den Eigenschaften [der Materie] des Hirns gehören würde und ein Bestandteil des Physischen wäre, so würde es sich mit [naturgesetzlicher] Zwangsläufigkeit verändern, und aufgrund dieser Bewandtnis wären dann die Denkinhalte und Wahrnehmungen aller Menschen, ja, überhaupt aller Lebewesen gleich und würden die begrifflichen Gehalte des Denkens aller Menschen, ganz gleich, ob Materialisten oder Metaphysiker, notgedrungen eine Entwicklung zu stetig höherer Vollkommenheit aufweisen.“⁹⁶⁴ Dem hält der Gelehrte entgegen, dass die Frage, ob wir beim Denken nach den Regeln der dialektischen Logik verfahren oder nicht – nicht die Regeln der Logik selbst! –, vom Willen des jeweiligen Denkenden abhängt und keiner naturgesetzlichen Notwendigkeit unterliegt: „Das Gesetz der Logik […] lehrt die Methode und das Verfahren des Denkens und gibt die Norm der Denkweise vor, die zum Erkenntnisziel führt. […] die Logik gibt die Norm des richtigen Denkens vor, und […] es hängt vom Willen der einzelnen Individuen ab, ob sie angewendet wird: Der Einzelne kann sich gemäss diesen Normen verhalten oder auch nicht, und in diesem Punkt unterscheiden sich die jeweiligen Individuen.“⁹⁶⁵ „Wenn also“, so schliesst der Denker seinen Einwand, „der Geist und die geistigen Eigenschaften, darunter die Denktätigkeit, materiell wären und der Veränderlichkeit [im naturgesetzlichen Sinne] unterliegen würden, so unterstünden auch die begrifflichen Denkgehalte sämtlicher Individuen zwangsläufig und unausweichlich der [naturnotwendigen] Veränderlichkeit, Bewegung und Unbeständigkeit. […] dann würde aber allen Menschen [ausschliesslich] das dialektische Denkverfahren eignen, ob sie selbst sich dessen bewusst wären oder nicht. Es liesse sich also unmöglich eine Person finden, deren Denken nicht dialektisch wäre.“⁹⁶⁶ 963 M, 1381, I:194. 964 Ebda. 965 M, 1381, I:195. 966 Ebda.
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Darauf, dass die Auffassung des dialektischen Materialismus von Erkenntnis, nach welcher es sich bei dieser um eine Auswirkung der Aussenwelt auf unseren Erkenntnisapparat handelt und nicht um deren Wiedergabe durch diesen, in Idealismus endet, weist auch Ṭabāṭabāʾī hin. Wenn Erkenntnis nämlich, wie die dialektischen Materialisten behaupten, ein rein materieller Vorgang nach den Gesetzen blosser Naturkausalität ist, so kommen ihr auch die Eigenschaften der Materie wie Wandelbarkeit, Unbeständigkeit und Partikularität – und keine anderen – zu. „Gemäss den Regeln der Dialektik [im Sinne des dialektischen Materialismus]“, so der Gelehrte, „können wir niemals einen allgemeinen, unwandelbaren oder absoluten Begriff oder ein Urteil mit diesen Eigenschaften bilden und werden es auch nie können. Vielmehr wird jeder Begriff oder jedes Urteil, das wir uns auch immer bilden mögen, wandelbar, partikular und relativ sein. Nach dem Gesetz von Ursächlichkeit und Verursachtheit nämlich ist ein Gedanke ein Erzeugnis der Materie und das zwangsläufige Ergebnis eines Vorganges, der im Miteinander seines Vaters und seiner Mutter zustandekommt.“⁹⁶⁷ Weniger bildlich gesprochen, handelt es sich bei einem Gedanke gemäss dieser Auffassung um einen materiellen Gehalt, der seinerseits aus dem Zusammenwirken zweier weiterer materieller Gehalte entstanden ist, deren einer in der materiell aufgefassten Aussenwelt – dem „Vater“ in Ṭabāṭabāʾīs Wortwahl – und deren anderer in unserem ebenfalls materiell aufgefassten Erkenntnisapparat – der „Mutter“ – besteht. Der Gedanke wäre somit gleichsam das Kind dieser beider Elternteile, der Aussenwelt und unseres Erkenntnisapparats, des Hirns. Genauso, wie aber ein Kind keine Kopie, keine Wiedergabe, des einen oder des anderen Elternteils oder beider Elternteile ist, würde es sich bei einem Denkgehalt, wenn wir die Erkenntnislehre des dialektischen Materialismus zugrundelegen, nicht um eine Wiedergabe der Aussenwelt handeln. „[…] ein Denkgehalt“, wie Ṭabāṭabāʾī die Auffassung des dialektischen Materialismus in diesem Punkt darlegt, „bei dem es sich letzten Endes um ein materielles Erzeugnis zweier [ebenfalls] materieller Erscheinungen handelt, ist seinerseits eine dritte [materielle] Erscheinung, eine Dritterscheinung, die weder gleich der ersten (dem Teil der materiellen Aussenwelt) noch gleich der zweiten (dem Teil des [ebenfalls materiell aufgefassten] Gehirns) sein kann.“⁹⁶⁸ An eben dieser letzten Aussage nun setzt Ṭabāṭabāʾīs Kritik an: „Besagt denn ein Satz des Sinnes ‚Ein Denkgehalt ist das Erzeugnis eines Teiles der Materie [d. h. der Aussenwelt] und eines Teiles des Gehirns, unterscheidet sich aber von beiden‘ nicht ausdrücklich, dass das Erkenntnisobjekt selbst (der Teil der Materie) in unser Denken gar nicht eingeht, sondern dass der Inhalt und Bezugspunkt unseres
967 T, 1381, I:78 ff. 968 T, 1381, I:81 f.
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Denkens etwas anderes ist als die aussergedankliche Wirklichkeit?“⁹⁶⁹ Und er schickt gleich noch eine Frage hinterdrein, nämlich: „[…] wenn doch aber die aussergedankliche Wirklichkeit gar nicht in unser Denken eingeht, woher wollen wir dann erkennen, dass es eine denkunabhängige Wirklichkeit überhaupt gibt und dass unser Denken ein Erzeugnis derselben ist? Schliesslich ist alles, was wir auch immer in der Aussenwelt annehmen, ein Denkinhalt, der etwas anderes ist als die Aussenwelt. Ergibt sich dann aber eine andere Folgerung als die, dass wir gar nie einen Zugang zur Aussenwelt erlangen, d. h. kein Wissen von der Aussenwelt haben? Dieser Befund ist aber nichts anderes als die Lehre der Idealisten.“⁹⁷⁰
Gründe für die Ausführlichkeit der Besprechung des dialektischen Materialismus in „Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus“ So erweist sich der dialektische Materialismus aus Sicht von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī denn als eine Zusammensetzung aus Hegels Dialektik, Lehre von der Eigentlichkeit der Materie und – was die Frage nach der Existenz einer betrachtungsunabhängigen Wirklichkeit angeht – Idealismus. Dennoch handeln die beiden Gelehrten in dem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus den dialektischen Materialismus nicht kurz und bündig als Nachtrag zu ihrer Besprechung von Hegels Dialektik, Materialismus oder Idealismus ab. Der Raum, den die beiden Denker der Erörterung und Widerlegung gerade dieser Lehre widmen, sowie die Ausführlichkeit, mit der sie diese durchnehmen, haben vielmehr schon manchen Betrachter der jüngeren iranischen Geistesgeschichte in Ost und West zu der Auffassung verleitet, Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus sei überhaupt nichts anderes als eine Widerlegung materialistischer Philosophie im allgemeinen und des dialektischen Materialismus im besonderen.⁹⁷¹ Einem solchen Verständnis von Inhalt und Zweck des Werkes tritt Muṭahharī selbst jedoch in aller Deutlichkeit entgegen mit den Worten: „Es ist nötig, darauf hinzuweisen, dass viele, wie wir sehen, meinen, es gehe in diesem Buch eigentlich nur um die Kritik und Zurückweisung der materialistischen Philosophie. Deshalb sehen wir uns genötigt, noch einmal […] deutlich zu machen, dass Ziel und Zweck dieses Buches in Höherem als diesem bestehen. Wenn es uns nämlich nur darum zu tun gewesen wäre, die materialistische Philosophie
969 T, 1381, I:83. 970 T, 1381, I:84. 971 So etwa Boroujerdi, 1996:88; Esposito, 1995, 3:213b; dass es in dem Werk nicht nur um die Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus geht, bemerkt auch Ṭālebzādeh, 1385b:155 ff.
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zurückzuweisen und die Verdrehungen des dialektischen Materialismus aufzuzeigen, hätten wir uns nicht so sehr zu mühen brauchen und keine tiefen und eingehenden Erörterungen philosophischer Lehren vorgebracht.“⁹⁷² Allerdings erklärt derselbe Gelehrte doch auch, dass „[…] wir besonders auf den modernen Materialismus (den dialektischen Materialismus) eingegangen sind und versucht haben, sämtliche Verdrehungen dieser Lehre deutlich aufzuzeigen.“⁹⁷³ Ebenso wappnet er sich angesichts der Ausführlichkeit, mit der er den dialektischen Materialismus behandelt, gegen mögliche Einwände von „Personen, die selber schon die Haltlosigkeit dieser Philosophie [d. h. des dialektischen Materialismus] erkannt haben“ und die „[…] uns vorwerfen mögen, dass wir uns mehr als nötig mit dem Vorbringen von Kritik und Einwänden gegen die Inhalte dieser Philosophie abgegeben hätten“⁹⁷⁴, indem er klar stellt: „Dies haben wir aber, wie wir betonen möchten, nicht aus Wertschätzung für den philosophischen und logischen Wert derselben getan. Vielmehr beobachten wir, dass in unserem Land eine Unmenge an Veröffentlichungen zum dialektischen Materialismus erschienen ist und eine beachtliche Zahl junger Leute gedanklich angezogen hat und dass manche vielleicht wirklich glauben, der dialektische Materialismus sei das höchstentwickelte philosophische System der Welt und die unmittelbare Frucht […] der [modernen] Wissenschaften und das Zeitalter der Metaphysik sei zu Ende. Angesichts dessen war es nötig, sämtliche philosophischen und logischen Gehalte dieser Abhandlungen eingehend zu untersuchen, damit der wirkliche Wert derselben deutlich werde.“⁹⁷⁵ Überhaupt handelt es sich bei dem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus um die schriftliche Fassung einer Reihe von Lehrveranstaltungen in Philosophie, die Ṭabāṭabāʾī, Muṭahharīs Lehrer, abgehalten und an denen Muṭahharī teilgenommen hatte.⁹⁷⁶ Und schon in dem Entschluss selbst, solche Sitzungen abzuhalten, soll sich Ṭabāṭabāʾī nach Muṭahharīs Bekunden unter dem Eindruck des wachsenden Einflusses abendländischer philosophischer Lehren, insbesondere des dialektischen Materialismus, auf das geistige Klima des Iran, zumal der Jugend des Landes, bestärkt gefühlt haben: „[…] das Interesse unserer jugendlichen Intellektuellen an den philosophischen Werken der europäischen Gelehrten […] auf der einen Seite und auf der anderen die […] Propagandaschriften der modernen materialistischen Philosophie (des dialektischen Materialismus) haben den hochverehrten Gelehrten mehr denn je dazu bewogen, sein Vorhaben umzusetzen. So hat er es schon einige Jahre zuvor
972 M, 1381, II:11. 973 M, 1381, I:22. 974 M, 1381, I:33. 975 Ebda. 976 M, 1381, I:20 f.
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[…] unternommen, eine Vereinigung für philosophische Diskussion, Erörterung und Kritik zu gründen, die sich aus einer ganzen Reihe Gelehrter zusammensetzt […].“⁹⁷⁷ Der eine Grund für die Ausführlichkeit, mit der sich die religiösen Gelehrten Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī um die Widerlegung des dialektischen Materialismus bemühen, ist nach Muṭahharīs eigenem Bekunden also ein durchaus praktischer – genauer vielleicht noch: ein praktisch-politischer –, nämlich die Sorge um die Rechtleitung der Gesellschaft, besonders der Jugend, im Angesicht geistiger Verführungen und Anfechtungen. Schliesslich handelt es sich beim dialektischen Materialismus um das geistige Gerüst politisch linker Bewegungen wie des Kommunismus, der im Nachkriegs-Iran lange Zeit die mächtigste Herausforderung für die Herrschaft der Pahlavīs, aber eben auch für das religiöse Establishment darstellte – oder jedenfalls so dargestellt wurde – und gerade unter intellektuell interessierten und politisch bewussten Jugendlichen starken Zulauf fand.⁹⁷⁸ Neben diesem praktischen scheint es für die besonders eingehende Behandlung des dialektischen Materialismus bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nun aber noch einen theoretischen Grund zu geben, theoretisch in dem Sinne, dass er mit der philosophischen Grundausstattung dieser Lehre selbst zu tun hat, mit der es, wie Muṭahharī mehrfach hervorhebt,⁹⁷⁹ eine ganz besondere Bewandtnis hat. Denn zum einen lässt der dialektische Materialismus im Zeichen seiner Lehre von der Eigentlichkeit der Materie als des einzigen Prinzips von Sein und Erkenntnis nur das Verfahren und die Gehalte der Sinneserfahrung, der Empirie, gelten, jener Wahrnehmung also, die sich unmittelbar und ausschliesslich auf das Materielle, das Physische, bezieht. „Der dialektische Materialismus“, so Muṭahharī, „lehnt die rein verstandesgegründete Logik […] ab […]. Vielmehr ist er überzeugt, dass die einzig verlässliche Logik die ‚empirische Logik‘ sei.“⁹⁸⁰ „In diesem Prinzip […]“, wie der Gelehrte weiter ausführt, „folgt der dialektische Materialismus den sensualistischen Philosophen, mit dem Unterschied allerdings, dass die sensualistischen Philosophen […] die Fragen der Metaphysik, die jenseits von Sinneserfahrung und Empirie liegen, als Gegenstände ausserhalb des Zuständigkeitsbereiches ihrer Forschungen erachten, während der dialektische Materialismus […] behauptet, dass alles, was sinnlich erfahrbar sei, wahr sei und alles, was nicht sinnlich erfahrbar sei, unwahr sei, so dass der allgemeine Standard und Massstab für Verneinung oder Bejahung eines jeden Gegenstandes (einschliesslich der Metaphysik) die modernen Naturwissenschaften sind, die sich auf Sin977 M, 1381, I:20. 978 Über den Einfluss des dialektischen Materialismus vgl. auch Boroujerdi, 1996:34 ff., 118 f. 979 So etwa M, 1381, I:41 ff., 207 ff. 980 M, 1381, I:207 f.
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neserfahrung und Empirie stützen.“⁹⁸¹ Der Sensualismus verneint also das Metaphysische nicht im Sinne eines Prinzips des Seins, sondern nur im Sinne eines Prinzips der Erkenntnis, das uns für die Begründung und Verbürgung der Gewissheit unserer Erkenntnisgehalte grundsätzlich zugänglich wäre, und verzichtet aufgrund dieser Unerreichbarkeit des Metaphysischen als Grundlegung von Gewissheit auch hinsichtlich seiner eigenen Lehren auf den Anspruch von Gewissheit im Sinne des Dogmatismus. Der dialektische Materialismus jedoch verneint das Metaphysische sowohl im Sinne eines Erkenntnisprinzips als auch im Sinne eines Seinsprinzips und vertritt hinsichtlich seiner eigenen Lehren einen Gewissheitsanspruch im Sinne des Dogmatismus, den er aber nicht auf das Metaphysische gründet, sondern auf das Physische, Materielle, und damit auf die Empirie und die empirischen Wissenschaften. So gesehen, liegt die Besonderheit des dialektischen Materialismus darin, dass seine Lehre unter Anerkennung derselben Erkenntnisquellen wie der Sensualismus einen dogmatischen Gewissheitsanspruch erhebt. Muṭahharī erwähnt denn auch den Dogmatismus als eine der Grundlagen des dialektischen Materialismus und erklärt dessen Bedeutung für diesen mit den Worten: „Um aus ihren Diskursen mit Gewissheit und Schlüssigkeit zu folgern, dass die Metaphysik zu verneinen sei, folgt diese Philosophie in der Frage dieses Prinzips [d. h. des Dogmatismus] den theoretischen und verstandesgegründeten philosophischen Systemen und erhebt im Unterschied zur sensualistischen Philosophie, die sich des Anspruchs absoluter Gewissheit im dogmatischen Sinne enthält, Dogmatismus und [absolute] Gewissheit zu ihrem Wahlspruch.“⁹⁸² Diese Berufung auf Grundlagen, denen doch bloss Gewissheitswertigkeit im Sinne des Relativismus zukommt, im Verein mit dem Anspruch auf Gewissheit im Sinne des Dogmatismus macht aus Sicht Muṭahharīs den besonderen Selbstwiderspruch der Lehre des dialektischen Materialismus aus, einen inneren Widerspruch, den er wie folgt darlegt: „Wenn der dialektische Materialismus gleich wie die verstandesgegründeten philosophischen Systeme ‚erfahrungsunabhängige grundlegende Denkgehalte‘ anerkennt und, indem er die Gestalt einer metaphysischen Lehre annimmt, zu einer rein verstandesgegründeten Philosophie wird, […] gibt er das Prinzip […] des Sensualismus preis. Dann wäre es ihm aber auch nicht mehr möglich, die [rein] theoretischen Argumente der Metaphysiker im Zeichen der [verstandesgegründeten] Philosophie mit der Begründung abzulehnen, dass ‚es in den empirischen Wissenschaften keinen Beleg für diese Behauptungen gibt‘. Wenn er sich andererseits gleich wie die sensualistischen Systeme allein auf die Gehalte der empirischen Wissenschaften stützt und diesen denselben Wert zuerkennt, den sämtliche Gelehrte einschliess981 M, 1381, I:208. 982 M, 1381, I:207.
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lich der Sensualisten selber den empirischen Wissenschaften beimessen (den Wert von Wahrscheinlichkeit und Meinung [und eben nicht von Gewissheit]), gibt er das Prinzip […] des Dogmatismus preis. Dann könnte er aber auch seine eigenen Lehren nicht mehr im Zeichen dogmatischer Gewissheit vorbringen; so könnte er etwa nicht mehr befinden, dass nichts existiere ausser der Materie und den Eigenschaften derselben (Materie = Existenz).“⁹⁸³ Aus der Gründung eines dogmatischen Gewissheitsanspruches auf Empirie und empirische Wissenschaft ergibt sich nun, wie Muṭahharī weiter ausführt, eine weitere Schwierigkeit, nämlich: „Wenn der dialektische Materialismus den Gehalten und Annahmen der empirischen Wissenschaften aber denselben Wert zuerkennt, den die Vertreter der verstandesgegründeten Philosophie und der Metaphysik den grundlegenden Verstandesgehalten zusprechen (den unverbrüchlichen Wert absoluter Gewissheit), wie erklärt er sich dann die Anpassung von Lehrmeinungen und die Entdeckung widersprechender Befunde?“⁹⁸⁴ Diese Frage beantwortet Muṭahharī gleich selbst mit den Worten: „Der dialektische Materialismus glaubt, aus dieser Sackgasse dadurch herauszukommen, dass er den Gehalten der Empirie und den Thesen der Naturwissenschaften den Wert absoluter Erkenntnis zuspricht und Anpassungen und Entdeckung von Irrtümern mit der ‚Veränderlichkeit der Wahrheit‘ und der ‚Vereinbarkeit zwischen richtig und falsch‘ erklärt […].“⁹⁸⁵ Aus Sicht des dialektischen Materialismus unterliegt die Wahrheit selbst also ebenfalls dem dialektischen Vorgang des Werdens. Die Lehre von der Vereinbarkeit zwischen richtig und falsch läuft aber auf die Preisgabe des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch und damit auf Sophismus hinaus. Der Weg des dialektischen Materialismus endet also in Sophismus, der Gegenposition zur Philosophie schlechthin, einem Sophismus allerdings – und das ist das Besondere – mit dogmatischem Gewissheitsanspruch. Aufgrund dieses Anspruches handelt es sich beim dialektischen Materialismus auch nicht um eine Lehre, welche wie der Empirismus oder Sensualismus, weil er sich aus metaphysischen Fragen heraushält, das Verständnis von Philosophie, das Denker derselben Richtung wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī verfechten, nicht herausfordern würde. Der dialektische Materialismus hält sich aus metaphysischen Fragen ja eben nicht heraus, insofern nämlich, als er mit dem Anspruch dogmatischer Gewissheit urteilt, dass Metaphysisches schlechthin nicht existiere und Existenz mit Materie gleichzusetzen sei. Dies dürfte der philosophische Grund sein, warum sich die beiden Gelehrten in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus gerade mit der Lehre des dialektischen Materialismus besonders eingehend auseinanderset983 M, 1381, I:208. 984 Ebda.f. 985 M, 1381, I:209.
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zen. So sagt Muṭahharī: „In dieser Abhandlung sind wir mit denen befasst, welche sich im Sinne bejahender oder verneinender Stellungnahmen mit der Erörterung von Fragen dieser Philosophie [d. h. der Metaphysik] beschäftigen. Wir befassen uns [in ihr] mit […] den Anhängern des dialektischen Materialismus, welche in den Fragen dieser nicht-empirischen Philosophie Urteile abgeben, ohne diese Fragen von den Fragen, die zu den [empirischen] Wissenschaften gehören, zu unterscheiden.“⁹⁸⁶ und: „Wenngleich […] die Anhänger der materialistischen Philosophie in ihrer jüngsten Gestalt (dem dialektischen Materialismus) zu Werbezwecken jeweils in einem ersten Schritt von Sinneserfahrung und empirischen Wissenschaften reden und zuweilen einen Gehalt der Erfahrungswissenschaften in entstellender Wiedergabe als Gewähr anführen, folgen sie gar nicht dieser [empirischen] Logik, sondern beschäftigen sich mit der Erörterung der rein theoretischen und verstandesgegründeten Fragen der ersten Philosophie [d. h. der Metaphysik], für die Sinneserfahrung und Empirie keine Gewähr bieten.“⁹⁸⁷ Dabei stellt der Versuch, metaphysische, also nicht-empirische Fragen unter Berufung auf die Empirie und ihre Wissensdisziplinen zu entscheiden, schon in methodischer Hinsicht ein müssiges Unterfangen dar. Auch dies haben die dialektischen Materialisten Muṭahharī zufolge nicht eingesehen, vielmehr, so der Gelehrte, „[…] halten die [dialektischen] Materialisten diese Bereiche [d. h. Empirie und Metaphysik] nicht auseinander und vermischen so die Diskurse.“⁹⁸⁸
3.2.9 Neuzeitliche abendländische Theosophie, Anthroposophie Aber nicht nur die abendländische Geistesrichtung des dialektischen Materialismus begeht diese Diskursvermischung zwischen Physischem und Metaphysischem, sondern Muṭahharī zufolge auch die neuzeitliche abendländische Ausprägung der Theosophie oder – in Muṭahharīs eigenen Worten – „eine Reihe alberner Überzeugungen unter dem Namen Theosophie“⁹⁸⁹. Unter diesen versteht der Denker offenbar, wie seine knappen Ausführungen, mit denen er diese Strömung abhandelt,⁹⁹⁰ erkennen lassen, die Lehren der im 19. Jahrhundert gegründeten Theosophischen Gesellschaft,⁹⁹¹ aus denen später auch die Anthroposo-
986 M, 1381, I:42. 987 Ebda. 988 M, 1381, I:43. 989 M, 1381, I:31. 990 Vgl. M, 1381, I:31 f. 991 Vgl. Brugger, 1963:328 f. („Theosophie“); Hügli/Lübcke, 2005:622a) f. („Theosophie“).
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phie Rudolf Steiners⁹⁹² hervorgegangen ist. Die Diskursvermischung zwischen Physischem und Metaphysischem seitens der neuen abendländischen Theosophen, einschliesslich Anthroposophen, unterscheidet sich von derjenigen, die Muṭahharī an den dialektischen Materialisten vermerkt, eigentlich in nichts ausser dem Ergebnis. Dies erläutert der Gelehrte anhand eines Zitates aus dem Werk des französischen Astronomen Camille Flammarion (st. 1925), selbst eines „metaphysischen Denkers“ in den Augen Muṭahharīs, in dem es heisst: „Auf der einen Seite widmen sich die ‚Gelehrten der chemischen Wissenschaft‘ in ihren Laboratorien der Erforschung von Aktion und Reaktion chemischer Substanzen und denjenigen Disziplinen unter den modernen Wissenschaften, die sich mit der Materie befassen, und extrahieren dabei die substantiellen Zusammensetzungen der Körper und behaupten ausdrücklich, dass sich in den Extrakten dieser chemischen Prozesse keine Gegenwart oder Existenz eines Gottes habe beobachten oder nachweisen lassen. Auf der anderen Seite sitzen die ‚Theosophen‘ inmitten von Stapeln alter Bücher […], und indem sie unablässig […] mit dem Durchstöbern des Inhaltes jener Bücher […] und […] der Wissensgewinnung aus einer Reihe religiöser Aussprüche und verschiedener Überlieferungen zugange sind und dadurch ihrer eigenen Überzeugung nach zum Sprachrohr des Engels Rafael geworden sind, behaupten sie, dass es von der linken bis zur rechten Pupille des Ewigen Vaters sechstausend Meilen seien.“⁹⁹³ Während die dialektischen Materialisten im Zuge der Diskursvermischung zwischen Physischem und Metaphysischem das Physische, Materielle, also zum Beweis dafür nehmen, dass das Metaphysische nicht existiert, nehmen die Anhänger der neuen abendländischen Theosophie im Zuge derselben Diskursvermischung umgekehrt das Physische gerade als Beweis für die Existenz des Metaphysischen, ja, wenden auf das Metaphysische Bestimmungen des Physischen wie Messbarkeit und Körperlichkeit an.
3.2.10 Die „Lebensphilosophie“ Bergsons Unter den aus seiner Sicht massgeblichen und prägenden Positionen der abendländischen Geistesgeschichte seit Descartes in der Frage des Gewissheitswertes unserer Erkenntnisgehalte erwähnt Muṭahharī – wenngleich nur mit wenigen Bemerkungen – auch die Lehre des französischen Denkers Henri Bergson (st. 1941).⁹⁹⁴ In anderen Zusammenhängen kommt er in „Die Prinzipien der Phi992 Vgl. Brugger, 1963:328 f. („Theosophie“); Hügli/Lübcke, 2005:622a) f. („Theosophie“), 47b („Anthroposophie“), 597a) f. („Steiner, Rudolf“). 993 M, 1381, I:31 f. 994 Vgl. M, 1381, I:172 f.
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losophie und die Methode des Realismus“ ebenfalls auf die Philosophie dieses Gelehrten zu sprechen, dort allerdings in noch geringerer Ausführlichkeit.⁹⁹⁵ Dabei beziehen sich alle Äusserungen Muṭahharīs über Bergsons Philosophie im besonderen auf die Erkenntnislehre derselben, eine Erkenntnislehre, die er kurz und bündig in die folgenden Sätze fasst: „[…] Bergson […] verficht eine Art dogmatischer und zugleich mystischer Philosophie. Dieselbe Lehre, die Descartes und andere hinsichtlich der Sinneserfahrung vertreten und in deren Zeichen sie behaupten: ‚Die Sinnesorgane sind kein Mittel für die Erschliessung der Wahrheit, sondern bloss ein Mittel zur Kontaktnahme mit der Aussenwelt im Rahmen des Praktischen‘, vertritt Bergson hinsichtlich der Ratio. So sagt er, dass weder Sinneserfahrung noch Verstandestätigkeit ein Mittel für die Erschliessung der Wahrheit seien. Das Mittel für die Erschliessung der Wahrheit ist ihm zufolge vielmehr eine andere Kraft, die wir ‚Einsicht‘ oder ‚Intuition‘ nennen können. Sie lässt sich auch als die höchste Stufe des Geistes bezeichnen. Bergson sagt, dass der Mensch mit einer Art Denktätigkeit im ‚Selbst‘ und einer Art ‚Seelen‘-Einsicht zur absoluten Wahrheit finde und man nur auf diesem Weg zur ersten Philosophie [d. h. zur Metaphysik], deren Aufgabe das Dartun der absoluten Wahrheiten ist, gelangen könne.“⁹⁹⁶ Muṭahharīs Bemerkungen an dieser Stelle beziehen sich auf eine Unterscheidung zwischen zwei Wegen des Erkennens, die Bergson in seiner Epistemologie vornimmt. Den einen Weg nennt er Verstand, und mit diesem meint er den rechnenden, zerlegenden und verbindenden Verstand,⁹⁹⁷ das begrifflich trennende Denken.⁹⁹⁸ Dieser dient aber – samt der ihm vorgeordneten Sinneswahrnehmung – lediglich der praktischen Bewältigung des Materiellen, so etwa der Entwicklung technischer Geräte.⁹⁹⁹ Die Hinordnung unserer Bewusstseinsinhalte auf das Praktische, genauer: die Lebenspraxis, im Zeichen des Verstandes ist die Leistung des Gehirns. Das Gehirn, verstanden als bloss körperliches Organ, lässt sich also nicht mit dem Bewusstsein und dessen Gehalten selbst gleichsetzen.¹⁰⁰⁰ Diese Unterscheidung in Bergsons Lehre zwischen materiellen Bewusstseinsorganen und immateriellen Bewusstseinsgehalten stellt Muṭahharī am Beispiel von Gedächtnis und Erinnern – einer der Funktionen des Bewusstseins – der Position des dialektischen Materialismus gegenüber, dem zufolge beides im Zeichen der
995 So etwa M, 1381, I:175, II:30, 150, IV:112. 996 M, 1381, I:172 f. 997 Vgl. Aster, 1998:407. 998 Vgl. Brugger, 1963:177 („Lebensphilosophie“). 999 Vgl. Aster, 1998:407, Brugger, 1963:177 („Lebensphilosophie“). 1000 Vgl. Aster, 1998:407.
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Eigentlichkeit der Materie miteinander gleichzusetzen ist.¹⁰⁰¹ Er zitiert dazu aus einer Darstellung von Bergsons Philosophie die folgende Stelle: „Es besteht ein Unterschied zwischen Gedächtnis [im Sinne erinnerter Bewusstseinsgehalte] und Erinnern [im Sinne einer der Tätigkeiten unseres Gehirns]. Das Gedächtnis […] ist kein materieller Gehalt und keine Eigenschaft des Gehirns, […] nur das Erinnern ist eine Tätigkeit des Gehirns. Die Bilder der Dinge und die [betreffenden] Inhalte sind stets im Gedächtnis abgelegt und werden nie gelöscht. Das Gehirn hingegen ist wie ein Vorhang, der vor das Gedächtnis gezogen worden ist, und das Erinnern ein Vermögen des Gehirns, das aus bestimmten Gründen und in bestimmten Momenten den Vorhang zurückzieht und uns das, was im Gedächtnis abgelegt ist, in Erinnerung bringt. ‚Erinnern‘ ist eine Tätigkeit. Eine Tätigkeit aber ist eine Handlung des Körpers, und das Gehirn, auf welchem die Funktion des Erinnerns beruht, seinerseits ein Teil des Körpers. Das ‚Gedächtnis‘ jedoch ist der Hort der Bilder, und Bilder […] sind [immaterielle] Gehalte, immaterielle Gehalte aber haben keine räumliche Existenz.“¹⁰⁰² Muṭahharī sieht in dieser Auffassung Bergsons vom Verhältnis zwischen Bewusstseinsorganen und Bewusstseinsgehalten eine gewisse Übereinstimmung mit der Position, die er selber im Namen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins in dieser Frage vertritt und die er gegen die Erkenntnislehre des dialektischen Materialismus ins Feld führt, eine Position, die er mit den Worten wiedergibt: „[…] obwohl das Gedächtnis immateriell ist, d. h. die Wahrnehmungsbilder in einem Bereich ohne Bindung an die Materie verwahrt werden, so handelt es sich beim Erinnern (der Erinnerung), das in der Vergegenwärtigung der Wahrnehmungsbilder im Sichtfeld unseres Bewusstseins besteht, doch um eine Art ‚Akt‘ (um eine Tätigkeit). Für die Philosophie steht fest, dass sich der Geist in seinem Wirken und Handeln […] der Materie als eines ‚Werkzeuges‘ bedient. So sind denn auch alle Fälle von Vergesslichkeit, sowohl die, welche infolge grossen zeitlichen Abstandes […] eintreten, als auch die, welche sich durch Schädigungen des Gehirn ergeben, nicht damit zu erklären, dass die Erinnerungsgehalte unseres Geistes überhaupt inexistent geworden wären, sondern einzig damit, dass infolge des Ausfalls des ‚Werkzeugs‘ die Erinnerungskraft des Geistes, die für die Vergegenwärtigung jener Gehalte auf der Ebene unseres Bewusstseins nötig ist, nicht mehr besteht.“¹⁰⁰³ An diesem Punkt endet die Gemeinsamkeit zwischen Bergsons und Mullā Ṣadrās Philosophie aber auch bereits wieder. Denn zwar stimmen beide Lehren in der Frage überein, was das – materiell aufgefasste – Gehirn nicht tut: Der 1001 M, 1381, I:115. 1002 Ebda.f. 1003 M, 1381, I:115; vgl. auch M, 1381, I:101 f. über die Position von Mullā Ṣadrās Lehre in dieser Frage.
Philosophische Lehren des Abendlandes im Lichte des vierten Weges
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einen wie der anderen zufolge bewirkt es nicht selber Erinnerungen und sonstige Bewusstseinsinhalte. In der Frage, was das Gehirn denn aber tut, gehen ihre Auffassungen jedoch klar auseinander: Nach Bergson stellt das materielle Gehirn unsere immateriellen Bewusstseinsinhalte im Rahmen des begrifflich trennenden Denkens, des rechnenden Verstandes, in den Dienst der ihrerseits wieder materiellen Lebenspraxis, so etwa der Beherrschung unserer physischen Umwelt.¹⁰⁰⁴ Das Erkenntnisziel für den Verstand, den Intellekt, wie Bergson ihn versteht, ist also kein theoretisches, rein geistiges oder gar metaphysisches, sondern ein praktisches, physisches und materielles. Die Verbindung mit dem Metaphysischen, verstanden als Erkenntnis von theoretischem Gewissheitswert, ist für Bergson zwar möglich – insofern handelt es sich bei ihm nicht um einen Idealisten etwa im Sinne eines Sensualisten –, aber nicht auf dem Wege des Intellekts und des begrifflichen Denkens, sondern eben nur in einer Art mystischen Schau. Das Verhältnis zwischen begrifflichem, diskursivem Denken und mystischer Schau nun beschreibt Muṭahharī unter anderem mit den Worten: „[…] den Mystikern geht es in ihrer Lehre nicht um die Entwertung des Weges von [begrifflichem] Denken, demonstrativem Beweis und [diskursiver] Argumentation, vielmehr lehren sie die Höherwertigkeit des Weges des Herzens, des [mystischen] Wegewandels und der Veredelung und Läuterung auf diesem Wege. Aus Sicht der Mystiker“ – hier zitiert der Denker eine Stelle des persischen Dichters Neẓāmī (st. 1204) – „ist der Diskurs des Verstandes zwar [so wertvoll wie] Perle und Korall, aber es ist doch jener andere [Weg], der den Diskurs der Seele ausmacht. Der Diskurs der Seele“ – d. h. die mystische Schau – „nimmt einen anderen Rang ein [als der begriffliche Diskurs]; der Wein der Seele hat andere Bestandteile [als die Gehalte des Begriffsdenkens].“¹⁰⁰⁵ Die Mystiker betrachten den diskursiven Weg mit anderen Worten zwar nicht als an sich müssig, aber auch nicht als zureichende oder notwendige Bedingung zur Erlangung von Wissensgehalten. Aus Sicht von Gelehrten der Schule von der Eigentlichkeit des Seins wie Muṭahharī und Ṭabāṭabāʾī allerdings ist es, so Muṭahharī, „unsinnig, von einer Höherwertung des einen Weges über den anderen zu sprechen. Ein jeder dieser beiden Wege ergänzt den anderen […].“¹⁰⁰⁶ Einerseits ergibt sich für Anhänger der Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins kein Entweder-Oder zwischen philosophischem Begriffsdenken und mystischer Schau. Denn aus ihrer Sicht besteht der Vorzug von Mullā Ṣadrās Philosophie unter anderem ja gerade darin, dass sie neben der Theologie auch Mystik und Philosophie, und innerhalb dieser letzteren wiederum Platonismus und Aristotelismus, in einem – 1004 Vgl. Aster, 1998:407;Brugger, 1963:177 („Lebensphilosophie“). 1005 M, 1381, V:13. 1006 Ebda.
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wie wir sagen: – „vierten Weg“ zu einem einzigen intellektuellen System miteinander vereint.¹⁰⁰⁷ Zum anderen erfolgt diese Vereinigung nach Mullā Ṣadrās Lehre sehr wohl im Zeichen des Intellekts als des vorrangigen geistigen Prinzips. Der Intellekt aber steht gemäss der Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins nicht im Dienste eines bloss praktischen, physischen und materiellen Erkenntniszieles;¹⁰⁰⁸ in ihm vollzieht sich vielmehr die Verbindung mit dem rein Geistigen, Metaphysischen. Jedoch handelt es sich beim Intellekt in der Auffassung von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nicht nur um ein epistemologisches, sondern auch um ein ontologisches Prinzip – und hier wird ein weiterer Unterschied zu Bergsons Lehre fassbar: Nach dieser besteht das ontologische Prinzip nämlich nicht im Intellekt, sondern in einer sogenannten Lebensschwungkraft¹⁰⁰⁹, einem schöpferischen Entwicklungsdrang¹⁰¹⁰, Instanzen, die aus Sicht der Vertreter von Mullā Ṣadrās Philosophie, ja, überhaupt der Angehörigen der vorherrschenden philosophischen Strömungen im Islam, nicht mit dem Intellekt im Sinne eines kosmischen ontologischen Prinzips, sondern am ehesten mit der dem Intellekt beigeordneten Seele, dem Bewegungs- und Entwicklungsprinzip, vergleichbar wären. Weil Bergson die Lebensschwungkraft zum eigentlichen ontologischen Prinzip erklärt, deshalb wird seine Lehre auch den Richtungen der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auftretenden Lebensphilosophie zugerechnet, die den Lebensbegriff nicht nur als Grundsatz der praktischen Philosophie, zur Anleitung in der rechten Lebensführung, sondern auch in der theoretischen Philosophie zur Herrschaft bringen wollte.¹⁰¹¹ Die Vertreter dieser Richtungen, so eben auch Bergson, sehen den eigentlichen Grund und Gehalt der Wirklichkeit im Leben als dem Werdehaften,¹⁰¹² im Werden also und nicht im Sein wie die Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit der Existenz. Allerdings ist das Werden als das eigentlich Wirkliche für Bergson nicht ein Vorgang im Sinne eines dialektischen Dreischrittes von These, Antithese und Synthese wie für Hegel und die dialektischen Materialisten. Vielmehr ist das Werden als die Wirklichkeit ein einziger, stetiger Strom schöpferischer Entwicklung, ein Strom gewissermassen, dessen Wellen und Strudel wir als das wahrneh-
1007 Vgl. M, 1381, I:12; Ṭālebzādeh, 1385b:92. 1008 Vgl. auch Kamal, 2006:93 f.; M, 1381, I:101 f. 1009 Wiedergaben des französischen Ausdrucks „élan vital“: vgl. Aster, 1998:406; Brugger, 1963:177 („Lebensphilosophie“). 1010 Wiedergabe des französichen Ausdrucks „évolution créatrice“: vgl. Brugger, 1963:177 („Lebensphilosophie“). 1011 Vgl. ebda. 1012 Vgl. ebda.
Philosophische Lehren des Abendlandes im Lichte des vierten Weges
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men, was wir Arten nennen.¹⁰¹³ So handelt es sich bei den Arten und den unter sie fallenden Einzelwesen letztlich also um rein betrachtungsabhängige Gehalte, gleichsam um jeweilige Momentaufnahmen des Stromes in unserem Geiste, nicht um Gehalte der betrachtungsunabhängigen, aussergeistigen Wirklichkeit. Da Art aber im Zeichen von Form steht, können wir auch sagen: Gemäss Bergsons Lebensphilosophie ist Form ein rein betrachtungsabhängiger Gehalt ohne den Status aussergeistiger Wirklichkeit. Demgegenüber setzt die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins Form geradezu mit Existenz und daher mit Wirklichkeit überhaupt gleich. Ferner bedeutet die Führung des Werdeganges der auseinander hervorgehenden Arten durch die Lebensschwungkraft zwar, dass deren Entwicklung sich nicht ungeregelt und zufällig vollzieht. Vielmehr sind die Arten wohl in gewissem Sinne eine freie, nicht voraus zu berechnende Schöpfung, eine Schöpfung aber, welche doch den jeweiligen äusseren Bedingungen am besten angemessen ist, wie die Lösung einer durch diese gestellten Aufgabe, jedoch auch wieder nicht die notwendige Lösung, sondern nur eine mögliche.¹⁰¹⁴ Das Werden nach dem Verständnis von Bergsons Lehre hat zwar eine Richtung, wenn auch nur eine allgemeine Richtung, es hat aber kein Ziel wie das Werden im Sinne der substantiellen Bewegung in Mullā Ṣadrās Philosophie.¹⁰¹⁵ Dieses liegt letzterem Gelehrten zufolge aber im Sein, der Wirklichkeit eines jeden Seienden also, und die Ausrichtung eines jeden Seienden im Verlaufe seines Werdens auf dieses Ziel hin wahrt dessen Selbigkeit inmitten allen Wandels.
3.2.11 James’ Lehre des Pragmatismus Auch beim Pragmatismus, von dessen Vertretern Muṭahharī William James (st. 1910) erwähnt,¹⁰¹⁶ handelt es sich – wenn auch in einem anderen Sinne als bei der Lehre Bergsons – um eine Lebensphilosophie, insofern nämlich, als er die Wahrheit von Erkenntnis an der Lebensdienlichkeit derselben bemisst:¹⁰¹⁷ Ist eine Erkenntnis förderlich für die Lebenspraxis, für das jeweilige Ziel unseres Tuns – griechisch „pragma“, daher Pragmatismus –, so ist sie „wahr“, mag sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht.¹⁰¹⁸ Die Verbürgung der Wahrheit
1013 Vgl. Aster, 1998:406. 1014 Aster, 1998:406. 1015 Vgl. Kamal, 2006:75. 1016 Vgl. M, 1381, I:80. 1017 Vgl. Brugger, 1963:244 („Pragmatismus“). 1018 Vgl. ebda.
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liegt für den Pragmatismus also nicht in der Wirklichkeit, im Objekt, sondern in der Nützlichkeit für das jeweilige Subjekt. Da aber, was dem einen Subjekt nützlich, für das andere schädlich sein kann, gibt der Pragmatismus das Prinzip von der Allgemeingültigkeit und Absolutheit der Wahrheit preis und damit auch das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch, ist folglich dem Relativismus bzw. dem Idealismus zuzurechnen. Muṭahharī tut genau dies, indem er den Pragmatismus unter den Schulen der Neuzeit erwähnt, „die […] letztlich mit der Richtung der Skeptiker (dem Skeptizismus) eins sind.“¹⁰¹⁹ Beim Skeptizismus handelt es sich aber um eine der beiden Richtungen des Relativismus, und Relativismus wiederum stellt ebenso wie Idealismus die Gegenposition zur Philosophie nach dem Verständnis von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī dar, nur dass der Relativismus der Philosophie im Zeichen der Frage gegenübersteht, ob Massstab und Verbürgung für die Wahrheit der Erkenntnis im Erkenntnissubjekt oder im Erkenntnisobjekt liegen, und damit letzten Endes im Zeichen der Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch und der Idealismus im Zeichen der Frage, ob eine aussergeistige Wirklichkeit existiert oder nicht.
1019 M, 1381, I:80.
4 Gesamtbefund und Folgerungen 4.1 Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Kritik der westlichen Philosophie als Entgegnung auf das Westverständnis ihrer Adressaten Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Prinzipien des Realismus gilt manchem Betrachter als der erste Versuch von führenden Vertretern des religiösen Establishments im Iran, sich kritisch mit den Lehren westlicher Philosophie auf der Grundlage der islamischen Philosophie auseinanderzusetzen.¹ Als unmittelbarer Anlass für die Entstehung der Schrift lässt sich die Wahrnehmung ihrer Verfasser anführen, die Gemeinschaft der Muslime des Iran, namentlich seine intellektuellen Eliten, seien einer geistesgeschichtlichen Herausforderung durch abendländisches Gedankengut ausgesetzt, der es gegenzusteuern gelte. Dabei erschien ihnen der Einfluss des dialektischen Materialismus sowie des Positivismus als besonders wirkmächtig und bedenklich. Von diesen bildete ersterer die geistige Grundlage der linksgerichteten Gegenbewegungen zu Herrschaft und politischem Verhalten der Pahlavī-Monarchie, die ihnen als feudalistisch und als verlängerter Arm des US-Imperialismus galt. Was letzteren angeht, so liesse sich das Denken, das der Reformpolitik der Pahlavīs zugrunde liegt, wenn wir dieses überhaupt mit einer philosophischen Richtung in Beziehung setzen wollen, am ehesten als positivistisch bzw. vulgärpositivistisch beschreiben. Die starke Präsenz von dialektischem Materialismus und Positivismus in der Intellektuellenszene jener Tage mag erklären, weshalb Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī auf diese beiden Strömungen des westlichen Denkens in ihrem Werk besonders ausführlich eingehen. Auch dass sie sich mit dem Empirismus und der Philosophie Hegels so ausgiebig befassen, dürfte damit zusammenhängen, dass sie in diesen beiden Lehren geistige Wegbereiter des Positivismus bzw. des dialektischen Materialismus erkennen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre das Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus einfach als der Versuch einer Gegenrede zum beherrschenden Westdiskurs unter den iranischen Intellektuellen zu betrachten. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass die beiden Gelehrten gegenüber letzteren nie einwenden, dass es allein schon angesichts der mangelhaften Quellenlage, von der sie abhängen, fraglich sei, wie wirklichkeitsnah ihr positivistisches bzw. materialistisches Westbild ist. Das mag daran liegen, dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mehr oder weniger von denselben Quellen abhingen, und keiner der beiden lässt je erkennen, dass er die vorlie1 Vgl. auch Seidel, 2012:143.
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Gesamtbefund und Folgerungen
gende Quellenlage als mangelhaft empfinde. Jedenfalls im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit ihren Adressaten stellen die beiden Denker die Übereinstimmung von deren Westbild mit dem Westen selbst nicht in Frage. Innerhalb dieses Rahmens würden sie sich von den Intellektuellen der Gegenseite dann weniger in ihrem Bild als in ihrem Urteil über den Westen unterscheiden. Ob wir aus der Feststellung, dass die beiden Gelehrten die Übereinstimmung des Westbildes, das die Gegenseite vertritt, mit dem Westen selbst nicht in Frage stellen, nun wieder folgern dürfen, dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī dieses Westbild ihrerseits mit dem Westen selbst gleichsetzten, ist allerdings eine Frage, der wir im folgenden noch nachgehen werden. Sollten wir sie bejahen dürfen, würde dies bedeuten, dass es den beiden Denkern nicht nur darum geht, die Intellektuellen des Iran davon abzubringen, sich geistig und praktisch nach dem Westen auszurichten, sondern vor allem auch darum, nachzuweisen, dass es der Westen der Qualität seiner geistigen Grundlagen nach gar nicht wert ist, dass man sich nach ihm ausrichte. So oder so jedoch lässt sich Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus nicht als ein Dialog mit der westlichen Philosophie verstehen,² jedenfalls nicht in dem Sinne, wie sich dies vielleicht von dem späteren Austausch zwischen Ṭabāṭabāʾī und Corbin über islamisches und abendländisches Denken sagen liesse. Einmal abgesehen von der Frage, ob der Kenntnisstand der beiden Gelehrten, selbst wenn es ihnen um einen Dialog mit der westlichen Philosophie zu tun gewesen wäre, dazu ausgereicht hätte, zeichnen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zum einen die Lehren der abendländischen Philosophie als Teile oder Stufen eines Gesamtverlaufs, eines geschlossenen Ganzen, eines geistigen Dings namens „Westen“. Und ihre Urteile über diese Lehren bringen sie nicht in diesen Verlauf ein wie in ein Gespräch, verstehen sie daher auch nicht eigentlich als Beiträge zur philosophischen Debatte im Westen. Vielmehr sind ihre Urteile wohl als Stellungnahmen zu dem geistigen Ding „Westen“ als ganzem zu lesen. Wenn es den beiden Gelehrten denn darum ginge, sich mit ihrer Kritik der westlichen Philosophie in den abendländischen Diskurs einzuschalten, wäre es zudem überraschend, dass sie in ihrem Werk auf Versuche einer kritischen Gesamtschau auf das abendländische Denken, einschliesslich der Lehren seit Descartes, seitens westlicher Philosophen selbst gar nicht zu sprechen kommen. So fehlt etwa jede Stellungnahme zu Nietzsches Philosophie, eines Denkers immerhin, der bei Forūġī behandelt wird.³ Vor allem aber finden sich bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī keine Hinweise auf Martin Heidegger (st. 1976), genau denjenigen Philosopen also, der im Zuge des Aufbaus seiner eigenen Lehre die abendländische Geistesgeschichte seit Platon einer kritischen Durchsicht von besonderer Grundsätz2 Vgl. dagegen Dabashi, 2008:279. 3 Forūġī, 1379, III:217 ff.
Was ist „Westen“?
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lichkeit unterzog. Dies erstaunt umso mehr, als Heideggers Gedankengut unter den iranischen Intellektuellen seit den 50er Jahren bedeutende Anhänger fand, so etwa Aḥmad Fardīd⁴, Dāryūš Šāyegān⁵ und Reżā Dāvarī⁶, und Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī von diesem daher wenigstens auf Umwegen durchaus hätten Kenntnis erlangen können. Ferner hätte sich – wieder: wenn es den beiden Gelehrten um einen Dialog mit dem westlichen Denken gegangen wäre – gerade ein Austausch über Heideggers Seinslehre und Seinsverständnis in Gegenüberstellung zur Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins in vieler Hinsicht als besonders anregend erwiesen.⁷ Aber eben: Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Anliegen in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus ist es nicht, die einzelnen Lehren der abendländischen Philosophie wie Beiträge zu einem Gespräch eine gegenüber der anderen abzuwägen und allenfalls die eine Lehre im Lichte einer anderen zu kritisieren. Vielmehr geht es ihnen darum, die Lehren der westlichen Philosophie in ihrer Gesamtheit im Lichte einer nicht-westlichen Philosophie, eben Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, der sie selber anhängen, zu kritisieren. Im Rahmen dieser Zielsetzung ist Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Werk doch wieder mehr als eine blosse Entgegnung auf den Einfluss von Positivismus und Materialismus auf die Intellektuellen des Iran, und in der Tat ist das, was sie am Westen, so wie sie ihn verstehen, kritisieren, ja nicht einfach der Positivismus und der Materialismus unter den zahlreichen Strömungen und Erscheinungen seines Geisteslebens. Auf welchem Verständnis von „Westen“ dieses weiter gefasste Anliegen der beiden Denker beruht bzw. auf welches Verständnis von „Westen“ es hinausläuft, soll im folgenden behandelt werden.
4.2 Was ist „Westen“? In der Gesamtschau erweisen sich die philosophischen Systeme, die Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in dem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus besprechen, in ihrem Urteil entweder als idealistisch – so etwa der Empirismus, der Kritizismus und der dialektische Materialismus – oder aber als Lehren, die, wenn auch nicht idealistisch, so doch philosophisch anfechtbar sind und den idealistischen Strömungen in der abendländischen Geistesgeschichte daher letztlich nichts Überzeugendes entgegenzusetzen haben. Dies gilt etwa 4 Über Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:63 ff.; Vahdat, 2002:114. 5 Über Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:147 ff.; Vahdat, 2002:124 f. 6 Über Leben und Werk vgl. Boroujerdi, 1996:158 ff.; Vahdat, 2002:190 f. 7 Vgl. Kamal, 2006:2 ff., 43 ff., 53 ff.
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Gesamtbefund und Folgerungen
vom kartesianischen Rationalismus, der Lehre Hegels sowie der Lebensphilosophie Bergsons. Dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nun aber diese und gerade diese philosophischen Systeme des Westens behandeln, geschieht deshalb, weil sie im Verständnis der beiden Denker die Grundlage des Westens ausmachen, sie mit anderen Worten das sind, worin für sie jenes real existierende geistige Ding „Westen“ besteht. Und wenn jene gedanklichen Systeme, welche in den Augen der beiden Gelehrten die Grundlage des real existierenden geistigen Dings „Westen“ ausmachen, entweder selbst idealistisch sind oder gegen den Idealismus nicht aufkommen können, so muss es sich in ihrem Urteil bei dem, worin das real existierende geistige Ding „Westen“ besteht, seine Wirklichkeit also, um Idealismus handeln: „Westen“ ist Idealismus.⁸ Wohl mag sich diese geistige Wirklichkeit des Westens, der Idealismus, im Materiellen und Praktischen zeigen, etwa in einem bestimmten geographischen Raum, in einem bestimmten Zeitalter, in diesen oder jenen politischen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen, Organisationsformen und Einrichtungen; ihre Wirklichkeit aber ist wie alle Wirklichkeit selbst geistig und deshalb auch nur geistig, d. h. über ihre geistigen Grundlagen, von ihren „Wurzeln“ her, zu begreifen. Wieder ergibt sich: Die Auseinandersetzung von Denkern wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mit dem Westen kann nicht im Praktischen und den praktischen Wissenschaften gegründet sein, etwa der islamischen Gesetzeswissenschaft wie im Falle der salafistisch geprägten Strömungen der Westwahrnehmung innerhalb des sunnitischen Islam, sondern nur im rein Geistigen, Theoretischen und den theoretischen Wissensdisziplinen, letztlich in der Philosophie als der übergeordneten rein geistigen Wissenschaft schlechthin. Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Verständnis von „Westen“ schlechthin als Idealismus führt zwar weit über die engere und unmittelbare Zielsetzung ihres Werkes Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus hinaus, die ja einfach darin bestand, der geistigen „Verwestlichung“ der iranischen Intellektuellen infolge von Positivismus und Materialismus zu wehren. Gleichwohl lässt sich diese allgemeine Definition von Westen und seines geistigen Unterbaus als Idealismus auch im Rahmen dieses engeren Zieles als ein Versuch verstehen, den Vorwurf des Idealismus, den die Anhänger von Positivismus und Materialismus oft genug gegen die Verfechter metaphysischer Lehren richten, auf jene zurückzulenken.⁹
8 Vgl. Dabashis Bemerkung zu Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Beurteilung des Marxismus als Idealismus: Dabashi, 2008:285. 9 Dabashi, 2008:285.
Heilsgeschichte gegenüber „Unheilsgeschichte“
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4.3 Heilsgeschichte gegenüber „Unheilsgeschichte“ Unter Philosophie nun verstehen Denker derselben Richtung wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī letzten Endes die theosophische Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins. In dieser Lehre mit ihrem in Ontologie gegründeten erkenntnistheoretischen Realismus vollendet sich für sie die Entwicklung der islamischen Geistes- und Heilsgeschichte. Desgleichen ist für sie aber auch die Einswerdung von „Westen“ mit Idealismus das Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, und Muṭahharī hebt einige Stationen auf dem Wege dieser Entwicklung besonders hervor. Die erste dieser Stationen scheint für ihn das Ausscheiden der Philosophie aus dem Geistesleben und Geistesgut des Abendlandes in der ausgehenden Antike darzustellen, ein Vorgang, in dessen Anschluss diese Disziplin in die Geisteswelt des Islam aufgenommen wurde und in ihr neu aufblühte: „Jene geistige Bewegung [d. h. die Philosophie], die an den Gestaden Kleinasiens und in Griechenland entstanden war“, so der Gelehrte, „wurde in Alexandria weiter betrieben, und als die Akademien von Alexandria und Athen ihrem völligen Erlöschen entgegengingen und der oströmische Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr. befahl, die Universitäten abzuschaffen und die Tore der Lehrstätten von Athen und Alexandria zu schliessen, worauf sich die Gelehrten aus Furcht versteckten und so die Zentren von Lehre und Unterricht zum Erliegen kamen, da begann mit dem Aufgang der Sonne des Islam in einer anderen Weltgegend eine neue Bewegung und wurden die Voraussetzungen für eine weitere neue und tiefe Zivilisation geschaffen.“¹⁰ Dabei hängt der eben beschriebene Abgang der Philosophie von der geistesgeschichtlichen Bühne des Abendlandes für Muṭahharī offenbar mit dem Auftritt des Christentums zusammen – eine Folge eben jener Unverträglichkeit der Philosophie mit dem Christentum, welche in seinen Augen die Unvollkommenheit der christlichen Religion als solcher verrät. Denn an einer späteren Stelle, an der es um die Auseinandersetzung zwischen Religion und Philosophie in der mittelalterlichen Scholastik geht, führt er über das Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie im allgemeinen ein Zitat an, das ebensogut in den vorliegenden Zusammenhang passen würde und das da lautet: „Die Philosophie erreichte unter den Muslimen gleich schon bei ihrem frühesten Aufleben die höchsten Stufen, doch unter den Christen ging sie schon bei der ersten Begegnung zugrunde, und all ihre Diskurse mit Ausnahme derjenigen, die mit ‚christlicher Gotteslehre‘ zu tun hatten, wurden für sündhaft erklärt.“¹¹ Demgegenüber zeigt sich im Aufschwung der Philosophie im Islam die Vollkommenheit 10 M, 1381, I:11. 11 M, 1381, I:32 (Zitat aus Dr. Šiblī Šumayyil: Falsafat al-nušūʾ wa-al-irtiqāʾ).
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Gesamtbefund und Folgerungen
der Religion des Islam als solcher – genauer: dessen, was gemäss Gelehrten wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Angehörigen der geistlichen und geistigen Elite unter der schiitischen Gemeinde die Wirklichkeit des Islam, den „wahren“ Islam, ausmacht. So sieht denn etwa Muṭahharī die islamischen Philosophen als Fortsetzer und Vollender der antiken griechischen Philosophie, eine Sichtweise, die auch seiner Äusserung zugrundeliegt: „Die islamischen Philosophen […] haben […] die unvollendet gebliebene Philosophie Griechenlands beträchtlich weiterentwickelt […].“¹² Und Mullā Ṣadrā wiederum gilt ihm als der Vollender der geistigen Entwicklung des Islam, ein Urteil, das er wie folgt formuliert: „Mullā Ṣadrā verarbeitete […] das, was von den antiken Gelehrten Griechenlands, insbesondere Platon und Aristoteles, auf uns gekommen ist, was die grossen islamischen Weisen, so etwa Fārābī, Ibn Sīnā, der Begründer der Erleuchtungsphilophie und andere, dargelegt oder als ihren Teil beigetragen haben und was die grossen Mystiker […] entdeckt haben, und schuf eine neue Grundlage und stützte diese auf feste und unerschütterliche Prinzipien und Regeln. Was Beweisverfahren und Demonstration betrifft, fasste er die Gegenstände der Philosophie in die Form mathematischer Regeln, von denen die eine jeweils aus der anderen auf dem Wege der Deduktion gewonnen wird, und befreite so die Philosophie aus dem Wirrwarr der Beweisverfahren.“¹³ Im selben Sinne bemerkt er auch: „Die Philosophie des Oberhauptes der Gottähnlichen ist nicht nur in vieler Hinsicht originell und einzigartig, sondern zudem das Ergebnis der achthundertjährigen Bemühungen der grossen Denker, von denen ein jeder etwas zur Weiterentwicklung der Philosophie beigetragen hat.“¹⁴ Im Islam vollendet sich somit gewissermassen die Entwicklung, welche im Abendland infolge der Verschlechterung der geistesgeschichtlichen Bedingungen nicht fortgesetzt werden konnte. Als eine weitere Station auf dem Entwicklungsweg der westlichen Geistesgeschichte in Richtung Idealismus macht Muṭahharī den Universalienstreit der Scholastik aus, an dessen Ende die Nichtunterscheidung zwischen Begriff und Ding, Innergeistigem und Aussergeistigem, sowie, in Verbindung damit, die Nichtanerkennung der Abstraktion als Weg der Erkenntnis standen – mit schwerwiegenden Nachwirkungen auf den weiteren Gang des abendländischen Denkens. Den allgemeinen Befund, der sich für Muṭahharī aus der Betrachtung der abendländischen Geistesgeschichte in ihrem Gesamtverlauf ergibt, fasst der Gelehrte in die Worte – Worte, die wir bereits bei anderer Gelegenheit zitiert haben: „Im allgemeinen ist in derjenigen Disziplin, die seit alters her als ‚eigent12 M, 1381, I:18. 13 M, 1381, I:12. 14 Ebda.f.
Heilsgeschichte gegenüber „Unheilsgeschichte“
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liche Philosophie‘ oder ‚höchste Erkenntnis‘ bekannt ist, d. h. in der Disziplin der Wahrheitsfindung in der allgemeinen Ordnung der Welt und der Erklärung aller Bereiche des Seins, in Europa, sei es im Mittelalter, sei es in der Neuzeit, kein nennenswerter Fortschritt erzielt worden […].“¹⁵ Dabei meint er mit der Disziplin, die er hier „eigentliche Philosophie“ und „höchste Erkenntnis“ nennt, nichts anderes als Ontologie, die für Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī aber ihrerseits wieder gleichbedeutend ist mit Metaphysik. In Muṭahharīs Urteil ist es der abendländischen Geistesgeschichte mit anderen Worten nicht gelungen – sofern es ihren Vertretern denn überhaupt darum zu tun war –, eine überzeugende Metaphysik und damit eine tragfähige Grundlage für die Erkenntnisgehalte jedweder Wissenschaft hervorzubringen. In diesem Sinne bemerkt er auch andernorts: „In der Neuzeit sind grosse metaphysische Denker wie etwa Descartes und seine Anhänger aufgetreten, aber auch diesen Gelehrten ist es nicht geglückt, eine überzeugende, gefestigte Metaphysik zu schaffen.“¹⁶ und, wieder an anderer Stelle, aber immer noch im selben Sinne: „In Europa […] ist kein überzeugendes und gefestigtes System entstanden, das die Philosophie vor Zersplitterung, Zerteilung und Zerstreuung erretten könnte. Genau dieser Sachverhalt hat in Europa zum Auftreten einander widersprechender Denkschulen geführt […].“¹⁷ In Muṭahharīs Augen ist es diese Verwirrung des westlichen Geisteslebens infolge des Fehlens einer gefestigten Metaphysik, die schliesslich in Idealismus mündete und im Aufgehen des Westens im Idealismus geendet hat, so dass, wie der Gelehrte es formuliert, „der Markt der Sophisterei […] einen unbeschreiblichen Zulauf erfahren hat.“¹⁸ Zwar ist dieser Zug der europäischen Geistesgeschichte Muṭahharī zufolge noch verstärkt worden oder jedenfalls stärker zu Tage getreten durch die einzelwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen der Neuzeit: „[…] die wissenschaftliche Modernisierung im Europa der Neuzeit“, so der Gelehrte, „führte in Wirklichkeit infolge des harten Schlages, den sie dem Gedankengut versetzte, indem sie die mehrtausendjährigen Gewissheiten der Menschheit in Himmelskunde und Naturwissenschaft als unhaltbar erkannte, zu erheblicher geistiger Verwirrung, Richtungslosigkeit und Zersplitterung.“¹⁹ und ebenso: „Zwar vollzog sich diese Entwicklung in den Fragestellungen der empirischen […] Wissenschaften, erschütterte aber zwangsläufig auch das Denken in rein theoretischen und verstandesgestützten [d. h. nicht-empirischen] Gehalten sowie in religiösen
15 M, 1381, I:17. 16 M, 1381, I:32. 17 M, 1381, I:17. 18 M, 1381, I:31. 19 Ebda.
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Fragen in seiner Gewissheit. Dies wiederum führte dazu, dass in Europa allerhand einander widersprechende philosophische Schulen aufkamen und jede Gruppe einen anderen Weg einschlug […].“²⁰ So bedeutend aber der Anteil dieser Neuerungen in Naturwissenschaft und Technik an dieser geistesgeschichtlichen Verwirrung des Abendlandes auch sein mag, die eigentliche Ursache liegt für Muṭahharī tiefer: „[…] die Entstehung unterschiedlicher Schulen in Europa hat noch eine weitere Hauptursache, nämlich das Fehlen einer gefestigten und tragfähigen rein verstandesgestützten Lehre in der Philosophie, welche imstande wäre, den Einzelwissenschaften gerecht zu werden […].“²¹ Wohl nicht von ungefähr hebt Muṭahharī in seinen Bemerkungen über den Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte zudem ein zeitliches Zusammenfallen zwischen Descartes’ Bemühungen um die Entwicklung einer nachscholastischen, „modernen“ Philosophie mit metaphysischer Grundlage – Bemühungen, deren Ergebnis der Gelehrte als philosophisch unzulänglich bemängelt – auf der einen Seite und dem Einsetzen des Schubes an naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen in Europa auf der anderen hervor mit den Worten: „Seit den Zeiten Descartes’ hat Europa wissenschaftliche Entdeckungen in atemberaubender Geschwindigkeit gemacht. In allen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich die Methode verändert und sind neue Fragestellungen aufgekommen. Neben den Gelehrten, welche in den verschiedenen naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern gewirkt haben, sind auch nacheinander grosse Philosophen aufgetreten und haben die Philosophie in neue Bahnen gelenkt.“²² und: „Seit der Zeit Descartes’ bis in die Gegenwart sind ganz unterschiedliche philosophische Richtungen entstanden, von denen jede Gruppe wieder eine eigene Lehre vertreten hat. Die einen haben sich der rein verstandesgestützten Philosophie zugewandt, während andere wieder die Philosophie aus der Warte der empirischen Wissenschaften betrachtet haben. Manche haben die Fragen der ersten Philosophie [d. h. der Metaphysik] und der Theosophie als Gegenstand des Denkens nach der diskurvisen Methode und des Forschens anerkannt und auf diesem Gebiet bestimmte Lehrmeinungen und Theorien vorgebracht. Andere wieder haben behauptet, dass der Mensch grundsätzlich unfähig sei, diese Gegenstände zu begreifen, und dass alles, was auf diesem Gebiet bis anhin in bejahendem oder verneinendem Sinne behauptet worden sei, keine Begründung habe. Die einen sind in ihren Lehren Metaphysiker geworden, andere Materialisten.“²³
20 Ebda. 21 Ebda. 22 M, 1381, I:17. 23 Ebda.
Heilsgeschichte gegenüber „Unheilsgeschichte“
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Ebenfalls wohl nicht von ungefähr weist Muṭahharī auf das zeitliche Zusammentreffen zwischen Descartes’ Errichtung seiner „modernen“ philosophischen Lehre auf der Grundlage des „Ich denke, also bin ich“ und Mullā Ṣadrās Entwicklung seiner Lehre von der Eigentlichkeit des Seins hin mit den Worten: „Zur gleichen Zeit, als der führende Gottähnliche“, gemeint ist Mullā Ṣadrā, „im Iran damit beschäftigt war, einen grundstürzenden Wandel in der Philosophie herbeizuführen und einen neuen [philosophischen] Entwurf vorzulegen (im 11. Jahrhundert der Hiǧrah bzw. im 16. Jahrhundert n. Chr.), setzte auch in Europa eine bedeutende Bewegung auf dem Gebiet der Einzelwissenschaften und der Philosophie ein, deren Voraussetzungen einige Jahrhunderte früher geschaffen worden waren. Genau zur selben Zeit, da das Oberhaupt der Gottähnlichen sich in Abgeschiedenheit und Einsamkeit dem Denken und Meditieren widmete und sich zu diesem Zweck für eine Weile in das Bergland von Qom zurückzog, um seine weit ausgreifenden Gedanken besser in schriftliche Form bringen zu können, stimmte der Franzose Descartes seinerseits eine neue Weise an […].“²⁴ Während in der Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins also die Geistesgeschichte des Islam zu ihrer intellektuellen und spirituellen Vollendung gelangt und sich damit in einem gewissen Sinne die Heilsgeschichte verwirklicht, trägt das Scheitern von Descartes’ Bemühen in der Begründung einer überzeugenden Metaphysik das Seine dazu bei, die Geistesgeschichte des Abendlandes auf dem Weg der Verwirrung einen Schritt weiter zu führen hin zu ihrem Aufgehen in Idealismus, eine Entwicklung, in der sich in gewissem Sinne eine Unheilsgeschichte verwirklicht. „Wenn die Metaphysik in Europa denselben Fortschritt gemacht hätte wie unter den Muslimen“, so zeigt sich Muṭahharī jedenfalls überzeugt, „dann wären bestimmt weder all jene zersplitterten und zerstreuten philosophischen Richtungen entstanden noch wäre der Weg für die Phantasterei der Sophisten frei geworden noch für die Überheblichkeit der Materialisten, und es wären am Ende weder Idealismus noch Materialismus entstanden.“²⁵ In der Hinsicht also, dass es in der islamischen Geistesgeschichte gelungen ist, eine überzeugend begründete Metaphysik in der Philosophie des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins zu entwickeln, während die abendländische Geistesgeschichte darin gescheitert ist, liegt für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Reisende des vierten Weges für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam die Überlegenheit bei den islamischen Gelehrten, zumal bei Mullā Ṣadrā, und nicht bei den Vertretern der abendländischen Lehren. Wenn sich nun aber die Lehren, welche nach der Auffassung von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die geistigen Grundlagen der westlichen Zivilisation bilden, der Lehre von der Eigentlichkeit 24 M, 1381, I:16 f. 25 M, 1381, I:32 f.
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des Seins, in der für sie die Verwirklichung der Geistes- und Heilsgeschichte des Islam liegt, jener Zivilisation also, der sie selbst angehören, als unterlegen erweisen, so bedeutet dies für die beiden Denker letztlich nichts anderes, als dass die westliche Zivilisation als solche gegenüber derjenigen des Islam – genauer: des Islam nach dessen Verständnis im Lichte des vierten Weges – unterlegen, mit anderen Worten: defizitär, ist. Denn da die Wirklichkeit eines jeden Dings, so auch einer Zivilisation, nach dem Verständnis der Reisenden des vierten Weges wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī im Geistigen besteht, so bemisst sich auch die Qualität einer Zivilisation schlechthin an der Qualität ihrer geistigen Grundlagen. Jeglicher Überlegenheits- und Vorbildlichkeitsanspruch der westlichen Zivilisation muss sich in diesem Lichte als unbegründet und hinfällig erweisen. Auch aus diesem allgemeinen Befund einer Entgegensetzung zwischen islamischer Geistesgeschichte als Heilsgeschichte und westlicher Geistesgeschichte als Unheilsgeschichte lässt sich, wenn wir ihn im Rahmen der Erwiderung auf die Anhänger von Positivismus und Materialismus unter den iranischen Intellektuellen, der engeren Zielsetzung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus, betrachten, eine deutliche Spitze gegen die Vertreter der betreffenden Lehren heraushören: Der Westen erscheint in dieser Darstellung als eine Zivilisation, die von Naturwissenschaft und Technik, den Grundlagen, auf die sie sich bei der Behauptung ihres Überlegenheitsanspruches gerne beruft, selbst überfordert ist, wie die geistige Verwirrung, zu der die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen laut Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī beigetragen haben, beweist. Positivismus und Materialismus sind nach dieser Lesart der abendländischen Geistesgeschichte dann nicht diejenigen Lehren, welche der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung der Neuzeit auf der Ebene der Philosophie angemessen Rechnung tragen, sondern vielmehr selbst nichts weiter als zwei Folgeerscheinungen der geistigen Verwirrung im Zuge eben dieser Entwicklung.
4.4 Die Gleichsetzbarkeit von Westen mit Idealismus im geschichtlichen und interkulturellen Vergleich bei Muṭahharī Bei der erwähnten Gleichsetzbarkeit der westlichen Zivilisation der Neuzeit mit Idealismus handelt es sich für Muṭahharī nicht um eine geistesgeschichtlich einmalige oder einzigartige Situation, und zwar weder im Rahmen der Geistesgeschichte des Abendlandes selbst noch im Rahmen des Vergleichs zwischen abendländischer und islamischer Geistesgeschichte.
Westen mit Idealismus bei Muṭahharī
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4.4.1 Im geschichtlichen Vergleich Was zum einen die Geistesgeschichte des Abendlandes selbst in ihrem Gesamtverlauf betrifft, so betrachtet Muṭahharī die Herrschaft des Idealismus, als deren Ausprägungen er wiederum Sophismus und Skeptizismus ansieht, über die gedanklichen Systeme der Neuzeit in gewissem Sinne als eine Wiederholung, als ein Wiederaufleben, der sophistischen und skeptizistischen Strömungen des Altertums zur Zeit von Sokrates, Platon und Aristoteles.²⁶ Und auch die Umstände, unter denen sich Aufstieg und Ausbreitung von Sophismus und Skeptizismus in der Antike einst vollzogen, sind in seinen Augen vergleichbar mit denen, welche das Hochkommen dieser Gegenströmungen zur Philosophie in der Neuzeit begünstigen, wenn nicht verursachen.²⁷ So erwähnt Muṭahharī das Auftreten des Sophismus im Abendland der Neuzeit ausdrücklich als eine der Folgen oder jedenfalls als eine Begleiterscheinung der geistesgeschichtlichen Verwirrung, die daselbst im Zuge der naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen offenbar geworden ist, eine Verwirrung, deren Ursache er ihrerseits wieder in dem Fehlen einer überzeugenden metaphysischen Lehre in der westlichen Philosophie sieht. Und ebenso ausdrücklich erwähnt er das Auftreten des Sophismus in diesem Umfeld als die Wiederholung eines Vorganges, der sich in der früheren Geistesgeschichte schon einmal zugetragen hatte: „Wir wissen […]“, so der Gelehrte an einer in anderem Zusammenhang bereits zitierten Stelle, „dass [im Zuge der einzelwissenschaftlichen und technischen Entwicklungen im Westen] auch der Markt der Sophisterei abermals einen unbeschreiblichen Zulauf erfahren hat, nachdem er zweitausend Jahre lang unbelebt und unscheinbar gewesen war.“²⁸ Wie diese Zeitangabe genau zu verstehen ist, geht aus einer Bemerkung Muṭahharīs an anderer Stelle hervor, an der es heisst: „Unter den griechischen Gelehrten vor Sokrates gibt es eine Gruppe, deren Mitglieder ‚Sophisten‘ genannt werden […].“²⁹ Was ferner die Umstände des Auftretens dieser Gruppe betrifft, so führt der Denker aus: „Wie aus den Quellen hervorgeht, die uns vorliegen, vollzog sich das Auftreten des Sophismus im fünften Jahrhundert v. Chr. in Griechenland als Folge zweier Umstände.“³⁰ Und den einen dieser zwei Umstände beschreibt Muṭahharī als „das Erscheinen unterschiedlicher, widersprüchlicher und verwirrender philosophischer Lehrmeinungen und Überzeugungen.“³¹ „Sokrates,
26 Vgl. M, 1381, I:160 f. 27 Vgl. M, 1381, I:55 f. 28 M, 1381, I:31. 29 M, 1381, I:55. 30 Ebda. 31 Ebda.
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Platon und Aristoteles“, so der Gelehrte weiter, „widmeten sich mit Eifer der Bekämpfung der Sophisten […].“³² Und seiner Darstellung zufolge setzten sich diese Denker und ihre Anhänger in diesem geistigen Bemühen gegenüber den Sophisten und Vertretern ähnlicher Strömungen aus späterer Zeit wie etwa den Skeptikern³³ auch durch, denn, wie er an anderer Stelle erklärt: „Nach dem Niedergang der Schule der Skeptiker, die noch bis ins dritte, vierte Jahrhundert n. Chr. fortdauerte, hielten sich sämtliche Philosophen, sei es in Europa, sei es unter den Muslimen, in ihren Urteilen an die Lehre des Dogmatismus, und niemand zweifelte an Geltung und Wert unserer Wahrnehmungsgehalte [d. h. an ihrer Wirklichkeitsbezogenheit].“³⁴ „Erst vom 16. Jahrhundert an“, wie Muṭahharī die Entwicklung weiter schildert, „traten in Europa Ereignisse ein und gingen Entwicklungen in der Welt des Wissens vor sich, welche das Problem des ‚Wertes der Erkenntnisgehalte‘ erneut aufwarfen.“³⁵ Als diese Entwicklungen erwähnt der Gelehrte auch hier die Neuerungen in Naturwissenschaft und Technik im Abendland: „In der modernen Entwicklung Europas auf dem Gebiet der Astronomie und verschiedener [anderer] naturwissenschaftlicher Disziplinen“, so führt er aus, „wurde auf einmal die Ungültigkeit von Annahmen, die Jahrtausende lang bei sämtlichen Gelehrten der Welt als überzeugend und gesichert galten und denen zu widersprechen niemandem [auch nur] in den Sinn gekommen wäre, als gesichert angenommen, und dies führte dazu, dass die Wissensgehalte ihren früheren Wert und ihre frühere Geltung verloren […].“³⁶ Die Situation der Verunsicherung und Verwirrung in den philosophischen Lehren des Abendlandes, welche von jenen Entwicklungen ausgelöst oder vielleicht nicht ausgelöst, aber auf jeden Fall verstärkt wurden, setzt Muṭahharī nun mit jener gleich, die bereits in der Antike einmal zum Aufkommen des Sophismus geführt hat; er sagt: „Fast dieselbe Situation, die im fünften Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland dazu führte, dass eine Reihe Gelehrter daselbst der Erkenntnis schlechthin das Vertrauen entzog und die Richtung des Sophismus einschlug, hat sich in der Neuzeit in Europa wiederholt. So sind in Europa, wie wir wissen, Idealisten“ – mit anderen Worten: Sophisten oder Skeptizisten – „wie Berkeley und Schopenhauer aufgetreten, deren Lehrmeinungen denen des Protagoras und Gorgias, zweier der Sophisten des alten Griechenland, gleichkommen. Ebenso sind in der Frage nach 32 M, 1381, I:57. 33 Dass zudem in der islamischen Theologie die Bezeichnung „sūfisṭāʾiyyah“ für skeptische Positionen steht, mag das Seine dazu beigetragen haben, dass auch bei Muṭahharī die Grenze zwischen „Sophisten“ und „Skeptikern“ fliessend scheint; vgl. auch Van Ess, 1968; EI(2) „Sūfisṭāʾiyyūn“. 34 M, 1381, I:160. 35 Ebda. 36 Ebda.
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dem Wert der Erkenntnisgehalte Richtungen und Schulen entstanden, die letzten Endes auf die Lehre der pyrrhonischen Skeptiker hinauslaufen, so etwa die Strömung der modernen Relativisten […], der Kritizismus sowie die Lehre der dialektischen Materialisten in der Frage nach dem Wert der Erkenntnisgehalte […].“³⁷ Das Scheitern schon der mittelalterlichen, vollends dann aber der neuzeitlichen westlichen Philosophie, eine gefestigte und überzeugende Metaphysik zu entwickeln, kann aus dieser Sicht auch nur im Rückfall des Westens in „Anti-Philosophie“ im Sinne von Sophismus und Skeptizismus, kurz: in Idealismus, enden.
4.4.2 Im interkulturellen Vergleich Was zum zweiten die abendländische Geistesgeschichte im Vergleich mit der islamischen betrifft, so macht Muṭahharī auch in letzterer Strömungen aus, die aus seiner Sicht dem Skeptizismus bzw. dem Idealismus gleichkommen oder auf ihn hinauslaufen.³⁸ Bei derjenigen Richtung des Islam, in welcher der Gelehrte den Ursprung und die weiteste Verbreitung solcher Strömungen ortet, handelt es sich um die Sunnah, mit anderen Worten: um die Schar der „gemeinen“³⁹ Gläubigen aus Sicht der Vertreter der Schia wie Muṭahharī, die sich und ihre Gemeinde jenen gegenüber als die „Besonderen“ betrachten. Und zwar sind nach der Auffassung dieses Denkers sowohl in der Sunnah als auch in der neueren westlichen Geistesgeschichte die Metaphysik und die Beschäftigung mit dieser hinweggefallen, können sich also weder der sunnitische Islam noch der Westen auf eine überzeugende und gefestigte metaphysische Lehre stützen. Da für Muṭahharī und Denker seinesgleichen aber Metaphysik letzten Endes Philosophie überhaupt ist, so könnten wir genauso gut sagen: Sowohl in der Sunnah als auch in der neueren Geistesgeschichte des Westens sind Philosophie und die Beschäftigung mit dieser hinweggefallen. Allerdings sind die Gründe für diese Entwicklung – in Muṭahharīs Augen eine Fehlentwicklung – in der Sunnah nicht dieselben wie in der Geistesgeschichte des Westens. Was die Gründe angeht, die im Westen zu dieser Entwicklung geführt haben, so gibt Muṭahharī diese wie folgt an: „[…] in Europa triumphierte die sensualistische und empiristische Methode [der Naturwissenschaft] in der Erkenntnis des Physischen über die syllogistische [der Philosophie]. Nach diesem Triumph kam der Gedanke auf, dass die syllogistische und rein verstandesgestützte Methode in überhaupt keinem Bereich gelte und die einzige glaubwürdige Philosophie die sensualistische Philosophie sei. 37 M, 1381, I:160 f. 38 Vgl. M, 1381, V:12 ff. 39 „ʿāmmah“: Vgl. etwa M, 1381, V:18, 21.
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Diese Anschauung brachte es zwangsläufig mit sich, dass die Metaphysik und ihre Gehalte, weil sie ausserhalb der Reichweite von Sinneserfahrung und der Empirie stehen, für zweifelhaft, unerkennbar und unerforschlich erklärt wurden und manche sie gar schlechthin leugneten.“⁴⁰ Dabei bezeichnet Muṭahharī Sensualismus und Empirismus an dieser Stelle nur aus Rücksicht auf das Selbstverständnis der Anhänger der betreffenden Strömungen selbst als Philosophie. Im Westen hat in dieser Sicht letztlich also die Durchsetzung der Einzeldisziplinen im Sinne der empirischen Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaften, die Ausschaltung der universalen Wissensdisziplin der Philosophie aus der Geistesgeschichte bewirkt. Im Zusammenhang mit den Gründen, die aus seiner Sicht im sunnitischen Islam zu dieser Entwicklung geführt haben, kommt Muṭahharī auf eine Gruppe Gelehrter jener Richtung zu sprechen, deren Position er wie folgt wiedergibt: „[…] sie sagen: ‚[…] die Fragen der Metaphysik sind alle himmlisch, und die Botschaft des Himmels darf man ausschliesslich vom Himmel selbst hören. Wir können mit unserem Verstand in Wirklichkeit nicht einsehen, wie es möglich ist, dass ein Seiendes Gott ist, d. h., dass nichts ihn ins Sein gebracht hat, und ebensowenig können wir mit unserem Verstand einsehen, ob Gott eines ist oder mehr als eines, einfach oder zusammengesetzt, körperlich oder unkörperlich, ob ihm Schlaf und Wachen zukommen, Bewegung und Ortsänderung. Diese und ähnliche Fragen stellen für den Menschen lauter Unbekannte dar, und hinsichtlich solcher Gehalte darf der Mensch nur unter Berufung auf die Botschaft des Himmels überhaupt eine Überzeugung vertreten. Hinsichtlich all dieser Probleme muss sich der Mensch, ohne Wie und Warum zu fragen und ohne ein Recht auf eigenes Nachdenken zu beanspruchen, d. h. ohne Einschaltung von Logik und Beweisführung, der Lehre der Offenbarung unterwerfen‘.“⁴¹ Was Muṭahharī hier beschreibt, ist nichts anderes als eine theologische Position, die unter dem Namen des ohne Wie bekannt geworden ist, und im Zeichen der Position des ohne Wie, so führt er weiter aus, „ist jegliches Wie und Warum betreffs solcher Gegenstände [d. h. der Gehalte der Metaphysik] aus islamischer Sicht sündhafte Neuerung.“⁴² Als Hauptvertreter des ohne Wie nennt er gleich in der Fortsetzung der vorigen Stelle die Anhänger des Theologen Abū al-Ḥasan Ašʿarī (st. 935) und des Aḥmad Ibn Ḥanbal (st. 855) –, die er wiederum unter der Bezeichnung „Traditionarier“⁴³ – „Überlieferungswissenschaftler“ – zusammenfasst.⁴⁴ „[…] eine Gruppe namens
40 M, 1381, V:24. 41 M, 1381, V:12 f. 42 M, 1381, V:13. 43 „ahl al-ḥadīṯ“: Ebda. 44 Ebda.
Westen mit Idealismus bei Muṭahharī
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‚Traditionarier‘“, so der Gelehrte andernorts, „deren Kenntnisse sich auf das Tradieren und Weitervermitteln von Überlieferungsaussagen beschränkte, allen voran die Ḥanbaliten, hielten jegliche Erörterung, Vertiefung und eingehendere Analyse in diesen Fragen für ungesetzlich.“⁴⁵ Im sunnitischen Islam hat in dieser Sicht letztlich also die Durchsetzung der Einzeldisziplinen im Sinne der islamischen Überlieferungswissenschaft im Zeichen der Position des ohne Wie den Ausschluss der Metaphysik und damit der universalen Wissensdisziplin der Philosophie aus der Geistesgeschichte bewirkt. Bei alledem bestreitet Muṭahharī keineswegs, dass von metaphysischen Gehalten, hinsichtlich derer dem Menschen gemäss den Verfechtern des ohne Wie nur die Unterwerfung unter die Lehre der Offenbarung übrigbleibt, in der Offenbarung, der „himmlischen Botschaft“, in der Tat die Rede ist.⁴⁶ Solche Aussagen sind ihm zufolge ihrem Gehalt nach rein theoretisch.⁴⁷ Sie bilden die eine Gruppe der Offenbarungsaussagen, während die andere Gruppe in Aussagen besteht, von denen der Gelehrte sagt: „[…] es handelt sich bei ihnen um eine Reihe von Anleitungen für die Praxis, nach denen der Mensch handeln soll, damit das Ergebnis, für das sie vorgesehen sind, eintritt. In derlei Gehalten kommt dem Begreifen und Erkennen keine allzu grosse Bedeutung zu. Ziel und Absicht, was diese Gehalte betrifft, liegt im Handeln, nicht in der Erkenntnis.“⁴⁸ Mit diesen praktischen Anleitungen meint Muṭahharī diejenigen Offenbarungsworte, die Grundlage für das religionsgesetzlich bewertbare Handeln des Menschen sowie für die religionsgesetzliche Bewertung desselben und damit Gegenstand der islamischen Gesetzeswissenschaft sind. Und das einzige Verhalten des Menschen, das diesen handlungsbezogenen Offenbarungsgehalten angemessen sein kann, liegt Muṭahharī zufolge selbst im Handeln, genauer: in der Erfüllung unserer Gehorsamspflicht als Diener Gottes und in der Unterwerfung unter sein Gesetz.⁴⁹ Das angemessene Verhalten des Menschen gegenüber den praxisbezogenen Offenbarungsaussagen ist demnach seinerseits praktisch – pragmatisch –, und die angemessene Disziplin für die Behandlung der praktischen Offenbarungsaussagen ist ebenfalls eine praktische, nämlich die Überlieferungs-, genauer: die Gesetzeswissenschaft. Demgegenüber beschreibt Muṭahharī die Aussagen der islamischen Offenbarung und anderer religiös massgeblicher Texte, deren Gehalte ihm zufolge rein theoretisch sind, mit den Worten: „Keiner dieser Gehalte wird so behandelt, als
45 M, 1381, V:19. 46 M, 1381, V:14. 47 M, 1381, V:17. 48 M, 1381, V:14 f. 49 Vgl. M, 1381, V:15.
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gehe es nur darum, eine Reihe von Punkten einzuschärfen, welche sich auf die Erfüllung unserer Gehorsamspflicht als Diener Gottes beziehen, sondern vielmehr geht es in der Darlegung derselben darum, eine Reihe einsichtiger und beweiskräftiger Aussagen vorzubringen und nach der logisch korrekten Abfolge von Obersatz und Untersatz zu verfahren.“⁵⁰ Und das einzig angemessene Verhalten des Menschen gegenüber diesen rein theoretischen, weil metaphysischen, Aussagen kann Muṭahharī zufolge nun eben nicht im Handeln, in der Praxis im Sinne der Erfüllung unserer Gehorsamspflicht als Diener Gottes, bestehen: „Diese [Aussagen]“, so der Gelehrte, „sind nicht praktische Anleitungen, so dass wir sagen könnten, unsere Pflicht [ihnen gegenüber] bestehe im Handeln und in sonst nichts.“⁵¹ Das einzig angemessene Verhalten des Menschen gegenüber den Offenbarungsaussagen rein theoretischen, metaphysischen Inhalts muss daher in Wissen und Erkennen bestehen, kann mithin nicht praktisch – pragmatisch –, sondern nur – angepasst an seinen Gegenstand – selbst theoretisch sein, und die angemessene Disziplin für die Behandlung der theoretischen, metaphysischen Offenbarungsaussagen kann daher auch selbst nicht eine praktische sein wie etwa die Gesetzeswissenschaft, sondern nur eine ebenfalls theoretische – die Metaphysik eben, die Philosophie. Das Verhalten der Anhänger des sunnitischen Islam gegenüber den metaphysischen und deshalb theoretischen Gehalten der Offenbarung jedoch steht in Muṭahharīs Auffassung genauso im Zeichen des Praktischen wie ihr Verhalten gegenüber den Offenbarungsaussagen praktischen Inhalts. Sunnah ist nach diesem Verständnis eine Art Pragmatismus, ein Pragmatismus im Zeichen der Einzeldisziplin der islamischen Gesetzeswissenschaft, ganz gleich, ob der Gegenstand praktisch oder theoretisch ist: „Diese Gruppe ist überzeugt“, so Muṭahharī über die Position der Anhänger des ohne Wie in metaphysischen Fragen, „dass die Lehre des Islam und die Grundlage des Islam in solchen Fragen in der Unterwerfung [unter das Gesetz] und der Erfüllung unserer Gehorsamspflicht als Diener Gottes bestehen, nicht in Forschen und Denken.“⁵² Eine solche pragmatische Position, angewendet nicht auf praktische, sondern auf theoretische, zumal metaphysische Fragen läuft aber, wie Muṭahharī schon gegen den Pragmatismus als Strömung der westlichen Geistesgeschichte geltend macht, letzten Endes auf Idealismus hinaus, und insofern ist für ihn der sunnitische Islam, die Richtung der „gemeinen“ Gläubigen also, wenn auch nicht gerade von Idealismus befallen, so doch für diesen anfällig – anfälliger jedenfalls als der schiitische Islam, die
50 Ebda. 51 M, 1381, V:17. 52 M, 1381, V:13.
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Glaubensrichtung der „Besonderen“, zu deren Elite Denker wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī gehören.
Die naturwissenschaftliche Koranexegese der Sunnah und Muṭahharīs Kritik daran Somit fehlt Muṭahharī zufolge also dem sunnitischen Islam genauso wie den vorherrschenden Lehren des Abendlandes der Moderne eine gefestigte und überzeugende metaphysische Grundlage: dem sunnitischen Islam infolge des Überwiegens der Position des ohne Wie; der Geistesgeschichte des Abendlandes infolge des „Triumphes“ des Empirismus. Während aber für die Denker des Abendlandes, die im Banne des Empirismus stehen, die Gehalte der Metaphysik als Gegenstände von Erkenntnis gar nicht erst in Frage kommen, sind die sunnitischen Gläubigen als Anhänger einer Gotteslehre auf jeden Fall mit Fragen metaphysischen Inhalts – etwa mit Fragen der Gotteserkenntnis – befasst. Andererseits jedoch haben sie im Banne der Position des ohne Wie eben auch keine gefestigte Grundlage, um sich mit diesen auseinanderzusetzen. Genau diese Sachlage stellt für Muṭahharī eine der Ursachen für eine Entwicklung in der jüngeren Geistesgeschichte des sunnitischen Islam dar, die er wie folgt beschreibt: „In der Welt des Islam haben die vorangegangene Welle der Gegnerschaft gegen jede Art von Nachdenken und Vertiefung [in metaphysischen Fragen] seitens der Überlieferungswissenschaftler einerseits und andererseits die fortgesetzten Erfolge des empirischen Verfahrens in der Erkenntnis des Physischen […] einige islamische Autoren heftig verstört und unter ihnen eine zusammengestückte Lehre entstehen lassen. Dieser zufolge sind die Gegenstände der Metaphysik wohl erforschbar, aber in metaphysischen Fragen müssen wir uns ebenfalls ausschliesslich des sensualistischen, empirischen Verfahrens [der Naturwissenschaft] bedienen, das für die Erkenntnis des Physischen zur Anwendung kommt. Nach der Lehre des Koran, so die Behauptung dieser Gruppe, besteht der einzige Weg für die Erkenntnis Gottes im Studium der Natur und des Geschaffenen unter Anwendung des empirischen Verfahrens, und jeder Weg ausser diesem ist unnütz. Denn der Koran fordere in allen seinen Versen die Menschen vollkommen unmissverständlich dazu auf, die Erscheinungen der Natur zu studieren, was nur mit Hilfe des empirischen Verfahrens gelingen könne, und sehe in solcherlei Betrachtung den Schlüssel für [die Einsicht in] das Geheimnis der ersten und der letzten Dinge.“⁵³ Bei der „zusammengestückten“ Position, die Muṭahharī hier darlegt, handelt es sich um nichts anderes als um die Strömung der naturwissenschaftlichen
53 M, 1381, V:24 f.
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Koranexegese. Als Vertreter dieser Richtung erwähnt Muṭahharī Farīd Waǧdī und Sayyid Abū al-Ḥasan Nadawī sowie einige Autoren der Muslimbruderschaft wie Sayyid Quṭb und Muḥammad Quṭb⁵⁴, und ihre Lehre stellt er anhand eines Zitates aus Nadawī vor, das da lautet: „Die Propheten haben den Menschen von Wesen und Attributen Gottes, von Anfang und Ende der Welt und dem Schicksal der Menschheit Kunde gebracht und dem Menschen Kenntnisse auf diesen Gebieten mitgegeben, ohne dass der Mensch von sich aus zu deren Erwerb etwas leisten müsste. So haben sie den Menschen der Bedürftigkeit nach Erörterung dieser Gegenstände, deren Anfangsgründe und Voraussetzungen ausserhalb seines Verfügungsbereiches liegen, weil es sich bei ihnen um Wissensgehalte jenseits der Sinneserfahrung und des Physischen handelt, enthoben. Der Mensch aber hat sich für diese Gnade nicht erkenntlich gezeigt und sich [deshalb] mit Erörterung und Untersuchung über diese Gegenstände abgegeben, womit er sich aber nur auf dunkles und unbekanntes Gebiet vorgewagt hat.“⁵⁵ Unerkenntlichkeit gegenüber Gottes Gnade ist aber gleichbedeutend mit Unglauben, und so gilt den Vertretern der naturwissenschaftlichen Koranexegese wie Nadawī denn jede philosophische Beschäftigung mit metaphysischen Fragen als ein Akt des Unglaubens. Muṭahharī als Vertreter einer philosophischen Lehre hingegen, in der Metaphysik und die Beschäftigung mit den Fragen derselben mit Philosophie geradezu gleichgesetzt werden, urteilt über die Position von Denkern wie Nadawī mit den Worten: „Die Auffassung von Denkern wie Farīd Waǧdī und Nadawī stellt eine Art ‚Wiederauferstehung‘ des Ḥanbalitentums dar, nur in moderner und zeitgenössischer Form und in Kombination mit der sensualistischen [bzw. empiristischen] Philosophie des Westens.“⁵⁶ Dabei muss einem Denker wie Muṭahharī schon der methodische Ansatz der naturwissenschaftlichen Koranexegese als verkehrt erscheinen, metaphysische Fragen mit Hilfe und im Rahmen einer Lehre erörtern zu wollen, welche sich der Erörterung metaphysischer Fragen gerade enthält: „Der Koran“, so Muṭahharī, „ruft ohne Zweifel zur empirischen Betrachtung der Natur [d. h. des Physischen] auf […], aber erklärt der Koran die Betrachtung der Natur für die Lösung aller Fragen, die er aufwirft, auch für ausreichend?“⁵⁷ Unter diesen Fragen finden sich Muṭahharī zufolge nämlich durchaus einige, die sich, wie er es ausdrückt, auf Gegenstände „jenseits der Grenze“⁵⁸, d. h. jenseits der Reichweite von Sinneserfahrung und Empirie, beziehen. „Die Kenntnis des Physischen“, so der
54 M, 1381, V:25. 55 Ebda. 56 Ebda. 57 Ebda. 58 M, 1381, V:26.
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Gelehrte, „lässt uns ganz ohne Zweifel des Wissens, der Macht und der Weisheit des Erschaffers der Welt gewahr werden. Aber auch in dieser Hinsicht lässt sie uns höchstens erkennen, dass dem Erschaffer der Welt Bewusstsein hinsichtlich der Akte zukommt, die er im Bereich des Physischen [d. h. der Natur] wirkt, und dass er über diese mächtig ist […]. Aber der Koran fordert uns hinsichtlich dieser Gegenstände zu einer noch höheren Erkenntnis auf, und diese besteht darin, dass ihm Bewusstsein hinsichtlich aller Dinge ohne Ausnahme zukommt“, also nicht nur seiner Akte im Bereich des Physischen, „und er über alle Dinge ohne Ausnahme“, also nicht nur über die Natur, „mächtig ist […].“⁵⁹ Und diese Erkenntnis, so führt Muṭahharī seinen Gedanken weiter, lässt sich nicht auf dem Weg der Betrachtung der Natur, des Physischen, gewinnen, denn: „[…] die Betrachtung des Physischen leitet uns [nur] bis an die Grenze zum Metaphysischen. Dieser Weg ist eine Strasse, die nur bis an die Grenze zu dem der Natur Jenseitigen herangeführt worden ist und daselbst endet […].“⁶⁰ Deshalb, so führt der Gelehrte seinen Einwand weiter aus, „[…] bewirkt die Betrachtung der Natur höchstens, dass sie uns klar macht, dass die Natur einer oder mehreren lenkenden, ordnenden und bewussten Kräften unterstellt und von ihnen beherrscht ist. Ob jene Kraft aber ihrerseits wieder von irgendwoher gekommen ist oder nicht […], ob sie eines ist oder vieles, einfach ist oder teilbar, ob sie sämtliche Zuschreibungen der Vollkommenheit enthält, ob ihr Wissen und ihre Macht endlich sind oder unendlich […], ob sie der Anfang von allem und das Ende von allem ist: bei diesen und ähnlichen Themen, um die es im Koran geht, handelt es sich nicht um Fragen, die sich anhand der Betrachtung der Natur beantworten liessen. Folglich müssen wir entweder sagen, dass es für den Menschen keinen Weg für das Begreifen und Erkennen solcher Probleme gibt und ihm als Verhalten ihnen gegenüber nur Hinnahme in blindem Vertrauen und sonst nichts übrigbleibt, oder, dass, wenn es einen Weg gibt, dieser Weg nicht in Erforschung und Betrachtung der Natur besteht.“⁶¹ Kurz: Die Betrachtung der Natur, des Physischen, beweist weder, dass es sich bei jenem Seienden, das dem Physischen in der Seinsordnung übergeordnet ist, selbst um ein nicht-physisches, eben ein metaphysisches Seiendes handelt, noch beweist sie, dass jenes dem Physischen übergeordnete Seiende, angenommen, es sei nicht-physisch, in der Seinsordnung auch dem Metaphysischen übergeordnet ist. Damit lässt die Betrachtung der Natur allein nicht zwingend darauf schliessen, dass es ein solches metaphysisches Seiendes etwa im Sinne eines Gottes überhaupt gibt. Und wenn schon die Betrachtung der Natur im allgemeinen eine 59 Ebda. 60 M, 1381, V:27. 61 Ebda.
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Gesamtbefund und Folgerungen
solche Folgerung nicht zwingend ergibt, so lässt sich auch aus der Betrachtung der kausalen Ordnung in der Natur im besonderen nicht zwingend die Existenz einer metaphysischen Instanz folgern. Dies versucht Muṭahharī gegen die Anhänger der naturwissenschaftlichen Koranexegese ebenfalls nachzuweisen. Wieder macht er geltend, dass auch die Betrachtung der kausalen Ordnung in der Natur, innerhalb des Physischen also, und damit die Methoden der Naturwissenschaften, die sich auf die Beobachtung der Natur stützen, in ihrer Beweiskraft ihrerseits nicht über den Bereich des Physischen hinausgehen: „Die Wissenschaften“ – gemeint sind die Naturwissenschaften – „[…] beweisen nur, dass keine Erscheinung [in der Naturordnung] unabhängig und zufällig besteht, sondern mit den […] anderen Erscheinungen zusammenhängt. Ferner […] beweisen sie, dass unter den Erscheinungen [der Natur] selbst eine wohlgefügte Ordnung im Sinne von Ursächlichkeit und Verursachtheit herrscht […]. Aber was an diesem Befund hat etwas mit der Erkenntnis von Gottes Einheit zu tun? Bestreiten etwa die Materialisten, welche die Existenz Gottes [schlechthin] leugnen, dass eine wohlgefügte Kausalordnung in dieser Form besteht?“⁶² Auch hier gilt: Die Betrachtung der kausalen Ordnung des Physischen, der Naturkausalität, beweist weder, dass es eine Kausalität gibt, welche, der Kausalordnung des Physischen übergeordnet, selbst nicht physisch, sondern metaphysisch ist, noch beweist sie, dass es ein dem Physischen übergeordnetes Seiendes etwa im Sinne eines Gottes gibt.
62 M, 1381, V:29.
5 Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus vor dem Hintergrund des vorrevolutionären intellektuellen Westdiskurses Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Auseinandersetzung mit der Philosophie des Westens in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus fällt in eine Zeit, in der die Wahrnehmung des Westens auf Seiten der iranischen Intellektuellen manche Wandlungen durchlief. Dies gilt sowohl für die Zeit der Entstehung des Haupttextes des Werkes, die frühen 50er Jahre, als auch für die nachfolgenden Jahrzehnte, in denen es, mit Muṭahharīs Kommentar versehen, nach und nach der breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde. Bis Ende der 50er Jahre verstanden sich die iranischen Intellektuellen im allgemeinen als Vordenker und Wegbereiter einer zivilisatorischen Entwicklung, die dem westlichen Fortschrittsglauben verpflichtet war.¹ Dabei verfochten massgebliche Denker bis in die 40er Jahre die Auffassung, dass in den vorislamischen Kulturen des Iran Ansätze zu einem zivilisatorischen Prozess wie im Westen angelegt gewesen seien, Ansätze, die „Fremdeinwirkungen“ wie etwa der Mongolensturm oder die Islamisierung allerdings wieder zunichte gemacht hätten.² Dieses Geschichtsbild wurde während der Regierung Reżā Pahlavīs zum Teil auch offiziell vertreten. Andere Intellektuelle seit den frühen 40er Jahren wiederum folgten einem historischen Determinismus, in dessen Zeichen sie sowohl die vorislamische als auch die islamische Vergangenheit des Iran als rückschrittlich ansahen.³ Fortschritt nach westlichem Verständnis konnte in ihren Augen nur der inskünftige Verlauf der Geschichte, wie ihn die geschichtlichen Gesetzmässigkeiten vorgaben, verbürgen. Die Gesetze der Geschichte zu erkennen und sich ihnen gemäss zu verhalten, war für sie auch die entscheidende Aufgabe eines Intellektuellen. Seit den frühen 60er Jahren machte sich unter den iranischen Intellektuellen, was ihr Westverständnis betraf, eine neue Strömung bemerkbar. Intellektuelle, die dieser Strömung anhingen, so etwa der Schriftsteller Ǧalāl Āl-e Aḥmad, sahen den Westen nicht mehr als Vorbild, sondern als Bedrohung für die zivilisatorische Entwicklung ihres Landes, Verwestlichung nicht mehr als Verwirklichung eines erstrebenswerten Zieles, sondern als Entfremdung von den „eigenen“ Gütern und Werten.⁴ Im Sinne dieser Auffassung predigten sie eine „Rückkehr 1 Vgl. Nabavi, 2003:34. 2 Vgl. Nabavi, 2003:34. 3 Vgl. Nabavi, 2003:34. 4 Vgl. Nabavi, 2003:57 ff.
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zu sich selbst“.⁵ Für diese Intellektuellen ergab sich ein Dilemma zwischen dem Anspruch der Modernität und Fortschrittlichkeit und dem der „Authentizität“. Zu den Werten, die jene Intellektuelle als „eigen“ und „authentisch“ verteidigten, gehörte seit den 60er Jahren mehr und mehr auch die islamische Religion.⁶ Zunehmend wurde die Vorstellung einer „authentischen“ iranischen Kultur mit dem Islam als spirituellem Kern als Gegenbild zum Westen aufgebaut, einem Westen, der mit Technokratie, Materialismus, Selbstentfremdung und sittlichem Verfall gleichgesetzt wurde.⁷ Diese Sichtweise erwies sich als so anziehend, dass in der Revolution selbst manche Linksintellektuelle die religiösen Kräfte als Bewahrer von „Authentizität“ betrachteten und sie deshalb zunächst gewähren liessen.⁸ Betrachten wir Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus in diesem Umfeld, so können wir schon einmal mit Sicherheit festhalten, dass seine Verfasser nicht zu denjenigen Intellektuellen gehören, für die der westliche Fortschrittsgedanke massgeblich wäre. Da die beiden Denker die geistigen Grundlagen des Westens, seine philosophischen Systeme, als defizitär betrachten, kann für sie der Westen in überhaupt nichts Massgeblichkeit beanspruchen. Von den iranischen Intellektuellen, die bis Ende der 50er Jahre tonangebend waren, unterscheiden sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī daher gründlich. Massgeblich ist für sie vielmehr die Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins. Diese Lehre sowie die Geistesgeschichte, die sich in ihr vollendet, machen in ihren Augen das Eigentliche der Kultur aus, die sie als die „eigene“ der westlichen gegenüberstellen. Dies rückt sie in die Nähe derjenigen iranischen Intellektuellen, welche die Vorstellung einer „authentischen“ iranischen Kultur verfechten. Wie diese stellen auch Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zudem das „Eigene“ als Gegenbild dem Westen gegenüber, indem sie die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die sie als Inbegriff des Realismus ansehen, als Gegenbild einem Westen entgegensetzen, den sie mit Idealismus gleichsetzen. Die Übermacht des Idealismus im westlichen Denken wiederum führen sie auf geistige Unordnung, auf das Fehlen einer überzeugenden metaphysischen Lehre, zurück. Ferner ist für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins gleichbedeutend mit Islam, oder jedenfalls verstehen sie den Islam im Lichte derselben. So begreifen auch sie wie viele andere Intellektuelle der 60er und 70er Jahre die Religion als Bestandteil, wenn nicht als Inbegriff, des „Authentischen“, das es im Angesicht der Herausforderung durch die „ent5 Vgl. Nabavi, 2003:58. 6 Vgl. Nabavi, 2003:100 ff., 128 ff. 7 Vgl. Nabavi, 2003:92 ff. 8 Vgl. Nabavi, 2003:149.
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fremdende“ Kultur des Westens zu behaupten gilt. Allerdings geraten Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī dadurch nicht in einen Zwiespalt zwischen dem Anspruch der Modernität und dem der Authentizität. In gewisser Hinsicht bietet ihre Position gegenüber dem Westen, wie sie sich aus ihrer Erörterung von dessen philosophischen Lehren in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus ergibt, geradezu eine Art Lösung dieses Widerspruches. So erheben Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nämlich gar keinen Anspruch darauf, „modern“ zu sein; vielmehr beanspruchen sie, in der Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins eben über eine Lehre zu verfügen, welche den philosophischen Systemen, die in ihren Augen die abendländische Moderne begründen, überlegen sei. Nicht die westliche Moderne verbürgt in ihrer Sicht Fortschritt, da sie auf geistig unterlegenen Grundlagen beruht, sondern die „authentische“ theosophische Lehre, die sie selbst vertreten. So gesehen, geht es Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus darum, den Leser davon zu überzeugen, dass die westliche Moderne es schon gar nicht wert sei, dass er sich ihr im Namen eines Fortschrittsgedankens zuwende: Das „eigene“ Erbe, vollendet in der Philosophie des Mullā Ṣadrā, genügt sich selbst als Anhaltspunkt für Denken und Handeln. Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Behandlung der modernen philosophischen Lehren des Abendlandes macht es hinwiederum fraglich, ob wir sie denn, wenn wir sie schon religiöse Intellektuelle nennen, auch als religiöse Modernisten bezeichnen dürfen, ein Ausdruck, der ja zuweilen bedeutungsgleich mit religiösen Intellektuellen verwendet wird.⁹ In der Tat betrachten sie die modernen philosophischen Systeme des Westens zwar im Lichte der theosophischen Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die sie geradezu mit Islam gleichsetzen, sie betrachten dadurch aber nicht den Islam im Lichte des modernen Denkens, was ein wichtiges Merkmal islamischer Modernisten darstellt.¹⁰ Und schon gar nicht geht es ihnen um einen Ausgleich zwischen modernem Denken und Islam im Zeichen der theosophischen Lehre, der sie anhängen. Wenn wir Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī also als religiöse Intellektuelle bezeichnen, so dürfen wir sie als solche nicht mit islamischen Modernisten gleichsetzen.
9 Jahanbakhsh, 2001:52. 10 Jahanbakhsh, 2001:51.
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5.1 Nachwirkungen und Auswirkungen von Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Westverständnis Vielleicht beruht die Wirkung von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus ja zum Teil darauf, dass es das Dilemma zwischen dem Anspruch der Modernität und dem der Authentizität, in dem mancher iranische Intellektuelle sich sah, aufhebt. So bezeugt denn etwa ʿAbd ol-Karīm Sorūš, ein Denker, der sich später mit seiner Hinneigung zum Neopositivismus allerdings weit von den Positionen Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs entfernte, den Einfluss, den das Werk in früheren Jahren auf ihn hatte, mit den Worten: „Dieses Buch machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich kann sogar sagen, dass die Lektüre dieses Buches mir eine Art philosophische Überheblichkeit einflösste. Ich nahm dieses Buch als Beweis für die unbestreitbare Überlegenheit der islamischen Philosophie. Ich ging umher im Glauben, dass die Welt uns zu Füssen liege und dass wir jede Kritik und jedes philosophische Argument abwehren können.“¹¹ In der Betrachtung von Anhängern der theosophischen Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī ermangeln der Westen genauso wie der sunnitische Islam einer gefestigten und überzeugenden metaphysischen Grundlegung, ein Mangel, der sie beide dem Idealismus aussetzt. Im Rahmen derselben Betrachtung müssen sowohl Westen ebenso wie Sunnah denn auch als defizitär gelten. Sowohl im Verhältnis zur Sunnah als auch zum Westen sehen die Anhänger der Schia, genauer: die Vertreter der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, in der sich für sie der Heilsweg der Schia erfüllt, wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, sich selbst gewissermassen als die „Besonderen“ und die Angehörigen der westlichen Zivilisation sowie der Sunnah als die „Gemeinen“. Gestützt auf den Idealismus-Vorwurf, beanspruchen die beiden Denker für die Schia den Rang einer geistlichen und geistigen Elite sowohl gegenüber der Sunnah, die für sie als Anhänger und Anführer der Schia eine innerislamische Herausforderung darstellt, als auch gegenüber dem Westen, der für sie eine Anfechtung von ausserhalb des Islam bedeutet. Dabei finden sich das Westverständnis, das in der Auseinandersetzung von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mit abendländischem philosophischem Gedankengut in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus hervortritt, sowie das Selbstverständnis als intellektuelle und spirituelle Elite, die sie als religiöse Autoritäten ihrer Gemeinde verkörpern, keineswegs nur bei diesen beiden Gelehrten. Ausserdem markiert das Werk dieser beiden erst den Anfang einer kritischen Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie im Iran, sei es
11 Sorūš, 2000:6.
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vor dem Hintergrund der islamischen oder unabhängig von diesem.¹² Sowohl von Seiten religiöser Denker als auch seitens Gelehrter mit akademischem Ausbildungshintergrund ist die kritische Beschäftigung mit westlicher Philosophie weitergeführt und vertieft worden, und zwar vor genauso wie nach der Islamischen Revolution.¹³ Dieser späteren Entwicklung ungeachtet, zählen beide, Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, in der Islamischen Republik Iran zu den Autoritäten, auf deren Denken und Wirken der Staat sich bei der Grundlegung und Gestaltung seiner Kultur- und Bildungspolitik massgeblich bezieht. Die Herausgabe der Schriften dieser beiden Gelehrten und die Verbreitung ihres Gedankengutes werden in der Islamischen Republik obrigkeitlich gefördert.¹⁴ Auch die Darstellung der islamischen Philosophie, sowohl ihrer Lehren selbst als auch ihres geschichtlichen Verlaufes, in den Schulbüchern für das Pflichtfach Philosophie an den Gymnasien der Islamischen Republik aus der Feder des Philosophieprofessors Ḥamīd Ṭālebzādeh schöpft aus den philosophischen Werken Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs, nicht zuletzt aus Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus, und verweist den Leser mehrfach ausdrücklich auf diese.¹⁵ Auch begründet der Verfasser im Schlusskapitel des Buches die Unterweisung der Jugend des Landes in Philosophie mit dem Anliegen, dass das Volk sich „seiner“ intellektuellen und kulturellen Werte bewusst werde und sie nicht gering schätze.¹⁶ Wie es zu dieser Geringschätzung gekommen ist, erklärt Ṭālebzādeh im selben Zusammenhang mit den Worten: „Heutzutage machen sich die kulturellen Werte des Westens infolge der weltweit beherrschenden Stellung seiner Zivilisation allenthalben übermächtig bemerkbar und lösen unter den Völkern ein Gefühl der Minderwertigkeit aus. Während die Menschen des Westens hinsichtlich ihrer eigenen Geschichte und Kultur einen starken Geltungsanspruch vertreten und das alte Griechenland als Grundlage von Denken und Zivilisation betrachten, billigen sie den anderen Kulturen keine sonderliche Eigengeltung zu.“¹⁷ Genau wie bei Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī selbst wird auch hier deren Sicht der islamischen Philosophie als Gegenmittel zu Verwestlichung und als Mittel zu geistiger Neuausrichtung empfohlen.
12 Vgl. in bezug auf die Auseinandersetzung mit Kant Seidel, 2012:143. 13 Vgl. ebda. 14 Vgl. ebda.; Esposito, 1995, IV:161b. 15 Z. B. Ṭālebzādeh, 1385b:102, Anm. 1 (Verweis auf Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus); 116 (Verweis auf Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus). 16 Ṭālebzādeh, 1385b:131. 17 Ṭālebzādeh, 1385b:129.
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Mögliche Zusammenhänge zwischen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins in ihrer Fortbildung durch Ṭabāṭabāʾī und der Errichtung der Islamischen Republik Unter anderem also in seinem Einfluss auf die Kultur- und Bildungspolitik der Islamischen Republik erweist sich Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Gedankengut als nachhaltig wirkmächtig. Auch war ja, wie gesagt, Muṭahharī selbst als enger Vertrauer von Revolutionsführer Khomeini massgeblich an der Errichtung der Islamischen Republik beteiligt. Aber auch in einem viel weiteren Sinne mag überhaupt schon die Auffassung von Reisenden des vierten Weges wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, dank der Philosophie des Mullā Ṣadrā von der Eigentlichkeit des Seins einer geistigen Kultur teilhaftig zu sein, die den theoretischen Grundlagen der Kultur des Westens gegenüber Überlegenheit beanspruchen darf, ihrerseits das Vorhaben nahelegen, diese in ihren Augen überlegenen theoretischen Systeme ihrer Kultur als Grundlagen für die Errichtung einer praktischen Kultur zu verwenden, die ihrerseits den praktischen Systemen wie Staats-, Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Westens gegenüber Überlegenheit beanspruchen darf. Aus der Unzulänglichkeit der westlichen Kultur im theoretischen Bereich auf deren Unzulänglichkeit im praktischen Bereich zu schliessen bzw. aus der Überlegenheit der „eigenen“ Kultur im theoretischen Bereich auf deren Überlegenheit oder zumindest die Möglichkeit ihrer Überlegenheit im praktischen Bereich zu schliessen, mag sich aber gerade im Falle von Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī noch aus einem weiteren Grunde aufdrängen, der mit einer Fortbildung von Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins durch Ṭabāṭabāʾī zusammenhängt. Ṭabāṭabāʾī begründet in seiner Fortbildung der Lehre des Mullā Ṣadrā – aus seiner Sicht wohl im Sinne des Meisters – ein Verhältnis zwischen theoretischen und praktischen Fragen der Philosophie, das die Anhänger seiner Lehre, so etwa Ṭabāṭabāʾī und Ṭālebzādeh, gegenüber der auf Aristoteles zurückgehenden Unterteilung der Philosophie in eine theoretische und eine praktische als neu betrachten.¹⁸ Dabei definiert Aristoteles die theoretische Philosophie als „das Wissen, das von den Dingen so, wie sie sind, handelt“¹⁹, und als bedeutendste Disziplin der theoretischen Philosophie gilt ihm die Metaphysik.²⁰ Demgegenüber definiert er die praktische Philosophie als „das Wissen, das von den Taten des Menschen
18 Vgl. T(/M), 1381, II:141 ff. für eine ausführliche Darstellung; Ṭālebzādeh, 1385b:115 ff. für die Kurzfassung; für eine Darlegung des Verhältnisses zwischen Theoretischem und Praktischem bei Aristoteles, die von Mullā Ṣadrās Philosophie und deren Fortbildungen unbeeinflusst ist, vgl. Höffe, 2006:188 ff. 19 Ṭālebzādeh, 1385b:116. 20 Vgl. ebda.
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so, wie sie sein sollen, handelt“, und als erste unter den Disziplinen der praktischen Philosophie nennt er die Ethik,²¹ mit welcher wiederum die Wertelehre verbunden ist. „So umfasst also die theoretische Philosophie“, wie Ṭālebzādeh bemerkt, „alle Wissensgehalte, welche von der Wirklichkeit der Dinge oder mit anderen Worten den ‚Ist-Gehalten‘ handeln. Dagegen ist die praktische Philosophie auf den Menschen beschränkt und bezieht sich in ihren Aussagen auf die ‚Soll-Gehalte‘.“²² Was ferner die Erkenntnis der Gehalte der theoretischen Philosophie betrifft, so weist Aristoteles diese der theoretischen Vernunft zu, während er die Erkenntnis der Gehalte der praktischen Philosophie der praktischen Vernunft zuordnet: „[…] die Philosophen“, wie Ṭālebzādeh ausführt, „pflegten die theoretische Philosophie als das Ergebnis [der Betätigung] der theoretischen Vernunft und die praktische Philosophie als das Ergebnis [der Betätigung] der praktischen Vernunft zu betrachten. Sie schrieben dem Verstand mit anderen Worten zwei Vermögen zu: zum einen das theoretische Vermögen, mit dessen Hilfe die Seele die Aussenwelt erschliessen will, und zum anderen das praktische Vermögen, mit dessen Hilfe die Seele ihr Leben als Einzelwesen und als Mitglied der Gesellschaft ordnet.“²³ Im Zeichen der Logik gilt auch für Ṭabāṭabāʾī, dass ich keine Ist-Gehalte aus Soll-Gehalten oder umgekehrt folgern kann; so wäre etwa eine Aussagefolge wie „Alle Menschen sind sterblich“ – „Sokrates ist ein Mensch“ – „Also gilt: Sokrates soll sterblich sein“ in logischer Hinsicht kein gültiger Syllogismus: „[…] in logischer Hinsicht“, so Ṭālebzādeh, „lässt sich das ‚Soll‘ niemals aus dem ‚Ist‘ gewinnen. Wenn wir etwa in unserem Geiste einen Syllogismus bilden, dessen sämtliche Vordersätze aus ‚Ist-Gehalten‘ bestehen, lässt sich aus diesen Vordersätzen im Sinne von Ist-Aussagen nicht ein Schluss im Sinne einer Soll-Aussage ziehen und ein Urteil folgern, das ein ‚Soll‘ oder ‚Soll nicht‘ enthält.“²⁴ In dieser Hinsicht unterscheidet sich Ṭabāṭabāʾīs Lehre in der Frage nach dem Verhältnis von Ist- und Soll-Gehalten, Wirklichkeit und Wert, Faktischem und Normativem, in nichts von der des Aristoteles. Der Unterschied zwischen Ṭabāṭabāʾīs Lehre über das Verhältnis von Ist- und Soll-Gehalten, Faktischem und Normativem, und der des Aristoteles betrifft gemäss Ṭālebzādehs Darstellung einen anderen Punkt: Und zwar geht es Ṭabāṭabāʾī im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins darum, nach-
21 Vgl. ebda. 22 Ṭālebzādeh, 1385b:116. 23 Ebda. 24 Ṭālebzādeh, 1385b:119.
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zuweisen, dass auch die Werte, das Soll also, letztlich im Sein gründen.²⁵ Was den Menschen betrifft, auf den sich die Gehalte der praktischen Philosophie und damit die Wertfrage ja beschränken, so besteht dessen Wirklichkeit als eines Seienden gemäss der Lehre, die Ṭabāṭabāʾī vertritt, genau wie die Wirklichkeit eines jeden Seienden im blossen Sein. Das blosse Sein ist aber selbst ein Wert insofern, als es gleichbedeutend mit Vollkommenheit und diese wiederum gleichbedeutend mit dem Guten ist. Auf das blosse Sein, auf die Vollkommenheit schlechthin, ist der Mensch aufgrund des Gefälles an Seinsvollkommenheit, das zwischen ihm als einem Seienden und dem blossen Sein besteht, in substantieller Bewegung gerichtet. Alles nun, was die Bewegung des Menschen auf das blosse Sein hin und damit seine Seinsvervollkommnung fördert, ist daher seinem Wert nach gut,²⁶ denn es stimmt mit der ontologischen Wirklichkeit, die der Mensch ist,²⁷ überein. So ist das Sein als die Wirklichkeit des Seienden denn ebenso, wie es die ontologische Grundlage des Seienden, der Ist-Gehalte, ist, auch Grundlage für die Wertung „Gut“ bzw. „Schlecht“ und damit Grundlage der Soll-Gehalte. „Die Wurzel der ‚Soll-Gehalte‘“, wie Ṭālebzādeh erklärt, „ist in den ‚Ist-Gehalten‘ zu suchen, und diese beiden sind nicht ohne Beziehung zueinander und voneinander getrennt.“²⁸ Mit dieser Gründung des Wertes im Sein, des Normativen im Faktischen, vertritt Ṭabāṭabāʾī das, was in der philosophischen Fachsprache auch als Wertrealismus bezeichnet wird.²⁹ Der Wertrealismus stellt aber die Gegenposition zum sogenannten Wertrelativismus dar, einer Wertelehre, als deren Urheber der Empiriker David Hume gilt³⁰ und die in der Wertelehre des Positivismus ihre Fortsetzung findet.³¹ „Vom 17. Jahrhundert an“, so schreibt Ṭālebzādeh, „entstand in der neuzeitlichen Philosophie des Westens eine Auffassung, aufgrund derer die Verbindung zwischen ‚Ist-Gehalten‘ und ‚Soll-Gehalten‘ gänzlich durchtrennt worden ist. Dieser Auffassung zufolge gehören Gehalte wie Gutheit und Schlechtheit und ethische Werte in den Bereich der menschlichen Gefühle und Empfindungen und haben mit den Gehalten der Wirklichkeit keine Beziehung.“³² Genauso wie die Seinslehre des Empirismus und des Positivismus für Denker wie Ṭabāṭabāʾī auf Idealismus hinausläuft, handelt es sich auch bei dem Wertever-
25 Zu einer von Mullā Ṣadrās Lehre unbeeinflussten Auffassung vom Verhältnis zwischen Sollen und Sein bei Aristoteles vgl. Höffe, 2006:188 ff. 26 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:118, 120. 27 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:120. 28 Ṭālebzādeh, 1385b:121. 29 Vgl. Brugger, 1963:378 f. („Wert“). 30 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:118, Anm. 1. 31 Vgl. Brugger, 1963:378 f. („Wert“). 32 Ṭālebzādeh, 1385b:118.
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ständnis der beiden Lehren um einen Werteidealismus.³³ Daher sind Werte für Ṭabāṭabāʾī nichts Relatives, Subjektives, Konventionelles oder gar Willkürliches, und die in der jüngeren Geistesgeschichte des Westens üblich gewordene Unterscheidung zwischen „normativ“ bzw. Wert und „faktisch“ bzw. Sein erweist sich für die Systeme, die sich auf Ṭabāṭabāʾī oder allgemeiner auf Mullā Ṣadrā berufen, als gegenstandslos. Und ebenso wie die Begründung des Werteverständnisses bei Denkern wie Ṭabāṭabāʾī ist auch ihre Kritik am vorherrschenden Werteverständnis des Westens nicht theologisch, sondern philosophisch. Sie beruft sich denn auch nicht auf religiöse Quellen wie die göttliche Offenbarung, indem sie etwa geltend machen würde, dass Gott in dieser sowohl Ist-Aussagen – „Faktisches“ – als auch Soll-Aussagen – „Normatives“ – verkünde und dass, weil Gottes Wort auf jeden Fall wahr sei, auch jede Aussage in seiner Offenbarung, ganz gleich, ob normativ oder faktisch, im selben Sinne und im selben Range wahr sein müsse. Wenn nun also sowohl Ist-Gehalte als auch Soll-Gehalte beide im Sein gründen, dann beruht auch die Erkenntnis sowohl der Ist-Gehalte als auch der Soll-Gehalte auf ein und derselben geistigen Betätigung; denn Erkennen gründet nach der Lehre des Mullā Ṣadrā, der Ṭabāṭabāʾī folgt, seinerseits im Sein.³⁴ Das Erkennen wiederum vollzieht sich im Urteilen. Beim Urteilen aber handelt es sich seinem Verlauf nach jeweils um ein und denselben geistigen Vorgang, ganz gleich, ob der Gegenstand des Urteils ein Ist-Gehalt oder ein Soll-Gehalt ist.³⁵ Ṭabāṭabāʾī weist somit Wirklichkeitserkenntnis und Werterkenntnis, mit anderen Worten: theoretische Erkenntnis und praktische Erkenntnis, derselben Geistestätigkeit zu: „Die Wurzel sowohl der ‚Gehalte der Wirklichkeitserkenntnis‘ als auch der ‚betrachtungsabhängigen Erkenntnisgehalte‘ [zu denen die Gehalte der praktischen Philosophie gehören]“, so Ṭālebzādeh, „besteht für ihn [d. h. Ṭabāṭabāʾī] in der Verstandeskraft des Menschen. Dementsprechend handelt es sich in seinen Augen bei der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft nicht um zwei gesonderte Kräfte […]. Vielmehr besagt die Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch in bezug auf den Verstand nur zweierlei Tätigkeiten, die der Verstand“, aber eben ein und derselbe Verstand, „ausübt.“³⁶ und: „[…] theoretische Vernunft und praktische Vernunft sind nicht zwei gesonderte Kräfte unter den Seelenvermögen des Menschen, deren jede eine andere Aufgabe hätte. Im Menschen gibt es nur eine einzige Verstandeskraft. Jeweils dann, wenn sich dieser eine Verstand in der Wahrnehmung der Seinsgehalte und der Gewinnung von Gehalten der Seinserkenntnis betätigt, sprechen wir von theoretischer Ver33 Vgl. Brugger, 1963:378 f. („Wert“). 34 Vgl. Kamal, 2006:94. 35 Vgl. Ṭālebzādeh, 1385b:117 f., 119 f. 36 Ṭālebzādeh, 1385b:119.
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nunft, und immer dann, wenn er sich mit Urteilen im Sinne von ‚Soll‘ oder ‚Soll nicht‘ […] beschäftigt, wird er praktische Vernunft genannt.“³⁷ Bei dem, was die philosophischen Lehren, die sich auf Aristoteles berufen, als theoretische und praktische Vernunft unterscheiden, handelt es sich Ṭabāṭabāʾī zufolge somit im Grunde um ein und dasselbe geistige Vermögen und ein und dieselbe geistige Betätigung. Gerade mit dieser Lehre von dem Verhältnis zwischen Theoretischem und Praktischem im Hintergrund mag sich Wanderern des vierten Weges wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī der Gedanke umso stärker aufdrängen, aus der Überlegenheit gegenüber der Kultur des Westens, welche sie ihrer eigenen im Bereich des Theoretischen zuerkennen, die Möglichkeit, ja, die Notwendigkeit zu folgern, auf diesen überlegenen theoretischen, geistigen Grundlagen eine Kultur aufzubauen, welche der des Westens gegenüber auch im Bereich des Praktischen Überlegenheit beanspruchen kann. Die Ausrichtung der Kultur- und Bildungspolitik der Islamischen Republik Iran, die starke Vertretung von Anhängern der Lehre Mullā Ṣadrās unter ihren Vordenkern und Führern, das von ihr offiziell propagierte Westbild – all dies spricht dafür, dass dieses Gemeinwesen auf dem Versuch der praktischen Umsetzung eines solchen Gedankens beruht, wenn es wohl auch wieder zu einseitig wäre, den Grund für Entstehen und Bestehen der Islamischen Republik mit einem solchen geistig-geistlichen Vorhaben gleichzusetzen. Immerhin jedoch fällt auf, dass sich Ṭabāṭabāʾīs oben dargestellte Überlegungen über das Verhältnis zwischen Theoretischem und Praktischem und über das für beide zuständige Geistesvermögen auch in seinem Aufsatz Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia finden, dem einen seiner beiden Beiträge zu der Sammlung Eine Erörterung über Autorität und Geistlichkeit also, in der es um die Frage geht, wie das muslimische Gemeinwesen in Zukunft eingerichtet und geführt werden solle. Ṭabāṭabāʾī bemerkt dort: „Aufgrund unserer gottgegebenen Veranlagung erkennen wir, dass diese, solange sie die Ursachen und Auslöser sowie die Voraussetzungen und Wirkungen einer Sache nicht begreift, nicht urteilt, dass die betreffende Sache erwiesen und wirklich sei und ebenso dass sie, solange sie die Beweggründe und die Notwendigkeit sowie die Wirkungen und den Nutzen einer Handlung nicht erwogen hat, nicht daran geht, die betreffende Handlung auszuführen.“³⁸ Die gottgegebene Veranlagung, von welcher der Denker hier spricht, ist also gleichermassen für das Erkennen der Wirklichkeit von Dingen wie auch des Nutzens von Handlungen zuständig. Im selben Sinne führt er aus: „[…] jede Erscheinung des Seins und jedes Ereignis der Welt fällt unter einen der Sinne. So drehen wir uns selbst beim kleinsten Geräusch, das wir 37 Ṭālebzādeh, 1385b:118. 38 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5.
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hören, um und suchen nach den Ursachen für dessen Entstehung. Auch wenn wir irgendeine Handlung ausführen wollen, erwägen wir […] die Ursache für unsere Unternehmung oder […] zumindest den Nutzen und die Vorteile der Handlung.“³⁹ Sowohl bei der Wirklichkeitserkenntnis als auch bei der Nützlichkeitserkenntnis ist eine, und zwar eine einzige, geistige Betätigung im Spiel, von der Ṭabāṭabāʾī sagt: „Diese geistige Betätigung und Suche ist genau das, was in der Fachsprache Beweisführung genannt wird.“⁴⁰ Über diese wiederum bemerkt er: „So ist denn der Mensch aufgrund seiner gottgegebenen Natur und der Einrichtung seiner geschöpflichen Existenz ein beweisführendes Wesen, und sowohl in seinen theoretischen Erwägungen als auch in seinen praktischen Geschäften beschreitet er seiner Natur nach den Weg der Beweisführung.“⁴¹ Dass es sich bei der Beweisführung um die Betätigung ein und desselben geistigen Vermögens im Theoretischen wie im Praktischen handelt, wird vollends aus folgenden Worten des Gelehrten deutlich: „Die dem Menschen eigene Betätigung zur Verfolgung der Strebeziele des Lebens ist eine willentliche Betätigung und entspringt dem Denken, welches nur dem Menschen eigen ist.“⁴² Diese Überlegungen stellt Ṭabāṭabāʾī, wohlgemerkt, in dem einen von zwei Aufsätzen in Eine Erörterung über Autorität und Geistlichkeit an, in deren anderem, Sachwalterschaft und Führerschaft, er in vielem den Entwurf der Islamischen Republik vorwegnimmt und dabei jeder Gleichsetzung eines solchen Staatswesens mit Demokratie einerseits und Sozialismus andererseits eine Absage erteilt. In dem Aufsatz Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia selbst bilden diese Überlegungen zudem einen Zwischenschritt in einem Gedankengang, an dessen Ende der Nachweis steht, dass die Leitung des islamischen Gemeinwesens auf der Überantwortung der Rechtsfindung seitens der gemeinen Gläubigen an die massgeblichen schiitischen Gelehrten zu beruhen habe. Dies alles lässt einen notwendigen Zusammenhang zwischen Ṭabāṭabāʾīs allgemeinem geistigem Hintergrund und seinem Staatsdenken, zwischen dem theoretischen und dem praktischen Bereich seines Philosophierens, erkennen. Ebenso ist unbestritten, dass das Staatswesen der Islamischen Republik einen heilsgeschichtlichen Anspruch für sich geltend macht.⁴³ Als diejenige Philosophie, in deren Zeichen diese Führung zum Heil zu erfolgen habe, steht den Vordenkern, Gründern und manchen Leitern und Anhängern der Islamischen Republik offenbar die theosophische Lehre des Mullā Ṣadrā von der Eigentlich-
39 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5. 40 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5. 41 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:5. 42 Ṭabāṭabāʾī, 1963a:4. 43 Vgl. Halm, 1988:164.
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keit des Seins vor Augen. In ihr, der Erfüllung der philosophischen Tradition des Islam, sehen ihre Anhänger die Vereinigung von Denken und Sittlichkeit, intellektueller und ethischer Vollkommenheit im Sinne der Entwicklung hin zum vollkommenen Menschen: „Die wichtigste Botschaft dieser philosophischen Tradition für die heutige Welt besteht vielleicht darin“, wie Ṭālebzādeh der Jugend seines Landes ans Herz legt, „dass Philosophie nicht nur Wissenserwerb bedeutet, sondern auch das Durchlaufen eines inneren Weges der Vervollkommnung. Dieser Aspekt, der bei den peripatetischen Philosophen weniger, bei den späteren Weisen aber immer klarer zum Vorschein tritt, macht deutlich, dass Philosoph zu werden mit einer Art spiritueller und sittlicher Vervollkommnung und Erhöhung verbunden ist.“⁴⁴
5.2 Schlusswort Ihrem geistigen Hintergrund nach erscheinen Ṭabāṭabāʾī und sein Schüler Muṭahharī als Vertreter einer bestimmten philosophischen Tradition. Diese schöpft zum einen aus dem Denken des Mīr Dāmād, des Begründers der Schule von Isfahan, wie an Ṭabāṭabāʾīs Werk über Schia deutlich wird, in dem er Mīr Dāmāds Unterscheidung von drei Wegen für das Begreifen der Wissensgehalte des Islam aufgreift, nämlich der Beschäftigung mit dem äusseren Wortlaut der Offenbarungsaussagen in den islamischen Überlieferungswissenschaften, der verstandesmässigen Beweisführung in der Philosophie und der enthüllenden Schau in der Mystik. Zum anderen besteht diese Tradition – oder genauer vielleicht: ihre Vollendung – in der philosophischen Lehre des Mullā Ṣadrā, des Schülers von Mīr Dāmād und bedeutendsten Vertreters der Schule von Isfahan, von der Eigentlichkeit des Seins. Nach dieser Philosophie ist Existenz dasjenige Prinzip, auf dem die Wirklichkeit des Seienden und des Erkennens beruht, während es sich bei Essenz um ein blosses Gedankending, ein Konzept, handelt. Im Zeichen dieser Lehre deutet Mullā Ṣadrā zum einen den aristotelischen Hylemorphismus, indem er Existenz, das Prinzip für Wirklichkeit in seiner Philosophie, mit Form, dem Prinzip von Aktualität in Aristoteles‘ Lehre, und Essenz, gemäss seiner Lehre ein blosses Konzept und daher unwirklich, mit Materie, welche nach Aristoteles‘ Lehre bloss potentiell ist, gleichsetzt. Zum anderen deutet Mullā Ṣadrā das Prinzip Sein im Sinne der höchsten Idee nach platonischem Verständnis. Anhänger der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins begreifen diese daher als Vereinbarung von Aristotelismus und Platonismus, den beiden Hauptrichtungen der
44 Ṭālebzādeh, 1385b:131.
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Philosophie, und daher als Vollendung der Philosophiegeschichte, ja, der Geistesgeschichte überhaupt. Zugleich lässt Mullā Ṣadrās Lehre in den Augen ihrer Vertreter den eigentlichen Sinn von Gottes Offenbarung und der Äusserungen des ersten Imam ʿAlī wieder erkennen; in ihr erfüllt sich für sie daher auch die islamische Heilsgeschichte. Die Lehre von der Eigentlichkeit des Seins stieg seit dem 19. Jahrhundert zur bedeutendsten philosophischen Strömung unter den schiitischen Gelehrten auf. Ausserhalb dieser Kreise wurde sie noch auf dem indischen Subkontinent, kaum jedoch unter den Sunniten des Osmanischen Reiches wahrgenommen, vielleicht auch deshalb, weil Philosophie dort nicht als eigenständiges Fach, sondern, wenn überhaupt, so nur im Rahmen des theologischen Unterrichts gepflegt wurde. Mit der Verankerung ihres Denkens in der islamischen Geistesgeschichte im allgemeinen und in der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins im besonderen unterscheiden sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī von iranischen Denkern, deren geistiger Hintergrund von einer der Lehren der westlichen Geistesgeschichte wie Empirismus, Kritizismus, deutschem Idealismus, Materialismus oder Existenzphilosophie geprägt ist. Dieser Unterschied wirkt sich auch auf ihre Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie aus. Ihrer historischen Situation nach erscheinen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī als Teilnehmer an einem Kulturkampf, der sich an der Frage entzündete, wie der machtpolitischen und geistigen Herausforderung des Iran durch den Westen im Bereich des Handelns und Denkens zu begegnen sei. Ein Grossteil des Wirkens der beiden Gelehrten, so auch ihrer Schriften, steht im Zeichen dieser ihrer Beteiligung am intellektuellen Diskurs ihrer Zeit. Zum Eingreifen veranlasst sahen sie sich ebenso durch ihre Sorge um das geistige Wohl der Gemeinschaft der Gläubigen wie um ihre Stellung als geistliche Autoritäten. Dabei erfolgte die Beeinflussung der materiellen und geistigen Kultur des Iran durch den Westen nicht zuletzt im Zuge der Reformmassnahmen der damals regierenden Pahlavī-Herrscher nach dem Vorbild des Kemalismus, Massnahmen, denen die Auffassung zugrunde lag, dass die Kultur des Westens die unbestreitbare Massgabe für zivilisatorische Entwicklung schlechthin darstelle. Viele dieser Reformen wirkten sich auch auf die Stellung und das Selbstverständnis des religiösen Establishments aus. So entzog die Säkularisierung des Erziehungs- und Rechtswesens den Religionsgelehrten wichtige Einkommensquellen und Möglichkeiten, die Gesellschaft zu lenken. Das Entstehen einer neuen Mittelschicht dank den Erdöleinnahmen des Staates untergrub die Bedeutung der herkömmlichen Unterstützergruppen der religiösen Institution. Ausser den religiösen Kräften fühlten sich auch die Gruppen der iranischen Linken von dem politischen Verhalten der Pahlavī-Herrscher herausgefordert. Sie stiessen sich an der starken Abhängigkeit des Iran vom Westen, besonders den USA, auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene und sahen
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ihr Land als Opfer des US-amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus. Andererseits gehörte die Philosophie des dialektischen Materialismus, der die Linke anhing, doch zur westlichen Geistesgeschichte. Im theoretischen Bereich anerkannte daher auch die Linke eine gewisse Vorbildlichkeit des Westens. Der Atheismus der iranischen Linkskräfte wiederum brachte die religiösen Gruppen gegen sie auf, und diese sahen es deshalb nicht ungern, als der Pahlavī-Staat seit den 50er Jahren daran ging, die linken Kräfte eine nach der anderen auszuschalten. Als der Staat Anfang der 60er Jahre allerdings daran ging, eine Landreform durchzuführen, sahen die Vertreter der religiösen Institution ihre wirtschaftlichen Grundlagen bedroht und begannen sich nun ebenfalls gegen die PahlavīHerrschaft zu wenden. So lässt sich Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Teilnahme an der intellektuellen Debatte ihrer Tage als ein Akt der Selbstbehauptung seitens der religiösen Institution sowohl gegenüber der staatlich geförderten Kultur als auch gegenüber der linken Gegenkultur auffassen. Zudem war die zunehmende Verbreitung geistiger Strömungen des Abendlandes unter dem iranischen Publikum, auch unter den Seminaristen, eine Tatsache, die sich weder ignorieren noch verhindern liess. Das einzige, was besorgten Zeitgenossen wie Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī noch zu tun übrig blieb, war, im Angesicht dieser Anfechtung die Initiative zu ergreifen und die Meinungsführerschaft zu übernehmen, um die Gemeinschaft vor geistiger Verwirrung zu bewahren. Dies gilt für hochrangige Gelehrte wie diese beiden umso mehr, als sie es als Vertreter der religiösen Institution ohnehin als ihre Aufgabe ansahen, die Gemeinde der Gläubigen anzuleiten. Dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī der Anfechtung durch den Westen gerade im Bereich der Philosophie entgegenzutreten gedachten, mag einerseits daran liegen, dass es sich bei Philosophie um das Fach handelte, in dem sie selbst am besten ausgebildet waren, so dass sie sich besonders berufen gefühlt haben mögen, sich gerade mit dieser Seite der westlichen Herausforderung auseinanderzusetzen. Zum anderen legt die Philosophie, die den geistigen Hintergrund der beiden Gelehrten bildet, die Auffassung nahe, dass die Wirklichkeit, so also auch die Wirklichkeit des Westens, geistig ist, so dass Philosophie, selbst die höchste geistige Disziplin, als der geeignetste Weg erscheinen mag, sich mit der Wirklichkeit des Westens zu befassen und die Erscheinungen des Westens von seinen Grundlagen her zu denken. Des weiteren kommt der Philosophie in der geistigen Tradition, in der Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī stehen, der Rang einer Universalwissenschaft zu. Dies mag sie den beiden Denkern als Mittel empfehlen, alle Äusserungen der westlichen Kultur zu verstehen, ganz gleich, unter welche Einzeldisziplin sie jeweils fallen. In ihrer Kenntnis der westlichen Philosophie stützten sich Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī stark auf das Werk Geschichte der Philosophie in Europa des gelehrten Staatsmannes Moḥammad ʿAlī Forūġī, eine Darstellung der wichtigsten Lehren
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der westlichen Philosophie von der Antike bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Der letzte Philosoph, den er behandelt, ist Henri Bergson. Allerdings geht Forūġī gerade auf den dialektischen Materialismus nicht ein, weshalb die beiden Gelehrten ihre Kenntnisse dieser Lehre aus anderen Quellen schöpften, vor allem aus den Schriften des iranischen Marxisten Taqī Arānī. Fast allen Quellen, die sie verwenden, ist gemeinsam, dass es sich bei ihnen um bloss beschreibende Darstellungen westlicher Philosophie, nicht um kritische Auseinandersetzungen mit deren Lehren handelt. Da Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zudem keine der Sprachen beherrschten, in denen die Werke der abendländischen Philosophie ursprünglich verfasst worden sind, waren sie in ihrer Auswahl auf Werke in persischer oder arabischer Sprache beschränkt. Ṭabāṭabāʾī, der Philosophie am Seminar von Qom unterrichtete, scharte jede Woche einen Kreis ausgewählter Schüler, darunter auch Muṭahharī, um sich, in dem er jeweils einen bestimmten Gegenstand der westlichen Philosophie besprach. Diese Veranstaltungen müssen spätestens Mitte der 50er Jahre zum Abschluss gekommen sein, was beweist, dass Ṭabāṭabāʾī seine Kenntnisse der westlichen Philosophie damals noch nicht von seinen Gesprächen mit dem französischen Philosophen und Orientalisten Henry Corbin bezogen haben kann, die erst Ende der 50er Jahre stattfanden. Auf Bitten von Seminaristen und weiteren interessierten Kreisen, die schriftlichen Vorlagen zu jenen Versammlungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, entschloss sich Ṭabāṭabāʾī, diese zu sammeln, und betraute Muṭahharī mit der Kommentierung derselben. Ṭabāṭabāʾīs Text und Muṭahharīs Kommentar erschienen schliesslich in Form eines Buches in fünf Bänden unter dem Titel Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus. Da Muṭahharī die Kommentierung einzelner Kapitel in unregelmässigen Abständen fertigstellte, erschienen manche Bände erst nach den 50er Jahren, einer sogar erst in den 80er Jahren, einige Zeit nach Muṭahharīs Ermordung. Muṭahharīs Quellenangaben in den später erschienenen Bänden lassen erkennen, dass er bemüht war, sein Wissen über abendländische Philosophie mit Hilfe von Neuerscheinungen und Neuübersetzungen auf dem iranischen Buchmarkt laufend auf dem letzten Stand zu halten. Dieses Bestreben ist auch bei Ṭabāṭabāʾī feststellbar, der sich Ende der 50er Jahre anlässlich seines Gedankenaustauschs mit Henry Corbin gewissermassen aus erster Hand über die Lehren der westlichen Philosophie kundig zu machen suchte. Während in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus sich Ṭabāṭabāʾīs Text mehr an die Seminarstudenten richtet, für die er ja auch jene wöchentlichen Sitzungen abgehalten hatte, sollte Muṭahharīs Kommentar Ṭabāṭabāʾīs Ausführungen einem breiteren Leserkreis zugänglich machen. Diese vorgesehene Leserschaft bestand zu einem grossen Teil aus Angehörigen der neu entstandenen Mittelschichten, deren geistigen Hintergrund entweder der „Vul-
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gärpositivismus“ der staatlich geförderten Kultur oder die Lehren der Gegenkultur der iranischen Linken bildeten und deren Denken in der islamischen Geistesgeschichte meistens nur schwach verwurzelt war. Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī nehmen in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus diejenigen philosophischen Lehren durch, die sie als geistige Grundlagen der abendländischen Moderne ansehen, namentlich den kartesianischen Rationalismus, Empirismus, Kants Kritizismus, den deutschen Idealismus Hegels, Positivismus und dialektischen Materialismus. Den Hintergrund, vor dem sie diese Lehren betrachten, bildet Mullā Ṣadrās Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins, die ihrem eigenen Denken zugrunde liegt. Dieser Durchgang ergibt als Gesamtbefund, dass die philosophischen Lehren der abendländischen Moderne weder gegenüber „vormodernen“ philosophischen Systemen wie etwa der Scholastik oder der peripatetischen und platonischen Lehre noch gegenüber der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins intellektuelle Überlegenheit beanspruchen können. Zum einen ist die moderne Philosophie des Abendlandes in den Augen Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs durchzogen von einem Grundfehler, nämlich der fehlenden Unterscheidung von Ding und Begriff. Dieser Grundfehler ist aus ihrer Sicht bereits im Universalienstreit der mittelalterlichen Scholastik angelegt, da deren Schulen, seien sie nominalistisch, idealistisch oder realistisch, nicht zwischen Idee im Sinne eines universalen Dings gemäss der platonischen Lehre und universalem Begriff unterschieden hätten, so dass, wer die Existenz des einen bejahte oder verneinte, unweigerlich auch die Existenz des anderen bejahte oder verneinte. Descartes, der als Begründer einer nachscholastischen, „modernen“ Philosophie gilt, behebt diesen in der Scholastik angelegten Grundfehler nicht, denn er beruft sich für die Begründung seiner Philosophie auf den ontologischen Gottesbeweis der Scholastik, einen Gottesbeweis, dessen Schwäche Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī zufolge darin besteht, dass er nicht zwischen Gott in seiner aussergeistigen Existenz und Gott als Begriff in meinem Geiste unterscheidet. Ein weiteres Beispiel, an dem sich dieser Grundfehler zeigt, bietet die Lehre Hegels, die aus Sicht Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs nicht berücksichtigt, dass es sich beim Nichtsein, der Antithese in Hegels System, nur um den Gegenbegriff zum Sein, der These, nicht aber um das Gegending zu diesem handeln kann, sich Sein, welches eine aussergeistige Wirklichkeit besagt, und Nichtsein, welches nur als innergeistiger Begriff besteht, deshalb auch nicht in einer Synthese des Werdens aufheben können. Da die moderne abendländische Philosophie diesen von der Scholastik ererbten Grundfehler weiterträgt, kann sie für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī auch keinen Anspruch erheben, eine intellektuell überlegene Alternative zur Scholastik zu bieten. Dem Anspruch auf Modernität im Sinne der Überlegenheit gegenüber der „Vormoderne“ wird die abendländische Philosophie seit Descartes daher nicht gerecht. Was ausserdem Descartes im
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besonderen angeht, so gibt er, indem er seine Philosophie ausschliesslich auf das Prinzip „Ich denke, also bin ich“ gründet, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch der klassischen antiken Philosophie preis. Unter Preisgabe des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, wie Muṭahharī nachzuweisen sucht, lässt sich aber auch die Gültigkeit des Prinzips „Ich denke, also bin ich“ nicht aufrecht erhalten. Damit kann keine Lehre, die sich auf das Prinzip „Ich denke, also bin ich“ beruft, Modernität im Sinne der Überlegenheit gegenüber der klassischen Philosophie beanspruchen. Gemäss dieser Auffassung hat die abendländische Philosophie wichtige Gehalte der klassischen Philosophie verfälscht, während die Tradition, welche in Mullā Ṣadrās Lehre von der Eigentlichkeit des Seins ihre Vollendung findet, sie getreu wiedergegeben und weiterentwickelt hat. Während ferner Descartes, der Begründer der modernen Philosophie des Abendlandes, seine Lehre in Abkehr von der philosophischen Tradition formuliert, nimmt Mullā Ṣadrās Lehre für sich in Anspruch, die philosophischen Traditionen, namentlich platonische und aristotelische Philosophie, miteinander vereinbart zu haben. Infolge der Schwächen, welche die moderne abendländische Philosophie durchwirken, ist sie ohne gefestigte metaphysische Grundlegung und deshalb dem Idealismus ausgesetzt. So beurteilen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī denn den Empirismus, einschliesslich Positivismus, sowie den Kritizismus als idealistisch und die übrigen Lehren, da in sich ebenfalls nicht stimmig, als ungeeignet, dem Idealismus etwas philosophisch Überzeugendes entgegenzusetzen. Dem Idealismus der modernen westlichen Lehren stellen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins als Musterbeispiel des Realismus gegenüber. Während etwa Kant die Schwäche des ontologischen Gottesbeweises als einen weiteren Beweis für die Unhaltbarkeit der traditionellen Metaphysik überhaupt betrachtet, verteidigen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, welche den ontologischen Gottesbeweis ja ebenfalls kritisieren, die Metaphysik unter Berufung auf einen Gottesbeweis, der ganz auf der Seinslehre des Mullā Ṣadrā beruht. Die Ablehnung der Metaphysik durch den Positivismus sehen sie in dem unzulänglichen Gottesverständnis dieser Lehre begründet, das Gott letztlich zu einer Kraft der Natur herabstuft. Diesem Verständnis von Gott setzen sie Gott als das blosse Sein im Sinne von Mullā Ṣadrās Lehre entgegen. Weil für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī Idealismus in den beiden Unterarten Skeptizismus und Sophismus besteht und diese beiden in ihren Augen die Gegenposition zur Philosophie darstellen, so gelten für sie die Lehren der abendländischen Moderne, die sie in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus besprechen, da sie entweder selbst idealistisch sind oder gegen den Idealismus nicht aufkommen können, gar nicht als Philosophie im eigentlichen Sinne, jedenfalls aber als defizitär. Sich ihnen anzuschliessen, ist für die eigene geistige Entwicklung daher, wenn nicht schädlich, so doch durchaus entbehrlich.
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Da für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī ferner die Wirklichkeit eines jeden Dings, so auch des Dings Westen, im Geistigen liegt, so ergibt ihre Beurteilung der Philosophie des Westens, seiner geistigen Grundlagen, als idealistisch, dass das geistige Ding Westen selbst gleichbedeutend mit Idealismus ist. Dabei gilt den beiden Denkern das Aufkommen von Idealismus selbst, und zwar in seinen beiden Unterarten Sophismus und Skeptizismus, als Anzeichen für Anfechtungen und Verunsicherungen in der geistigen Kultur einer bestimmten Gemeinschaft. Bei dem ersten Auftreten des Idealismus in Griechenland im Altertum bestanden diese Anfechtungen gemäss Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī in der Umgestaltung der Lebensweise im Zuge der Entstehung der Stadtstaaten. Damals hatten Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles den idealistischen Lehren Einhalt geboten. Die abendländische Neuzeit ist aus Sicht der beiden Gelehrten von einem zweiten Auftreten des Idealismus in Gestalt der modernen philosophischen Lehren des Abendlandes gekennzeichnet, diesmal als Folge der allgemeinen Verunsicherung durch die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen. Allerdings, so Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī, liegt die eigentliche Ursache für diese Verunsicherung in dem Fehlen einer überzeugenden metaphysischen Lehre im Abendland. Vor diesem Hintergrund scheint der Gedanke nicht weit hergeholt, dass Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī ihre Aufgabe darin sahen, durch ihr Denken und Wirken nun ihrerseits dem Übergreifen dieses neuen Idealismus vom Abendland auf ihre Gemeinschaft Einhalt zu gebieten. Dabei erscheint ihnen die eigene Gemeinde als Teilhaberin an einer Heilsgeschichte, die sich in der Philosophie von der Eigentlichkeit des Seins mit ihrem Realismus erfüllt, während die Entwicklung des Westens, die auf Idealismus zuläuft, demgegenüber den Verlauf einer Unheilsgeschichte beschreibt. Auch Positivismus und dialektischer Materialismus, deren Verbreitung unter ihrer Gemeinschaft Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī mit besonderer Besorgnis erfüllt, sind, so gesehen, nur zwei besondere Ausprägungen der von Idealismus gekennzeichneten geistigen Kultur des Westens. Wenn die geistige Kultur des Abendlandes aber in einer Unheilsgeschichte besteht, so kann sie keine Vorbildlichkeit hinsichtlich zivilisatorischer Entwicklung beanspruchen und erscheint als defizitär. Sich auf sie auszurichten, ist für die eigene geistige Kultur daher abträglich. Während sich Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Durchgang durch die philosophischen Systeme der abendländischen Moderne in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus wohl als Beitrag zum inneriranischen intellektuellen Westdiskurs verstehen lässt, kann er schwerlich als Dialog mit der philosophischen Diskussion im Westen selbst aufgefasst werden. Zum einen hinterfragen die beiden Gelehrten nicht die Qualität der Quellen, auf die sie und ihre Gegner in der Debatte sich bei ihrer Kenntnis über den Westen stützen. So scheinen sie stillschweigend davon auszugehen, dass etwa das Bild, das dialektische
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Materialisten und Positivisten vom Westen haben, der Wirklichkeit entspricht. Ausserdem verwenden sie grossenteils dieselben Quellen wie ihre Gegner, ohne dass sie Zweifel an deren Zulänglichkeit erkennen liessen. So unterscheidet sich denn weniger ihr Bild vom Westen als vielmehr ihr Urteil über diesen von dem ihrer Gegner. Ferner behandeln Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī die Philosophien des Westens als Teile eines geschlossenen Ganzen, als Abschnitte in einem geradezu vorgegebenen Gesamtverlauf. Ihre Bemerkungen über die philosophischen Lehren der westlichen Moderne sind daher wohl als Äusserungen über das geistige Ding Westen als ganzes zu deuten. Schliesslich bleiben in Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Darstellung wichtige Denker der neuzeitlichen abendländischen Philosophie unbesprochen, so etwa Nietzsche, den Forūġī behandelt, und Heidegger, der unter iranischen Intellektuellen bedeutende Anhänger hatte. Dennoch markiert Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus den Übergang von bloss rezeptiver und beschreibender Darstellung zu kritischer Behandlung westlicher Philosophie. Weil der Westen im Urteil Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs hinsichtlich seiner geistigen Grundlagen keine Massgeblichkeit beanspruchen kann, steht für sie auch der Massgeblichkeitsanspruch seiner praktischen Einrichtungen wie Staats-, Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage. Angesichts der Massgeblichkeit wiederum, die sie ihrer eigenen Kultur im Zeichen der Lehre von der Eigentlichkeit des Seins im theoretischen Bereich zuerkennen, liegt für Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī der Gedanke nahe, auf der Grundlage ihrer geistigen Kultur eine Ordnung zu errichten, welche auch im praktischen Bereich würde Massgeblichkeit beanspruchen können. Er drängt sich für sie vielleicht umso mehr auf, als Ṭabāṭabāʾī theoretische und praktische Gehalte der Zuständigkeit desselben geistigen Vermögens des Menschen zuweist, die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft also aufhebt. Jedenfalls finden sich Ṭabāṭabāʾīs Überlegungen zu diesem Punkt auch in seinem Aufsatz Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia, dem einen von zwei Beiträgen, in denen er sich mit der Frage nach der Einrichtung und Leitung des schiitischen Gemeinwesens befasst. In dem anderen Beitrag, Sachwalterschaft und Führerschaft, nimmt Ṭabāṭabāʾī in vielem das Staatswesen vorweg, das auch Āyatollāh Khomeini für die Islamische Republik Iran vorschwebte, und erteilt zugleich den Staatsformen Demokratie und Sozialismus gleichermassen eine Absage. Beide Modelle sind aus seiner Sicht für die Gestaltung eines islamischen Gemeinwesens, wenn nicht schädlich, so doch entbehrlich. Sowohl Demokratie als auch Sozialismus sind aber aus dem Denken der westlichen Moderne hervorgegangen, wenn auch der Sozialismus im damaligen Ostblock verwirklicht wurde. Auch dieses wird von Ṭabāṭabāʾī jedoch für die Grundlegung der „eigenen“ Kultur als entbehrlich, wenn nicht als schädlich,
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beurteilt. Wenn nun also sowohl die theoretischen Grundlagen der abendländischen Moderne, ihr Gedankengut, als auch ihre praktischen Einrichtungen wie etwa ihre Staatsformen, als entbehrlich, ja gar schädlich, beurteilt werden, so folgt daraus, dass aus Ṭabāṭabāʾīs und Muṭahharīs Sicht die westliche Moderne schlechthin für das eigene Gemeinwesen entbehrlich, ja schädlich, ist. Dies scheint, was die moderne Philosophie des Abendlandes betrifft, die Botschaft von Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus und, was seine praktischen Errungenschaften angeht, von Rechtsfindung und Überantwortung im Islam und in der Schia und Sachwalterschaft und Führerschaft zu sein. Mit dieser Absage an den Westen als Vorbild für die Entwicklung der „eigenen“ Kultur und der Berufung auf ein „authentisches“ Eigenes, in ihrem Fall auf eine als Heilsweg verstandene philosophische Tradition, zeigen Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī eine Einstellung, die sich an vielen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre beobachten lässt. Ṭabāṭabāʾī und Muṭahharī geraten dabei jedoch nicht in einen Zwiespalt zwischen dem Anliegen, „authentisch“ zu sein, auf der einen und dem Bestreben, „modern“ zu sein, auf der anderen Seite. Vielmehr geht es ihnen schon gar nicht darum, modern zu sein. So wird, wer ihre Urteile über die Philosophie der abendländischen Moderne in Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus übernimmt, zum Schluss kommen, die westliche Moderne, da der „eigenen“ Tradition gegenüber schlechthin defizitär, sei es nicht weiter wert, dass man sich überhaupt mit ihr befasse, geschweige denn, dass man sie sich zu eigen mache.
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Register Abstraktion 97, 243, 283, 284, 285, 288, 289, 290, 291, 293, 305, 307, 311, 334, 335, 349, 350, 369, 379, 391, 440 ʿAbduh, Muḥammad 9, 20, 21, Afġānī, Ǧamāl al-Dīn 9, 20, 21 ʿAfīfī, Abū al-ʿAlā 186 Aḥmad, Ǧalāl Āl-e 22, 455 Albinus 85 Alexander von Aphrodisias 122 ʿAlī b. Abī Ṭālib 65, 155 Allegorie 54, 55, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76 Amirpur, Katajun 2 Ammonios, Sohn des Hermias 116 Anschauung, intellektuelle 380, 382 Antinomismus 63 Antithese 402, 403, 404, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 413, 414, 415, 417, 432, 470 Aquin, Thomas von 281 Ārām, Aḥmad 186 Arānī, Taqī 184, 186, 187, 469 Aristoteles 47, 48, 50, 51, 52, 53, 54, 60, 85, 95, 96, 97, 103, 104, 105, 111, 116, 122, 123, 124, 125, 127, 129, 133, 134, 135, 143, 147, 148, 207, 215, 219, 233, 234, 236, 245, 253, 254, 261, 317, 324, 326, 333, 351, 405, 411, 440, 445, 446, 460, 461, 464, 466, 472, 473 Aristotelismus 133, 149, 151, 152, 155, 441, 466 Asfār (al-ḥikmah al-mutaʿāliyah fī al-asfār al-arbaʿah al-ʿaqliyyah) 29, 152 ʿAṣṣār, Āqā Seyyed Moḥammad Kāẓem 3 Assoziation 233, 234, 351, 352 Āštiyānī, Ḥāǧǧ Mīrzā Mehdī 39 Āštiyānī, Mīrzā Mehdī 3 Ašʿarī, Abū al-Ḥasan 448 Atatürk (Mustafa Kemal) 31 Augustin (Kirchenvater) 85 Bacon, Francis 360 Bādkūbeʾī, Ḥusayn 29
Bāzargān, Mehdī 20, 21, 22, 23, 159 Beheštī, Āyatollāh Seyyed Moḥammad 159 Bergson, Henri 174, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 438, 469 Berkeley, George 368, 369, 370, 371, 372, 398, 446 Bewegung, substantielle 144, 146, 256, 433, 462 Bisṭāmī, Bāyazīd 126 Boroujerdi, Mehrzad 1, 13, 17, 18, 23 Borūǧerdī, Moḥammad Ḥoseyn 38, 39, 40, 158, 159, 160, 167, 168, 176, 177 Büchner, Ludwig 185 Canterbury, Anselm von 267, 268, 276, 277, 337, 386 Challaye, Félicien 362, 364, 365, 396 Comte, Auguste 371, 372, 374, 375, 376 Corbin, Henry 4, 6, 24, 175, 186, 436, 469 Dabashi, Hamid 1 Dāmād, Seyyed Moḥammad 176 Darwin, Charles 185, 249, 250 Dāvarī, Reżā 437 Deduktion 242, 243, 359, 360, 361, 362, 364, 366, 440 Demokratie 11, 23, 163, 164, 465, 473 Descartes, René 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 276, 277, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 311, 315, 316, 317, 321, 323, 325, 332, 333, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 343, 366, 367, 386, 387, 428, 429, 436, 441, 442, 443, 470, 471 Determinismus 342, 455 Dialektik 47, 49, 52, 53, 58, 156, 403, 405, 406, 411, 412, 413, 414, 415, 420, 421, 422, Dogmatismus 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 202, 204, 212, 237, 250, 255, 261, 280, 329, 353, 354, 367, 425, 426, 446
482
Register
Durant, William 186 Dyophysiten 124
Evangelium 152 Existenzphilosophie 467
Eigentlichkeit der Essenz 135, 141, 143, 146, 149, 229 Eigentlichkeit der Existenz 140, 141, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 210, 229, 230, 246, 259, 270, 271, 272, 273, 276, 347, 393, 406, 407, 419, 432 Eigentlichkeit der Materie 414, 415, 422, 424, 430 Eigentlichkeit des Seins 3, 17, 39, 144, 150, 176, 178, 188, 208, 210, 211, 213, 220, 222, 228, 229, 230, 236, 239, 240, 247, 248, 249, 250, 253, 259, 260, 262, 263, 264, 269, 272, 275, 276, 281, 282, 284, 304, 305, 313, 331, 336, 342, 346, 348, 370, 375, 377, 378, 379, 384, 390, 391, 392, 394, 396, 397, 400, 407, 408, 430, 431, 432, 433, 437, 439, 443, 456, 457, 458, 460, 461, 466, 467, 470, 471, 472, 473 Einsicht 326, 327, 429 Empiriker 287, 306, 307, 309, 314, 324, 328, 329, 330, 331, 332, 349, 350, 353, 355, 356, 357, 358, 359, 361, 366, 367, 371, 389, 391, 392, 462 Empirismus 110, 327, 331, 332, 334, 349, 350, 353, 354, 356, 357, 366, 368, 371, 374, 379, 380, 385, 389, 390, 393, 395, 396, 426, 435, 437, 448, 451, 462, 467, 470, 471 ʿEnāyat, Ḥamīd 5 Engels, Friedrich 184, 413, 414, 415 Entwicklungsdrang, schöpferischer 432 Erkenntnisprinzipien 325, 326, 327, 328, 329, 331, 332, 350, 353, 358, 359, 361, 364, 373, 374, 384, 385, 391, 396 Erleuchtungsphilosoph 95, 96, 99, 100, 101, 103, 105, 106, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 115, 117, 118, 131, 132, 145, 229, 230 Erleuchtungsphilosophie 95, 96, 105, 106, 109, 110, 119, 120, 130, 131, 132, 133, 135, 138, 143, 144, 145, 151, 152, 155, 229, 230, 246 Esoteriker 63
Fanon, Frantz 21 Fārābī, Abū Naṣr 47, 48, 49, 50, 51, 53, 54, 55, 60, 69, 85, 92, 104, 105, 171, 237, 249, 317, 318, 323, 440 Fardīd, Aḥmad 437 Finalismus 342 Flammarion, Camille 428 Forqān 183 Forūġī, Moḥammad ʿAlī 173, 174, 185, 186, 188, 436, 468, 469, 473, Foulquier, Paul 187 Ǧahānbaglū, Rāmīn 5 Gesellschaft der kämpferischen Geistlichkeit 178 Gesellschaften, Islamische 158, 159 Gewissheiten, natürliche 256, 258, 259, 260, 316, 318, 320, 321, 325 Gheissari, Ali 2 Gnosis 45, 63, 77, 78, 79, 81, 88, 102 Gnostiker 77, 78, 79, 80, 81, 82, 85, 90, 154 Golpāygānī, Moḥammad Reżā 176 Gorgias 446 Gottesbeweis, ontologischer 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 276, 277, 337, 386, 387, 392, 400, 470, 471 Hajatpour, Reza 2 Ḥakamīzādeh, ʿAlī Akbar 169 Halm, Heinz 7 Ḥanbal, Aḥmad Ibn 448 Ḥanbaliten 449 Ḫātamī, Moḥammad 20 Ḥāʾerī Yazdī, Mehdī 4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 184, 400, 401, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 412, 413, 414, 415, 416, 422, 432, 435, 438, 470 Heidegger, Martin 4, 436, 437, 473 Hellenismus 155 Hermes 96, 132 Hume, David 371, 462 Hylemorphismus 98, 101, 134, 135, 143, 147, 148, 149, 344, 466
Register
Iamblichos 102 Ibn Rušd, Abū al-Walīd 134, 135 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī 27, 29, 85, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 140, 147, 152, 155, 171, 176, 177, 263, 264, 265, 266, 300, 301, 302, 317, 318, 323, 440 Ibn ʿArabī, Muḥyī al-Dīn 137, 138, 140, 143 Ich denke, also bin ich 252, 253, 254, 255, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 268, 277, 336, 443, 471 Idealismus, deutscher 467, 470 Idealismus, echter 280, 281 Imam 15, 21, 28, 36, 38, 46, 59, 65, 66, 76, 153, 154, 155, 156, 160, 163, 166, 176, 179, 236, 237, 467 Induktion 243, 244, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 366 Iqbāl, Muḥammad 20, 21 Islamische Republik Iran 6, 21, 25, 66, 94, 459, 464, 473 Ist-Gehalt 461, 462, 463 James, William 433 Jesus (Christus) 123, 124 Johannes (Apostel) 123 Justinian 439 Kalām 52 Kant, Immanuel 380, 381, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 388, 389, 390, 392, 393, 394, 395, 396, 397, 398, 400, 401, 405, 470, 471 Kasravī, Aḥmad 169 Khomeini (Ḫomeinī), Rūḥ Ollāh 3, 4, 6, 10, 23, 37, 66, 159, 163, 168, 176, 178, 460, 473 Kirchenväter 71, 84, 85, 89, 123, 124 Kommunismus 158, 163, 167, 424 Koran 11, 26, 37, 38, 41, 44, 46, 56, 57, 59, 61, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 77, 103, 120, 152, 153, 154, 156, 161, 162, 164, 165, 179, 180, 451, 452, 453 Koranexegese, naturwissenschaftliche 11, 451, 452, 454 Kritizismus 380, 386, 387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 394, 396, 405, 437, 447, 467, 470, 471
483
Kūhkamarī, Āyatollāh Ḥoǧǧat 176 Külpe, Oswald 185 Lebensphilosophie 428, 432, 433, 438 Lebensschwungkraft 432, 433 Leibniz, Gottfried Wilhelm 268, 337, 339, 340, 341, 386 Lenin, Wladimir Iljitsch 184 Locke, John 357, 366, 367, 368, 369 Logiker, islamische 299, 301, 302 Logos 85, 123, 124 Mahdavī, Yaḥyā 187 Makārem Šīrāzī, Āyatollāh Nāṣer 168 Malebranche, Nicolas 337, 338, 340 Marcuse, Herbert 21 Marx, Karl 21, 184, 413, 414, 415, 416 Marxismus 168 Maschinismus 341, 344 Masʿūdī, Abū al-Ḥasan ʿAlī 118 Materialismus, dialektischer 4, 34, 35, 39, 41, 157, 170, 184, 185, 186, 187, 413, 414, 415, 416, 417, 418, 419, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 429, 430, 435, 437, 438, 443, 468, 469, 470, 472 Mathematik 29, 191, 215, 326, 335, 340, 358, 362, 364, 365, 366, 387, 395, 396, 397 Mechanismus 341, 342, 343, 344 Mensch, freischwebender 263, 264, 265 Mīr Dāmād (Sayyid Mīr Muḥammad Bāqir Astarābādī) 41, 44, 78, 93, 94, 119, 128, 129, 130, 133, 143, 466, Mīr Fendereskī 82, 83, 84 Modernist 21, 23, 24, 457 Monade 340, 341 Monophysiten 124 Morgan, Kenneth W. 41, 42 Moṣaddeq, Moḥammad 33, 34, 167, Muḥammad (Prophet) 53, 55 Mullā Ṣadrā (Ṣadr al-Dīn al-Šīrāzī) 3, 29, 39, 40, 41, 113, 133, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 155, 156, 171, 176, 178, 188, 208, 209, 210, 211, 217, 226, 229, 230, 231, 239, 240, 246, 250, 253, 256, 260, 262, 266, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 276, 277, 282, 299, 300, 301, 302, 336,
484
Register
342, 346, 347, 348, 370, 371, 375, 377, 378, 384, 391, 392, 406, 410, 430, 431, 432, 433, 437, 439, 440, 443, 456, 457, 458, 460, 463, 464, 465, 466, 467, 470, 471 Muʿtazilah 58, 59 Mystik 79, 80, 88, 90, 91, 94, 95, 120, 138, 152, 153, 154, 156, 176, 431, 466 Mystiker 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 89, 91, 92, 94, 95, 114, 154, 431, 440 Nadawī, Sayyid Abū al-Ḥasan 452 Narāqī, Eḥsān 5 Nasr, Seyyed Hossein 41, 42, 43, 44 Nationale Front 167 Nāʾīnī, Muḥammad Ḥusayn 28 Neuplatoniker 100, 101, 104, 105, 111, 116, 118, 120, 129, 131 Neuplatonismus 95, 101, 102, 103, 105, 108, 110, 119, 126, 132 Neẓāmī, Elyās b. Yūsof 431 Nietzsche, Friedrich 436, 473 Nominalist 279 ohne Wie 448, 449, 450, 451, Okkasionalismus 338 Pahlavī, Moḥammad Reżā 31, 33, 34, 36, 167 Pahlavī, Reżā 31, 33, 166, 167, 455 Pantheismus 138, 143 Pascal, Blaise 256 Peripatetiker 47, 48, 51, 54, 55, 69, 75, 76, 78, 79, 85, 92, 95, 96, 97, 98, 105, 122, 133, 134, 147, 148, 230, 317, 323 Philon von Alexandria 66, 71, 85, 86, 89, 101, 107, 123 Platon 29, 53, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 103, 105, 112, 113, 114, 115, 118, 119, 120, 132, 133, 324, 411, 436, 440, 445, 446, 472 Platoniker 85, 94, 95, 96, 101, 103, 105 Platonismus 82, 94, 95, 103, 105, 132, 133, 149, 151, 152, 155, 278, 431, 466 Plotin 85, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 112, 113, 114, 117 Plotinparaphrase 105, 106, 109, 115, 116, 120, 121
Politzer, Georges 185 Popper, Karl Raimund 5 Positivismus 371, 372, 373, 374, 375, 379, 435, 437, 438, 444, 462, 470, 471, 472 Pragmatismus 433, 434, 450 Proklos 108, 119, 129, 130 Protagoras 390, 446 Psalter 152 Pyrrhon 193, 194, 195 Qāżī, Mīrzā ʿAlī Āqā 30, Qomšeʾī, Āqā Moḥammad Reżā 3 Quṭb Muḥammad 452 Quṭb, Sayyid 452 Rafīʿī Qazwīnī, Mīrzā Abū al-Ḥasan 3 Rationalismus 288, 292, 305, 315, 316, 327, 331, 332, 334, 335, 336, 337, 349, 350, 366, 379, 380, 385, 386, 389, 390, 396, 438, 470 Rażavī, Mīrzā Mehdī Šahīdī 176 Rāzī, Faḫr al-Dīn 377, 378 Reisen, Die vier 29, 40, 152 Republik, Islamische 2, 3, 6, 21, 25, 37, 66, 94, 159, 163, 459, 460, 464, 465, 473 Revolution, Islamische 11, 28, 30, 159, 459, Revolution, Konstitutionelle 19, 34, 160 Revolution, Weisse 178 Rūmī, Ǧalāl al-Dīn 83, 84, 87, 114, 126 Šabestarī, Moḥammad 20 Sabzevārī, Mullā Hādī 29, 176, 177 Šādmān, Seyyed Faḫr ol-Dīn 5 Ṣadr, Ṣadr al-Dīn 176 Ṣafaviden 78, 81 Säkularismus 9, 19, 168 Salafist 11, 12, 153 salafistisch 11, 153, 438 Salafiyyah 8, 9, 250 Šarīʿat Sangalaǧī, Mīrzā Reżā Qolī 169 Šarīʿatī, ʿAlī 5, 20, 21, 22, 23, 178 Sartre, Jean Paul 21 Šāyegān, Dāryūš 4, 437 Scholastik 251, 278, 280, 282, 317, 334, 337, 349, 439, 440, 470 Schopenhauer, Arthur 394, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 446
Register
Schule von Isfahan 3, 4, 6, 29, 41, 93, 94, 178, 466 Sensualismus 353, 356, 357, 368, 371, 389, 425, 426, 448 Šīrāzī, Quṭb al-Dīn 112, 113, 118, 119 Skeptizismus 193, 195, 197, 200, 202, 204, 205, 247, 248, 249, 280, 390, 419, 434, 445, 446, 447, 471, 472 Soll-Gehalt 461, 462, 463 sophia perennis 55, 96 Sophismus 54, 192, 193, 196, 197, 200, 201, 203, 204, 205, 206, 207, 247, 260, 273, 280, 329, 353, 371, 419, 426, 445, 446, 447, 471, 472 Sorūš, ʿAbd ol-Karīm 2, 4, 5, 20, 21, 22, 23, 458 Sozialismus 163, 164, 465, 473 Spinoza, Baruch de 268, 337, 338, 339, 386 Steiner, Rudolf 428 Stoiker 122 Substitution 233 Suhrawardī, Šihāb al-Dīn 95, 96, 97, 98, 99, 101, 105, 106, 107, 109, 111, 112, 113, 118, 121, 123, 124, 125, 126, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 145, 171, 229 Šumayyil, Šiblī 185 Synthese 403, 404, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 413, 414, 415, 417, 432, 470 Ṭālebzādeh, Ḥamīd 94, 166, 172, 246, 275, 459, 460, 461, 462, 463, 466 Ṭāleqānī, Maḥmūd 20, 23, 159 Technik 180, 442, 444, 446 Thales von Milet 96 Theosoph 80, 81, 82, 83, 84, 91, 92, 96, 119, 271, 428 Theosophie 80, 152, 153, 427, 428, 442 These 402, 403, 404, 406, 407, 408, 411, 413, 414, 415, 417, 432, 470
485
Thora 86, 152 Thot 96 Tūdeh 34, 167, 184, 188 Universalienstreit 278, 279, 440, 470 Urteil, analytisches 380, 381, 382 Urteil, synthetisches 380, 381, 382 Vahdat, Farzin 1 Vereinigung der Gegensätze 412, 413 Vergleich (moqāyese, sanǧeš) 292, 293, 294, 295, 296, 319, 320, 326, 327, 350 Verstandesgehalte, primäre 289, 292, 305, 317, 350, 367 Verstandesgehalte, sekundäre 289, 291, 292, 295, 305, 350, 384 Waǧdī, Farīd 452 Weber, Max 21 Wissen, gegenwärtiges 117, 118, 119, 121, 126, 130, 225, 226, 228, 229, 284, 285, 310, 311, 312 Wissen, mittelbares 221, 223, 225, 226, 228, 229, 284, 285, 293, 311, 312, 334, 354 Wissen, unmittelbares 284, 285, 293, 311, 312 Zanǧānī, Seyyed ʿEzz ol-Dīn 173 Zarrinkoob (Zarrīnkūb), A.H. (ʿAbd ol-Ḥoseyn) 7 Zoroaster 132 Zoroastrismus 132, 133 Zweifel, hypothetischer 255, 256, 257, 258, 259 Zweifel, methodischer 252, 255, 256, 257, 258, 260, 311