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German Pages 1320 [1312] Year 2006
K R EAT IVI TÄT XX. Deutscher Kongreß für Philosophie
K RE ATI V I TÄ T XX. Deutscher Kongreß für Philosophie 26.–30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin Kolloquienbeiträge
Herausgegeben von
günter abel
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Der Kongress wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN-13: 978-3-7873-1766-0 ISBN-10: 3-7873-1766-X
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2006. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel. Hamburg, Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
I N H A LT
Vorwort .............................................................................................................
XV
eröffnungsvortrag Günter Abel Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie .............................................................
1
kolloquium 1 Das Neue in mentalen Prozessen, Zuständen und Phänomenen – Kreativität als Thema der Philosophy of Mind Margaret Boden The Concept of Creativity ..................................................................................
25
Katalin Balog Ontological Novelty, Emergence, and the Mind-Body Problem ..........................
26
kolloquium 2 Kreativität und Logik – Kreativität der Generierung formaler Strukturen Klaus Oehler Einführung .........................................................................................................
45
Gottfried Gabriel Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität .....................................
47
Volker Peckhaus Die Aktualität der Logik als Organon ................................................................
58
Helmut Pape Wann ist eine formale Logik kreativ? Peirces graphische Logik als Beispiel ..................................................................
70
VI
Inhalt
kolloquium 3 Utopien – Kreative Entwürfe der Staatsphilosophie Werner Becker Einführung: Gedanken über Utopie ....................................................................
89
Rainer Forst Utopie und Ironie. Zur Normativität der politischen Philosophie des »Nirgendwo« ........................
92
Richard Saage Zur Differenz und Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie ........................
104
Jean-Christophe Merle Die Utopie heute: Der Abschied von der Atopie und ihr Ausschluß ...................
122
kolloquium 4 Prozeßphilosophie – Kreativität als Schlüsselbegriff religionsphilosophischer Entwürfe Thomas Rentsch Einführung .........................................................................................................
137
Wilhelm Schmidt-Biggemann Theogonie. Momente einer Philosophie des absoluten Werdens von Plotin bis Schelling ......
141
Andreas Schüle Gottes Poesie und menschliche Vernunft. Theologische Überlegungen zu Alfred North Whiteheads kulturphilosophischem Verständnis von Kreativität ...........................................
165
Reiner Wiehl Der gute Wille zum Neuanfang. Eine religionsphilosophische Kategorie ............
182
kolloquium 5 Verstehen und Erfinden – Die Kreation von Sinn als hermeneutisches Problem Rüdiger Bubner Einführung .........................................................................................................
203
Jean Grondin Gadamers ungewisses Erbe.................................................................................
205
Inhalt
VII
Mario Ruggenini Kreativität und Interpretation. Gehört dazu noch die Frage nach der Wahrheit? ................................................
216
Tilman Borsche Wie und wozu erfinden wir unsere Welt? Zum Problem von Referenz und Bedeutung im interkulturellen Dialog ..............
234
kolloquium 6 Invention und Innovation – Konzeptionen von Kreativität in der Technikphilosophie Christoph Hubig Einführung .........................................................................................................
253
Hans Lenk Postmoderne Kreativität – auch in Wissenschaft und Technik?...........................
260
Bernhard Irrgang Innovationskulturen: Bedingungen technischer Kreativität .................................
290
kolloquium 7 Der ›neue‹ Mensch – Ethische Probleme der Genforschung und Biotechnologie Carl Friedrich Gethmann Einführung .........................................................................................................
303
Ludwig Siep Die biotechnische Neuerfindung des Menschen ..................................................
306
Ludger Honnefelder Bioethik und die Frage nach der Natur des Menschen ........................................
324
kolloquium 8 Virtuelle Welten – Kreativität und Phantasie in Mathematik, Naturwissenschaften und anderen Künsten Sybille Krämer Einführung. Wie aus ›nichts‹ etwas wird: Zur Kreativität der Null .....................
341
Dieter Mersch Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität .........................................
344
VIII
Inhalt
Christian Thiel Kreativität in der mathematischen Grundlagenforschung ...................................
360
Bernd Mahr Die Schöpfung der Maschine. Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen .........................................
376
k olloquium 9 ›Creatio ex nihilo‹ und ›Creatio continua‹ – Der Schöpfungsgedanke in der Philosophie des Mittelalters Andreas Speer Einführung .........................................................................................................
393
Johann Kreuzer Der Augenblick der Schöpfung. Zur Logik des Kreativen bei Eriugena, Eckhart und Nikolaus von Kues .........................................................................
397
Theo Kobusch Die Würde des Schöpferischen. Von der Selbsterschaffung des Menschen ..........
419
kolloquium 10 Funktionen und Dimensionen der Einbildungskraft – Zur Entwicklung eines transzendentalphilosophischen Grundbegriffs Wilhelm Vossenkuhl Einführung: Kreativität und Einbildungskraft ....................................................
447
Josef Simon Sich ein Bild machen. Zur Entwicklung der Bedeutung der Einbildungskraft in der neueren Philosophie .....................................................................................
450
Paul Guyer Is there a transcendental imagination?................................................................
462
Tyler Burge Perceptual Objectivity ........................................................................................
484
kolloquium 11 Kreativität und Kultur – Der Kreativitätsgedanke im interkulturellen Vergleich Franz Martin Wimmer Kreativität und Kultur. Einleitende Überlegungen...............................................
487
Inhalt
IX
Ram Adhar Mall Zur ›orthaften Ortlosigkeit‹ der philosophischen Rationalität: Eine interkulturelle Orientierung ........................................................................
492
Rolf Elberfeld Kreativität und das Phänomen des »Nichts« ......................................................
520
Oswald Schwemmer Das Neue als Kulturtendenz ...............................................................................
534
kolloquium 12 Kreativität im Denken Albert Einsteins [Kooperation mit BMBF und MPG im Rahmen des Einstein-Jahres] Martin Carrier Schöpfung durch begriffliche Verbindung und theoretische Ausarbeitung: Modi der Kreativitätsentfaltung bei Albert Einstein ...........................................
555
Peter Mittelstaedt Einsteins Kritik an der Quantenmechanik ..........................................................
574
kolloquium 13 Das kreative Gehirn – Kreativität als Problem der Hirnforschung Achim Stephan Einführung .........................................................................................................
593
Henrik Walter Kann die Neurowissenschaft Kreativität erklären? ............................................
595
Hinderk Emrich Kreativität und Gehirnfunktion: Die Bedeutung interner Zensursysteme ............
597
kolloquium 14 Kreative Universen – Das Neue in Naturphilosophie und Kosmologie Brigitte Falkenburg Einführung .........................................................................................................
615
Gerhard Börner Physikalische Kosmologie heute .........................................................................
621
X
Inhalt
Pierre Kerszberg Scientific Cosmology and the Philosophy of Nature ...........................................
637
Henning Genz Lokalität in der Kosmologie ...............................................................................
651
k olloquium 15 Kreatives Handeln – Freiheit, Determinismus und Kreativität als Probleme der Handlungstheorie Ansgar Beckermann Einführung: Der freie Wille heute .......................................................................
663
Pirmin Stekeler-Weithofer Wer ist kreativ, mein Gehirn oder ich? Wie Ausdrucksweisen die Debatte um den freien Willen in die Irre führen ........
667
Gottfried Seebaß Determinismus und normative Kontrolle............................................................
691
kolloquium 16 Entelechia, Emanation, Dynamis – Kreativitätsbegriffe in Antike und Spätantike Klaus Jacobi Einführung .........................................................................................................
707
Dorothea Frede Kreativität bei Platon? ........................................................................................
709
Christof Rapp Energeia: Die Aristotelische Alternative zu Kreation und Genese .......................
727
Christoph Horn Vertikale Verursachung – ein Aspekt des Kausaldenkens in der antiken Philosophie ..................................................................................
745
kolloquium 17 Kreativer Sprach- und Zeichengebrauch – Metapher, Fiktion und Ironie Herbert Schnädelbach Einführung .........................................................................................................
769
Inhalt
XI
Catherine Elgin Taking Liberties With Truth: Fiction as Thought Experiment ............................
772
Hans Julius Schneider Was heißt ›einer Regel nicht folgen‹? Zur Erklärbarkeit sprachlicher Kreativität .........................................................
785
Petra Gehring Vom Begriff zur Metapher: Elemente einer Methode der historischen Metaphernforschung..........................
800
kolloquium 18 Kreativität in Bildern – Organisationskraft bildlicher Strukturen Reinhard Brandt Einführung .........................................................................................................
819
Lambert Wiesing Die bildliche Kreatur: zwischen Interpretation und Präsentation ........................
822
Robert Schwartz Creating Art, Creating Reality: A »Wild(e) View of Art« ...................................
836
Klaus Rehkämper Wurzeln und Grenzen von Kreativität in Bildern ................................................
844
kolloquium 19 Können Computer kreativ sein? – Möglichkeiten und Grenzen des Computermodells des Geistes Klaus Mainzer Einführung .........................................................................................................
867
Wolfgang Bibel Kreativität aus Sicht der Intellektik. Verständnis und künstliche Realisierung ............................................................
885
Holm Tetens Das Unvorhersehbare. Überlegungen zum Zusammenhang von Kreativität, Berechenbarkeit und Prognose .........................................................
910
Jürgen Schröder Computer und Kreativität ..................................................................................
926
XII
Inhalt
kolloquium 20 Selbstorganisation und Kreativität – Paradigma gegenwärtiger Naturwissenschaften? Gerhard Vollmer Einführung .........................................................................................................
947
Michael Esfeld Der neue Reduktionismus ..................................................................................
951
Hans Poser Wissenschaftsmodelle des Neuen und ihre Grenzen. Kreativität und die Theorien der Komplexität ....................................................
966
Anne Fagot-Largeault Creativity and Human Biotechnologies ..............................................................
983
kolloquium 22 Klugheit und Kreativität – Klugheit als kreative Reaktion auf ethische Problemsituationen Konrad Ott Klugheit, Moral, Kreativität – Einführende Bemerkungen ..................................
999
Andreas Luckner Klugheit und Selbstsein. Thomas Nagel und Richard Mervyn Hare zum Problem praktischer Vorausschau ....................................................................................
1003
Theodor Ebert Klugheit – Überlegungen zu ihrem Status in Handlungstheorie und Moralphilosophie ......................................................
1038
Pierre Aubenque Von der Phronesis zu der Klugheit: Zur Geschichte des Kreativitätsproblems in der Ethik ........................................
1051
kolloquium 23 Perzeption und Gestalt – Kreative Elemente in Wahrnehmungsprozessen Bernhard Waldenfels Einführung .........................................................................................................
1061
John McDowell Conceptual Capacities in Perception ..................................................................
1065
Inhalt
XIII
kolloquium 24 Kreativität und Ökonomie – Wirtschaftliches Handeln und menschliche Kreativität Peter Koslowski Einführung .........................................................................................................
1083
Guy Kirsch Die sterile Mitte und der kreative Rand. Warum die Kreativität die Arbeitsteilung zwischen Establishment und Marginalen voraussetzt ...............................................................................
1089
Viktor Vanberg Der Markt als kreativer Prozeß: Die Ökonomik ist keine zweite Physik ...............................................................
1101
Joel Mokyr Mobility, Creativity, and Technological Development: David Hume, Immanuel Kant and the Economic Development of Europe .........
1129
kolloquium 25 Kreativität und Kunst – Kunst als Paradigma von Kreativität? Josef Früchtl Einführung .........................................................................................................
1163
Stefan Majetschak Genialität. Zur philosophischen Deutung der Kreativität des Künstlers ...............................
1169
Wolfgang Welsch Kreativität durch Zufall. Das große Vorbild der Evolution und einige künstlerische Parallelen .................
1185
Nikolas Kompridis ›I Trusted You with The Idea of Me and You Lost It‹: On the Relation of Receptivity to Creativity ......................................................
1211
f estvortrag John Searle What is Language: Some Preliminary Remarks ..................................................
1223
XIV
Inhalt
abschlußvortrag Wolfram Hogrebe Seher, Richter und Zufall. Kreativität am Anfang und am Ende ..................................................................
1249
Hinweise zu den Autoren ...................................................................................
1269
V O RW O R T
Unter dem Titel KREATIVITÄT fand der XX. Deutsche Kongreß für Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) vom 26. bis 30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin statt. In dem vorliegenden Band werden die Kolloquiums-Vorträge sowie der Eröffnungs- und der Festvortrag des Kongresses veröffentlicht.1 Die Sektions-Vorträge sind bereits in zwei Bänden veröffentlicht (Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie. Sektionsbeiträge, hrsg. v. G. Abel, Universitätsverlag der TU Berlin 2005). Mit den nun insgesamt drei Bänden Kongreß-Akten liegt ein kompakter Beitrag seitens der Philosophie zur Frage der Kreativität vor. Angesichts des Rätsels der Kreativität stellen die Beiträge nicht eine Bilanzierung zurückliegender Forschung, sondern nach vorn gerichtete Forschungsbeiträge dar. Der Kongreß war konzipiert als Forum gegenwärtiger Debatten und möglicher Auslöser für künftige Forschungen in puncto Kreativität. Die in den drei Kongreß-Bänden anzutreffende Bandbreite der philosophischen Reflexion spiegelt die vielen Facetten des Gegenstandes, aber auch die Lebendigkeit und die intellektuelle Kraft der philosophischen Szene im deutschsprachigen Raum wider. Die Thematik des Kongresses und die Teilthemen der einzelnen Kolloquien und Sektionen waren auf drei Ziele zugleich ausgerichtet, die wohl entscheidend zu der großen Resonanz beigetragen haben, die der Kongreß in der Öffentlichkeit gefunden hat. Erstens fühlten sich innerhalb der Philosophie alle Teildisziplinen (wie z. B. Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Handlungsphilosophie, Ästhetik, praktische Philosophie, Geschichte der Philosophie und andere) angesprochen, das Thema unter ihrem jeweils spezifischen Zugang zu profilieren und zu erörtern. Zweitens wurde die Thematik gezielt an die Schnittstelle zu den Wissenschaften plaziert. Dies zeigte sich daran, daß der Austausch mit den Naturwissenschaften, mit Hirnforschung, Psychologie, Informatik, Mathematik und anderen Disziplinen großen Raum im Tagungsprogramm einnahm. Drittens wurde mit ›Kreativität‹ das Themenfeld des Kongresses bewußt an die Schnittstelle von Philosophie und Öffentlichkeit gerückt. Denn im Zusammenhang dieses Stichwortes sind einige Kernthemen der öffentlichen Diskussionen betroffen, die unsere Zeit bewegen. In seinem Grußwort hat auch Bundespräsident Horst Köhler, der die Schirmherrschaft des Kongresses übernommen hatte, die hohe Relevanz der Thematik zum Ausdruck gebracht: »›Kreativität‹ ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein überaus wichtiger Begriff. Nur wenn die Menschheit kreative Lösungen findet, kann sie die enormen globalen Probleme bewältigen.« Und ohne die Philosophie, so der Bundespräsident weiter, »ist ein tieferes Verständnis der Kreativität unmöglich.«
Im Rahmen des Kolloquiums 21 Das Neue und die Institutionen – Kreativität und Organisation des Wissens fand eine Podiumsdiskussion statt, so daß hierzu keine Beiträge enthalten sind. 1
XVI
Vorwort
»Kreativität«, zunächst eher den Bereichen der Künste, der Psychologie und der Religion zugeordnet, ist heute zu einem Schlüsselbegriff in beinahe allen Feldern des privaten und öffentlichen Lebens aufgestiegen, in den Wissenschaften ebenso wie in der technologischen Forschung, der Wirtschaft und den Medien sowie in allen Prozessen der Wissensgenerierung und der Weltgestaltung. Kreativität ist ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussionen als verborgenes Grundwort hinter solchen Stichwörtern wie Innovation, Fortschritt, Zukunft der Wissensgesellschaft, Genforschung, Bioethik, virtuelle Welten, künstliche Intelligenz. Zugleich spielt Kreativität eine grundlegende Rolle in den sozialen, alltäglichen und technischen Fähigkeiten, Kompetenzen und Fertigkeiten des Menschen, so auch in unserem alltäglichen Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln. Mit kreativen Prozessen sind wir in Alltag, Wissenschaften, Technologien und Künsten bestens vertraut, ohne jedoch auch schon ein explizites Wissen darüber zu haben, wie Kreativität zu denken ist, welche Formen von Kreativität zu unterscheiden sind, wodurch Dynamiken von Kreativität gekennzeichnet, in welcher Weise sie in unseren alltäglich funktionierenden Praktiken inkorporiert sind und wie man die mit ihr verbundenen heuristischen Muster herausarbeiten kann. Für die Philosophie ist diese hohe Relevanz des Themas Anlaß, aus ihrer Perspektive eine Beschreibung des Phänomens und, sofern möglich, eine grundbegriffliche Klärung bereitzustellen. Dieses Anliegen ist allen hier versammelten Beiträgen gemeinsam, – auch wenn sie ›Kreativität‹ aus denkbar unterschiedlichen Blickwinkeln und in Fokussierung auf unterschiedliche Aspekte thematisieren. Dies beinhaltet auch ein erneutes Aufgreifen und Profilieren klassischer innerphilosophischer Auseinandersetzungen mit Fragen der Kreativität, die mit Stichworten wie Entelechie, Dynamik, Schöpfung, Einbildungskraft, Ars inveniendi, Prozessualität, Entwicklung und Utopie verbunden sind. Das Problem der Kreativität ist ein offenes und innovatives Thema in allen philosophischen Disziplinen sowie an der Schnittstelle zu den modernen Wissenschaften, Technologien und Kulturleistungen verschiedenster Art. Auf diese Weise leistet die Philosophie mit ihrer Arbeit auch einen genuinen Beitrag zur grundbegrifflichen, zur phänomenologischen und zur argumentativen Klärung einer Vielzahl von Leitthemen in Philosophie, Wissenschaft und Technik wie auch in den öffentlichen Diskussionen, die unsere Zeit bewegen. Exemplarisch seien lediglich einige wenige dieser Themen und Fragestellungen benannt: (a) Projekte der Genforschung beschäftigen sich mit der Möglichkeit des Klonens, der gezielten Erschaffung neuen Lebens. Die Manipulation und Erzeugung tierischen und auch menschlichen Lebens wird hier zu einer Frage wissenschaftlicher und technologischer Kreativität. Diese Form menschlicher Kreativität auf ihre ethischen Implikationen hin zu untersuchen und insbesondere die Frage zu stellen, ob wir alles realisieren sollen, was sich unserer Kreativität als möglich eröffnet, ist eine enorme Herausforderung der philosophischen Ethik. (b) Seit Jahren arbeiten Informatiker, Techniker und Kognitionswissenschaftler an der Implementierung von Strukturen kognitiver Prozesse in Computerprogrammen, an
Vorwort
XVII
der Entwicklung ›künstlicher Intelligenz‹. Sobald es dabei um kreative Prozesse geht, stehen die Forscher vor Schwierigkeiten besonderer Art. Stellt die Kreativität eine qualitative Grenze für die KI–Forschung dar, da sie sich einer Formalisierung und Algorithmisierung systematisch entzieht? Diese Frage fällt in den Kernbereich kognitions– und erkenntnistheoretischer, mithin philosophischer Forschung. (c) Menschen sind auf intuitive Weise kreativ, ohne daß sie dies bemerken und explizit wissen, was unter Kreativität zu verstehen ist. Dies gilt in besonderer Weise in Entscheidungssituationen. Es ist viel Kreativität erfordert, im rechten Moment das rechte Wort oder das rechte Mittel zu finden, um das Richtige zu tun. Besonders deutlich wird dies in Entscheidungssituationen unter Zeitdruck und unter Risikobedingungen, kurz: wenn viel auf dem Spiel steht. Zwar ist Kreativität nicht lehrbar. Welcher Art aber sind die Heuristiken der Kreativität, die sich herausarbeiten und vielleicht ein Stück weit trainieren lassen? (d) Im Hinblick auf die modernen Naturwissenschaften ist zu klären, welchen Stellenwert Konzepte von Kreativität in Bereichen wie Evolutionstheorie, Selbstorganisation und Entwicklung des Universums einnehmen. Angesichts der wachsenden Relevanz von Begriffen wie Zufall, Chaos, Fraktal, Autopoiesis und anderen sieht sich die Wissenschaftsphilosophie heute vor die Frage gestellt, ob ›Kreativität‹ die Rolle eines neuen Paradigmas in den gegenwärtigen Naturwissenschaften spielen könnte und welche Konsequenzen dies in explanatorischer Hinsicht für den Begriff von Wissenschaft hat. Man sieht leicht, daß Kreativität zu einem Schlüsselbegriff in den genannten Bereichen aufsteigen könnte und zugleich, daß die Philosophie hier zum einen einen genuinen Beitrag zur Klärung dieses Grundbegriffs liefern und damit zum anderen ihre Relevanz an den Schnittstellen zu den modernen Wissenschaften und Technologien sowie zur gesellschaftlichen und kulturellen Öffentlichkeit zukunftsorientiert unter Beweis stellen kann. Die Redaktion des vorliegenden Bandes lag in den Händen von Ute Feldmann und Lars Schmitt. Ihnen möchte ich an dieser Stelle für die umfänglichen organisatorischen und redaktionellen Arbeiten danken. Mein Dank gilt zugleich dem Felix Meiner Verlag (Hamburg), der das Erscheinen des Bandes so schnell nach dem Kongreß ermöglicht hat. Zu danken habe ich auch den Institutionen, die den Kongreß selbst förderten. Ermöglicht wurde der Kongreß durch die großzügige Förderung seitens der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Ohne die Stiftung wäre die Veranstaltung mit ihrer großen nationalen und internationalen Beteiligung nicht möglich gewesen. Darüber hinaus möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Technischen Universität Berlin für ihre Unterstützung danken. Berlin, im Juli 2006
Günter Abel Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e.V. (DGPhil)
ERÖFFNUNGSVORTRAG Die Kunst des Neuen Kreativität als Problem der Philosophie Günter Abel (Berlin)
I. Wer weiß denn nicht, was Kreativität ist?! 1. Wert der Kreativität 2. Bedeutung und Sinn des Wortes 3. Wissenschaft der Kreativität? 4. Schwache, moderate und starke Kreativität II. Kreativität, psychologisch. Kreativität, philosophisch 1. Psychologische Merkmale kreativer Personen 2. Philosophische ›creativity assumptions‹ 3. Computationale Psychologie der Kreativität 4. Kreativität und Zeichen I. Kreativität als Zeichen- und Interpretationsprozeß 5. Generatives System und ›tacit knowledge‹ III. Und wie geht’s weiter? 1. Kreativität und Zeichen II. Arbitraritäts-Raum als Kreativitäts-Raum 2. Kreativität und Regel. Regelfolgen, Regelverletzung, Regelbruch, Regelerfindung 3. Von Possibilitäten zu Potentialitäten 4. Kreativität als Emergenz 5. Im Kleinsten das Größte
i. wer weiß denn nicht, was kreativität ist ?! 1. Wert der Kreativität Kreativität steht hoch im Kurs, hat hohen Wert, ist positiv besetzt, – egal ob in den Künsten, den Wissenschaften, den Religionen, den Technologien, den Medien oder im alltäglichen Leben, und quer auch durch die unterschiedlichen Kulturen. Auf Kreativität sind hohe intellektuelle und ästhetische Prämien gesetzt, von privatem und öffentlichem Ansehen bis hin zu Nobelpreisen. Wir haben unsere Freude an kreativen Personen, Prozessen und Produkten. Ja, wir freuen uns über Kreativität um ihrer selbst willen, – ein wenig wohl auch darüber, den ›alten und schwerfüßigen Adam in uns‹ gelegentlich überwinden zu können, einschließlich der Erfahrung, irgendwie nicht ›dahinter‹ zu kommen, was eigentlich passiert, wenn Kreatives geschieht. Wo sie sich zeigt, ist Kreativität elusiv, eine vertraute Fremde, eine schwer faßbare Freundin.
2
Eröffnungsvortrag · Günter Abel
2. Bedeutung und Sinn des Wortes Und doch: Wer weiß denn nicht, was Kreativität ist?! Wer kennt denn nicht den Unterschied zwischen kreativen und nicht-kreativen Personen, Prozessen und Produkten?! Doch soll man dies ausbuchstabieren, dann scheint es, als wisse man die Antwort nicht mehr. Kreativität hat damit zu tun, Neues in die Welt zu bringen, und zwar nicht einfach bloß etwas Neuartiges. Wenn ich jetzt meine Armbanduhr abnehme, sie auf das Blatt Papier vor mir lege und die Primzahl 23 rechts oben auf das Blatt schreibe, ist das vermutlich etwas Neuartiges, – aber es ist uninteressant und ohne besonderen Wert (bis auf weiteres zumindest). Endlos viele solcher Neuartigkeiten könnten wir produzieren. Das kreativ Neue dagegen ist stets das sachlich aufschlußreiche und das positiv bewertete Neue, das es vorher noch nicht gab. Hier tritt der entscheidende Unterschied in Sachen Kreativität hervor, derjenige zwischen: (a) bloßer Neuartigkeit im Sinne eines erstmaligen Auftretens und (b) genuiner Kreativität, die wir radikale Kreativität nennen, im Sinne des Hervorbringens von etwas fundamental Neuem. Bloß Neuartiges kommt dadurch zustande, daß bereits bekannte Elemente nach bekannten Regeln auf eine bislang unbekannte Art kombiniert werden. Die Unwahrscheinlichkeit solcher Kombinationen signalisiert ein durchaus kreatives Moment.1 Doch stößt diese Kombinations-Theorie der Kreativität schnell an zwei Grenzen: Erstens kann sie nur beschreiben, wie innerhalb eines gegebenen Systems die vorhandenen Elemente neu kombiniert werden, nicht jedoch, was passiert, wenn an den Prinzipien und Grundregeln des Systems selbst Modifikationen vorgenommen, diese verletzt, gar fallengelassen werden und es zu einer neu-prinzipiierten und neu-regelnden Organisationsform, zu radikaler Originalität kommt. Zweitens macht der Hinweis auf eine neue Kombination noch nicht verständlich, wie das radikal Neue möglich wurde und worin es besteht. Die Kombinations-Theorie setzt die Kreativität bereits voraus, kann sie jedoch nicht erklären. In radikaler Kreativität hingegen, etwa bei Leistungen bahnbrechender, stilbildender Künstler und Forscher wie Beethoven, Lobachevsky, Kopernikus, Einstein, Cézanne, Picasso, Heisenberg, Michelangelo und vielen anderen geht es darum, daß die Regeln und die basalen Muster des zugrunde liegenden generativen Systems selbst durchbrochen werden, neue Prinzipien und Regeln in Kraft treten und das Material neu organisieren. Bekannte Beispiele sind: der Übergang zur Nicht-Euklidischen Geometrie; der Bruch vom tonalen zum atonalen System; der Übergang von der linearen zur ring-förmigen Vorstellung in Kekulés Benzol-Ring.
Die Häufigkeit des Auftretens solcher unwahrscheinlicher Kombinationen ist in psychologischen Tests auch als ein Maß der Kreativität angesehen worden. 1
Die Kunst des Neuen
3
3. Wissenschaft der Kreativität? Wird radikale Kreativität in diese grundlegende Stellung gebracht, bringt uns dies in Beschreibungs- und Erklärungsnöte in Bezug auf den genuinen Charakter von Kreativitätsprozessen. Denn kreative Prozesse sind in ihrem kognitiv wie ästhetisch aufschlußreichen, inspirierenden und stil-bildenden Eigensinn: (i)
nicht reduzierbar auf einen gegebenen Set von Antezedentien und deren Prinzipien und Regeln; diese Prinzipien und Regularitäten selbst werden überschritten, durchbrochen, zurückgelassen; (ii) sie sind deshalb auch nicht aus vorab vorhandenen Ausgangselementen deduzierbar (weder logisch noch kausal noch psychologisch); (iii) sie sind daher nicht vorhersagbar; (iv) mithin entziehen sie sich einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Erklärung; (v) scheinen mehr mit Glück als Verstand zu tun zu haben; (vi) kreative Prozesse enthalten eine gehörige Portion Spontaneität und sind durch Diskontinuitäten gekennzeichnet. Eine im terminologischen Sinne szientifische Erklärung der Kreativität kann es demnach nicht geben, jedenfalls nicht im engeren Rahmen dessen, was wir bislang ›Wissenschaft‹ nennen. Faszinierend ist die Frage, ob sich der Sinn von Wissenschaft unter einem neuen Paradigma ›Kreativität‹ selbst so verändern könnte, daß eine wissenschaftliche Behandlung von Kreativitätsprozessen möglich wird. Nach jetzigem Stand der Dinge liefe dies z. B. in puncto Gesetzmäßigkeit und Prognosefähigkeit auf eine veränderte Wissenschaft hinaus. Was das heißen könnte, wagt im Augenblick noch kaum jemand ernsthaft zu denken. Andererseits sollten wir mit dem Scheitern einer szientifischen Erklärung nicht in das andere Extrem, nicht in eine romantische Mystifizierung kreativer Personen, Prozesse und Produkte verfallen. Es kommt vielmehr darauf an, das Phänomen der Kreativität jenseits dieser Dichotomie zu behandeln. Das ist das Desiderat. Dies heißt keineswegs, daß kreative Ideen sich einfach so per Zufall einstellen, wir bloß darauf zu warten haben, daß sie von irgendwoher eingeträufelt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Damit ein kreativer Gedanke hervorspringen kann, ist offenkundig gründlichste, tiefe Kenntnis des entsprechenden Feldes vorauszusetzen. Zudem sind kreative Geister in der Regel Workaholics par excellence. Das Überschreiten von Grenzen setzt deren Kenntnis voraus. Picasso kannte und beherrschte die bis dahin dominanten Maltechniken, bevor der ihm eigene Stil durchbrach. Schönberg beherrschte die Mechanismen der tonalen Musik, bevor er zu atonalen Kompositionen überging. Lobachevsky kannte die Euklidische Geometrie, bevor er deren 5. Axiom fallen ließ und der Nicht-Euklidischen Geometrie Bahn brach. Das Klischee vom ›faulen Genie‹ ist gänzlich irreführend.
4
Eröffnungsvortrag · Günter Abel
4. Schwache, moderate und starke Kreativität Vor dem Hintergrund des bislang Ausgeführten kann man die folgenden Typen von Kreativität unterscheiden: Schwache Kreativität meint das kombinatorische Neu-Arrangieren bereits vorhandener Elemente. Starke Kreativität meint die Transformation, das Durchbrechen, das Ersetzen alter durch neue Prinzipien, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten.2 Diese Zweiteilung möchte ich um eine dritte Variante erweitern: die moderate Kreativität. Darunter verstehe ich die Kreativität in Prozessen, in denen die menschliche Imagination bzw. Einbildungskraft konstitutiv im Spiele ist. Was ist damit gemeint? Wenn wir die Gehalte unseres Wahrnehmens, Sprechens und Denkens erfolgreich individuieren und repräsentieren, steckt darin mehr als man individuiert und repräsentiert.3 In jeder gegenwärtigen aktualen Situation spielen auch nicht-aktuale Komponenten eine konstitutive Rolle. Ein einfaches Beispiel: um die Person auf der anderen Straßenseite als Onkel Paul zu sehen, sind bereits frühere Wahrnehmungen Onkel Pauls konstitutiv mit im Spiel. In Kantischer Einstellung soll unter Imagination oder Einbildungskraft exakt diese individuelle Fähigkeit verstanden werden, in einen gegenwärtig aktualen Vorgang des Wahrnehmens, Sprechens oder Denkens diejenigen gegenwärtig nicht-aktualen Komponenten einzubringen, ohne die es erst gar nicht zu gehaltvollem Wahrnehmen, Sprechen und Denken kommen könnte. Diese mittlere bzw. moderate Kreativität möchte ich auch die intuitive nennen. Sie geht über die schwache insofern hinaus, als sie nicht nur gegebene Elemente neu kombiniert, sondern eben nicht-aktuale Aspekte einbezieht. Darin kommt jene Negativität ins Spiel, die im Schaffen von radikal Neuem eine wichtige Rolle spielt.4 Die Fragen
Vgl. in diesem Sinne auch Carl R. Hausman: Creativity, in: Encyclopedia of Aesthetics, hg. von M. Kelly, Oxford 1998, S. 454. 3 Zum Folgenden vgl. im einzelnen Verf.: Imagination und Kognition, in: Verf.: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999, Kap. 7, S. 145–168. 4 Damit wird Kreativität keineswegs zu einem negativen Akt. Kreativität ist eine positive, eine setzende Tätigkeit, ist, im Vokabular schon der mittelalterlichen Philosophie gesprochen, »positio«. Aber Kreativität ist mit Negativität (die in ihrem weiten Sinne mehr umfaßt als die logische und urteilsgrammatische Operation der Verneinung) gerade in ihrer positionalen Tätigkeit intern auch verknüpft. So können wir für Kreativität keinen im strengen Sinne positivierbaren Grund angeben. Man denke auch an die für radikale Kreativität mit charakteristischen (und weiter unten näher zu erörternden) Aspekte z. B. des Bruchs überkommener Regeln, des Setzens von Differenzen, des Sichabsetzens von vertrauten Horizonten, des Zurücklassens bisheriger Weltbilder und der Abgrenzung von eingespielten Normen und Standards. Und die oben skizzierte Präsenz von nicht-aktualen Komponenten in aktualen Kreativitäts-Prozessen ist für letztere mit konstitutiv. Überaus wichtig ist zudem der unten (in Abschnitt III.3: Von Possibilitäten zu Potentialitäten) betonte modaltheoretische Zusammenhang von Kreativität und Möglichkeit sowie die in diesem relevante Unterscheidung von ›Nichts‹, ›Noch-Nicht‹ und ›AktualWirklichem‹. Aus diesen Gründen hat eine umfängliche Philosophie der Kreativität den Zusammenhang von Kreativität und Negativität systematisch einzubeziehen. Beide, »positio« und »negatio« sowie deren Zusammenspiel, sind charakteristich für kreative Prozesse, Zustände und Fähigkeiten. Ist in jeder spezifizierenden Bestimmung von etwas als ein so-und-so-Etwas bereits ein Moment der Kreativität erforderlich (im Zusprechen nämlich wie im Absprechen von Eigenschaften, die nicht zum 2
Die Kunst des Neuen
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und Probleme in Bezug auf diese drei Typen von Kreativität sind sehr unterschiedlich. Sie betreffen: Neuartigkeiten, Nicht-Aktuales in aktualer Wirksamkeit und radikal Neues.5
ii. kreativität, psychologisch. kreativität, philosophisch 1. Psychologische Merkmale kreativer Personen Die philosophische Frage nach der Kreativität ist von der psychologischen zu unterscheiden. In letzterer geht es vor allem um die Persönlichkeits-Merkmale kreativer Individuen und um die inner-psychischen motivationalen Prozesse, die eine kreative Handlung begünstigen oder epiphänomenal begleiten. In den Bereich der Psychologie der Kreativität gehört z. B. die auf Graham Wallas (1926) [aber auch schon auf Beobachtungen des Physiologen und Physikers Hermann v. Helmholtz (1884) und des Mathematikers Henri Poincaré (1908)] zurückgehende bekannte Unterscheidung von Phasen des kreativen Prozesses: Preparation, Inkubation, Illumination und Verifikation / Elaboration. Von einer kreativen Person gilt unter anderem: daß sie über ausgeprägte Vorstellungskraft verfügt; flexibel und geschickt im Finden von Problem-Lösungen ist; unabhängige Urteile fällt; mit Neuartigem gut zurechtkommt; gern neue Strukturen baut; Ordnung im Chaos findet; nach dem Warum, Wieso, Weshalb der Dinge fragt; bisherige Annahmen und Normen hinterfragt; Wissenslücken schnell erkennt; Visualisierungen hervorbringt und vieles mehr.
Wesentlichen eines Dings gehören), dann liegt bereits in Spinozas berühmtem Satz »omnis determinatio est negatio« ein Hinweis auf den tiefen Zusammenhang von Kreativität, Position und Negativität. Spinoza zufolge ist die Gestalt (»figura«) Negation, insofern die bloße Materie von sich selbst her indefinit und eben ohne Gestalt bzw. noch nicht gestalthaft ist. Hegel hat dieses Moment dann zu der These hochstilisiert, daß Negativität zur Form gehöre. Bekanntlich hat er in der Wissenschaft der Logik in der Negativität den inneren »Grund« des Werdens sowie der »Unruhe der Selbstbewegung« und die »Pulsation« der Lebendigkeit gesehen (Wissenschaft der Logik, hg. von G. Lasson, Hamburg 1975, Bd. I, S. 157 und II, S. 61). So weit muß man nicht gehen. Aber es scheint mir ein wichtiger und spannender Punkt, daß der positionale Charakter der Kreativität zugleich auch mit Aspekten der Negativität verbunden ist. Daß in der Systemtheorie von Niklas Luhmann die These vom funktionellen Primat der Negation im sinn-konstituierenden Erleben vertreten wird, ist ein später Reflex solcher Zusammenhänge. 5 In einer feinkörnigeren Untersuchung wäre nicht nur der Zusammenhang dieser drei Typen von Kreativität zu untersuchen. Zu beachten und herauszuarbeiten wären zudem im Hinblick auf jeden der drei Typen weitere Unterscheidungen, so vor allem die zwischen: (a) epistemischer Kreativität (im Sinne des Kreierens epistemischer Gegenstände); (b) semantischer Kreativität (im Sinne zunächst der Wiederherstellung der ›semantic innocence‹ der Zeichen und sodann der Um- und Neu-Organisation der semantischen Merkmale der Zeichen, d. h. der Bedeutungs-, Referenz- und Erfüllungs- bzw. Wahrheitsbedingungen der Zeichen); (c) Handlungs-Kreativität (im Sinne des In-die-Welt-Bringens kraft menschlicher Handlungen); und (d) kognitiver Kreativität (im Sinne der Veränderungen der kognitiven Horizonte, Prinzipien und Regeln von Individuen und ganzer generativer Systeme).
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Um die mit diesen Aspekten zusammenhängenden Fragen einer szientifischen Behandlung zuzuführen, sind in der Psychologie Tests, Modelle, Befragungs-, Erhebungsund Auswertungsverfahren vielfältiger Art bis hin zu einer expliziten Psychometrie kreativen Verhaltens entwickelt worden. Psychologische Kreativitätsforschung dieser Art wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv betrieben. Deren Ergebnisse können hier nicht erörtert werden.6 Lediglich mit der Computationalen Psychologie werde ich mich näher auseinandersetzen. Auf einen Punkt jedoch möchte ich in Sachen Psychologie kreativer Personen kurz die Aufmerksamkeit lenken. Kreative Individuen lassen in der Regel die Überfülle der auf sie einprasselnden Reize vergleichsweise ungefiltert an sich heran, riskieren stärker als die meisten Personen, in dieser Flut zu diffundieren. Zugleich aber gelingt es ihnen, oftmals jedenfalls, dieses Chaos produktiv zu nutzen, in Gestalten zu überführen. Freilich gibt es auch viele Beispiele, in denen dies nicht gelang! Dies ist der vielleicht äußerste Sinne dessen, was es heißt, daß kreativ sein auch gefährlich, lebensgefährlich sein kann. Diese Art von Überflutung und die Fähigkeit, das Chaos für sich in Akte und Produkte der Kreativität umzumünzen, ist begrifflich und auch empirisch zu unterscheiden von der Art der Überflutung, die im Falle einer klinischen Psychose, etwa einer Schizophrenie vorliegt. Wer erinnert sich nicht an den 2001 produzierten Film A Beautiful Mind, in dem die Geschichte des weltberühmten Mathematikers John F. Nash verfilmt wurde (der zur Zeit noch in Princeton lehrt, jedenfalls dort für das akademische Jahr 2006 wieder angekündigt ist). Der 1928 geborene Nash hatte geniale Ideen in der Mathematik formuliert, versank dann in einer paranoiden Schizophrenie, aus der er in den neunziger Jahren wieder erwachte, – und erhielt 1994 für seine mathematischen Leistungen in der Spieltheorie den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Psychologische und psychiatrische Modelle der Kreativität stehen manchmal in der doppelten Gefahr, (a) im Zuge ihrer Normalitätsorientierung und in ihren Tests, Modellen und Befragungsverfahren methodisch unzureichend zu sein und (b) das Phänomen der Kreativität bereits vorauszusetzen. Daß ein genuin kreativer Zustand nicht mit einem psychotischen Zustand gleichgesetzt oder als eine seiner Ausprägungen angesehen werden kann (trotz Platons Vermutung, daß das Genie sich in einer Art göttlicher Verrücktheit befinde), bringt Hans J. Eysenck, der bekannte und durchaus umstrittene Intelligenz- und Kreativitätsforscher, griffig in die Wendung, daß die Schizophrenie alle Kreativität töte. Salvador Dalí hat dafür die schöne Formulierung gefunden, daß der einzige Unterschied zwischen ihm und einem Wahnsinnigen darin bestehe, daß er nicht wahnsinnig sei.
Vgl. dazu das von Robert J. Sternberg herausgegebene Handbook of Creativity, Cambridge 1999; und Hans Lenk: Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, Frankfurt/M. 2000. 6
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2. Philosophische ›creativity assumptions‹ In einer Antwort auf die philosophische Frage der Kreativität geht es nicht primär um die angeführten psychologischen Merkmale, sondern um die Phänomenologie und die Strukturen kreativer Prozesse selbst. In der folgenden kleinen Phänomenologie der Kreativität wird aufgelistet, was ich ›creativity assumptions‹ nennen möchte. Darunter verstehe ich jenen Set von Annahmen, den wir in der Rede von ›Kreativität‹ als (zumindest teilweise) gegeben unterstellen und den wir als Anforderungen an Personen, Prozesse und Produkte anlegen, sofern diesen Kreativität zugeschrieben wird. Als ›creativity assumptions‹ können etwa die folgenden formuliert werden: verschaffe Dir gründliches Wissen in dem jeweiligen Feld (das Du genau kennen mußt, um es ›revolutionieren‹ zu können); habe Mut, Neues auszuprobieren; assoziiere multidimensional; gib Deiner Lust am Experimentieren freien Lauf; gib Deinem Drang nach, über Bekanntes hinauszugehen; stärke Dein Sensorium für Überraschungen; wage neue Zusammenjochungen von Prädikaten und Subjekten zu ungewöhnlichen Urteilen; stelle Analogien her zwischen entlegenen Bereichen; bilde Metaphern und setze diese organisierend ein im Sinne der Übertragung von Zeichen aus einem in einen anderen Bereich; versuche, zwei oder mehrere Vorstellungen / Bilder / Gedanken simultan zu aktivieren und sie interagieren zu lassen; vertraue Deiner Intuition in Bezug auf das, was als eine gute Lösung eines Problems zählt; gib Dich frei für Gedankenexperimente; durchbreche gegebene Wahrnehmungs-Muster/Gestalten; treibe Vorstellungen und Begriffe an ihre Grenzen, gehe über diese hinaus; riskiere den Bruch mit überkommenen Vorstellungen; scheue keine Diskontinuitäten; praktiziere kognitiven Perspektivenwechsel; bringe bislang unverbundene, gar konfligierende Elemente zusammen; verknüpfe in horizontaler Hinsicht unterschiedliche Bereiche; setze in vertikaler Hinsicht unterschiedliche Ebenen der Betrachtung in Beziehung; sei bereit, bisherige Ebenen- und Bereichs-Einteilungen fallenzulassen; führe Über-Kreuz-Vergleiche und Über-Kreuz-Applikationen durch; führe neue Gesichtspunkte mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad in die Betrachtung ein; achte auf die Schnittstellen zwischen den Disziplinen; konfrontiere Methoden innerhalb einer Disziplin mit Methoden anderer Disziplinen; denke weniger disziplinen-, sondern entschieden problem-orientiert; begehe tentativ gezielt Kategorienfehler; gehe zwischen unterschiedlichen Beschreibungssystemen hin und her; bilde je nach Sachstand höhere Abstraktionsebenen und entwickle abstraktere Beschreibungen; scheue nicht vor Generalisierungen zurück; wechsle den Bezugsrahmen; wage Dich an die Konstruktion neuer epistemischer Gegenstände, d. h. an die Konstruktion neuer theoretischer Entitäten und Objekte der Untersuchung; sei hellsichtig und hellhörig in Bezug auf Routinen und vermeide diese; scheue nicht die Kollision; achte auf Kollusionen; nimm Transformationen der zugrunde liegenden Prinzipien, Regeln und Muster vor; achte auf Ungereimtheiten, Fehler oder offensichtliche Defekte eines generativen Systems; unterscheide zwischen peripherer und zentraler Relevanz; löse Dich aus dem Würgegriff ausgereizter sprachlicher, gedanklicher, notationaler und anderer Bilder, auch überkommener Weltbilder; folge Deiner Neugier auf alle Phänomene in einem Bereich; warte nicht darauf, daß Dich die Muse küßt, versuche sie zu animieren; mobi-
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lisiere Deine Energien, um den Geistesblitz anschließend auch auszubuchstabieren, ihn z. B. in ein Gemälde, in eine Komposition, in eine Theorie, in ein technisches Artefakt, in eine Maschine zu bringen. Diese und andere Merkmale beziehen sich auf den phänomenalen und strukturellen Eigensinn kreativer Prozesse. Und sie machen den Unterschied aus zwischen einem gebundenen und einem freien, einem kreativen Geist. Freilich ist mit dem Vorhandensein einiger dieser Merkmale noch nicht garantiert, daß ein kreativer Prozeß in Gang kommt. Es handelt sich eben um ›creativity assumptions‹, nicht um Kriterien des Auftretens von Kreativität. Die angeführten Merkmale sind einzeln weder hinreichend noch notwendig für die Zuschreibung von Kreativität. Doch können sie gemeinsam hinreichend und jedes einzelne notwendig sein.
3. Computationale Psychologie der Kreativität In der computationalen Psychologie und in den Kognitionswissenschaften wird Kreativität definiert und erklärt »in terms of the mapping, exploration, and transformation of structured conceptual spaces«.7 Und ›conceptual spaces (begriffliche Räume)‹ können, so die entsprechende These, am besten in computationalen Termini modelliert werden. Die computationale Psychologie stützt sich auch im Blick auf die Frage der Kreativität auf Konzepte aus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung, auf das, was man dem Computer an menschlichen Fertigkeiten beibringen möchte, wie z. B.: Wahrnehmen, Sprechen, Denken und (im Falle der Robotik) rudimentäres Handeln. Die Frage der Beziehungen zwischen Computer-Fertigkeiten und Kreativität ist interessant. Einerseits liegen jeder Computer-Aktivität menschliche Kreativitätsmomente im Sinne der Programmierung bereits im Rücken. Andererseits können Computer durchaus in dem eingeführten schwachen Sinne kreativ sein. Margaret A. Boden formuliert vier Fragen, die der gesunde Menschenverstand schnurstracks mit »Nein!«, die computationale Psychologie jedoch mit »Ja!« beantwortet. Sie lauten:8 (i) »whether computational concepts can help us understand how human creativity is possible?«; (ii) »whether computers (now or in the future) could ever do things that at least appear to be creative«; (iii) »whether a computer could ever appear to recognize creativity – in poems written by human poets, for instance, or in its own novel ideas about science and mathematics?«; (iv) »whether computers themselves could ever really be creative (as opposed to merely producing apparently creative performance, whose originality is wholly due to the human programmer)?« Bodens Antworten auf die ersten drei Fragen: »Yes, definitely; Yes, up to a point; and Yes, necessarily (for any program that appears to be creative). In short, computational
Margaret A. Boden: What Is Creativity?, in: Boden (Hg.): Dimensions of Creativity, Cambridge MA 1994, S. 84 ff.; vgl. dies.: The Creative Mind. Myths and mechanisms, London, New York 1990, 2. Aufl. 2004. 8 Boden: What Is Creativity?, a. a. O., S. 85. 7
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ideas can help us to understand how human creativity is possible.« Dies sei deshalb der Fall, weil ein Computer, aufgefaßt als ein generatives System, nur das tun könne, was ihm sein Programm zu tun oder nicht zu tun erlaube. Und genau deshalb sei der Computer auch in puncto Kreativität ein idealtypisch besonders interessantes System. Diese Grundannahme der computationalen Psychologie möchte ich unter zwei Gesichtspunkten kritisieren: erstens hinsichtlich des grundsätzlichen Scheiterns des Computer-Funktionalismus als einer umfänglichen Theorie des menschlichen Geistes, insbesondere des kreativen Geistes; und zweitens hinsichtlich des zugrunde liegenden Verständnisses eines generativen Systems. Die starke These des Computer-Modells wäre,9 daß geistige, auch kreative Zustände und Prozesse mit den funktionalen und logischen Zuständen von Computern verglichen und im Rekurs auf deren Funktionieren beschrieben und erklärt werden können.10 Der kreative Geist gehört in diesem Bild zur Software. Entsprechend ließen sich Konditionale formulieren: Wenn das generative System bzw. der Geist sich in einem bestimmten Zustand befindet, so führt ein bestimmter Input zu einem bestimmten Output und damit zu einem neuen bestimmten Zustand. Dieses Modell ist vor allem deshalb attraktiv, weil es geistige Zustände und Prozesse nicht mehr an neurobiologische Realisierungen und Reduktionen knüpft. Jedoch ist unter anderem der folgende und vor allem von Hilary Putnam, dem Erfinder des computationalen Funktionalismus, später selbst formulierte Kritikpunkt gravierend. Funktionale und kalkülmäßige Modelle des Geistes stoßen an ihre Grenze, sobald es um eine umfassende Theorie der menschlichen Kognition, insbesondere des kreativen Geistes geht.11 So können wir zum Beispiel unsere Überzeugungen und Begriffe im konzeptionellen Raum in ihren Gehalten nicht individuieren, ohne dabei auch Aspekte einzubeziehen, die außerhalb unseres als Computer aufgefaßten Gehirns liegen. Das gilt insbesondere für die Individuierung der Gehalte kreativer Prozesse, Zustände und Phänomene. Um die semantischen und repräsentationalen Merkmale der in diesen Prozessen grundlegenden Zeichen, des näheren vor allem der kreativen Zeichen klären zu können, müssen viele nicht-kalkülmäßige Aspekte des Verhältnisses von Zeichen, Zeit, Situation und Kontext einbezogen werden. Kreativer Geist ist kalkülmäßig weder analysier- noch individuierbar. Und vor allem müßten die für kreatives Denken kennzeichnenden Vorgänge der Regel-Verletzungen und Prinzipien-Brüche als effektiv berechenbar konzipiert werden. Jedoch folgen die kreativen Regel-Verletzungen offenkundig keiner Meta-Regel. Das ist der Witz an der radikalen Kreativität. Und sicherlich 9 Zur Darstellung und Kritik des Modells vgl. ausführlicher Verf.: Geist – Gehirn – Computer. Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: R. Dürr / G. Gebauer / M. Maring / H.-P. Schütt (Hg.): Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk, Münster 2005, insbesondere S. 12–18, im folgenden nach der Seite des ›kreativen Geistes‹ akzentuiert. 10 Vgl. Hilary Putnams Aufsätze Nr. 16–22, in: Mind, Language and Reality (= Philosophical Papers, Bd. 2), Cambridge, New York 1975, S. 325–451. 11 Vgl. Hilary Putnam: Representation and Reality, Cambridge MA 1988. Putnam stellt den Bezug zum ›kreativen Geist‹ nicht explizit her, doch ist dieser implizit natürlich in seinen Überlegungen mit im Spiel.
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ist es nicht bloß Mangel an Intelligenz, daß der Nachweis einer erfolgreichen kalkülmäßigen Behandlung menschlicher Kreativität noch niemandem gelungen ist. Wie aber steht es um den zweiten Aspekt, um das Konzept des generativen Systems, des näheren um die Zeichen- und die Systemgebundenheit?
4. Kreativität und Zeichen I. Kreative Prozesse als Zeichen- und Interpretations-Prozesse Das Verwenden und Verstehen symbolisierender Zeichen ist das vielleicht grundlegendste Merkmal des menschlichen, insbesondere des kreativen Geistes.12 Mentale kreative Prozesse vollziehen sich als Zeichen- und Interpretations-Prozesse. Dies meint nicht einfach die für die Kognitionswissenschaften und die computationale Psychologie charakteristische Auffassung, geistige und kognitive Tätigkeiten bestünden in nichts anderem als im operativen Manipulieren gegebener innerer Symbole oder, wie die Kombinations-Theorie der Kreativität behauptet, im neuartigen Kombinieren bereits vorhandener Elemente. Auch geht es nicht um eine bloß externe Zeichenabhängigkeit des kreativen Geistes, etwa in der Art, daß er vermittelnde Zeichen benötigt, um sich und seine Gehalte darstellen und sie anderen Personen kommunizieren zu können. Man muß, mit Charles S. Peirce, einen wesentlichen Schritt weitergehen: »We have no power of thinking without signs«.13 Und ich spitze zu: ›no creative mind without signs‹. Mithin geht es zentral um den Gesichtspunkt, daß kreatives Denken intern auch ein Zeichen- und Interpretationsprozeß ist. Wir denken und sind kreativ nicht vermittels, sondern kraft der Zeichen. Ein kreativer Kopf ist ein Geist, der diese Fundamentalprozesse in neue Bahnen zu lenken vermag und darin regel-setzend und stil-bildend wirkt. Der kreative Geist verwendet gegebene Zeichen auf neue Weise, er erfindet neue Zeichen und Interpretationen und implementiert neue Regeln ihres Funktionierens.
5. Generatives System und ›tacit knowledge‹ In puncto Systemgebundenheit wird in computationalen und kognitionswissenschaftlichen Zusammenhängen die Rede vom ›generativen System‹ mit der Figur des ›tacit knowledge‹ verbunden. Dabei handelt es sich um ein bestimmtes und meines Erachtens unzureichendes Verständnis von ›tacit knowledge‹. Der Ausdruck wird hier nämlich nicht in dem Sinne verwandt, wie er in der seit Gilbert Ryle und Michael Polanyi prominenten Unterscheidung von Knowing that und Knowing how vertraut ist. Bei diesen Vgl. Verf.: Geist – Gehirn – Computer, a.a.O., insbes. S. 20-23, im folgenden mit Akzent auf der Kreativitäts-Frage. 13 Charles S. Peirce: Collected Papers [= CP] hg. von Ch. Hartshorne / P. Weiss, 2. Aufl., Cambridge MA 1960, Bd. V, Nr. 5.265; vgl. CP 5.251 ff. Peirce geht sogar so weit zu sagen: »When we think, then, we ourselves, as we are at that moment, appear as a sign« (CP 5.283). 12
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beiden Autoren bezeichnet der Ausdruck jene Formen nicht-propositionalen Wissens, die sich der Artikulation in einem daß-Satz entziehen und das Wissen-wie betreffen (z. B. wissen, wie man eine Weinflasche öffnet).14 Dagegen wird der Ausdruck ›tacit knowledge‹ im Zusammenhang der Rede von generativen Systemen im Sinne derjenigen Richtung der Sprachphilosophie verwandt, derzufolge Sprache ein generatives System ist, das mit seinem Alphabet im mathematischen Sinne alle in ihm möglichen Sätze bereits enthält. Ein kompetenter Sprecher verfüge dann im Prinzip auch über das ›stille Wissen‹, jeden möglichen Satz dieses Systems zu verstehen und zu bilden. Ich denke hier, mutatis mutandis, an Autoren wie Martin Davies, Crispin Wright, Gareth Evans, Michael Dummett, Alexander Miller und andere.15 Vorausgesetzt ist in dieser Sicht letztlich eine quasi-axiomatische Struktur der Sprache, die deren mögliche Sätze und inferentielle Zusammenhänge festlege. Das ›tacit knowledge‹ beziehe sich auf diese angenommene Struktur einer Sprache und diene zugleich auch als Antwort auf die Frage, wie es für den Sprecher einer natürlichen Sprache möglich sein kann, die unbegrenzt vielen zuvor noch nie gehörten Sätze zu verstehen und zu bilden, wie es überhaupt möglich ist, eine Sprache zu lernen. Der Zusammenhang eines solchen Tacit-Knowledge-Komplexes mit der Kreativitätsfrage ist leicht erkennbar. In den formalen ebenso wie in den natürlichen Sprachen gehe es um Variationen von Techniken, und deren Beschaffenheit könne nach dem Muster formaler semantischer Theorien modelliert werden. Daß dabei die Idee der Kompositionalität der Bedeutung besonders wichtig ist, liegt auf der Hand. Sie scheint auch einen Bezug zur Kreativitätsproblematik zu eröffnen, allerdings eben bloß zu der bereits kritisierten Kombinations-Theorie. Wenn die Bedeutung sich aus den Elementen zusammensetzt, aus denen der Satz besteht, dann scheint es so, daß neuartige Kombinationen auch zu neuen Bedeutungen führen, die kreativ genannt werden können. Im Blick auf die Kreativitätsfrage jedoch ist meines Erachtens entscheidend: weder das quasi-axiomatische Verständnis der Sprache als System noch die These der Kompositionalität der Bedeutung ist in der Lage, radikale Kreativität verständlich zu machen. Vielmehr macht umgekehrt das Phänomen der radikalen Kreativität Grenzen der formalen Semantik in Bezug auf natürliche Sprachen deutlich. Offenkundig kann kreatives Sprechen, Denken und Handeln nicht (um eine Formulierung Wittgensteins zu gebrauchen) als das Befolgen eines Kalküls nach festen Regeln beschrieben werden. In Prozessen radikaler Kreativität geht es nicht bloß darum, Elemente neu zu arrangieren. Im Kern geht es vielmehr darum, die Prinzipien und Regeln selbst, nach denen das System funktioniert, zu modifizieren, zu verletzen, zu überschrei-
14 Vgl. Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1949; Michael Polanyi: The Tacit Dimension, New York 1966, und ders.: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1958. 15 Vgl. Alexander Miller: Tacit knowledge, in: B. Hale / C. Wright (Hg.): A Companion to the Philosophy of Language, Oxford 1997, Reprint 2000, S. 146–174; und Martin Davies: Tacit knowledge, and the structure of thought and language, in: Ch. Travis (Hg.): Meaning and Interpretation, Oxford 1986, S. 127–158.
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ten, durch neue Regeln und Prinzipien abzulösen. Und wie bereits betont folgen diese kreativen Regel-Verletzungen ihrerseits keiner Meta-Regel. Dieser Punkt wird uns später noch beschäftigen.
iii. und wie geht’s weiter ? 1. Kreativität und Zeichen II. Arbitraritäts-Raum als Kreativitäts-Raum Formuliert habe ich eben bereits die Thesen, daß kreative Prozesse als Zeichen- und Interpretationsprozesse konzipiert werden können, daß es ›no creative mind without signs‹ gibt, und daß darunter nicht bloß das operative Manipulieren von gegebenen Zeichen mit exakt umgrenzter Bedeutung zu verstehen ist. Weitere Punkte geben den Blick auf das frei, was ich den Potentialitäts-Raum der Kreativität nennen möchte. Jedes tatsächliche Zeichenverwenden kann in dem Sinne neu genannt werden, daß es nicht bloß eine vorab gegebene Konvention reproduktiv wiederholt. Schon allein der Zeitenabstand hat zur Folge, daß sich ein Zeichen nicht zweimal absolut identisch verwenden läßt.16 Auch dieser Aspekt öffnet den Kreativitäts-Raum. Sprache ist kein konventionelles System mit vorab klar definierten Strukturen, die erlernt und dann auf gegebene Situationen appliziert werden. Die Codes natürlicher Sprachen sind nicht vorab und nicht ein für alle Mal garantiert. Sie leben, wie Ferdinand de Saussure einmal anmerkt, »à la merci de lendemain«,17 von der Gnade des folgenden Tages. Natürlich-sprachliche Kreativität nutzt diese Offenheit der Zeichen und Sprachen. Radikale Kreativität manifestiert sich darin, die bisherigen und nicht vorab fest-gestellten Strukturen eines Sprach- und Zeichengebrauchs zu überschreiten, zu transformieren und gegebenenfalls durch andere zu ersetzen. Witz, Ironie und Metapher sind Beispiele dafür. Unsere Fähigkeit, noch nicht dagewesene Sätze und Zeichenketten zu bilden, verführt leicht zu der Annahme, daß sich die Bedeutung sprachlicher Sätze dem Prinzip der Kompositionalität verdankt, demzufolge größere Einheiten sich aus kleineren zusammensetzen. Hinsichtlich der Semantik eines Satzes und Zeichens ist im Rekurs auf die Kompositionalität jedoch lediglich die schwache Kreativität der Kombinationen aus einzelnen Elementen verständlich zu machen. Das Phänomen der starken, der radikalen Kreativität jedoch kann auf diese Weise nicht angemessen in den Blick gebracht werden. Darin geht es nicht bloß um den aus Einzelteilen zusammengesetzten Gehalt eines Das wußten in der Tradition schon Wilhelm v. Humboldt und viele andere. Heute findet sich diese Vorstellung etwa bei Noam Chomsky (der mit der Sprache zu Recht die Fähigkeit verbindet, unbegrenzt viele und in dem skizzierten Sinne jeweils ›neue‹ Äußerungen hervorzubringen, weshalb er die Sprache ›kreativ‹ nennt). Quine sieht bereits beim zweimaligen, beim homophonen Auftreten eines Ausdrucks die Situation einer Übersetzung gegeben, spricht von ›homophoner Übersetzung‹. 17 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, Introduction, hg. von R. Godel, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 15 (1957), S. 72. Vgl. Manfred Frank: Individualität und Innovation, in: ders.: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991, S. 55 ff. 16
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Satzes, sondern um den Gehalt des Zeichengebildes im ganzen. Zum einen verkörpert dieser mehr als die Summe seiner kompositionalen Teile. Zum anderen sind radikale Kreativitätsprozesse von der Art, daß sie die bisherige Form und den bisherigen Gehalt eines Zeichens überschreiten, zurücklassen, von Grund auf neu ausrichten oder durch andere und neu erfundene Zeichen mit veränderten semantischen Merkmalen (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) ersetzen. Von grundlegender Bedeutung im Blick auf den Kreativitäts-Raum ist die Arbitrarität des Zeichens, also das, was wir seit De Saussure als ›déplacement du rapport entre le signifié et le signifiant‹, als die mögliche Verschiebung des Bezugs zwischen Zeichen und Bezeichnetem fassen. Starke Zeichenkreativität bis hin zum Erfinden neuer Zeichen und der damit verbundenen zeichen- und interpretations-bestimmten Konstruktion neuer epistemischer Objekte und Sachverhalte macht sich diesen Spielraum zunutze. Die Arbitrarität des Zeichens öffnet einen Kreativitätsraum mit all seinen Nicht-Kalkulierbarkeiten und Indeterminiertheiten. Kann es keine Kraft des kreativen Geistes ohne Zeichen geben, dann kommt dem Verhältnis eines Zeichens zu seinem Folgezeichen kardinale Bedeutung zu. Das ist ein Punkt fundamentaler Wichtigkeit. Denn damit ist ein Modell der Sprache zu verabschieden, demzufolge es im erfolgreichen kreativen Sprach- und Zeichengebrauch um Prozesse gehe, in denen implizite Strukturen explizit gemacht werden und eine inferentielle Semantik zugrunde zu legen sei.18 Dieses Modell kann weder die KreativitätsFrage noch Fragen in Bezug auf eine Fülle anderer Phänomene beantworten (wie z. B. die des abweichenden, des metaphorischen, des ironischen oder des fiktiven Zeichengebrauchs). Entscheidend ist, daß das Verhältnis von Zeichen und Folgezeichen kein inferentielles und kein deterministisches, weder ein logisch noch ein kausal determiniertes, kein apriorisch vorab geordnetes, sondern ein freies Verhältnis ist, in dem ein erfolgreiches Folgezeichen gleichwohl direkt verstanden wird. Man denke hier z. B. an eine Folgezeile bzw. an ein Folgebild in einem Gedicht. Oder an einen Geistesblitz, der ein in der Mathematik bislang nicht für lösbar gehaltenes Problem mit einem Schlag auflöst. In solchen Fällen ist die Kreativität des Erfindens direkt verstandener neuer Folgezeichen offenkundig essentiell, und zwar vornehmlich dann, wenn die bis dahin geltenden Regeln der Zeichenverwendung revidiert, überschritten, verletzt und durch andere ersetzt werden. Damit sind wir bei der wichtigen Frage des Zusammenhangs von ›Kreativität und Regel‹.
Das hier vertretene Verständnis funktionierender und insbesondere kreativer Sprache unterscheidet sich mithin grundlegend von der zur Zeit vieldiskutierten Sicht von Robert B. Brandom: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge MA, London 1994. 18
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2. Kreativität und Regel. Regelfolgen, Regelverletzung, Regelbruch, Regelerfindung Der erste Aspekt, den ich herausstellen möchte, ist, daß nicht erst die Regel-Verletzung, der Regel-Bruch, sondern bereits das normale Regel-Folgen kein Vorgang logischer oder kausaler Determination ist,19 – mithin Kreativität, des näheren ›intuitive Kreativität‹ hier jederzeit schon erfordert ist. Die in einem gegebenen Sprechen und Denken wirksamen Regeln determinieren nicht den zukünftigen Gebrauch eines Wortes, Zeichens und Gedankens, ebensowenig wie ein vergangener Gebrauch den jetzigen determiniert. Damit ist eine weitere Bedingung sprachlicher wie nicht-sprachlicher (z. B. piktorialer, graphischer, musikalischer, gestischer) Kreativität bezeichnet. Diese Sicht des Regelfolgens öffnet zugleich den Blick für den wichtigen Punkt, daß die Festlegung und die Um-Organisation der semantischen Merkmale der Zeichen interpretations-abhängig sind. Sprach- und Zeichenkreativität besteht im Kern darin, diesen Unbestimmtheits-Spielraum zu nutzen, im Falle radikaler Kreativität ihn nach neu gesetzten Regeln umzuorganisieren, umzuregeln, umzuprinzipiieren. Beispiele dafür sind nicht nur Metaphernbildung, Witz, Ironie, poetische Sprache, sondern auch etwa: die Um-Organisation der semantischen Merkmale der Zeichen für Natürliche-Art-Termini und physikalische Größen wie z. B. des Begriffs ›Atom‹ oder ›Gen‹ von ihren Anfängen bis heute. Es kann sein, daß erst der bewußte Bruch mit etablierten Regeln und das Einschwenken auf bislang noch nicht erprobte Pfade und provisorische Regeln dazu führen, Neues in die Welt zu bringen. Kreative Regelverletzungen, kreative Regelbrüche zielen jedoch keineswegs auf einen ungeregelten Zustand und die Herbeiführung eines Chaos. Diesen Punkt hat schon Kant betont, wenn er hervorhebt, daß die im kreativen Schaffen von Kunstwerken entscheidende und ›genial‹ zu nennende Fähigkeit darin bestehe, der Kunst neue Regeln zu geben. Das Genie ist regel-setzend. Damit ist mehr bezeichnet als das, was in Begriffen gefaßt werden kann. Regeln können nicht als Begriffe konzeptualisiert werden. So können sie z. B. auch nicht als Prinzipien für die Produktion späterer großer Kunstwerke genommen werden, auch wenn Imitatoren und Manieristen uns das weismachen wollen. Nietzsche hat diejenigen, die sich im Regel-Zerstören erschöpfen und nicht die Kraft neuer Regel-Setzungen haben, als dekadent bezeichnet. Der Witz einer kreativen Regelverletzung ist ein doppelter: Regelverletzung und Regelbruch folgen ihrerseits keiner Meta-Regel; und sie eröffnen im spielerischen Erfinden von Regeln neue und vertiefte Einsichten. Hier blitzt etwas von dem tiefen ZusammenDiese Auffassung des sprachlichen Regelfolgens weite ich explizit auf den ganzen Bereich nichtsprachlicher Zeichen aus. Sie widerspricht grundlegend der oben bereits kritisierten Sicht der Sprache und des Regelfolgens als eines Systems mit Regeln als Gesetzen und als System quasi axiomatisierbarer Art, das ein Sprecher erwirbt und dann auf gegebene Fälle appliziert. Diese Sicht geht zutiefst an dem vorbei, was es heißt, eine Sprache zu sprechen und sich kraft ihrer in einem Verhältnis zu anderen Personen und zur Welt zu befinden. Der Sinn von ›Regel-folgen‹, auf den ich hier zurückgreife, ist der, den vor allem Wittgenstein herausgearbeitet hat. Vgl. insbesondere Philosophische Untersuchungen I, Nr. 198–242. 19
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hang von Wahrheit und Kreativität auf. Die Wahrheit sitzt im Offenen, – und Kreativität hilft entscheidend, in sie zu gelangen.20 Diese Auffassung hat Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis von kreativem Denken und Regelbegriff. Muß zwischen schwacher und starker Kreativität unterschieden werden, dann müssen wir auch unterschiedliche Arten von Regeln unterscheiden. Jaakko Hintikka hat zwei Arten unterschieden: (i) die ›definitory rules‹ (die, am Beispiel strategischer Spiele wie dem Schach-Spiel erläutert, die erlaubten Züge der SchachFiguren festlegen) und (ii) die ›strategic rules‹ (worunter er im Sinne der Spieltheorie diejenigen Regeln versteht, »that specify what a given player should do in every possible situation that can arise in the course of a play of the game«). Die definitorischen Regeln sind nicht mit Kreativität verbunden. Kreativität ist für Hintikka »a matter of strategic rules«.21 Es wird kaum überraschen, wenn ich dafür plädiere, diese Zweiteilung um einen entscheidenden Schritt zu erweitern: (i) definitorische Regeln, (ii) strategische Regeln und in den Fällen radikaler Kreativität (iii) im Offenen sich bildende Regularitäten bzw. Regularitäten im Offenen. Das klingt nach einem ›hölzernen Eisen‹. Aber Kunstwerke und bahnbrechende wissenschaftliche Theorien ebenso wie individuelle Lebensformen entstehen aus genau diesem Raum heraus und auf ihn hin.
3. Von Possibilitäten zu Potentialitäten Daß Neues eintritt, zeigt, daß es möglich ist. Das Verhältnis von Kreativität und Möglichkeit ist fundamental. Allerdings muß diese Feststellung über die Kombinatorik gegebener Possibilitäten (auch im Sinne der ›possible world semantics‹) hinausgehen. Es muß der Schritt vollzogen werden von logischen Possibilitäten zu kreativität-disponierenden Potentialitäten. Schwache Kreativität hat mit Possibilitäten zu tun. Starke Kreativität mit Potentialitäten. Deren Reich ist weit umfänglicher als das der logischen Possibilitäten. Offenkundig sind Dinge möglich und wirklich, die unter dem Kriterium logischer Möglichkeit im engeren Sinne als unmöglich einzustufen wären. Man denke z. B. an die Malerei, etwa an das, was in Gemälden von René Magritte oder in Zeichnungen von M.C. Escher dargestellt wird und uns, mit Recht, als höchst trefflich, auf den ersten Blick als das Natürlichste der Welt erscheint, – von Lebensformen, mentalen Zuständen und anderen Dingen erst gar nicht zu sprechen. In kreativen Prozessen, Personen und Produkten ist das Modale in diesem tieferen Sinne im Spiele. Der Witz einer Sprache zum Beispiel ist nicht, daß sie aus den Buchstaben eines Alphabets besteht, die in möglichen Kombinationen zu Wörtern, Sätzen und ganzen
20 Zu diesem Zusammenhang vgl. Verf.: Wahrheit und Kreativität, in: G. Abel / M. Ruggenini (Hg.): Wahrheit, Freiheit, Existenz (= Deutsch-italienische Philosophie-Tagung, Berlin, 15.–17. Juni 2005), Berlin 2006. 21 Jaakko Hintikka: On creativity in reasoning, in: A. E. Andersson / N.-E. Sahlin (Hg.): The complexity of creativity (= Synthese Library, Band 258), Dordrecht, Boston, London 1997, S. 68.
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Diskursen zusammengesetzt werden, sondern vielmehr, daß sie ein Potential ist. »La langue«, schreibt Ferdinand de Saussure einmal, »est quelque chose de potentiel, la parole est du réalisé«.22 Die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung von Potentialität und Aktualität kann helfen, einen Unterschied zu verdeutlichen, der in Sachen Kreativität von grundlegender Bedeutung ist, den Unterschied zwischen: Nichts, NochNicht und Aktual-Wirklich. Sofern wir nicht bereit sind, Kreativität einfach als ›creatio ex nihilo‹ zu fassen, kann diese Unterscheidung hilfreich sein. Hier ist z. B. auch an die technischen Artefakte zu denken, an technische Maschinen und Systeme, die in einem handfesten Sinne neu in die Welt gesetzt werden. Nicht nur die technische Kreativität, sondern die Artefakte und die Technik selbst würden zu einem Mirakel, müßten wir sie als ›creationes ex nihilo‹ ansehen. Auch Artefakte kommen nicht einfach aus dem Nichts. Dabei sind wichtige Unterschiede zur Aristotelischen Auffassung des Begriffspaares ›actus / potentia‹ zu beachten. Denn bei Aristoteles dient diese Figur zur Beschreibung einer ontologischen Bewegung, der Überführung von Potentialität in Aktualität, im Falle eines Steines z. B. von der Möglichkeit, durch einen Künstler in eine Statue überführt werden zu können, zu der Wirklichkeit, Statue zu sein. Eine Ontologie der Ausfaltung des vorab schon Angelegten aber droht der radikalen Kreativität ihre Brisanz zu nehmen. Denn herausfordernd wird radikale Kreativität von dem Augenblick an, in dem sie in die Ontologie, in die Metaphysik selbst einbricht. Die klassische Metaphysik hat die radikale Kreativität ebenso wie die mit dieser intern verbundene Zeit vergessen.23
4. Kreativität als Emergenz Wie aber paßt der kreative Geist in unser naturalistisches und wissenschaftliches Weltbild? Ein Vorschlag: Kreativität kann als ein Emergenz-Phänomen, als Phänomen des ›überraschenden Auftretens‹ verstanden werden, und zwar in einem an den terminologischen Gebrauch von ›Emergenz‹ in der Philosophy of Mind sowie in den Wissenschaften direkt anknüpfenden Sinne.24 F. de Saussure: Cours, a. a. O., S. 10. Historisch ist auch vor diesem Hintergrund nicht überraschend, daß Aristoteles (anders als Platon, der die göttliche Inspiration als Wurzel der Fähigkeiten kreativer Personen, der Dichter etwa, kreativer Prozesse und Produkte ansetzt) der Anlage seines Philosophierens nach ›kreative Prozesse/Akte‹ nur so auffassen kann, daß in ihnen letztlich nur eine veränderte, neue Instantiierung einer vorab bereits vorhandenen antezedenten Form auftritt. In diesem Sinne stellt die Aristotelische Philosophie Instrumentarien nur zum Umgang mit der ›schwachen Kreativität‹ bereit. In Aristotelischer Sicht kommt in der kreativen Produktion schlußendlich nur heraus, was in der antezedenten Form bereits angelegt war. Das aber ist zu wenig im Blick auf eine zufriedenstellende Behandlung der ›radikalen Kreativität‹. Während also Platon, sehr vereinfacht gesagt, zu schnell in die göttliche und letztlich irrationale Inspiration springt, droht Aristoteles die Natur kreativer Prozesse auf die Aktualisierung antezedenter Formen zu reduzieren. Das Kreativitätsproblem wird aber nachdrücklich erst mit der Einsicht virulent, daß kreative Prozesse und Produkte sich nicht einfach auf antezedente Elemente und Formen zurückführen lassen. 24 Zu ›Emergenz‹ vgl. Wolfgang Krohn / Günter Küppers (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von 22 23
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Einige Kerncharakteristika von emergenten Phänomenen und von kreativen Prozessen sind sehr ähnlich, vor allem in den drei Hinsichten, die wir eingangs zur Charakterisierung von Kreativität herangezogen haben: (1) Neuartigkeit; (2) Unvorhersagbarkeit; und (3) Nichtreduzierbarkeit auf antezedente Elemente. Hinzu tritt die meta-theoretische Perspektive, in der heute der Emergenz-Begriff vor allem in den Bereichen Synergetik, Selbstorganisation und Chaosforschung erneut Karriere macht. Der entscheidende Punkt ist hier, daß der genuine Prozeß-Charakter dieser Ereignisse weder im Rekurs auf die Elemente der Ausgangs- noch in denen der Endkonstellation beschrieben werden kann. Phänomene dieser Art bezeichnen wir als emergente Phänomene. Dies führt zu der wichtigen Frage, wie kreative Prozesse überhaupt zu beschreiben, zu charakterisieren und zu interpretieren sind, wenn das Vokabular der Ausgangs- wie das der Endsituation den eigentümlich neuen und kreativen Charakter gerade nicht zu erfassen und zu artikulieren vermag. Damit ist das Problem der Darstellung von Kreativität bezeichnet bis hin zu der Frage nach der Sprache, in der man über Kreativität spricht und schreibt. Der Unterschied zwischen der Philosophie der Kreativität und der durch Synergetik, Selbstorganisation und Chaos angezeigten Systemforschung läßt sich vor diesem Hintergrund wie folgt fassen: In beiden Feldern geht es darum, auftretende Phänomene in einer Verbindung mit systemischen Eigenschaften zu sehen, zugleich jedoch zu betonen, daß die auftretenden Phänome nicht reduktionistisch auf die Systemeigenschaften zurückgeführt werden können. Die system-bezogene wissenschaftliche Forschung wird hier, mit Recht, die erste der beiden Einstellungen in den Vordergrund stellen. Eine letztlich auf die Phänomene radikaler Kreativität bezogene philosophische Forschung wird die zweite der beiden Komponenten akzentuieren, sie einer phänomenologischen Beschreibung zuführen und, falls möglich, eine grundbegriffliche Klärung versuchen. Keine uninteressante Schnittstelle zwischen Philosophie und Wissenschaften, oder?! Vor allem dann nicht, wenn radikale Kreativität die Prinzipien und Organisationsmuster, die einem generativen System zugrunde liegen, selbst verändert, verletzt, durch neue ersetzt. Daher auch können systemische Komplexitätstheorien, in denen die Prozesse der Synergetik, der Selbstorganisation und des Chaosverhaltens erfaßt werden sollen, in Sachen Kreativität nicht das ›letzte‹ Wort sein. Der Schritt von Komplexitätstheorien zu Kreativitätstheorien würde Kreativität zu einem neuen Paradigma auch wissenschaftlicher Erklärung machen. Ein solch expliziter Schritt steht, soweit ich sehe, zur Zeit noch aus. Aber es rumort bereits.
Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt/M. 1992; und Ansgar Beckermann / Hans Flohr / Jaegwon Kim (Hg.): Emergence or Reduction? Essays on the Prospects on Nonreductive Physicalism, Berlin, New York 1992. Zur Geschichte des Emergentismus vgl. Achim Stephan: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Dresden, München 1999.
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An diesem Punkt spürt man, daß die Kreativitätsfrage eine Herausforderung für die Wissenschaften selbst ist. Ich meine damit nicht nur den Punkt, daß die Wissenschaften unter Umständen ihre Waffen vor dem Phänomen der Kreativität strecken müssen, – sei dies heute etwa die Neurobiologie, die moderne Hirnforschung oder die Computationale Psychologie. Nein, die Herausforderung geht von dem Augenblick an tiefer, wo die Naturprozesse selbst als ›kreierende Prozesse‹ aufgefaßt werden. Nicht nur die Rede von ›kreativen Universen‹ weist unübersehbar in diese Richtung. Die Philosophie ist hier in einer um nichts besseren Situation. Man sieht die enorme Herausforderung, die das Kreativitätsphänomen auch für das Selbstverständnis der Philosophie darstellt. Denn in Frage steht letztlich, ob metaphysische Determiniertheit oder Indeterminiertheit, ob festes Sein oder prozessuales Werden, nicht-vorhersagbare und nicht kalkulierbare Prozesse den Tiefencharakter dessen ausmachen, was ›ist‹, – und zwar im Kleinsten wie im Größten (von den elementarteilchen- und astro-physikalischen Prozessen) und bis hin zur Kreativität des menschlichen Geistes, zum kreativen Geist in Individuen. 5. Im Kleinsten das Größte In ontologischer wie in logischer Hinsicht ist entscheidend, was man als die Bausteine der Natur / Welt und, in denklogischer Hinsicht, als die Individualien in der ArgumentStelle ansetzt. So ist von kardinaler Bedeutung, ob als ›Bausteine‹ der Natur Dinge im Sinne Raum-Zeit-Stellen besetzender materieller Körper oder Ereignisse angesetzt werden. Ohne Umschweife möchte ich mich der Auffassung derjenigen anschließen, die die Welt als eine Welt von Prozessen, von Prozeß-Gegenständen verstehen.25 Diese Auffassung trifft sich mit Vorstellungen der modernen Physik. Unter Berufung auf die Entwicklungen in den Wissenschaften ist die Sicht leitend geworden, daß Dinge / Objekte im Grunde Ereignis-Sequenzen sind, die nicht mehr den kategorialen Status von Dingen haben. Den mikrophysikalischen Strukturen eignet, obwohl noch als Partikel bezeichnet, kaum etwas, was sie mit den makroskopischen Körpern, dem Paradigma der DingOntologie, vergleichbar macht. Ein Ding / Objekt im Sinne der modernen Physik wird als eine Serie zeitlich miteinander verknüpfter Ereignisse konzipiert, die untereinander art-identisch sind. Die physikalische Identität von Einzeldingen über eine Zeitstrecke beruht dann auf der Art-Identität der beteiligten Ereignisse. Die Annahme von Prozeß-Gegenständen ist auch im Blick auf die logische Form sprachlicher Sätze geboten. Im Bereich der analytisch orientierten Philosophie ist nach Vorarbeit von Hans Reichenbach vor allem von Donald Davidson gezeigt worden, daß die logische Form eines großen Teils der Sätze unserer natürlichen Sprache ohne die Annahme von Ereignissen / Prozessen als genuiner Individualien nicht konstruiert werden kann. Dies betrifft z. B. Verhältnisse der Zeitfolge, der Kausalität, der Erklärung oder
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Zum Folgenden vgl. ausführlicher Verf.: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004, Kap. 7.3.
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der Handlung. Wenn wir Sätze wie »Der Kreativitäts-Kongreß begann im AudiMax und fand dann auch in anderen Hörsälen der TU und über mehrere Tage statt« verstehen, so ist in solchem Verstehen stillschweigend vorausgesetzt, daß es Ereignisse und nicht nur Dinge gibt, an denen sich etwas abspielt.26 Der Übergang von einer solchen Prozeß-Philosophie zu kreationistischen Prozessen (und etwa auch zu der Idee des kreativen Universums) ist einfach und schnell: die Prozesse können als Prozesse des dynamischen Variierens, des schöpferischen Entwickelns, der dynamischen Um- und Neu-Organisation, kurz: als Prozesse fortwährender Bildung von Neuem, mithin im weiten Sinne als kreative Prozesse charakterisiert werden. Jedes (um einen Ausdruck Whiteheads zu verwenden) ›Konkreszieren‹ zu einem modifizierten, weiterentwickelten, umgeordneten Gebilde kann in diesem weiten Sinne als Bildung von Neuem angesprochen werden. Das Spektrum reicht dann von der Ebene der Elementarteilchen – auf dem Plakat unseres Kongresses ist die erste Aufnahme eines Omega-Minus-Teilchens wiedergegeben! – bis hin zur prozessualen Entstehung neuer Sterne im Universum und zum Auftreten radikal kreativer Ideen in den Köpfen einzelner Individuen. Wie dieses kontinuierliche Spektrum zwischen, sagen wir: Urknall und Kreativität des menschlichen Geistes aufgefaßt werden kann, ist eine mehr als spannende Frage. Kardinal ist, daß es sich im Verhältnis von (kreativen) Universen / Elementarteilchen und (kreativen) menschlichen Geistern / Individuen nicht um die Beziehung von Allgemeinem und Besonderem handelt. Eher wohl geht es um Verhältnisse, die in der Tradition der Philosophie, etwa bei Cusanus und Leibniz, so gedacht wurden, daß das Universelle und das Individuelle im Prinzip gleicher Natur sind und daß das Universelle in unendlicher Abstufung zum Individuum herab- und das Individuum zugleich zum Universellen hinaufbestimmt werden kann. Um zwei Formulierungen von Cusanus zu verwenden: »In qualibet enim creatura universum est ipsa creatura / Denn in jedem Geschöpf ist das All dieses Geschöpf selbst«; und: »Individua vero sunt actu, in quibus sunt contracte universa / Wirklich jedoch sind allein die Individuen, in denen das All in kontraktierter Weise da ist«.27 In kontraktierter Form ist in einem jeden von uns das ganze Universum, ist im Kleinsten das Größte da. Heute, hier und jetzt, würde uns ein Astrophysiker auf Nachfrage ohne Umschweife sagen, daß wir ohne den Urknall gar nicht da wären und unser Geist nicht so funktionierte wie er funktioniert. Und umgekehrt, so ist zu hören, bestehe Kontinuität zwischen dem einzelnen Individuum und dem Universum, aus dem heraus das Individuum da ist und auf das es sich in seinen Wahrnehmungen, Handlungen, Gedanken und Theoriebildungen zugleich bezieht. Wie wir uns als Menschen, als Individuen in diesem Bild verstehen bzw. in es passen, dies zählt zu den spannendsten Fragen heutiger Philosophie an der Schnittstelle mit den Wissenschaften.
Vgl. ebd., S. 222 ff.; detailliert, Verf.: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), S. 157–187. 27 Nikolai de Cusa: De docta ignorantia, Buch II, Kap. 5, S. 36, und Kap. 6, S. 46, lateinisch-deutsche Ausgabe von P. Wilpert, 2. Aufl., Hamburg 1977. 26
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Was durch ein Individuum kreativ in Existenz gebracht wird, ist darin zugleich auch eine kreative Veränderung des Universums. Das Universum manifestiert sich auch auf solche Weise im kreativen Individuum selbst und erhält umgekehrt von diesem Individuum im Zuge einer kreativen Theorie des Universums auch erst seinen Begriff. Auf diese Weise bringt der menschliche kreative Geist eine Spezifikation des Ganzen zustande. Er erreicht dies, indem er sich in Differenz, in ein Negations-Verhältnis zum Ganzen setzt, sich in den Standpunkt negativer bzw. selektiver Aufmerksamkeit bringt, die, wie Kant28 gesehen hat, Bedingung einer jeden Begriffsbildung ist, und, in den besonders geglückten Fällen, kreativ wird. Diese Möbius-Band-ähnliche Stuktur ist von grundsätzlicher Bedeutung im Blick auf die Stellung des Menschen in der Natur. Das Universum ist in den Kreationen seiner Individuuen selbst da, und kreative Individuen können Neues am Universellen hervorbringen – und sie tun dies mit höchst bemerkenswerten Erfolgen! Die Auffassung, daß das Universum ein »kreatives Fortschreiten ins Neue« sei, wurde vor allem von Alfred North Whitehead entwickelt, ist aber heute bei weitem nicht mehr nur mit seinem Namen verbunden, sondern auch in der gegenwärtigen Astrophysik anzutreffen.29 Der Unterschied zwischen Whiteheads und dem hier vorgetragenen Zugang zu dieser Frage ist, daß ich nicht direkt von einer Ontologie der ›actual entities‹ ausgehe. Einstiegspunkt sind vielmehr die Sinn-Präsuppositionen unserer Gedanken, Handlungen und Sätze. In dem skizzierten Sinne gelangt man auch von dort aus dazu, die Welt als eine Prozeß-Welt und die Prozesse in einem nächsten Schritt als im weiten Sinne kreative Prozesse anzusehen. Auch hier, wie in allen angesprochenen Zusammenhängen, ist Kreativität nicht bloß Option, sondern Kondition lebendiger Wahrheit.
Literatur Abel, Günter: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), S. 157–187. Abel, Günter: Geist – Gehirn – Computer. Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: R. Dürr / G. Gebauer / M. Maring / H.-P. Schütt (Hg.): Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk, Münster 2005. Abel, Günter: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999. Abel, Günter: Wahrheit und Kreativität, in: G. Abel / M. Ruggenini (Hg.): Wahrheit, Freiheit, Existenz (= Deutsch-italienische Philosophie-Tagung, Berlin, 15.–17. Juni 2005), Berlin 2006. Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004.
Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 156, Anmerkung. Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology, London 1929, deutsche Übersetzung, Frankfurt/M. 1979, S. 407. Vgl. Bernulf Kanitscheider: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993. 28 29
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Beckermann, Ansgar / Flohr, Hans / Kim, Jaegwon (Hg.): Emergence or Reduction? Essays on the Prospects on Nonreductive Physicalism, Berlin, New York 1992. Boden, Margaret A.: The Creative Mind. Myths and mechanisms, London, New York 1990, 2. Aufl. 2004. Boden, Margaret A.: What Is Creativity?, in: Boden (Hg.): Dimensions of Creativity, Cambridge MA 1994, S. 75–118. Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge MA, London 1994. Davies, Martin: Tacit knowledge, and the structure of thought and language, in: Ch. Travis (Hg.): Meaning and Interpretation, Oxford 1986, S. 127–158. de Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale, Introduction, hg. von R. Godel, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 15 (1957). Frank, Manfred: Individualität und Innovation, in: ders.: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991. Hausman, Carl R.: Creativity, in: Encyclopedia of Aesthetics, hg. von M. Kelly, Oxford 1998. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik, hg. von G. Lasson, Hamburg 1975. Hintikka, Jaakko: On creativity in reasoning, in: A. E. Andersson / N.-E. Sahlin (Hg.): The complexity of creativity (= Synthese Library, Band 258), Dordrecht, Boston, London 1997. Kanitscheider, Bernulf: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993. Krohn, Wolfgang / Küppers, Günter (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt/M. 1992. Lenk, Hans: Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, Frankfurt/M. 2000. Miller, Alexander: Tacit knowledge, in: B. Hale / C. Wright (Hg.): A Companion to the Philosophy of Language, Oxford 1997, Reprint 2000, S. 146–174. Nikolai de Cusa: De docta ignorantia, lateinisch-deutsche Ausgabe von P. Wilpert, 2. Aufl., Hamburg 1977. Peirce, Charles S.: Collected Papers [= CP], hg. von Ch. Hartshorne / P. Weiss, Cambridge MA, 2. Aufl. 1960, Bd. V. Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1958. Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, New York 1966. Putnam, Hilary: Mind, Language and Reality (= Philosophical Papers, Bd. 2), Cambridge, New York 1975. Putnam, Hilary: Representation and Reality, Cambridge MA 1988. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949. Stephan, Achim: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Dresden, München 1999. Sternberg, Robert J. (Hg): Handbook of Creativity, Cambridge 1999. Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology, London 1929 [Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt/M. 1979].
KOLLOQUIUM 1 Das Neue in mentalen Prozessen, Zuständen und Phänomenen – Kreativität als Thema der Philosophy of Mind
Margaret Boden The Concept of Creativity Katalin Balog Ontological Novelty, Emergence, and the Mind-Body Problem
The Concept Of Creativity (Abstract) Margaret Boden (Sussex)
Creative ideas (concepts, theories, paintings, machines, sonatas, recipes, statues...) are new, surprising, and valuable. But each of these terms is problematic. »New« has two meanings. An idea may be new to the person who had it (P-creativity), or it may be new with respect to the whole of humankind (H-creativity). H-creativity is a special case of P-creativity. For scientific explanations of creativity, P-creativity is the crucial notion. »Surprising« has three meanings. A new idea may be statistically improbable. Or it may be unexpected, and yet immediately intelligible as an example of some alreadyknown type of structure. Third, it may be seemingly impossible. These three types of surprise reflect the three ways in which novel ideas can arise in someone’s mind: – Combinational creativity involves unfamiliar combinations of familiar ideas. – Exploratory creativity involves the exploration of some accepted style of thinking, or conceptual space. – Transformational creativity involves the alteration of one or more dimensions of that space, so that structures can now be generated which were previously impossible. »Valuable« has indefinitely many meanings. Even within a single domain (chemistry, choreography...), values may be culture-specific, and they may shift very quickly and ›irrationally‹ (e. g. fashions and fads). They’re often implicit, and even if made explicit they may be very difficult to pin down (e. g. the ›elegance‹ of a scientific theory). A scientific psychology, using ideas drawn from AI, can explain the generation of novel ideas in all three types of creativity. Evaluation is another matter. Although values may be modelled in AI and/or explained by (evolutionary) psychology, they can’t be justified by science.
Reference Boden, Margaret: The Creative Mind: Myths And Mechanisms, 2nd edition (revised/ expanded), London: Routledge 2004.
Ontological Novelty, Emergence, and the Mind-Body Problem Katalin Balog (Yale)
There are two views, or types of views concerning fundamental ontology that are of particular interest in the current discussion of the Mind-Body problem, which I will call »Physicalism« and »Emergent Property Dualism.« According to Physicalism, the world’s fundamental ontology is physical and the best account of that ontology is provided by fundamental physics. According to contemporary physics, this ontology consists of particles, strings and fields of various types that occupy space-time (or bear spatio-temporal relations to one another) and possess a limited number of quantitative properties (mass, charge, electromagnetic potential and so on). According to contemporary physics, there are only a few fundamental dynamical and perhaps non-dynamical laws that govern the structure of space-time and evolution of its occupants. Physicalism asserts that everything else, whatever other entities and properties there are, is composed out of and realized by configurations of this fundamental physical ontology. Physicalism also asserts that all macroscopic or special science laws, causal relations, probabilities are ultimately derived from the laws of fundamental physics and the arrangement of fundamental physical entities.1 According to »Emergent Property Dualism«, the fundamental ontology includes, in addition to the ontology of physics, fundamental mental or proto mental properties and may also include fundamental laws that link mental properties to each other and to certain properties of physical systems.2 By »mental properties« I mean properties that involve phenomenal consciousness and/or intentionality. A phenomenal property is such that, in Nagel’s famous phrase, there is something it is like to have it; for example, feeling dizzy. An intentional property is one which involves some kind of aboutness 1 Lewis 1983, Jackson 1993, Papineau 1993, Loewer 2001, Melnyk 2003, e. g., are physicalists of this sort. The first precise formulation of physicalism comes from Lewis 1983. Subsequent discussions are variations of the same theme. Many philosophers, among them non-physicalists, accept Lewis’s definition as capturing the intuitive notion of physicalism (see, e. g., Chalmers 1996, pp. 41–42). The term »physicalism« is sometimes used to label another, weaker doctrine, i. e., the view that all entities are physical or physically realized. Davidson 1980 seems to have such a view. 2 I will assume that these laws are contingent; i. e., not metaphysically necessary. If laws are taken to be metaphysically necessary then it is difficult to state the difference between Physicalism and Emergent Dualism since then both would hold that configurations of physical property instantiations metaphysically necessitate mental property instantiations. The physicalist adds that the mental properties are nothing over and above the physical properties while the dualist says that they are distinct, but it is difficult to say what this comes to. Almog 2002 holds a view on which mind and body are distinct but there is a necessary connection between them but I find the view implausible and even hard to consistently articulate.
Ontological Novelty, Emergence, and the Mind-Body Problem
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or reference; for example, thinking about Vienna.3 Emergent property dualists differ from older dualist traditions in that their ontologies don’t include mental entities or substances, only mental properties that are instantiated in certain physical systems (e. g., you and me). There are two varieties of Emergent Property Dualism; interactive and epiphenomenal. Interactive property dualists posit sui generis mental laws and causal relations that are thought to be required to account for mental processes and for certain physical phenomena; for example, to account for intelligent behavior. Epiphenomenal property dualists agree with physicalists that physical phenomena can be explained entirely within physics but hold that fundamental mental properties are needed to account for the very existence of mental phenomena since these cannot be explained physically. Interactive Property Dualism holds that there are horizontal (as well as vertical) laws connecting mental to physical properties. Epiphenomenal dualists think that there are only vertical laws connecting mental properties to either mental or physical properties.4 If I am permitted to use a theological metaphor I could say that on the physicalist view to create the world all God needed to do was to create a fundamental physical ontology and fundamental laws, and distribute elements of the ontology as an initial condition – the Big Bang – in space-time and then let the universe evolve in accordance with those laws. On the emergent property dualist view, God didn’t rest until s/he also created mental properties and laws connecting them to each other and to certain (perhaps very complicated) physical properties of physical systems. 5
The Emergence of Consciousness According to contemporary cosmology, the early universe – a few minutes after the Big Bang – was a very dense, very hot soup of elementary particles and radiation. As the universe expanded, this soup evolved in accordance with the laws producing novel
The natures of and relationship between phenomenal consciousness and intentionality are vast and much discussed topics. In this paper I am not assuming any specific view about how they are connected and whether it is possible for one to be instantiated without the other. 4 Emergent Property Dualism was advocated by the »British Emergentists« including C. D. Broad 1951. Recently the view has gotten more popular among philosophers; Chalmers’ 1996 book The Conscious Mind is a major influence in the resurgence of Dualism. Chalmers on his weblog fragments of consciousness on September 26, 2005 (http://fragments.consc.net/djc/2005/09/jaegwon_kim_com.html) cites the following (recent or long term) converts to Dualism: Joseph Almog, Torin Alter, George Bealer, Laurence BonJour, Paul Boghossian, Tyler Burge, Tim Crane, John Foster, Brie Gertler, George Graham, W. D. Hart, Ted Honderich, Terry Horgan, Steven Horst, Saul Kripke, Harold Langsam, E. J. Lowe, Kirk Ludwig, Trenton Merricks, Martine Nida-Rümelin, Adam Pautz, David Pitt, Alvin Plantinga, Howard Robinson, William Robinson, Gregg Rosenberg, A. D. Smith, and Richard Swinburne, Stephen White. The majority of philosophers working on the Mind-Body problem are still (?) physicalists. 5 An ontological view distinct from the two I am discussing and which deserves more than this footnote is what David Chalmers calls »Type F Monism« (sometimes it is also referred to as »Russellian Monism«). According to type F Monism, the most fundamental properties are both mental and physi3
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Kolloquium 1 · Katalin Balog
arrangements and modifications of the fundamental physical ontology. Thus appeared stars, planets, oceans, single cell plants and animals, and so on. For each of these kinds there was a time at which there were no things of that kind and a later time in which there were things of that kind and, for some kinds, a period of time when it was not determinate whether or not that kind was instantiated. Even if we don’t know all the details, it is still very plausible (in this most physicalists and dualists are in agreement) that the physical ontology and the physical laws are sufficient in principle to account for stars, planets, oceans, plants, up until at least single cell animals.6 That is, it looks plausible that each of these kinds and their properties are constituted by and realized in the arrangement of entirely physical ontology. To create all these kinds all God had to do is to create the initial physical conditions and the laws. At some point in time the first glimmerings of consciousness occurred. Consciousness might have appeared first in fishes, or mammals, or Homo sapiens. Or perhaps, as David Chalmers suggests, proto-conscious states are associated even with very simple physical systems. If this is so then at some point these proto-conscious states combined to constitute a genuinely conscious state.7 But whenever it was that consciousness first emerged,8 Physicalism and Dualism have very different accounts of that emergence. According to Physicalism, consciousness, like other biological phenomena, is constituted by or realized in certain processes involving arrangements of fundamental physical entities. In contrasts, dualists claim that consciousness is a phenomenon that is entirely distinct from physical phenomena. According to emergent dualists, matter, fields, etc., no matter how complicated, are not metaphysically sufficient for consciousness. Its
cal in that they possess a physical dispositional nature and a mental categorical nature. So the view is neither physicalist nor emergentist. As I see it the main problem with this view is that it is not easy to see what the categorical mental features of fundamental physical properties (e. g., being an electromagnetic field value) can possibly be or how the configuration of such proto mental properties can result in genuine mental properties (i. e., a sensation of red). 6 An alternative view is Pluralism, according to which various special sciences deal with entities and properties that are distinct from each other and from physical ones. Chemistry, biology, psychology each would quantify over distinct properties that are connected to physical properties (and to each other) by contingent law. Since, in my opinion, this is not a very plausible view I am not going to discuss it further here. 7 Chalmers 1996, pp. 297–99. If this is right, God had to create more than the physical ontology just to create ordinary physical things. This view, which is a version of Epiphenomenal Dualism, is not in itself the same as Type F Monism. The proto-conscious states, according to this view, are connected to physical states via contingent law; rather than being the categorical bases of the dispositional physical states, as in Type F Monism. On the Type F Monist view, the creation of physical and consciousness properties are of a piece, since proto-consciousness is supposed to provide the categorical bases for dispositional physical properties. The two views agree in that the proto-mental properties and laws had been instantiated since the Big Bang; and that the emergence of bona fide consciousness requires special, complex arrangements of the proto-mental properties. 8 Of course, according to some Theist Dualists, consciousness and the rest of the universe were created all at once, and therefore they would reject the evolutionary framework in which I discuss these issues. This, however, will leave the basic metaphysical issues unchanged.
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emergence requires the existence of vertical laws that link it to physical properties. At some point in the history of the universe such physical properties were first instantiated and via those laws consciousness emerged. Most physicalists (and some epiphenomenalist dualists as well) think that the fundamental physical laws specify for every physical state how it will evolve or the chances of various possible evolutions. If the fundamental physical laws are of the latter sort – as some versions of Quantum Mechanics say – then the state of the universe at any time and the laws don’t completely determine what will emerge and so there is a strong sense in which a new configuration of physical elements may be novel. (But even if the dynamical laws are deterministic, as other versions of Quantum Mechanics have it, the evolution of physical ontology has continually produced and continues to produce »new« physical phenomena.) In any case, on both the dualist and physicalist version of this view, the evolution of physical phenomena is explained by a purely physical ontology. Dualists who hold this view think that mental properties are epiphenomenal with respect to physical properties. On this view, the fact that I have a pounding head-ache is not causally relevant to my behavior and in particular to my subsequently taking an aspirin. This is rather implausible but it is forced on a dualist who holds the causal closure of physics and thinks that pervasive overdetermination of behavior by both mental and physical causes is implausible.9 Interactionist dualists, on the other hand, claim that the physical is not causally closed and that, in addition to the vertical mental-physical laws that bind mental and physical phenomena together, there are also horizontal mental-physical laws that fill in gaps or supersede physical laws and so they take it that with the emergence of consciousness there evolve novel physical, as well as mental arrangements that cannot be accounted for purely physically. Another way of putting the difference between the two version of Dualism is that if the first version (Non-Interactive, or Epiphenomenal Dualism) is correct then if God had created the purely physical ontology and neglected to add the mental phenomena and mental laws then the world might have evolved in a way that matched the physicalist account as far as the arrangements of physical ontology is concerned but its living beings would have been what the philosophy of consciousness literature calls »zombies«.10 On the Interactive Dualists view, on the other hand, depending on how the horizontal laws operate, by omitting the mental phenomena and mental laws, God might have created a world that evolves in a way that is even physically different from ours.
9 Jaegwon Kim 1988 has developed this point at length as a problem for any version of Property Dualism. 10 For those only familiar with the zombies of B-movies: philosophical »zombies« are beings that are physically identical to human beings – they move like us, apparently speak and behave intelligently – but they completely lack phenomenal experience; in another bit of philosophical terminology, introduced by Nagel 1974, »there is nothing it is like« to be one of them.
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Arguments against Physicalism The contemporary mind-body problem is the problem of determining which of these fundamental ontologies – if either – is correct. It is surely true that most people’s intuitions favor the dualist’s ontology. We have no idea how purely physical phenomena – the whirling of atoms in the void or undulations of fields, or patterns of neuronal activity can result in mental phenomena, and more specifically in consciousness. Dualist philosophers have fashioned various arguments from these considerations and I will address one such argument, David Chalmers’ Conceivability Argument shortly in more detail. Before that I will briefly discuss another consideration that has sometimes been brought against Physicalism. Some dualists have argued for a dualist ontology by claiming that some physical phenomena cannot be adequately explained solely in terms of physical laws and events; in other words, they have appealed to phenomena that seem to indicate that physics cannot be causally complete. Descartes produced arguments of this type and more recently so has Karl Popper and John Eccles. According to Descartes, language use, mathematical computation, and more generally rational behavior could not be explained physically. The reason was that these behaviors exhibit a kind of »creativity« or »novelty« that he thought merely physical – which he conceived as mechanical – causes could not produce. The point is very familiar. There are meaningful sentences that we can produce and understand that have never been produced before and mathematical problems that are solved for the first time. Descartes thought that no mere »machine« could accomplish these feats. To a large extent this line of argument has been abandoned in the face of developments in the cognitive sciences that suggest models of how purely mechanical devices – computers and connectionist machines – can produce linguistic behavior and solve mathematical problems. However, it should be noted that there are no satisfactory accounts of how meaningfulness or intentionality can be physically realized, nor are there satisfactory accounts of the general all purpose reasoning that human beings engage in. But, of course, it isn’t as if positing nonphysical properties or entities in any way advanced the theoretical understanding of these phenomena. Another kind of role for mentality in producing physical effects has been suggested in the literature on interpreting quantum mechanics. It has been suggested – e. g., by Eugene Wigner, John Wheeler and David Chalmers11 – that conscious observation is required for the »collapse« of the quantum mechanical state of a system and thus for the appearance of the usual macroscopic world. If this were so then the physical laws would be incomplete and mental laws and causes would be involved in the evolution of physical systems. It is said that John Wheeler actually attempted to »measure« the effects of observation on quantum systems. However, the connections between consciousness and quantum mechanics that Wigner et al. suggested have lost their appeal. Purely physical phenomena are sufficient 11
For an in-depth discussion see Loewer 2003.
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to underlie the »collapse« of wave functions and there are various accounts of quantum mechanics now that make no reference to observation at all in formulating their laws. While arguments for interactive dualism deserve more than the few paragraphs above I think it is pretty much a consensus among philosophers that these arguments are not persuasive and so dualists in recent times have mostly appealed to a very different line of thought. This line of thought also can be found in Descartes. The heart of the argument is Descartes’ idea that since we can clearly and distinctly conceive of a body existing without mind (a zombie), and vice versa, it is possible for them to exist separately, and so bodily, i. e., physical phenomena are not metaphysically sufficient for consciousness.12 Recently sophisticated arguments along these lines have been proposed by Kripke 1972, Nagel 1974, Robinson 1993, Chalmers 1996, Jackson 1998, White 2005, and Nida-Rümelin 2005.13 I will concentrate here on Chalmers, who formulates one of the most sophisticated versions of the argument. After considering the argument I will show that it is unsound.14 My diagnosis of the problem is that the Conceivability Arguments turn on a fact unappreciated by its proponents: the peculiarity of phenomenal concepts. Advocates of the argument fail to recognize the special role these concepts play in our cognitive architecture and they mistakenly explain the puzzles these special concepts create in terms of ontology. In other words, they posit distinct mental entities when positing distinct concepts would have sufficed. If this is right then there is good reason to think that the radical ontological novelty of consciousness is an illusion. I will argue for that view in the conclusion.
Chalmers’ Conceivability Argument Chalmers’ argument has three crucial premises. The first concerns Physicalism. Physicalism requires that all true statements, including phenomenal statements like ›Dave is experiencing a yellow sensation at t‹, be necessitated by truths expressed in the lan-
12 Descartes’ original argument was meant to show the distinction of mental and physical substances. Contemporary dualists are mostly property dualists. Another difference is that many contemporary dualists think that, whereas phenomenal properties are non-physical, intentional states (or those intentional states that don’t involve phenomenal concepts) are physical. The conceivability arguments intend to show only that phenomenal states are non-physical – they are silent about intentional states. Descartes himself thought that his conceivability argument proves that both intentional states (thoughts) and phenomenal states are non-physical. The connection between intentionality and consciousness and philosophers’ changing view about their relationship is a very interesting topic that I can’t go into. 13 There is an altogether different argument proposed by Bealer 1997 that targets functionalism about mental states. Since many contemporary physicalists are functionalists this is an important argument for a physicalist to address; however, proper treatment of this very complex argument would require a separate paper. 14 Other versions of the argument can be given a similar response. See Balog 1998 for an application of this type of answer to each of the Conceivability Arguments.
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guage of physics.15 In this all physicalists agree. Chalmers argues furthermore that this necessitation must itself be a priori and that such a priori truths must be grounded in the nature of phenomenal and physical concepts. This is called the A Priori Entailment Thesis and is a powerful and quite controversial thesis. There are some interesting considerations in favor of it discussed in Chalmers 1996 (and in a number of subsequent papers by Chalmers) and Jackson 1993 and 1998, not the least of which is that the thesis links metaphysical modality and conceptual necessity in an intuitive and elegant way. The second crucial premise derives from the observation that, even for an ideal knower who possesses mental concepts, it is possible to know all the physical facts concerning the distribution of particles and fields and the fundamental laws of physics, and yet fail to know the distribution of mental/consciousness properties, e. g., fail to know that Dave is experiencing a yellow sensation at t. Chalmers argues that an ideal knower, in possession of all the relevant concepts and a complete knowledge of the physical would be, at least in principle, in a position to figure out the distribution of stars, planets, oceans, cups of coffee, animals, and so on – but not where and when consciousness is instantiated. Hence the conceivability of zombies. The third premise of the argument simply is the claim that human beings are sometimes conscious (i. e., that eliminativism about consciousness is false). It follows from these three premises that consciousness is not physical, which also means that zombies are possible. In its own way, Chalmers’ argument, like Descartes’, also proceeds from the conceivability of zombies to their possibility. Let’s state the argument more concisely. (1)
If Physicalism is true, then for any true T, statements of the form P→T are conceptual truths. (P is the complete fundamental physical description of the world including the fundamental physical laws and also a statement to the effect that it is complete).
(2)
There is some true statement Si to the effect that phenomenal conscious experience occurs (eliminativism about phenomenal experience is false).
(3)
If Si is a phenomenal statement, then ›P→Si‹ is not a conceptual truth.
So (4)
Physicalism is false.
15 This follows from the definition of physicalism stated at the beginning of the paper originating from Lewis 1983.
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The Zombie Refutation There are many responses to the Conceivability Argument; the one I will discuss here shows that the Conceivability Argument is self-undermining; with the addition of some very plausible premises one can derive a contradiction from it. My diagnosis is that that premise 1, the A Priori Entailment Thesis is false. I will argue that at least phenomenal statements (I want to remain non-committal with regard to non-phenomenal statements) are not a priori entailed by the complete physical truth about the world. This doesn’t mean that physicalism is true. Establishing that requires separate argument. However, if I am right, then the conceivability of zombies is compatible with their impossibility, and so a major argument for dualism is refuted. Suppose that Chalmers’ argument is sound. It would be true then that physical facts do not necessitate phenomenal facts. And it would follow that there is a possible world that is exactly like our world physically, but in which no phenomenal, or other, nonphysical, facts obtain. Of course, I make this assumption only for the sake of a reductio. If Physicalism is true, as I think it is, then such a world is impossible, or rather, merely conceptually possible. But my strategy is to show that the very assumption that there is such a world undermines the argument that leads to positing its existence in the first place. In the world we are imagining there exists a zombie-Chalmers, physically just like Chalmers, but not the subject of any phenomenal states. This conceptually possible zombie will formulate an argument that parallels the Conceivability Argument word by word only to reach the conclusion that Physicalism is false in the zombie-world. What are we to make of this argument? First of all, plausibly, zombie-Chalmers has intentional states. When he talks, his words are not mere meaningless sounds. Moreover, I argue that it is plausible to assume that zombie-Chalmers’ intentional states are identical with Chalmers’ intentional states except for intentional states that, in Chalmers, involve phenomenal concepts. Those of zombie-Chalmers’ intentional states that, in Chalmers, involve phenomenal concepts refer to states of affairs present in zombie-Chalmers’ world (presumably his own brain states).16 On this view, zombie-Chalmers’ argument will be just as meaningful as Chalmers’, though not quite identical to it. Although the argument is word by word identical to Chalmers’ argument, some of the words (those that express phenomenal concepts in Chalmers’ language) have different meanings in Chalmers’ and zombie-Chalmers’ mouths. I mark these words with a ›+‹. ›Pain+‹, for example, stands for a term of zombie-Chalmers that corresponds to Chalmers’ term ›pain‹. Zombie-Chalmers’ argument will go like this: (1*) If Physicalism is true, then for any true T, statements of the form P→T are conceptual truths. (P is the complete fundamental physical description of the world including the fundamental physical laws and also a statement to the effect that it is complete). 16
I argue for all this in much more detail in Balog 1999.
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(2*) There is some true statement Si+ to the effect that phenomenal+ conscious experience occurs (eliminativism about phenomenal+ experience is false). (3*) If Si is a phenomenal+ statement, then ›P→Si+‹ is not a conceptual truth. So (4*) Physicalism is false. We know, however, that the dualist conclusion of zombie-Chalmers’ argument is, by hypothesis, false in the zombie-world. Consequently, we know that zombie-Chalmers’ argument cannot be sound. Since, given that it is meaningful, it is clearly valid, one of its premises has to be false. However, because arguably each premise of zombie-Chalmers’ argument is true if the corresponding premise in Chalmers’ argument is true, one of the premises of Chalmers’ argument must be false as well.17 The Zombie Refutation also helps diagnose where things went wrong. Since the other premises are extremely plausible, the fault must lie with premise 1, the A Priori Entailment Thesis. This shows that the conceivability of zombies does not have to arise from a feature specific to phenomenal consciousness, but that, more plausibly, it arises from a certain peculiarity of our phenomenal concepts. Zombies are conceivable because our phenomenal concepts refer directly, (and not via a physical, functional, or behavioral mode of presentation). The physicalist who – like myself – accepts the conceivability of zombies – has to argue that this peculiarity, that is, referring to a property directly, is in principle perfectly compatible with the hypothesis that they pick out a physical property.18 If that is so, i. e., if phenomenal concepts refer directly to physical properties, then there is a perfect explanation of why the A Priori Entailment Thesis is inapplicable to statements involving these concepts. It is therefore imperative for physicalists to work out a – physicalist – theory of phenomenal concepts. Such a theory needs to provide a detailed and convincing account of how a purely physical concept can refer directly to a purely physical property.
The constitutional account of phenomenal concepts There is an account that attempts to do exactly that. I can only sketch the main idea here.19 I start by stating some criteria that a good physicalist theory of phenomenal concepts must satisfy.
See Balog 1999. Physicalists can be non-committal about whether phenomenal properties are complex physical properties or higher level, e. g., functional properties, realized by complex physical properties. In the rest of the paper when I talk about phenomenal concepts directly referring to »physical properties« I want the reader to understand »physical or functional properties«. 19 Balog (forthcoming) elaborates the theory in much more detail. Similar ideas are proposed in Papineau 2002 and Block (forthcoming). 17 18
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Here are the minimal desiderata for a physicalist theory of phenomenal concepts: a) explain away the conceivability of zombies; that is, explain why the conceivability of zombies, far from being incompatible with Physicalism, is to be expected from the physicalist standpoint, b) account for apparent incorrigibility – or rather infallibility – of certain judgments involving certain phenomenal concepts – e. g., my judging ›phenomenal red is occurring right now‹, c) account for the way in which we seem to know our experiences – i. e., not by inference but by immediate acquaintance, d) account for the fact that our awareness of our own occurrent experience seems to give a substantial insight into its nature. These desiderata suggest that a successful account of phenomenal concepts will have to posit a very intimate connection between conscious states and the concepts we form of them. Loar20 suggested the idea that phenomenal concepts are direct recognitional demonstrative concepts. I think he means by this that when a person is having a particular experience she can deploy a mental demonstrative to immediately demonstrate that experience and that in some way the mode of presentation associated with the demonstrative involves the experience. Loar’s suggestion is that the experience itself serves as a mode of presentation which, presumably, guides the demonstrative to the demonstrated experience. Loar doesn’t explain how this works or what exactly »mode of presentation« comes to here. My account here will try to fill in the details. The idea is that (certain) phenomenal concepts are partly constituted by the phenomenal experiences they refer to, and it is, at least in part, in virtue of being so constituted that they have the reference they have. On this view, a current phenomenal experience is literally part of the token concept currently applied to it, and the experience partly determines what the concept refers to. To be more precise, this is not a theory of phenomenal concepts in general. It is a theory of a subclass of phenomenal concepts, or certain characteristic applications of phenomenal concepts, if you will. What I have in mind is that there is a difference between phenomenal concepts that I apply to my own experience or imagination as it occurs and ones that I apply to your experiences, or to my past or future experiences. The first kind, like my concept ›this buzzing sound‹ as I listen to it, or my concept ›that shade of red‹ as I try to imagine what the sky looked like in the morning, I will call »direct phenomenal concept«. The second kind, like the concept ›pain‹ as I apply it to your tooth-ache, I’ll call »indirect phenomenal concept«. Indirect phenomenal concepts are derivative on direct phenomenal concepts. The account is then that direct phenomenal concepts are partly constituted by the experiences they refer to. If this is so then of course phenomenal concepts are direct also in the sense that they don’t have any functional, physical, etc. analyses. This explains why zombies are conceivable. If there is no analytical connection between physical and phenomenal concepts, not even via the mediation of, e. g., functional concepts then there 20
Loar 1997.
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won’t be any conceptual contradiction in the zombie scenario. In fact, the conceivability of zombies is not an embarrassing anomaly for Physicalism on this view, but rather one of the expected consequences of a physicalist theory of phenomenal concepts. The intimate connection that this theory posits between a phenomenal concept and the experience it refers to also explains the incorrigibility of certain phenomenal judgments. A token of a direct phenomenal concept will contain a token of the experience it refers to and so certain judgments involving the concept will be infallible. For example, a phenomenal concept may refer to a particular type of visual experience, say the experience typically caused by seeing a red object in ordinary light, etc. – call this type of experience reddish – by being constituted in part by a particular token of that type of experience. If I form the judgment ›This experience is reddish‹ where ›this experience‹ refers to and is partly constituted by an experience of mine that is also partly constitutive of my concept ›reddish‹ then the judgment cannot fail to be true. The constitutional account helps to explain some other puzzling features of conscious states: that our knowledge of our own conscious states (unlike of the conscious states of others) is via direct acquaintance with them, and that this acquaintance seems to provide us a special insight into the nature of these states. Take the case of perception. We know about the presence of a red object by perceiving its redness. Our perception of redness mediates our knowledge of the presence of the red object, by providing evidence for judging that a red object is present. The perception of redness and redness itself are distinct. Judging that an object is red is an indirect judgment based on the data provided by perception. Now take the case of the judgments that we form about our own phenomenal states, say the judgment that I am undergoing a reddish experience. It seems that I am immediately acquainted with this experience and my judgment is not based on anything except the experience itself. This is well accounted for by the constitutional account of phenomenal concepts. If phenomenal concepts are partly constituted by phenomenal states, our knowledge of the presence of these states (at least in our »inner« way of thinking of them) is not mediated by something distinct from these states. It is in some sense direct and not mediated by any independent evidence – rather the judgment contains its own evidence. Also, the insight such judgments afford us into the nature of conscious states is insight into what it is like to have such states. This insight is inevitable on the constitutional account. You couldn’t form the appropriate judgments unless you had the experience. Phenomenal consciousness: emergent or physical? The constitutional account of phenomenal concepts seems quite successful in explaining the puzzles surrounding phenomenal consciousness in a way that is fully compatible with Physicalism. There is nothing incoherent about the notion of phenomenal concepts
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being physical properties of the brain partly constituted by phenomenal properties that are themselves physical properties of the brain. Furthermore, this account shows why, on the assumption of Physicalism, we shouldn’t expect to have a revelatory metaphysics of consciousness. Zombies are conceivable, on this account, not because consciousness is non-physical, but because phenomenal concepts refer to them directly. For the same reason, phenomenal concepts don’t have revealing analyses, and scientific accounts of phenomenal properties will always seem puzzling. So far, so good. But the account is also compatible with dualism. Doesn’t this show that the account is actually no help for Physicalism? Not in my view, for two reasons. First, there are arguments for Physicalism that carry a lot of weight.21 This provides a dialectic in which the constitutional account helps dispelling apparent problems with a view that has independent plausibility. Second, dualism is quite implausible and metaphysically awkward in a number of related ways. First, it is in tension with the nomological/causal completeness of physics. As we have seen, the nomological/causal completeness of physics is the doctrine that all physical change can be accounted for causally and nomologically – to the extent it can be accounted for at all – without going outside the physical realm. According to this principle, the falling of a tree (which consists of motions of particles that compose the tree) at t can be accounted for entirely – to the extent it can be accounted for at time t0 – in terms of the state of the universe (or a sufficiently large part of that state) at t0 and the fundamental laws of physics. Adding other descriptions of events at t0, including mental descriptions – whether or not these are necessitated by the physical descriptions – add nothing to specifying whether the tree will fall or what the probability is of the tree falling. There is good – but not conclusive – reason to think that the causal/nomological completeness of physics is true. The fundamental physical laws really do seem to cover all physical phenomena including human neurological phenomena and bodily behavior. At least there are no cases where it is plausible that anything physical violates the fundamental physical laws.22 Even some dualists (e. g., Chalmers) seem to accept it. But if it is true then it is difficult to see what the causal role of mental properties is in the dualist ontology. There seem to be just two, equally implausible possibilities. One is that there are no horizontal laws connecting a mental property instantiation to a subsequent physical (or mental) property instantiation. This is epiphenomenalism. The other possibility is that there are horizontal laws but they are always compatible with the physical laws that connect physical states with subsequent physical property instantiations. This would involve massive causal overdetermination. Jaegwon Kim has argued forcefully against either of these possibilities.23 The first is problematic since it
Papineau 1995; Loewer 1995. For a comprehensive history of the interaction between the development of the sciences and views on the causal/nomological completeness principle see Papineau 2001. 23 Although, somewhat ironically, in his recent book Physicalism or Something Near Enough Kim seems to end up with a kind of epiphenomenalist dualist view since he claims that phenomenal properties are not ontologically reducible to physical properties and that physics is causally complete. Given 21 22
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is difficult to see how we can know anything about the instantiation of properties that have no effects24, but more worrisome, it just seems crazy to think that all our mental states have no physical effects. Massive overdetermination also seems enormously implausible. Why would God have made all the horizontal laws connecting the mental with the physical if in fact they make no difference to what happens (and would make no difference in any physically possible world)? A second, and related problem is that, on both varieties of dualism, it is metaphysically, though probably not nomologically possible for phenomenal properties to be completely separated from physical action. Pain, e. g., might systematically result in »inappropriate« action, say, instead of avoidance it might result in behavior that seeks out pain; or, alternately, there might be no systematic connection between phenomenal experiences and action at all. Random and inappropriate phenomenal experiences might be paired up with unrelated actions and lives. If the mental and the physical are radically distinct then it must be possible for them to interact in all manners of ways, including unusual, »senseless«, »weird« ways. It is not clear that these »weird« scenarios are even coherent. Furthermore, the possible weirdness doesn’t even stop at phenomenal experiences getting disconnected from action. According to dualism, there are metaphysically possible worlds, e. g., in which phenomenal properties are connected by law not with biological organisms but inanimate objects of various sizes. So on the dualist view my car might be conscious or Mount Everest might. Third, Emergent Property Dualism has to account for why psycho-physical correlations occur even though phenomenal properties are not metaphysically determined by the physical; to explain those correlations nomological relations are posited. But the kind of laws, both vertical and horizontal, that Emergent Property Dualism posits are found nowhere else in nature. The relationship between configurations of physical entities and properties and, for example, geological and biological phenomena are not like vertical laws at all. Certain configurations of physical entities and properties literally constitute or realize geological and biological phenomena. There is no need for an »extra« law to connect the two. This doesn’t mean that biological properties are identical to physical properties. The reason is that certain biological properties are multiply realizable, not only by various physical configurations, but by configurations of ontologies that are different from the actual physical ontology and that satisfy laws that are different from the actual laws of physics. Underlying this is the widely accepted view that biological properties are individuated in terms of their causal/nomological relations. A possible entity that looks, walks, etc. like a duck may not be a duck (if it lacks the DNA of a duck) but it is plausibly alive in virtue of instantiating the causal/nomological profile that individuates living creatures.
that he has so strongly opposed causal overdetermination it appears that he considers phenomenal properties epiphenomenal. 24 One might argue that a person is acquainted with her phenomenal states and that this relation is not a causal one. But this seems to just put a label on the mystery.
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Dualism, on the other hand, posits genuine laws connecting physical and phenomenal property instantiations. There are two ways the dualist can think of these laws. Depending on whether a dualist thinks of conscious properties as primitive, or as being realized by complexes of proto-conscious properties, different, but equally damaging difficulties arise. If the dualist holds that conscious properties are primitive then she will have to posit laws that connect enormously complex physical properties with simple phenomenal properties, like the sensation of a particular shade of red. She will have to posit not just a few, but a whole multitude of such fundamental laws, corresponding to each primitive conscious property. These laws are different from any laws of nature we know from science. This doesn’t show that the theory is false, only that it is implausible. She might think, on the other hand, that conscious properties are not primitive but are realized by complexes of proto-conscious properties. In this case the laws would connect complex properties with complex properties; so no implausibility on this count. However, in this case the dualist owes us an account of how exactly proto-conscious properties combine to produce the familiar conscious properties. The nature of these complex properties is entirely obscure and it doesn’t seem likely that there is a realization theory in the offing to clear up the mystery. The situation, mutatis mutandis, is very similar concerning the horizontal, diachronical laws interactionist dualists posit to connect mental and physical property instantiations at different times. Fourth, although modern day dualists focus their attention solely on the possibility of worlds exactly like ours physically, but lacking any phenomenal properties instantiated, and not on the converse, that is, the possibility of worlds exactly like ours phenomenally, but lacking in any physical properties instantiated, it appears that a dualist would have to condone the existence of purely phenomenal worlds.25 It is barely intelligible what a world like that would be like. A final note. The constitutional account, as I said, is compatible with dualism. As a matter of fact, there is a dualist version of it proposed by David Chalmers.26 However, there are serious problems that a dualist version of the constitutional account faces. Chalmers summarizes the view like this: »In particular, I will take it that… the content of a phenomenal concept and a corresponding phenomenal belief, is partly constituted by an underlying phenomenal quality, in that the content will mirror the quality (picking out instances of the quality in all epistemic possibilities.« (p. 14) Several questions arise. What is the constitution relation in the dualist framework and how does that relation succeed in determining reference? Chalmers treats constitution as in no need of explanation except in so far as whatever it is a phenomenal concept succeeds in picking out in every (conceptually) possible world is the experience type the constituent experience is a token of. But any token experience falls under several experience types: e. g., experience of red, experience of dark red, of red 218, etc. What determines which experience type a given phenomenal concept refers to? It is also difficult to understand how something non-physical can be partly constitutive of something else – the phenomenal 25 26
Descartes actually did in the Meditations (cf. Cottingham, et. al 1984). Chalmers 2003.
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concept – that, presumably, will be involved in causal transactions via the judgments that contain them. So, while the constitutional account is compatible with dualism, dualism is quite unattractive on its own, and the chief reasons people end up embracing dualism in the first place are the very ones the constitutional account helps disarming. All this points to the conclusion that the radical ontological novelty of conscious phenomena is an illusion. What is novel in the evolution of minds is our first person phenomenal concepts, but the novelty here is not ontological. There are no novel properties and laws involved in our mental lives – the familiar physical entities, properties, and laws will do. With the constitutional account we have an explanation of why, even though conscious phenomena are physical, we have an almost irresistible tendency to treat them as ontologically novel relative to the physical. But with the constitutional account we also have a reason to resist this tendency.
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KOLLOQUIUM 2 Kreativität und Logik – Kreativität der Generierung formaler Strukturen
Klaus Oehler Einführung Gottfried Gabriel Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität Volker Peckhaus Die Aktualität der Logik als Organon Helmut Pape Wann ist eine formale Logik kreativ? Peirces graphische Logik als Beispiel
Einführung Klaus Oehler (Hamburg)
Das Wort ›Kreativität‹ wird heute umgangssprachlich zur Bezeichnung eines psychologisch aufgefaßten Phänomens verwendet, nämlich für die Fähigkeit, Neues, das heißt bisher Unbekanntes zu erfassen und möglicherweise in künstlerische oder technische Hervorbringungen zu übertragen. Das vordergründig psychologische Phänomen hat aber tiefer liegende Hintergründe, die sich nicht auf individuell variabel verteilte dispositionelle Merkmale reduzieren lassen. Diese tieferen Hintergründe erfordern über die psychologische Kreativitätsforschung hinaus andere methodische Verfahren, die philosophisch analytisch und erkenntniskritisch angelegt sein müssen, um der Sache angemessen zu sein, um die es geht. Ein Hinweis auf den Eigencharakter dessen, was wir umgangssprachlich vage meinen, wenn wir von Kreativität sprechen, ist der historische Tatbestand, daß die Theorie der Erkenntnis in Antike, Mittelalter und Neuzeit auffällig konsequent zwei Grundformen des intelligenten Umgangs mit der Welt unterscheidet: Intuition und Diskursivität, Vernunft und Verstand, Evidenz und Kritik, Vertrautheit und Kontrolle. Dieses Komplementärverhältnis begegnet auch in der modernen Wissenschaftstheorie, beispielsweise in der Unterscheidung Hans Reichenbachs zwischen der Rechtfertigung von Theorien und der Entdeckung von Theorien. Aber alle diese uns in der Geschichte des Denkens begegnenden Ansätze einer Beantwortung der Frage »Was ist Kreativität?« sind nicht mehr als Fragmente. Erst die Arbeit an der Frage nach dem systematischen Ort einer philosophischen Theorie der Kreativität läßt hoffen, einen Blick werfen zu können in die Werkstatt des Geistes, aus der das Neue kommt – wenn es denn wirklich neu ist. Das Thema ist umfassender als es einem psychologischen Mißverständnis erscheint. Die Kreativität menschlicher Akte zu verstehen bedeutet mehr als diese kreativen Akte selbst zu verstehen. Verstehen bis auf den Grund wird sie am Ende nur der, der eine Welt verständlich machen kann, in der Kreativität überhaupt möglich ist. Hier scheinen von Ferne die kosmologischen, ontologischen und theologischen Aspekte des Themas der Kreativität auf, von denen für die Denker dieses Themas von jeher eine besondere Faszination und Versuchung ausging. Wir hier im Kolloquium 2 des Kongresses werden uns auf die logischen Aspekte konzentrieren, die sich am besten an kognitiven Prozessen aufweisen lassen, ohne daß damit anderen Annäherungsarten an das Thema die Relevanz abgesprochen werden soll. Das wäre angesichts der Ungeklärtheit des Phänomens vermessen. Aber es besteht doch die Hoffnung, daß viele der heute noch im Bereich des Vorlogischen und Vorprädikativen verharrenden Sachverhalte ebenso logisch zugänglich gemacht werden können, wie das heute schon beispielsweise für die Logik inkonsistenter Zustände gilt.
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Kolloquium 1 · Klaus Oehler
Auf dem Weg zu einer Logik der Kreativität stellt sich unvermeidlich die Frage nach der Kreativität der Logik, womit sich der Vortrag von Gottfried Gabriel, Universität Jena, beschäftigen wird. Im Anschluß daran wird sich der Vortrag von Volker Peckhaus, Universität Paderborn, mit der Logik als Organon befassen, ein Thema, das die Logik schon bald nach ihrer Begründung durch Aristoteles dauerhaft bis heute begleitet. Aristoteles selbst gibt uns keine direkte Auskunft darüber, als was er seine Logik, die er Analytik nennt, verstanden hat: ob nur als Organon für dialektische Untersuchungen und für Übungsgespräche und für die Methodik der Einzelwissenschaften oder aber selbst als eine Wissenschaft, nämlich als eine Theorie des Syllogismus, die einen Zweck in sich selbst hat, den Zweck, der in der Darstellung bestimmter Beziehungen bestimmter Aussageformen besteht. Wahrscheinlich liegt eine Entwicklung im Selbstverständnis der Aristotelischen Logik von der früheren zur späteren Auffassung von Logik vor, von der Topik zu den Analytika Priora, wie das Ernst Kapp gezeigt hat. Den Abschluß des Kolloquiums 2 bildet der Vortrag von Helmut Pape, Universität Bamberg, der die Frage danach, wann eine formale Logik kreativ ist, am Beispiel von Peirce’ Theorem der Existential Graphs behandelt. Helmut Pape kommt das Verdienst zu, schon im Jahre 1987 für den 5. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) in Essen, der auch unter dem Thema ›Kreativität‹ stand, eine Sektion organisiert zu haben, deren Vorträge 1984 im Suhrkamp-Verlag von ihm unter dem Titel ›Kreativität und Logik‹ publiziert worden sind, ein Band von unüberholter Aktualität, was der gegenwärtige Berliner Kongreß im Jahre 2005 eindrucksvoll bestätigt.
Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität Gottfried Gabriel (Jena)
Das Thema unseres Kolloquiums lautet: »Kreativität und Logik – Kreativität der Generierung formaler Strukturen.« Der Titel meines Vortrages nennt zwei Möglichkeiten, dieses Thema zu erörtern. Wir können erstens fragen, wieweit die formalen Strukturen der Logik selbst kreativ sind, und zweitens, ob es formale Strukturen der Kreativität gibt. Ich werde mich vornehmlich auf das erste Thema konzentrieren, beginne aber mit einer kurzen Einschätzung zum zweiten Thema. Die traditionelle Logik wird – beeinflußt durch Kant – häufig in Elementarlehre und Methodenlehre eingeteilt, die Elementarlehre wiederum in Begriffslehre, Urteilslehre und Schlußlehre. Während in Kants Logik, jedenfalls in der von B. Jäsche veröffentlichten Form, die Elementarlehre den Hauptteil ausmacht und die Methodenlehre nur sehr kurz behandelt wird, verschiebt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts (vgl. insbesondere die Logiken von C. Sigwart und W. Wundt) das Gewicht von der Elementarlehre auf die Methodenlehre. Damit erhält auch die Heuristik als methodische Anleitung wissenschaftlicher Kreativität ein größeres Gewicht. In auffälligem Kontrast dazu steht die Entwicklung der modernen Logik und Wissenschaftstheorie. Bei dem Logiker Frege ist von Heuristik überhaupt nicht die Rede, und der Wissenschaftstheoretiker Popper erklärt sogar dezidiert: An der Frage, wie es vor sich geht, daß jemandem etwas Neues einfällt […], hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik. Diese interessiert sich nicht für Tatsachenfragen (Kant: »quid facti«), sondern nur für Geltungsfragen (»quid iuris«) – das heißt für Fragen von der Art: ob und wie ein Satz begründet werden kann […].1 Worauf Popper hier anspielt, ist die Kantische Unterscheidung zwischen Genese und Geltung einer Erkenntnis, die Reichenbach in die Unterscheidung zwischen Entdekkungs- und Begründungszusammenhang übersetzt hat.2 So wichtig und richtig diese Unterscheidung ist, sie liefert keine echte Alternative des Entweder–Oder. Man kann zusätzlich danach fragen, wie man es anzustellen hat, daß einem »etwas Neues einfällt«. Diese Frage zu beantworten, ist Sache einer empirisch-psychologisch gestützten Heuristik als normativer Kunstlehre des Denkens. Ob diese als eine Logik der Kreativität möglich ist, dürfte allerdings fraglich sein. Jedenfalls, wenn man sie sich als ein Regelwerk oder gar als einen Kalkül vorstellt, dessen Anwendung dazu führt, Neues gewisKarl R. Popper: Logik der Forschung, 7. Aufl., Tübingen 1982, S. 6. Vgl. ausführlich zur Diskussion dieser Unterscheidung Lutz Danneberg: Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989. 1
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Kolloquium 2 · Gottfried Gabriel
sermaßen automatisch zu entdecken oder zu erfinden. Selbst Leibniz, der einer solchen Idee mit seiner kombinatorischen Logik noch am nächsten steht, verlangt zusätzlich einen »Faden« (der Ariadne), der uns durch das »Labyrinth« der Kombinationsmöglichkeiten führt und uns nutzlose Kombinationen auszuscheiden erlaubt.3 Immerhin möchte es sinnvoll sein, eine Topik der Kreativität an Hand wissenschaftshistorischer Beispiele zu entwickeln, die Gesichtspunkte zusammenstellt, die zu beachten für das Entdecken oder Erfinden nützlich sind. Anders als Popper und viele Wissenschaftstheoretiker sowie auch kreative Wissenschaftler – im Einstein-Jahr verdient insbesondere Einstein hervorgehoben zu werden4 – haben Autoren der Tradition an der Möglichkeit einer Logik des Findens weniger gezweifelt. Ganz im Gegenteil haben sie eine ars inveniendi (in Unterscheidung zur ars iudicandi) gefordert, meistens allerdings gleichzeitig bestritten, daß die traditionelle Logik als eine solche fungieren könne. Damit ist der zweite Punkt in der Überschrift meines Beitrages angesprochen: die Frage der Kreativität der Logik. Mit diesem Thema möchte ich mich nun beschäftigen, und zwar mit Blick auf die Schlußlehre (Syllogistik) und die Begriffslehre (Definitionslehre). Dabei greife ich exemplarisch auf Argumente Kants und Freges zurück. In der Auffassung, daß die Syllogistik nicht geeignet sei, Neues zu entdecken, waren sich Rationalisten wie Descartes und Empiristen wie Locke ganz einig. Ausgewogener urteilt hier bereits Leibniz. Insbesondere der traditionelle Schlußmodus Barbara, nach dem z. B. aus den Prämissen ›Alle Menschen sind sterblich‹ und ›Sokrates ist ein Mensch‹ geschlossen wird, daß Sokrates sterblich ist, hat den Spott der Philosophen und Wissenschaftler stellvertretend für die gesamte Syllogistik über sich ergehen lassen müssen und den guten Sokrates wenigstens auf diese Weise ›unsterblich‹ gemacht. Drastisch kommentiert G. W. F. Hegel in einer Bemerkung aus der Jenaer Zeit: Zur historischen Logik. Es wird versichert, daß wir urteilen: das Gold ist gelb. Diese Versicherung ist wahrscheinlich. Aber nicht eben so wahrscheinlich ist, daß wir schließen: alle Menschen sind sterblich: Cajus ist ein Mensch, also ist er sterblich. Ich wenigstens habe nie so plattes Zeug gedacht. Es soll im Innern vorgehen, ohne daß wir Bewußtsein darüber haben. Freilich, im Innern geht viel vor, z. B. Harnbereitung und ein noch Schlimmeres, aber wenn es äußerlich wird, halten wir die Nase zu. Eben so bei solchem Schließen.5 Der Standardeinwand gegen den Modus Barbara besagt (mit Bezug auf unser Beispiel), daß die erste Prämisse dieses Schlusses, nämlich die Allaussage ›Alle Menschen sind
3 Gottfried Wilhelm Leibniz: De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et iudicandi (Über die universale Synthese und Analyse oder über die Kunst des Auffindens und Beurteilens), in: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaften (= Philosophische Schriften, Bd. 4), hg. v. H. Herring, Darmstadt 1992, S. 131–151, besonders S. 148 ff. 4 Vgl. den Hinweis bei Popper: a. a. O., S. 7, Anm. 1. 5 Karl Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck Darmstadt 1977, S. 538.
Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität
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sterblich‹, bereits die Konklusion, nämlich die singuläre Aussage ›Sokrates ist sterblich‹, enthalte, weil mit der Sterblichkeit aller Menschen auch die Sterblichkeit des Sokrates ausgesagt sei. Zur Verteidigung ist (im Popperschen Sinne) anzumerken: Der Einwand setzt voraus, daß die Allaussage durch Überprüfung sämtlicher Einzelfälle verifiziert worden ist. Eine solche Verifikation ist aber nur in einem abgeschlossenen endlichen Bereich möglich, schließt also insbesondere keine zukünftigen Fälle ein. Die Trivialität liegt also nicht am Schlußmodus, sondern allenfalls am Beispiel; denn daß Sokrates sterblich ist, das wußten wir freilich bereits vorher. Übersehen wird in der Kritik die Rolle des Modus Barbara bei der Falsifikation von Allaussagen durch Gegenbeispiele, indem von der Falschheit der Konklusion und der Wahrheit des Untersatzes (nach Modus tollens) auf die Falschheit des Obersatzes geschlossen wird. Richtig ist, daß in einem formalen Schluß die Konklusion semantisch lediglich eine ›Verdünnung‹ des Inhalts der Prämissen darstellt. Dies gilt nicht nur für die Syllogistik, sondern auch für die moderne Junktoren- und Quantorenlogik. Insofern kann nur ein Inhalt herauskommen, der schon in den Prämissen enthalten ist. Epistemisch kann dieser Inhalt aber durchaus neu sein, sofern er für das erkennende Subjekt nicht offen zutage liegt. Der Erkenntniswert der Schlüsse besteht darin, aus den Prämissen herauszuholen, was in diesen implizit enthalten ist. Die Schlüsse machen den impliziten Inhalt explizit. Ihre Kreativität ist nicht materialer, sondern formaler Art. Wäre sie materialer Art, so wären die Schlüsse gar nicht korrekt. Mit Frege läßt sich der kognitive semantische Gehalt (»begriffliche Inhalt«) von Sätzen geradezu als die Menge der möglichen logischen Folgerungen aus diesen Sätzen bestimmen.6 Ähnlich sieht dies – für die traditionelle Logik und deren eingeschränkte Möglichkeiten der Begriffsbildung – auch bereits Kant. Auf den ersten Blick scheint sich Kant freilich den Autoren anzuschließen, welche die formale Logik für unfruchtbar halten. Bestreitet er ihr doch den Status als »Organon der Wissenschaften« und betont, daß sie lediglich als »Kanon« fungieren könne.7 Ein genauerer Blick zeigt jedoch, daß Kant nur darauf abhebt, daß die Schlüsse der formalen Logik eben formal zu sein haben und aus sich heraus keine Inhalte hervorbringen können, diese ihr vielmehr vorgegeben werden müssen. Dabei wird aber nicht ausgeschlossen, daß sie aus vorgegebenen Inhalten Erkenntnisse gewinnen lassen. Der Hintergrund von Kants Klarstellung ist keine Beschränkung der Leistung der formalen Logik, sondern eine Kritik an der traditionellen Metaphysik, die
6 Vgl. Gottlob Frege: Begriffsschrift, Halle 1879, § 3. Dieser Gedanke liegt auch dem Inferentialismus Robert B. Brandoms zu Grunde: Making It Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge MA 1994, S. 107 ff. 7 Immanuel Kant: Logik, in: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 9, S. 1–150, S. 13, 16. In seinem Eröffnungsvortrag hat sich Günter Abel dagegen ausgesprochen, Kreativität auf die Explizitmachung des Impliziten zu reduzieren. Damit bin ich ganz einverstanden, möchte aber betonen, daß auch die Explizitmachung eine Art von Kreativität darstellt, nämlich eine interne Kreativität, die sich im Rahmen vorgegebener Regeln vollzieht. Die von Abel angeführte »radikale Kreativität« ist dagegen externer Art. Sie besteht darin, den vorgegebenen Rahmen der Regeln zu verlassen und ganz neue Kategorien zu etablieren. Man könnte daher von kategorialer Kreativität sprechen. Vgl. den Schluß meines Beitrages.
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Kolloquium 2 · Gottfried Gabriel
vermeint, die logische Schlußlehre zur Gewinnung synthetisch-apriorischer Erkenntnis einsetzen zu können, indem sie regressiv vom Bedingten zum Bedingenden aufsteigend schließt, daß »die Reihe der Bedingungen« einen Abschluß habe.8 Worum es Kant also geht, ist nicht, der Logik ihren Erkenntniswert zu bestreiten, sondern den Gebrauch der Logik als Organon der Metaphysik zurückzuweisen. Dem explikativen Verständnis logischer Schlüsse entspricht Kants Auffassung der analytischen Urteile. Die Charakterisierung, daß diese unsere Erkenntnis nicht erweitern, darf man nicht so mißverstehen, als seien analytische Urteile damit in jedem Falle trivial. Verneint wird nur die materiale oder inhaltliche Erweiterung. Kant selbst betont die Wichtigkeit analytischer Urteile in seinen »Vorlesungen über die Metaphysik«, wo er insbesondere ihre zentrale Stellung in der Philosophie hervorhebt und sogar hinzufügt: »Die ganze Moral besteht fast aus lauter analytischen Urteilen.«9 In der Kritik der reinen Vernunft heißt es: Ein großer Theil und vielleicht der größte von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur aus einander setzen.10 Kant unterstreicht, daß »dieses Verfahren […] eine wirkliche Erkenntniß a priori giebt«. Demgemäß können analytische Urteile unsere Erkenntnis zwar nicht material, wohl aber formal (»der Form nach«) erweitern.11 Die adäquate Analyse eines Begriffs, die darin besteht, undeutliche (verworrene) Begriffe in deutliche zu überführen, kann ein sehr schwieriges und auch lohnendes Unternehmen sein. Die Frage nach dem Erkenntniswert analytischer Urteile führt wegen des Zusammenhangs zwischen analytischen Urteilen und Definitionen auf die Frage nach dem Erkenntniswert von Definitionen. Auf den ersten Blick scheint es paradox zu sein, Definitionen einen Erkenntniswert zusprechen zu wollen, soll doch mit der Forderung nach Eliminierbarkeit von Definitionen deren Kreativität gerade ausgeschlossen werden. Die Forderung der Eliminierbarkeit (für explizite Definitionen) besagt, daß ein in einer bestimmten Theorie durch Definition eingeführtes neues Zeichen (das Definiendum) in allen Sätzen dieser Theorie durch die Zeichenverbindung, für die es eingeführt wor-
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 388, in: Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 256. Immanuel Kant: Vorlesungen über die Metaphysik, Erfurt 1821. Reprographischer Nachdruck, Darmstadt 1988, S. 25. 10 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 9, a. a. O., S. 32 f. 11 Vgl. auch Kant: Logik, § 36, Anm., a. a. O., S. 111: »Die synthetischen Sätze vermehren das Erkenntniß materialiter, die analytischen bloß formaliter.« 8 9
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den ist (das Definiens), ersetzbar sein muß. Diese Forderung soll verhindern, daß durch Definitionen neue Inhalte erschlichen werden, die weder in den Grundbegriffen noch in den Axiomen der Theorie enthalten sind. Es geht also auch hier um den Ausschluß materialer Kreativität. Die durch die Forderung der Eliminierbarkeit gesicherte materiale Nicht-Kreativität von Definitionen wird häufig mit der Willkürlichkeitsthese gleichgesetzt, der These nämlich, daß Definitionen willkürliche Festsetzungen des Gebrauchs von Zeichen sind bzw. sein sollten, die lediglich der Abkürzung dienen und keinerlei Erkenntniswert haben. Diese Willkürlichkeitsthese, die ihre Vorläufer in Hobbes und Pascal hat, ist insbesondere in der modernen, an formalen Systemen orientierten Wissenschaftstheorie vertreten worden. Ich halte sie im Kern für verfehlt.12 Gewiß kommt es auch vor, daß ein willkürlich gewähltes Zeichen als Abkürzung für ein komplexeres Zeichen eingeführt wird, dies ist aber keineswegs der Normalfall einer expliziten Definition. Betrachten wir als Beispiel den Kalkül der Aussagenlogik. Die Möglichkeit, die einzelnen Junktoren (mit Hilfe des Negators) kreuzweise durcheinander definieren zu können, stellt eine tiefe logische Einsicht dar und die entsprechenden Definitionen sind allenfalls insofern willkürliche Festsetzungen, als die Wahl der Symbole willkürlich – nämlich konventionell – ist. Für die jeweiligen Gleichsetzungen der Bedeutungen gilt dies aber nicht. So ist die Wahl des Zeichens ›→‹ für das ›wenn – so‹ (die Subjunktion, materiale Implikation), des Zeichens ›∨‹ für das nicht-ausschließende ›oder‹ (die Adjunktion) und des Zeichens ›¬‹ für das ›nicht‹ (die Negation) willkürlich. Die Definition ›p→q =Df ¬p∨q‹ erfüllt die Bedingung der Eliminierbarkeit, sie ist aber keineswegs eine bloß willkürliche Festsetzung, sondern eine (wegen ihrer Extensionalität sogar umstrittene) Explikation des Gebrauchs des ›wenn – so‹, die uns eine Einsicht in die logische Tiefenstruktur unserer Sprache zu vermitteln versucht und als solche – anders als eine willkürliche Festsetzung – Adäquatheitskriterien zu erfüllen hat. Willkürlich sind solche Definitionen nur, solange wir künstlich so tun, als ob wir es mit bloßen Zeichen in formalen Sprachen zu tun haben. Sobald wir diesen Zeichen eine Bedeutung zuordnen, und ohne eine solche Zuordnung sind die formalen Sprachen ohne Relevanz, kann von einer Willkürlichkeit der Definitionen nicht mehr die Rede sein. Tatsächlich ist es ja auch keineswegs so, daß formale Sprachen ›willkürlich‹ aufgebaut werden, vielmehr wird bei deren Darstellung immer schon nach möglichen Interpretationen ›geschielt‹.13 Anders gesagt: Eine Trennung von Syntax und Semantik ist allenfalls arbeitsteilig, aber nicht prinzipiell möglich.
Vgl. Gottfried Gabriel: Definitionen und Interessen. Über die praktischen Grundlagen der Definitionslehre, Stuttgart–Bad Cannstatt 1972. 13 Einen guten Beleg hierfür liefern Russells Ausführungen zur Rolle der Definitionen in: Alfred N. Whitehead/Bertrand Russell: Principia Mathematica, 2. Aufl., Cambridge 1927, Bd. 1, S. 11 f. Einerseits heißt es dort, Definitionen seien »strictly speaking, mere typographical conveniences« and »theoretically superfluous« (S. 11), andererseits wird zugestanden, daß sie oft wichtigere Informationen vermitteln als die Sätze (propositions), in denen sie verwendet werden. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn das Definiendum ein Alltagsbegriff (common idea) ist (S. 12). 12
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Verräterisch ist hier bereits die Terminologie. So heißt der abkürzende Ausdruck ›Definiendum‹ und der abgekürzte Ausdruck ›Definiens‹. Dabei besagt ›Definiendum‹ aber ›das zu Definierende‹ und ›Definiens‹ ›das Definierende‹. Dieser Sprachgebrauch entspricht dem tatsächlichen Vorgehen beim Aufstellen von Definitionen, indem das zu Definierende definiert wird, das Definiendum also vorgegebener Ausgangspunkt der Definition ist. Meistens wird nämlich gar nicht ein ›neues‹ Zeichen abkürzend für eine bereits bekannte Zeichenverbindung eingeführt, sondern es wird eher umgekehrt die Bedeutung eines bereits bekannten Zeichens bestimmt, um es in der bestimmten Weise zu verwenden. Das tatsächliche Vorgehen wird mitunter dadurch kaschiert, daß das Definiendum auch ›Definitum‹ genannt wird. Wenn wir von sogenannten lexikalischen Definitionen absehen, bei denen es sich um empirische Feststellungen (Behauptungen) über faktische Sprachgebräuche handelt, sind Definitionen Festsetzungen von Wortgebräuchen unter Berücksichtigung bestehender Wortgebräuche. Sie nehmen insofern eine Mittelstellung zwischen Feststellungen und Festsetzungen von Zeichen- bzw. Wortverwendungen ein. Eine definitorische Festsetzung ist normalerweise nicht bloß als Festlegung eines privaten Sprachgebrauchs gemeint, sondern sie wird anderen Sprechern mit mehr oder weniger großem Nachdruck vorgeschlagen, nahegelegt, zugemutet oder gar vorgeschrieben. Sprechakttheoretisch betrachtet können Definitionen also in unterschiedlichen illokutionären Rollen auftreten. Die Möglichkeiten reichen von Selbstverpflichtungen eines Sprechers (oder Autors), einen Ausdruck stets im genannten Sinne zu verwenden, über Wortgebrauchsvorschläge für andere bis zu normativen Festsetzungen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit für alle. Im Spiel ist dabei insofern ein willentliches Moment, als normalerweise nicht alle Bedeutungsnuancen Berücksichtigung finden, sondern einige mit Blick auf den jeweiligen konkreten Zweck eliminiert und andere hervorgehoben werden. Definitionen verändern einen bestehenden Wortgebrauch, indem sie ihn ›zurechtrücken‹. Relevante Definitionen sind somit nicht bloß sprachliche Abkürzungen, sondern rekonstruktive Explikationen mit hermeneutischem Anspruch. Sie stehen insofern in der Tradition nominaler Wesensdefinitionen. Als solche beantworten sie nicht (wie Realdefinitionen) Fragen der Art, was die Sache A ihrem Wesen nach sei, sondern Fragen der Art, wie der Ausdruck ›A‹ angemessen zu verwenden sei. Die Forderung nach NichtKreativität von Definitionen darf also nicht im Sinne der Willkürlichkeitsthese verstanden werden, der zufolge Definitionen keinen Erkenntniswert haben. Definitionen in formalen Systemen dürfen nicht material kreativ sein, sie können aber formal kreativ sein, indem sie eine Neustrukturierung bestehender Inhalte vornehmen. Dies geschieht bereits in der Zusammenstellung des Definiens, in der Begriffsbildung. Verdeutlichen läßt sich dies an Freges Auffassung. Frege bestreitet entschieden die materiale Kreativität, die »schöpferische Kraft« von Definitionen und meint, daß in ihnen »weiter nichts geschieht, als dass etwas abgrenzend hervorgehoben und mit einem Namen bezeichnet wird«.14 Dabei könnte die for-
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Gottlob Frege: Grundgesetze der Arithmetik, Bd. 1, Jena 1893, S. XIII.
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male kreative Leistung im Aufstellen von Definitionen leicht übersehen werden.15 Sie besteht darin zu erkennen, was sich lohnt, »abgrenzend hervorgehoben« zu werden. Das beste Beispiel für diese Kreativität sind Freges eigene Definitionen der Anzahlen. Für diese nimmt er daher auch in Anspruch, daß sie zu den »fruchtbareren Begriffsbestimmungen« gehören, die Grenzlinien ziehen, »die noch gar nicht gegeben waren«: »Was sich aus ihnen schliessen lasse, ist nicht von vornherein zu übersehen; man holt dabei nicht einfach aus dem Kasten wieder heraus, was man hineingelegt hatte«.16 Genaugenommen müßte man wohl sagen, daß man das, was man in den Kasten gelegt hat, in ganz neuen Verbindungen wieder herausholt. Frege selbst greift hier zur Erläuterung des Unterschieds zwischen materialer und formaler Kreativität (interessanterweise) auf den Organismus-Gedanken zurück, indem er von den möglichen Folgerungen aus seinen Definitionen sagt: »Sie sind in der That in den Definitionen enthalten, aber wie die Pflanze im Samen, nicht wie der Balken im Hause.«17 Ein wesentlicher Grund für die Fruchtbarkeit von Freges Definitionen ist die Ersetzung der Subjekt / Prädikat-Struktur durch die Argument / Funktions-Struktur, die es durch die Verschränkung von Quantoren und Junktoren in der Begriffsbildung ermöglicht, über eine bloß konjunktive oder adjunktive Kombination von Merkmalen hinauszugehen.18 Nach diesem Ausflug in die Begriffs- bzw. Definitionslehre komme ich noch einmal auf die Schlußlehre zurück. Der Standardeinwand, daß die formale Schlußlehre unfruchtbar sei, scheint davon auszugehen, daß man von dieser ausschließlich einen progressiven Gebrauch (des Übergangs vom Allgemeinen zum Besonderen) machen könne. So dient nach Descartes die Syllogistik lediglich dazu, anderen zu erklären, was man selbst bereits wisse.19 Neues zu finden, sei sie dagegen ungeeignet. Descartes propagiert deshalb bekanntlich die regressiv vorgehende analytische Methode als Methode der Invention. Es sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, daß auch von der Schlußlehre der formalen Logik ein regressiver Gebrauch gemacht werden kann. Zur Erinnerung: Die progressive Methode steigt von den vorgegebenen Bedingungen (den Prämissen) zum Bedingten (der Konklusion) ab. Die regressive Methode verfährt genau umgekehrt. Sie steigt von den besonderen bzw. zusammengesetzten Inhalten zu den allgemeinen bzw. einfachen Grundsätzen auf. Sie sucht zum vorgegebenen Bedingten die Bedingungen.20 Kants zuvor angeführte Kritik am metaphysischen Gebrauch der regressiven Methode
15 Vgl. auch hier das Zugeständnis von Russell: a. a. O., S. 11: »a definition usually implies that the definiens is worthy of careful consideration«. 16 Gottlob Frege: Grundlagen der Arithmetik, Breslau 1884, § 88. 17 Ebd. 18 Dessen war sich Frege auch bewußt, der in diesem Zusammenhang davon spricht, daß Kant lediglich Begriffsbildungen »durch beigeordnete Merkmale« kenne. 19 René Descartes: Discours de la Méthode, II. Teil, 6. Abschn., in: Œuvres, hg. v. C. Adam und P. Tannery, Bd. 6, Paris 1902, S. 17 f. 20 Vgl. Volker Peckhaus: Regressive Analysis, in: Uwe Meixner/Albert Newen (Hg.): Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 5, Paderborn 2002, S. 97–110.
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betrifft natürlich nicht die Methode selbst, sondern deren Mißbrauch, einen synthetisch-apriorischen Abschluß in der Reihe der Bedingungen zu hypostasieren. Im regressiven Gebrauch kommt der formalen Schlußlehre durchaus eine inventive Funktion zu; und dieser Gebrauch findet sich bereits in der Aristotelischen Logik ausgebildet.21 Hier kommt er zum Tragen, indem man einen Satz gegenüber einem Dialogpartner dadurch zur Anerkennung zu bringen sucht, daß man andere (vom Dialogpartner als wahr anerkannte) Sätze ausfindig macht, aus denen der in Frage stehende Satz folgt. Der regressive Gebrauch ist insofern inventiv, als er auf das Finden möglicher Urteilsgründe aus ist. Es geht nicht um das Finden neuer Inhalte, sondern neuer Beweise – für gegebenenfalls alte Inhalte. Die wissenschaftstheoretische Bedeutung dieses Gedankens hat Frege besonders hervorgehoben. Frege dient die formale Logik im wesentlichen dazu, »die Bündigkeit einer Schlußkette auf die sicherste Weise zu prüfen«.22 Besonders im Blick hat er dabei Beweise in der Arithmetik. Dabei geht es ihm nicht um neue, als vielmehr um altbekannte Wahrheiten, die niemand ernsthaft bezweifeln wird. Was ist dann aber der Erkenntniswert einer solchen Prüfung? Der Beweis hat eben nicht nur den Zweck, die Wahrheit eines Satzes über jeden Zweifel zu erheben, sondern auch den, eine Einsicht in die Abhängigkeit der Wahrheiten von einander zu gewähren.23 Damit widerspricht Frege der an der Logik des Findens orientierten Auffassung, die Fruchtbarkeit der Logik danach zu bemessen, wie weit sie es ermögliche, neue Inhalte zu entdecken. Dezidiert erklärt er für sein Vorgehen (in den »Grundgesetzen der Arithmetik«): »Hier ist das Neue nicht der Inhalt des Satzes, sondern wie der Beweis geführt wird, auf welche Grundlagen er sich stützt.«24 Frege folgt nicht dem Erkenntnisinteresse ›positiver‹ Wissenschaften, sondern demjenigen der Philosophie. Was ihn interessiert, ist die Frage, ob und wie bestimmte Sätze (Urteile) aus bestimmten Prämissen, gegebenenfalls aus nicht weiter begründbaren Grundgesetzen oder Axiomen, logisch folgen: Durch die Lückenlosigkeit der Schlussketten wird erreicht, dass jedes Axiom, jede Voraussetzung, Hypothese, oder wie man es sonst nennen will, auf denen der Beweis beruht, ans Licht gezogen wird […].25 Auf diese Weise erlaubt die formale Logik in regressiver Anwendung ein Finden der tatsächlichen Bedingungen, unter denen bestimmte Urteile (Sätze) gelten, und damit eine Bestimmung von deren beweistheoretischem Status. In diesem Sinne bestimmt Frege die Ausdrücke ›apriori‹, ›aposteriori‹, ›synthetisch‹ und ›analytisch‹ als beweistheoretische
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Vgl. Ernst Kapp: Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965, S. 20. Frege: Begriffsschrift, a. a. O., S. IV. Frege: Grundlagen der Arithmetik, a. a. O., § 2. Frege: Grundgesetze der Arithmetik, a. a. O., S. VIII. Ebd., S. VII.
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Metaprädikate, die für Urteile und ganze Wissenschaften aussagen, »worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht«: Es kommt nun darauf an, den Beweis zu finden und ihn bis auf die Urwahrheiten zurückzuverfolgen [hierin besteht das regressive Vorgehen, G. G.]. Stösst man auf diesem Wege nur auf die allgemeinen logischen Gesetze und auf Definitionen, so hat man eine analytische Wahrheit […]. Wenn es aber nicht möglich ist, den Beweis zu führen, ohne Wahrheiten zu benutzen, welche nicht allgemein logischer Natur sind, sondern sich auf ein besonderes Wissensgebiet beziehen, so ist der Satz ein synthetischer. Damit eine Wahrheit aposteriori sei, wird verlangt, dass ihr Beweis nicht ohne Berufung auf Thatsachen auskomme; d. h. auf unbeweisbare Wahrheiten ohne Allgemeinheit, die Aussagen von bestimmten Gegenständen enthalten. Ist es dagegen möglich, den Beweis ganz aus allgemeinen Gesetzen zu führen, die selber eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind, so ist die Wahrheit apriori.26 Frege selbst ging es insbesondere um »die Beurtheilung der erkenntnistheoretischen Natur« der Arithmetik.27 So hat er im Rahmen seines Logizismusprogramms den Nachweis zu erbringen gesucht, daß die Arithmetik nicht (wie Kant meinte) eine synthetischapriorische, sondern eine analytische Wissenschaft sei, weil ihre bekannten Aussagen aus rein logischen Grundgesetzen mit rein logischen Mitteln bewiesen werden können. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, daß bei allen sonstigen Differenzen zwischen Frege und Hilbert (in der Frage der inhaltlichen resp. formalen Auffassung der Axiome) Hilberts »axiomatische Methode« mit Freges Begründungsverfahren darin übereinstimmt, daß beide regressiv vorgehen.28 Halten wir fest: Für die »Logik der Kreativität« gilt, daß Kreativität sich nicht kalkülisieren läßt. Das heißt: Es gibt keinen Kalkül der Kreativität (des Entdeckens oder Erfindens). Dies bedeutet aber nicht, der Logik die Kreativität abzusprechen. Zur »Kreativität der Logik« ist zu sagen: Zwar gilt, daß logische Kalküle semantisch nicht kreativ sind (und auch nicht sein dürfen). Das heißt, es lassen sich nur solche Sätze ableiten, deren Inhalte bereits in den Prämissen enthalten sind. Gleichwohl können logische Kalküle epistemisch kreativ sein, d. h. zu neuen Einsichten führen, indem sie den semantischen Gehalt der Prämissen entfalten (explizieren) und dadurch erkennen lassen. Darüber hinaus liefert der regressive Gebrauch der Logik philosophische Einsichten in den wissenschaftstheoretischen Status von Gesetzen und ganzen Disziplinen. Abschließend möchte ich das Thema unseres Kolloquiums »Kreativität und Logik« noch aus einer übergeordneten Perspektive beleuchten. Vergleicht man traditionelle und moderne Logik, so ist letztere gegenüber der ersteren aufgrund der Ersetzung der Subjekt / Prädikat-Struktur durch die Argument / Funktions-Struktur reicher, ›kreativer‹. 26 27 28
Frege: Grundlagen der Arithmetik, a. a. O., § 3. Frege: Grundgesetze der Arithmetik, a.a.O., S. VII. Zu Hilbert vgl. Peckhaus: a. a. O., S. 104.
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Kolloquium 2 · Gottfried Gabriel
Sie ermöglicht, wie bereits ausgeführt, komplexe Begriffsbildungen, die über die Verbindung von Merkmalen hinausgehen. Sie erlaubt ferner Urteilsbildungen sowie Folgerungen, die nicht an die traditionellen Urteilsformen gebunden sind. Freges Entwicklung der Junktoren- und Quantorenlogik ist selbst eine kreative Leistung ersten Ranges. Ob wir es dabei mit einer Erfindung oder einer Entdeckung zu tun haben, ist nicht ganz klar. Frege selbst würde sicher von einer Entdeckung sprechen wollen, da für ihn die logischen Gesetze bestehende »Gesetze des Wahrseins« sind: »Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt«.29 Unabhängig von der Frage, ob er damit Recht hat, gibt Freges Erkenntnis Anlaß, sie als Fallstudie daraufhin zu befragen, ob sie uns Gesichtspunkte für eine Topik der Kreativität liefern kann. Damit komme ich – unter reduzierten Ansprüchen – noch einmal auf die eingangs nur gestreifte Frage einer Heuristik zurück. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte der Mathematiker Frege einfach den mathematischen Funktionsbegriff auf die Logik übertragen und diese dadurch mathematisiert. Diese häufig zu findende Auffassung greift aber zu kurz. Freges Programm ist der Logizismus, und diesem geht es nicht um eine Mathematisierung der Logik, sondern gerade umgekehrt um eine Logisierung der Mathematik – jedenfalls der Arithmetik. Zudem geht mit Freges Übertragung gleichzeitig eine Erweiterung und Präzisierung des Funktionsbegriffs einher. Erst die Erweiterung der Bereiche zulässiger Argumente und Werte einer Funktion (über Zahlen hinaus) macht es möglich, Begriffe als Funktionen zu bestimmen, nämlich als Funktionen, deren Argumente beliebige Gegenstände und deren Werte Wahrheitswerte sind. Die Präzisierung des Funktionsbegriffs erfolgt durch eine zweite Übertragung, und zwar nicht aus der Mathematik in ein anderes Gebiet, sondern gerade umgekehrt aus einem anderen Gebiet in die Mathematik. Die chemische Metapher der Ungesättigtheit dient der Erläuterung des Wesens der Funktion und führt zur Ausbildung von Freges kategorialer Unterscheidung zwischen Ungesättigtem und Sättigendem, die in ihrer Verbindung ein gesättigtes Ganzes ausmachen.30 Diese Unterscheidung liefert eine Lösung für das Prädikationsproblem der traditionellen Logik, ermöglicht das Verständnis der aussagenlogischen Verbindungen als Wahrheitswertfunktionen, der Quantoren als Begriffe zweiter Stufe usw. usw. In der Sache sind Freges Einsichten das Ergebnis eines komplexen analogischen Denkens in gegensinnige Richtungen. Dabei handelt es sich nicht um einen zweifachen Analogieschluß von Urteilen auf Urteile, sondern um eine kategoriale Analogie, die eine Neuordnung sämtlicher logischer Kategorien und ihrer Verbindungen vornimmt und dadurch einen Paradigmenwechsel in der Logik herbeigeführt hat. Das analogische Erkenntnisvermögen, das hier am Werke ist, nämlich das Vermögen, Ähnliches im Verschiedenen und damit neue Zusammenhänge zu sehen, nannte die Tradition ›Witz‹. Kant transformierte diesen Begriff in den der reflektierenden Urteilskraft. Somit können wir wenigstens so viel sagen,
Frege: Grundgesetze der Arithmetik, a. a. O., S. XVI. Frege spricht die »Vermutung« aus, »daß im Logischen überhaupt die Fügung zu einem Ganzen immer dadurch geschehe, daß ein Ungesättigtes gesättigt werde« (Gottlob Frege: Gedankengefüge, in: Kleine Schriften, hg. v. I. Angelelli, 2. Aufl., Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 378–394, S. 378 [Originalpaginierung S. 37]). 29 30
Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität
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daß die Erkundung des Verfahrens der reflektierenden Urteilskraft den Schlüssel zu einer Heuristik als Topik der Kreativität liefert.31
Literatur Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge MA 1994. Danneberg, Lutz: Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989. Descartes, René: Discours de la Méthode, in: Œuvres, hg. v. C. Adam / P. Tannery, Bd. 6, Paris 1902. Frege, Gottlob: Begriffsschrift, Halle 1879. Frege, Gottlob: Gedankengefüge, in: Kleine Schriften, hg. v. I. Angelelli, 2. Aufl., Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 378–394. Frege, Gottlob: Grundgesetze der Arithmetik, Bd. 1, Jena 1893. Frege, Gottlob: Grundlagen der Arithmetik, Breslau 1884. Gabriel, Gottfried: Definitionen und Interessen. Über die praktischen Grundlagen der Definitionslehre, Stuttgart–Bad Cannstatt 1972. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 3. Kant, Immanuel: Logik, in: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 9, S. 1– 150. Kant, Immanuel: Vorlesungen über die Metaphysik, Erfurt 1821. Reprographischer Nachdruck, Darmstadt 1988. Kapp, Ernst: Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965. Leibniz, Gottfried Wilhelm: De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et iudicandi (Über die universale Synthese und Analyse oder über die Kunst des Auffindens und Beurteilens), in: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaften (= Philosophische Schriften, Bd. 4), hg. v. H. Herring, Darmstadt 1992. Peckhaus, Volker: Regressive Analysis, in: Uwe Meixner / Albert Newen (Hg.): Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 5, Paderborn 2002, S. 97–110. Popper, Karl R.: Logik der Forschung, 7. Aufl., Tübingen 1982. Rodi, Frithjof (Hg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003. Rosenkranz, Karl: G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck Darmstadt 1977. Whitehead, Alfred N. / Russell, Bertrand: Principia Mathematica, 2. Aufl., Cambridge 1927.
Vgl. Frithjof Rodi (Hg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003. 31
Die Aktualität der Logik als Organon Volker Peckhaus (Paderborn)
1. Ist die Logik ein Organon der Wahrheit? Ich vertrete hier die Auffassung, daß die Kalküle der formalen Logik, aber auch die der Mathematik kreativ sind bzw. Kreativität unterstützten, und dies insbesondere dann, wenn sie als Organon eingesetzt werden. Ich verwende »Organon« gleichbedeutend mit »Werkzeug, Hilfsmittel«. Ich behaupte also, daß logische Kalküle ein Werkzeug zur Findung bzw. Erfindung des Neuen sind. Damit beziehe ich Position gegen Kant, der ja bekanntlich der Logik den Organoncharakter sehr deutlich abgesprochen hat, damit aber auch jede kreative Funktion bei der Gewinnung neuen Wissens. In der »Jäsche-Logik« spricht Kant zwar von der Abgeschlossenheit der Logik seit Aristoteles’ Zeiten, erkennt aber Weiterentwicklungen der formalen Logik in Hinblick auf Genauigkeit, Bestimmtheit und Deutlichkeit an.1 Von den Versuchen, diese Verbesserungen durch kalkulatorische und symbolische Methoden im Rahmen einer ars inveniendi Leibnizschen Stils zu erreichen, hält er nichts: »Die Logik ist […] keine allgemeine Erfindungskunst und kein Organon der Wahrheit; – keine Algebra, mit deren Hülfe sich verborgene Wahrheiten entdecken ließen.2 Insbesondere der seinerzeit neuesten Logik dieser Ausrichtung, Johann Heinrich Lamberts Neuem Organon (1764), spricht er in dieser Hinsicht jeden Wert ab.3 Die formale Logik liefert für Kant nur das »bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntniß mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft« und damit eine »negative Bedingung aller Wahrheit«.4 Die Analytik ist der »wenigstens negative Probirstein der Wahrheit«. In ihr können alle Erkenntnisse hinsichtlich der formalen Übereinstimmung mit ihren Regeln geprüft werden, bevor die inhaltliche Prüfung beginnt, ob die gegebene Erkenntnis hinsichtlich ihrer Gegenstände eine positive Wahrheit enthalte.5 Auch in der Kritik der reinen Vernunft polemisiert Kant scharf gegen den Organon-Gedanken, also gegen eine Instrumentalisierung der Logik für die Findung von Wahrheiten, wie sie von Leibniz, Wolff und Lambert angestrebt worden war: Die allgemeine Logik, so Kant, die ja doch bloß ein Kanon, also ein Regelwerk zur Beurteilung der Erkenntnis sei, sei »gleichImmanuel Kant: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen [Königsberg 1880], in: Akademie-Ausgabe, Bd. 9, S. 1–150; Zitat A 18, Akademie-Ausgabe, S. 20. 2 Ebd., A 17, Akademie-Ausgabe, S. 20. 3 Ebd., A 18, Akademie-Ausgabe, S. 21. 4 Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Riga 1787, in: Akademie-Ausgabe, Bd. 3, B 84. 5 Ebd. 1
Die Aktualität der Logik als Organon
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sam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung, wenigstens zum Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der That dadurch gemißbraucht worden.«6 Dieser, fälschlicherweise als Organon betrachtete Teil der allgemeinen Logik heiße Dialektik und sei »eine Logik des Scheins«, da sie nichts über den Inhalt der Erkenntnislehre, sondern unabhängig von den Gegenständen der Erkenntnis lediglich die formalen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstand behandle.7 Kant kritisiert zurecht weit überzogene Hoffnungen der Rationalisten, die es ihm mit dem Erfolg und der Leistungsfähigkeit ihrer Kalkülsysteme insofern einfach machten, als sie einige von deren Merkmalen besonders scharf hervortreten ließen. Nehmen wir etwa den Linienkalkül Lamberts.8 Den Modus Darapti (Alle M sind P, alle M sind S, also einige S sind P) z. B. stellt Lambert wie folgt dar: zunächst werden die Prämissen notiert ...P
p... M
. . . S
m s . . .
Der Schlußsatz ergibt sich durch Zusammenlesen von S und P ohne weitere Manipulation. An der graphischen Repräsentation ändert sich nichts, einerlei, ob nur die Prämissen notiert werden oder der gesamte Schluß. Damit ist sinnfällig, daß der Schlußsatz in den Prämissen enthalten ist. Überträgt man die Bestimmung analytischer und synthetischer Sätze auf Schlüsse, so ist klar, daß ein solcher Schluß analytisch und nicht synthetisch, also allenfalls erläuternd, aber nicht erkenntniserweiternd ist. Kant wendet sich hier gegen gewisse Einseitigkeiten der von den Rationalisten vor ihm propagierten, man könnte sagen, »rechnenden Vernunft«. Es gehört ja zu den Verdiensten Kants, gerade die Grenzen der Vernunft gezogen zu haben, dabei aber auch vor überzogenen Hoffnungen auf eine durchgängige Welterklärung per »calculemus« gewarnt zu haben. Gleichwohl macht es sich Kant in der Ablehnung des Organoncharakters der Logik m. E. zu einfach, er schüttet gleichsam das Kind mit dem Bade aus. Selbst wenn wir Kant darin folgen, daß metaphysische Fragen sich der rechnerischen Lösung sperren, sind wir nicht gut beraten, die Problemlösungskraft von Kalkülen auch in eingeschränkteren Bereichen zu bezweifeln. Die Emphase, mit der die Rationalisten die Idee einer Wissenschaft durch Kalkül vertraten, verdient eine differenziertere Betrachtung. Es sei hier nur an Leibnizens 1671 geschriebenen Brief an Herzog Johann Friedrich von Hannover erinnert, in dem er seine Logik des Erfindens mit folgenden Worten anpries: In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometria gethan, in allen scientien zuwege
Ebd., B 85. Ebd., B 86. 8 Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, Leipzig 1764, Dianoiologie, § 262. 6 7
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Kolloquium 2 · Volker Peckhaus
zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird. Welche invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen von mir vor das importanteste gehalten wird.9 Leibniz’ Werbebrief ist in den Zusammenhang seines utopischen Erkenntnisprogramms zu setzen: Wenn die vollständige Liste aller einfachen Ideen gegeben ist und wenn alle diese einfachen Ideen eineindeutig auf ein Zeichensystem abgebildet sind, dann lassen sich alle zusammengesetzten Ideen und damit alle möglichen Wahrheiten durch Kombination der Zeichen oder durch Rechnung erzeugen. Andererseits lassen sich aber auch alle Streitfälle gleichsam mit dem Rechenschieber lösen.10 Der Leibnizsche Ansatz ist unzweifelhaft utopisch und dies schon aus dem Grunde, daß es nie gelingen wird, die vollständige Liste der einfachen Ideen anzugeben. Dies sollte jedoch nicht Anlaß sein, das Programm aufzugeben, denn es könnte als Versuch einer schrittweisen Annäherung an das letztlich aus prinzipiellen Gründen nicht erreichbare Ziel göttlicher Allwissenheit weitergeführt werden. Durch geschickte Auswahl von Systemen einfacher Ideen lassen sich Ausschnitte der Wirklichkeit erfassen. Der hier deutlich werdende Pragmatismus interessierte Kant nicht. Seine Kritik ist strikt formal. Sie beschränkt sich auf das Verhältnis zwischen Prämissen und aus ihnen gezogenen Konklusionen. Die von Kant geäußerte Kritik am Organoncharakter der formalen Logik ist eingängig, sie ist aber alt und wurde auch schon im Rationalismus erörtert. Christian Wolff sei hier genannt, der einflußreiche Fortsetzer Leibnizscher Philosophie. Er ist der Auffassung, daß sich jeder Schluß als Syllogismus ausführen bzw. rekonstruieren läßt.11 Der Syllogismus ist – so Wolff zumindest in seinen späten Arbeiten – das wichtigste Hilfsmittel der ars inveniendi, also der »Fertigkeit«, wie er definiert, »unbekannte Wahrheiten aus andern bekannten heraus zu bringen«.12 Der Syllogismus ist für ihn universal,
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, zuletzt Berlin 1923–, Bd. II, 1, S. 160. Vgl. Hartmut Hecht: Gottfried Wilhelm Leibniz. Mathematik und Naturwissenschaften im Paradigma der Metaphysik, Stuttgart, Leipzig 1992. 10 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. C. I. Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890, Bd. VII, S. 200. 11 Christian Wolff: Der Anfangs-Gründe aller Mathematischen Wissenschaften. Erster Theil, Welcher Einen Unterricht von der Mathematischen Lehr-Art, die Rechen-Kunst, Geometrie, Trigonometrie und Bau-Kunst in sich enthält, Frankfurt, Leipzig 1710, 7. Aufl. 1750; Repr. der 7. Aufl. in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. I, Bd. 12, hg. v. J. E. Hofmann, Hildesheim, New York 1973, § 45. 12 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1720, 12. Aufl. 1752; Repr. 9
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denn »durch die gewöhnlichen Schlüsse werden alle Wahrheiten erfunden«.13 Wolff muß daher auch zeitgenössische Zweifel an der erfindenden Funktion »förmlicher« syllogistischer Schlüsse kontern. In seiner »Deutschen Logik« zitiert er die Kritiker wie folgt: Es kan dadurch [durch den Syllogismus] unmöglich etwas erfunden werden, denn der Hinter-Satz, den ich finden soll, muß mir ja bekandt seyn, ehe ich den Schluß machen kan. Also muß ich vorher wissen, was ich erfinden soll, ehe ich es erfinde: welches augenscheinlich ungereimt.14 Sein Argument gegen diese Auffassung zieht er aus der tagtäglichen Erfahrung. Danach müssen uns zunächst die Vordersätze und ihre Vermittelbarkeit im Schluß bekannt sein, »ehe wir an den Hinter-Satz jemahls gedacht haben«.15 Dies ist natürlich ein psychologisches und damit empirisches Argument, das bei strikter Auslegung der Genese–Geltungs-Unterscheidung als philosophisch irrelevant einzuschätzen wäre. Ich warne aber davor, den bei Kant angelegten, von Gottlob Frege und Edmund Husserl entfalteten, im Logischen Empirismus und bei Karl Popper zum »horror of ›psychologism‹«, wie ihn Brendan Larvor genannt hat,16 gesteigerten Antipsychologismus zu verabsolutieren. Wer dies tut, kauft sich zunächst die Notwendigkeit ein, sein Bemühen um Kreativität auf die »interessanten« Fälle zu beschränken. Daß kreative Prozesse auch einfach der Findung oder Erfindung des Neuen im Sinne des von einem Individuum oder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft noch nicht Gewußten liegen könnten, wird im Rahmen eines anti-psychologistischen Paradigmas als trivial angesehen, unter anderem auch deshalb, weil es sich bei dem jeweiligen Stand der Erkenntnis um ein kontingentes Faktum handelt. Auch wenn der schlichten Findung oder Erfindung des Neuen »schwache Kreativität« zugrundeliegt, es bleibt Kreativität, die ihre Funktion im Wissenserwerb und in Problemlösungskontexten erfüllt. Wer diese Kreativität als irrelevant verabschiedet, müßte auch weite Teile der Wissenschaftstheorie für obsolet halten, nämlich diejenigen, die wissenschaftliche Entwicklung als Produkt menschlicher Handlungen ansehen, die durch eine Korrelation zwischen angestrebten Zielen und zu deren Erreichung zweckmäßigen Mitteln ausgezeichnet sind.
der 11. Aufl. (1751) in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. I, Bd. 2, hg. v. Charles A. Corr, Hildesheim, Zürich, New York 1983, § 362. 13 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken Von den Kräften des menschlichen Verstandes Und Ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniss der Wahrheit. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1713, 14. Aufl. 1754; kritische Neuausgabe der Ausgabe letzter Hand in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. I, Bd. 1, hg. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim 1965, Kap. 4, § 24. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Brendan Larvor: What is Dialectical Philosophy of Mathematics?, in: Philosophia Mathematica 9/3 (2001), S. 212–229, Zit. S. 215.
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Kolloquium 2 · Volker Peckhaus
2. Kreativität hypothetisch-deduktiver Systeme Auf einen weiteren Aspekt sei hingewiesen: Die Kantsche Kritik am Organoncharakter impliziert, daß er Logik offenbar ausschließlich als (im Aristotelischen Sinne verstandene) Wissenschaft ansah. Damit bezieht er eindeutig Position in der alten Streitfrage, ob Logik Wissenschaft oder Kunst sei. Zugleich wird die jahrhundertelang präferierte Lösung dieses Streits abgetan, wonach Logik beides, nämlich Wissenschaft und Kunst ist. Schon Albertus Magnus hatte diesen Doppelcharakter betont, denn wie in der Schmiede ein Hammer geschmiedet werden kann, der dann in derselben Schmiede als Werkzeug für die Herstellung anderer Produkte eingesetzt werden kann, so kann auch die Logik zunächst als eigenständige Wissenschaft aufgebaut werden, um dann später als Hilfsmittel für den Aufbau anderer Wissenschaften zu dienen.17 Gehen wir also davon aus, daß Logik sowohl Wissenschaft oder Theorie als auch Kunst oder Organon ist. Hat sie nun eine kreative Seite? Worin besteht das kreative Element? Betrachten wir zunächst Logik als Wissenschaft! Es fällt in den eingangs zitierten Kant-Passagen auf, daß Kant der Algebra und damit mathematischen Kalkülen allgemein kreative Funktionen zuspricht, Algebra geradezu zum »Organon der Wahrheit« adelt.18 Dies hängt natürlich mit Kants grundlegender Auffassung vom Charakter mathematischer Sätze als synthetischer Urteile a priori zusammen, die per definitionem erkenntniserweiternd und damit kreativ sind. Dies unterscheidet für Kant mathematische Urteile von logischen, also analytischen Urteilen. Faßt man aber mathematische Satzsysteme als hypothetisch-deduktive Systeme auf, wie dies seit Ende des 19. Jahrhunderts üblich geworden ist, die Mathematik selbst als Strukturmathematik, wie sie etwa im Formalismus Hilbertscher Prägung gepflegt wurde, dann läßt sich das Argument, ein formal logischer Schluß sei nicht kreativ, weil der Schlußsatz bereits in den Prämissen enthalten sei, auch gegen solche mathematischen Satzsysteme und andere Kalküle in Logik, Mathematik und Informatik wenden. Das System aus Definitionen, Axiomen und Transformationsregeln spannt jeweils den Raum möglicher Sätze auf, die mit Notwendigkeit auf dieser Grundlage abgeleitet werden können. Für Wittgenstein sind daher nicht nur die Sätze der Logik sinnlose, d. h. dem empirischen Sinnkriterium verschlossene Tautologien, sondern auch der logizistischen Mathematikauffassung folgend die Sätze der Mathematik.19 Dies heißt dann natürlich, daß etwa mit den Peano-Axiomen die Gesamtheit aller Sätze über die natürlichen Zahlen mitgegeben ist, also unter Voraussetzung der Gültigkeit der Axiome diese Sätze tautologisch folgen. In einem strengen Sinne wären die in diesem System bewiesenen Theoreme nicht informativ, weil sie eben schon in den Axiomen enthal-
17 Albertus Magnus: Aberti Magni opera omnia, hg. v. A. Borgnet, Bd. 1, Paris 1880; Albert Menne: Logik als Organon und als Wissenschaft, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 31 (1984), S. 9–19, bes. 9. 18 Kant: Logik, a. a. O., A 17. 19 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition, hg. v. Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1998, 4.461, 6.1, 6.2.
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ten sind. Ähnliches würde auch gelten von Formeln wie etwa der für die Erzeugung von Mersenne-Primzahlen M = 2p – 1, wobei p selbst eine Primzahl ist. Mit dieser Formel lassen sich aus gegebenen Primzahlen neue erzeugen, ja es gibt einen internationalen Wettstreit, die jeweils größte bekannte Primzahl zu errechnen. Auch wenn wieder eine solche Primzahl gefunden wird, die größer als jede bis dato bekannte ist, wäre diese Entdeckung nicht informativ, weil ja mit dem Algorithmus zur Erzeugung von Primzahlen bereits alle auch nur prinzipiell erzeugbaren Primzahlen mitgegeben sind. Ich halte eine solche Einschätzung für absurd. Wenn wir aber Einigkeit darüber erzielen, daß diese Ergebnisse informativ sind, dann müssen auch hypothetisch-deduktive Systeme in Logik und Mathematik kreativ sein. Axiome und Regeln spannen eine Struktur auf, in der Relationen zwischen Sätzen hergestellt werden können. Jeder deduktive Beweis eines Satzes zeigt auf, daß dieser Satz Bestandteil der Struktur ist. Der Beweis offenbart damit strukturelle Eigenschaften dieses Satzes, Eigenschaften, die vor dem Beweis allenfalls vermutet, aber nicht gewußt waren. Die Erkenntnis, daß diese Eigenschaften gegeben sind, ist eine neue Erkenntnis, auch wenn ihr innovativer Charakter von dem, was vorher gewußt wurde und damit von einem empirisch zu ermittelnden Sachverhalt abhängt. Wie eng Logik als Wissenschaft oder Theorie mit Logik als Kunst oder Organon zusammenhängt, zeigt die Tatsache, daß logische Kalküle üblicherweise gar nicht zur deduktiven Ableitung von Theoremen, sondern zur Problemlösung eingesetzt werden, also etwa zur Beantwortung der Frage, ob ein hypothetisch unterstellter Satz aus den Grundsätzen einer Theorie ableitbar ist oder nicht. Diese Frage wurde in ihrer allgemeinen Form von David Hilbert und Heinrich Behmann als Entscheidungsproblem in die mathematische Grundlagenforschung eingeführt.20 Gegenstand des Entscheidungsproblems ist die Frage, ob es ein Entscheidungsverfahren gibt, mit dessen Hilfe von einem beliebigen vorgelegten quantorenlogischen Ausdruck entschieden werden kann, ob er allgemeingültig oder erfüllbar ist. Alonzo Church hat 1936 bewiesen, daß das Entscheidungsproblem in dieser allgemeinen Form nicht lösbar ist.21 Die Behauptung, daß mit einem Axiomensystem alle aus diesem Axiomensystem ableitbaren Sätze mitgegeben sind, ist damit wenig hilfreich, denn es kann ja mit mathematischer Sicherheit nicht einmal entschieden werden, ob ein beliebiger gegebener Satz zur Struktur gehört oder nicht. Ähnlich fatale Konsequenzen haben die Gödelschen Unvollständigkeitsresultate. Gödel hatte gezeigt, daß jedes für die Darstellung der elementaren Zahlentheorie ausreichende und zugleich widerspruchsfreie formale System unvollständig ist, in dem Sinne, daß es Sätze des Systems gibt, die mit den im System formalisierbaren Mitteln nicht bewiesen werden können. Dies gilt insbesondere für denjenigen Satz, der die Widerspruchsfrei-
Heinrich Behmann: Beiträge zur Algebra der Logik und zum Entscheidungsproblem, in: Mathematische Annalen 86 (1922), S. 163–229. 21 Alonzo Church: An Unsolvable Problem in Elementary Number Theory, in: American Journal of Mathematics 58 (1936), S. 345–363. 20
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Kolloquium 2 · Volker Peckhaus
heit des Systems selbst ausdrückt.22 Es sei schließlich auch noch auf die Ergebnisse von Komplexitätstheorie und Berechenbarkeitstheorie der theoretischen Informatik verwiesen, die praktische und prinzipielle Grenzen der Berechenbarkeit untersuchen und die praktische Irrelevanz der Behauptung, daß mit den Grundsätzen einer Theorie alle deduktiven Folgerungen aus der Theorie mitgegeben sind, belegen. Praktisch irrelevant ist die Behauptung, weil mit der Überzeugung von der vollständigen Gegebenheit eines Satzsystems dieses System praktisch eben noch nicht gegeben ist und auch in den hier genannten Fällen aus prinzipiellen Gründen gar nicht gegeben werden kann.
3. Kreativität von Kalkülen Wo liegen nun die kreativen Elemente von Kalkülen und axiomatisch-deduktiven Theorien? Ich will hier vier Aspekte aufzählen: Deduktion, Heuristik, Analyse und Modellierung: 1. Deduktive Konstruktion des Neuen: Wie der Mersenne-Algorithmus zur Erzeugung neuer Primzahlen zeigt, entfaltet der Kalkül bei der deduktiven Konstruktion des Neuen seine eigentliche kreative Kraft, man könnte auch sagen: er entfaltet seine direkte Kreativität, auch wenn es sich um eher schwache Kreativität handelt. Er führt auf Neues in dem Sinne, daß dieses Neue bisher nicht gewußt wurde bzw. daß der deduktive Zusammenhang zwischen dem neu Konstruierten und den Grundsätzen, aus denen es konstruiert wurde, noch nicht bekannt war. Es ist also neu nur relativ zum gegebenen Wissensstand immer und damit neu aus historischen Gründen, gleichwohl ist es aber auch ahistorisch, weil auf der Stufe eines jeden gegebenen Wissensstands wieder neue Erkenntnisse konstruierbar sind. Die hier gegebene Kreativität könnte »maschinelle Kreativität« genannt werden. Aber Gödel, Turing, Church und andere haben gezeigt, daß solchen Kalkülen prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Nicht alles läßt sich berechnen. Diese Grenzen zu erkennen und die Kalküle dort einzusetzen, wo sie zu sinnvollen Ergebnissen führen, ist selbst wieder ein kreativer Prozeß, der aber nicht-maschinelle Kreativität und damit starke Kreativität voraussetzt. 2. Heuristik: Die Philosophie hat lange Zeit vor Fragen der Heuristik die Augen verschlossen, vor Fragen also, die die Art und Weise betreffen, wie zu gegebenen Problemen Lösungsansätze gefunden werden können. Wenn Kant etwa lediglich die quid iuris-Fragen für philosophisch relevant erklärt, quid facti-Fragen aber den Empirikern überläßt,23 wenn Hans Reichenbach in seiner berühmten Unterscheidung zwischen context of justification und context of discovery nur den Rechtfertigungskontext zum Geschäft des Wissenschaftstheoretikers rechnet24 und wenn Karl R. Popper in seiner Logik der Forschung erklärt, daß die Art und Weise, wie Theorien aufgestellt wer-
Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173–198. 23 Kant: Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 116. 24 Hans Reichenbach: Experience and Prediction, Chicago 1938, S. 6–7. 22
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den, sich der logischen Analyse verschließt, aber auch der logischen Analyse überhaupt nicht bedarf,25 so sind dies Belege für die Ignoranz von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern in dieser Frage. Selbst wenn man Karl G. Hempel beipflichten will, wenn er behauptet, daß es keine »logic of scientific discovery« gibt,26 daß also Findungsprozesse nicht vollständig algorithmisierbar sind, so sind doch diese Prozesse in weiten Teilen regelgeleitet und schematisch. Die Erforschung dieser Regeln und Schemata geht über einen empirischen Aufweis faktisch benutzter Regeln und Schemata hinaus. Sie führt auf einen Katalog von Optionen, der hilft, in gegebenen Situationen auf eine bestimmte Weise zu agieren. Intuition, der zündende Einfall oder einfach Glück gehören zum kreativen Prozeß dazu, aber gleichwohl bleibt der Kalkül unverzichtbar. Die Idee des Kalküls gibt die Form der angestrebten Lösung vor, vor dem Kalkül muß die heuristisch gefundene Lösung bestehen, denn die gefundene Beweisidee ersetzt noch nicht den Beweis. Die Unverzichtbarkeit des Kalküls in solchen Findungsprozessen macht ihn zu deren Werkzeug. 3. Analyse: David Hilbert, der Schöpfer der modernen Axiomatik und des Formalismus hat die Bedeutung der Heuristik klar erkannt. Dies wird schon daran deutlich, daß er unter »axiomatischer Methode« nicht etwa die Präsentation mathematischer Theorien in axiomatischer Form versteht, sondern die Aufstellung von Axiomensystemen. Eine Darstellung in axiomatischer Form ist also das Ergebnis der Anwendung der axiomatischen Methode. Die axiomatische Methode selbst ist ein Strukturierungsverfahren, damit ein Instrument zur Analyse gegebener Satzbestände. In seinem Aufsatz Über den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck schreibt Hilbert 1902 dazu folgendes: Unter der axiomatischen Erforschung einer mathematischen Wahrheit verstehe ich eine Untersuchung, welche nicht dahin zielt, im Zusammenhange mit jener Wahrheit neue oder allgemeinere Sätze zu entdecken, sondern die vielmehr die Stellung jenes Satzes innerhalb des Systems der bekannten Wahrheiten und ihren logischen Zusammenhang in der Weise klarzulegen sucht, dass sich sicher angeben lässt, welche Voraussetzungen zur Begründung jener Wahrheit notwendig und hinreichend sind.27 Hilbert will also die axiomatische Methode als architektonisches Verfahren einsetzen, welches die Relationen zwischen Voraussetzungen und Folgerungen offenlegt. Die mit ihrer Hilfe hergestellte Ordnung erlaubt es, jedem Satz diejenigen Voraussetzungen zuzuordnen, die in seine Geltung eingehen. Mit dieser Strukturierungsleistung wird die Theoriebildung in der Mathematik ermöglicht. In der im Wintersemester 1919 / 20 gehaltenen Vorlesung Natur und mathematisches Erkennen hat er diese Gedanken noch Karl R. Popper: Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft, Wien 1934, S. 6. 26 Carl G. Hempel: Studies in the Logic of Confirmation, in: ders.: Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philosophy of Science, New York, London 1965, S. 3–51, hier S. 6 [Originalausgabe: Mind 54 (1945), S. 1–26, 97–121]. 27 David Hilbert: Über den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck, in: Proceedings of the London Mathematical Society 35 (1902/03), S. 50–68, Zit. S. 50. 25
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verschärft. Hilbert spricht dort von progressiven und regressiven Aufgaben der Mathematik. Die progressive Aufgabe bestehe in der Entwicklung der Systeme von Relationen und der Untersuchung ihrer logischen Konsequenzen, die regressive Aufgabe in der Herausarbeitung der Voraussetzungen einer Theorie auf der Basis einer klaren Unterscheidung zwischen Annahmen und logischen Folgerungen. Hilbert spricht von der Universalität dieser Aufgaben. Sie sind also nicht auf die Mathematik beschränkt: Diese beiden Aufgaben des mathematischen Denkens sind von sehr allgemeiner Bedeutung; sie beziehen sich nicht nur auf den Kreis der Naturwissenschaften, sondern sie gelten auch für andere Wissensgebiete, z. B. für die Nationalökonomie (Theorie des Geldes). Auch in der Philosophie wird verschiedentlich versucht, das mathematische Denken zur Geltung zu bringen. So ahmt Spinoza in seinem Hauptwerk, der »Ethik«, die progressive Methode nach, während neuerdings Nelson in seiner Philosophie von der regressiven Methode der Mathematik Gebrauch macht.28 Hilbert betont: Diese regressive Methode findet ihren vollkommensten Ausdruck in dem, was man heute die »axiomatische Methode« nennt. Diese bildet eine allgemeine Methode des wissenschaftlichen Forschens überhaupt; ihre glänzendsten Triumphe feiert sie aber in der Mathematik.29 Wir sollten festhalten: Hilbert verwendet den Ausdruck »axiomatische Methode« zur Bezeichnung der Vorgehensweise bei der Auffindung und Auszeichnung der Anfänge deduktiver Argumentationen. Der Ausdruck bezeichnet den Weg zur Axiomatisierung eines Wissensgebietes, nicht seine axiomatische Präsentation in Lehrbuchform. Auch hier ist die Idee des Kalküls unverzichtbar, schon bevor Kalküle progressiv zur Ableitung neuer Wahrheiten eingesetzt werden. Die Idee der Kalkülisierung wirkt indirekt kreativ im Rahmen des nicht vollständig algorithmisierbaren Prozesses der Strukturierung, weil sie die Formen vorgibt, der die gesuchte Struktur zu genügen hat. Die axiomatische Methode ist für Hilbert zwar Ausdruck der mathematischen Denkweise, in ihrer Anwendung aber nicht auf die Mathematik beschränkt, nicht einmal auf Satzsysteme, deren Ausgangssätze Axiome sind. Das von ihm selbst genannte Beispiel der Anwendung der regressiv-axiomatischen Methode in der Philosophie macht dies deutlich. Leonard Nelson hatte seine Kritik der praktischen Vernunft nach axiomatischer Methode aufgebaut, obwohl auch er als Kantianer natürlich nicht der Auffassung war, daß die Ethik auf Axiomen basierte.30
28 David Hilbert: Natur und mathematisches Erkennen. Vorlesungen, gehalten 1919–1920 in Göttingen. Nach einer Ausarbeitung von Paul Bernays, hg. v. David E. Rowe, Basel, Boston, Berlin 1992, S. 18. 29 Ebd. 30 Leonard Nelson: Kritik der praktischen Vernunft, Göttingen 1917, wieder in ders.: Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 4, Hamburg 1972.
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5. Modellierung: In der Formalisierung und Kalkülisierung von nicht-mathematischen Satzsystemen findet der Organoncharakter von Kalkülen sein originäres Einsatzfeld. Kalküle werden als syntaktische Komponenten von Wissenschaftssprachen eingesetzt. Der Einsatz einer solchen logischen Präzisionssprache oder »Leibnizsprache«, wie sie der Münsteraner Logiker Heinrich Scholz in seinem emphatischen Stil genannt hat,31 erlaubt es, Begründungsverpflichtungen in nicht-mathematischen Theorien zu klassifizieren, in solche, die durch logische Analyse eingelöst werden können, weil gezeigt wird, daß diese Sätze mit Notwendigkeit aus den Prämissen folgen, und solche, die auf anderem Wege, etwa empirisch eingelöst werden müssen. Zu welcher Klasse die jeweiligen Begründungsverpflichtungen gehören, ist dem System nicht unmittelbar anzusehen, sondern hierzu bedarf es einer Analyse. Die im analytischen Prozeß gewonnenen Erkenntnisse sind neue Erkenntnisse. Eine solche Klassifizierung setzt aber Modellierung voraus. Diese Modellierung wiederum setzt Entscheidungen voraus, welcher Ausschnitt der Wirklichkeit überhaupt modelliert werden soll, welcher Kalkül, d. h. welches syntaktische System verwendet werden soll und welche Idealisierungen am zu modellierenden Material vorgenommen werden müssen. Auch für dieses zweifellos kreative Geschäft ist der Kalkül unverzichtbar, auch hier entfaltet er selbst indirekte Kreativität. Ich hoffe, Sie davon überzeugt zu haben, daß Kalküle in Deduktion, Heuristik, Analyse und Modellierung kreativ sind und dies sowohl direkt als auch indirekt. Diese Ergebnisse mögen als Trivialitäten abgetan werden, wenn etwa der Kalkül quasi-maschinell Neues produziert oder Kalküle als in ähnlichem Sinne kreativ angesehen werden wie ein Werkzeug kreativ ist, ohne das ein neues Artefakt nicht hergestellt werden könnte. Wir können uns durchaus auf einen irgendwie emphatischen Kreativitätsbegriff zurückziehen, würden wohl aber schnell feststellen, daß auch die emphatische Kreativität der Trivialitäten bedarf.
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Wann ist eine formale Logik kreativ? Peirces graphische Logik als Beispiel Helmut Pape (Bamberg)
I. Die Möglichkeit logischer Kreativität und zwei Vorurteile »Kreativität« wird heutzutage häufig als Allerweltsbegriff verwendet: Ein weitgehend unbestimmter Begriff, der, wie eine Art begrifflicher Stretchstoff, über fast alles und jedes gebreitet werden kann. Ein Merkmal dieser Vagheit: Mit »kreativ« werden sowohl Personen wie deren Tun und die Produkte dieses Tuns bezeichnet. Als Inkarnation gelebter Kreativität gilt allgemein der genialische Künstler und sein Werk, aber auch der Ingenieur oder der Wissenschaftler. Jedes Tuch, zumal als Wischtuch genutzt, hat eine reinigende Verwendung, die nicht unbedingt dadurch verbessert wird, daß wir es durch ein präziseres Reinigungsgerät ersetzen. Können wir diese nützliche Vieldeutigkeit auch für den Begriff der Kreativität beanspruchen? Zweifel sind angebracht. Die Orientierung am Vagen und Vieldeutigen hat Konsequenzen und Kosten – vor allem dann, wenn es um die Kreativität der Logik geht. Die Behauptung, daß die heute gängige, am Exaktheitsideal der Mathematik orientierte formale Logik nicht allein Ausdruck von Kreativität ist, sondern daß es so etwas wie eine genuine Kreativität in der Logik gibt, wird von vielen Laien wie Philosophen für abwegig gehalten. In der Überzeugung von der Unmöglichkeit der Kreativität der Logik treffen sich mindestens zwei Vorurteile. Ich gestatte mir, in etwas zu kräftigen Farben ihre wichtigsten Grundzüge hervorzuheben: Vorurteil 1: Kreativität ist eine Qualität sui generis geistiger Akte, die vor allem im künstlerischen, literarischen, vielleicht auch noch in einigen technisch-wissenschaftlichen Aktivitäten, aber eben vor allem im weitesten Sinne im kulturellen Schaffen manifest wird. Die Kreativität sui generis besteht darin, daß der göttliche Funken der Inspiration, ohne nennenswerte materielle Bedingungen, durch die wahrhaft kreative Tätigkeit die kulturellen Artefakte direkt gestaltet und schafft. Mithin: Wahre Kreativität ähnelt einer göttlichen creatio ex nihilo. Diese Sicht von Kreativität führt in die Irre, weil sie keine wirkliche Tätigkeit angemessen beschreibt: Es gibt keine geistige Kreativität ohne konkret materielle, objektive und subjektive Bedingungen, die in der Ausbildung, dem Vorwissen, der Übung und der Anstrengung des kreativen Subjekts zu suchen sind. Das Beste, was man von dieser Sicht der Kreativität sagen kann, ist noch, daß sie irrt, weil sie eine idealisierend verkürzte Beschreibung des Ergebnisses mancher künstlerischer Akte für einen Einwand gegen die Bedingungen kreativer Prozesse hält. Vorurteil 2: Die Logik – sie kommt in diesem Zusammenhang immer nur im Singular vor – ist ein ebenso starrer wie leerer und abgeschlossener Formalismus, der be-
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stenfalls eine streng kontrollierte und inhaltlich aussagefreie Darstellung bereits zuvor im nicht-formalen Denken vollzogener Einsichten und Zusammenhänge erlaubt. Die Möglichkeit, mit Hilfe oder anhand einer logischen Formalisierung in einem abstrakten Notationssystem z. B. ein wissenschaftliches oder philosophisches Problem kreativ weiterzuentwickeln ist schon deshalb ausgeschlossen, weil durch die Formalisierung alle Probleme in die starre Sprache ewig wahrer Theoreme übergehen. Auch diese Auffassung ist in mehreren Hinsichten falsch. Das beginnt schon damit, daß von formaler Logik immer nur im Singular die Rede ist. Diese Annahme unterstellt irrigerweise, alle Logik, ohne Alternative und Ausnahme, würde nur aus einer Version und einem formalen Kanon der einen und einzigen Logik bestehen. An der analytischen Philosophie orientierte Philosophen setzen diese Logik im Singular mit der klassischen Aussagen- und Prädikatenlogik gleich. Dabei wird ignoriert, daß es konsistent begründbare Varianten und Erweiterungen zur klassischen Logik 1. Stufe gibt, wie etwa die diversen Modallogiken, die intuitionistische Logik oder aber die Inkonsistenz- und Relevanzlogiken. Ignoriert wird dabei, daß sich die Logik eines speziellen Gegenstandsbereichs, je nach dessen spezifischer Konstitution, erheblich von der Basislogik unterscheiden kann. Ja, eine solche Bereichslogik muß sich schon dann unterscheiden, wenn zu berücksichtigen ist, daß es neben »wahr« und »falsch« auch den Wert »nicht-entscheidbar« gibt. Dazu haben wir jedoch gute Gründe, weil sich – schon intern auf der Ebene der Wissensbeziehungen – ein monoton konsistenter Zusammenhang zwischen allen verfügbaren und bedeutungsvollen Aussagen nicht herstellen läßt. Was uns diese Vorurteile lehren, ist, daß die Verteidigung der These, in der formalen Logik würden kreative Prozesse eine Rolle spielen, sich mit sehr verbreiteten und wirksamen Vorurteilen auseinandersetzen sollte. Daraus ergeben sich besondere Erklärungs- und Begründungslasten. Im weiteren Gang der Überlegungen werde ich implizit sowohl gegen den anspruchsvollen Begriff der absoluten Kreativität wie die These von Abgeschlossenheit, Starrheit und Alternativlosigkeit der Logik argumentieren.
II. Peirces graphische Logik der »Existential Graphs« – ein Beispiel einer kreativen Logik Von logischer Kreativität werde ich in mehrfachem Sinne sprechen. Ich werde zum einen eine genuine, interne und formale Kreativität der Logik unterscheiden. Sie beschreibt das Erfinden von logischen Formen, Axiomen und Beweisen. Doch ist eine Logik kein rein formales System wie ein mathematischer Kalkül. Sie ist nur dann kreativ, wenn es ein philosophisches oder wissenschaftliches Programm gibt, das in dieser Logik formal umgesetzt wird und gemessen an dem sie eine kreative Leistung ist. Deshalb werden nur diejenigen Philosophen, die z. B. das Programm einer Formalisierung der Kantischen Raumargumente in der »Transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft durch eine Modallogik und seine Aussagekraft über Probleme der gegenwärtigen Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie interessant fanden, eine modale Raumlogik als eine kreative Leistung bewerten. (Was nicht ausschließt, daß sich aus
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einer Raumlogik auch noch mehr und anderes lernen läßt.) Zu dieser dritten Form von Kreativität gehe ich nur kurz am Schluß ein. Erkennt der philosophische Logiker diesen Zusammenhang zwischen philosophischem Programm und Logikentwurf an, so liegt es nahe, diese Beziehung selbst – in ihren wichtigen strukturellen Eigenschaften – formallogisch zu fassen. Doch wie ist das möglich? Erforderlich wäre eine allgemeine Beschreibung der charakteristischen Beziehung der externen Einwirkung (z. B. durch ablehnende Kritik, interpretative Bewertung, Aufforderung analoge Sachprobleme zu lösen) auf ein formales System oder auf eine formale Disziplin durch bewertende äußere Einwirkungen. Es bedurfte keineswegs des Poststrukturalisten Michel Foucault und seines Versuchs, eine Archäologie des Wissens zu schreiben, um den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Kreativität und den externen Wechselwirkungen zwischen Disziplinen zu entdecken. Der amerikanische Logiker C. S. Peirce hat um 1900 in seinen logisch-methodologischen Überlegungen zur Klassifikation der Wissenschaften die kreative Funktion der externen Einwirkungen gewürdigt. Nachdem er die Rolle der sozialen Beziehungen zwischen Disziplinen für die Entwicklung des Wissens beschrieben hat, stellt er deshalb fest: Doch von größerer Bedeutung sind die dynamischen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften, womit ich meine, daß die eine Wissenschaft auf die andere häufig nicht dadurch einwirkt, daß sie irgendein Argument oder Prinzip vorschlägt, sondern durch die sozusagen zwingende Qualität ihres Handelns. So könnte eine Gruppe eine andere dadurch anregen, daß sie die Lösung eines Problems verlangt. Auf diese Weise tragen die praktischen Wissenschaften ständig Forschungsfragen in die Theorie hinein. Wichtige chemische Entdeckungen verdanken wir dem Wunsch, einen Ersatz für Chinin zu finden oder Chinin selbst zu synthetisieren, zu neuen und wirksameren Bleichmittel zu gelangen und ähnlichem. … Und manchmal nötigt eine Gruppe von Wissenschaftlern eine andere Gruppe dazu, ihre Aufmerksamkeit einem übersehenen Phänomen zuzuwenden. (CP 7.521) Eine Möglichkeit, die kreative Rolle äußerer Einflüsse auf die Kreativität auch einer formalen Disziplin wie der Logik zu berücksichtigen, besteht darin, klar zwischen intern und extern veranlaßter logischer Kreativität zu unterscheiden. Die Existenz externer Einflüsse begründet externe Maßstäbe dafür, ob ein formales System kreativ ist oder nicht. Diese Unterscheidung von interner und externer logischer Kreativität werde ich an dem Beispiel der von Peirce entworfenen Logik der Existential Graphs diskutieren. Der externe Maßstab ist dabei das philosophische Programm, das Peirce bei der Konstruktion seiner graphischen Logik verfolgte und formal umsetzen wollte. Weiterhin werde ich abschließend fragen, inwiefern diese Logik nach anderen, heutigen Maßstäben kreativ zu nennen ist. Ich werde sowohl das philosophische Forschungsprogramm beschreiben, das in der graphischen Logik zum Ausdruck kommt, als auch einige grundlegende Aspekte ihres Aufbaus darlegen. Auf dieser Basis werden 1 In Dezimalnotation, z. B. 1.289, wird der erste Band und der 289. Abschnitt der Collected Papers of Charles Sanders Peirce zitiert. Genauere Angaben siehe Literaturverzeichnis.
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wir sehen, in welchem Sinne die Existential Graphs (EG) ein kreatives logisches System sind. Die formale Leistungsfähigkeit des Systems der EG ist in etlichen Aufsätzen und Büchern hinsichtlich seiner Vollständigkeit, Konsistenz und Ausdrucksstärke analysiert worden. Seine Äquivalenz zur Logik 1. Stufe und zu einigen schwachen Modallogiken konnte schon vor längerer Zeit bewiesen werden.2 Die Bedeutung dieser graphischen Logik für das Peircesche Philosophieren ist dagegen bisher kaum wahrgenommen oder gar genauer untersucht worden. Sie wurde höchstens der semiotischen oder empiristischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie oder Philosophie des Geistes zugerechnet.3 Die meisten Logiker und Philosophen beschränken sich darauf, einige Peircesche Formulierungen zu zitieren. So erfährt der Leser, Peirces Ziel sei es gewesen, mit den Graphen Aussagen und logische Beziehungen »so ikonisch oder diagrammatisch und … so analytisch wie möglich« (CP 4.561) darzustellen und daß es sich beim Ikon um einen Zeichenaspekt handelt, der den Objektbezug von einer am Zeichenmaterial wahrnehmbaren Qualität abhängig macht. Warum aber dieser Qualitätsbezug formallogisch relevant ist, warum diese Ikonizität in der Darstellung der Aussagen- und Prädikatenlogik philosophisch wichtig ist und was ikonische Anschaulichkeit z. B. mit der Formalisierung der logischen Beziehungen zu tun hat, die zwischen Einzeldingen bestehen, wird nicht geklärt. Die weitergehende Frage, wie sich die Logik der EG zum Pragmatismus und zur Peirceschen Relationenalgebra verhält, wird meistens noch nicht einmal gestellt. Ich müßte hier, um diese Fragen sachgerecht diskutieren zu können, eine Exposition der EG, eine Darstellung der Peirceschen Semiotik und Kategorienlehre geben. Insbesondere wäre zu klären, warum Den Nachweis, daß die EG eine vollständige Aussagen- und Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität formulierte, führte zuerst der Schüler von Alfred N. Prior, Jay J. Zeman, in seiner 1964 in Chicago angenommenen Dissertation The Graphical Logic of C. S. Peirce, die eine syntaktische Äquivalenz zwischen EG und der üblichen Standardlogik darlegte. Die graphische Darstellung der Quantifikation in der EG hat Zeman 1967 in dem Aufsatz A System of Implicit Quantification, in: Journal of Symbolic Logic 32 (1967), S. 480–504 kompakt als Transformationen von implizit quantifizierten Variablen dargestellt. Ein eher informelles Übersetzungsverfahren der logischen Formen der EG in die algebraische Standardlogik liefert Don D. Roberts in The Existential Graphs of C. S. Peirce, Mouton, Den Haag 1974. Vor einigen Jahren hat Roberts in dem Aufsatz A Decision Method for Existential Graphs, in: N. Houser / D. D. Roberts / J. V. Evra (Hg.): Studies in the Logic of C. S. Peirce, Bloomington 1997, S. 386– 401, gezeigt, daß Peirce das Entscheidungsproblem für die Aussagenlogik in der EG durch ein effektives Verfahren lösen konnte und das (unlösbare) Entscheidungsproblem für die Logik erste Stufe zu lösen versuchte. Robert W. Burch hat 1997 eine alternative formale Semantik für die quantifizierten Teile der EG vorgeschlagen (A Tarski-Style Semantics for Peirce’s Beta-Graphs, in: J. Brunning / P. Forster (Hg.): The Rule of Reason – The Philosophy of C. S. Peirce, Toronto 1997, S. 81–95 und J. J. Zeman hat in demselben Band in The Tinctures and Implicit Quantification over Worlds (ebd., S. 96–119) gezeigt, daß Peirces modallogische Erweiterung der EG im Gamma-Teil den heutigen Modallogiken (zu Lewis System S 5) entspricht. Die Barwise-Schülerin Sun-Joo Shin hat erst kürzlich eine formale Darstellung und engagierte Verteidigung der EG in dem Buch The Iconic Logic of Peirce’s Graphs, Cambridge 2002 geliefert, die sie als wichtigen Beitrag zu einer multi-modalen Theorie des logischen Denkens würdigt. 3 So argumentiert z. B. Frederik Stjernfelt in Diagrams as Centerpiece of a Peircean Epistemology in: Transactions of the C. S. Peirce Society XXXVI/3 (2000), S. 357–84 für die erkenntnistheoretischoperationale Rolle, die Diagramme und ihre Logik im Peirceschen Philosophieren haben. 2
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und für welches philosophische Programm es wichtig ist, die Logik auf der Semiotik und Kategorienlehre aufruhen zu lassen. Doch eine solche Erklärung aus dem Zusammenhang von Peirces philosophischer Agenda werde ich nicht versuchen und mich auf einige vage Andeutungen beschränken. Im folgenden werde ich mich auf zwei Probleme konzentrieren, die für die philosophische Konzeption der graphischen Logik entscheidend sind: In einem ersten Schritt wird es um die philosophischen Annahmen und Thesen gehen, die der semiotischen Theorie des Ikons zugrunde liegen.4 Im nächsten Schritt wird es darum gehen, aufzuzeigen, wie die philosophischen Annahmen in den Aufbau der Logik der Graphen umgesetzt werden.
III. Die ikonische Semiotik der graphischen Logik Warum soll das Ikonische eine philosophisch wichtige Eigenschaft einer formalen Logik sein? Warum taugen ikonische Zeichen überhaupt dazu, die Syntax einer formalen Logik aufzubauen? Sicher, Anschaulichkeit ist eine epistemische Tugend, die uns bessere Verständlichkeit auch für Logik verbürgt. Doch: ist diese Tugend nicht sekundär, und wie verhält sie sich zum Ikonischen? Wie immer wir diese Fragen beantworten: Mit der Betonung der Rolle der ikonischen Zeichen wird Peirces Konzept von Semiotik zur Grundlage, von der die formale Logik ausgeht. Diese philosophische Semiotik ist sowohl als »Physiologie der Formen« wie als »Spekulative Grammatik« gedacht. Sie ist niemals, wie bei F. Saussure, eine bloß linguistische oder gar formalistische Strukturtheorie, sondern als philosophische Theorie über den Zusammenhang von Denken, Erfahrung und Gegenständen konzipiert. Eine solche philosophische Semiotik liefert eine Theorie der Objekte unseres Wissens und Erkennens in Form einer Theorie der Darstellungsformen. Sprechen, Wahrnehmen, Denken und Erkennen werden in ihrer Objektorientierung »grammatisch spekulativ« beschrieben und von der Semiotik anhand ihrer Ausdrucksformen erklärt. Diese Formen sind spekulativ semiotische Weisen unserer Welt- und Wirklichkeitsorientierung, wie wir intentional die Beziehung auf ein Objekt anhand jener Zeichen erfassen, auf die Welt und Menschen richtig antworten. Am Erreichen dieses Zieles bemißt sich der Erfolg der Semiotik. Im Rahmen dieser an gelingenden Objektbeziehungen orientierten Semiotik ist das Ikon der voraussetzungsschwächste semiotische Begriff, um die Weise zu beschreiben, wie ein Zeichen auf ein Objekt bezogen sein kann. Denn das Ikon ist das Zeichen, das schon aufgrund einer am Zeichen faßbaren (meistens unmittelbar wahrnehmbaren) Qualität darstellt, daß ein Objekt möglich ist.
Es geht bei den EGs nicht um »reine« Ikons. Die ikonischen Eigenschaften der logischen Diagramme sind immer mit indexikalischen und symbolischen Aspekten verbunden. Auf diese anderen semantischen Aspekte der EG werde ich nicht eingehen. 4
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Es ist weder die Existenz noch die faktische Beziehung auf ein Objekt gefordert wie beim Index. Auch keine arbiträre Interpretationskonvention innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft wie beim Symbol. Alle ikonisch fungierenden Qualitäten sind vielmehr reflexiv auf ihre Wahrnehmung bezogen. Sie instantiieren eben jene Qualität, durch die wir sie als Eigenschaften eines Objekts beschreiben können. Die Tatsache, daß ein Zeichen eine Qualität reflexiv präsentiert, begründet die Möglichkeit, daß etwas ein Objekt dieses Zeichens ist, das diese Qualität als Eigenschaft aufweist. Schwächer kann eine Beziehung auf Gegenstände unserer Erfahrung nicht ausfallen: Wir schauen z. B. auf das Rot eines Farbmusterblattes, das selbst die Farbe ist, mit der eine unbegrenzte Zahl möglicher Objekte dargestellt werden kann. Sie müssen nur eine Bedingung erfüllen, um gemeint zu sein: Es sind die ansonsten unbestimmten Objekte, die genau dieselbe Farbe haben wie das Muster, das wir in der Hand halten. »Dieselbe Farbqualität haben wie« wird zu einer Beziehung zwischen möglichen Objekten, die auf der Reflexivität der wahrgenommenen Qualität basiert.5 Die Reflexivität der Qualitäten des Ikon hat eine semantische Funktionseinschränkung zur Folge: Als Ikon kann ein Zeichen niemals mögliche Objekte als Einzelding darstellen. Es verkörpert nur die von der Qualität des Zeichens begründete Möglichkeit einer interpretativen Handlung (die dann stets indexikalische und symbolische Aspekte verknüpft). Diese Handlung, wenn sie gelingt, greift ein Einzelding heraus, das dieselbe Form oder Qualität besitzt wie die, die das Ikon als möglich zeigt. Das Beispiel der Farbqualitäten ist zu eng gewählt. Wir müssen berücksichtigen, daß auch die zweidimensionale Form eines Diagramms eine sichtbare Qualität ist, die reflexiv Beziehungen zwischen möglichen Objekten präsentieren kann. Nehmen wir an, daß diese Beziehungen auch logische Beziehungen einschließen, so wird ein Diagramm zum Ikon der Möglichkeit logischer Beziehungen. Die graphische Logik der EG basiert auf dieser Annahme: mit den Formqualitäten des Ikons werden auch logische Beziehungen zwischen möglichen Objekten dargestellt, die diese Qualitäten besitzen. Kurzum, die EG setzen voraus, daß durch die Reflexivität der Form des Ikons die logischen Beziehungen zwischen den möglichen Objekten graphisch darstellbar werden. Eben dies ist die Grundidee des semantisch-semiotischen Programms der Logik der EG: Mit der Reflexivität der wahrnehmbaren Qualitäten und Formen eines ikonischen Zeichens sind bereits formale Relationen instantiiert, die logische Beziehungen darstellbar machen. Das Gelingen der logischen Wahrnehmung eines Ikons hängt davon ab, daß wir durch die Qualitäten des Ikons zu den Objekten geleitet werden. Jede Beschreibung, wie wir eine logische Beziehung erkennen, ist das Einführen theoretischer Begriffe, die auf dem impliziten Vorhandensein von logischen Beziehungen in den Qualitäten aufbauen. Als erfolgreiche Interpreten der EG erfassen wir mögliche logische Beziehungen,
Man könnte sagen: Das über die Qualia seine Objektbeziehung aufbauende Ikon führt eine Art logischen Nullpunkt oder logische Neutralität ein. Denn das ikonische Zeichen erlaubt es uns, ohne die Beachtung von existentiellen Relationen, Einzeldingen und logischen Beziehungen zwischen Aussagen, allein anhand der qualitativen Beschaffenheit des Zeichens, Objekte als möglich zu denken. 5
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indem wir durch die Formen und Qualitäten der Diagramme ihre logische Form erfassen. Peirce schreibt: Aber es gibt eine Gewißheit, die das Ikon im höchsten Grade erreicht. Nämlich daß dasjenige, was sich dem kognitiven Blick darbietet – die Form des Ikons, die ebenfalls sein Objekt ist – logisch möglich sein muß. (CP 4.531) Konkretisierung, Eingrenzung und Symbolisierung sind nötig, um das Zeichenrepertoire der EG einzuführen. Nehmen wir an, wir wählen die Form einer weißen Fläche als elementares ikonisches Zeichen. Eben jener begrenzte Teil des Blattes vor mir oder auf dieser Projektion dort drüben. Welche logischen Beziehungen vermag diese Fläche – die ich Behauptungsblatt, BT, nennen werde – zu präsentieren? Die weiße Fläche des BT kann auf viele mögliche Weisen gestaltet werden: Auf ihr können Formen einander ein- und ausschließen, sich teilweise überlagern. Sie werden stets Formen auf dieser Fläche sein. Wir nehmen weiter an, daß auf der Fläche des Blatts geschriebene Aussagen in logischen Beziehungen zueinander stehen, weil sie auf demselben Blatt stehen und von uns auch so interpretiert werden. Auf diesem Blatt ist Raum für die Darstellung einer unbegrenzten Zahl von Beziehungen zwischen Aussagen. Deshalb lautet die erste Konvention der graphischen Logik: Das leere BT ist ein ikonisches Zeichen, das für die logischen Beziehungen in einem Gegenstandsbereich steht, die von allen graphisch auf ihm dargestellten Aussagen präsentiert werden.6 Peirce schreibt deshalb dem BT eine logisch-semantische Bedeutung zu: …das BT (Phemic Sheet) präsentiert ikonisch das Diskursuniversum, insofern es am unmittelbarsten ein Feld des Denkens oder der geistigen Erfahrung darstellt, das selbst auf das Diskursuniversum ausgerichtet ist, und das, als ein Zeichen betrachtet, dieses Universum bezeichnet. Darüber hinaus wird es so, als ikonisch auf dieses Universum ausgerichtet, … durch das BT ikonisch dargestellt. (CP 4.561, Anm. 1, S. 449)
Diagramm 1: Das Behauptungsblatt Natürlich gibt es wegen der jeweils endlichen Größe dieser graphischen Elemente eine Grenze für die faktisch auf einem Blatt sichtbar darstellbaren logischen Beziehungen. Aber es gibt keine prinzipielle Grenze für eine graphische Logik, um logische Beziehungen zwischen allen möglichen Arten von Objekten auszudrücken. 6
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IV. Das Zeichen und seine Objekte: Die Einheit von Semantik und Syntax der Graphenlogik Daß einige logische Beziehungen durch räumliche Beziehungen darstellbar sind, wußten z. B. auch schon G.W. Leibniz, Lambert und andere. Peirces Zeigenosse Venn entwarf ein bekanntes graphisches System, die sogenannten Venn-Diagramme. Worin besteht die kreative Leistung der Existential Graphs? Wir haben die Bestandteile für die Antwort bereits zur Hand. Die Einführung des Behauptungsblattes als Zeichen für mögliche im Gegenstandsbereich bestehende logische Beziehungen ist die entscheidende Idee. So wird die begrenzte zweidimensionale Fläche des BT zum Diagramm möglicher logischer Beziehungen. Die Beschränkung auf aussagenlogische Beziehungen kann später einfach dadurch aufgehoben werden, daß eine spezielle graphische Form für logische Beziehungen zwischen Individuen eingeführt wird. Entscheidend ist: Indem wir auf dem BT Aussagen eintragen, stehen sie bereits in logischen Beziehungen zueinander: D. h. sie werden bereits durch das Einsetzen auf das BT als logisch verknüpft und auf einen Gegenstandsbereich bezogen dargestellt. Intern logisch kreativ ist die durch das BT ermöglichte Semantisierung des syntaktischen Aufbaus der formalen Logik aufgrund der ikonischen Gestalt dieser Syntax. Dadurch wird das Eintragen und das Löschen auf dem Gebiet des BT zu einer logischen Operation.7 Das BT wird zum entscheidenden Ausdrucksmittel dieser Logik. Seine Materialität als Zeichen – oder Syntax – berücksichtigt bereits seinen Objektbezug – oder Semantik. Man könnte die entscheidende kreative Idee der Existential Graphs als die Semantisierung der Logik durch die Ikonisierung des logischen Zeichens beschreiben. In zwei Punkten möchte ich dies verdeutlichen: 1.) Die Syntax der Konjunktion. Das BT liefert die Darstellung der logischen Beziehung graphisch präsentierter Aussagen zueinander und zu ihrem Gegenstandsbereich: Alle auf dem BT eingetragenen Sätze werden ikonisch als zusammen in einem Gegenstandsbereich wahr dargestellt. Die gemeinsame Behauptung zweier Aussagen, das logische »und«, ist ikonisch-semantisch, durch die Beziehung zweier Aussagen zum Gegenstandsbereich symbolisiert. Die graphische Darstellung der Aussage, daß es regnet und daß eine Rose rot ist, ist eine Aussage über einen Gegenstandsbereich, in dem beides wahr ist. Dies zeigt Diagramm 2:
7 In einem Brief an William James von 1909 beschreibt Peirce diese Entdeckung als seine größten Leistung als Logiker: »… mein Triumph in dieser Richtung, meine Existentiellen Graphen, durch die alle Deduktionen auf Einsetzungen und Löschungen reduziert werden, und in der es keine verknüpfenden Zeichen gibt außer dem Schreiben der Termini auf demselben Gebiet. … Dies sollte die Logik der Zukunft sein.« (Peirce an W. James, 25. 12. 1909, L 224, übersetzt nach Peirce 1976 III, S. 874)
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Es regnet. Die Rose ist naß.
Diagramm 2: Die Konjunktion
2.) Die Logik der Objekte der Diagramme. Das BT ist ein Zeichen, das Syntax und Semantik miteinander verschmilzt. Da es ein Ikon ist, kann es aber nur logische Beziehungen zwischen den Objekten präsentieren, die durch gleichzeitig eingetragene Aussagendiagramme dargestellt werden. Das BT präsentiert die logischen Beziehungen zwischen Aussagen als Zeichen logischer Beziehungen zwischen den Objekten dieser Aussagen, die zu dem vom BT bezeichneten und reflexiv präsentierten Gegenstandsbereich gehören. Die Syntax der Graphen legt ihre ikonische Semantik bereits fest. Deshalb ist nach Peirce »ein Diagramm … hauptsächlich ein Ikon der Formen der Relationen in der Konstitution seines Objekts, dessen Eignung für notwendige Schlüsse sich leichterdings einsehen läßt.« (CP 4.531) Peirce formuliert damit eine starke philosophische These. Die Grundlage der Gültigkeit deduktiver Schlüsse ist danach eine Strukturisomorphie: Die relationalen Formen, durch die die Objekte gebildet werden, müssen mit jenen relationalen Formen übereinstimmen, die ein logisches Diagramm dieser Objekte beherrschen. Dieser Konzeption einer Semantik relationaler Ordnung wollen wir uns im nächsten Abschnitt widmen.
V. Die relationale Ordnung der Diagramme und das philosophische Programm der EG Die Semantik der relationalen Ordnung ist das Herzstück des philosophischen Programms, das mit der Graphenlogik eingelöst werden soll und daß deshalb auch Syntax und Semantik der EG eng miteinander verknüpft. Die Auswahl des Ikons als angemessenes Ausdruckmittel und der externe Maßstab für die Leistung der Logik der EG, an dem gemessen sich ihre logische Kreativität entscheidet, ist hier zu finden. In die semiotische Konzeption einer solchen Übereinstimmung in der relationalen Ordnung, ausgedrückt vom logisch-ikonischen Zeichen, gehen Annahmen über den Geist, die Rolle der Qualia und die Stellung logischer Beziehung im Denken und Erkennen ein. Die Semiotik und die graphische Logik formuliert ihrerseits theoretische Voraussetzungen für die Wissenschaftstheorie des Pragmatismus und die Peircesche Metaphysik. Was gehört zu diesem Programm des Primats der relationalen Ordnung und wie wird es in die EG umgesetzt? Es sind nicht die Metaphysik oder die Religionsphilosophie,
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die der graphischen Logik Begriffe, Prinzipien oder Methoden vorgeben. Die Logik geht von einer Theorie der Erfahrung und des Denkens aus. Sie geht davon aus, daß es visuell gestaltete und im kommunikativen Austausch interpretierbare Handlungs- und Wahrnehmungssituationen gibt. Menschen lösen Probleme miteinander auch dadurch, daß sie für einander Pläne, Skizzen und Diagramme zeichnen, die in ihre Welt gemeinsamen Wissens, gemeinsamer Probleme und eines geteilten Vorverständnisses eingebettet sind. Dies ist die naturwissenschaftlich-experimentelle Ausgangssituation der EG. Die Situation kooperativen Austauschs ist ein wahrheitsorientierter Dialog: Der Autor des Diagramms bezieht sich auf einen Interpreten und beide setzen sich wahrnehmend und interpretierend mit dem Diagramm auseinander. Vor dem Beginn der Verwendung dieser Logik steht die Einleitung eines visuell gestützten Dialogs. Dies geschieht normativ, durch eine Aufforderung zum Austausch zwischen Dialogpartnern. Der einzige publizierte Aufsatz, der die graphische Logik entwickelt, beginnt deshalb mit der Aufforderung: »Kommen Sie, mein Leser, wir wollen ein Diagramm konstruieren, um den allgemeinen Verlauf des Denkens zu veranschaulichen. Ich meine ein System der Diagrammatisierung, durch das jeder Verlauf des Denkens mit Genauigkeit dargestellt wird.« (Peirce 1993, S. 132) Die Interpreten der logischen Diagramme sind aufgefordert, eigene Diagramme zu zeichnen und visuell aufmerksam nachdenkend zu erfassen. Die Pointe einer diagrammatischen Argumentation wird nur dann verständlich, wenn man den Aufbau veränderter Diagramme vergleicht. Diese Logik, so Peirce, »fordert Sie auf, bestimmte genaue Relationen zwischen diesen [Diagrammen] zu erfassen und Sie müssen dies machen.« (Peirce 1990, S. 218) Das Erkennen von geordneten Beziehungen zwischen Veränderungen an Diagrammen im Dialog zwischen Autor und Interpret ist philosophisch bedeutungsvoll. Durch den Dialog wird ein geordneter Zusammenhang hergestellt, der ein gemeinsames, reflexiv präsentiertes Element hat: Das BT, das als graphische Fläche das Ikon ist, das den Ausgangspunkt aller weiteren speziellen Bestimmungen festlegt. Autor und Interpret des relationalen Zusammenhangs beziehen sich auf das BT, das als ein Zeichen für unabhängige Objekte verstanden wird. So werden Folgen von Diagrammen und Objektwahrnehmungen möglich, die in geordneten Beziehungen zueinander stehend verstanden werden. Warum ist dies philosophisch wichtig? Nun, weil nur geordnete kognitive Prozesse für den pragmatischen Rationalitätsstandard zugänglich sind. Der Pragmatismus ist eine methodologische Theorie: Unterschiedliche, theoretische und praktische Überzeugungen werden in eine logisch geordnete Beziehung zueinander gebracht und rational in ihrer Bedeutung verständlich. Theoretische Überzeugungen werden verstanden, wenn es gelingt, eine zweckgerichtete Ordnung anhand des Verlaufs ihrer Anwendung zu konstruieren. Der Pragmatismus beschäftigt sich mit einer ähnlichen Ordnungsstruktur wie die graphische Logik: In der dialogischen Konstruktion eines logischen Diagramms werden überzeugungsgeleitete Akte des Sehen und Denkens miteinander gezielt verknüpft. Die Ausrichtung auf das reflexiv präsentierte BT als semantischer Ausgangspunkt wird mit den Interpretationen spezieller Graphen verknüpft. D. h. in der graphischen Logik wird
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eine Ordnung für die Relation der Graphen zu ihren Objekten angenommen. Sie wird in den graphischen Umformungen und den logisch-pragmatischen Dialogbeiträgen von Autor und Interpret verwirklicht und interpretiert. In beiden Fällen, sowohl im Falle der Ordnungsbeziehung der Überzeugungen als auch der relationalen Ordnung der logischen Diagramme, ist die Folge der geordneten Zeichen auf einen Gegenstandsbereich gerichtet, der dadurch dargestellt werden soll. In beiden Fällen ist die volle Bedeutung einer Aussage oder logischen Beziehung erst durch das Herstellen der relationalen Ordnung im Umgang mit Zeichen voll erkennbar. Die im Pragmatismus implizite Ordnungsrelation wird in der Logik der EG zum Konstruktions- und Interpretationsprinzip ihrer Semantik der relationalen Ordnung. Es handelt sich bei der durch die Diagramme der EG repräsentierten Ordnung um eine transitive und reflexive Relation, in der das BT zum Gegenstandsbereich steht. Der philosophische Begriff, mit dem Peirce die semantische Deutung der Ordnungsrelation auf die Logik bezieht, ist das aristotelische Nota-Notae-Prinzip8: … gemäß dem Prinzip, das die Logiker »das Nota Notae« nennen, daß das Zeichen von irgendetwas, X, selbst ein Zeichen desselben X ist, stellt das Behauptungsblatt, weil es das Feld der Aufmerksamkeit repräsentiert, das allgemeine Objekt jener Aufmerksamkeit dar, das Diskursuniversum. Wenn dies richtig ist, dann ist die Kontinuität des BT in jenen Bereichen, in denen nichts eingetragen ist, das best mögliche Ikon der Kontinuität des Diskursuniversums – dort, wo es nur als dieses Universum Aufmerksamkeit findet – mithin der Kontinuität des erfahrungshaften Erscheinens dieses Universums, relativ zu irgendwelchen Objekten, die als ihm zugehörig dargestellt werden. (CP 4.561, Anm. 1, S. 449) Wichtig ist für unsere Fragestellung, daß mit dem Nota-Notae-Prinzip die Relation zwischen dem Ikon, den kognitiven Prozessen des Wahrnehmens und ihren Gegenständen durch eine ordnungstheoretische Bedingung hergestellt wird: Das BT hat eine semantische Bedeutung, weil es eine Ordnungsrelation zwischen der visuellen Wahrnehmung des leeren BT als ikonisches Zeichen und den Gegenständen im Diskursuniversum repräsentiert. Aufgrund der Transitivität und Reflexivität der Zeichenrelation repräsentiert das von uns wahrgenommene BT und a fortiori alle auf ihm eingetragenen Diagramme die Objekte des jeweiligen Diskursuniversums. Die Relation der ikonisch-logischen Graphen des BT zu möglichen Objekten in der wirklichen Welt kann unseren Erfahrungszugang zum Gegenstandsbereich deshalb einbeziehen, weil wir eine solche Verbindung als transitiv und reflexiv verstehen.9 Aus der Forderung der Transitivität folgt für Das manchmal auch als das Prinzip des dictum de omni bezeichnet wird. Die Reflexivität der logischen Beziehung wird von Peirce als »principle of identity« bezeichnet. Peirce fordert sie explizit nur selten für den Aufbau der EG. So heißt es z. B. in CP 4.348: »In order to form a system of graphs which shall represent ordinary syllogisms, it is only necessary to find spatial relations analogous to the relations expressed by the copula of inclusion [dabei handelt es sich um eine verallgemeinerte konditionale logische Verknüpfung, H.P.] and is negative and to the relation negation.« Im nächsten Satz formuliert er die formalen Merkmale einer graphischen Logik: »Now all the formal properties of the copula of inclusion are involved in the principle of identity [d. h. Reflexivität, in Peirces 8 9
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alle eingetragenen Diagramme: Alle auf dem BT stehenden graphischen Zeichenformen »erben« die transitive Ordnungbeziehung: Sie stehen in der Ordnung, die der zweidimensionalen Fläche des BT qua semantisch interpretierten Zeichen zukommt.10 Diese Semantisierung der Logik durch ihre Ikonisierung können wir jetzt etwas präziser beschreiben. Es handelt sich um die Annahme, daß von der semantischen Ordnungsbeziehung auszugehen ist, die durch die Inklusionsbeziehung auf der Fläche des BT dargestellt wird. Etwas auf dem BT behaupten, heißt danach immer, Wahres über einen Gegenstandsbereich behaupten. Für den graphischen Formalismus folgt daraus, daß auf der Fläche die Negation einer Aussage sie von der semantischen Beziehung zum übrigen nicht-negierten BT abtrennt und durch diese Abtrennung auf sie bezieht. Dies wird durch ein Zeichen ausgedrückt, das jeden in ihm liegenden Inhalt aus dem BT ausschneidet. Das Zeichen der Negation ist deshalb der Schnitt (cut), der als eine in sich zurücklaufende Linie, also als Kreis, Oval oder in jeder anderen in sich geschlossenen Form, gezeichnet wird11 Damit wird der Zusammenhang der transitiven Ordnungsbeziehung zum Gegenstandbereich für den eingeschlossenen Inhalt in ein Verhältnis der Opposition verwandelt.. Das durch den Schnitt eingeschlossene Gebiet ist ebenso implizit quantifiziert wie der Rest des BT, auf dem es liegt, ist aber durch den Schnitt modifiziert. D. h. alle Eintragungen auf dem Gebiet des Schnitts stehen in einem semantischen Ordnungszusammenhang, der jetzt um ein Universum negativer Sachverhalte erweitert wird. Eine solche logische Fläche, die das Negativ des Universums darstellt, das durch das BT ausgedrückt wird, bezeichnet Peirce deshalb manchmal als Verso, als Rückseite, die dem Recto des BT genau gegenüber steht. Im Gegensatz dazu ist ein Widerspruch ein Pseudograph. D. h. auch wenn er faktisch auf dem BT eingetragen ist, gehört er nicht in der durch das BT dargestellten semantischen Beziehung zum Gegenstandsbereich. Das 3. Diagramm drückt mit Hilfe des Schnitts die Negation der beiden zusammen behaupteten Aussagen aus:
Notation‚ »every X is an r to an X’, H.P.] and the dictum de omni [d. h. Transitivität, in Peirces Notation‚ »if every X is r to a Y, and every Y is r to a Z, every X is r to a Z«].« (CP 4.348) 10 Anders gesagt: Die Inklusionsbeziehung zwischen eingetragenen graphischen Zeichenformen zum BT ermöglicht der transitiven Ordnung der Zeichenformen, sich auf die Gegenstände des Diskursuniversums zu beziehen, weil sie mit dem Grundgraphen des BT verknüpft sind. 11 Im Syllabus zu den Lowell-Lectures über Logik von 1903 führt Peirce den Cut und die logische Ordnung auf seinem Gebiet durch die folgende Konvention ein: »Unter einem Cut soll eine in sich selbst zurückkehrende lineare Abtrennung (angemessen repräsentiert durch eine fein ausgezogene oder speziell gefärbte Linie) verstanden werden, die alles, was sie einschließt, von dem Behauptungsblatt trennt, auf dem sie selbst steht, oder von jedem anderen Gebiet, auf dem sie selbst steht. Der gesamte Raum innerhalb des Cuts (doch nicht einschließlich des Cuts selbst) soll das Gebiet des Cuts heißen. Obwohl das Gebiet des Cuts kein Teil des Behauptungsblatts ist, soll doch der Cut zusammen mit seinem Gebiet und allem, was darauf ist und so als von dem Blatt abgetrennt verstanden wird, unter dem Namen Einschluß des Cuts als auf dem Behauptungsblatt oder als auf dem anderen Gebiet befindlich aufgefaßt werden, auf dem der Cut liegen mag. Zwei Cuts können sich nicht überschneiden, doch kann ein Cut in jedem beliebigen Gebiet liegen.« (Peirce 1983, S. 141)
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Es regnet. Die Rose ist naß.
Diagramm 3: Negation
Die besondere Anschaulichkeit der EG zeigt besonders auch die Äquivalenz von »Wenn es regnet, dann ist die Rose naß« und »Es ist nicht der Fall, daß es regnet und die Rose nicht naß ist« auf dem BT durch eine einzige graphische Form symbolisierbar ist, wie Diagramm 4 zeigt:
Es regnet. Die Rose ist naß.
Diagramm 4: Das materiale Konditional
Diagramm 5: Nicht Identität zweier Dinge
VI. Wie kreativ ist die graphische Logik wirklich? Wir haben die Logik der Existential Graphs und ihr philosophisches Programm nun soweit kennengelernt, daß wir die Ausgangsfrage beantworten können: Ist diese Logik kreativ und ist sie dies aufgrund der konsequenten Umsetzung des philosophischen
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Programms der Semantik relationaler Ordnung? Das gesamte Konzept der Existential Graphs ist von dem semantischen Verständnis der Ordnungsrelation beherrscht: Das BT präsentiert und alle eingetragenen graphisch-logischen Zeichen präsentieren reflexiv, daß eine Objektorientierung in einer transitiven Ordnung auf Objekte hin besteht. Deshalb ist die Einführung eines graphischen Zeichens für die Existenzquantifikation durch eine Linie möglich, so daß man »…[eine gefettete] Linie selbst bedeuten läßt, daß etwas existiert, das identisch ist mit allem, was durch einen Punkt der Linie dargestellt wird.« (Peirce 1990, S. 106) Weil das BT durch seine semantische Graphensyntax bereits objektorientiert ist, lassen sich Aussagen über Identitätsverhältnisse auf einfache Weise graphisch symbolisieren. Die Aussage, daß zwei existierende Objekte nicht miteinander identisch sind, also z. B. die Aussage »Es gibt zwei Dinge, die nicht miteinander identisch sind«, läßt sich in der EG durch Diagramm 5 ausdrücken. Das Modell der Objektrepräsentation aufgrund der Ordnungsbeziehung der EG stimmt mit dem Pragmatismus überein. Denn der Pragmatismus fordert, theoretische und praktische Überzeugungen einander zuzuordnen und dadurch ihre Bedeutung zu klären. Denn das Pragmatismus-Prinzip, die sogenannte Pragmatische Maxime, ist eine methodische Regel, die die Klarheit unserer Gedanken erhöhen soll. Sie lautet: Es scheint also, daß die Regel, mit der man den dritten Grad der Klarheit des Verstehens (apprehension) erreichen kann, folgendermaßen lautet: Überlege, was für Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bedeutung besitzen könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstands. (CP 5.402) Gedankliche Klarheit soll gewonnen werden durch das Klären des Begriffs des Gegenstands. Diese methodische Forderung, daß ein Begriff des Gegenstands durch seine praktischen Wirkungen zu interpretieren sei, kann nur dann zur Klärung unseres Denkens beitragen, wenn der Bezug auf praktische Wirkungen selbst eine verläßliche Ordnungsbeziehung zum Gegenstandsbereich herstellt. Dies ist aber genau jene semantische Beziehung, die auch der Logik der EG zugrundeliegt. Doch es ist damit nicht der Pragmatismus, in die EG umgesetzt, und er liefert auch keine Prinzipien, die in die graphische Logik eingegangen sind. Eine Begründungsbeziehung verläuft vielmehr in der entgegensetzten Richtung: Die graphische Logik dient Peirce z. B. 1906 in dem Aufsatz Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus (in: Peirce 1993, S. 132–192) dazu, den Pragmatismus zu begründen. Das philosophische Programm der Peirceschen Philosophie, für das die graphische Logik eine kreative Umsetzung ist, teilt vielmehr mit dem Pragmatismus viele Voraussetzungen. Der umfassende systematische Zusammenhang philosophischer Annahmen und Theorien für die graphische Logik der EG und den Pragmatismus, sind Ausdruck eines ihnen beiden gemeinsamen philosophischen Programms einer formalen Phänomenologie, die ihrerseits auf mathematische Theorien und Begriffe zurückgreift. »Formale Phänomenologie« bedeutet dabei: Eine Theorie der kategorialen Formen, die die Struktur aller Erfahrung ausmachen, ist die allgemeinste philosophische Theorie. Sowohl die Semiotik, die formale Logik, der Pragmatismus und auch die Metaphysik
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greifen auf diese gemeinsame Basis zurück. Sie zu formulieren ist Aufgabe der formalen Phänomenologie. Dabei bedient sie sich jener mathematischen Theorien, Begriffe und Schlußweisen, die in der Analyse und Beschreibung der allgemeinen Struktur der Erfahrung anwendbar sind: Erfahrung ist, in allgemeinster phänomenaler Perspektive, ein Gefüge sich aufstufender Relationen. Das Resultat der formalen Phänomenologie sind deshalb die drei universalen Kategorien, die drei gestufte und nicht reduzierbare Formen von Relationen ergeben. Dies sind jene drei relationalen Grundformen, die Formen aller kognitiven Prozesse und aller Erfahrung zu sein beanspruchen. Das in den EG umgesetzte philosophische Programm einer Semantik relationaler Ordnung erfordert bereits eine spezielle Interpretation des mathematischen Relationenbegriffs.12 Jene aus der Relationenalgebra stammenden mathematischen Theorien und Begriffe, die bereits in der Phänomenologie konstitutiv verwendet wurden, werden nun weiter durch spezielle Bedingungen eingegrenzt. Deshalb gilt für das Verhältnis von graphischer Logik und Pragmatismus, daß sie beide auf derselben Ebene liegen: Sie bauen auf der Phänomenologie auf und interpretieren beide den aus der Algebra der Relationen stammenden Begriff der Ordnungsbeziehung, um dadurch das Primat der Semantik relationaler Ordnung auf unterschiedliche Weise umzusetzen. Wir sahen bereits, daß die Umsetzung der relationalen Ordnung in eine visuelle Formensprache durch Konventionen für die Interpretation von graphischen Zeichen gelingt. Die auf dieser Basis mögliche Graphenlogik erlaubt es so, eine Aussagen- und Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität visuell auszudrücken. Diese Formulierung eines graphisch-logischen Formen- und Schlußsystems mag bereits formal und intern kreativ sein. Doch ist deshalb die EG noch nicht extern kreativ. Die EG ist nur dann im vollen Sinne kreativ zu nennen, wenn sie als Logik die Ziele des Peirceschen Programms der formalen Analyse von Erfahrung und des Primats der Semantik der relationalen Ordnung effektiv und auf fruchtbare Weise einlöst.13 Natürlich kann es auch andere Forschungsprogramme oder Probleme der Philosophie, in den Wissenschaften oder der Technologie geben, die Teile des Ansatzes der Existential Graphs für ihre eigenen Zwecke fruchtbar machen. Aus der Perspektive dieser anderen Disziplinen würde die Logik der EG dann ebenfalls als eine kreative Theorie bewertet werden können. Man munkelt, daß diverse Software-Schmieden sich bei den EGs schon für Grafikprogramme bedient haben sollen. Ich glaube, daß derartige »fruchtbare Mißverständisse« nicht nur ein seltenes und blindes Zufallsschicksal einer Theorie in einer Kultur, sondern der Normalfall ihrer historischen Aneignung sind. Sie Dabei geht es um mehr als jenes Segment der quantifizierten Prädikatenlogik, die sich heute mit Relationen beschäftigt. Dabei geht es nicht etwa um eine Boolesche Algebra. Es ist die Theorie der Ordnungsrelationen, die heute in jene mathematische Theorie eingegangen ist, die man Verbandstheorie (lattice theory) nennt. 13 Wenn wir z. B. der Überzeugung sind, daß die Wirklichkeit zu erkennen bedeutet, daß sich mathematische Strukturen – kategoriale Formen – in unserem Erfassen der Erfahrungsgegenstände beschreiben lassen, die deren Objektorientierung herstellen. Und zwar so, daß das wahrnehmbar transformierbare Zeichenmaterial, mit dem wir sprechend, denkend und handelnd experimentierend umgehen, uns stets in Beziehung zur Struktur der Wirklichkeit setzt. 12
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sind ein besonderer Fall jener Wechselwirkung zwischen den Disziplinen, den Peirce in seiner Überlegung (siehe oben, Abschnitt II, CP 7.52) zur Interaktion zwischen den Wissenschaften anmahnte. Dieser Fall weist auf die Möglichkeit einer dritten, historischen Form von Kreativität hin: Die Anschlußfähigkeit der Neukonzeption einer Logik überlebt ihre Zeit und geht, in veränderter Form, in nicht-intendierte sachfremde Bereiche von Kultur und Zivilisation wirksam ein. Meine Schlußfolgerung lautet deshalb: Peirces graphische Logik ist fruchtbar in allen drei Hinsichten. Intern ist sie kreativ, da als formale Logik die EG einen relational semantischen und anschaulichen Aufbau liefert, der neuartig, elegant und anschaulich ist. Die EG sind aber auch extern kreativ, weil sie das philosophische Programm eines phänomenologisch und mathematisch vorgehenden Philosophierens umsetzen und gestatten, den dialogischen Prozeß des Umgangs mit Erfahrung logisch zu formalisieren. Die EG sind aber auch im weiteren Sinne historisch-kulturell kreativ, weil sie ein hohes Potential an Anwendungen haben, die über die reine formallogische Theorie und ihre philosophische Bedeutung hinausgehen.
Literatur Burch, Robert W.: A Tarski-Style Semantics for Peirce’s Beta-Graphs, in: J. Brunning / P. Forster (Hg.): The Rule of Reason – The Philosophy of C. S. Peirce, Toronto 1997, S. 81–95. Peirce, Charles S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bd. I–VI, hg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Harvard UP, 1931–35; Bd. VII u. VIII, hg. v. Arthur W. Burks, Harvard UP, 2. Aufl.: The Belknap Press of Harvard UP, 1958 [zitiert als: CP X.YZ]. Peirce, Charles S.: The New Elements of Mathematics by Charles S. Peirce, 4 Vol. in 5 Bänden, hg. v. Carolyn Eisele, Den Haag, Paris: Mouton 1976 [zitiert als: Peirce 1976 I bis IV]. Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen, hg. und übers. v. H. Pape, Frankfurt/M. 1983 [zitiert als Peirce 1998]. Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften 1, hg. und übersetzt von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986. Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften 2, hg. und übersetzt von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986 [zitiert als Peirce 1990]. Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften 3, hg. und übersetzt von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1993. Roberts, Don D.: A Decision Method for Existential Graphs, in: N. Houser / D. D. Roberts / J. V. Evra (Hg.): Studies in the Logic of C. S. Peirce, Bloomington 1997, S. 386–401. Roberts, Don D.: The Existential Graphs of C. S. Peirce, Den Haag: Mouton 1974. Shin, Sun-Joo: The Iconic Logic of Peirce’s Graphs, Cambridge 2002. Stjernfelt, Frederik: Diagrams as Centerpiece of a Peircean Epistemology, in: Transactions of the C. S. Peirce Society XXXVI / 3 (2000), S. 357–384.
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Zeman Jay J.: The Graphical Logic of C. S. Peirce, PhDiss, University of Chicago 1964. Zeman Jay J.: A System of Implicit Quantification, in: Journal of Symbolic Logic 32 (1967), S. 480–504. Zeman Jay J.: The Tinctures and Implicit Quantification over Worlds, in: J. Brunning / P. Forster (Hg.): The Rule of Reason – The Philosophy of C. S. Peirce, Toronto 1997, S. 96–119.
KOLLOQUIUM 3 Utopien – Kreative Entwürfe der Staatsphilosophie
Werner Becker Einführung: Gedanken über Utopie Rainer Forst Utopie und Ironie Zur Normativität der politischen Philosophie des »Nirgendwo« Richard Saage Zur Differenz und Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie Jean-Christophe Merle Die Utopie heute: Der Abschied von der Atopie und ihr Ausschluß
Einführung: Gedanken über Utopie Werner Becker (Gießen)
Unser Kolloquium steht unter dem Oberbegriff: »Utopien – Kreative Entwürfe der Staatsphilosophie«. Ich hatte, als ich die Leitung dieses Kolloquiums übernahm, gewisse Schwierigkeiten, der Thematik Aktualität abzugewinnen. Das Thema war sicherlich in meiner Studienzeit, in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, aktueller als heute. Das war jene Zeit, als die diesbezüglichen Werke von Ernst Bloch und Theodor Adorno, meines eigenen Lehrers in Philosophie, das Feld beherrschten. Beider Theorien stellten, aufs Denken über Utopie bezogen, Kontrastprogramme dar, Kontrastprogramme, deren Gegensätzlichkeit wir damals als äußerst stark empfanden. In einem waren sich beide Denker jedoch einig: beide bewegten sich in einem intellektuellen Rahmen, dessen Konturen durch die Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx bestimmt wurden. Die Idee der Utopie war so evidentermaßen an die Herstellung gesellschaftlicher Bedingungen im Sinn eines »Reiches der Freiheit« gebunden. Marxens klassenlose Gesellschaft wurde als historische Präzisierung des von Hegel beschriebenen geschichtlichen Ganges zu immer mehr Freiheit genommen. Zwischen Bloch und Adorno schieden sich die Geister zu jener Zeit jedoch in genau dem Maße, in dem man Deutschlands Katastrophe und den Holocaust geschichtsphilosophisch gewichtete. Bloch berief sich auf die beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts, um gerade erst recht auf der Notwendigkeit der Befreiung der Menschheit von kapitalistischen Zwängen zu bestehen. Für Adorno hingegen hatte sich durch Hitler und den Holocaust die Idee des zivilisatorischen Fortschritts überhaupt desavouiert. So hielt der eine denn an der Positivität möglicher Utopie fest, während der andere, auf der Basis negativer Dialektik, Utopie nur noch als Maßstab des gesellschaftlich Schlechten zu denken vermochte. Wie meist in unserem Fach aber erledigte sich die Debatte nicht auf dem Weg der Durchsetzung der besseren Argumente, sondern durch Verschiebungen im Zeitgeist. Die Attraktion des Marxismus ging nach und nach zurück. Das hing in unserem Land auch mit politischen Umständen wie der Erfahrung mit dem Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion zusammen. Dennoch war auch schon in den Siebzigern spürbar, daß der Stern des Weltkommunismus im Sinken begriffen war. Es wurde so auch nur noch über ein Ende der Utopie diskutiert. Seitdem ist unter diesem Titel meines Wissens jedoch nichts Aufsehenerregendes mehr passiert. Dennoch enthält der Begriff der Utopie nach wie vor eine – wenn auch eher versteckte – Faszination, selbst wenn die öffentliche Ausstrahlungskraft geschwunden ist. Ich vermute, daß das mit einem philosophischen und politischen Versprechen zusammenhängt, das in der europäischen Neuzeit an die Menschen in den europäischen Ländern ausgegeben wurde und das dennoch nie wirklich eingelöst werden konnte. Und zwar bis heute nicht. Lassen Sie mich, zur Einstimmung ins Thema, ein paar Gedanken daran verwenden.
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Seit Descartes ist unser neuzeitlicher Philosophiebegriff eng mit dem Thema der menschlichen Subjektivität verbunden. Unter uns Leuten vom Fach handelt es sich bei dieser Feststellung gewiß um eine Trivialität. Dennoch kommt ihr unter einem gewissen Aspekt von Subjektivität eine Bedeutung zu, in der genau das enthalten ist, was ich als Kernmotiv des neuzeitlichen utopischen Denkens im Auge habe. Bei dem, was seitdem Subjektivität heißt, ging es nämlich nicht nur um allgemeine Begriffe der Subjektivität, sondern immer auch um den Stellenwert, den die Wahrnehmung und Anerkennung unserer einzelmenschlichen Individualität dabei besitzt. »Individualität« aber bezeichnet jene Art von Subjektivität, auf die wir uns in unserer Eigennamenbedeutung beziehen. So etwa auf meine Individualität, der ich Werner Becker heiße und bin und als dieses kontingente Individuum hier in diesem Raum zu eben diesem Zeitpunkt vor Ihnen stehe. Es ist mehr als trivial, daß auch die allgemeinen Inhalte unseres Denkens, an denen wir primär interessiert sind, stets nur in einem Kopf wie meinem oder Ihrem, d. h. in dem eines kontingenten individualistischen Individuums, reflektiert werden. Man muß nicht erst Schopenhauer bemühen, um zu begreifen, daß unter dem individualistischen Aspekt alles, was ich als Welt denke, immer nur meine Vorstellung und Ihre Vorstellung – sprich Vorstellung einer Individualität – ist und sein kann. Verschärft wird die Sache dadurch, daß wir uns, in der Sicht unserer Eigennamenbedeutung, nicht nur als eines unter vielen gleichen menschlichen Individuen definieren, sondern als ein jeweils einzigartiges Exemplar unserer Gattung: als einmalige Person. So besehen wird die Welt meiner und Ihrer Vorstellung geradezu zu einer solipsistischen Welt. Was aber rechtfertigt dann noch unsere Überzeugung, in einer gemeinsamen Welt zusammenzuleben? Wie das gehen soll, hat in der Philosophie der Neuzeit eine höchst zwiespältige Antwort gefunden: auf der einen Seite durch eine Traditionslinie, die die Individualität des Einzelnen ins Zentrum rückt. Sie reicht von Leibniz über Stirner bis Nietzsche. Auf der anderen Seite durch jene andere Linie, die die Eigenschaft singulärer Individualität nur dem kollektiven Bewußtsein zubilligt: sie reicht von Descartes über den Kant der transzendentalen Subjektivität bis zu den Idealisten Fichte und Hegel mit ihren Konzepten absoluter Subjektivität und, last not least, bis hin zu Marx, bei dem die Einzelnen in der einzigartigen Kollektivsubjektivität einer sozialen Klasse ganz und gar aufzugehen haben. In all diesen Konzepten geht es nun darum, die existentielle Frage einer Anerkennung unserer Eigennamen-Individualität zu beantworten. Es ist dies die Frage, die, so wie ich es sehe, gleichsam leitmotivisch das utopische Denken der Moderne beherrscht. Das Thema der Individualitätsanerkennung hat sich vor allem in zwei Dimensionen der Philosophie niedergeschlagen: in denjenigen von Moralphilosophie und politischer Philosophie. In der Moralphilosophie ging es um die Rolle, die dem Konzept der Person zugewiesen wurde. Natürlich ist hier in erster Linie an Kants Ethik zu denken. In der Staatsphilosophie und Staatstheorie handelt es sich um die alles Politische heutzutage dominierende Thematik der Menschenrechte. Das Thema selbst stammt aus unserem christlichen Erbe. Dort ging es, unter dem Titel der Seele, um das Verhältnis eines jeden einzelnen, qua Individualität, zu Gott. Bekanntlich sah das Christentum aller Zeiten die Berücksichtigung unserer Individualität im Sinn personaler Einzigartigkeit
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erst für das Jenseits vor. Eine »Verdiesseitigung« der Anerkennung von Individualität kam erst durch das neuzeitliche Menschenrechtsprogramm der neuzeitlichen Staatsphilosophie zustande. Seitdem aber wird unser politisches – und darüber hinaus auch kulturelles -Bewußtsein vom Versprechen beherrscht, eine Gesellschaft zu errichten, die jedem einzelnen qua Person die Anerkennung seiner Individualität ermöglicht. Das aber ist ein uneinlösbares – und das eben heißt: utopisches – Versprechen. Wurde bis heute doch nirgendwo eine Gesellschaft zustande gebracht, von der behauptet werden könnte, sie ermögliche eine Anerkennung unserer einzelmenschlichen Individualität. Wie sollte das auch gehen? Gerade unter den modernen rechtlichen Gleichheitsbedingungen ist es geradezu ausgeschlossen, daß jeder mit seinem Anspruch auf Einzigartigkeit gesellschaftlich anerkannt werden könnte. Weiß sich doch jeder qua Individualität als schlechthin einzigartig und somit unvergleichlich. Und Recht soll rechtsstaatlich bekanntlich unter Absehung der Person gesprochen werden. Mir scheint, daß dennoch gerade die Unerfüllbarkeit dieses Versprechens das Thema Utopie nicht von der Agenda philosophischen und politischen Denkens verschwinden lassen wird. Es ist nämlich das schlechthin utopische Versprechen, das zugleich auf Wünsche trifft, die jedem von uns innerlich präsenter sind als fast alles andere, was wir sonst noch vom gesellschaftlichen Zusammenleben mit anderen erwarten und erhoffen. Häufig haben Dichter das bessere Gespür für derlei existentielle Befunde. Ich möchte zum Abschluß Franz Kafka mit der Quintessenz seiner Parabel Vor dem Gesetz zitieren. Er schildert dort das Schicksal eines »Mannes vom Lande«, der vor dem Gesetz die allein ihm zugesagte und nur ihn betreffende Gerechtigkeit einzufordern gedenkt. Vor dem Gerichtshof trifft er auf einen Türwächter, der ihn durch schreckliche Drohungen vom Eintritt abzuschrecken sucht. Der Mann wartet sein ganzes Leben lang auf die Einladung der Richter zum Einlaß. Vor seinem Tod läßt er noch einmal alle Erfahrungen der langen Wartezeit innerlich Revue passieren. Sie münden für ihn in eine einzige Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht zu stellen gewagt hatte. »Alle streben doch nach dem Gesetze: wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, daß der Mann seinem Ende nahe ist, und ruft ihm, um verstanden zu werden, laut ins Ohr: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich aber gehe jetzt und schließe ihn zu.« Ich überlasse es Ihrem Nachdenken, die Quintessenz aus Kafkas Parabel als eine Antwort auf die unaufgebbare und zugleich wohl utopische Sehnsucht eines jeden von uns zu deuten, gesellschaftliche Gerechtigkeit für uns als je einzigartige Personen zu finden.
Utopie und Ironie Zur Normativität der politischen Philosophie des »Nirgendwo« Rainer Forst (Frankfurt/M.)
1. Eine radikale Tradition Die politischen Utopien nehmen in der Geschichte der politischen Philosophie einen unklaren Ort ein, fast einen Nicht-Ort. Dies ist erklärungsbedürftig, denn zieht man den Beginn dieser Geschichte in Betracht, Platons Politeia, so stellen die großen utopischen Entwürfe der Neuzeit eigentlich die konsequentere Fortsetzung der dort entfalteten Denkweise dar – im Unterschied etwa zu den naturrechtlichen Vertragstheorien, die sich auf nur einen Teil dessen konzentrieren, was bei Platon verhandelt wird, nämlich auf die politische Gerechtigkeit, das heißt die Legitimität politischer Herrschaft. Die Utopien aber malen ein wesentlich umfassenderes Bild der Gesellschaft, das die Gerechtigkeit zwar enthält, aber auch überbietet, und zwar in folgendem Sinne: Sie liefern das literarisch farbige Gemälde einer politischen Gemeinschaft, in der gesellschaftliche Konflikte nicht in erster Linie auf gerechte Weise beigelegt werden, sondern in der die Ursachen von Konflikten »mit Stumpf und Stiel ausgerottet« sind, wie es am Ende von Thomas Morus’ Utopia heißt, dem Werk, das dem Genre Namen und Form gab.1 »Radikal« also im echten Wortsinne, die politischen Übel von der Wurzel her bekämpfend. Dennoch stehen diese Theorien des guten Staates eher am Rande unserer politischen Tradition, ein wenig wie Mauerblümchen – schön anzusehen, aber eher Zierat.2 Ernst Bloch versuchte, das Verhältnis der Utopien zu den Naturrechtstheorien durch eine Analyse ihrer normativen Unterschiede aufzuklären, die er auf die Formel »Glück« versus »Würde« brachte: »Die Sozialutopie geht überwiegend auf menschliches Glück und überlegt sich, in mehr oder minder romanhafter Form, seine wirtschaftlich-soziale Form. Das Naturrecht (…) geht überwiegend auf menschliche Würde und leitet, in tunlichst durchdachter Deduktion, aus dem Begriff eines a priori freien Vertragssubjekts die Rechtsbedingungen ab, unter denen die Würde sozial gesichert und erhalten
Für hilfreiche Anmerkungen und Rückfragen danke ich Mattias Iser sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums »Utopien – Kreative Entwürfe der Staatsphilosophie« im Rahmen des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie in Berlin. 1 Thomas Morus: Utopia, in: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 108 (Herv. R. F.); im lat. Original »quanta scelerum seges radicitus evulsa est« (ders.: Utopia, Latin Text and English Translation, hg. v. George M. Logan, Robert M. Adams u. Clarence H. Miller, Cambridge 1995, S. 244). 2 Hilfreiche Gesamtdarstellungen politischer Utopien sind Richard Saage: Utopische Profile, 4 Bde., Münster 2001 ff.; Frank E. Manuel/Fritzie P. Manuel: Utopian Thought in the Western World, Cambridge MA 1979; Krishan Kumar: Utopia and Anti-Utopia in Modern Times, Oxford 1987.
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wird.«3 Das Naturrecht, so Bloch, enthält damit weit mehr »Pathos des Männerstolzes«, hat eine kämpferische »Eisenseite«, die den Sozialutopien fehlt. »So sehr Sozialutopien mehr Zukunft enthalten, so ist diese doch mehr eine aus glücklicher Menschenflora als aus durchgekämpfter Forderung.«4 Für den Dialektiker Bloch ist dies eine zureichende historische Erklärung der Gewichtung zwischen den verschiedenen Theorieansätzen, zumindest solange die utopischen Gehalte noch nicht historisch-materialistisch geerdet waren. Richard Saage, der sich in der zeitgenössischen Diskussion wie kein zweiter um die Deutung dieser politischen Tradition verdient gemacht hat, folgt Bloch insofern, als er die naturrechtlichen Theorien als solche ansieht, in denen die Selbsterhaltung und Würde des Einzelnen im Vordergrund steht, während die Utopien die Gesellschaft holistisch begriffen, und zwar nicht nur methodisch, sondern auch normativ: Der Staat werde als Kollektiv verstanden, dessen Wohl dem Einzelnen gegenüber Vorrang habe; mehr noch, die Differenz zwischen dem Einzel- und dem Gemeinwohl sei sozial-institutionell aufgehoben.5 Im Unterschied zu Bloch freilich, der Utopien der Freiheit (insbes. Morus) von solchen der perfekten sozialen Ordnung (z. B. Campanella) unterscheidet, vertritt Saage eine durchgängig kollektivistische Interpretation der neuzeitlichen Utopien und diagnostiziert die »Auslöschung des Individuellen«.6 Dieser kritischen Deutung wird häufig noch eine weitere hinzugefügt, der zufolge das neuzeitliche utopische Denken nicht nur eines der umfassenden sozialen Ordnung ist, sondern eines, das die Herstellung einer solchen Ordnung zur Frage der Sozialtechnik macht. Jürgen Habermas hat in diesem Sinne auf die Zeitgenossenschaft von Machiavellis Il Principe (1513) und Morus’ Utopia (1516) hingewiesen: »Wie bei Machiavelli die Technik der Machterhaltung, so wird bei Morus die Organisation der gesellschaftlichen Ordnung moralisch neutral. Beide befassen sich nicht mit praktischen Fragen, sondern mit technischen.«7 Beide Werke sind demnach Ausdruck der in der Renaissance aufkommenden Auffassung von der Plastizität des Politischen, von der Herstellbarkeit der guten und effizienten Ordnung. Diese kurzen Einblicke in die Vielfalt der Deutungen der neuzeitlichen politischen Utopien – und auf diese will ich mich im folgenden beziehen – zeigen, daß sich demjenigen, der nach der spezifischen Normativität der politischen Utopien fragt, eine Reihe von Fragen stellen: Welche »glückliche Menschenflora« trifft man dort an; sind die Utopien Bilder kollektiver Ordnungen, in denen Freiheit und Würde der Einzelnen fehlen; und wie »künstlich« herstellbar ist die Gesellschaft, die dort ausgemalt wird?
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Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 2. Bd., Frankfurt/M. 1973, S. 632. Ebd., S. 631. Saage: Utopische Profile, Band I, a. a. O., S. 10. Ebd., S. 112. Jürgen Habermas: Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1982, S. 60.
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2. Politischer Perfektionismus Treten wir noch einmal einen Schritt zurück und halten meine anfänglich genannte, über Blochs Bestimmung hinausgehende These über den Hauptunterschied zwischen einem naturrechtlichen Gerechtigkeitsdenken und einer utopischen Gesellschaftsvorstellung fest: Ersteres bezweckt die Legitimation einer politischen Ordnung, in der gesellschaftliche Konflikte gerecht behandelt und beigelegt werden, letztere die Beseitigung der Ursachen solcher Konflikte.8 Erstere zielen auf die Freiheit von menschlicher Willkür ab, letztere darüber hinaus auf die Freiheit von sozialer Not, von Mangel, von Leid, letztlich vielleicht sogar von den Kontingenzen des sozialen und des menschlichen Lebens insgesamt. Dies verdient wahrhaft den Namen »politischer Perfektionismus«: die Idee einer vollkommenen Gesellschaft vollkommener Individuen, die durch die sozialen Institutionen »neu« erschaffen werden; also in einem autopoietischen Kunststück sich durch die Errichtung sie perfektionierender Institutionen selbst vervollkommnen – eine Paradoxie, die in den Utopien zumeist durch die Figur quasi göttlicher Staatsgründer gelöst wird, Utopos etwa, »der das rohe und wilde Volk zu der Gesittung und Bildung heranzog, durch die es jetzt fast alle Menschen übertrifft«.9 Also Vorstellungen »geleiteter« politischer Kreativität. Man sieht an dieser Stelle schon, daß wir keinesfalls in postutopischen Zeiten leben: Die Idee der Selbstvervollkommnung des Menschen treibt heute Blüten, die vornehmlich auf wissenschaftlich-utopischem Boden erstehen, seien es Träume der genetischen Optimierung des »Menschenparks«10 oder solche der neurophysiologischen Durchleuchtung des Menschen, die diesen endlich berechenbar machte.11 Es scheint innerhalb der Utopien tatsächlich ein interner Zusammenhang zwischen dem Thema der radikalen Befreiung von menschlichen Fesseln und der zunehmenden Verstrickung in »unmenschliche« und freudlose biopolitische Kontroll- und Ordnungssysteme zu bestehen.12 Wenn es um Vorstellungen einer Gesellschaft ohne Makel geht, liegen Utopie und Dystopie nahe beieinander.
3. Reflexion, Übertreibung, Ironie Mit der Idee einer von Konfliktursachen befreiten Gesellschaft ist das wesentliche Strukturmerkmal politischer Utopien genannt und mit der – wenn man so will – Dialektik dieser Freiheit und des Umschlags in Unfreiheit in einer kontrollierten Gesellschaft ein weiteres. Auf letzteres beziehen sich die berühmten Kritiken der Utopien, von Popper Rousseaus Contrat social nimmt so gesehen eine Zwischenstellung ein. Morus: Utopia, a. a. O., S. 48 (im folgenden U). 10 Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark, Frankfurt/M. 1999. 11 Dabei sei an die behavioristische Utopie von B. F. Skinner erinnert, etwa in: Walden Two, New York 1948; vgl. auch ders.: Freedom and the Control of Men, in: George Kateb (Hg.): Utopia, New York 1971, S. 57–76. 12 Diese Problematik ist vielfach literarisch bearbeitet worden, vgl. in jüngster Zeit etwa die Romane 8 9
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über Talmon bis Dahrendorf, ganz überwiegend.13 Diese Merkmale stellen jedoch nur die halbe Wahrheit über die Utopien dar. Man unterschätzt diese nämlich, wenn man sie in dieser Dialektik gefangen sieht, denn in meinen Augen sind sie selbst Reflexionsformen dieser Problematik, wenn auch mit deutlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Autoren. Und wichtig zu sehen ist ferner, daß es zwei dieser Reflexion geschuldete, besondere Stil- und Denkmittel gibt, die den Utopien eigen sind: das der Übertreibung und das der Ironie, als konsequenteste und eleganteste Form der moderaten Skepsis bezüglich der Wünschbarkeit und der Herstellbarkeit der besten Gesellschaft. Utopia liegt nicht deshalb räumlich oder zeitlich fernab, weil es ein »reiner Traum« ist; es liegt weit entfernt und doch in der Menschenwelt, weil das Bild der perfekten Gesellschaft nicht nur die Verkehrtheit der bestehenden Welt zu zeigen vermag, sondern auch die Risiken der anderen. Die Utopie ist ein Vexierbild, das zeigt, wie nötig und zugleich schwierig es ist, der Welt, wie sie ist, zu entkommen: schwierig nicht nur wegen des weiten und beschwerlichen Weges nach Utopia, sondern auch wegen der Zweifel, ob der Weg wirklich lohnt. Dies aber versöhnt nicht mit dem Bestehenden, es zwingt das utopische Bewußtsein vielmehr zur doppelten Kritik, zur Ambivalenz. Die Ironie ist die Haltung dessen, der hier wie dort nicht zuhause ist, der sich aber gleichwohl nicht resigniert von der Bühne des Politischen abwendet.
4. Morus’ Utopia An welchem Werk ließe sich diese Ambivalenz besser zeigen als an dem wichtigsten und bei weitem beeindruckendsten dieser Tradition, dem des Thomas Morus. Es hat sich stets der Eindeutigkeit entzogen, von den einen als Traktat neuzeitlicher Freiheit und Demokratie gefeiert, wurde es von anderen als Vorbote des Imperalismus oder als totalitäre Kontrollgesellschaft kritisiert. Für die einen Vorläufer des kommunistischen Zeitalters, für die anderen ein skeptisches Werk des späteren katholischen Märtyrers St. Morus. Für die einen eine soziale Anklage heiligen Ernstes, für die anderen ein humanistisches jeu d’esprit. Mir scheint, daß das Buch vieles davon ist, aber eines vor alledem: ein sozial-politisches Gegenbild zur englischen Gesellschaft von Morus’ Zeit, die der Gegenstand schneidender Kritik im ersten Buch ist, doch ein Gegenbild, das wieder andere Gegenbilder erzeugt und benötigt – ein Spiegelspiel der politischen Reflexion, mit dem Sinn, diese nicht ruhen zu lassen. Das Buch ist ein Buch der Ambivalenzen, so wie man von Morus sagte, man könne bei ihm nie sicher sein, ob er scherze oder ernsthaft spreche14 – der Morus, dem Erasmus von Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, Köln 2005, und Jean-Christofe Rufin: Globalia, Köln 2005. Den Hinweis auf Rufin verdanke ich Heinz Steinert. 13 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Bern 1957; J.L. Talmon: Utopianism and Politics, in: Kateb (Hg.): a. a. O., S. 91–102; Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia, in: ders.: Pfade aus Utopia, München 1986. 14 So die Äußerung von Beatus Rhenanus über Morus sowie seine Selbstbeschreibung, zit. bei Robert C. Elliott: The Shape of Utopia, in: Sir Thomas More: Utopia, hg. v. Robert M. Adams, New
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sein ironisches Lob der Torheit zueignet, das im Titel – Moriae encomium – auf Morus’ Namen anspielt, wofür Erasmus sich im Widmungsschreiben entschuldigt, »denn ein Scherz wie dieser – er ist, will ich hoffen, weder vulgär noch überall witzlos – machte dir stets großen Spaß«.15 In eben solchem Geiste antwortet Morus mit seiner Schrift; schon der Titel läßt im Unklaren, ob es sich um »Nirgendwo« oder den »guten Ort« handelt; der Untertitel kündigt ein »goldenes« (oder »goldiges«) Büchlein von der besten Staatsverfassung an, »nicht minder heilsam als kurzweilig zu lesen«. Die Personen einschließlich seiner selbst, die in die Rahmenerzählung eingebunden sind, eröffnen ein unendliches Spiel der Referenzen, und der der Insel Utopia kundige Raphael Hythlodeus ist dem Namen nach ebenso ein »Aufschneider« wie ein im »Unsinn erfahrener«, also einer, der wahr und falsch unterscheiden kann. Schon in der Vorrede an seinen Freund Aegidius gibt Morus den Ton vor und klagt die Gelehrten an, die keinen Spaß verstehen (U 16). Das erste Buch freilich versteht selbst wenig Spaß. Mit aller Wucht werden die kirchlichen und staatlichen Autoritäten Englands kritisiert, insbesondere der Adel, laut Hythlodeus Ausbeuter und Verderber des ganzen Landes. Hier vermischen sich urchristliche und sozial-egalitäre Motive, wobei letztere – in nahezu moderner Weise – strukturelle Ursachen für die wachsende und zu hart bestrafte Kriminalität aufzeigen.16 Und schon hier wird, mit Bezug auf das platonische Vorbild, der Generalschlüssel für die Überwindung aller sozialer Übel genannt: die Abschaffung des Privateigentums; nur so könne die Gesellschaft »geheilt« (U 45) werden. Morus selbst freilich gibt an dieser Stelle wie auch am Ende des zweiten Buches in eigener Person zu bedenken, daß eine Gesellschaft ganz ohne Eigentum nicht produktiv sein könne – und fordert damit nicht nur die ausführliche Erzählung des Hythlodeus heraus, sondern leitet das dann folgende Reflexionsspiel ein, das darin besteht, Utopia als perfektes und dann doch zu perfektes und so eben nicht perfektes Gegenbild zur bestehenden Gesellschaft zu sehen.
5. Verkehrte Welten Utopia, das in vielen Hinsichten an die englische Insel erinnert, ist ein Musterbild der Gleichförmigkeit: Alle 54 Städte sehen gleich aus. Die Haushalte sind gleichermaßen geordnet, und der Austausch der Stadt- und der Landbevölkerung ist klar geregelt, ebenso wie der der Wohnhäuser. Hier gibt es kein rein privates Zuhause. Alle Bürger York 1992, S. 181–195, 187 ff. Elliott liefert eine aufschlußreiche Interpretation der Utopia als Satire, allerdings ohne deren systematisch-kritische Funktion aufzuzeigen. 15 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Ausgewählte Schriften Bd. 2, Darmstadt 1995, S. 3. Vgl. dazu auch die spielerischen Briefe, die die Mitglieder des humanistischen Freundeskreises von Erasmus und Morus über die Utopia austauschten, in: More: Utopia, hg. v. Adams, a. a. O., S. 108– 133. 16 »Man setzt nämlich harte und grauenhafte Strafen für Diebe fest, während man vielmehr Vorsorge treffen sollte, daß sie irgendein Auskommen finden, damit keiner in die Zwangslage gerät, zuerst stehlen und dann sterben zu müssen.« (U 24)
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und Bürgerinnen sind gleich gekleidet, freilich unterscheiden sich die Kleider der Geschlechter und die der Verheirateten und Ledigen. Produktion und Reproduktion sind weitestgehend geregelt; nur sechs Stunden Arbeit sind nötig, doch wird der Rest nicht mit »Ausschweifungen und Faulenzerei« (U 55) vergeudet, sondern mit Fort- und Weiterbildung verbracht, lediglich eine Stunde gilt der Erholung; auch die Schlafzeiten sind festgelegt, so wie überhaupt das Ganze an eine Klosterordnung erinnert. Typisch für Morus’ doppelwendiges Verfahren ist an dieser Stelle, daß die sich mit jedem Absatz steigernde, hyperbolische Schilderung der utopischen Einform- und Eintongesellschaft aufgefangen wird durch die Rückblende auf die Mißstände in England und die dortige »faule Gesellschaft« (U 56) von Priestern und Großgrundbesitzern. Wie in allen Utopien seit Platon gilt der gesellschaftlichen Reproduktionsordnung besonderes Augenmerk – etwa im Unterschied zu dem Thema der Regierung im engeren Sinne, die sich – durch die Syphogranten, Traniboren und einen Präsidenten – demokratisch aus den Haushalten zusammensetzt, wobei kaum durchgreifender politischer Regelungsbedarf besteht, es sei denn, es handelte sich um Bedrohungen von außen. Die Familien sind patriarchal geordnet, werden sie zu groß, werden die Kinder auf andere Familien umverteilt (U 59). Schwillt die Gesamtbevölkerung zu stark an, werden auf dem nächstgelegenen Festland Kolonien gegründet. Die Eingeborenen dort werden aufgenommen oder aber vertrieben, wenn sie nicht nach den utopischen Gesetzen leben wollen. So lugt hier und da die Gewalt deutlich genug aus der Erzählung des friedlichen Utopia heraus, so wie auch nur Sklaven (zur Zwangsarbeit verurteilte Verbrecher) dazu herangezogen werden, Vieh zu schlachten. Daneben erzählt Morus weitere Einzelheiten mit einem ironischen Augenzwinkern. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, und es gilt als unanständig, alleine essen zu wollen. Das Essen beginnt mit einer kurzen moraltheoretischen Abhandlung, freilich, wie Morus feinsinnig hinzufügt, »einer kurzen, damit kein Überdruß entsteht« (U 62). Um das Risiko zu vermeiden, jemanden zu heiraten, den man abstoßend finden könnte, werden die Bewerber(innen) einander nackt vorgestellt, denn man kaufe ja auch keinen Gaul, »ehe nicht der Sattel abgeschnallt und alle Decken weggenommen sind« (U 82). Und so geht es weiter mit der Schilderung zweier verkehrter Welten: Die englische ist verkehrt, weil hier die Faulen, Ruchlosen und Dummen herrschen und die Ehrlichen sich abmühen, die utopische ist in einem guten Sinne verkehrt, weil sie diese Verkehrung zurücknimmt, doch verkehrt sie sich selbst wieder in eine Dystopie der Kontrolle und der Absurditäten; so darf niemand einen Freund in einer anderen Stadt besuchen, der dafür keinen Erlaubnisschein hat. Deutlich wird das Verkehrungsspiel auch in der Diskussion von Geld und Gold. Die utopische Wirtschaft funktioniert ohne Geld, und Gold hat für sie keinen Wert; mehr noch, um ihm einen negativen Wert zu verleihen, fertigen die Utopier ihr Nachtgeschirr und Fesseln aus Gold, was etwa dazu führte, daß die aufgeblasenen »Anemolier« (Windbeutel) bemitleidet wurden, als sie goldbehängt zu Besuch kamen (U 67). Zugleich aber wird ein jeder Distinktionsdrang strenger kollektiver Disziplinierung unterworfen, was so ausführlich geschildert wird, daß ein Entfremdungseffekt entsteht.
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Ein weiteres Beispiel solch doppelter Verkehrung: Anders als in schlechten, also den vertrauten Gesellschaften, werden die Kranken mit Hingebung von der Gemeinschaft gepflegt; und gleichwohl wird ihnen, wenn sie unheilbar krank sind, der Tod empfohlen und dabei geholfen, das Leben zu beenden (U 81). Eine – zumindest im Kontext des 16. Jahrhunderts – ganz unerhörte Praxis, zugleich aber auch ein Element utopischen Glücksstrebens. Sarkastisch werden die europäischen Fürsten und Päpste, deren Vertragsbrüchigkeit in der damaligen Zeit berüchtigt war, für ihre Vertragstreue gelobt (U 86), und die Utopier werden zugleich als Volk dargestellt, das den Krieg ebenso verabscheut wie es ihn auf strategische und hinterlistige Weise zu führen vermag. Sie werben etwa Söldner an, um für sie zu kämpfen, sind gleichwohl aber nicht gram darum, wenn dieser »Abschaum der Menschheit« zugrunde geht (U 92). Sie setzen auf den Kopf der gegnerischen Anführer einen Preis aus – und daß dies »bei anderen Völkern als abscheuliches Verhalten und Zeichen der Entartung« (U 90) gilt, ist ihnen gleich, denn sie leben ja in einer anderen, einer verkehrten Welt.17 Das Ende des Buches zeigt wiederum dieses Muster der Doppelwendigkeit. Die gegenwärtigen Gesellschaften leben eindeutig verkehrt: »Was früher als ungerecht galt: den treuesten Diener des Staates [gemeint sind Bauern, Tagelöhner, Handwerker; RF] mit Undank zu lohnen, das haben sie [die Reichen und Mächtigen; RF] (…) ins Gegenteil verkehrt, ja durch ein öffentlich verkündetes Gesetz als Gerechtigkeit erklärt!« (U 108) So erscheinen die gegenwärtigen Staaten als »Verschwörung der Reichen«, und als einzige Möglichkeit, diese Verkehrung »mit Stumpf und Stiel« (ebd.) auszurotten, erscheint Hythlodeus die Abschaffung von Geld und Privateigentum. Mit dieser radikalen Veränderung gehe dann auch eine sittliche Revolution einher, die Verabschiedung des Grundübels der »Hoffart«, des Stolzes und der Ehrsucht – eines übertriebenen Distinktionstriebes, den Rousseau später beredt anklagen wird. Aber auch diese Verkehrung der Verkehrtheit führt nicht zu einer richtig gestellten Welt, denn in seiner Erwiderung auf Hythlodeus führt die Erzählfigur Morus die Dinge an Utopien auf, die ihm »überaus unsinnig« (U 109) erscheinen, von der Kriegsführung bis zur Religion, und er weitet dies auf die »ganze Verfassung« und Lebensform aus, die zu wenig Raum lasse für die »Erhabenheit« und die »wahre Zierde« eines Staatswesens. Dieser Relativierung, die freilich selbst auch wieder durch das folgende, abschließende Lob Utopiens relativiert wird, hätte es freilich gar nicht bedurft: Der ganze Morussche Diskurs macht klar, daß die distanzierende Ironie nicht nur der gegebenen, sondern auch der vorgestellten sozialen Welt gilt. Der Schlüssel zum Erschließen der besseren Welt wird gezeigt, doch die Welt, die sich öffnet, ist nicht perfekt. Es bleibt so17 Viele weitere programmatische Ambivalenzen wären zu nennen, etwa die, ob die Nähe der tolerant-deistischen, heidnischen Religion der Utopier zum Christentum bedeutet, daß letzteres erstere vervollkommnet – oder daß alles darüber Hinausführende eine Abkehr von einer ursprünglichen Religiosität ist, eine weitere Verkehrung also. Dazu paßt auch der Schwank (in dem Sendschreiben an Aegidius) von einem »frommen Mann« (U 15), der vom Papst gesandt nach Utopien reisen will, um die rechte Religion zu verbreiten – und nur nicht weiß, in welche Richtung er sich einschiffen soll.
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mit der menschlichen Vorstellungskraft und Kreativität überlassen, mit diesem Schlüssel weitere Türen auszuprobieren oder andere Schlüssel zu versuchen. Die Annahme freilich, es könnte einfach sein, in die perfekte Welt einzutreten – es könnte dafür gar ein Programm geben – liegt Humanisten wie Erasmus und Morus fern; wer so wie diese die vielen Masken des Menschlichen entlarvt, vertraut nicht auf eine platonische Hinterwelt, die alle Rätsel löst. Ihnen zufolge ist der ebenso lächerlich, der die Masken auf der Bühne für echt hält, wie der, der glaubt, ihr Herunterreißen enthülle die volle Wahrheit. Der wahre Utopist ist, um dies zu wiederholen, nirgendwo zuhause. Das ist der eigentliche Sinn des Namens.
6. Weiterungen (und Verengungen) Nun könnte man einwenden, diese Analyse könnte allenfalls auf den Meister der Ironie, Morus, zutreffen, nicht aber auf die ganz anders gelagerten Utopien von Campanella oder Bacon etwa, und schon gar nicht auf die Utopien der Aufklärung und des frühen Sozialismus, die sich zunehmend programmatisch verstanden. Dazu hier nur einige wenige Bemerkungen. Der Dominikaner Campanella zeichnet in seinem Sonnenstaat (1602) das Traumgebilde einer Naturwissenschaftsklostergesellschaft, die einerseits den Schlüssel zum sozialen Glück gefunden hat – die Ausrottung der Selbstsucht durch extreme Formen der Kollektivierung, bis hin zur Auflösung der Familienstruktur –, die andererseits aber in ihrem biopolitischen Kontroll- und Zuchtstreben auch deutlich dystopische Züge trägt. So werden nicht nur Details wie das Verfahren der Körperreinigung von den Behörden festgelegt, sondern auch der Zeitpunkt sexueller Tätigkeit sowie die Partnerauswahl zum Zwecke eugenischer Steuerung.18 Diese Praktiken werden im Rahmendialog der Abhandlung ob ihrer Unvereinbarkeit mit dem »natürlichen Recht« mehrfach kritisch betrachtet, unter anderem als Fehlinterpretationen christlicher Lehre, und es wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß die Sonnenstaatler »diese Sitte einmal aufgeben«19 – die sie freilich als für die gute Ordnung unverzichtbar betrachten. Damit verdeutlicht Campanella die Ambivalenz seiner Konstruktion, wie auch dort, wo er, der seine Schrift im Kerker verfaßte, politisch und religiös verfolgt und mehrfach gefoltert, die Rechtsprechung in der Sonnenstadt schildert, von Schnellverurteilungen ohne Anklageschrift bis hin zu der Praxis, auf den Verurteilten einzureden, »bis er selbst die Todesstrafe anerkennt und ihre Vollziehung wünscht«.20 Wiederum: Die utopische Verkehrung unserer verkehrten Welt enthält selbst Verkehrtes. In Francis Bacons Neu-Atlantis (1624) tritt der Aspekt der Kollektivierung zurück und der der Wissenschaftlichkeit hervor, in äußerst konstruierter, »übermenschlicher«
Tommaso Campanella: Sonnenstaat, in: Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 130 ff. 19 Ebd., S. 137. 20 Ebd., S. 151. 18
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Form. Um etwa zu erklären, wie das Christentum einst auf die Insel kam, greift Bacon kurzerhand zur Geschichte einer Sonderoffenbarung,21 nur eine von vielen märchenhaften Bestandteilen, die eine Distanz zur Erzählung erzeugen. Als eigentlicher Zweck der Staatsgründung wird »die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen« genannt,22 und die Aufzählung der Errungenschaften dehnt sich aus bis hin zu Tierversuchen der Lebensverlängerung, der Wiederbelebung, der Gestalt- und Gemütsveränderung und der Hervorbringung neuer Arten. Und dies alles und das Verwegene dieser Versuche und die Gefahr der Verkehrung Bergende wird dabei deutlich, mit dem Ziel, »Einblick in den menschlichen Körper zu gewinnen«.23 Dies erklärt auch den Geheimniskult, der im Hause Salomons um diese Dinge getrieben wird. Die Liste der utopischen Verfremdungstechniken ist lang. Fénelon arbeitet in Die Abenteuer des Telemach (1699) mit der Gegenüberstellung des glücklichen arkadischen Baetica und des zu reformierenden Salent, wo der überflüssige (städtische) Luxus abgeschafft und strenge Sittenzucht eingeführt wird – nicht aber ohne ein Verlustkonto, wie Telemach feststellt, der vor den Reformen abreiste und nun zurückkehrt und eine gesellschaftliche »Einöde« vorfindet, die von Mentor gleichwohl als die bessere Welt verteidigt wird.24 Dies zeigt: Utopien ist nirgendwo. Louis-Sébastian Mercier blendet in seiner verzeitlichten Utopie Das Jahr 2440 (1771) zwischen dem verkommenen Frankreich seiner Zeit und der künftigen, erdachten Gesellschaft 700 Jahre später unablässig hin und her, und trotz des eindeutigen Vorzugs von letzterer wird sie übertrieben und ironisch dargestellt: Schlechte Schriftsteller müssen eine Maske tragen, bis sie sich »aus Überzeugung« gewandelt haben;25 die umfassend vernünftige Religion wird als »ausgedacht« und für das Volk gemacht bezeichnet;26 die Zensoren tragen die »Fackel der Vernunft« umher;27 die Steuern werden »freiwillig« gezahlt, doch wird die Zahlung streng kontrolliert und das Nichtzahlen sanktioniert.28 Weitere Beispiele wechselseitiger Distanzierungsmethoden ließen sich nennen, die sehr verschiedene Formen annehmen, denkt man etwa an Fouriers natur- und weltgeschichtliche Theorie der vier Bewegungen, ebenso spekulativ wie ihrem Anspruch nach »wissenschaftlich«, oder an Robert Owens Reformszenarien, die zwischen ganz »neuer Welt« und schrittweiser Veränderung hin- und herpendeln. Das utopische Denken bleibt ein ebenso mutiges wie vorsichtiges, auch im Zeitalter sozial-emanzipatorischer Programme.
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Francis Bacon: Neu-Atlantis, in: Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 184 ff. Ebd., S. 205. Ebd., S. 208. Fénelon: Die Abenteuer des Telemach, Stuttgart 1984, S. 398. Louis-Sébastian Mercier: Das Jahr 2440, Frankfurt/M. 1989, S. 56. Ebd., S. 105, S. 115. Ebd., S. 130. Ebd., S. 251 ff.
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7. Doppelte Normativität Was bedeutet dies nun für die Normativität der Utopie? Wir müssen diese als eine doppelte verstehen, im Sinne eines doppelten Bodens. Zunächst enthalten Utopien eine erste Ebene der Normativität, die einen Generalschlüssel für den Eintritt in die bessere, ja perfekte Gesellschaft enthält – bei Morus das Kollektiveigentum, bei Campanella ein noch gesteigerter Kollektivismus sowie eine metaphysische Wahrheit über die rechte Ausrichtung der Gesellschaft, bei Bacon eine besondere Form der wissenschaftszentrierten, experimentellen Gesellschaft usw. Kennzeichnend für diese spezifische Art von politischer Normativität ist (a) ihre Radikalität (die politische Welt wird von allen Grundübeln befreit) und (b) das über die Gerechtigkeit Hinausgehende, denn die auf diese Art »gute« Gesellschaft befindet sich gewissermaßen »jenseits« der Gerechtigkeit, die es noch mit den Konflikten zu tun hätte, die die utopische Gesellschaft überwunden hat.29 Worin genau dieses die Gerechtigkeit Übersteigende seine Pointe hat, ist freilich von Utopie zu Utopie verschieden und kaum auf einen Nenner zu bringen. Aber man kann in Anlehnung an Bloch sagen, um auf meine eingangs gestellten Fragen zurückzukommen, daß es sich um Visionen des menschlichen Glücks im Unterschied zu solchen der Gerechtigkeit handelt. Die zweite Ebene der Utopie liegt dort, wo die erste noch einmal reflektiert wird: wo das Unvollkommene an der vollkommenen Gesellschaft aufscheint, wo die Utopie in eine Dystopie umzuschlagen droht, das bunte Gemälde grau und schwarz wird. Übertreibung und Ironie sind die Ausdrucksformen dieser Reflexion – doch worin genau liegt ihre Normativität? Hier ist die Vermutung eines modernen Kontingenzbewußtseins (etwa im Sinne Rortys)30 nicht am Platz, wohl aber die einer moderaten Skepsis, einer Infragestellung des Perfektionsgedankens. Bei Morus mag dies letztlich ein religiöser Zweifel an menschlicher Hybris sein: Menschen sind keine Götter. Bei anderen mag es eine Einsicht in die begrenzte Kraft endlicher Wesen sein, sich über sich selbst aufzuklären. Sofern dies zu einer ironischen Haltung führt, verdankt sie sich der Einsicht, daß das Unvollkommene ebenso unerträglich ist wie das angeblich Vollkommene, in diesem Sinne Platon einmal nicht folgend. Hier kommt denn auch, im Unterschied zu einer stark kollektivistischen und sozialtechnologischen Deutung der Utopien wie bei Saage und Habermas (die mit Bezug auf die erste Ebene richtig liegen), ein Moment der Individualität und der Nichtplanbarkeit hinein. Vielleicht liegt dem letztlich eine Reflexion auf die menschliche Kreativität zugrunde. Denn die Nichtvor- und Nichtherstellbarkeit der perfekten Gesellschaft läßt genau dafür Raum, für das Moment an Spontaneität, das eine jede Gesellschaft erlauben muß. Darin bliebe denn Morus dem Würdeverständnis des von ihm verehrten Pico della Mirandola treu: die Würde des Menschen liegt in seiner Unbestimmbarkeit und immer neuen Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen.31 Dann wären die Utopien schließlich doch 29 30 31
In diesem Sinne ist Marx ein Erbe dieser Tradition. Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990.
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an der Idee der Menschenwürde orientiert. Und zugleich an der des Glücks, das sich nicht herstellen und beherrschen läßt. Glück erscheint so als politisch aporetischer Begriff. Ich hatte oben auch die Frage aufgeworfen, woran es liegt, daß die Utopien in der Geschichte der politischen Ideen ein eher randständiges Dasein fristen. Nach dem Gesagten ist offen, ob dies primär mit der ersten normativen Ebene zusammenhängt, also mit der »utopischen« Radikalität dieser Entwürfe eines »Jenseits« der Gerechtigkeit und in gewisser Weise auch der Politik selbst.32 Oder eher damit, daß die verschiedenen Glücksvorstellungen sich – im Unterschied zu solchen von Rechten und Gerechtigkeit – überlebt haben und zudem zutiefst umstritten sind. Es mag aber auch mit der zweiten Ebene zu tun haben, der hyperbolisch-ironischen, der Kunst, sich selbst in Frage zu stellen – einer hohen und seltenen Kunst. Denn die kritische Ironie, die in den Utopien zum Ausdruck kommt, ist die Haltung dessen, der loslassen kann, woran die Menschen festhalten, und zwar das Gegebene wie auch die Träume, ohne dabei letztere zu verraten.
Literatur Bacon, Francis: Neu-Atlantis, in: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, 2. Bd., Frankfurt/M. 1973. Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, in: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960. Dahrendorf, Ralf: Pfade aus Utopia, in: ders.: Pfade aus Utopia, München 1986. Elliott, Robert C.: The Shape of Utopia, in: Sir Thomas More: Utopia, hg. v. Robert M. Adams, New York 1992, S. 181–195. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Ausgewählte Schriften Bd. 2, Darmstadt 1995. Fénelon: Die Abenteuer des Telemach, Stuttgart 1984. Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1982. Houellebecq, Michel: Die Möglichkeit einer Insel, Köln 2005. Jameson, Fredric: The Politics of Utopia, in: New Left Review 25 (2004), S. 35–54. Kumar, Krishan: Utopia and Anti-Utopia in Modern Times, Oxford 1987. Manuel, Frank E. / Manuel, Fritzie P.: Utopian Thought in the Western World, Cambridge MA 1979. Mercier, Louis-Sébastian: Das Jahr 2440, Frankfurt/M. 1989. More, Sir Thomas: Utopia, hg. v. Robert M. Adams, New York 1992. Morus, Thomas: Utopia, in: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek 1960 [U].
Die These, daß die Utopien das Politische »suspendieren«, findet sich bei Fredric Jameson: The Politics of Utopia, in: New Left Review 25 (2004), S. 35–54. 32
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Morus, Thomas: Utopia, Latin Text and English Translation, hg. v. George M. Logan, Robert M. Adams u. Clarence H. Miller, Cambridge 1995. Pico della Mirandola, Giovanni: Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Bern 1957. Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. Rufin, Jean-Christofe: Globalia, Köln 2005. Saage, Richard: Utopische Profile, 4 Bde., Münster 2001 ff. Skinner, B. F.: Freedom and the Control of Men, in: George Kateb (Hg.): Utopia, New York 1971. Skinner B. F.: Walden Two, New York 1948. Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark, Frankfurt/M. 1999. Talmon J.L.: Utopianism and Politics, in: George Kateb (Hg.): Utopia, New York 1971, S. 91–102.
Zur Differenz und Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie Richard Saage (Halle-Wittenberg)
I. Die Differenz zwischen Vertragsdenken und Utopie verweist auf ihre gemeinsame historische Ausgangslage in der Frühen Neuzeit: die Herauslösung der einzelnen aus dem mittelalterlichen Ordo. Konstruktiv in die Zukunft gerichtet, können beide Muster sich zwar nicht mit einem scharfen Schnitt radikal von ihren antiken und mittelalterlichen Herkunftsgesellschaften lösen. Doch ebenso klar ist, daß sie diese auch nicht restaurieren wollten. Vielmehr strebten sie eine neue Gesellschaft an, die vorwiegend Ausfluß des menschlichen Geistes selber ist: Nicht zu bestreitende theologische Konnotationen bezogen sich nur reaktiv auf jenes Konstrukt, das sich utopisch oder vertragstheoretisch legitimierte. So ist beiden Ansätzen gemeinsam, daß sie sich dem instrumentellen Naturverhältnis der modernen Naturwissenschaften öffneten. Morus’ Utopia ist ein Phantasieprodukt, das sich den diskursiven Regeln der Logik unterwirft. Der äußeren Natur oktroyieren die Utopier geometrische Formen, wie ihre Idealstadt Amaurotum zeigt.1 Ihre innere Natur ist durch und durch vom rationalen Reglement des Staates geprägt: Alles ist durchdacht, alles geplant – von der Wiege bis zur Bahre.2 Und Hobbes, der Vordenker des modernen Naturrechts, beruft sich auf die resolutiv-kompositorische Methode: Die Natur und die Gesellschaft werden zunächst in ihre nicht weiter teilbaren Elemente zerlegt und dann zu einem Ganzen synthetisiert.3 Das Ziel ist klar: Die Gesetze der Natur, mit denen der Gesellschaft identifiziert, sollen erkannt werden, damit man sie zu deren Unterwerfung nutzen kann.
»Ganz im Gegensatz zu den zeitgenössischen Illustrationen, die nach mittelalterlichem Brauch die Insel Utopia und ihre Städte unter dem Aspekt der Bedeutungsordnung abzubilden trachteten, schilderte Morus mit Amaurotum das Modell einer rational durchgeplanten Quadratstadt und schuf damit einen Prototyp« (Gerd de Bruyn: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, Braunschweig, Wiesbaden 1996, S. 63). 2 »To us Utopia seems unspeakable dreary, with a life so monotonous that it reminds us of some drab people’s democracy. Everyone marches in lockstep. The peculiarities of individuals that make life interesting are thouroghly sujugated to communal needs. Nobody in Utopia except the long-vanished founder, King Utopos, is given a name in the book. In reading about Utopias citizens, we can understand Raphael’s (der Protagonist Utopias, R. S.) oversight, for they seem like interchangable parts in a great social machine, and the pleasure – if there is one – is too see the whole thing working, not to the delight in the individuals who live there. A novelist in Utopia would have a hard time; an engineer would be at home« (Richard Marius: Thomas More. A Biography, London, Melbourne 1984, S. 160). 3 »Hobbes gebraucht für seine Methode die Termini Resolution/Komposition bzw. Analyse/Synthese und bezeichnet damit eine zweifache, sich ergänzende Denkbewegung. Sie beinhaltet als allgemeines 1
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Dieser für beide Konzeptionen konstitutive Geist des »Machens« hatte eine neue Anthropologie zur Voraussetzung. Das stoisch-scholastische Naturrecht unterstellte ganz im Sinne des Aristoteles, daß der Mensch ein zoon politikon, ein ens sociale, sei, kraft seiner humanen Konstitution auf die Polis bzw. den Staat hin angelegt. Der utopische und der kontraktualistische Ansatz hingegen sehen im Gemeinwesen das Kunstprodukt von Menschen, die ihn zum Zweck des Überlebens und ihrer optimalen Nutzenmaximierung wegen errichten.4 Dieser Funktion vermag der Staat aber nur dann zu genügen, wenn seine volle Handlungsfähigkeit als Souverän gegeben ist. Zwar führen kontraktualistische wie utopische Staaten nach außen hin Kriege. Aber sie dienen in aller Regel der Verteidigung und damit der Stabilisierung des inneren status quo.5 Doch diese gemeinsame Korrelation von Nutzenmaximierung im Interesse der optimalen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und der potestas eines »starken« Staates impliziert zugleich auch die entscheidenden Differenzen, die beide Ansätze voneinander trennen.
II. Seine Herkunft aus der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ist dem Vertragsdenken unauslöschlich ins Profil geschrieben: Dessen zentrale Kategorie, der Kontrakt, ist der Verrechtlichung des bürgerlichen Warenverkehrs nachgebildet. Insofern mußte es per se das Feudalsystem delegitimieren. Dem entspricht ein zweites Strukturmerkmal. Für den kontraktualistischen Ansatz ist nämlich charakteristisch, daß die optimale Nutzenmaximierung auf die ursprünglich Gleichen und Freien in einem (vorstaatlichen) Naturzustand bezogen ist und nur durch die Individuen selbst betrieben werden kann. In gewisser Weise definiert sich der einzelne durch seine Fähigkeit, zweckrational seinen Nutzen steigern zu können. Er schafft dadurch eine Konstellation, die den individualisierten Konflikt unvermeidbar macht. Dessen Bewertung im kontraktualistischen Paradigma Schema die Unterscheidung von Ganzem und Teil, die nicht ontisch identifiziert werden, sondern als Relation an beliebigen Gegenständen ansetzbar sind. Resolution heißt Zerlegen des Ganzen in einfache Elemente, Komposition die Zusammensetzung des Ganzen aus diesen methodisch ermittelten Teilen« (Ulrich Weiß: Das philosophische System des Thomas Hobbes, Stuttgart–Bad Cannstadt 1980, S. 62). 4 Auf diesen Zusammenhang weist neuerdings hin Andreas Heyer: Studien zur politischen Utopie. Theoretische Reflexionen und ideengeschichtliche Annäherungen, Hamburg 2005, S. 43 ff. 5 Hobbes zählt expansive Angriffskriege zu den wichtigsten Ursachen der Auflösung eines Staates: Er warnt vor dem »unersättlichen Appetit nach Vergrößerung des Herrschaftsbereiches, auch Heißhunger genannt, zusammen mit den unheilbaren Wunden, die man dabei of vom Feinde empfängt, und die Geschwülste aller nicht vereinigten Eroberungen, die oftmals eine Last bedeuten und deren Aufgabe ungefährlicher ist als ihre Erhaltung« (Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1984, S. 254. Alle Zitate wurden verglichen mit Thomas Hobbes: Leviathan, London, New York 1965). Auch Morus wird nicht müde, die ständigen Eroberungskriege der frühabsolutistischen Fürsten anzuprangern, weil sie der inneren Destabilisierung des Gemeinwesens Vorschub leisteten. Wie später für Hobbes, so sind auch für ihn nur Verteidigungskriege legitim (vgl. Thomas Morus: Utopia, Frankfurt/M., Olten, Wien 1986, S. 140. Die Morus-Zitate wurden verglichen mit Thomas More: The Best State of Commonwealth and The New Island of Utopia, in: The Complete Works of St. Thomas More, Vol. 4, New Haven, London 1965).
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erscheint ambivalent: Einerseits muß er gesetzlich »gehegt« werden, weil er, sich selbst überlassen, zur Selbstdestruktion des Individuums neigt. Andererseits ist er unter vertraglich abgesicherten Bedingungen unverzichtbar für die Steigerung des individuellen Nutzens: In dem Maße, wie sie gelingt, prosperiert auch das Gemeinwesen. Noch vor der Entfaltung des modernen Naturrechts hat Machiavelli diesen Zusammenhang am historischen Beispiel der römischen Republik und der Geschichte von Florenz6 aufzuzeigen versucht: Beide Gemeinwesen prosperierten nicht trotz, sondern wegen der permanenten Auseinandersetzungen divergierender Interessen, die ihren Nutzen zu optimieren suchen.7 Selbst die Fiktion der ursprünglich Gleichen und Freien nimmt Machiavelli bereits vorweg, ohne ihnen freilich innerhalb eines naturrechtlichen Paradigmas more geometrico einen systematischen Stellenwert zu geben.8 Allerdings führt der »bellum omnium in omnes« (Hobbes) nur dann zu innovatorischen Wirkungen, wenn er, wie hervorgehoben, innerhalb bestimmter Regeln erfolgt. Das normengenerierende Konstrukt im kontraktualistischen Ansatz ist der »Gesellschaftsvertrag«. Auch er fällt durch sein individualistisches Gepräge auf: Die nutzenmaximierenden Egoisten bringen über einen Vertrag konsensual erst die Regeln hervor, innerhalb derer sie im verfaßten Gemeinwesen ihre Konkurrenzen austragen. Aber an ihrer affektgesteuerten anthropologischen Struktur verändert sich im Staat nichts: Sie ist dieselbe wie im Naturzustand. In beiden Fällen lautet die Prämisse: Nur wer ein angenehmes Leben in relativem Wohlstand, verbunden mit der Befriedigung aller sinnlichen Bedürfnisse, führt, ist glücklich. Dieser hedonistische, aus dem Epikuräismus herrührende Zug der menschlichen Natur ist der Ursprung ihres Verhaltens. Freilich kann dieses Ziel im kontraktualistischen Denken mit unterschiedlichen Mitteln erreicht werden: Spinoza glaubte, eine vertragstheoretisch abgesicherte individuelle Nutzenma-
Vgl. Niccolo Machiavelli: Discorsi. Staat und Politik, Frankfurt/M. 2000, passim. »In Florenz (…) spaltete sich zuerst der Adel unter sich, dann der Adel und das Volk, und zuletzt das Volk und der Pöbel; und oft kam es, daß eine dieser Parteien nach ihrem Siege sich in zwei spaltete. Durch diese Spaltungen entstand so großes Blutvergießen, erfolgten so viele Verbannungen, so viele Familien gingen unter, als nie in irgendeiner Republik, von der man Nachricht hat. Und fürwahr, nach meinem Urteil scheint mir kein anderer Beweis so sehr die Macht unserer Stadt darzutun, als der, welcher in diesen Spaltungen selbst liegt. Denn während sie Kraft genug haben würden, die größte und mächtigste Republik zu vernichten, schien die unsrige immer größer zu werden. So groß waren jene Bürger, solche Macht lag in ihrem Geiste und so fest war ihr Wille, sich und ihr Vaterland zu erheben, daß immer die, welche von so großen Übeln frei blieben, Florenz mehr durch ihre Tüchtigkeit erheben konnten, als es die Verderblichkeit der Ereignisse, die es geschwächt hatten, hatte herabdrücken können« (Niccolo Machiavelli: Geschichte von Florenz, München 1925, S. 6 f.). 8 So legte Machiavelli einem der Anführer der Zünfte in Florenz während eines Aufstandes folgende Worte in den Mund: »Wir gehen, meines Erachtens, einem gewissen Siege entgegen, weil die, welche uns widerstehen könnten, uneinig und reich sind. Ihre Uneinigkeit wird uns den Sieg geben; ihre Reichtümer in unseren Händen werden ihn uns erhalten. Laßt euch durch das Alter ihres Blutes nicht abschrecken, das sie uns vorwerfen. Alle Menschen haben den gleichen Ursprung, ihre Geschlechter sind gleich alt, alle hat die Natur gleich geschaffen. Zieht sie nackt aus, ihr werdet sehen, das sie uns gleich sind. Kleidet uns in ihre Kleider, sie in die unsrigen, und ohne allen Zweifel werden wir Adel, sie Pöbel erscheinen. Nur Armut und Reichtum macht zwischen uns den Unterschied (Hervorhebung von mir, R. S.)« (Machiavelli: Geschichte, a. a. O., S. 176). 6 7
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ximierung optimal nur in einer Demokratie ermöglichen zu können, weil die Menschen »nichts so schwer ertragen, wie ihresgleichen zu dienen und sich von ihnen regieren zu lassen. Schließlich ist nichts so schwer, wie den Menschen die ihnen einmal zugestandene Freiheit wieder zu nehmen«.9 Der lediglich unter hohem Aufwand durchsetzbare Gehorsam entfalle nur in der Demokratie als konstitutive Herrschaftsbedingung, weil in ihr das Volk »nicht auf fremde Autorität, sondern aufgrund seiner eigenen Zustimmung handelt«.10 Auf Konsens gegründet, minimiere die Demokratie die Kosten der Repression wie sie gleichzeitig die Freisetzung schöpferischer Potentiale maximiere. In der Demokratie komme es daher zu einer Agglomeration bzw. Addierung der individuellen Nutzen.11 Hobbes dagegen sah die Lösung in einer autoritären Monarchie, weil nur ein Staat mit fast unbegrenzten Vollmachten gegenüber seinen Untertanen deren Nutzenmaximierung unter friedlichen Verhältnissen sichern könne. Das Beispiel der Staatskonstruktion bei Spinoza und Hobbes zeigt zwar, daß das Ausmaß der Übertragung der natürlichen Rechte auf den Staat im kontraktualistischen Denken sehr unterschiedlich ausfällt. Doch selbst ihre extremste Variante autoritärer Herrschaft in Gestalt des Hobbesschen Leviathan verdeutlicht, daß die individualistischen Spuren in seinem Gefüge unauslöschlich sind. So gibt er den gesamten Bereich der Wirtschaft frei: Nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten können die Individuen über ihr Privateigentum verfügen. Sie können kaufen und verkaufen mit dem Motiv, dadurch ihren Reichtum zu steigern: Nur wenn sich ökonomische Zusammenballungen ergeben, welche den Primat der Politik des Leviathan bedrohen, greift dieser ein. Ansonsten beschränkt er sich auf die Garantie der rechtlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens. Im Leviathan, so kann gesagt werden, zeichnet sich die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft zumindest virtuell ab. So genießen die einzelnen »die Freiheit des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten«.12 Auch herrscht in der Sphäre ihrer Privatheit Gewissensfreiheit; lediglich in der Öffentlichkeit müssen sie das staatlich sanktionierte Glaubensbekenntnis akzeptieren. Zwar kennt Hobbes keine rechtlich kodifizierte Sphäre individueller Menschenrechte, wie Locke sie später schulemachend konzipierte. Doch können sich die einzelnen auch im Staat auf das natürliche Recht auf Selbsterhaltung berufen, wenn Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg 1984, S. 85. Ebd. 11 Zu Recht weist Euchner darauf hin, »daß Spinoza sich vorstellt, die potentia der einzelnen könnten aggregiert werden. Die Demokratie ist die Staatsform, die hierfür die besten Voraussetzungen bietet. (…) Die politische Form der Demokratie, die Organe der Repräsentation der Einzelinteressen (besser potentiae der einzelnen) kennt, minimiert einerseits die negativen Affekte, die durch politische Unterdrückung entstehen (was zugleich Potenzsteigerung bedeutet), andererseits begünstigt sie die Entfaltung der Kräfte jener, die sich sowieso rational verhalten. So gesehen führt die Demokratie zu einer Steigerung des wechselseitigen Nutzens und damit zur Steigerung der Volkskraft« (Walter Euchner: Individuelle und politische Macht: Der Beitrag John Lockes im Vergleich zu Hobbes und Spinoza, in: J. Gebhardt/H. Münkler (Hg.): Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken und neuzeitlichen politischen Denken, Baden-Baden 1993, S. 127). 12 Hobbes: Leviathan, a. a. O., S. 165. 9
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sie an Leib und Leben bedroht sind. Niemand ist zum Selbstmord verpflichtet.13 Zum Schutz des eigenen Lebens können im Krieg taugliche Ersatzsoldaten gestellt werden.14 Klagen gegen sich selbst und gegen Menschen, von denen mein Leben abhängt, ist ebenso der Boden entzogen wie durch Folter erpreßten Geständnissen.15 Selbst Verbrechern ist es erlaubt, sich durch kollektive Gegenwehr dem Zugriff des Staates entziehen zu wollen.16 Aber Rechtsbrecher, so müssen wir Hobbes interpretieren, haben keine Chance, ihrer Strafe zu entgehen, wenn der Leviathan seine Funktion der Friedensstiftung erfüllt. Umgekehrt gilt »die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän (…) nur so lange (…), wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger«.17 Das aber setzt voraus, daß er uneingeschränkt handlungsfähig ist. Seine Autonomie zu sichern, ist die entscheidende Aufgabe des ursprünglichen Vertrages aller mit allen, den die Gleichen und Freien abschließen.18 Aus ihm folgt, daß der Leviathan nicht den Gesetzen unterworfen ist, die er selber erläßt. Er vereinigt Legislative, Exekutive und Judikative in einer Hand, und als Oberhaupt der staatlich lizensierten Kirche verpflichtet er alle Untertanen auf die Staatsreligion. Er kann nach Belieben Beamte einsetzen und entlassen, Steuern erheben, über Krieg und Frieden beschließen, die Öffentlichkeit einschließlich der Lehrmeinungen an den Universitäten durch Zensur kontrollieren, Parteien verbieten, gegen »Ideologen« vorgehen und gesellschaftliche Vereinigungen unter seine Kontrolle stellen.
»Wenn deshalb ein Souverän einem wenn auch rechtmäßig verurteilten Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebenswichtige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern« (ebd., S. 168). 14 Ebd., S. 169. 15 »Auch Anklagen, die auf der Folter abgegeben werden, können nicht als Zeugnis anerkannt werden. Denn die Folter soll nur dazu dienen, Hinweise zu erhalten und Licht in die weiteren Untersuchungen und in die Erforschung der Wahrheit zu bringen, und was in diesem Falle gestanden wird, hat die Erleichterung des Gefolterten zum Ziel, nicht die Information der Folterer, kann also nicht die Glaubwürdigkeit eines ausreichenden Zeugnisses besitzen. Denn ob sich der Gefolterte durch eine wahre oder falsche Anklage von der Folter befreit – er tut dies auf Grund des Rechts, sein Leben zu erhalten« (ebd., S. 107 f.). 16 »(…) gesetzt den Fall, eine große Anzahl von Menschen hätte schon unrechtmäßig der souveränen Gewalt Widerstand geleistet oder ein Kapitalverbrechen begangen, für das jeder von ihnen die Todesstrafe zu erwarten hat: Haben diese Menschen nicht die Freiheit, sich zusammenzuschließen und sich gegenseitig beizustehen und zu verteidigen? Sicherlich – denn sie verteidigen ihr Leben, was der Schuldige ebenso darf wie der Unschuldige« (ebd., S. 169 f.). 17 Ebd., S. 171. 18 »Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und die Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der (…) aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag« (ebd., S. 131). 13
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III. Wenn der Kontraktualismus von der individuellen Nutzenmaximierung ausgeht und dessen Spuren selbst noch in seiner autoritärsten Variante unübersehbar sind, dann stellt trotz der aufgezeigten Gemeinsamkeiten der utopische Ansatz das Gegenprogramm mit allen seinen sozialen und politischen Konsequenzen dar.19 Diese These ist bereits durch einen Blick auf die zeitdiagnostische Dimension des utopischen Denkens verifizierbar. Während das moderne Naturrecht ausschließlich das Feudalsystem delegitimierte, die bürgerliche Gesellschaft aber – in welcher Variante auch immer – rechtfertigte, hat sich die moderne Utopie von Anfang nicht mit der Kritik der feudalistischen Sozialstruktur beschieden; ebenso heftig, wenn nicht sogar noch dezidierter, distanzierte sie sich von den kapitalistischen Strukturen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Nicht zufällig ist die radikalste Kritik der Kapitalisierung der englischen Landwirtschaft im Zuge der sogenannten »Einhegungsbewegung« zu Beginn des 16. Jahrhunderts im ersten Teil der »Utopia« des Thomas Morus nachzulesen.20 Eine weitere Differenz kommt hinzu. Zwar ist auch in Morus’ Utopia Nutzenmaximierung im Interesse eines materiell angenehmen Lebens und ihr Korrelat, das instrumentelle Naturverhältnis als eine der materiellen Grundlagen menschlicher Bedürfnisbefriedigung, eine entscheidende Prämisse. Auch wendet sich Morus dezidiert gegen asketische Übungen, die den Körper zerstören, ohne daß daraus irgend ein Nutzen erwächst.21 Der Befriedigung der sinnlichen, auch der sexuellen Bedürfnisse, wird ein legitimer Ort eingeräumt.22 Aber der Unterschied zum Kontraktualismus besteht darin,
Niemand hat diese Differenz schärfer formuliert als der Kontraktualist Spinoza: »Die Affekte, von denen wir mitgenommen werden, verstehen die Philosophen als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. (…). Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten; und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; produziert haben sie nur etwas, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jenem goldenen Zeitalter der Dichter, wo dies fürwahr am wenigsten erforderlich war, hätte errichten können« (Baruch de Spinoza: Politischer Traktat, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1994, S. 7). 20 »Damit ein einziger Prasser, unersättlich wie ein wahrer Fluch seines Landes, ein paar tausend Morgen zusammenhängendes Ackerland mit einem einzigen Zaun umgeben kann, werden Pächter von Haus und Hof vertrieben: durch listige Ränke oder gewaltsame Unterdrückung macht man sie wehrlos oder bringt sie durch ermüdende Plackereien zum Verkauf. So oder so müssen die Unglücklichen auswandern, Männer, Weiber, Ehemänner mit ihren Frauen, Witwen, Waisen, Eltern mit den kleinen Kindern und einer mehr vielköpfigen als vielbesitzenden Familie« (Morus: Utopia, a. a. O., S. 35 f.). 21 Die Utopier, so Morus, halten es »für geradezu wahnwitzig, den Reiz körperlicher Schönheit zu verachten, die Kräfte des Körpers zu zermürben, Gelenkigkeit in Trägheit zu verkehren, den Leib durch Fasten zu erschöpfen, die Gesundheit zu vergewaltigen und auch sonst die Lockungen der Natur zu verschmähen (…). (…) dagegen sich selber aufreiben, ohne irgendeinem Menschen zu nützen, bloß um eines nichtigen Schattens von Tugend willen, oder bloß um sich gegen künftige Widerwärtigkeiten abzuhärten, die sich vielleicht niemals ereignen werden – das erscheint ihnen ganz unsinnig: als Grausamkeit gegen die eigene Person und zugleich als höchste Undankbarkeit gegen die Natur« (ebd., S. 124). 22 In Utopia ist es legitim, »wenn sich ein deutliches Wohlbehagen durch die Sinne ergießt. (…) das erfolgt durch die Entleerung der Eingeweide von den natürlichen Abgängen, oder auch bei der Kinder19
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daß der utopische Ansatz das Optimum des gesellschaftlichen Wohls nicht in der individuellen, sondern in der kollektiven Nutzenmaximierung sieht. Der Grund ist sehr einleuchtend: Im holistischen Ansatz der klassischen modernen Utopie existiert das Individuum als eine autonome Größe nur ansatzweise: Entweder realisiert man den gesellschaftliche Nutzen gemeinsam in den staatlichen Institutionen, oder er ist von vornherein gescheitert. Dadurch ist die zweite Differenz begründet: Wenn der Nutzen nur im Kollektiv möglich ist, dann erreicht er sein Optimum nicht, wie bei den Kontraktualisten, in der dynamischen Dimension des Konflikts, sondern nur unter den Bedingungen eines Höchstmaßes an gesellschaftlicher Harmonie und Konformität in einer stationären Gesellschaft.23 Sind für die Vertragstheoretiker Institutionen Vorrichtungen zur Kanalisierung, aber nicht zur Ausschaltung von Konflikten, so dienen sie im utopischen Denken dazu, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen gar nicht erst zum Ausbruch gelangen zu lassen.24 Unter dieser Voraussetzung freilich sind die Utopier als Nutzenmaximierer kaum zu übertreffen. In Morus’ Utopia werden die Wälder rücksichtslos abgeholzt und an anderer Stelle wieder aufgeforstet, wenn dies dem kollektiven Nutzen entspricht.25 Ihre Städte sind unter verkehrstechnischen, sicherheitsrelevanten und hygienischen Gesichtspunkten vollkommen funktional konstruiert. Utilitaristisch ist gleichfalls die gesamte Planwirtschaft organisiert.26 Die Arbeit, im Kollektiv fast vollständig mobilisiert
zeugung, oder wenn das Jucken irgendeines Körperteils durch Reiben oder Kratzen gelindert wird« (ebd., S. 118). 23 »Damit aber die Zahl der Bürger nicht abnehmen und nicht über eine gewisse Grenze anwachsen kann, ist vorgesehen, daß keinem Familienverbande (…) weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene angehören dürfen (…). Diese Bestimmung ist leicht innezuhalten, indem man den Überschuß der überfüllten Großfamilien in weniger kopfreiche Familien versetzt. Wächst aber einmal die Kopfzahl einer ganzen Stadt über Gebühr an, so gleicht man den Menschenmangel unserer Städte des Reiches damit aus. Sollte aber die Menschenmasse des ganzen Inselreiches mehr als billig anschwellen, dann werden Bürger aus jeder Stadt aufgeboten, die auf dem nächstliegenden Festland überall da, wo die Eingeborenen Überfluß an Ackerland haben und die Bodenkultur brachliegt, eine Kolonie gründen, die ihren heimischen Gesetzen entspricht« (ebd., S. 89 f.). 24 »Außerhalb des Senats oder der Volksversammlung über öffentliche Angelegenheiten zu beraten, gilt für ein todwürdiges Verbrechen« (ebd., S. 80). 25 Angesichts des nicht überall fruchtbaren Bodens und des nicht besonders milden Klimas in Utopia sind ihre Bewohner nicht nur gezwungen, »dem von Natur geringeren Boden durch künstliche Mittel und fleißige Arbeit nach(zu)helfen, sondern ganze Wälder werden von Menschenhand gerodet und anderswo angepflanzt! Dabei sind nicht Rücksichten auf die Fruchtbarkeit, sondern auf die Transportverhältnisse maßgebend: man wünscht das Holz in größerer Nähe des Meeres oder der Flüsse oder der Städte selbst zu haben, weil man auf den Landwegen mit geringerer Mühe Getreide als Holz von weither transportieren kann« (ebd., S. 125). 26 Im Senat Utopias »wird festgestellt, welcher Überschuß in den einzelne Bezirken besteht, und wiederum, in welcher Art von Erträgnis andere etwa hinter dem Bedürfnis zurückbleiben. Sobald das ermittelt ist, läßt man sogleich den Bedarf der einen durch den Überschuß der anderen ausgleichen; und zwar geschieht das kostenlos, ohne daß die Abgebenden von den Empfängern einen Gegenwert erhalten. Aber dafür, daß eine Stadt der anderen keine ihrer Lieferungen in Rechnung stellt, erhält sie auch wieder von einer anderen ihren Bedarf gedeckt, ohne etwas dafür zu schulden. So bildet das ganze Inselreich gleichsam eine Familie« (ebd., S. 98 f.).
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und zweckrational verwaltet, wird so effizient ausgeschöpft, daß sie trotz knapper Mittel Überfluß produziert: Er ermöglicht einen sechsstündigen Arbeitstag, der genügend Muße für die Befriedigung geistiger Bedürfnisse garantiert.27 Die holistisch gedachte Nutzenmaximierung zieht die dritte Differenz zum kontraktualistischen Ansatz nach sich. Der Staat als oberster Nutzenmaximierer wird nicht vom Individuum her gedacht: Vielmehr ist er die Erfindung eines weisen »Gründungsvaters«, der nach antikem Vorbild die Regeln der Vernunft – wie Platons Philosophen – erkennt und sie im utopischen Gemeinwesen bei der Konzipierung seiner Institutionen zur Anwendung bringt. Damit entfällt die Bedingung des unaufhebbaren Rests der Individualität, die selbst noch in den autoritärsten vertragstheoretischen Staatskonstrukten erkennbar sind. Niemand hat diesen individualistischen Vorbehalt mehr gefürchtet als Morus. Zwar ersetzte er in seiner idealen Republik »Utopia« den egoistischen Nutzenmaximierer durch einen »neuen Menschen«, der seinen Vorteil nur in dem der Gesamtheit zu finden vermag. Doch ging er gleichzeitig von einem Menschenbild aus, das er merkwürdig offen ließ: Der Mensch ist zur Tugend fähig, wenn harte Institutionen ihn in diese Richtung lenken. Aber ohne ihre Leitung besteht für ihn die Gefahr zu depravieren. Diese Ambivalenz hat das institutionelle Arrangement des utopischen Denkens zutiefst geprägt: Sie tilgt selbst noch jene »privaten« Vorbehalte, auf die Hobbes aufgrund der individualistischen Prämissen seines Ansatzes nicht verzichten konnte. Das bei Hobbes vom Staat unangetastete Privateigentum wird durch den Gemeinbesitz substituiert, um Eigentumskonflikte im Ansatz zu verhindern.28 Das marktförmige Kaufen und Verkaufen ersetzt Morus durch die Abschaffung des Geldes und die Einrichtung einer planwirtschaftlichen Behörde in der Hauptstadt Utopias, welche Überfluß und Mangel an Gütern in den einzelnen Landesteilen statistisch berechnet und zentral ausgleicht.29 Die Verantwortung der einzelnen für die Erziehung ihrer Kinder wird staatlichen Institutionen übertragen. Selbst die Bekleidung der einzelnen ist Angelegenheit des Staates: Er achtet auf die Einhaltung der uniformen Kleiderordnung und die Unterbindung des Luxuskonsums. Ist für die Kontraktualisten die Bewegungsfreiheit eines jeden völlig unbestritten, so stehen sie in Utopia unter der Kontrolle der Behörden.30 Sah Hobbes 27 »Weil nämlich die Utopier nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könnte man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen. Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrats an Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig« (ebd., S. 85). 28 »Wo es noch Privateigentum gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben« (Ebd., S. 65). In Utopia dagegen, so Morus, »wo alles Eigentum Gemeineigentum ist, zweifelt niemand, daß es keinem für seine Privatbedürfnisse an etwas mangeln wird, solange nur dafür gesorgt wird, daß die öffentlichen Speicher gefüllt sind. Da gibt es ja keine ungerechte Güterverteilung, keine Armen und keine Bettler, und obschon keiner etwas besitzt, sind doch alle reich« (ebd., S. 172). 29 Vgl. FN 26. 30 »Wenn einer auf eigene Faust außerhalb seines Stadtbezirks sich herumtreibt und ohne fürstlichen Urlaubsschein ergriffen wird, sieht man ihn als Ausreißer an, bringt ihn schimpflich in die Stadt zurück
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wenigstens in den eigenen vier Wänden Gedankenfreiheit vor, so ist Privatheit in Utopia ohne Schutz: Die Häuser müssen alle zehn Jahre gewechselt werden. Ihre Türen stehen jedem offen.31 Im kontraktualistischen Denken konnten sich aufgrund der nicht hintergehbaren Sphäre der Privatheit eine subjektive, vom Staat ausgegrenzte Binnenmoral und eine relativ autonome Öffentlichkeit ausbilden, welche sich gleichfalls losgelöst von der etatistischen potestas entwickelten und ausdifferenzierten, während sich ihr Gegenpol auf den Bereich der Legalität zurückverwiesen sah. Anders im utopischen Denken. Eine Öffentlichkeit außerhalb der staatlichen Institutionen gibt es nicht: Wer im vom Staat nicht kontrollierten Raum diskutiert, hat mit der Todesstrafe zu rechnen.32 Da das autonome Individuum und sein Korrelat, die Privatheit, fehlt, ist der Staat auch für die Durchsetzung der Moral zuständig. In Morus Utopia bestraft er den Ehebruch im Wiederholungsfall mit der Todesstrafe oder mit Sklavenarbeit.33 Wer Wirtshäuser und Bordelle besucht, sich dem Spiel hingibt oder faulenzt, muß mit öffentlicher Stigmatisierung rechnen.34 Der Staat, so kann zusammenfassend festgestellt werden, ist sowohl im kontraktualistischen als auch im utopischen Denken der säkulare Administrator und Gestalter der Politik. Doch diese souveränen Attribute haben in beiden Ansätzen einen sehr unterschiedlichen Stellenwert, weil die Potenzierung der etatistischen potestas im utopischen Ansatz sehr viel weiter geht als im kontraktualistischen. Der letztere findet zwar seine Grenze in den unverzichtbaren Rechten des Individuums, das durch einen Vertrag das ganze staatliche Arrangement hervorgebracht hat. Doch dieser individuelle Vorbehalt setzt zugleich gesellschaftliche Ungleichheit bis zur möglichen Verelendung breiter Schichten voraus. Das utopische Paradigma hingegen will genau diese aus der Verwertung des Privateigentums resultierenden Antagonismen radikal beseitigen. Aber der Preis, den es zu zahlen hat, ist die Opferung des Individuums und seines Rechts auf Privatheit.
und läßt ihn scharf züchtigen; im Wiederholungsfall wird er mit Verstoßung in die Sklaverei bestraft« (Morus: Utopia, a. a. O., S. 98). 31 »Die Türen sind zweiflügelig, durch einen leisen Druck der Hand zu öffnen, schließen sich dann von selber wieder und lassen so jeden hinein: so weit geht die Beseitigung des Privateigentums! Denn selbst die Häuser tauschen sie alle zehn Jahre um, und zwar nach dem Lose« (ebd., S. 78). 32 Vgl. FN 24. 33 »Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei bestraft. (…) So kommt es zuweilen vor, daß die Reue des einen und der Pflichteifer des anderen Teils das Mitleid des Fürsten erregt und dem Schuldigen wieder die Freiheit erwirkt. Jedoch auf Rückfall in das Verbrechen steht der Tod« (Morus: Utopia, a. a. O., S. 134). 34 »Ihr seht schon, es gibt dort nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang, keine Vorwand zum Faulenzen. Keine Weinschenke, kein Bierhaus, nirgends eine Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Spelunken, kein heimliches Zusammenhocken, sondern überall sieht die Öffentlichkeit dem einzelnen zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit und zur Ehrbarkeit beim Vergnügen« (ebd., S. 98).
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IV. Die Entwicklung des politischen Denkens blieb freilich nicht bei dieser Aporie zwischen Kontraktualismus und Utopie stehen, welche bis in die frühe Phase des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist. Spätestens mit der Veröffentlichung des »Contrat Social« Jean-Jacques Rousseaus ist der Versuch unternommen worden, einen »Dritten Weg« zwischen Vertragsdenken und Utopie zu beschreiten.35 Die Fragen, die sich Rousseau in seinem politiktheoretischen Hauptwerk stellte, können so formuliert werden: Wie ist es möglich, den Auseinanderfall von individueller und kollektiver Nutzenmaximierung zu verhindern? Wie ist das Risiko sozialer Verelendung zu vermeiden, ohne die individuellen Rechte der einzelnen zu tilgen? Wie ist gesellschaftliche Solidarität denkbar, ohne individuelle Interessen unterdrücken zu müssen? Daß Rousseaus Ausgangspunkt bei der Beantwortung dieser Fragen das vertragstheoretische Muster ist, steht außer Frage. Der Titel seines politiktheoretischen Klassikers lautet: »Du contrat social« (Vom Gesellschaftsvertrag).36 Der legitime Staat muß vom einzelnen, nicht dieser von jenem her gedacht werden. Politische Herrschaft ist ein gesellschaftlich vermitteltes Kunstprodukt: »Da kein Mensch von Natur aus einen Machtanspruch über seinesgleichen hat, bleibt nur die Vereinbarung einer jeden legitimen Autorität unter den Menschen übrig«.37 Wie bei den Kontraktualisten üblich, ist der Ausgangspunkt die Autonomie der einzelnen. Daher beginnt das erste Kapitel des ersten Buches mit dem Satz: »Der Mensch ist frei geboren, aber überall liegt er in Ketten«.38 Entsprechend ist für ihn – wie für alle modernen Kontraktualisten – die Feudalherrschaft das absurdeste Herrschaftssystem, »das es je gegeben hat. Es steht im Widerspruch zu den Prinzipien des Naturrechts und zu jeder guten Politik«.39 Rousseau geht ferner von der Triade »Naturzustand«, »Vertrag« und »Verfassungsprinzipien« des subjektiven Naturrechts aus. Im »Zweiten Discours« bringt er explizit auf den Begriff, wovon die älteren Kontraktualisten stillschweigend ausgegangen sind: Der Naturzustand ist kein historisches Faktum, sondern eine Hypothese, wie man sie in der Physik verwendet.40 Ferner schildert er die »natürlichen Menschen« als egalititäre und
Vgl. hierzu auch Richard Saage/Andreas Heyer: Rousseaus Stellung zum utopischen Diskurs der Neuzeit, in: Politische Vierteljahresschrift 46/3 (2005), S. 381–405. Dieser Aufsatz stellt eine wichtige Ergänzung zu den nachfolgenden Überlegungen dar, weil er auch die Romane Rousseaus in den Fokus der Analyse von Vertragsdenken und Utopie mit einbezieht. 36 Im folgenden wird zitiert nach Jean-Jaques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: ders.: Politische Schriften, Bd. 1, Paderborn 1977. Die deutsche Übersetzung wurde verglichen mit Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social, Paris 1964. Die Zitate nach Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Hamburg 1971 wurden mit dem französischen Original im selben Buch verglichen. 37 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 66. 38 Ebd., S. 61. 39 Ebd., S. 68. 40 »Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage. Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die eher zur Erhellung der Natur der 35
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freie, in sich ruhende Monaden, die, »von Natur gut«,41 ursprünglich nicht nur ohne politische, sondern sogar ohne gesellschaftliche Über- und Unterordnung auskamen.42 Wie bei vielen Kontraktualisten, insbesondere bei Locke,43 zu beobachten, entwickeln sich diese ursprünglich Gleichen und Freien bereits im NZ zu Eigentümern. »Um ein Stück Land zu besitzen, muß man folgende Bedingungen beachten: 1. das Land darf noch von niemandem bewohnt sein; 2. Man darf nur so viel besitzen, als man zum Leben braucht, 3. Man muß es wirklich besitzen, nicht durch eine leere Zeremonie, sondern durch Arbeit und Bestellung, das einzige Eigentumszeichen, das mangels Rechttitel von anderen geachtet wird«.44 Andere Strukturmerkmale des kontraktualistischen Ansatzes kommen hinzu. Das Motiv zur Staatsgründung bei Rousseau läßt sich durchaus kontraktualistisch deuten, nämlich als Erwartung eines sich maximierenden individuellen Nutzens. Es sei unsinnig, im Gesellschaftsvertrag »irgendeinen wirklichen Verzicht der einzelnen sehen zu wollen. Durch den Vertrag hat sich nicht nur ihre Lage gegen früher verbessert; sie haben statt einer Veräußerung einen vorteilhaften Tausch gemacht: statt einer unsicheren und ungewissen eine andere, bessere und gesichertere Lebensweise; statt einer naturgegebenen Ungebundenheit die Freiheit; statt der Macht, anderen zu schaden, ihre eigene Sicherheit; statt der Stärke, die aber andere überwinden könnten, ein Recht, das die Gesellschaftsunion unüberwindlich macht«.45 Vor allem aber trägt das aus dem »Contrat Social« hervorgegangene Gemeinwesen das kontraktualistische Signum eines Rechtsstaates: Der aus dem Gesellschaftsvertrag resultierende Allgemeine Wille kann sich nur als »Gesetz« äußern, vor dem alle gleich sind und dessen Ursprung das Volk
Sache als zum Aufweis des tatsächlichen Anfangs geeignet sind. Sie sind denen vergleichbar, die unsere Physiker täglich über die Entstehung der Welt anstellen« (Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit, a. a. O., S. 81). 41 Ebd., S. 111. 42 »Hingegen richtete sich jeder im Naturzustand, in dem es keine Häuser, keine Hütten, kein Eigentum irgendwelcher Art gab, auf gut Glück ein, oft nur für eine einzige Nacht. Die Männer und die Weiber vereinigten sich zufällig, je nach dem Zusammentreffen, der Gelegenheit und Begierde, ohne daß das Wort ein dringender Dolmetscher für die Dinge gewesen wäre, die sie sich zu sagen hatten. Sie verließen sich mit gleicher Leichtigkeit. Die Mutter säugte zuerst ihre Kinder wegen ihres eigenen Bedürfnisses, nachdem die Gewohnheit sie ihr teuer gemacht hatte, ernährte sie die Kinder dann wegen deren Bedürfnis« (ebd., S. 143, 151). 43 »Locke beginnt in dem berühmten 5. Kapitel der ›Zweiten Abhandlung‹ die Herleitung des Privateigentums mit der Erwägung, daß jedermann Eigentum an seiner eigenen Person habe und folglich auch an der Arbeit seiner Hände. Die Arbeit ist eine vom Körper des einzelnen abtrennbare Substanz, sie kann mit dem bearbeiteten Gegenstand ›vermischt‹ werden. Da aber diese Substanz unzweifelhaft im Eigentum des Arbeitenden stand, wird auch das Produkt zum Eigentum des Eigentümers der Arbeit. Das Gesetz der Natur erlaubt allerdings keine uneingeschränkte Anhäufung von Eigentum. Nur so viel darf sich jeder an Naturprodukten und Land aneignen, wie er zum Verbrauch benötigt; Früchte darf man auf keinen Fall verderben lassen. Außerdem ist darauf zu sehen, daß dem andern genügend Güter von der gleichen Qualität übrigbleiben« (Walter Euchner: Einleitung zu: John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. 1977, S. 9–59, hier S. 32 f.). 44 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 81. 45 Ebd., S. 93.
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ist: »Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muß ihr Urheber sein. Nur jene, die sich zusammenschließen, dürfen die Gesellschaftsbedingungen regeln«.46 Ferner schöpft Rousseau das Potential möglicher Regierungsformen aus, die der Kontraktualismus als realistische Optionen für legitim hält: Monarchie, Demokratie, Aristokratie. Dabei bewegt er sich auch durchaus im Spektrum vertragstheoretischen Denkens, das keineswegs im Sinne des Hobbes auf autoritäre Herrschaft festgelegt ist. Rousseau tritt demgegenüber für eine Minimierung der etatistischen potestas ein, wie seine Favorisierung der Demokratie als direkte Volksherrschaft und seine Warnung vor der Gefahr der Bürokratisierung zeigen: »Gewiß ist auch, daß die Erledigung der Geschäfte um so langsamer wird, je mehr Leute damit befasst sind. (…) Ich habe (…) bewiesen, daß die Regierung um so schlapper wird, je zahlreicher die Beamten sind«.47 Doch der strukturelle Bezug des politiktheoretischen Paradigmas Rousseaus auf das Vertragsdenken darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er seine ältere Variante, wie sie federführend von Hobbes und Locke entwickelt wurde, kritisiert. Ihnen wirft er vor, sie hätten einen »ursprünglichen« Vertrag auf der Grundlage und zur Legitimierung ungerechter, weil ungleicher Eigentumsverhältnisse konzipiert. »Zwischen Mensch und Mensch oder zwischen einem Menschen oder einem Volk ist folgende Absprache ohne Sinn: ›Ich schließe mit dir einen Vertrag, der ganz zu deinen Lasten und ganz zu meinem Nutzen geht; ich halte ihn, solange es mir gefällt, und du mußt ihn einhalten, solange es mir passt‹«.48 Diese Ideologiekritik setzt Rousseau fort, wenn er Hobbes und Locke vorwirft, ihre Naturzustandskonzeption dringe gar nicht zum »natürlichen Menschen« vor, weil sie sich auf den in der bürgerlich-kapitalistischen Welt sozialisierten Bourgeois von London und Paris mit all seinen zivilisatorischen Defiziten beriefen.49 Der »natürliche Mensch« sei nur in einem Stadium vor der Zivilisationsgeschichte identifizierbar, d. h. also nicht in einem vorstaatlichen Zustand, wie der ältere Kontraktualismus suggerierte, sondern in einem vorgesellschaftlichen status naturalis. Daher könne man ihn auch nicht auf der Basis historischer Quellen rekonstruieren.50 Der ältere Kontraktualismus, so muß man Rousseau interpretieren, sichert die bestehenden ungleichen Eigentumsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft ab; er ist apologetisch und verliert daher seine kritischen Funktionen. Doch auf deren Wiedereinsetzung, so das Credo Rousseaus, kommt alles an. Aber wie ist sie zu erreichen? Rousseau verläßt zu diesem Zweck zwar nicht den Umkreis des kontraktualistischen Ansatzes, aber er modifiziert ihn grundlegend, indem er die beiden sich bisher konträr gegenüberstehenden Pole der Utopie und des Kontraktualismus zusammenzuführen sucht. Ebd., S. 98. Ebd., S. 125. 48 Ebd., S. 71. 49 Hobbes Kennzeichnung des Naturzustandes als eines »bellum omnium in omnes«, so Rousseau, rühre daher, daß »er unzweckmäßigerweise zu der Sorge um die Erhaltung des Wilden das Bedürfnis nach Befriedigung einer Menge von Leidenschaften hinzugenommen hat, die erst das Werk der Gesellschaft sind und erst Gesetze zu ihrer Bekämpfung nötig machten« (Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit, a. a. O, S. 167). 50 Vgl. FN 40. 46 47
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Tatsächlich finden sich im »Contrat social« nicht wenige Textstellen, die eine solche Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie belegen. So kann der individualistische Ausgangspunkt des »Contrat Social« nicht darüber hinwegtäuschen, daß in einer logischen Sekunde nach dessen Abschluß der einzelne in der Kollektivität des Allgemeinen Willens ohne Rest aufgeht, um dann von ihr seine Individualität zurückzuerhalten: jetzt allerdings »als unzertrennlichen Teil des Ganzen«.51
V. Dieser »abgefederte« Antiindividualismus als Derivat utopischen Denkens äußert sich in Rousseaus Ansatz in zweierlei Hinsicht: Einerseits in der Perhorreszierung des Partikularwillens: »In einer vollkommenen Verfassung muß der Sonder- oder Individualwille gleich Null, der der Regierung eigene Standeswille sehr untergeordnet und der Gemein- oder souveräne Wille folglich immer beherrschend und die Richtschnur für alle anderen sein«.52 Andererseits bricht Rousseau aber auch mit der Vorstellung des älteren Kontraktualismus, der egoistische Mensch des Naturzustandes verändere seine anthropologische Struktur im vertragstheoretisch legitimierten Staat nicht. Vielmehr bleibe er auch in gesetzlich geregelten Verhältnissen der seinen individuellen Nutzen maximierende Bürger, freilich innerhalb selbst gesetzter Regeln, die seine Koexistenz mit den anderen Egoisten sichern. Rousseau dagegen beerbt das utopische Denken, wenn er aus dem »Contrat social« einen »neuen Menschen« hervorgehen läßt. »Dieser Übergang vom Natur- zum Zivilstatus«, so Rousseau, »bringt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Verwandlung hervor: anstelle des Instinkts setzt er die Gerechtigkeit und verleiht seinen Handlungen jene moralische Verpflichtung, die ihnen vorher gefehlt hatte. Nun erst löst die Stimme der Pflicht den physischen Trieb und das Recht der Begierde ab. Der Mensch, der bisher nur an sich gedacht hatte, sieht sich gezwungen, nach anderen Gesichtspunkten zu handeln und seine Vernunft zu befragen, bevor er seinen Neigungen folgt. Obwohl er sich damit mehrerer Vorteile begibt, die ihm die Natur mitgegeben hatte, gewinnt er andere und größere«.53 Nach dem Sieg der bolschewistischen Oktoberrevolution feierte Leo Trotzki einst den »neuen Menschen«, der sich zur Höhe eines Aristoteles, Goethe oder Marx aufschwingen werde, ja, hinter dieser weltgeschichtlichen Paßhöhe menschlicher Evolution ragten sogar noch neue Gipfel auf.54 Zwar geht Rouseau in seiner Vision des »neuen Menschen« nicht so weit. Doch immerhin nimmt er in vielen Aspekten Trotzkis AntiziRousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 74. Ebd., S. 124. 53 Ebd., S. 78 f. 54 »Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Bergkette werden neue Gipfel aufragen« (Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 215). 51 52
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pationen der menschlichen Entwicklungspotentiale voraus: Die Fähigkeiten des durch den »contrat social« hindurchgegangen Menschen erweitern sich, »seine Gefühle läutern sich und seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, daß er – wenn ihn der Mißbrauch seiner neuen Lebensbedingungen nicht oft unter jene sinken ließe, denen der entkommen ist – den Augenblick preisen müßte, der ihn für immer erlöst und aus einem dummen beschränkten Tier zu einem intelligenten Wesen und zu einem Menschen gemacht hat«55. Was Rousseau zu der Einführung des Topos des »neuen Menschen« also veranlaßte, ist die utopische Intention, den individuellen Nutzen zur moralisch legitimierten Interessenwahrnehmung des übergeordneten Allgemeinwillens zu sublimieren. Daher müsse jeder, der es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, zugleich auch »die menschliche Natur«56 umwandeln. Es komme darauf an, »jeden einzelnen, der ein in sich vollkommenes und selbständiges Ganzes ist, in einen Teil des größeren Ganzen umzuformen, von dem diese Einzelwesen gewissermaßen ihr Sein und ihr Leben erhalten«.57 Analog hätten Thomas Morus und seine Anhänger argumentiert: Der einzelne ist nichts anderes als das Derivat jener idealen staatlichen Institutionen, die ihn wie spiralförmige Kreise umgeben und ihn zu einem funktionsfähigen Teil des Ganzen machen. Wenn in einem Gemeinwesen die volonté générale herrscht, entfällt auch eine vom Staat ausgegrenzte Sphäre individueller Grund- und Menschenrechte. Warum auf sie insistieren, wenn es niemanden gibt, der sie verletzen will? Genau dieser Schluß liegt auf der Linie der Logik des utopischen Staates.58 Sodann ist die Ablehnung des sozialen Konflikts und damit der pluralistischen Struktur politischer Systeme zu nennen. »Wenn sich (…) auf Kosten der Gemeinschaft Klüngel und Parteien bilden, (…) dann gibt es keinen Gemeinwillen mehr, und die Ansicht die gewinnt, ist eine Privatansicht. Damit sich der Gemeinwille klar ausdrücken kann, darf es im Staat keine Sonderwillen geben (…) So war es auch mit der einzigartigen und erhabenen Verfassung des großen Lykurg«.59 Der affirmative Hinweis Rousseaus auf Lykurg bezeichnet das Vorbild, nach dem Platon seinen idealen Staat konzipierte, den seinerseits Morus in »Utopia« »modernisiert« hat. So übernimmt Rousseau das von Lykurg und Platon verordnete Luxusverbot. Er stigmatisiert den Geltungskonsum als »das schlimmste aller Übel«.60 Zwar will, wie gezeigt, Rousseau – im Gegensatz
Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 79. Ebd., S. 100. 57 Ebd. 58 Vgl. Richard Saage: Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt 1995, S. 117–130. 59 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 89. 60 Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit, a. a. O., S. 123: »Der Luxus ist ein Abhilfemittel, das noch viel schlimmer ist als das Übel, das er zu heilen vorgibt. Oder vielmehr: er ist selbst das schlimmste aller Übel, wie groß oder klein ein Staat auch sein möge. Um die Unmengen von Kammerdienern und Schurken zu ernähren, die er hervorgebracht hat, bedrückt und ruiniert er den Landarbeiter und den Bürger. Er gleicht jenen heißen Südwinden, die Wiesen und Felder mit allesverschlingenden Insekten bedecken, die den nutzbringenden Tieren die Nahrung wegfressen und allerorts wo sie hinkommen, Hungersnot und Tod einschleppen«. 55 56
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zu Lykurg und Platon – das Privateigentum nicht abschaffen; aber es wird doch durch den Allgemeinwillen so sozialpflichtig modifiziert, daß es zumindest dem utopischen Ideal nahekommt. »Was die Gleichheit betrifft, so darf man unter diesem Wort nicht verstehen, daß die Macht und der Reichtum völlig gleichwertig sein müßten, sondern, daß die Macht jede Gewalttätigkeit ausschließt und sich nur kraft des Amtes und der Gesetze äußern darf; daß kein Staatsbürger so reich sein darf, um einen anderen kaufen zu können, und niemand so arm, sich verkaufen zu müssen. Das setzt bei den Großen voraus, daß sie Reichtum und Einfluß beschränken, und bei den Kleinen, daß sie nicht geizig und neidisch sind«.61 Im utopischen Denken ist seit Morus mit dem Konfliktverbot zugleich auch, wie gezeigt, das sich in der Öffentlichkeit entfaltende Diskussionsprinzip obsolet, das ein zentrales Strukturmerkmal des kontraktualistischen Denkens darstellt. Zwar vermeidet Rousseau Morus’ rigides Verdikt des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft außerhalb der staatlichen Institutionen. Aber daß er der utopischen Tendenz der Abwertung der kritisch räsonierenden Öffentlichkeit62 folgt, steht auch außer Frage. »Je größer die Eintracht in den Volksversammlungen ist, d. h. je mehr sich die Ansichten der Einstimmigkeit nähern, um so beherrschender ist der Gemeinwille. Lange Debatten dagegen, Streitigkeiten und Tumulte weisen auf das Anwachsen der Privatinteressen und den Verfall des Staates hin«.63 Da im utopischen Staat die wichtigsten materiellen Konfliktursachen beseitigt sind, kommt er angesichts der geringen Zahl der Verbrechen mit wenigen Gesetzen aus. Dies ist auch in Rousseaus Contrat social der Fall. »In einem gut regierten Staat«, schreibt er, »werden wenige Strafen verhängt, nicht weil man viel begnadigt, sondern weil es wenige Verbrecher gibt. Wenn der Staat zugrunde geht, macht eine Überfülle von Verbrechen das Verbrechen straffrei«.64 Nicht zufällig hat der Schüler Rousseaus, Louis-Sébastien Mercier,65 an diese utopischen Elemente in den Theoriekonstrukten des »Contrat Social« und des »Zweiten Discours« angeknüpft. Mit seinem Roman Das Jahr 2440 profilierte er sich in der Geschichte des utopischen Denkens als der »Erfinder« der Zeitutopie. Im Gegensatz zur älteren Raumutopie wurde nun durch die Rezeption des geschichtsphilosophischen Ansatzes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Utopie des idealen Staates von der Gegenwart in die Zukunft verlegt.
Ebd., S. 112 f. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied am Rhein, Berlin 1968. 63 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 170. 64 Ebd., S. 95. 65 Vgl. Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume, Frankfurt/M. 1982. Zu den von Rousseau entlehnten Elementen in diesem Roman vgl. Richard Saage: Utopische Profile, Bd. II: Aufklärung und Absolutismus, Münster 2002, S. 177–197. 61 62
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VI. Was mag den Kontraktualisten Rousseau bewogen haben, das vertragstheoretische Paradigma mit utopischen Elementen anzureichern? Worin bestand sein Motiv, die sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildende Konfrontation zwischen einem individualistischen und einem kollektiven Weg in die Moderne aufzubrechen? Hellsichtigen Geistern wurde, zumal im 18. Jahrhundert, zunehmend klar, daß der Siegeszug der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ihren Preis forderte, den Morus bereits im 16. Jahrhundert antizipierte: Im Zuge einer inzwischen systemisch gewordenen Kapitalakkumulation geriet das individualistische Prinzip in den Schatten der Ausbeutung und Verelendung ganzer Schichten der Gesellschaft. Wie kaum ein Denker vor ihm, hat Rousseau diese Tendenzen seismographisch registriert. Rousseau glaubte, diese Defizite dadurch beseitigen zu können, daß er zumindest partiell auf das utopische Denken zurückgriff. Daß er es nicht insgesamt übernehmen konnte, ist im strikten Antiindividualismus des utopischen Ansatzes selbst begründet. Dieser Gefahr baute er vor, indem er sich prinzipiell als Vertragstheoretiker verstand. Doch relativierte er den rigiden Individualismus des kontraktualistischen Musters durch die Übernahme der aufgezeigten, auf die Solidarität des Ganzen verweisenden utopischen Elemente. Der einzelne, so müssen wir Rousseau interpretieren, muß zu seinem Recht kommen. Aber in humaner Weise gelingt dies nur durch den solidarischen Bezug auf die Mitmenschen, die er symbolisch in der moralisch überhöhten Größe des Allgemeinwillens verkörpert sah. Die These, daß Rousseau mit seinem Versuch, eine Synthese zwischen Vertragsdenken und Utopie herbeizuführen, gescheitert ist, gehört unterdessen zu den Gemeinplätzen der politischen Ideengeschichte: Ich will es mir ersparen, hier die Topoi der partiell berechtigten, aus den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gespeisten Rousseau-Kritik von Schumpeter und Popper bis hin zu Talmon und Fraenkel im einzelnen aufzulisten. Aber das Problem, das er aufwarf und vergeblich zu beantworten suchte, bleibt bis auf den heutigen Tag relevant. Wie sind im 21. Jahrhundert die Abgründe eines sich absolut setzenden Egoismus ebenso zu vermeiden wie jener Kollektivismus, der das Individuum und seine unverzichtbaren Rechte auf dem Altar des »gläsernen Menschen« opfert? Literatur Bruyn de, Gerd: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1996. Euchner, Walter: Einleitung des Herausgebers, in: John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übersetzt von Hans Jörn Hoffmann. Hg. u. eingeleitet v. Walter Euchner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 9–59. Euchner, Walter: Individuelle und politische Macht: Der Beitrag John Lockes im Vergleich zu Hobbes und Spinoza, in: Jürgen Gebhardt / Herfried Münkler (Hg.): Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken
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und neuzeitlichen politischen Denken, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1993, S. 117–138. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 3. Aufl., Neuwied am Rhein, Berlin: Luchterhand 1968. Heyer, Andreas: Studien zur politischen Utopie. Theoretische Reflexionen und ideengeschichtliche Annäherungen, Hamburg: Dr. Kovac 2005. Hobbes, Thomas: Leviathan. Introduction by A. D. Lindsay, London, New York: Dent and Dutton 1961. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. u. eingel. v. Iring Fetscher. Übersetzung: Walter Euchner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984. Machiavelli, Niccolo: Discorsi. Übersetzt v. Friederich von Oppeln-Bronikowski. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Horst Günther, Frankfurt/M., Leipzig: Insel Verlag 2000. Machiavelli, Niccolo: Geschichte von Florenz. Unter Zugrundelegung der Übersetzung v. Johannes Ziegler und Franz Nicolaus Baur hg. v. Hanns Floerke, München: Georg Müller 1925. Marius, Richard: Thomas More. A Biography, London, Melbourne: J. M. Dent & SON LTD 1984. Mercier, Louis-Sébastien: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume. Deutsch von Christian Felix Weiße (1772). Hg., mit Erläuterungen und einem Nachwort versehen v. Herbert Jaumann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982. Morus, Thomas: Utopia. Ins Deutsche übersetzt von Gerhard Ritter, Frankfurt/M., Olten, Wien: Büchergilde Gutenberg 1986. More, Thomas: The best state of a commonwealth and the new island of Utopia, Lateinisch-Englisch, in: The Complete Works of St. Thomas More. Vol. 4. Edited by Eward Surtz, S. J. and J. H. Hexter, New Haven, London: Yale University Press 1965. Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social. Texte établie, présenté et annoté par Robert Derathé, Paris: Gallimard 1964. Rousseau, Jean-Jacques: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (Zweiter Dis-cours). Französisch und Deutsch, in: ders.: Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übersetzt und hg. v. Kurt Weigand. Zweite, erweiterte und durchgesehene Auflage, Hamburg: Felix Meiner 1971, S. 61–267. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, in: ders.: Politische Schriften, Band 1, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1977, S. 59– 208. Saage, Richard: Utopische Profile, Band II: Aufklärung und Absolutismus, Münster: LIT 2002. Saage, Richard: Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschiche und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
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Saage, Richard / Heyer, Andreas: Rousseaus Stellung zum utopischen Diskurs der Neuzeit, in: Politische Vierteljahresschrift 46 / 3 (2005), S. 381–405. Spinoza, Baruch de: Politischer Traktat, Lateinisch-Deutsch. Neu übersetzt, hg. mit Einleitung u. Anmerkungen versehen v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Felix Meiner 1994. Spinoza, Baruch de: Theologisch-Politischer Traktat. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearb., eingel. und hg. v. Günter Gawlick, Hamburg: Felix Meiner 1984. Trotzki, Leo: Literatur und Revolution. Nach der russischen Erstausgabe von 1924. Übersetzt von Eugen Schäfer und Hand von Riesen, Berlin: Gerhardt Verlag 1968. Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart–Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1980.
Die Utopie heute: Der Abschied von der Atopie und ihr Ausschluß Jean-Christophe Merle (Tours / Saarbrücken)1
Bekanntlich lassen sich mehrere Epochen und Formen des Utopiegedankens unterscheiden. Bei den Fachpublikationen darüber können wir sowohl gemeinsame Merkmale aller Utopien als auch das Fehlen einer eigenen zeitgenössischen Form der Utopie beobachten. Dies letztere mag angesichts der wichtigen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte provokativ klingen, die entweder wie Ernst Bloch die verändernde Kraft der Utopie hervorheben2 oder die Frage nach dem Ende der Utopie verneinend beantworten3. Ich sehe auch keine überzeugende Erklärung, warum die Utopie inzwischen gänzlich und endgültig zum Verschwinden verurteilt sein sollte, während sie seit der Frühmoderne unser politisches Denken so sehr geprägt hat. Aber die Form der Utopie, um die es sich in den neueren Debatten und Forschungsarbeiten handelt, ist immer noch diejenige, die im 19. Jh. entstanden ist; es stellt sich die Frage, ob sich diese Form der Utopie in der Gegenwart und der Zukunft noch bewähren kann. Wenn jede Utopie sowohl eine Dimension der Zukunft ausweisen muß als auch auf die Probleme der existierenden Gesellschaft antworten soll, aus der sie formuliert wird, so dürfen wir doch für merkwürdig halten, daß unsere Utopie auf die Probleme des 21. Jh. mit Experimenten – d. h. mit »gelebten Utopien«4 – aus dem 19. Jh. antworten soll, wenn überhaupt. Es muß also doch auch eine neue Form der Utopie geben, die aus den Problemen, aus den Forderungen und möglicherweise auch aus den Widersprüchen unserer Zeit entstanden ist. Im folgenden werde ich versuchen zu zeigen, daß auch unsere Zeit ihre eigene Utopie entwickelt, auch wenn diese gar nicht im Blickfeld derjenigen steht, die heute über »Utopien« debattieren. Diese »unerkannte« Utopie ist der Kommunitarismus im weiten Sinne. Ich werde zu zeigen versuchen, daß der Kommunitarismus sowohl die allgemeinen Bestandteile von Utopien enthält als auch eine grundsätzliche Wende in der Geschichte der Utopie darstellt.
Für seine hilfreichen Bemerkungen danke ich Dr. Konrad Utz. Vgl. Ernst Bloch: Geist der Utopie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1977. 3 Vgl. Richard Saage: Das Ende der politischen Utopie, Frankfurt/M. 1990. 4 Vgl. Joachim Meißner/Dorotee Meyer-Kahrweg/Hans Sarkowicz: Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Frankfurt/M. 2001. 1 2
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Merkmale der Utopie Zu jeder Utopie gehört erstens, daß sie eine andere Gesellschaft als die bestehende ausmalt. Ganz gleich ob die Utopie – wie die erste Generation der Utopien – in einem anderen geographischen Raum oder aber – wie die zweite Generation der Utopien – in einer anderen Zeit situiert ist, immer stellt sie ein alternatives Modell dar. Zu jeder Utopie gehört zweitens, daß in ihr alle Menschen moralisch richtig denken und handeln. Alle in der Utopie lebenden Menschen sind drittens – dank der moralischen Richtigkeit ihres Denkens und Handelns – zufrieden bzw. haben dank der Utopie eine stabile sinngebende Identität. Dieser Aspekt führt dazu, daß sich die klassischen Utopien nicht mit der Möglichkeit auseinandersetzen, daß manche Menschen die Utopie verlassen wollen könnten. Ein weiterer Aspekt ist in den klassischen Utopien vorhanden, gehört aber nicht zur Definition der Utopie. Die klassischen Utopien sind universalistisch. Sie gehen davon aus, daß alle Menschen wesentlich fähig sind, den Regeln der Utopie zu folgen, wenn sie nur von dem Einfluß der existierenden Gesellschaft befreit werden. Insoweit ist die klassische Utopie atopisch5: Sie findet in einem anderen Raum bzw. in einer anderen Zeit statt als die bestehende Gesellschaft, aber sie findet nicht an einem bestimmten Ort statt, d. h. ihr Ort bzw. Zeitraum ist nicht durch die bestehende Gesellschaft begrenzt. Kein klassisches utopisches Modell konzipiert eine Mehrzahl von nebeneinander bestehenden utopischen Gesellschaften. Noch weniger lassen sich Hinweise auf bestimmte nötige geographische Voraussetzungen der Utopie im Sinne von Montesquieus Geist der Gesetze finden. Beschreibungen der physischen Voraussetzungen der Utopie sind immer allgemein, etwa in Francis Bacons Neu-Atlantis (1627), wo die Wissenschaft die ohnehin üppigen Naturressourcen zu einer beinahe unbegrenzten Fruchtbarkeit führt.
Kritik an der Utopie Die Kritik an der Utopie nahm schon früh die ebenso universalistische These an, daß kein Mensch dazu fähig ist, in der Utopie zu leben. Die Utopie bedeutet nach dieser Kritik nicht nur die Ablehnung einer bestimmten Gesellschaftsform, sondern auch die Mißachtung einer allgemeinen Grundanthropologie, die dem neuzeitlichen politischen Denken zugrunde liegt: Die Menschen haben unterschiedliche Zwecke und konkurrieren grundsätzlich miteinander. Aus diesem Grund, so die Kritiker, seien alle Utopien dazu verurteilt, an internen Konflikten und an Austritten zu scheitern (Argument der Unmöglichkeit der Utopie). Mehr noch: Da die Utopien die anthropologischen Grundgegebenheiten nicht anerkennen wollen, müssen sie auf die Menschen weitaus größeren Zwang ausüben, als die neuzeitlichen politischen Theorien des liberalen Rechtsstaat dies erforderlich machen (Argument der Gewalttätigkeit aller Utopien). Die Utopie schlägt dann in den Albtraum um: Sie stellt keine bessere, sondern eine schlechtere 5
Zur Atopie vgl. Helmut Willke: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2001.
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Gesellschaft dar als die existierende Gesellschaft und sie macht jede stabile sinngebende Identität unmöglich. Im 19. Jh. antwortet die Utopie auf diesen Einwand, indem sie aus einem bloßen Gedankenexperiment zu einem zugleich praktischen Experiment wird und sich nur noch an kleine Gruppen Freiwilliger wendet, denen der Austritt nicht verboten wird. Damit wird aber nur erst auf den Vorwurf der illegitimen Gewalt geantwortet. Den Einwand, daß die Utopien verurteilt sind, an internen Konflikten und Austritten zu scheitern, wollen die Utopien im 19. Jh. durch ihre gelungene Realisierung widerlegen. Allerdings scheiterten die Utopiegründer immer wieder: Charles Fourier, Robert Owen, Etienne Cabet, Giovanni Rossi, aber auch Monte Verità, Christiania in Kopenhagen, die Hippies usw. Von den neunzehn Gelebte(n) Utopien, die ein neuerer Sammelband beispielhaft darstellt6, besteht allenfalls eine in der Realität fort: diejenige der religiösen Gemeinschaften der Amish, Hutterer und Shaker.7 Merkwürdigerweise werden gerade diese gegenwärtig realen Beispiele der Utopie in der Utopieforschung vernachlässigt. Wenn man von diesen Ausnahmen absieht, scheint also die Utopie im Sinne der frühen Neuzeit und des 19. Jh. heutzutage endgültig als unmöglich anerkannt zu sein. An eine Verwirklichung der Utopien von Herbert George Wells8, Alexander Bogdanow9 und anderer Utopien des 20. Jh. hat niemand ernsthaft gedacht. Seit Blochs Das Prinzip Hoffnung10, dessen wesentlichen Motive schon im Geist der Utopie11 enthalten sind, werden weder Utopiepläne noch Utopien als politische Alternativen vertreten und gefördert, sondern vielmehr sowohl der Geist der Utopie als auch die Utopie in nicht unmittelbar politischen Dimensionen propagiert. Wenn der Geist der Utopie als das Drängen ins Bessere, Noch-Nicht-Mögliche, aber auch ins UnMögliche charakterisiert wird, so vermißt man doch die Frage nach dem Möglichen, das sein sollte. Erste Antworten auf diese Frage enthalten die drei o. g. Bestandteile aller Utopien: Die Utopie ist ein Alternativmodell, in dem alle Menschen moralisch richtig handeln und eine sinngebende Identität bilden. An echten Utopien fehlt es noch mehr, wenn man den Geist der Utopie in Kunstwerken ansiedelt. Dabei vergesse ich nicht, daß Kunstwerke sowohl Ausdruck einer Utopie sein als auch eine geistige Befreiung hervorrufen können, welche ggf. die Utopien zu fördern vermag. Allein für sich sind sie aber noch keine Utopie, und zwar nicht nur, weil sie allein keine Utopie verwirklichen können, sondern auch weil sie kein politisches Modell und keine präzise Theorie darstellen. Meißner/Meyer-Kahrweg/Sarkowicz: a. a. O. Herfried Münkler, nennt außerdem »alternative Projekte, alternative Werkstätten und ökologische Bauernhöfe« (Das Ende des Utopiemonopols und die Zukunft des Utopischen, in: Richard Saage (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992, S. 207–214, 214); ob diese aber wirklich utopische Qualität haben, ist fraglich. 8 Vgl. Herbert G. Wells: Menschen Göttern gleich, übers. v. Paul Sonnenthal u. Otto Mandl, Berlin 1927. 9 Vgl. Alexander Bogdanow: Der rote Planet. Ingenieur Menni. Utopische Romane, übers. v. Reinhard Fischer u. Aljonna Möckel, Berlin 1989. 10 Frankfurt/M. 1954–1959. 11 Zuerst 1918, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1977. 6 7
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Die neue Sehnsucht nach der Utopie als nach der Utopie der Anderen Es verhält sich mit dem heutigen Lob des Geistes der Utopie genauso wie mit dem Bedauern, daß die Lebensweise der Urvölker und anderer mehr oder weniger abgeschotteter traditioneller Gruppen zunehmend gefährdet ist. Dieses Bedauern bedeutet keinesfalls, daß wir nach dieser Lebensweise leben und die Gesellschaft so gestalten möchten. Wir wünschen nur, daß die wenigen Ureinwohner, die den traditionellen Regeln immer noch folgen, dies weiterhin tun, und daß ihr Nachwuchs dies ebenfalls tut. Wenn Rawls in Political Liberalism12 den Fall der Amish behandelt, fällt auf, daß es lediglich um deren Recht auf Erhaltung ihrer Lebensweise innerhalb der Rechtsordnung der Vereinigten Staaten geht. Die Möglichkeit der Missionierung wird nicht in Erwägung gezogen; und tatsächlich versuchen Amish und Hutterer nicht, neue Mitglieder zu gewinnen. Im Mittelpunkt von Rawls’ Argumentation steht das Recht der Amish-Gemeinschaft, ihre Kinder vom Rest der Bevölkerung abzuschotten, etwa durch einen getrennten Unterricht. Nur über die amerikanische Verfassung im allgemeinen und über ihr Recht auf Religionsfreiheit im besonderen müssen Amish-Kinder informiert werden. Dies läuft aber bekanntlich nicht auf eine wirkliche Entscheidungsfreiheit für die Amish-Kinder hinaus. Diese minimalistische Forderung führt zu einer beinahe erzwungenen Fortsetzung der nichtliberalen Lebensweise. Die Möglichkeit einer Erweiterung der Amish-Lebensweise auf neue Mitglieder dagegen wird von Rawls nicht in Erwägung gezogen. Kurz: es geht nur darum, daß dieses besondere utopische Leben erhalten bleiben soll; dabei wird diese Utopie vererbt und nicht verbreitet. Darin zeigt sich ein deutlicher Unterschied sowohl zum Universalismus der frühneuzeitlichen Utopien als auch zu den Utopien des 19. Jh., welche die Utopie in kleinen Gruppen ausprobierten. Diese Gruppen waren nämlich offen für Menschen aller Herkunft und der Austritt war relativ freigestellt und vor allem deswegen wirklich möglich, weil die Erziehung der meisten Mitglieder außerhalb der utopischen Gruppe stattgefunden hatte. Hier sehen wir, daß die beiden Einwände, die gegen die universalistische Utopie des 19. Jh. erhoben worden sind, im heutigen wohlwollenden Verhalten gegenüber den tatsächlich gelebten Utopien eine überzeugende Antwort auf Kosten des universalistischen Anspruchs gefunden haben: der Einwand des unvermeidlichen Scheiterns an internen Konflikten und Austritten sowie der erzwungenen Mitgliedschaft als einzigem Mittel der Selbsterhaltung für die Utopien sind entkräftet. Austritte sind dank der abgeschotteten Erziehung, die den Mitgliedern als Erwachsenen einen Austritt und eine erfolgreiche Integration in die allgemeine Gesellschaft äußerst schwer macht, wenig wahrscheinlich. Interne Konflikte bzw. Verletzungen der internen Regeln finden deswegen selten statt, weil sie mit dem Ausschluß aus der Gemeinschaft und der Boykottierung des abweichenden Mitgliedes bestraft werden, das auf ein Leben außerhalb der geschlossenen Gemeinschaft nicht vorbereitet ist. Vgl. Jean-Christophe Merle: Die Religion als Wohlfahrtsfaktor in der liberalen Gesellschaft, in: Christoph Hubig (Hg.): Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte, Berlin 1997, S. 161– 174, S. 170 f. 12
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Im Gegensatz zu den Utopie bis zum Anfang vom 20. Jh. gehen die heute gelebten Utopien nicht davon aus, daß alle Menschen wesentlich fähig sind, den Regeln der Utopie zu folgen, weil kein Mensch von dem Einfluß der existierenden Gesellschaft befreit werden kann. Der Mensch, der fähig sein soll, in einer Utopie zu leben, muß in ihr als in einer geschlossenen utopischen Gesellschaft geboren sein. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, daß die zweitletzte überlebende Shaker-Gemeinschaft es vorzog auszusterben, anstatt neue Mitglieder aufzunehmen.13 Insoweit sind die heute gelebten Utopien anders als die klassischen entworfenen sowie gelebten Utopien nicht atopisch, sondern vielmehr an einen bestimmten Ort und an spezifische Umständen fest gebunden, und zwar viel fester als die Institutionen der modernen Staats- und Rechtsordnung. Sie sind topisch verankert. Darum sind die gelebten Utopien heutzutage als irreduzible Mehrzahl gedacht. Noch einmal: Alle anderen – universalistischen bzw. atopischen – utopischen Gemeinschaften sind nach kurzer Zeit verschwunden: Dies betrifft achtzehn der von Meißner, Meyer-Kahrweg und Sarkowicz genannten neunzehn Beispiele gelebter Utopien. Kritik der kommunitaristischen Utopie Ich habe vorher gesagt, daß diejenigen, die heute spezifische Maßnahmen zur Erhaltung der gelebten Utopien befürworten, bzw. diejenigen, die für den Geist der Utopie plädieren, keinesfalls selber utopischen Gruppen beitreten würden. Die Erklärung liegt auf der Hand: niemand möchte seine eigene Freiheit so eingeschränkt sehen, wie dies für die Mitglieder der bestehenden utopischen Gemeinschaften der Fall ist. Hier liegt ein klarer Fall von Diskriminierung vor. Die Vertreter dieser Position befürworten, daß manche Individuen weniger Freiheit genießen dürfen als die meisten ihrer Mitbürger – darunter sie selber. Diesen Punkt scheint Robert Nozick in seiner Kritik an gelebten Utopien, die die Freiheit einschränken, zu übersehen. Nozicks Anarchie, Staat und Utopie14 geht in seinem dritten Teil (Framework for utopia) davon aus, daß jedes Individuum eine eigene Utopie hat, in der es sich selbst bevorzugt, so daß es sie mit den anderen Individuen nicht teilen kann. Setzt man voraus, daß der Bei- und Austritt lediglich auf freiwilliger Basis erfolgt, so müßte jeder in einer eigenen utopischen Welt leben. Nun kann niemand allein in seiner utopischen Welt leben wollen. Also müssen alle auf Kompromisse mit den anderen eingehen, die dem libertarianistischen politischen Modell entsprechen. Bei Nozick fehlt jedoch jeglicher Hinweis auf die Einschränkung des Entscheidungsvermögens der Individuen durch bestehende Utopien. Diese Einschränkung macht die freie Wahl und den Austritt äußerst schwierig. Diese Einschränkung verstößt gegen die individuelle Freiheit. Die Pointe der heutigen Befürwortung der topisch verankerten Utopie besteht darin, die Möglichkeit der individuellen Freiheit nicht erst politisch, sondern schon anthropologisch zu leug13 14
Vgl. Meißner/Meyer-Kahrweg/Sarkowicz: a. a. O., S. 64. Robert Nozick: Anarchy, state and utopia, New York 1974.
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nen. Dies war das Anliegen des Kommunitarismus.15 Nach der kommunitaristischen Grundanthropologie gibt es bei jedem Menschen »konstitutive Zwecke«, die er nicht gewählt hat und die ihm nicht zur Disposition stehen. Diese Zwecke, die von der Gemeinschaft abhängen, bleiben bei jedem einzelnen Menschen immerwährend dieselben. Deshalb fördern das Wohl des Individuums nicht die Rechtsordnung und die individuellen Rechte, sondern die Angehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die seine konstitutiven Zwecke verfolgt. Man muß feststellen, daß der Kommunitarismus klarerweise alle drei Grundbestandteile der Utopie enthält. Der Kommunitarismus konzipiert (1) eine bessere Gesellschaft als unsere bestehende, von ihm als liberal charakterisierte Gesellschaft, in welcher (2) die Menschen moralisch richtig denken und handeln würden und (3) eine stabile sinngebende Identität besäßen. Und nicht zuletzt: der Kommunitarismus ist keine deskriptive, sondern eine normative politische Theorie. Die Gemeinschaften, die der Kommunitarismus positiv bewertet, sind entweder weitgehend verschwunden (bzw. die Anzahl ihrer Mitglieder ist drastisch gesunken) oder der Kommunitarismus sieht ihr Überleben durch unsere moderne liberale Gesellschaft wesentlich bedroht. Die kommunitaristische Gemeinschaft ist also sehr viel mehr eine gewünschte als eine wirkliche Gemeinschaft. Für das zweite Element der Utopie, das moralisch richtige Handeln ihrer Mitglieder, sorgt im Kommunitarismus die durchgängige Behauptung aller seiner Vertreter, daß die politische Gesellschaft für mehr als nur für das Recht und die rechtliche Koexistenz zuständig ist, nämlich für das Gute, dem das Recht unterordnet sein soll. Die Gefahr interner Streitigkeiten und autoritärer Sozialtechnik fällt wegen der großen Gemeinsamkeit in den Vorstellungen des Guten und der Ziele aus. Anders als bei Nozick müssen die Mitglieder nicht auf Kompromisse eingehen, weil ihre wesentlichen Ziele nicht nur gemeinsame, sondern auch gemeinschaftliche Ziele sind. Existierende utopische Gemeinschaften sind aber nicht die einzigen, die die Kommunitaristen mit ihrer normativen Konzeption im Auge haben. Die Kommunitaristen halten zwar nicht alle Völker und Bevölkerungsgruppen für fähig, mehr als eine Rechtsordnung bzw. eine Gesellschaft zu bilden. Mit ihren Thesen haben sie aber weitaus mehr im Auge, als nur die bestehenden utopisch konzipierten Gemeinschaften. Von den kommunitaristischen Thesen betroffen sind vor allem Bevölkerungen, die auch bei ihrer Entstehung weder ein utopisches Vorhaben hatten noch ihre ersten oder aktuellen Mitglieder je durch freiwilligen Beitritt rekrutiert haben, von wenigen Ausnahmen wie den Puritanern in Michael Walzers The Revolution of the Saints16 einmal abgesehen. Nehmen wir zum Beispiel eine Theorie, die sich m.E. zu Unrecht als liberal bezeichnet: Will Kymlickas Multikulturalismus.17 Bekanntlich empfiehlt Kymlicka eine unter-
15 Zu einer Gesamtdarstellung des Kommunitarismus und seiner Grundthesen vgl. Axel Honneth: Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Staaten, Frankfurt/M., New York 1993. 16 Michael Walzer: The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge MA 1965. 17 Vgl. Will Kymlicka: Liberalism, Community and Culture, Oxford 1989, sowie ders.: Multicul-
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schiedliche Behandlung der Bevölkerungsgruppen Kanadas. Die indianischen Ureinwohner sollen ihre traditionellen Regeln behalten; diese sollen kaum geändert werden dürfen. Bei Nicht-Einhaltung dieser Regeln droht der Ausschluß mit Verlust etwa des Eigentums. Sogar eine nicht-indianische Witwe eines Ureinwohners muß ihr Eigentum aufgeben, wenn sie die Gemeinschaft verläßt. Die Quebecische Bevölkerung erhält provinz-parlamentarische Befugnisse, um ihre Regeln nach ihren eigenen Vorstellungen zu ändern; weitgehende Einschränkungen der individuellen Grundrechte, z. B. in der Erziehung oder bezüglich Sprache und Religionsunterricht, sind erlaubt. Die ethnischen Einwanderergruppen haben auf freiwilliger Basis Anspruch auf bloße Anpassungen der Rechtsbestimmungen. Die anglo-kanadische Mehrheit der Bevölkerung lebt bei Kymlicka weiterhin nach den Regeln der liberalen Gesellschaft. Der Bei- und Austritt der Quebecer und – mehr noch der Ureinwohner – in die bzw. aus der liberalen Gemeinschaft erfolgt nicht und ist nie freiwillig erfolgt. Hier zeigt sich ein zweifacher wesentlicher Unterschied zu den bisherigen Utopien. Von den frühneuzeitlichen Utopien unterscheidet sich Kymlicka durch seinen Anti-Universalismus, also darin, daß er statt einer utopischen Gemeinschaft mehrere vorsieht; von den gelebten Utopien kleiner Gruppen unterscheidet sich sein Konzept darin, daß Ein- und Austritt nicht freiwillig stattfinden. Der Schluß liegt nahe: Es handelt sich um Diskriminierung und um eine Festschreibung der Unfreiheit der Mitglieder der betreffenden Gruppen. Wie können unter diesen Umständen die drei allgemeinen Elemente der Utopie durch die kommunitaristischen Theorien wirklich beansprucht werden? Und insbesondere, inwiefern stellt Kymlickas Auffassung eine bessere Gesellschaft dar, als eine liberale Rechtsordnung? Es bieten sich zwei Antworten an. Die erste Antwort wäre, daß die Sonderbehandlung der Ureinwohner Kanadas sie vor negativen Einflüssen unserer Gesellschaft schützt. In seinem ersten Werk erzählt Kymlicka von indianischen Kinder, die deswegen von einem Fels gesprungen und daran gestorben sind, weil sie einen Spielfilm angeschaut hatten, wo eine Darstellerin das gleiche getan hatte, ohne dabei ums Leben zu kommen. Anders als Kinder unserer Gesellschaft verfügten nämlich, so Kymlicka, diese jungen Ureinwohner nicht über die nötige Erziehung, um Fiktion von Wirklichkeit zu unterscheiden. Hier sehe ich zwei Optionen: entweder (1) sollten die indianischen Kinder keinen Fernseher haben, oder (2) sie sollten dieselbe Erziehung bekommen, wie die Kinder der übrigen Gesellschaft. Wenn wir in unserer eigenen Gesellschaft die Wahl der zweiten Option für selbstverständlich halten, weil sie mehr reale Freiheit und Autonomie ermöglicht, warum sollte für die indianischen Kinder die erste Option gewählt werden? Wenn die erste Option gewählt wird, dann werden die kulturellen Ressourcen, die Kymlicka nach seiner Kernthese zu den primären sozialen Gütern im Rawlsschen Sinne zählt, auf eine Weise verteilt, die eindeutig gegen das Differenzprinzip verstößt. Es wird den indianischen Kindern weniger Kreativität als den anderen erlaubt. tural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995. Zu meiner Kritik vgl. auch JeanChristophe Merle: Kulturelle Minderheitsrechte im liberalen Staat, in: Matthias Kaufmann (Hg.): Integration oder Toleranz? Minderheiten als philosophisches Problem, Freiburg i. Br. 2001, S. 170–179.
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Die zweite Antwort auf die Frage, weshalb die kommunitaristische utopische Gesellschaft besser sein soll als die liberale, liegt in der höheren Stabilität, die Kymlicka und die Kommunitaristen für ihre Modelle beanspruchen. Gegen den Liberalismus erheben alle Kommunitaristen in der einen Form oder der anderen den Vorwurf des »Atomismus«18, der angeblich auf die Dauer den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet.
Kommunitaristische Utopie im Vergleich mit herkömmlichen Modellen Auch die herkömmlichen Utopien haben immer beansprucht, eine stabile Gesellschaftsform zu errichten; interne Streitigkeiten und zahlreiche Austritte aus den utopischen Gemeinschaften im 19. Jh. waren sogar immer wieder ein Grund zur Selbstauflösung. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Utopien des 19. Jh. und den kommunitaristischen Utopien besteht aber im folgenden. Die klassischen Utopien stellten für die Gesellschaft eine Alternativgesellschaft dar. Manche utopischen Gesellschaften – etwa Francis Bacons Neu-Atlantis – wußten von der realen Gesellschaft, andere aber nicht. Die reale Gesellschaft war aber eine Gesellschaft, die ohne Alternative schien, weswegen die Utopie verworfen werden mußte. Der Kommunitarismus entwirft dagegen eine utopische Gesellschaft, deren Vorteil er in der Alternativlosigkeit ihrer Mitglieder sieht. Diese Alternativlosigkeit stellt der Kommunitarismus der Vielfalt von Lebensformen entgegen, die sich innerhalb der liberalen Gesellschaft entwickeln kann und in den Augen des Kommunitarismus eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft im allgemeinen und für das Überleben traditioneller Gemeinschaften im besonderen darstellt. Was in der kommunitaristischen Utopie als attraktiv bewertet wird, ist der Ausschluß der Alternativen. Versuche utopistischer Gemeinschaft im Sinne des 19. Jh. gelten in der kommunitaristischen Perspektive als abstrakte und wurzellose Gesellschaftsentwürfe. Der Kommunitarismus bedeutet zwar eine Alternative zu unserer Gesellschaft, gleichzeitig aber auch die gewollte Verschließung vor Alternativgesellschaften. Der Kommunitarismus schließt die Kreativität in politischen Angelegenheiten aus. Dagegen zeichnete sich die gesamte bisherige Tradition der Utopie wesentlich durch Kreativität aus. Kreativität verstehe ich hier im starken Sinne der creatio, genauer der creatio ex nihilo. Die utopischen Modelle binden sich an keine Vorgabe und an keine besonderen Umstände, sondern sie konstruieren eine Gesellschaft auf einer tabula rasa. Diese tabula rasa sorgt in allen traditionellen Utopien für Gleichheit sowie für eine universalistische Gesellschaftsordnung und sie stützt sich dabei auf eine aufgeschlossene Einstellung gegenüber Wissenschaft und Technik. Universalistisch ist die utopische Gesellschaftsordnung auch in den Utopien kleiner Gruppen. Innerhalb der Gruppe herrscht nämlich dieselbe Regel für alle, ohne Privilegien und Diskriminierungen. Dies gilt auch für diejenigen Utopien, in denen die zentrale Rolle der Wissenschaft und der Technik die Existenz einer entsprechenden Berufsgruppe erforderlich macht, die in 18 Vgl. Charles Taylor: Atomism [1979], in: ders.: Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge 1985, S. 187–210.
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manchen Utopien eine führende Rolle oder gar die politische Herrschaft in der Gemeinschaft einnimmt. Diese Rolle wird nämlich nicht mit Privilegien über diejenigen Privilegien hinaus verbunden, die für ihre Durchführung nötig sind. Die Gleichheit im Zugang zu den Ressourcen und zu den Produkten sowie in der – meistens bescheidenen – Lebensweise gehört zu den Grundzügen der traditionellen Utopien. Die vielfältige Beziehung der Utopie zur Technik – von der planwirtschaftlichen traditionellen Landwirtschaft von Morus’ Utopia über die kreative Biologie auf Neu-Atlantis, die für ein echtes Schlaraffenland sorgt, bis zu den technischen Utopien des 20. Jh. – zeugt davon, daß die Technik und die Wissenschaft immer als systematisches Mittel zur Verwirklichung der Utopie gedacht worden sind, und zwar in einem Ausmaß, das deutlich größer war, als der Einsatz der Technik in der jeweiligen realen Gesellschaft. In diesen drei Punkten (Universalismus, Gleichheit sowie Wissenschaft und Technik) unterscheidet sich der Kommunitarismus wesentlich von den herkömmlichen Utopien. Nicht nur gelten je nach Gemeinschaft unterschiedliche Regeln, auch intern ist die kommunitaristisch aufgefaßte Gemeinschaft nicht unbedingt egalitaristisch; vielmehr übernimmt sie oft hierarchischere Formen als die bestehende liberale Gesellschaft. Die Wissenschaft und die Technik werden unter dem kommunitaristischen Blickwinkel oft mit dem abstrakten Atomismus der modernen liberalen Gesellschaft in Verbindung gebracht und für die Auflösung der stabilen traditionellen Gemeinschaften verantwortlich gemacht. In den drei genannten Punkten sehen die heutigen liberalen politischen Theorien, die keinen Anspruch auf den Utopie-Status erheben, den klassischen Utopien viel ähnlicher, als die kommunitaristische Utopie. Wenn Ronald Dworkin19 die bekannte Geschichte von Kolonisten erzählt, die auf einer unbewohnte Insel landen und in einer Auktion die Naturressourcen verteilen, so könnte es sich dabei um den Anfang einer Utopie handeln. Von den Muscheln, die als Zahlungsmittel in der Aktion gelten, wird allen Teilnehmern die gleiche Menge zugeteilt. Die Auktion soll sichern, daß die unterschiedlichen Ressourcen optimal – d. h. der Begabung der einzelnen Kolonisten entsprechend – verteilt werden. Darin drückt sich ein wirtschaftswissenschaftliches und technikorientiertes Anliegen aus. Ähnliches ließe sich auch in Philippe van Parijs’s Real Freedom for All 20 zeigen. Allerdings wird die Stabilität in diesen liberalen Theorien nicht so groß geschrieben, wie im Kommunitarismus. Stabilität steht nicht im Mittelpunkt. Erst wenn ein gerechtes Modell entworfen ist, wird noch geprüft, ob es das nötige Minimum an Stabilität vorweisen kann. Dabei war der Kommunitarismus doch mit dem Anspruch aufgetreten, sich mit den notwendigen Voraussetzungen der Durch- bzw. Umsetzung der liberalen Gerechtigkeitsprinzipien zu befassen, die angeblich den liberalen Theorien selbst nicht bewußt seien und sogar ihren anthropologischen Prämissen widersprächen. Das erste kommu-
Ronald Dworkin: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge 2000, Kap. 2: »Equality of Resources«, S. 65–119. 20 Philippe van Parijs: Real Freedom for All. What (if Anything) can Justify Capitalism?, Oxford 1995. 19
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nitaristische Werk, Michael Sandels Liberalism and the Limits of Justice21, versuchte zu zeigen, daß mit der tabula rasa, d. h. mit dem »ungebundenen Selbst« hinter seinem »Schleier der Unwissenheit« allein keine Durch- bzw. Umsetzung von Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien möglich sei. Die Voraussetzung dafür sei die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft mit einem einschlägigen Gefühl der Zusammengehörigkeit und mit dem Bewußtsein der Verpflichtung zur internen Solidarität. Es sei hier dahingestellt, ob diese These für die Entstehungsgeschichte des Liberalismus zutrifft. Es kommt auf den Schluß an, den die Kommunitaristen daraus ziehen: diejenige Gemeinschaft, welche angebliche die Voraussetzung für die Entstehung des Liberalismus und der liberalen Gesellschaft ist, soll (1) für die Entwicklung und Erhaltung nicht nur der liberalen Gesellschaft, sondern auch der liberalen Gerechtigkeitsprinzipien fortwährend nötig sein und sie soll (2) diesen Gerechtigkeitsprinzipien nicht widersprechen. Daß die liberale Gesellschaft diesen Gerechtigkeitsprinzipien nur sehr begrenzt folgt und oft gar widerspricht, daß außerdem zwischen einer bestehenden Gesellschaftsordnung und einer politischen Theorie immer eine gewisse Diskrepanz herrscht, übersieht Sandel gerne. Er stellt Rawls’ Anspruch nicht wirklich in Frage, die Prinzipien dargestellt zu haben, die der zeitgenössischen amerikanischen Rechts- und Staatsordnung zugrunde liegen. Gerechtigkeitsprinzipien bzw. eine ideale Theorie können jedoch genauso wenig wie eine Utopie mit den gesellschaftlichen Verhältnissen identifiziert werden, unter denen sie entstanden sind. Sie stellen vielmehr eine Alternative zu jenen gesellschaftlichen Verhältnissen dar. Wenn dagegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als das normative Kriterium gelten, dann haben die Gerechtigkeitsprinzipien nur noch eine sekundäre bzw. abgeleitete Gültigkeit. Wenn es sich dann erweist, daß nicht die Gerechtigkeitsprinzipien, sondern die kommunitaristisch aufgefaßte Gemeinschaft diesen bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde liegt, dann gelten nicht mehr die Gerechtigkeitsprinzipien, sondern nur noch die kommunitaristische Gemeinschaft. Erhebliche Zweifel sind jedoch an der kommunitaristischen These geboten, nach der die kommunitaristische Gesellschaft der bestehenden liberalen Gesellschaft zugrunde liegt. Dies ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil es die kommunitaristische Gesellschaft nach den Aussagen der Kommunitaristen selbst nicht gibt und nie gegeben hat, zumindest nicht mit der Dauerhaftigkeit und mit der Stabilität, die sie im Kommunitarismus auszeichnet. Kurz: Der Kommunitarismus ist, wie schon gesagt, eine Utopie.
Das Fehlen liberaler Utopien Wichtiger scheint mir aber, daß die liberalen Theorien keine eigene Utopie entwickeln, und daß eine Ursache davon darin liegt, daß sie manche Gemeinsamkeiten mit dem Kommunitarismus haben.
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Michael Saudel: Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982.
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Dies mag paradox klingen, habe ich doch z. B. Dworkins Auktion der Naturressourcen als möglichen Anfang einer Utopie bezeichnet; Dworkin fügt dieser Auktion noch ein Versicherungssystem hinzu, das auch bei Unglück in der Verwendung der Ressourcen ein Mininum an Einkommen sichert. Doch stellt dieses Beispiel utopischer Elemente in den heutigen liberalen Theorien keinesfalls eine Utopie dar. Zu einer Utopie gehört, daß sie eine konkrete Alternativgesellschaft darstellt. Die Utopie muß also einen geschlossenen Zusammenhang darstellen, der die wesentlichen Aspekte und Probleme der bestehenden Gesellschaft wahrnimmt und behandelt. Wie würde dementsprechend eine Utopie aussehen, die auf Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien gründen würde? Nennen wir nur zwei wichtige Aspekte. Sie würde eine Eigentumsordnung konkret entwerfen und dabei Chancengleichheit, aber auch vermutlich die Abschaffung des Erbrechts enthalten. Sie wäre auch von vornherein global angelegt und würde z. B. eine globale Umverteilung der Naturressourcen und Produkte, eine globale Freizügigkeit auch für arme Menschen, ein globales Gesundheitssystem usw. einschließen und damit auch eine globale Rechts- und Staatsordnung fordern. Nicht nur unsere wirkliche Welt scheint sich dem nicht einmal anzunähern, sondern auch die liberalen Theorien, selbst jene, die sich am meisten für die globale Gerechtigkeit engagierten, sind sehr weit von dieser Utopie entfernt. John Rawls’ Das Recht der Völker22 lehnt Prinzipien der globalen Verteilungsgerechtigkeit ausdrücklich ab. Echtes politisches Engagement gibt es für die Entschuldung der ärmsten Drittweltstaaten, für Thomas Pogges 1%-Steuer auf den Verbrauch der Naturressourcen23, für die Integration der Immigranten usw. Manche liberale Theorien, die sich zu einem »egalitaristischen Liberalismus« ausdrücklich verpflichtet fühlen, entwickeln sogar systematisch eine kommunitaristische Anwendung des egalitaristischen Liberalismus. Auf ein traditionelles Motiv der Utopien zurückgreifend plädiert Philippe van Parijs im Abschlußkapitel von Real Freedom for All für eine »Insel der Pinguine« (Penguins Island)24, welche Maßnahmen der Sozialgerechtigkeit – darunter ein universelles Grundeinkommen – für sich allein einrichtet und sich um das Schicksal des Rests der Welt nicht kümmert. Dieser von ihm sogenannte »solidaristische Patriotismus« erinnert durch seine Einschränkungen auf geschlossene Gruppen sehr an die kommunitaristischen Utopien. Warum entwickelt denn aber nur der Kommunitarismus, nicht aber der Liberalismus Utopien, außer eben kommunitaristische Utopien wie die Insel der Pinguine? Hier kann ich nur eine Hypothese formulieren. Sowohl in der kommunitaristischen Utopie als auch in der Utopie der Pinguininsel findet eine klare Diskriminierung statt. In der kommunitaristischen Utopie sind die Ureinwohner benachteiligt. Auf der Pinguininsel sind die Armen der armen Länder gegenüber »unseren« Armen benachteiligt. Interessanterweise wird in der heutigen Debatte über globale Gerechtigkeit nicht von den globalen armen bzw. reichen Individuen oder Gruppen (oder von den globalen worst-
John Rawls: Das Recht der Völker, übers. v. Wilfried Hinsch, Berlin 2002, S. 143 ff. Thomas Pogge: Eine globale Rohstoffdividende, in: Chr. Chwaszcza/W. Kersting (Hg.): Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 1998, S. 325–362. 24 Van Parijs: a. a. O., S. 226. 22 23
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off) gesprochen, sondern von armen und reichen Ländern. Von einer liberalen globalen Utopie, wie ich sie skizziert habe, erwarten die meisten von uns (i.e. von uns Bewohnern der reichen Länder) keine Verbesserung ihrer eigenen Lebensverhältnisse, sondern eine drastische Verschlechterung. Nun ist es zwar möglich, daß eine Utopie auch von solchen Menschen positiv bewertet oder gar ins Leben gerufen wird, deren Zustand sich innerhalb der entsprechenden utopischen Gesellschaften dramatisch verschlechtern würde. Die meisten Utopien sind aber von denjenigen benachteiligten Menschen wenn nicht erfunden, so doch getragen worden, deren Zustand sich in der utopischen Gesellschaft verbessert – oder zumindest nicht verschlechtert – hätte. Wer eine Utopie vertritt, der glaubt nämlich an einen gewissen Einfluß der Utopie auf die geschichtliche Entwicklung. Wenn man eine »bloße« Utopie formuliert und verbreitet, verpflichtet man sich einigermaßen und man wird einigermaßen konsequent danach handeln müssen. Dieses Phänomen, das die Politikwissenschaftler »rhetorical trap« (rhetorische Falle) nennen25, wird sicherlich von den liberalen Theoretikern wahrgenommen, die die radikalen Konsequenzen aus den liberalen Gerechtigkeitsprinzipien nicht ziehen (wollen). U. a. aus diesem Grund haben wir heutzutage in den westlichen Ländern eine Utopie (die kommunitaristische Utopie), die häufig nicht als solche wahrgenommen wird und eine radikal andere Grundorientierung hat als die bisherigen Utopien: die Diskriminierung, den Partikularismus und das Mißtrauen gegen die Technik. Auf die Festschreibung dieser Merkmale und der Ungerechtigkeit kommt es an, weil wir Bewohner der reichen Länder glauben, daß wir davon profitieren und weiterhin profitieren werden. Unsere Utopie ist eine Welt, in der die anderen benachteiligt werden, nicht mehr eine, wo es uns und den anderen allen besser ginge. Der Geist der Utopie kann auch als ein kalter und böser Wind wehen.
Literatur Bloch, Ernst: Abschied von der Utopie? Vorträge, Frankfurt/M. 1980. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1973. Bloch, Ernst: Geist der Utopie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1977. Bogdanow, Alexander: Der rote Planet. Ingenieur Menni. Utopische Romane, übers. v. Reinhard Fischer u. Aljonna Möckel, Berlin 1989. Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge 2000. Honneth, Axel: Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Staaten, Frankfurt/M., New York 1993. Kymlicka, Will: Liberalism, Community and Culture, Oxford 1989. Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995. 25 Vgl. Frank Schimmelfennig: Debatten zwischen Staaten. Eine Argumentationstheorie internationaler Systemkonflikte, Opladen 1995.
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Meißner, Joachim / Meyer-Kahrweg Dorotee / Sarkowicz, Hans: Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Frankfurt/M. 2001. Merle, Jean-Christophe: Die Religion als Wohlfahrtsfaktor in der liberalen Gesellschaft, in: Christoph Hubig (Hg.): Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte, Berlin 1997, S. 161–174. Merle, Jean-Christophe: Kulturelle Minderheitsrechte im liberalen Staat, in: Matthias Kaufmann (Hg.): Integration oder Toleranz? Minderheiten als philosophisches Problem, Freiburg i.Br. 2001, S. 170–179. Münkler, Herfried: Das Ende des Utopiemonopols und die Zukunft des Utopischen, in: Richard Saage (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992, S. 207–214. Nozick, Robert: Anarchy, state and utopia, New York 1974. Pogge, Thomas: Eine globale Rohstoffdividende, in: Christine Chwaszcza / Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 1998, S. 325–362. Rawls, John: Das Recht der Völker, übers. v. Wilfried Hinsch, Berlin 2002. Rawls, John: Political Liberalism, New York 1993. Saage, Richard: Das Ende der politischen Utopie, Frankfurt/M. 1990. Saage, Richard (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992. Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982. Schimmelfennig, Frank: Debatten zwischen Staaten. Eine Argumentationstheorie internationaler Systemkonflikte, Opladen 1995. Taylor, Charles: Atomism [1979], in: ders., Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge 1985, S. 187–210. Van Parijs, Philippe: Real Freedom for All. What (if Anything) can Justify Capitalism?, Oxford 1995. Walzer, Michael: The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge MA 1965. Wells, Herbert George: Menschen Göttern gleich, übers. v. Paul Sonnenthal u. Otto Mandl, Berlin 1927. Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2001.
KOLLOQUIUM 4 Prozeßphilosophie – Kreativität als Schlüsselbegriff religionsphilosophischer Entwürfe
Thomas Rentsch Einführung Wilhelm Schmidt-Biggemann Theogonie. Momente einer Philosophie des absoluten Werdens von Plotin bis Schelling Andreas Schüle Gottes Poesie und menschliche Vernunft. Theologische Überlegungen zu Alfred North Whiteheads kulturphilosophischem Verständnis von Kreativität Reiner Wiehl Der gute Wille zum Neuanfang. Eine religionsphilosophische Kategorie
Einführung Thomas Rentsch (Dresden)
Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Kolloquium mit dem Titel Prozeßphilosophie – Kreativität als Schlüsselbegriff religionsphilosophischer Entwürfe. In der Tat – die Ansätze der Prozeßphilosophie und Prozeßtheologie gehören ins Zentrum eines Philosophiekongresses mit dem Thema Kreativität. In seinem Hauptwerk Process and Reality von 1929 nennt Alfred North Whitehead die Kreativität die »Universalie der Universalien«: Sie ist in seiner Prozeßmetaphysik das Prinzip der Vereinigung der Vielfalt des Möglichen zur Einheit des aktuellen Einzelwesens und damit zugleich auch das »Prinzip des Neuen«. Kreativität bestimmt den Prozeß des Eingehens, der »ingression« unverwirklichter Möglichkeiten in die Konkretion der aktualen Einzelwesen. Die Wirklichkeit ist in diesem Denken kein statisches Reich des An-sich seiender Dinge, die dann noch raum-zeitlich verortet würden und an denen dann noch Vorgänge abliefen. Vielmehr ist das Sein der Dinge mit ihrem Werden identisch: »The reality is the process.«1 Wie etwas wird, ist wesentlich dafür, was es ist. In diesem Denken entfaltet sich eine Kritik der traditionellen Substanzontologie, wie sie auf freilich andere Weise auch die Ontologiekritik Heideggers und die Sprachkritik Wittgensteins darstellt – ein Grundzug der systematischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts ist somit sicher die tiefgreifende Destruktion einer Vorhandenheitsontologie bzw. Vorhandenheitssemantik. Demgegenüber wird versucht, Sein als ekstatische Zeitigung der Zeitlichkeit zu denken, oder als Ereignis, im Falle Heideggers; es wird Bedeutung als Gebrauch gedacht, als Spiel, im Falle Wittgensteins; es wird Wirklichkeit als Prozeß gedacht, im Falle Whiteheads. In allen drei Paradigmen ist die Destruktion der Substanzontologie nur die eine Seite der Medaille; die positive, konstruktive Seite bietet den Aspekt des Kreativen, des Neuen, des Spontanen, des Unerwartbaren: das Innovative der Seinsgeschichte, das Neue, Unerwartete im Sprachspiel, der Übergang (transition) von einem Ereignis zu dem ihm folgenden. Mit diesen – und weiteren – Ansätzen der modernen Philosophie (deren systematisches Verhältnis zueinander noch weiterer Klärung bedarf) ist die Auffassung von einer statischen Natur und von Dingen als isolierbaren, in sich prozeßfreien Substanzen zurückgewiesen. Whitehead kritisiert die traditionellen Theoriebildungen besonders weitreichend, wenn er ihnen den »Trugschluß der verstellten Konkretheit« (fallacy of misplaced concreteness) vorwirft.2 Dieser Trugschluß besteht darin, »versehentlich das Abstrakte für das Konkrete« zu nehmen. Begriffe wie »Materie«, »Raum« und »Zeit« leisten einem reduktionistischen Wirklichkeitsverständnis Vorschub. Gegen Verdingli1 2
Alfred North Whitehead: Science and the modern world, New York 1967, S. 72. Alfred North Whitehead: Process and reality, New York, London 1978, S. 7.
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chung und ontologischen Isolationismus gilt es, die Prozessualität und die Wechselwirkung, den internen Werdecharakter der Wirklichkeit in ihrer irreduziblen Ganzheit zu begreifen. Der Ansatz der Prozeßphilosophie des 20. Jahrhunderts versucht so, die Einseitigkeiten eines naturalistischen Szientismus wie auch der vereinseitigt abgespalteten ästhetischen, ethischen und religiösen Erfahrungsebene zu überwinden und wieder zu einer umgreifenden metaphysischen Kosmologie zu gelangen. Mit ihrer systematischen Kritik am materialistischen Determinismus und ihrer Rekonstruktion der Spontaneität des menschlichen Denkens und Handelns schließen Whitehead und Hartshorne zudem sachlich an die normative Sozialpragmatik von Peirce und James an. Der einseitige szientifische Materialismus ist aber nicht nur für die Biologie und die Psychologie unzulänglich, sondern bereits für die Physik. Die Kritik des Dualismus einer Ontologie von Subjekt und Objekt führt zu einem komplex binnen-differenzierten Gradualismus, mit dem die Ganzheitlichkeit und Eigengesetzlichkeit der menschlichen Erfahrung ebenso erfaßt werden sollen wie deren relationale Kontextualität und Individualität. Auf diese Weise entwickelt sich die Prozeßphilosophie als neue Form der Metaphysik und so auch als Prozeßtheologie, als process theology und process theism. Die prozessuale Ereignismetaphysik eröffnet auf neue Weise die Möglichkeit einer philosophischen Theologie. Die process theology oder der bald so genannte Neue Pantheismus (new pantheism) ging von Whitehead und Hartshorne aus: Ihre realistische Ereignismetaphysik führt zu einem Konkretionsprinzip, daß Whitehead Gott nennt. Ebenso wie Gott die Welt schafft, schafft in diesem Denken die Welt Gott. Im Nordamerikanischen Protestantismus wurde die Prozeßtheologie von der Chicago Divinity School zu einer empirischen Theologie ausgearbeitet. Sie entwickelt einen religiösen Realismus, der Gott als objektive Struktur des Guten im Wirklichkeitsprozeß begreift. Hartshorne entwirft einen Panentheismus, in dem Leben und Liebe Gottes als kreative Synthese gedacht werden. Mit der Prozeßtheologie sind Kontroversen im Blick auf ein traditionelles metaphysisches wie christlich-theologisches Gottesverständnis verbunden: Ein zentraler Dissens besteht hinsichtlich der Vorstellung von einem unwandelbaren, absoluten Gott, ein weiterer hinsichtlich der Lehre von der Allmacht Gottes und auch im Verständnis der Ewigkeit Gottes. Entscheidend ist die Einbeziehung der konkreten Wirklichkeit der ganzen Welt bzw. besser des Weltprozesses in diese Theologie. Behauptet wurde sowohl die Inkompatibilität der Prozeßtheologie mit der christlichen Theologie wie auch die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe eine genuine christliche Trinitätstheologie zu konzipieren. Es gibt gegenwärtig wieder einigen Anlaß, den Ansatz der Prozeßphilosophie und -theologie erneut aufzunehmen und zu diskutieren. Denn dieser Ansatz ist nach dem Urteil vieler noch nicht abgegolten, nicht aufgearbeitet bzw. bietet – gerade im Hinblick auf die Thematik der Kreativität – viele Potentiale der Anknüpfung. Diese Potentiale lassen sich sowohl im Blick auf die Herkunft wie auch im Blick auf die Zukunft der Philosophie aufzeigen. Durch den Entwurf der Prozeßphilosophie wird zum einen ein neuer, veränderter Blick auf die Genesis der okzidentalen Rationa-
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lität und die Geschichte der Metaphysik eröffnet. Entgegen dem cartesischen Dualismus der Bewußtseinsphilosophie und entgegen den stark dualistischen Tendenzen der Transzendentalphilosophie Kants läßt sich im Paradigma der Prozessualität und Kreativität besser der Gedanke einer vorgängigen Einheit der Welt bzw. aller Wirklichkeit entfalten. Damit ergibt sich die Möglichkeit der Anknüpfung an die Monadologie und den Gradualismus von Leibniz: Daß Übergänge und Stufungen die Wirklichkeit besser charakterisieren als ontologische Dualismen, hat viele Argumente für sich. Ebenso kommt der rationale Pantheismus Spinozas von Whitehead aus erneut, und gerade mit seiner ethischen Dimension, zur Geltung. Reiner Wiehl hat aufgewiesen, wie beide, Spinoza und Whitehead, ein universales Vernunftprinzip denken – Vernunft als universale »Struktur im Kosmos« –, wie beide »Kreativität und Rationalität« als untrennbar zusammengehörend denken, wie beide daher Ethik und Metaphysik, Ethik und Kosmologie konstitutiv verbinden.3 Wiehl zufolge läßt sich auf diesem systematischen Hintergrund sowohl ein Prinzip Verantwortung für reale, individuierte Subjekte als auch ein Prinzip Friedfertigkeit entwickeln.4 Mit der Prozeßphilosophie läßt sich – wie mein Lehrer Friedrich Kambartel schon vor recht langer Zeit ausführte – auch das Hegelsche Denken des Weltprozesses in seiner dialektischen Dynamik neu verstehen.5 Um so gespannter bin ich auf den Beitrag von Herrn Schmidt-Biggemann, der das Paradigma bis zum Neuplatonismus und zu Plotin zurück verfolgt und bis zu Schelling thematisiert. Läßt sich – das ist die weitreichende Frage – im prozeßphilosophischen Paradigma somit in der Tat die Kontinuität und Einheit der europäischen Vernunftgeschichte neu und anders denken und begreifen als bislang üblich? Was bedeutet das für die Metaphysik, was für eine philosophische Theologie? Noch nicht abgegolten und nicht aufgearbeitet ist aber zum anderen auch das Rationalitätspotential der Prozeßphilosophie im Blick auf die gegenwärtigen Spannungen und Verwerfungen im Diskurs der Philosophie und im Diskurs zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Die Prozeßphilosophie denkt auf innovative Weise die gegenseitige Offenheit der Wirklichkeitsbereiche und ihre wechselseitige kreative Konstitution, ihren Werdecharakter, der Freiheit eröffnet und das Unvorhergesehene ermöglicht. Durch die systematische Destruktion der Substanzontologie und des ontologischen Dualismus eröffnet sich auch eine neue Perspektive, die Relationalität, Gradualität und Wechselwirkung von natürlichen und kulturellen, materiellen und geschichtlichen, physischen und mentalen Prozessen zu denken, und damit Emergenz, Supervenienz, Irreduzibilität und Kreativität neu zu begreifen. Gerade in der gegenwärtigen Diskussionssituation, in der naturwissenschaftlich fundierte Neurobiologie und geisteswissenschaftlich konzipierte Bewußtseinsphilosophie sich oft in Kategoriengefechte verstricken, wäre ein die Scheindualismen sprengendes Denken gefragt und gefordert. 3 Reiner Wiehl: Metaphysik und Erfahrung. Überlegungen im Anschluß an Spinoza und Whitehead, in: ders.: Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays, Frankfurt/M. 1996, S. 375–397. 4 Ebd., S. 391 ff. 5 Friedrich Kambartel: The universe is more various, more Hegelian. Zum Weltverständnis bei Hegel und Whitehead, in: Collegium Philosophicum – Studien J. Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgart 1965, S. 72–98.
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Literatur Kambartel, Friedrich: The universe is more various, more Hegelian. Zum Weltverständnis bei Hegel und Whitehead, in: Collegium Philosophicum – Studien J. Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgart 1965, S. 72–98. Whitehead, Alfred North: Process and reality, New York, London 1978. Whitehead, Alfred North: Science and the modern world, New York 1967. Wiehl, Reiner: Metaphysik und Erfahrung. Überlegungen im Anschluß an Spinoza und Whitehead, in: ders.: Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays, Frankfurt/ M. 1996, S. 375–397.
Theogonie Momente einer Philosophie des absoluten Werdens von Plotin bis Schelling Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin / Princeton NJ)
i. neuplatonische grundlegung: das eine, der anfang und der wille 1. Anfang, Nichts, Mögliches, Kontinuierliches – einige modale Erwägungen Wenn man so will, kann man das Thema der vorliegenden Spekulationen Autokreativität nennen; absolutes Werden ist dann exakt das, was aus sich selbst und für sich selbst kreativ ist. Das meint der Begriff Theogonie. Der Begriff Theogonie kommt zuerst bei Hesiod vor; aber hier ist er nicht so gemeint wie bei Hesiod. Es geht nicht um die Entstehung der Göttergeschlechter sondern um die Frage nach der »unendlichen Geburt des ewigen Wesens«1, also danach, wie die Philosophie des Werdens mit der Philosophie des Absoluten verknüpft ist. Das ist ein Thema, das die Philosophie vom Neuplatonismus bis zum Deutschen Idealismus und darüber hinaus bis zu Heideggers »Beiträgen« (Vom Ereignis) beschäftigt hat; hier sollen ein paar Stationen dieser Geschichte, die kompliziert genug ist, nachgezeichnet werden. Theo-gonie »Gottes-Werdung« behandelt die Frage nach dem Verhältnis des Absoluten und des Werdens. Wenn es um die Frage des Absoluten und des Werdens geht, also entweder um das absolute Werden oder das Werden des Absoluten – und es wird sich herausstellen, daß beides dasselbe ist – dann ist die Frage nach dem Anfang schlechterdings unausweichlich. Werden ist ohne den Begriff Anfang undenkbar. Schließlich ist Werden ein ständiges Anfangen, oder ist es ein anfängliches Anfangen? Deshalb hier zunächst ein biblischer Anfang: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Im Anfang war das Wort. Aber was besagt dieses »Im Anfang«? Was besagt, daß ein Vorher nicht denkbar ist? Offensichtlich und phänomenal, daß der Anfang nur konstatiert werden kann. Anfänge sind nur aus der Kontinuität dessen sichtbar, was bereits angefangen hat. Wenn sich etwas entwickelt hat, kann man feststellen, was es vorher war und was es vorher nicht war. Man kann über diese Veränderung des Wesens hinaus feststellen, ob ein Ding vorVgl. H. Schwabl/H. Hühn: Art. Theogonie, in: J. Ritter/K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1073–1075. 1
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her war oder ob es vorher nicht war. Es ist möglich, den Existenzbeginn festzustellen, allerdings erst im nachhinein und geschichtlich. In diesem Sinne können Anfänge nur erzählt werden, weil sie bereits stattgefunden haben, also nicht sie selbst sind, sondern etwas anders, schon Vergangenes. Proklos hat diesen Sachverhalt im § 123 der Stoicheiosis Theologike klar dargestellt, dem Mittelalter ist diese Idee durch den § 5 des Liber de Causis präsent geblieben. Proklos hat die Dialektik des Anfangs klar dargestellt. Er hat den Anfang als das Göttliche identifiziert, das nur durch das zweite, das, was aus ihm wurde, erkennbar ist; dieses Zweite hat am Ersten teil, es offenbart und verdeckt das unnennbar Erste gleichzeitig. »Alles Göttliche (Pan ho Theoion)« schreibt Proklos, »ist zwar an und für sich der überwesentlichen Einheit wegen (dia ten hyperousian henosin) für alles Zweite unaussprechbar und unerkennbar; es kann aber auf Grund dessen, was an demselben Teil nimmt (apo ton metechon) erfasst und erkannt werden. Deshalb ist nur das Erste (to Proton) vollständig unerkennbar, weil es untheilnehmbar (amethekon) ist.« Der § 5 des Liber de Causis variiert diese These im Bezug auf die Unmöglichkeit, Aussagen über den Ersten Grund zu machen, weil es sich hier eben um das Erste, die »überwesentliche Einheit« handelt. Die erste Ursache aber unterliegt nicht den Möglichkeiten, erzählt zu werden, weil sie vor jeder Entäußerung ist und deshalb jenseits aller Erkenntnis und Spekulation, die immer nur Verursachtes ist. Die Ursache selbst ist also nur durch das Verursachte, also durch das Zweite, zu begreifen. »Et ipsa (scil. causa) quidem non significatur nisi ex causa secunda quae est intelligentia, et non nominatur per nomen causati sui primi nisi per modum altiorem et meliorem«2. Unabweisbar setzt der Begriff »Anfang« den Begriff »nichts« voraus; vor dem Anfang dessen, was angefangen hat, war im Bezug auf das, was angefangen hat, nichts. Auch »nichts« ist deshalb, wie der Anfang, nur denkbar im Nachhinein, dann nämlich, wenn dasjenige, was bereits ist, in seiner Existenz in Frage gestellt wird. Daß etwas einmal nicht gewesen sei, läßt sich sagen. Läßt sich daraus schließen, daß einmal nichts war, oder führt die Frage nach einem solchen Anfang dahin, daß das Denken von »nicht« immer nur synkategorematischer Natur ist? Das Denken von »nicht« oder »nichts« setzt immer schon das Denken mit voraus; und das Denken muß sich mit der Semantik von »nicht« auch selbst in Frage stellen. Dann müßte das Denken selbst einen Anfang und ein Ende haben, und dieses auch denken. Ist der Begriff »Anfang« eine Falle, die aus der Fähigkeit des Denkens zur Negation entsteht? Das widerspräche aber der evidenten Empirie. Wie ist schließlich der Status des »Möglichen«?
2 Liber de Causis, ed. Otto Bardenhewer, Freiburg 1882 § 5, S. 169; entspricht § 123 der Stoicheiosis Theologike: »Alles Göttiche (Pan ho Theoion) ist zwar an und für sich der überwesentlichen Einheit wegen (dia ten hyperousian henosin) für alles Zweite unaussprechbar und unerkennbar; es kann aber auf Grund dessen, was an demselben Teil nimmt (apo ton metechon) erfasst und erkannt werden. Deshalb ist nur das Erste (to Proton) vollständig unerkennbar, weil es untheilnehmbar (amethekon) ist.«
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Der Begriff des Möglichen hat, das ist seit Avicenna bekannt, zwei Bedeutungen: Er bedeutet einmal Kontingenz – das heißt: etwas kann sein oder auch nicht sein. In diesem Kontingenz-Sinn umfaßt der Begriff des Möglichen sowohl Sein als auch Nichts. Der zweite Begriff des Möglichen ist der der Non-Inkompossibilität – oder einfacher Kompossibilität (cui non repugnat esse). Dieser logische Begriff des Möglichen setzt den Satz des Widerspruchs als Bedingung einer geistigen – also idealen – Existenz voraus; alles das ist in diesem Sinne existent, das widerspruchsfrei gemeinsam existieren kann. In diesem Sinne sind mathematische oder geometrische, vielleicht auch metaphysische Wahrheiten möglich, weil sie nicht unmöglich, d. h. widerspruchsfrei sind. Solche Wahrheiten sind evidenterweise nicht kontingent, vielmehr sind sie dann, wenn sie möglich = nicht unmöglich sind, auch notwendig. Damit entziehen sie sich der Indizierung durch die Zeit. Diese Wahrheiten sind unabhängig davon wahr, ob sie aktuell vom Menschen gedacht werden. Aber ihr Wahrheitsstatus hängt gleichwohl davon ab, daß sie untereinander verglichen werden, d. h. daß sie ständig gedacht werden. Dieses Konzept ist dasjenige, das den Nous ausmacht, der sich selbst denkt: Noesis noeseos. Das Selbstdenken des Nous, d. h. die ständige Anwesenheit seiner Wahrheiten, an denen das menschliche Denken teilhat, ist selbst ein ständiger Prozeß, er ist aktiv und passiv zugleich: Er denkt und er wird gedacht. (Das ist seit Aristoteles ein immer wieder neu diskutiertes Konzept der Seele.) Nur wenn es sich um einen ständigen Prozeß handelt, kann das menschliche prozessuale Denken an seiner Wahrheit teilhaben. Wie aber hätte man sich denn das Selbstdenken dieses Denkens in der »Ewigkeit« zu denken? Das gängige Muster dieses Selbstdenkens ist der ewige Anfang, es wird das idealistisch wahre Denken immer deshalb, weil es sich selbst als Denken ständig verwirklicht. Das entspricht durchaus der aristotelischen Konzeption der noesis noeseos. Biblisch ist dieser Anfang im Prolog des Johannesevangeliums dargestellt, daß nämlich im Anfang das Wort war. Dieser Prozeß des Denkens ist reflexiv, ein Bewußtsein ist nicht vorausgesetzt, aber traditionell wohl immer impliziert. Denken denkt sich selbst und setzt sich damit ständig als Wahrheit existent. Diese Ständigkeit erfüllt die Kriterien der Kontinuität, denn eine Wahrheit muß immer und zu jeder Zeit wahr sein. Als reflexiver Prozeß durchläuft er die Phasen von Identität und Differenz, die sich als Identität von Identität und Differenz begreift. Damit sind die Kriterien des Kontinuums, diskret, homogen und kontinuierlich zu sein, erfüllt und durch den Prozeß der »Spekulation« des Logos erreicht: Der sich selbst denkende Logos ist der Urprozeß der Spekulation (Joh. 1,1; Sap. 7,26). Für den Anspruch der Begriffe und der Syntax, die ohne Zeitindex sind, ist die Kontinuität, die durch die Spekulation erreicht wird, unentbehrlich. Ein Kontinuum ist nach Aristoteles bekanntlich als an jeder Stelle kontinuierlich, diskret und homogen definiert. Denn nur wenn Wahrheiten kontinuierlich gelten, gelten sie auch in der Zeit, und nur, wenn sie miteinander gedacht werden können, also in ihrer Differenz als Einheit begriffen werden, ist ihr Wahrheitsanspruch nach dem Kriterium der Kompossibilität einlösbar. Für unseren Zusammenhang ist die Diskretion des Kontinuums die wesentliche Eigenschaft: Das Kontinuum kann dann so interpretiert werden, daß es sich zu jeder
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d. h. zu jeder diskreten Zeit neu konstituiert. Für idealistische Positionen – und um die handelt es sich – besteht die Lebendigkeit des Geistes in seiner ständig sich erneuernden Selbstkonstitution, diese Bewegung macht die Ewigkeit des Geistes aus, sofern er einen Wahrheitsanspruch hat. Es zeigen sich also zwei »Anfänge« – einmal der Anfang in der exramentalen, kontingenten Realität, mit dem Zeit gesetzt wird, das ist der Anfang, in dem, wie Augustin mit Origenes betont, Gott »Himmel und Erde geschaffen« hat, der Anfang, der als kontingente extramentale Existenz, die sein oder nicht sein kann, denkbar ist. Der andere Anfang ist der ewige Anfang eines Prozesses, durch den Kontinuität erzeugt wird, das ist der Anfang, den das Johannesevangelium meint, »in dem das Wort war«, der Selbsterzeugungsprozeß des Geistes.
2. Die Selbstentfaltung des Göttlichen a.) Die Selbstmitteilung des Göttlichen in der »mystischen« Einheit Wie kann überhaupt das sich selbst denkende Denken, das heißt die Sphäre der Geistigkeit mit ihrem zeitlosen Wahrheitsanspruch gedacht werden? Dadurch, daß das menschliche Denken an ihm teilhat. Mit dieser Formel ist noch nicht viel gewonnen; denn wenn es darauf ankommt, die Ursprünglichkeit und radikale Anfänglichkeit dieses theogonischen Prozesses zu denken, muß die Dialektik des Anfänglichen mitgedacht werden, daß nämlich das Erste nur durch das Zweite gedacht werden kann und in diesem Prozeß zugleich verdeckt wird. Wenn dieses Vor-Anfängliche gedacht werden soll, wenn es in seiner undefinierbaren All-Einheit, die keine Differenz kennt, erfahren werden soll, dann muß sich der, der diese Indifferenz erfahren will, auf diese Indifferenz einlassen – das heißt, er muß von seiner eigenen differenten Existenz absehen, damit die Hyperousia, das All-Eine, das über allem Erste, bei ihm zur Erscheinung kommt. Dieser Prozeß setzt das Absehen von jeder differenten Selbstbezüglichkeit voraus, es ist der berühmte Aszensus zum Einen, und, wenn der Myste Glück hat, teilt sich ihm das Absolute, das er natürlich zur Selbstoffenbarung nicht zwingen kann, mit. In diesem Moment der Selbstmitteilung sind die Unterschiede der Existenz zwischen dem Absoluten und dem Mysten aufgehoben. Die Selbstmitteilung des Göttlichen für die Erkenntnis beschreibt Dionysius so: »Wenn wir also von der überwesenden Verborgenheit Gottes oder seinem Leben, seinem Sein, seinem Licht und seinem Logos sprechen, dann meinen wir nichts anderes als die aus der Gottheit heraustretenden Kräfte, die Vergöttlichung bewirken oder Wesentlichkeit oder Leben oder Weisheit hervorbringen.«3 Die göttliche Weisheit, die aus Gott heraustritt und – für Dionysius – die göttliche Trinität abbildet, teilt sich dem Mysten mit. Diese Selbstmitteilung des Göttlichen im
3 Dionysius Areopagita: De divinis nominibus II, 7 hg. v. Beate Regina Suchla, Corpus Dionysiacum I, Berlin New York 1990, S. 131. Übersetzung: Ps. Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes, übers. v. Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988.
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Geist ist sozusagen die erkenntnistheoretische Bedingung der dionysischen Theosophie, Gottes Geist macht sich im Nous dem erkennenden Menschen kund, indem sie sich mit ihm vereinigt. Das ist zunächst ein ganz rationaler Prozeß, der die Semantik der Einheit als Bedingung der Teilhabe bedient. Aber er ist theologisch ein durchaus heikler Gedanke, denn es ist auch der Prozeß der Vergöttlichung des Mysten. Aber erst unter dieser Voraussetzung ist die Teilhabe am Göttlichen und damit überhaupt die Teilhabe an der Einheit der Wahrheit zu begreifen. In der »Mystischen Theologie« hat Dionysius die Selbstmitteilung der göttlichen Weisheit beschrieben, die sich dem Mysten im Schweigen eröffnen kann. Der Apostelschüler Timotheus wird angewiesen, den Weg des mystischen Aufstiegs zu Gott zu vollziehen und sich von allem, selbst vom Sein oder Nichtsein, zu lösen, um dann »völlig gelassen und in reiner Ekstase den überseienden göttlichen dunklen Strahl zu empfangen, von allem sonstigen befreit und erlöst.«4
b) Das Eine und die Differenz Plotin hat – auch als Kritiker der aristotelischen Zahlentheorie, die ihrerseits Plato kritisierte – das Eine als das Über-seiende und Über-Gute und in sich Ununterschiedene beschrieben5. Die Prädikate des Einen mit dem vorgesetzten »hyper« – sind formal immer Negationen einer Prädikation, freilich implizieren sie, daß die Prädikabilität gegenüber dem Unprädizierbaren einen Abstieg bedeutet. Der Ausgang aller Erkenntnis ist die Einheit des Geistes mit dem Einen, und dieses Eine wird als Ausgang der Differenz erfahren. Das Eine ist das begrifflich Unerreichbare, das zwar den Nous aus sich entläßt, aber der Nous denkt Einheiten, und damit Differenzen; er kann deshalb die Einheit selbst nicht erfassen. Diesem Nous wird Denkvermögen zugeteilt, auch das Denken seiner selbst, der ersten Einheit jedoch nicht. Die erste Einheit ist weder des Guten noch des denkenden Selbstbezugs bedürftig.6 (Diese Beschreibung wird später Anlaß zur Polemik geben, denn wenn der erste Grund als Gott interpretiert wird, dann ist dieses Göttliche »blinder Zufall«.) Die geistige Existenz setzt, wenn sie als bewußt gesehen wird, eine innere Spekulation, kontinuierliche, zeitlose Bewegung voraus. Plotin hat die Geistigkeit als das zweite nach dem indefiniten Einen begriffen; das geistige Sein des Nous ist vor allem anderen
Dionysius Areopagita: Theologia mystica I,1 PG 3, 997 f. Enneade VI, 9, 3; Das Eine, das Gute, übers. v. Richard Harder. Plotins Schriften Bd. Ia, Hamburg 1956, S. 177f: »Entschließt sich aber die Seele sich rein für sich allein auf die Schau des Einen zu richten, dann sieht sie es indem sie mit ihm zusammen und Eines ist, und eben weil sie dann mit ihm eines ist, glaubt sie noch gar nicht zu haben was sie sucht, weil sie von dem Gegenstand ihres Denkens selber nicht unterschieden ist.« 6 Ebd., S. 191: »Mithin gibt es auch für das Eine kein Gutes, folglich auch keinen Willen nach irgendeinem Guten, sondern es ist das Übergute, welches nicht für sich selbst, sondern für die andern Dinge gut ist, die etwa an ihm teilzuhaben vermögen. Auch ist es kein Denken, sonst wäre Andersheit in ihm.« 4
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(πρò πáντυν εναι, Enn. V, 4), er ist als das Zweite gefaßt, das von diesem Einen notwendig und ständig ausgeht. Dieses Moment des ständigen Ausgehens aus dem Einen ist ein zentraler Gedanke, der in der Tradition vor allem zusammen mit zwei Begriffen gesehen wurde: 1. Die Prädikatlosigkeit des ersten Einen. Die Prädikatlosigkeit des ersten Einen bedeutet, daß auch das Prädikat »Sein« auf das Eine nicht anwendbar ist, weil das absolut Eine keine Differenzen in sich duldet. Damit ist Sein – sofern Sein dem Nichts entgegengesetzt werden kann – kein Prädikat des Einen. (Das Eine entspricht damit dem kontingent Möglichen, denn das umfaßt Sein und Nichts). 2. Das Eine wird nur durch seine Folgen, durch das Zweite, erkannt – das bedeutet, es zeigt sich als das Eine immer zugleich als Grund. Deshalb fällt die Dialektik des Einen und die des Ersten Grundes zusammen. Das Eine kann nur als Ungeschiedenes (Schelling wird später Indifferentes sagen) bestimmt werden, wenn die Differenz zwischen Grund und Folge vorausgesetzt wird.7 Und dennoch bleibt die Dialektik, daß das Eine mit dem Grund nicht identifiziert werden darf und sich der Prädikation entzieht. 3. Wenn der lebendige Nous seine Differenz durch die Unterscheidung zum Einen gewinnt, dann ist das Denken vor allem als Wesensbestimmung durch Prozessualität bestimmt – es erfüllt damit die Kriterien der Kontinuität; es wird, indem es sich als Differenz zum absoluten Einen bestimmt. Kontinuierliche Prozessualität ist damit das Kriterium der Existenz des Nous und damit seines Wahrheitsanspruchs. Insofern ist das Eine nicht wahr, obgleich es die Bedingung der Wahrheit ist. 4. Das kontinuierliche Werden, das sich im Nous vollzieht, ist die ständige Differenzwerdung aus dem unbestimmten Einen zur bestimmten Existenz des Geistes. Darin besteht die vehementia essendi, die den Geist in seiner sich ständig als anfänglich setzenden Existenz ausmacht. Das geistige Sein erweist sich die erste und entscheidende Trennung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Wird der Geist im Sinne Plotins als das Göttliche gedacht, besteht genau in diesem Prozeß die »vehementia essendi« des Göttlichen, also die Theogonie. 5. Dieser Prozeß kann nur dadurch repräsentiert werden, daß der Entstehungsprozeß des Denkens sozusagen nacherzählt wird. Dieser Sprung vom unbestimmten Einen zur bestimmten Existenz des Geistes kann nur dadurch beschrieben werden, daß er als teilhabendes Denken – und das gilt auch für das menschliche Denken – ständig neu erzeugt wird. Das heißt sprachlich: Er kann nicht deduziert werden, weil die Deduktion innerhalb der Bedingungen des Nous bleibt, sondern muß nacherzählt werden als unaufhörliche Trennung des bestimmten Einen vom unbestimmten. In diesem Sinne hat das menschliche Denken in der philosophischen Erzählung am Nous teil. Das hat vor allem Schelling zu diesem Sachverhalt angemerkt; aber es handelt sich eher um die Dialektik, die im Liber de Causis eine Rolle spielt. Spinoza leugnet die Dialektik des Ersten Grundes, wenn er von Causa immanens, non vero transiens spricht. Vgl. auch Ethik 1, wo »causa sui« leichtfertig gebraucht wird. 7
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Von der plotinischen Unterscheidung zwischen unbestimmtem Einen und notwendiger Differenz sind zwei Gedanken für die folgende Tradition bestimmend geblieben: 1. Die Differenz zwischen dem unbestimmten Einen und der Existenz wird im Sprung der vehementia essendi überwunden8. Dieser Gedanke hat die Frage nach Gott als dem ersten Grund – der nicht denkt und noch dunkel ist – in ständiger Irritation gehalten. 2. Die Idee ist virulent geblieben, daß der erste Grund ohne seine Folge nicht denkbar sei – das ist in der christlichen Tradition als Verhältnis von Vater und Sohn beschrieben worden. Für diesen zweiten Zusammenhang ist Origenes von besonderer Bedeutung.
c) Der Anfang als Wille: Origenes’ personalistische Trinitätstheologie Für Origenes ist die Frage nach dem Anfang – dem Werden schlechthin, die Kernfrage seiner Trinitätstheologie. Für ihn ist das Werden des dreifaltigen Gottes das Muster allen lebendigen, wirkenden Seins und damit des Seins schlechthin; denn er kann das Sein nicht voraussetzen, wenn er es nicht als trinitarisches ewiges Werden faßt. Origenes ist in der Trinitätslehre Subordinatianist. Er identifiziert den innertrinitarischen Christus zunächst mit der Weisheit aus dem pseudepigraphischen Weisheitsbuch des AT, das er für diesen Zusammenhang ausführlich zitiert9 und interpretiert (1, 2, 9–13). »Daher wissen wir, daß Gott beständig Vater seines eingeborene Sohnes ist, der zwar aus ihm geboren ist und, was er ist, von ihm erhält, doch ohne jeden Anfang, nicht nur ohne einen, der sich durch bestimmte Zeiträume begrenzen läßt, sondern auch ohne einen solchen, den der Geist allein bei sich betrachtet und sozusagen mit nacktem Erkennen und Denken anschaut. So muß man also glauben, daß die Weisheit außerhalb jeden Anfangs, der ausgesprochen oder gedacht werden könnte, gezeugt ist. In diesem selbständigen Sein der Weisheit waren nun alle Kräfte und Gestaltungen für die künftige Schöpfung enthalten, sowohl für die primär seienden als auch die sekundär zufällig entstehenden Dinge, die durch die Kraft des Vorherwissens vorgeformt und angelegt waren.«(I, 2, 2) Diese »Anfangslosigkeit« der Weisheit kann nur zeitlich gemeint sein, für den Subordinatianisten Origenes ist der Wille des Vaters »vor« dem Logos des Sohnes. Dieses »vor« ist dann modal zu interpretieren, als ewiger Anfang aus dem Willen des Vaters, der ein Sein vor der Logik und damit der prima causa vor der Logik, also der »blinden« Ursache des Liber de Causis und des spinozistischen Pantheismus entspricht. Diese Willenstheologie hat zwei langfristig sehr wirksame Implikationen: 1. Sie bestimmt (auch
Meister Eckhard pointiert diese Differenz immer wieder. Origenes: De Principiis, ed. Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Darmstadt 1976. De Principiis I, 2, 5 zitiert Origenes Sap. 7m 25.26: Die Weisheit »ist der Dunsthauch von Gottes Kraft und der allerreinste Ausfluß der Herrlichkeit des Allmächtigen; darum kann nichts Unreines zu ihr kommen. Denn sie ist ein Glanz des ewigen Lichts und ein fleckenloser Spiegel von Gottes Wirkkraft und ein Bild seiner Güte.« 8 9
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im Unterschied zu Plotin) ein ursprüngliches geistiges Sein, das nicht durch Nous und Reflexion bestimmt ist, sondern durch den Willen, der sein Objekt noch nicht gefunden hat. 2. Der Wille macht es möglich, dieses Verhältnis von Ursache und Objekt als personal zu begreifen, weil Wille im Bezug aufs Objekt ein Definitionsmoment der Person ist – modern gesprochen – persönlich-intentional, traditionell trinitarisch das Liebesverhältnis von Vater und Sohn. Der Sohn ist bei Origenes im Sinn von Sap. 6,27 das »Bild« des Vaters. »Wenn nämlich ›alles, was der Vater tut, auch der Sohn gleichermaßen tut‹ (vgl. Joh. 5,19), dann wird dadurch, daß der Sohn alles so tut wie der Vater, das Bild des Vaters im Sohne nachgeformt, der ja aus ihm geboren ist gleichsam wie sein Wille, der aus dem Geist hervorgeht. Und darum glaube ich, der Wille des Vaters müßte ein ausreichender Grund sein für das Sein dessen, was der Vater will«10. Aus diesem innertrinitarischen Voluntarismus kann man erhebliche Konsequenzen ziehen. Die wichtigste ist, daß der Wille des Vaters modal der Einsicht vorangeht, daß also der Anfang der Selbstbewegung der göttlichen Trinität im Willen bestehe und daß die Einsicht in diesen Willen erst sekundär ist. Zuerst will der Vater also den Sohn, und im nächsten Schritt sieht er, was als Spiegel seines Willens begriffen werden soll. Der Geist ist der Geist der Heiligkeit, der Gott sozusagen in sich selbst heiligt und damit das Prädikat des göttlichen Selbstbezugs ist: Heiligkeit ist das, was sich in Gottes Selbstbezug ereignet: indem sich Vater und Sohn anschauen, zeigt sich in ihrer Selbsterkenntnis ihre Heiligkeit. Das ist die origenistische, im genauen Sinn voluntaristische Fassung der Theogonie: Gott wird aus seinem unbestimmten Willen er selbst. Dieser ursprüngliche Voluntarismus hat eine lange Wirkungsgeschichte – die berühmtesten Vertreter sind Böhme, Schopenhauer und Nietzsche. Man kann die origenistische Trinitätstheologie leicht mit dem ersten Satz des Liber XXIV Philosophorum kurzschließen: »Monas, monadem gigenes, in se unum reflectens ardorem.« Die ardor entspricht der Heiligkeit. Diese Heiligkeit des Geistes teilt sich den begnadeten Geschöpfen mit; darin besteht Origenes’ Allegorese von Gen.1, vom Geist, der über den Wassern schwebt (1, 3, 3) und der im Kosmos folgendermaßen wirksam ist: »Gott Vater verleiht allen Geschöpfen das Sein; die Teilhabe an Christus aber, sofern er Logos ist, macht sie vernünftig. Infolgedessen können sie entweder Lob oder Tadel verdienen, da sie zur Tugend und zur Schlechtigkeit fähig sind. Daher tritt folgerichtig noch die Gnade des Heiligen Geistes hinzu um die, die nicht wesentlich heilig sind, durch Teilhabe an ihm heilig zu machen. Sie haben also (1.) das Sein von Gott Vater, (2.) Das Vernünftigsein vom Logos, (3.) Das Heiligsein vom heiligen Geist.« (1, 1,8) Hier wird die Reihenfolge der origenistischen Ontologie bestimmt: Sein, Denken, Selbstbe-
De Principiis, I, 2, 6: »Si enim ›omnia quae facit pater, haec et filius facit similiter‹, in eo quod omnia ita facit sicut pater, imago patris deformatur in filio, qui utique natus ex eo est velut quaedam voluntas eius ex mente procedens. Et ideo ego arbitror quod sufficere debeat voluntas patris ad subsistendum hoc, quod vult pater.« 10
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zug = Heiligkeit. Esse = Wollen entspricht dem Vater11, Denken dem Logos als dem Sohn, Heiligung als dem dynamischen Selbstbezug der Trinität dem heiligen Geist. Umgekehrt wird erst durch den heiligen Geist Christus für den Einsichtigen selbst in seiner Funktion als Logos erkannt, das heißt der heilige Geist verleiht den erbaulichen Blick; und dieses ist genau die Gabe der Erkenntnis, der frommen Einsicht. Alles dieses wird paulinisch belegt: »Dies, glaube ich, meint Paulus, wenn er sagt (vgl. 1 Kor. 12,8), ›manchen werde gegeben das Wort der Weisheit, einem anderen das Wort der Erkenntnis nach demselben Geist.‹ Und indem er die verschiedenen Gaben aufzählt, führt er alle auf den Urquell des Alls zurück (ad universitatis fontem) und sagt (1 Kor. 12,6): ›Es sind mancherlei Kräfte, aber ein Gott, der da wirket alles in allem‹«. (I, 3, 8) Das ist die Erkennungsformel des Origenismus, durch die diese Lehre immer wieder in die Nähe zum Pantheismus gerät. Wenn man also in Stichworten festhalten sollte, was den Origenismus im Bezug auf die Theogonie (und Schöpfungstheologie des Logos) ausmacht: 1. Wille vor Vernunft – Existenz vor Einsicht. Der Wille, der sich selbst sein Bild macht, schafft sich selbst seinen Logos, steht zu diesem Logos in einem Erkenntnis- und Liebesverhältnis, das seine Heiligkeit ausmacht. Dadurch entgeht Origenes der plotinischen These, daß das Eine nicht denkt; das Göttliche ist bei ihm also nicht das unbestimmte Eine. Aber er kann deshalb auch die plotinische Bestimmung, daß erst der Nous im bestimmbaren Sinne sei und daß damit die vehementia essendi im Werden aus dem Unbestimmten zum Bestimmten bestehe und erst das Bestimmte ein Sein hat, für seine Theologie nicht in Anspruch nehmen. 2. Der Logos ist zugleich Weisheit und Leben des Menschen. Origenes übernimmt die Seminaltheorien der Stoa und des Buches der Weisheit; das entspricht dem Nous bei Plotin. 3. Die Welt wird durch den Geist geheiligt – das ist die doppelte Bedeutung des Geistes, der innertrinitarisch das Heilige ausmacht und extratrinitarisch die Sophia bestimmt. Die Welt wird im Prozeß ihrer Existenz bis zu ihrer Erlösung durch den Geist geheiligt – bis zum kristallisierten Glanz der erlösten Welt; das ist er Prozeß der Apokatastasis panton. 3. Die Räumlichkeit der Welt und die Dialektik des Punktes Bisher ging es allein um den innergöttlichen Werdensprozeß – also die spekulative Theogonie, sei es der Emanationsprozeß bei Plotin, wo die vehementia essendi als Trennung das Unbestimmte zur Existenz bestimmte oder sei es in der Willensbestimmung des trinitarischen Gottes bei Origenes. Die Welt existiert sozusagen noch gar nicht; aber sie ist gleichwohl Teil der Theogonie – nicht so sehr in ihrer Materialität als vielmehr darin, daß sie in ihrer FormaliIn dieser Identifikation von esse und Wollen besteht die Besonderheit des origenistischen Seinsbegriffs; hier liegt auch der Keim seiner unterschwellig nachhaltigen Wirksamkeit. 11
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tät und Ordnung die Strukturen und Spuren des Göttlichen zeigt. In dieser Formalität kommt es darauf an, die Formalstrukturen von Räumlichkeit als göttliche Ordnung zu beschreiben – das ist sozusagen die geometrische Struktur des Nous und des göttlichen Geistes. Und diesen Zusammenhang beschreibt Proklos’ Metaphysik des Punktes in seinem Euklidkommentar. Der Euklidkommentar des Proklos ist spekulative Geometrie. Das betrifft vor allem den Raumbegriff. Der Raum dieser idealen Geometrie bildet sozusagen den Übergang von der mentalen zur extramentalen Welt – als Ordnung des Raums ist die Geometrie geistig – als real gewordener Raum hingegen bekommen die geometrischen Ordnungen extramentale Existenz. Jetzt kann man sagen, ob eine Pyramide »tatsächlich« dasteht oder ob sie nur eine mögliche Ordnung des Raumes ist. Die »tatsächliche« Pyramide wird nie den idealen Bedingungen der Geometrie entsprechen; aber dafür ist sie real, weil sie kontingent ist. Sie ist nämlich entweder »da« oder nicht. Wenn sie »da« ist, hatte sie einen Anfang in der Zeit. Insofern ist die extramentale Wirklichkeit ein zweiter, empirisch feststellbarer Anfang: Es ist nicht der Anfang im ewigen Selbstverständigungsprozeß des Logos nach den Bedingungen der Kompossibilität, sondern der Anfang einer kontingenten Existenz. Proklos beschreibt die Entstehung des Raums als Prozeß der Entäußerung = Veranderung des Geistigen. Geometrisch besteht dieser Prozeß im Übergang vom Punkt in eine Sphäre. (Das beschreibt die Entstehung des Kosmos.) Daß dieser Prozeß vom Punkt ausgeht, hat seine Logik darin, daß der Punkt eine doppelte Definition hat, die ihn befähigt, als Übergang fürs Geistliche und fürs Räumliche zu fungieren. Die euklidische Definition: »Ein Punkt ist, was keine Teile hat«, macht den Punkt mit dem Geist homogen. Als Element des Raumes, als Ausgangspunkt aller Dimensionen hat er eine Konstitutivfunktion für den Raum; das hat Proklos in seinem Kommentar zum ersten Buch des Euklid immer wieder betont. »Der Punkt also, der im Bereich der Idee völlig unteilbar ist, hat gleichwohl, wenn er auch von der Grenze sein Sein hat, verborgenerweise die unbegrenzte Kraft in sich, der zufolge er alle Ausdehnung erzeugt, und der Ausgang aller Ausdehnungen erschöpft nicht seine unbegrenzte Fähigkeit; aber der Körper und die Idee des Körpers haben an dem unbegrenzten Sein in höherem Maße Anteil; deshalb gehört er auch zu den von Außen Begrenzten und zu dem, was in seiner ganzen Ausdehnung bis ins Unendliche teilbar ist.«12 Plotin hatte knapp 200 Jahre vor Proklos den Prozeß der Raumwerdung weniger formal beschrieben, aber den Punkt ähnlich gefaßt, sozusagen als geistiges Kraftzentrum der kosmischen Sphären: »Es ist da so etwas wie ein Punkt, und um ihn ein Kreis, der den Glanz von ihm ausstrahlt, dann folgt drittens noch ein Kreis, Licht vom Lichte, weiter nach außen aber kommt nun nicht mehr ein Kreis von Licht, sondern der nun folgende Kreis entbehrt des eigenen Lichtes, er bedarf des fremden Glanzes, er ist ein
Proklos: Euklidkommentar zu Df. I.1; Übersetzung P. Leander Schönberger OSB, ed. Max Steck Halle 1945, S. 227, Gr. Ed. Gottfried Friedlein, Leipzig 1873, S. 88 f. 12
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Ring, oder vielmehr solch ein Ball, welcher von der dritten Stelle (dem zweiten Kreis) – denn er stößt an ihn – je erhält, was in ihn eingestrahlt wird.«13 Der Raum, der so entsteht, ist begrenzt, er hat sphärische Natur. Was aber begrenzt ihn im Geist? Die perfekte Form oder allein die Formalität? Der Raum ist dadurch begrenzt, daß er ohne Form, ohne Bewegung, ohne Richtung, und sei es eine Bewegung nach allen Seiten, nicht gedacht werden kann. Bewegung kann überhaupt nur nach dem Muster von Beweger und Bewegtem gedacht werden. Die Kraft der Seele begrenzt sich durch die Form, und zwar durch die perfekte Form. Zugleich bietet der Raum so etwas wie einen leisen Widerstand, den Kontrapunkt der seelischen Aktivität. Insofern hat Bewegung immer etwas von Systole und Diastole an sich, denn der Prozeß der Ausdehnung belebt den Raum infinitesimal; jeder Impuls der Bewegung wird von einem Gegenimpuls beantwortet. Diese Begrenzung des Raumes macht den Charakter seiner Belebung aus. Der Raum ist nicht absolut, er ist nur, wenn er belebt ist durch die Seele und wenn die Seele die Potentia passiva des Raumes erfüllt. Leben als aktiv-passiv bestimmte Einheit erweist sich als die Bewegung, die den Raum konstituiert, der Raum pulsiert sozusagen, er wird stets durch die Kraft der Weltseele eröffnet. Diese Kraft bekommt ihre Form im Zusammenspiel mit der Potentia passiva des Raumes, und die Seele erfüllt den Raum, den sie sich schafft, als perfekte Form: Sie gestaltet ihren Raum als lebendige Kugel. Der Prozeß der Raumwerdung wird von der Kraft Gottes gespeist; an ihm zeigt sich das Leben, das aus der ewigen Selbstbewegung des Geistes kommt und seinen zeitlichen Anfang in der Konstitution des Raums bekommt. Das spekulative Licht des Anfangs schafft sich seinen Raum im Durchgang durch den Punkt. Und hier ist es sicher angebracht, auf das Buch der XIV Philosophen hinzuweisen, das die Gedanken Plotins vom Raum im Mittelalter und der Frühen Neuzeit virulent erhalten hat: »Deus est sphaera infinita, cuius centrum ubique, cujus circumferentia nullibi«.
ii. göttlicher ungrund und zahlenwelt: cusanus, reuchlin, böhme 1. Cusanus: Possest und Zahlenwelt Das possest des Cusanus bestimmt das unbestimmte Eine Plotins und den unnennbar ersten Grund des Liber de Causis – das Unfaßbare – mit Modaldefinitionen, indem er die Pointe des unbestimmbar Einen als die Fülle dessen bestimmt, was sein kann, als posse im Übergang zum esse. Es ist genau der Bereich, in dem die vehementia essendi das Sein zwischen unbestimmtem und bestimmtem Einen real werden ließ. Diese Lehre vom possest ist nicht folgenlos geblieben; ihre wichtigste Rezeption hat sie in Reuchlins außerordentlich wirkungsvollem Buch De arte cabbalistica (1517) erfahren – die Tra13
Plotin: Enneade IV, 3, 17. Übersetzung Richard Harder, a. a. O. S. 207.
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dition der christlichen Kabbala ist ohnehin das wichtigste Wirkungsfeld des Cusaners in der Frühen Neuzeit. Reuchlin kennt in guter pseudo-dionysianischer Tradition eine Sphäre des transintellektuellen und supersubstantialen Göttlichen, in dem sich Möglichkeit und Wirklichkeit treffen, und diese Sphäre benennt er mit dem cusanischen possest. Nikolaus hatte in seiner Schrift De possest 1460 das Zusammenfallen von Möglichkeit und Wirklichkeit als die Natur Gottes dargestellt.14 Er beschreibt das possest als das »Möglich-Wirkliche« des Göttlichen, in dem Können und Sein eines sind. Das Ziel aller Erkenntnis ist die »Visio Dei«, die enigmatisch in der Mathematik sichtbar werde; hier hat er spezifisch die trinitarische Zahlenlehre im Sinn15, die von der Unerkennbarkeit des Einen ausgeht. Für Gott heißt möglich-Sein zugleich wirklich-Sein. Als possest verwirklicht er sich ständig selbst. Diese Selbstverwirklichung beschreibt Cusanus als grundlegenden Prozeß des dreifachen göttlichen Lebens: Der Vater, der Anfang und Möglichkeit ist, verwirklicht sich in seinem Sohn, der im Anfang geworden und wesentlich Abbild des Vaters ist; der heilige Geist ist die Verbindung beider. Als dieses sich selbst erzeugende Leben, das auch als Genese der Urzahlen 1, 2, 3 zu verstehen ist16, durchwaltet das göttliche Prinzip die Welt. Gottes trinitarisches Wesen wird real, indem es sich aus dem unbestimmten Einen als das Bestimmte selbst definiert – das ist die 2 – und sich als diese Einheit der Zweiheit selbst begreift – das meint die 3. Dieser sich selbst denkende Gott konzipiert 4. die Welt, indem er über sich selbst hinausgeht. Deshalb ist Gott der nicht-Andere. Er ist nicht identisch mit der Welt, aber er ist auch nicht völlig von ihr getrennt, denn er garantiert ihre Existenz, indem er ihr Sein als ihr Prinzip definiert und sie so vor der Vernichtung bewahrt. Und doch bleibt er nichts anderes als er selbst, verborgen in sich und alles Sein definierend. Reuchlin übernimmt dieses Konzept in toto: Das possest ist für ihn der Beginn der höchsten der drei Welten; es ist der Anfang im Unbegrenzten. »Per infinitum nihil aliud significans quam ipsum posse«.17 Das Argument wird zwar auf (den platonischen) Parmenides zurückgeführt, aber es reproduziert die Terminologie des Cusaners: »Nihil enim fuit, uel est, uel erit in supercoelestibus, coelestibus, terrenis, corporeis aut incorporeis, in angelis, in hominibus, in brutis, in plantis, in tota universi natura quod non possest uel ut grammatice loquamur, potis est.«18 Aus diesem ersten Prinzip sei, so die pythagoräische (und hesiodsche19) Physik in der Wiedergabe von Philolaus / Reuchlin, das Chaos entstanden. Das Chaos wird als Prima
14 Reuchlin konnte diese Schrift gut kennen, denn sie war in der Gesamtausgabe von Faber Stapulensis enthalten, zu der er selbst Manuskripte beigesteuert hatte und die schon 1514, drei Jahre vor Erscheinen von De arte Cabalistica erschienen war; Tom. I fol. CLXXVIII r – CLXXXIII v. 15 Dialogus de Possest. Philosophisch-theol. Schriften II, ed. Leo Gabriel und Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1966, S. 320. 16 Ebd., S. 326/28. 17 Johannes Reuchlin: On the art of Kabbalah, De arte cabalistica. Tr. by Martin and Sarah Goodman, Lincoln, London 1993, S. 152. 18 Ebd. (Auszeichnung von mir, W. S.-B). 19 Ebd., S. 152.
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materia gefaßt, die durch die Ordnung der geistigen Welt, die ihrerseits durch die Zahlen repräsentiert ist, informiert wird. Die Ordnung der geistigen Welt informiert das Chaos der Materie, die Materialität ist sozusagen das Abfallprodukt aus dem Unbestimmten Einen, das bei der Bestimmung der geistigen Existenz übrigblieb. Das »Possest« hingegen wird als Zahlentheorie und als Trinitätstheologie gefaßt. Hier übernimmt Reuchlin Cusanus’ Zahlentheorie aus De coniecturis in den Hauptmomenten. Ich gebe Reuchlins Darstellung wieder. Die Eins ist selbst allein keine bestimmte Zahl, als solche wird sie erst in der Zwei faßbar; deshalb gilt: »Duo primus numerus est, unum vero principium numeri«.20 Die absolute Trennung der Zwei in unvermittelte Einheiten muß durch die Drei vermittelt werden, damit deutlich wird, daß Eins und Zwei sich auf dasselbe, das Dritte, beziehen. Das ist die numerische Erklärung der Trinität. »Ex uno itaque in divinis producente, duobusque productis, trinitas oritur«.21 Reuchlin nimmt die Drei offensichtlich nicht als Symbol dessen, was Eins und Zwei verbindet, sondern er setzt, der christlichen Trinitätstheologie folgend, drei unabhängige Einheiten – für die Trinitätstheologie Personen – voraus, die eine Substanz sind. So kann er für die Zahlentheorie behaupten, daß die Essenz der Trinität von der Dreiheit formal unterschieden sei. Mit diesem Gedankengang erzeugt er etwas Viertes, von der anfänglichen Trinität Unterschiedenes. Mit dieser Vier kann er nun die gesamte pythagoräische Tradition des Tetraktys bedienen22: Ein wesentliches (neo)pythagoräisches Theorem ist, daß aus der Summe der ersten vier Zahlen die Zehn entsteht. 1+2+3+4=10. Die Vier wird aber auch durch das Y als heiliges Symbol dargestellt; das Y ist das berühmte Symbol des Scheidewegs. Wenn das Y als Aufblick auf eine Pyramide gedeutet wird, dann ist der Zusammenhang zwischen Geometrie, Arithmetik und Symbolik sichtbar.23 Schließlich – und das ist für die Lehre vom Namen Gottes wichtig – kann der Tetraktys mit dem Tetragramm verbunden werden, und Reuchlin vermutet denn auch, daß Pythagoras seine Theorie des Tetraktys aus der Interpretation des Tetragramms gewonnen habe.24 Die Interpretation des symbolischen Y ist deshalb wichtig, weil damit die Ordnung der Vier nicht nur als arithmetische Ordnung dargestellt ist, sondern auch die Grundordnung des Raumes in der einfachsten Fassung, als Pyramide, symbolisiert wird.
Ebd., S. 154. Ebd. 22 Ebd. 23 Diese Theorie kennt Reuchlin aus Vergils Aeneis (X 101), wo es heißt, daß das Haus Gottes, die 10, eine Pyramide sei: »decimo Deum domus alta, cuius quidem culmen est unitas, parietes trinitatis et superficies quaternitas«. Zitiert in De Arte Cabalistica, a. a. O., S. 192. Im übrigen kann selbst die arabische 4 (sofern sie oben offen geschrieben wird) als Symbol des Y gelten. 24 Ebd., S. 156. 20 21
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2. Theologia symbolica als Theogonie. Reuchlins kabbalistische Deutung des Tetragramms. Was ist das wundertätige Wort bei Reuchlin? Zunächst das Tetragramm. Das Tetragramm ist das theologische Grundmuster auch des pythagoräischen Tektraktys und symbolisiert damit – natürlich – die Ordnung des geistigen und ausgedehnten Universums. Reuchlin sieht das Tetragramm als Archetyp aller Quaternitäten, und die Analogie der Zahlenlehre spielt eine zentrale Rolle. Es gibt vier Kardinaltugenden der Stoiker: Maß, Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit. Es gibt vier Dimensionen des Körpers: den Punkt, die Linie, die Fläche und den Kubus. Die Summe von 1, 2, 3 und 4 bildet die 10. Es gibt vier Jahreszeiten, vier Oberweltgötter: die Muse, Dionysos, Apoll und Venus.25 Damit ist der Kranz und die Aura des Tetragramms von paganer Seite her abgesteckt, Reuchlin ergänzt diese Aura durch biblische Vierheiten: Es gibt vier Ströme des Paradieses, vier Tiere des Hesekiel, die später die Tiere der Evangelisten werden, vier Räder des Thronwagens und vier Cherubim. Diese Viererfolge bezeichnet zugleich einen Aufstieg, und dem Philosophen der ursprünglichen Offenbarung gilt das Tetragramm als Symbol der Uroffenbarung, die Reuchlin mit der adamitischen Sprache, der vollkommenen offenbaren Weisheit gleichsetzt. Der Kern der adamitischen Sprache ist wieder das Tetragramm, das durch die Vier, die Weisheit, repräsentiert wird. Für Reuchlin zeigt sich der Aufgang aus dem Punkt, aus dem Jod, als Prozeß des Erscheinens überhaupt und so als Offenbarung Gottes in den Buchstaben des Tetragramms. Das ist die Erscheinung Gottes im wirkenden Wort seines Namens. Natürlich steht diese Erscheinung Gottes für den Christen Reuchlin in engem Zusammenhang mit dem Prolog des Johannesevangeliums, daß nämlich »im Anfang das Wort war«. Dieses wirkende Wort des göttlichen Anfangs ist für Reuchlin das »Fiat lux« der Genesis-Geschichte. Reuchlin übernimmt die Theorie, daß der Anfang des Tetragramms, das Jod y der Anfang aller räumlich sich darstellenden Erscheinung ist. Das Jod y ist das Symbol des sich in den Raum entfaltenden Punkts, über den Proklos spekuliert hatte. Reuchlin verbindet diesen Gedanken mit pythagoräisch-neuplatonischen Henelogie-Spekulationen: »Hiermit habt ihr nun den ersten Buchstaben des Tetragramms, der auch die Figur des Punktes zeigt und Jod, Anfang genannt wird, und der auch die zehn, das heißt die Grenze der Zahl bezeichnet und jedwede Zahl aufs einfachste durchdringt.« Das Jod bezeichnet den Punkt, bei dem alle Ausdehnung beginnt, der aber selbst »keine Ausdehnung und Lage« hat26. Diese Henologie des Jod verbindet Reuchlin mit Areopagitas Einheitsspekulation aus De divinis nominibus: »In der Einheit besteht nämlich jede Zahl einförmig fort, die Einheit birgt in sich selbst jede Zahl, und jede Zahl ist mit der Einheit verbunden.«27
Johannes Reuchlin: De verbo mirifico, hg. v. Widu-Wolfgang Ehlers, Lothar Mundt, Hans GertRoloff und Peter Schäfer, Stuttgart–Bad Cannstatt 1996, S. 262 (Übers. Mundt). 26 Ebd. S. 268 (Übers. Mundt). 27 Ebd. 25
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Aus der Einheit wird Bewegung und Fortschreiten. Die Bewegung der Einheit schafft »das andere und die Andersheit der Zweizahl«28. Dieser Gedanke nimmt das zentrale Moment aus dem Buch der XXIV Philosophen auf: »Deus est monos, monadem ex se gignens, in se unum reflectens ardorem.«29 Es entsteht aus der Zeugung der Monade, die sich selbst verdoppelt, Bewegung, daraus wird Wärme, Glut, Licht. Das Licht, das aus der anfänglichen Selbstbewegung entsteht und unendlich hell ist, ist ein Prozeß, der Licht und Leben des Göttlichen ausmacht und der sich über das göttliche Leben hinaus im »Fiat« des Lichts in der Schöpfung am ersten Schöpfungstage zeigt. Die Bewegung der Einheit, die die Zweiheit schafft, erkennt Reuchlin im Typus der Form-Stoff-Dichotomie. Das Verhältnis von eins und zwei sieht er durch den zweiten Buchstaben des Tetragramms, das He h, repräsentiert. Die hervorbringende Einheit schafft die Existenz der Dinge, die trennende Zweiheit macht die Dinge in ihrer Definition und damit in ihrem Wesen sichtbar. Weil die schlechthinnige Einheit Gottes nicht erkennbar ist, gibt die Andersheit Auskunft und Hinweis auf die unerkennbare Einheit. »Da aber allein Gott keiner Vielheit Zugang zu sich gestattet, alle anderen Dinge jedoch, wie einfach sie auch sein mögen, doch gleichsam eine gewisse Anhäufung darstellen und aus Aktualität und Potentialität zusammengesetzt sind, deshalb durfte der erste Ausfluss der Gottheit nicht mit irgendeinem Merkmal von Ungeradheit bekannt gemacht werden, sondern nur mit einem solchen, das sowohl aus einer geraden als auch einer ungeraden bestand, aus einer geraden, damit es etwas war, aus einer ungeraden, damit es schlechthin war, jenes nämlich als das, was entströmt war [i.e. essentia], dieses als das Entströmen [i.e. existentia].«30 Diese Zahleninterpretation erklärt, ganz analog zur dynamischen Auffassung der Trinitätslehre, das Moment der 1 als dynamisch, das Moment der 2 als Logos, Definition und Wesen, das Moment der 3 als die Einheit von 1 und 2 im Geist und im Hauch. Der zweite Buchstabe des Tetragramms, das He, hat den Zahlenwert fünf, Reuchlin deutet das He als ursprüngliche innertrinitarische christologische Scheidung, und damit auch als Symbol des Pentagramms, zugleich als Trennung der ausgedehnten Schöpfung von Gott im Hauch des Schöpfungswortes. »Aus der Primzahl 2 also und der Primzahl 3 besteht die 5, die den vom höchsten Licht ausgesandten Strahl der intelligiblen Welt mit einem einzigen geheiligten Schriftzeichen, das heißt eben dem Buchstaben He, darstellt, der nach der Lehre der Mathematiker eine Primzahl – eine nicht zusammengesetzte Zahl –, nach der Lehre der hebräischen Grammatiker einen Hauchlaut und die Person der Wesenheit [Essentia – Logos] in der Funktion eines Artikels darstellt.«31 Der Hauch ist zugleich der Schöpfungshauch, der die Macht und den Sinn des göttlichen Wortes zur außergöttlichen mentalen (Weisheit) und körperlichen Existenz bringt. Verbindung ist das Merkmal der Drei. In dieser Drei sind Differenz und Werden vereint. Als diese Funktion des trinitarischen Geistes wird das Waw w (die hebräische
28 29 30 31
Ebd. Le Livre des XXIV Philosophes, ed. Françoise Hudry, Grenoble 1989, S. 89. Reuchlin: De verbo mirifico, a. a. O., S. 272. Ebd.
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Bedeutung ist »und«) interpretiert. Als Verbinder auch im außergöttlichen Bereich des wirklichen Wortes hat das Waw zwei Funktionen: Es verbindet als »Konjunktion« Form und Stoff, also Himmel und Erde, und wird so zum körperlichen Realitätsgeber. Mit der Körperlichkeit entstehen zugleich Raum und Zeit: »Ich will auch noch das dritte Schriftzeichen dieses unaussprechlichen und wundertätigen Namens kurz erläutern, das, wie man sagt, das Waw ist. Obwohl dies eine kopulative Konjunktion ist, verändert sie doch auch in der fortlaufenden Rede das Tempus der Verben und bezeichnet in der Mathematik die Zahl Sechs. Auf eine sehr sinnvolle Weise wird sie zum kleinen Kennzeichen für Himmel und Erde, d. h. für alles, in dem sich Stoff und Form verbinden. Das Waw verknüpft und verbindet nämlich die Teile der Rede, deshalb wurde es ›Konjunktion‹ genannt. Darüber hinaus verändert es bei den Verben die Zeiten – so wie die Natur bei den Dingen. ›Was ist es, was geschehen ist?‹ sagt der Prediger. ›Ebendas, was geschehen wird. Was ist es, was getan wurde? Ebendas, was man tun wird.‹ Dem Wandel der Zeit ist also alles Körperliche im Himmel wie auf Erden unterworfen, und es liegt in deren Mitte.«32 Es lassen sich in der Tetragramm-Interpretation Reuchlins deutlich die Emanationsbewegungen des »Einen« von seinem unerkennbaren Ausgang zur Differenz zwischen Essenz und Existenz in der Zwei bis zur trinitarischen Bewegungseinheit nachvollziehen. Dieses archetypische Muster aller Bewegung findet sich in den Bewegungen der mentalen und der extramentalen Welt wieder. Die Prägekraft dieses ersten Namens bestimmt den Sinn, die Essenz und Existenz aller Dinge. Die Essenz aller Dinge ist evidenterweise nicht Gott selbst, sondern sie ist von Gott verschieden. Sie ist auf der anderen Seite von Gott geschaffen, ist also primär von Gott konzipiert. Dieser göttliche Gedanke ist der nous, Gottes primordiale Weisheit. Die Gehalte, Wesenheiten, Essenzen dieses nous werden durch Hieroglyphen bezeichnet, sie sind die Inhalte der Lingua Adamica, die Reuchlin im vierten Buchstaben des Tetragramms h präfiguriert sieht. Dieser Buchstabe, wieder ein He, symbolisierte schon, als er zuerst, als zweiter Buchstabe des Tetragramms, auftauchte, die Entäußerung aus dem ursprünglich ungetrennten, unnennbaren Einen. Es konnte 1. als Ausdruck der innergöttlichen ursprünglichen Selbstverständigung und 2. auch als Ausstülpung der göttlichen Kraft in die Weisheit gedeutet werden. Das h ist sozusagen der Symbolbuchstabe des Logos. In der nach außen gestülpten göttlichen Weisheit des zweiten He im Tetragramm waren dann die primordialen Gründe erkennbar, die die Sprache Adams benannte. Hier erklärt das He eine neue Entäußerung, die über die Trinität hinausgeht und in die extramentale Realität wird. Diese Schöpfung benennt Adam dann mit den Namen, die der Substanz der Dinge in ihrer Herkunft aus der Weisheit zukommen. Dabei wird Adam als Typus der kosmisch-menschlichen Seele (erster Adam, Typus Christi) interpretiert, die ihrerseits als verbindendes Drittes zwischen dem Nous, der die Formen enthält, und der Materie fungiert. In diesem Sinne ist er der Makrokosmos. Diese Einführung einer kosmischen Seele zwischen Nous und Materie kann wiederum christologisch interpretiert werden, als Fleischwerdung des Göttlichen Logos; also 32
Ebd.
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wird auch hier ein fünftes Element eingeführt: zuerst die Trinität, dann die Sophia und schließlich die Inkarnation der Sophia in der Weltseele. Diese fünf Momente werden von Reuchlin als die Erweiterung des Tetragramms durch das Schin, den Buchstaben Jesu, gefeiert: JHSUH. Damit ist für Reuchlin der Sinn der göttlichen Offenbarung im Tetragramm, respektive im Pentagramm entfaltet: Im Tetragramm ist das Geheimnis des Werdens aufgezeigt. Die Kraft Gottes, seine Vigor essendi, ist im Jod sichtbar: Das Jod ist das Symbol des Übergangs von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Das Geheimnis der trinitarischen Selbstermöglichung Gottes ist in den Dreierstrukturen des Tetragramms symbolisch offenbart; das erste He des Tetragramms ist die Form Gottes selbst, das Waw vermittelt die vigor essendi des Jod mit der Formalität des He. Diese trinitarische Struktur Gotttes entäußert sich aus dem Göttlichen Bereich als Glanz Gottes, als nous, als Formalität der Welt im vierten Buchstaben des Tetragramms, dem zweiten He. Die Seele des Kosmos, der kosmische Adam, das Schin des Namens Jeschu, vermittelt zwischen dem durch das zweite He repräsentierten nous und der Materie. So wird aus dem Tetragramm JHUH das Pentagramm JHSUH, Reuchlins wundertätiges Wort. Es ist das durch das Schin, den Namen Jesu, erweiterte Tetragramm.
3. Jakob Böhmes (1575–1624) Lehre von der Gottesgeburt Jakob Böhme hat die spekulativen neuplatonischen und kabbalistischen Muster der Philosophia perennis tiefgründig und verständig verarbeitet. Das gilt vor allem für seine Lehre von der Gottesgeburt / Theogonie. Bei Böhme zeigt sich zugleich, daß die Integration kabbalistischer Muster ins spirituelle Christentum aufgrund der Traditionen negativer Theologie, spekulativer Christologie und mystischer Innerlichkeit ohne Probleme möglich war. Böhme hat sich in immer neuen Anläufen mit den Fragen der Entäußerung göttlicher Majestät in seine Offenbarungen und deren mögliche Erkenntnis durch den Menschen auseinandergesetzt. Je länger er an dem Thema gearbeitet hat, desto klarer sind ihm die Strukturen seiner Erkenntnis geworden. In seinen Ausführungen Von der Gnadenwahl hat er seine Erkenntnisse und Einsichten konzentriert. Er beginnt mit der Analyse des Ungrundes und beschreibt die Theogonie als göttlich ursprünglichen Willensakt und Selbstfindungsprozeß Gottes. Böhme geht zunächst von dem scheinbaren »contrarium« aus, daß Gott einer sei und zugleich verschiedene Prädikate habe. »Ich der Herr dein Gott bin ein einiger Gott, und du solst keine ander Götter Neben mihr Ehren.« (Ex. 20,2,3) Dieser Gott ist eine Einheit ohne Prädikate; als diese Einheit offenbart er sich. Diesem einigen, prädikatlosen setzt Böhme den »Eifferigen Gott und ein verzehrent feür«33 entgegen. Diesen Gegensatz hebt er nach Art der negativen Theologie auf, ohne daß das Sein Gottes selbst Jakob Böhme: Von der Gnadenwahl I,1 in: Urschriften II, ed. W. Buddecke, Stuttgart–Bad Cannstatt 1966, S. 12. 33
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negiert würde: »Den man kan nicht von gott sagen das Er dis oder das sey, Böse oder gutt das Er in sich selber unterscheide habe.« Das Motiv der Aufhebung gegensätzlicher Prädikate entspricht der Coincidentia oppositorum. In der Tradition der negativen Theologie werden Gottes Prädikate negiert: »den Er ist in sich selbst Natur loß / so wohl Affekt und Creatur loß / Er hat keine Neiglichkeit zu edwas den er ist nicht für (= vor) ihme, dar zu Er sich köntte Neigen weder Böses noch guttes«. Das ist der Topos des autarken Einen, das noch gänzlich ungeschieden ist. Es ist ein Argument vor allem neuplatonischer Natur, das auch die Möglichkeit enthält, im ewigen Anfang der Natur Gottes auch das Böse einzuschließen. »Er ist in sich der ungrunt«. Ungrund ist Böhmes Fassung des unbestimmten Einen, das nicht einmal im genauen Sinne Grund genannt werden darf, weil das schon eine Prädikation dieses Einen ist. Die wichtigsten Gedanken aus dem Stück aus der »Gnadenwahl«: 1. Im ewigen Anfang Gottes konvergieren Eins und Nichts. Böhme bildet, möglicherweise aus dem hebräischen en sof (»kein Grund«), den Terminus Ungrund. 2. Gott ist zugleich alles und nichts, umfassend prädikatlos. Diese Prädikatlosigkeit, identisch mit der göttlichen Unerkennbarkeit, ist die Bedingung der späteren Qualifizierung, in ihrer Fülle ist sie die Koinzidenz der Gegensätze. Für die Erkenntnis der göttlichen Prädikate gilt das Prädikationsverbot der negativen Theologie. 3. Die Bestimmung des Ungrundes besteht im prozessualen Anfang des Willens. Das ist philosophiegeschichtlich die Verbindung von Plotins unbestimmtem Einen und Origenes’ Bestimmung des trinitarischen Ursprungs im Willen. Aber dieser Wille ist noch unqualifiziert, sozusagen der Punkt des Willens, in dem er erscheint, in seinem Aufgang, in dem man sich den ewigen Willen anfangend vorstellt. Erkenntnistheoretisch ist dieser Anfang die Grenze, die durch die Negation entsteht. Von dieser Grenze aus wird in einem zweiten Schritt die göttliche Selbstbeschaulichkeit und Definition, der Sohn, in einem dritten Schritt wird der Geist als Einheit beider erkennbar. Die Entstehung der Welt ist der vierte Schritt, sie führt über die Gottheit hinaus. 4. Potentialität, noch unspezifiziert, ist das Merkmal von Gottes Anfang. In seiner zeitlosen Ewigkeit, in der alles auf einmal ist, koinzidieren Zeitausdehnung und Punktualität. In dieser Unzeitlichkeit wird auch der Ort der primordialen Gründe für die Welt liegen, nachdem sich Gott im ewigen innertrinitarischen Leben entfaltet hat. Böhme geht aus von seiner origenistischen Bestimmung Gottes als Willen. »der Erste uranfängliche einige wille welcher weder Böse noch gut ist gebühret (gebiert) sich das Einige seiner selbst.«34 Reuchlin hatte in seiner pythagoräischen Interpretation des Tetragramms die Zweiheit als Bewegung und Trennung des Vaters vom Sohn beschrieben. Die Entstehung der Zweiheit ist in allen henologischen Argumentationen der entscheidende Schritt aus der Verborgenheit des All-Einen, die Zwei ist das Geheimnis der Selbst-Offenbarung und der Offenbarung nach außen. So ist auch bei Böhme die Entäußerung Gottes in seinen 34
Ebd., S. 13.
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Sohn der entscheidende Schritt, der aus dem Willen des Ungrundes geschieht und aus dem überhaupt der grundlose Anfang denkbar wird. Jeder Prozeß hat seinen Anfang in der undenkbaren Möglichkeit des Einen, das nur in der Trennung sichtbar wird. Deshalb läßt sich der Anfang nur im nachhinein erzählen. Der Anfang kann erst erfaßt werden, nachdem sich seine Wirksamkeit entfaltet hat. Das ist das Geheimnis des Ungrundes, der aus sich das andere gebiert, das dann später Sohn genannt wird. »Als der erste, unanfängliche, einige wille welcher weder böse noch gut ist gebühret in sich das Einige ewige gutte als einen faslichen Willen welcher des ungrüntlichen willens Sohn ist und doch in dem uranfenglichen willen gleich ewig und derselbe ander wille ist des Ersten willens ewige empfindligkeit und findligkeit da sich das nichts in sich selber in edwas findet. Und das unfintliche als der ungrüntliche wille gehet durch sein ewig gefundenes aus und führet sich in eine ewige beschauligkeit seiner selber. Also heisset der ungrüntliche wille ewiger vater. Und der gefundene gefassete geborne wille des ungrundes heisset sein geborner oder Eingeborner Son.« Das ist sozusagen die positive Seite, die Seite, in der sich die Einheit selbst findet. Der Schmerz an diesem Teilungsprozeß, der Schmerz an der Zweiheit ist der Abfall von Gott, der Ausdruck des Bösen. Daß aus dieser Zweiheit eine neue Einheit, die Einheit der trinitarischen Selbstbeschaulichkeit wird, ist der Abschluß des trinitarischen Prozesses, ohne daß schon Schöpfung wäre. Es ist – grammatisch ebenso wie spekulativ – Reflexion, Selbstbezug. Darin besteht die Theologie des Geistes: »Also heisset der ungrüntliche wille ewiger vater. Und der gefundene gefassete geborne wille des ungrundes heisset sein geborner und Eingeborner sohn den Er ist des ungrundes Ens [Ens: wirkendes Werden des Lebens] darinnen sich der ungrunt in grunt fasset. Und der ausgang des ungrintlichen willens durch den gefasten Ens oder Sohn heisset Geist den er führet den gefasten Ens aus sich in ein weben oder leben des willens als ein leben des vaters und des Sohnes Und das aus gegangene ist die lust und das gefundene des ewigen Nichts da sich der vater Sohn und Geist Inne Sihet und findet und heisset Gottes weisheit oder beschauligkeit.«35 Hier zeigt sich das Geheimnis des Werdens, des Vorgangs, den Böhme in der Folge origenistischer Gedanken am Begriff des Willens expliziert. Der Wille bezeichnet einerseits bei ihm die Potenz, dann aber auch den Akt von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, den Akt der Selbstermöglichung, der immer in der innertrinitarischen Beschaulichkeit endet. Böhme antwortet auf die Frage nach dem absoluten Anfang: »Das erste und gröste Mysterium ist der Abgrund, da sich das Nichts in einen Willen einführet, der Vater heisset, oder der Urstand zum Etwas«.36 Hier zeigt sich der ewige Prozeß des göttlichen Werdens aus der Unbestimmtheit in die Bestimmung. Gottes Anfangslosigkeit ist zugleich die ewige Zeugung des göttlichen Lebens. Dieses Leben ist Ursprung allen weiteren Anfangs, es ist der Typ aller Prozesse, es ist das Leben schlechthin.
Ebd., I,6, S. 13. Jakob Böhme: 40 Fragen von der Seele I,120, in: Sämtliche Werke (1730), ed. Peuckert, Stuttgart–Bad Cannstatt 1960, Bd. 3, S. 34. 35 36
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iii. romantische sehnsucht zur existenz: schellings konzept der theogonie Gegebensein ohne Grund, Gegebensein durch sich selbst hat zwei begriffliche Elemente, die transzendentalphilosophisch seit Kant bestimmt waren. Erstens: Das Durch-sichselbst-Sein ist Freiheit. Zweitens: Das durch-sich-selbst-Sein ist Anfang. Anfang impliziert Folge und damit Bewegung. Wie aber ist der absolute Anfang denkbar? Daß der absolute Anfang nicht Geist ist, sondern, unbewußt, Sehnen, hatte Schelling sozusagen origenisierend schon im System des transzendentalen Idealismus (1800) betont. Anfang war ihm die ursprüngliche Empfindung des transzendentalen Subjekts, die Ahnung seiner selbst, die als produktive Anschauung sich selbst setzte. Diese produktive Anschauung war selbst Element des Prozesses, der sich als Expansion und Kontraktion beschreiben ließ: in der Reflexion begriff sich das Ich als produktiv, im lebendigen Pulsieren war es organisches Leben. Es begreift sich als Wille des Anfangs, entstanden aus der Bewegung des Punctum saliens, der stets über sich hinaus will. So wird Zeit als das Gefühl der Wechselwirkung von Bleiben und Veränderung begreifbar. Zugleich entstehen Innen und Außen aus der Produktion des Willens. Denn sofern der Wille über sich hinaus sein will, transzendiert er stets seine eigene Existenz. Die Repräsentation dieses willentlich-vorbewußten Lebens, an dem das Bewußtsein nur teilhat, ist die organische Natur. Das ist zunächst Transzendentalphilosophie; denn die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Veränderung ist die Struktur des Werdens im transzendentalen Ich – die produktive Einbildungskraft, die im Willen ursprünglich und im Erkennen nur sekundär ist. Der Wille will – Punctum saliens – , ohne daß er schon weiß, was er will. Hat er aber erkannt, was er will, ist er eo ipso schon verdoppelt in Wollendes und Gewolltes, Erkennendes und Erkanntes, Subjekt und Objekt. Der Anfang im Willen ist dadurch definiert, daß er über sich hinaus sein will. Indem er über sich hinaus sein will, produziert er Entzweiung. Der Prozeß der Entzweiung erzeugt Identität und Differenz zugleich. Transzendentalphilosophie produziert sich selbst – was sich selbst produziert, nimmt nichts wahr, was es nicht selbst ist – dieser Solipsismusverdacht hat die Transzendentalphilosophie von Beginn an begleitet. Schelling hat in seiner Spätphilosophie daraus die Konsequenzen gezogen: Transzendentalphilosophie ist negative Philosophie, denn sie macht die Gegebenheit des Gegebenen von seiner Erkenntnis durch das transzendentale Subjekt abhängig. Die Frage nach der Realität des Realen, nach der Absolutheit des Positiven ist so lange nicht geklärt, als die Realität allein im transzendentalphilosophischen Erkenntniszusammenhang gesehen wird. Und so lange ist auch die Frage nach der Grundlegung der positiven Geschichtsphilosophie Schellings in seiner Theorie einer Theogonie nicht beantwortet. Wie ist die Realität des Realen beschreibbar? Dadurch, daß es uns sinnlich und geistig widerfährt, nicht dadurch, daß wir es produzieren. Schelling steigert den transzendentalphilosophisch begründeten Idealismus in einen Begriffsrealismus, der den Begriffen selbst geistige Realität zuschreibt, die von der Produktion durch das transzendentale Subjekt unabhängig ist. Diese neue Fassung seiner Philosophie impliziert eine Verän-
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derung dessen, was Schelling real nennt. Realität ist nicht mehr der Idealität entgegengesetzt, Idealität ist die Realität der Begriffe. Und warum sollte es keine subjektfreie Semantik geben, wenn es eine psychologiefreie Logik gibt? Damit aber die Idealität überhaupt wahrgenommen werden kann, muß das Leben der Idealität sich selber entäußern und sich dem Subjekt mitteilen. Dieses geschieht durch die teilhabende Wahrnehmung der Begriffe im aktuellen Denken. In der Spätphilosophie Schellings, seit der »Freiheitsschrift« von 1809, werden die Begriffe nicht mehr konkret durch ein Subjekt gedacht, sie entäußern sich vielmehr selbst ins Gedacht-Werden. Ein transzendentales Subjekt ist nicht mehr vorgesehen, das ehemals autonome Subjekt vergeht angesichts des Absoluten. Die Begriffe organisieren sich selbst lebendig und systematisch. Und in diesem bewegten System geht es, weil Erkenntnis als Bewegungsprozeß vom Objekt zum Subjekt gedacht wird, um die Frage nach dem Anfang einer solchen Bewegung. Anfang ist Motiv, primum mobile. Wie ist der Anfang einer unendlichen Bewegung zu begreifen? Es ist ein dauernder Kraftimpuls, der die Bewegung erhält und der als Quelle alles Werdens gegenwärtig sein muß, damit Leben lebt. Dieser Anfang war im System des transzendentalen Idealismus (1800) qualifiziert als der ursprüngliche Wille, über sich hinaus zu sein, und er war zugleich Freiheit. In der »Freiheitsschrift« (1809) werden Anfang und Freiheit auch zusammengedacht, aber nicht als transzendentalphilosophisch begründete Freiheit des Subjekts, sondern nach dem Muster der Trinitätstheologie. Der auf sich selbst beruhende Wille, die Freiheit, ist der schlechthinnige Anfang, der erste Beweger. Dieser Wille erzeugt den Anfang. Die Realität, die aus diesem Willen wird, ist nicht ein mechanischer Zwang, sondern sie ist gezeugt und damit frei. »Zeugung, das heißt Setzen des Selbständigen.«37 Der zeugende Wille, der das Selbständige setzt, setzt eine unabhängige Macht. Dieser Wille ist absolut und eo ipso göttlich, wie sollte er sonst gedacht werden? Wenn man diese Emanationslogik nachvollzieht, findet man zwei der drei Funktionen vereint, die im Prolog des Johannesevangeliums vereint sind: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Im Anfang war es bei Gott. Durch ihn ist alles geworden, und nichts, was geworden ist, ward ohne das Wort.« (Joh. 1,1–3) Einmal ist es die innertrinitarische Funktion des Logos, also die Selbstverdoppelung des Vaters, die als Selbstfindung des göttlichen Willens begriffen wird: Die Konnotationen zur Trinitätstheologie ebenso wie zu Böhmes Von der Gnadenwahl sind evident. »Aber entsprechend der Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste Regung göttlichen Daseins ist, erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen anderen Gegenstand haben kann als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese Vorstellung ist das erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst. Sie ist im Anfang bei Gott und der in Gott gezeugte Gott selbst. Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand – das Wort jener SehnF. W. J. Schelling: Philosophische Abhandlungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, 1. Abt., Bd. 7, Augsburg 1858, S. 346. Zum Zusammenhang vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, Frankfurt 1998, S. 702–733. 37
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sucht, und der ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist, spricht das Wort aus, dass nun der Verstand mit der Sehnsucht zusammen freischaffender allmächtiger Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeuge bildet.«38 Es geht also um trinitarische Theologie und um Schöpfungstheologie. Auch Schelling stellt sich die Frage, die der Theogonie und der Schöpfungstheologie gemeinsam ist: Was ist Werden? Das absolute Positive, Gott, ist der Inbegriff des Seins und des Werdens zugleich. Gott hat den Grund seiner Existenz in sich, aber er ist nicht der Grund der Existenz. Was kann das heißen? Offensichtlich wird »vor« der Existenz etwas angenommen, was erst zur Existenz wird. Die Existenz ist nicht schlechterdings allumfassend, weil sie die Nicht-Existenz und damit das radikale Werden des Anfangs ausschließt. Jedes Werden ist ein Übergang vom Nichts zur Existenz. Werden »webt« sozusagen zwischen Nichts und Existenz, die Existenz ist bereits das Ergebnis eines Prozesses. Deshalb ist allein Werden der Vorgang, in dem sich Natur vollzieht. Zwischen Nichts und Existenz webt die Sehnsucht. Sehnsucht bezeichnet bei Schelling den Rand zwischen unbestimmtem und bestimmtem Einen; er sieht die vehementia essendi als lebendig pulsierend in Expansion und Kontraktion; Expansion und Kontraktion zeigen die Bewegung der Sehnsucht zur Existenz. Mit diesem Begriff von Werden ist die Sehnsucht beschreibbar, »die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären«39. Sehnsucht ist der »ewig dunkle Grund« der Existenz. Diese Sehnsucht ist auch der zentrale Impuls allen Werdens der Realität. Das ist vor Schelling nirgendwo so deutlich wie bei Böhme. Im Werden wird das Böse als Implikat des dunklen Grundes der Existenz deutlich. Im Werden erweist sich die Gewalt der Trennung, die der Typos des abkömmlichen Antagonismus von Gut und Böse ist. Als Potenz ist Trennung schon in der ewigen Selbstwerdung des Göttlichen, in der Trennung vom Sohn vorhanden, virulent wird die Unterscheidung von Gut und Böse in der Trennung von Schöpfer und Geschöpf und in der Individualität, die sich selbst will, in ihrer dramatischen Trennung vom Ursprung. Ist die Sehnsucht nach der Existenz denn schon der absolute Grund der Existenz, oder ist in der Sehnsucht schon die unerfüllte Gewalt zum Werden fühlbar? Sie kann mit ihrer dualistischen Unerfülltheit nicht das Absolute und Anfängliche sein, sie ist nur das erste Symptom des Absoluten. Der Grund der Existenz, die Potenz vor aller Existenz, vor aller Dualität, liegt auch vor der Sehnsucht; »wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden sein. Es kann aber nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden«.40
Schelling: Philosophische Abhandlungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, a. a. O., S. 360 f. 39 Ebd., S. 359. 40 Ebd., S. 406. 38
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Aus dieser Indifferenz des Ungrundes heraus ereignet sich – Ur-stand und Ur-teil der Freiheit – die Dualität, in der die Liebe und das Leben und die Person sichtbar werden.41 Der sichtbare Teil der Trennung ist die Form, der sich der Wiedervereinigung mit seinem Ursprung nicht entzieht – aber im Begriff bleibt eine Spur der Geschichte der Dinge. Die einmal erfolgte Trennung hat aber etwas so Endgültiges an sich, daß der Schmerz und das Leid der Trennung selber als hart, böse und ewig different übrig bleiben. Die Realität der Begriffe kann nur als Ergebnis der Trennung vom Ursprung begriffen werden, und deshalb kann ihr Verhältnis zum Ursprung nur als Wiedervereinigung und Heilung verstanden werden. Die Tatsache, daß der Riß vorhanden war, daß der Schmerz gefühlt wurde, ist nicht rückgängig zu machen. Und so entsteht auch das Böse der Trennung: Alles, was nicht Liebe, Leben und Person wird, also »das Falsche nämlich und Unreine, (ist) auf ewig in die Finsternis beschlossen, um als ewig dunkler Grund der Selbstheit, als caput mortuum seines Lebensprozesses und als Potenz zurückzubleiben, die nie zum actus hervorgeben kann«.42 Das ist die Konstitution des Bösen als »Unrealität«43, die sich am Ende der Zeit, in der »Wiederbringung aller Dinge«44, als nichtig herausstellen wird. Es handelt sich allemal um eine Geschichte, um die Geschichte Gottes und seiner Schöpfung. Es ist die Geschichte von Theogonie und Kosmogonie. Schellings Philosophiegeschichte erzählt diese Geschichte des Ursprungs nach. Es ist eine Erfahrung, die im Dunklen, in undurchdringlicher Finsternis anbeginnt. »Nur in göttlichen geoffenbarten Reden leuchten Hinweise, wie einzelne Blitze, welche diese uralte Finsternis zerreißen«.45 In der kindlichen Innigkeit, in der Ahnung des Unzertrennten, lassen sich diese göttlichen Offenbarungen nacherzählen, und als Hoffnung auf ewige Vereinigung erscheint diese Erinnerung in der Zukunft. Das hört sich romantisch an, ist es auch. Aber es zeigt auch, wie sehr die Romantik, zumal in ihrer späten Phase, von ihren Bedingungen im christlichen Platonismus abhing – einem Platonismus, der nicht mehr mit der Transzendentalphilosophie koinzidierte, sondern als ihr Gegenpol fungierte. Ausgänge aus selbstverschuldeter Unmündigkeit wollte diese Philosophie nicht mehr zeigen, eher Rettung aus selbstverschuldeter Mündigkeit. Literatur Böhme, Jakob: 40 Fragen von der Seele, in: Sämtliche Werke (1730), ed. Peuckert, Stuttgart–Bad Cannstatt 1960, Bd. 3. Böhme, Jakob: Von der Gnadenwahl, in: Urschriften II, ed. W. Buddecke. Stuttgart–Bad Cannstatt 1966. 41 42 43 44 45
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Ebd., S. 408. Ebd., S. 408. Ebd., S. 405. Ebd., S. 405. Vgl. F. W. J. Schelling: Die Weltalter – Fragmente, hg. v. Manfred Schröter, München 1946,
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Cusanus: Dialogus de Possest, in: Philosophisch-theologische Schriften II, ed. Leo Gabriel und Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1966. Dionysius Areopagita: De divinis nominis, hg. v. Beate Regina Suchla, Corpus Dionysiacum I, Berlin, New York 1990 [Ps. Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes, übers. v. Beate Regina Suchla, Stuttgart 1988]. Le Livre des XXIV Philosophes, ed. Françoise Hudry, Grenoble 1989. Origenes: De Principiis, ed. Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Darmstadt 1976. Plotin: Das Eine, das Gute, übers. v. Richard Harder, Plotins Schriften Bd. Ia, Hamburg 1956. Plotin: Enneade, übers. v. Richard Harder, Plotins Schriften, Bd. II, Hamburg 1956. Proklos: Euklidkommentar zu Df. I.1; Übersetzung P. Leander Schönberger OSB, ed. Max Steck Halle 1945 [Gr. Ed. Gottfried Friedlein, Leipzig 1873]. Proklos: Liber de Causis, ed. Otto Bardenhewer, Freiburg 1882. Reuchlin, Johannes: De verbo mirifico, hg. v. Widu-Wolfgang Ehlers, Lothar Mundt, Hans Gert-Roloff und Peter Schäfer, Stuttgart–Bad Cannstatt 1996. Reuchlin, Johannes: On the art of Kabbalah, De arte cabalistica. Tr. by Martin and Sarah Goodman, Lincoln, London 1993. Schelling, Friedrich Wilhelm Josef: Die Weltalter – Fragmente, hg. v. Manfred Schröter, München 1946. Schelling, Friedrich Wilhelm Josef: Philosophische Abhandlungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, 1. Abt. Bd. 7, Augsburg 1858. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Philosophia perennis, Frankfurt/M. 1998. Schwabl, H. / Hühn, H.: Art. Theogonie, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1998, Bd. 10, Sp. 1073–1075.
Gottes Poesie und menschliche Vernunft. Theologische Überlegungen zu Alfred North Whiteheads kulturphilosophischem Verständnis von Kreativität Andreas Schüle (Richmond, VA)
1. Einleitung Gleich in ihren Anfangskapiteln traktiert die Bibel ein theologisch ›heißes Eisen‹. Gegen Gottes Gebot greifen die Menschen zur verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse und erwerben auf diesem Wege etwas, das bis dahin Gott allein vorbehalten war. Genesis 2 und 3 sind in weiten Teilen christlicher Auslegungstradition entsprechend als Geschichte vom Sündenfall, der ersten und ultimativen Abkehr des Menschen von Gott gelesen worden. Etwas zum Nachteil der Texte hat diese Lesart die Sensibilität für deren feinere Pointen gelegentlich in den Hintergrund gedrängt. Eine dieser Pointen liegt darin, daß die Menschen seit dem Garten Eden die Weisheit Gottes besitzen. Der Züricher Alttestamentler Konrad Schmid hat in diesem Zusammenhang von der »Unteilbarkeit der Weisheit« gesprochen.1 Es ist nicht nur ein ›bisschen Weisheit‹ oder eine Weisheit inferiorer Art, die den Menschen im Garten ›zugefallen‹ ist. Die Menschen sind weise geworden wie auch Gott weise ist. Dies hat interessanterweise zur Folge, daß sie nicht mehr länger in Gottes unmittelbarer Nähe leben können, sondern von nun an auf sich gestellt sind, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen und allen Härten des Lebens auf dem Ackerboden ausgesetzt sind. Was aber heißt dies genauer für das Verhältnis von Gott und Mensch? Wichtig ist zum einen der Unterschied zwischen dem »Wissen um Gut und Böse wie Gott« und einem »Sein wie Gott.« Der biblische Text suggeriert gerade nicht, daß der Besitz von Weisheit und Erkenntnis den Menschen vergöttlicht. Diese Weisheit ist vielmehr etwas, mit dem die Menschen ihr eigenes Leben gestalten, was − eben weil es sich um eine Erkenntnis des Guten und Bösen handelt − auch die Möglichkeit guten und bösen Handelns einschließt. Für unser Thema ist daran zunächst aufschlußreich, daß göttliche und menschliche Kreativität spannungsvoll aufeinander bezogen und zugleich voneinander unterschieden werden. Gott und Mensch referieren auf dieselbe Weisheit, dies aber für ihre jeweils eigenen Zwecke, Ziele und ›Bedürfnisse.‹ Daraus ergibt sich als Frage, wie eigentlich göttliche und menschliche Kreativität in ein und derselben Welt mit- oder auch nur nebeneinander vorkommen. Für die biblischen Weisheitstraditionen ist dies in Konrad Schmid: Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2 f. und ihrer theologischen Tendenz, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 114 (2002), S. 21–39. 1
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der Tat ein Kernproblem, das ganz unterschiedliche argumentative wie auch metaphorische Entftaltung findet. Daraus ergibt sich ein weiterer Aspekt: daß die Menschen die göttliche Weisheit besitzen, bedeutet nicht, daß sie deswegen auch in der Lage wären, Gottes Denken und Handeln zu verstehen. Oder anders gesagt: Weise sein bedeutet nicht auch zu wissen, wie Gott ›tickt‹. Der biblische Text macht dies anhand der Geschichte von Kain und Abel deutlich (Genesis 4). Kain versteht nicht, warum Gott sein Opfer ablehnt, das seines Bruders Abel aber annimmt. Und dies ist auch die Pointe des Textes: es gibt keinen einsehbaren Grund. Der erkenntnisfähige Mensch muß damit leben lernen, Gott nicht zu verstehen − vor allem dann, wenn ihm das zum Nachteil gereicht. Kain gelingt dies nicht, und insofern wird ihm gerade der Besitz von Weisheit zum Verhängnis. Nimmt man die weisheitlichen Traditionen des Alten Testaments zum Ausgangspunkt einer religionsphilosophischen Reflexion zum Thema Kreativität, so beginnt diese Reflexion mit einer zweiteiligen Problemanzeige. Die eine Seite ist folgende: Insofern man Gott als gleichermaßen kontingent wie kreativ agierendes Gegenüber versteht, ist dem Menschen diese Kreativität zunächst einmal nicht erschlossen und auch nicht (auf Wegen tieferen Fühlens, komplexeren Denkens oder perfektionierten Messens) ohne weiteres erschließbar. Um einen theologischen Begriff zu verwenden: Gottes Kreativität bleibt Geheimnis.2 Sie ist weder ein Mysterium, das uns einfach in ratloses Staunen einhüllt, noch ein Rätsel, auf das es zwar eine Antwort gibt, allerdings keine, die wir auch finden könnten. Als Geheimnis stößt Gottes Kreativität uns beständig auf ihre eigene Spur und entzieht sich darin zugleich. Der biblisch eindrücklichste Referenztext hierfür sind die Gottesreden des Hiobbuches3, in denen Hiob eine grandiose Weltsicht eröffnet wird, in denen aber auch die Grenzlinie zwischen göttlicher Kreativität und menschlichem Verstehen eingezogen wird. Wo warst Du, als ich die Erde gründete? Sag mir’s, wenn Du so klug bist! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne? (Hiob 38,4–7) Die andere Seite der Problemanzeige liegt darin, daß die Weise, wie Menschen sich ihre Welt aneignen und gestalten gerade in ihrer Eigenständigkeit göttlich ist. Weder nur erschließt menschliche Kreativität die göttliche noch ist sie deren Ausfluß oder Emanation. Die Frage ist dann, wie eigentlich Gott in der Welt und Wirklichkeit der Menschen vorkommt und wie umgekehrt Menschen in der Welt Gottes vorkommen.
Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 5. Aufl., Tübingen 1986 [1977]. 3 Dazu demnächst Samuel E. Balentine: Job, Smyth & Helwys Bible Commentary, Macon GA 2006 (im Druck). 2
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Innerhalb der weisheitlichen Traditionen des Alten Testaments sowie frühjüdischen Schrifttums wird diese Frage breit diskutiert und führt zu einer Vielzahl theologischer Entwürfe. Auf christlicher Seite dagegen ist in der skizzierten Problemlage die Gefahr eines dualistischen Weltbildes gesehen worden, das sich mit der fundamentalsten aller schöpfungstheologischen Aussagen − ein Gott, eine Welt − nicht vertrug, insbesondere dann nicht, wo sich biblische Schöpfungstheologie mit den großen metaphysischen Entwürfen der westlichen Geistesgeschichte paarte.4 Ein ›zugespitzter‹ Begriff von Kreativität würde immer als Attribut göttlichen Handelns bestimmt werden, bevor menschliches Handeln darin vorkommen könnte. In der Folge der Religions- und Metaphysikkritik insbesondere durch Marx und Nietzsche wurde die Vorgängigkeit der göttlichen gegenüber der menschlichen Kreativität epistemologisch und ontologisch auch innerhalb der Theologie in Frage gestellt. Wie Menschen ihre Welt gestalten und sich diese verstehend aneignen, wirft Licht zunächst auf sie selber, nicht etwa auf Gott − jedenfalls nicht auf einen Gott, der mehr ist als das Produkt menschlicher Selbstimagination. Dietrich Bonhoeffer hat dem − mit Rückgriff auf Hugo Grotius − in folgender Weise Ausdruck gegeben: Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen − »etsi deus non daretur«. Und eben dies erkennen wir − vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis… . Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden… . Der Gott, der uns in der in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen.5 Soweit sich die Theologie diesem Ansatz verpflichtet fühlte, ergab sich daraus die Herausforderung, von Gott in einer Weise denken und reden zu können, die den hermeneutischen Zirkel menschlicher Selbstbespiegelung durchbricht − oder diesen zumindest so weit auszudehnen in der Lage ist, daß darin tatsächlich Gott »um seiner selbst willen«6 zur Sprache kommen kann. Dies führte zum einen zu verstärktem theologischem Interesse an den biblischen Texten als kritischem Potential gegenüber religiöser Tradition. Gewiß ist die Interpretation der Bibel in beständigem Wandel begriffen und wandert mit den Verstehenshorizonten der Menschen, die sie auslegen. Allerdings − dies die elementare Voraussetzung der verschiedenen Strömungen sog. Biblischer Theologie − besitzt die Bibel genügend Widerstandspotential gegenüber religiöser Vereinnahmnung. So sehr ihre Auslegung religiöse Tradition begründet, so wenig geht die Bibel selbst innerhalb dieser Tradition auf, und gerade dadurch eröffnet sie einen Freiraum zu kritischer Selbstreflexion.
Dazu Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie I, Göttingen 1988, S. 429–456. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 14. Aufl., München 1990 [1951], S. 191. 6 Eberhard Jüngel: Gott − um seiner selbst willen interessant. Plädoyer für eine natürlichere Theologie, in: ders.: Entsprechungen: Gott, Wahrheit, Mensch, 2. Aufl., München 1986 [1980], S. 193–197. 4 5
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Auf der systematisch-philosophischen Seite verband sich mit der Wende hin zu einer nach-theistischen Theologie das Interesse an Entwürfen, die ihrerseits den Gottesgedanken in kritischer Auseinandersetzung mit den großen Metaphysiken der westlichen Geistesgeschichte behandeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die theologische Auseinandersetzung mit dem Werk Alfred North Whiteheads. Diesbezüglich lassen sich grundsätzlich zwei Schulrichtungen unterscheiden7: 1. die Empirical Whitehead School, die vor allem Whiteheads Kultur- und Religionsphilosophie zur Grundlage einer empirischen, erfahrungsorientierten Theologie machte8, und 2. die sog. Prozeßtheologie, die Whiteheads metaphysisches Schemas aus ›Prozeß und Realität‹ in das Gerüst einer Dogmatik zu überführen suchte.9 Die folgenden Überlegungen werden sich weitgehend am Modell der empirisch-theologischen Whitehead-Rezeption orientieren. Genauer soll nach dem Ertrag von Whiteheads Gotteslehre für eine nach-theistische Theologie gefragt werden.10 Das Interesse richtet sich hierbei nicht auf die häufig gestellte, m.E. allerdings wenig ertragreiche Frage, inwiefern Whiteheads Gott auch der Gott christlicher Theologie ist oder sein könnte.11 Vielmehr soll es darum gehen, an welcher ›Stelle‹ menschlicher Erfahrung Whitehead den Gottesgedanken ins Spiel bringt, inwiefern Gott also innerhalb menschlicher Erfahrung vorkommt. Wie bereits angedeutet, bezeichnet der Begriff der Kreativität diese Schnittstelle, an der sich menschliches und göttliches Handeln berühren und zugleich voneinander unterscheiden.
2. Die Kunst der Vernunft und die Poesie Gottes Ein bloß blindes Streben wäre immer ein Zufallsprodukt und könnte uns nicht weiterbringen. Neben ihm bemerken wir in unserem Erleben Vernunft und spekulative Phantasie am Werk, das Unterscheiden zwischen Strebungen nach Angemessenheit oder Unangemessenheit. Die Herrschaft der Vernunft ist schwankend, ungesichert, häufig verdunkelt und verdrängt. Aber es gibt sie. (FV 73)
Dazu der Überblick bei Michael Welker: Universalität Gottes und Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozeßdenken nach Whitehead, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1988 [1981], S. 138–140. 8 Ausgehend von der Chicago Divinity School und dem Union Theological Seminary in New York; unter den Hauptwerken sind zu nennen Henry N. Wieman: The Source of Human Good, Carbondale, Edwardsville 1946; Daniel D. Williams: God’s Grace and Man’s Hope, New York 1949; Bernard E. Meland: Fallible Forms and Symbols. Discourses on Method in a Theology of Culture, Philadelphia 1976. 9 John B. Cobb / Daniel R. Griffin: Process Theology. An Introductory Exposition, Philadelphia 1976. 10 Im Sinne sprachlicher Kohärenz wird im folgenden aus den deutschen Übersetzungen zitiert: Prozeß und Realität [PR], Frankfurt/M. 1979; Die Funktion der Vernunft [FV], Stuttgart 1974; Wie entsteht Religion? [WR], Frankfurt/M. 1985; Wissenschaft und moderne Welt [WMW], Frankfurt/M. 1984. 11 Dazu der kritische Rekonstruktionsversuch von Ingolf U. Dalferth: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, S. 153–191. 7
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Whitehead hat sich in Vorträgen wie in Büchern immer wieder fasziniert gezeigt von der Einfachheit der Beobachtungen, die am Anfang großartiger Erfindungen und Entdekkungen stehen. Amerika, seit 1924 seine Wahlheimat, wurde nicht entdeckt, weil eine Horde tatendurstiger Kreuzritter in See stach, sondern weil einzelne, sensible Geister mit wenig mehr als ihren eigenen Augen die Sternkonstellationen beobachteten, Schiffssegel am Horizont verschwinden sahen und daraus andere Schlüsse zogen als Andere. Der erste Funke der Relativitätstheorie glimmte nicht in aufwendigen Forschungslabors, sondern in einem Berner Patentamt. Weder Galileis noch Einsteins erste Wahrnehmungen waren, was ihre Experimentiertechnik oder die Präzision ihrer Apparate anging, an ihre Zeit gebunden. Vielleicht wurden sie zuvor oft und oft gemacht (WMW 139) und haben kühne Geister zu Schlußfolgerungen geführt, die weit über den Stand des Wissens ihrer Tage hinausreichten. Jedoch brauchte es Zeit, geschichtliche Zeit, damit aus diesen Ideen Erfahrungswirklichkeit werden konnte. Um nach Amerika zu fahren, bedurfte es Schiffe, die ihr Ziel nicht nur zufällig erreichten, und, um die Lichtgeschwindigkeit zu messen, einer entsprechend fortgeschrittenen Technologie. Und beides war jeweils erst ab einem bestimmten Stadium der Geschichte gegeben. Ideen bilden sich, schwimmen im Strom der Geschichte eine Zeit lang mit, geraten wieder in Vergessenheit oder finden Umgebungen vor, die ihnen den Zugang zu wirklichen Welten eröffnen. Das heißt − für Whitehead entscheidend − nicht, daß die geschichtlichen Prozesse der Natur oder der Zivilisation selbst diesen Ideen genau dann zu allgemeiner Wirksamkeit verhelfen, wenn auch die Bedingungen für sie geschaffen sind. Es gibt Gedanken, die vielleicht nie gedacht werden, obwohl sie gedacht werden könnten, und es gibt Ideen, über die die Geschichte hinweggeht. Man sagt von Michelangelo, er habe nicht wirklich sich für den Schöpfer seiner Skulpturen gehalten, sondern sei überzeugt gewesen, er hätte sie nur aus dem Stein herausgehoben, in dem sie von jeher unerkannt schlummerten. Whitehead hätte diesen Gedanken intuitiv ansprechend finden können, ihn aber auch an entscheidender Stelle abgewandelt: Michelangelos David verbarg sich nicht schon seit Urzeiten im Stein; seine Schemen entwickelten mit dem ästhetischen Empfinden und Lebensgefühl der Renaissance ebenso wie durch den kommerziellen Abbau von Marmor, die Verwendung von Fein- und Polierwerkzeug und das Mäzenatentum reicher Handelsfamilien. Erst aus dieser Fülle spezifischer Umstände und Einflüsse im konkreten Prozeß der Wahrnehmung durch einen Michelangelo als (in Whiteheads Sprache ausgedrückt) »actual entity« (»wirkliches Einzelwesen«) entstand das Kunstwerk, − wobei Whitehead auch zu bedenken geben würde, daß in den Steinbrüchen von Carrara nicht wenige ums Leben kamen und Michelangelos David ein wenigstens ambivalentes Ideal von Schönheit und Männlichkeit auf den Sockel brachte. Theoretisch könnte Geschichte ablaufen, ohne daß etwas geschieht, das »von Bedeutung« ist (PR 306). Im Gegensatz zu vielen Bewunderern wie Kritikern hat Whitehead sein Verständnis von Prozeß nicht mit der Vorstellung von zivilisatorischem oder evolutionärem Progreß verglichen oder verwechselt. Die uns geläufige Rede von biographischen, historischen und evolutionären Prozessen, die diese semantische Färbung häufig besitzt, entspricht durchaus nicht Whiteheads metaphysischem Prozeßbegriff. Das Werden und Vergehen wirklicher Einzelwesen in Gestalt von Prozessen ist das Konstituti-
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onsprinzip der Wirklichkeit. Das allerdings sagt noch nichts über deren Art und Qualität aus. Ob sich in ihnen Freiheit oder Tyrannei herausbildet, verstetigt, wieder verlorengeht oder ewig im Reich reiner Möglichkeit bleibt, wird durch das metaphysische Schema allein weder vorausgesagt noch festgelegt. Dieses interpretiert, rekonstruiert und kritisiert, und indem es dies tut, kann es Möglichkeitshorizonte miteinander vergleichen, kann stabile und labile Erfahrungskonstellationen einander gegenüberstellen und daraus Schlüsse ziehen, vielleicht auch Prognosen und Empfehlungen wagen, aber es muß gewahrt bleiben, daß all dies den Anspruch von Wahrscheinlichkeiten, nicht von Notwendigkeiten hat. Whiteheads Denken sensibilisiert dafür, daß schöpferische, lebensförderliche Errungenschaften in Natur und Geschichte hochgradig gefährdet und störanfällig sind und ihre Aussicht auf Bestand eher im Bereich der Wahrscheinlichkeit als in dem der Notwendigkeit anzusiedeln ist. Wie aber kommt es doch und dennoch dazu, daß etwas ›von Bedeutung‹ ist und daß ihm in und trotz aller Unwahrscheinlichkeit und Fragilität doch Perseveranz beschieden sein kann? Es fällt an den Werken der reifen Schaffensphase Whiteheads auf, daß häufig, wenn Fragen dieser Art im Horizont der Theorie auftauchen, seine Sprache ästhetisierend poetische Züge annimmt. In der Tat war Whitehead der Meinung, daß poetische Einsichten eine besonders sensible, pervasive Form phantasievoller Verallgemeinerung darstellen (PR 42). Das hat allerdings nicht zur Folge, daß das Zustandekommen von Bedeutung eine privilegiert ästhetische Aufgabe wäre. Es ist vielmehr bemerkenswert, daß der poetische Sprachgestus gerade dann verstärkt begegnet, wenn Whitehead sein Verständnis einerseits von Vernunft und andererseits von Gott darlegt. Das gibt bereits einen Hinweis darauf, daß die Rede von Vernunft und von Gott dort ihren Platz hat, wo es um Prozesse geht, deren Erfüllung keineswegs selbstverständlich zustande kommt, die vielmehr mit hoher Kontingenz belastet und von daher dem Risiko des Mißlingens ausgesetzt sind. Anders betrachtet heißt dies, daß das Vorhandensein von Vernunft und von Gott keineswegs die Emergenz von Bedeutung garantiert. Aber insofern man sich darauf einläßt, in das Interpretationsschema von Erfahrung auch einen Begriff von Vernunft und von Gott einzubeziehen, kann eine Theorie, die ein Interpretationsschema von Erfahrung bereitstellen will, den Versuch unternehmen zu beschreiben, warum nicht nur etwas geschieht, sondern warum bestimmten Prozessen und Ereignissen Qualitäten wie Bedeutung, Wahrheit und Sinn zugeschrieben werden. Die Zusammengehörigkeit der Begriffe Gott und Vernunft wird bei Whitehead dadurch erkennbar, daß sie semantisch einander ergänzen: die Funktion der Vernunft besteht nach Whitehead darin, »daß sie die Kunst zu leben fördert« (FV 6, Herv. AS), sie ist also eine Kunstlehre, und es ist Gott, der als »Poet der Welt« (PR 618) dieses Leben zum Kunstwerk macht. Es sind durchaus nicht nur pathetische Floskeln, wenn Whitehead vom »Abenteuer der Vernunft« spricht oder von Gottes zärtlicher, umhegender Fürsorge für die Welt, die von seiner sonst hochgradig formalisierten Theoriesprache abstechen, sondern dies sagt etwas über die Art der Prozesse aus, insofern diese durch den Einfluß der Vernunft und die Wirksamkeit Gottes qualifiziert sind. Es ist wichtig festzuhalten, daß weder der Gottes- noch der Vernunftbegriff zum Kernbestand von Whiteheads metaphysischem Instrumentarium gehören. Zwar taucht
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der Gottesbegriff in Process and Reality mit hoher Frequenz auf, systematisch steht er jedoch unter den »abgeleiteten Begriffen« (PR 79–82) und damit außerhalb von Whiteheads Kategorienschema. Wir werden dies im folgenden so verstehen, daß man Erfahrungsprozesse interpretieren kann, ohne dabei zwangsläufig einen Gottesbegriff einführen zu müssen. Das gilt ebenso für die Vernunft. Überhaupt spricht Whitehead nur an zwei Stellen in Prozeß und Realität von Vernunft und dort in jeweils unspezifischer Weise (PR 332.611). Innerhalb des philosophischen Diskurses über Whitehead wurde die systemische Zusammengehörigkeit von Gott und Vernunft bislang wenig beachtet. Häufig wird die kleine Schrift Die Funktion der Vernunft, die im selben Jahr wie Prozeß und Realität erschien, als leichter verständliche Einführung in das Hauptwerk gesehen − analog zum Verhältnis etwa von Kants Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena. So kann man sie in der Tat auch lesen und verwenden. Dabei bleibt dann allerdings verborgen, daß darin zugleich das gesamte metaphysische System unter einer Reihe bestimmter Fragestellungen eigens reflektiert wird: Wie kommt es eigentlich, daß wir in bestimmten Prozessen die Emergenz von Innovation und Kreativität wahrnehmen, während sich in anderen eher Gleichklang und Routine ausdrücken? Wie kommt es, daß wir mit Vergangenheit (unsere eigene, die unserer Vorfahren oder eines ganzen Kulturkreises) meist das bezeichnen, was uns prägt und zu einem bestimmten Grad determiniert, während Zukunft meist für die offenen Horizonte von Möglichkeiten steht? Warum und wann schließlich nutzen Lebewesen diese Innovationsquellen von Möglichkeiten − und warum tun sie dies in bestimmten Fällen gerade nicht? All dies sind Fragen, die sich nicht auf dem Weg einer rein formalen Analyse von Erfahrungsprozessen beantworten lassen. Sie fragen nach der Bedeutung von Wahrnehmungsprozessen und schließen damit bestimmte Wertungen ein. Die Rede von Gott und von Vernunft nimmt Whitehead genau unter dem Aspekt solcher Wertungen auf. Man kann daraus schließen, daß Whitehead über den Gottes- und den Vernunftbegriff sowie deren Verbindung im Begriff der Religion seinem metaphysischen Schema einen eigenen Interpretationsrahmen geschaffen hat. Anders gesagt: Seine Metaphysik als allgemeines Schema der Interpretation von Erfahrung wird auf diese Weise selbst in einen spezifischen Interpretationszusammenhang gestellt − dem von Wert und Bedeutung. Dem werden wir im folgenden anhand einer Analyse von Die Funktion der Vernunft, Wie entsteht Religion? sowie der Gotteslehre aus Prozeß und Realität nachgehen.
3. Vernunft versus evolutionärer Idealismus Vernunft bezeichnet nach Whitehead die Kunstfertigkeit, sich unter solchen Bedingungen ein Leben einzurichten, deren Einfluß man sich zunächst willkürlich ausgesetzt findet, deren kreative Bearbeitung und Veränderung nach eigenen Bedürfnissen und Bestrebungen aber möglich ist. Jede Spezies organischer wie anorganischer Natur muß auf die eine oder andere Weise über diese Kunstfertigkeit verfügen, wenn sie sich nicht mit jeder leisen Veränderung in ihrer Umgebung bereits existentiell in Frage gestellt finden
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will. Vernunft ist damit kein Merkmal allein menschlicher oder vom Menschen geschaffener künstlicher Intelligenz, sondern man wird sie, nach Whitehead, überall im Universum finden können und sie wird jeder Spezies und jeder Einzelentität abverlangt. Die höheren Lebewesen haben sich immer stärker der Aufgabe zugewandt, die Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Sie haben Nester gebaut und komplizierte Behausungen und Kolonien angelegt. … Die einfacheren Organismen lassen ihre Nahrung in ihr Inneres hineinschwimmen. Die höheren suchen und jagen ihre Nahrung, fangen und zerkleinern sie – und passen so die Umwelt ihren eigenen Zwecken an. (FR 8 f., Herv. AS) Anpassung als Form rationalen Handelns ist demnach ein Vorgang, in dem gleichzeitig zwei Bezugsrichtungen angelegt sind: das Sich-selbst-Anpassen und das Sich-etwasAnpassen. Man kann die natürlichen Arten dann grundsätzlich dadurch klassifizieren, daß man das Verhältnis der beiden inversen Richtungen bestimmt. Ein sandfarbener Plattfisch am Meeresgrund wird eher am Pol der Selbstanpassung zu verorten sein, eine Spezies, die eine Stadt auf Pfählen in eine Lagune setzt, eher am anderen Ende des Spektrums − aber dennoch ist selbst die Nahrungsaufnahme einer Flunder immer auch ein aktiver Eingriff, nicht nur ein Akt der Adaption an eine Umgebung, und umgekehrt kam man eben nicht ohne Pfähle aus, um Venedig über Wasser zu halten. Jeder Kontakt mit einer Umgebung enthält nach Whitehead beides: ein adaptives und ein kreatives Element, d. h. aber auch, daß in jedem solchen Kontakt ein wie auch immer minimales Moment der Zweckorientierung eingeschlossen sein muß. Dazu ersetzt Whitehead den, wie er sagt, »liturgischen Refrain« (FR 9) Darwins vom Überleben des am besten Angepaßten durch ein in drei Kategorien aufgefächertes Bestreben: Jeden unserer Kontakte mit der Außenwelt sieht er charakterisiert durch das Verlangen 1. zu überleben, 2. gut zu leben und 3. besser zu leben (FR 9). Damit meint er allerdings kein bloßes Steigerungsschema, das vom schieren Überleben zum immer besseren Leben aufsteigt und etwa die Spezies Mensch aus dem Neandertal heraus in den Genuß von klimatisierten Eigenheimen gebracht hat. In jedem Handlungsakt sind vielmehr alle drei Komponenten in unterschiedlicher Gewichtung enthalten: − Überleben bezeichnet die Fähigkeit, die Beziehung zu unserer Umwelt so zu gestalten, daß sie unseren physischen wie psychischen Bedürfnissen entgegenkommt. Dies kann sich auf sehr elementare Bedürfnisse beziehen, indem wir beispielsweise eine Pflanze als Nahrungsmittel ausmachen, oder auch auf sublimere Formen wie die Betrachtung eines Kunstwerks, aus der wir geistige Inspiration beziehen. − Gut zu leben heißt weiterhin, daß wir uns eine allgemeine Methode ersinnen, ein Nahrungsmittel nicht nur zu finden, sondern es anzubauen, Schönheit nicht nur zu empfinden, wenn sich Schönes darbietet, sondern diesem selbst Ausdruck zu verleihen. Hans Blumenberg hat dies einmal sehr nahe an Whiteheads Begrifflichkeit ausgedrückt, wenn er schreibt: »Wenn es Formen gewagterer Existenz als die der bäuerlichen gibt, liegt dies an dem Streben nach Zugewinn des besseren Lebens über die bloße Sicherung des Überlebens hinaus. So sieht es Hesiod, wenn er den Bauern,
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der nebenher noch ein wenig Schiffahrt auf der Ägäis betreibt, sich mit der ungewisseren Herrschaft des Erderschütterers Poseidon einlassen läßt.«12 Hinter dem Willen zu überleben und gut zu leben erkennt Whitehead zugleich zwei unterschiedliche Formen der Vernunft, − typisierend gesprochen: die Vernunft Platons und die Vernunft des Odysseus (FR 11) − »Die Vernunft des einen ist mit der der Götter verwandt, die des anderen mit der Schlauheit der Füchse« (ebd.). Während die eine die Chancen des Augenblicks erfaßt und danach handelt, zielt die andere auf Verläßlichkeit, auf zeitübergreifende, nicht-situationsgebundene Erkenntnis. Während Odysseus erst von den Phäaken zur Circe, von da in die Unterwelt und schließlich zwischen Scylla und Carybdis hindurchsegeln muß, um nach Hause zu finden, hätte Platon eine Seekarte verwendet, hätte dabei aber auch ungleich weniger Erfahrung gemacht und wäre dabei nie »in das Revier eines anderen Gottes« vorgedrungen.13 Faktisch treten beide Formen der Vernunft nie ohne einander auf. Abstraktes Wissen bedarf des konkreten Erlebens, wenn es nicht in seiner Abstraktheit letztlich unwirklich bleiben soll, und umgekehrt braucht die Vernunft, die die Situation und den Augenblick erschließt, ein allgemeines Erkenntnisraster, um nicht ins bloß Sporadische und Episodische zu verfallen. »Wir alle fangen als gute Empiristen an« (FR 12), aber auch der beste Empirist muß ein Minimum an methodischer »Rahmung« (»framing«) in seine Wahrnehmung einbringen, muß intentionale Bezüge herstellen, die sich nicht allein aus der Beobachtung ergeben. Die pragmatisch-odyssenische und die spekulativ-platonische Vernunft sind Eigenschaften jeder organistischen Einheit. Das Wechselspiel dieser beiden Formen von Vernunft bildet, so beobachtet Whitehead, in der Natur feste Resonanzverhältnisse. Ökologische Nischen werden dadurch besetzt, daß eine Spezies sich ihren Lebensraum systematisch einrichtet, das pragmatisch Naheliegende und das spekulativ Wahrscheinliche so aufeinander abstimmt, daß Orientierungen in zunächst als kontingent wahrgenommenen Umgebungen möglich werden. Diese Abstimmung kommt, Whiteheads These nach, nun allerdings nicht ohne eine Zweckvorgabe aus: Das gesamte menschliche Handeln wird von der selbstverständlichen Annahme beherrscht, daß das Vermögen der Voraussicht zu bestimmten Zwecksetzungen und diese Zwecksetzungen wiederum zu bestimmten Verhaltensweisen führen. In nahezu jedem Satz, den wir aussprechen, und jedem Urteil, zu dem wir kommen, wird die Beständigkeit und Gesichertheit dieser Komponente unseres Erlebens vorausgesetzt. (FR 13) Es ist leicht ersichtlich, daß die Denkfigur im Hintergrund dieser Verhältnisbestimmung von »bestimmter Verhaltensweise«, »Zwecksetzung« und »Methode« (FR 18) Whiteheads dreistufige Theorie des Erfassens ist. Dort betont er, daß bereits jeder primäre
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Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1990 [1979], S. 38. Ebd.
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Akt des Erfassen, der die Welt realer Möglichkeiten in eine subjektive Form bringt, »Rationalität« in sich birgt und dann durch die Phase der Ergänzung in ein objektives Stadium überführt wird, das zugleich wieder zu einer realen Möglichkeit für neue Erfahrungen wird. Vernunftprozesse können diesen Ablauf nun in einer Weise verstetigen, die Sicherheit bis hin zu Routine gewährleistet: Verhaltensweisen mit einer bestimmten Zwecksetzung führen zur Annahme objektiver Sachverhalte, die rekursiv wiederum Verhaltensweisen konditionieren. Bestimmte Verfahrensweisen bewähren sich, erfüllen ihren Zweck und geben daher Anlaß zur Wiederholung. Allerdings liegt in der Einrichtung von Kontinuität auch eine Gefahr. Alles, was ausgehend von einem bestimmten Erfahrungszusammenhang zur Methode verdichtet wird, ist zwangsläufig eine Abstraktion, denn gegenüber dem ursprünglichen Erfahrungsbereich, aus dem eine Methode erwuchs, hat sich die Welt realer Möglichkeiten für jede neue Erfahrung verändert. Keine Konstellation von Möglichkeiten kehrt in genau derselben Weise wieder, in der sie sich einmal dargeboten hat. ›Man steigt nie zweimal in denselben Fluß‹ − diese heraklitische Grundannahme ist auch für Whitehead gültig. Die Welt der Möglichkeiten ist durch subjektive Aneignungen, durch die Konkreszenzen in der aktuellen Welt in wie minimaler Weise auch immer umgestaltet worden. Eine Methode, wenn sie einmal dazu geworden ist, ›paßt‹ kein zweites Mal exakt. Das kann ihr zum Vorteil wie zum Nachteil gereichen. Sie kann unter veränderten Ausgangspunkten verbessert, erweitert werden, kann im Sinne phantasievoller Verallgemeinerung Erfahrung reicher und vielschichtiger erschließen − oder aber sie kann zu Fehlabstraktionen führen, kann realitätsfern gewordene Sicherheiten mit der Aura des Bewährten und ewig Gültigen suggerieren. »Jede Methode hat ihre Lebensgeschichte« (FR 18), d. h. sie hat einen Anlaß, aus dem sie hervorgeht, sie hat eine Phase der maximalen Entfaltung ihrer Erhellungskapazität, aber jede wird auch einmal an einen Punkt geführt, an dem sie »ermüdet« (FR 21–23). Diese »Lebensgeschichten« sind zwar im einzelnen von ganz unterschiedlicher Dauer. Seit Jahrmillionen kehren die Lachse mit einem inneren Kompaß ausgestattet in die Flüsse ihrer Geburt zurück, während die Wertpapiernotierungen von gestern heute schon keinerlei Orientierung der Märkte mehr vorgeben. Aber jede Methode erreicht den Punkt, an dem sich der Horizont realer Möglichkeiten so weit verschoben haben wird, daß sie ihren Zweck verfehlt und bei weiterer Verwendung vielleicht zum Untergang der Art führt. Die Differenz zwischen den beständig im Fluß befindlichen Welten realer Möglichkeiten und den vergleichsweise festen Abstraktionen, mit denen wir zur Verstetigung unserer Erfahrung gelangen, bezeichnet nun zugleich den Punkt, an dem der Übergang vom guten zum besseren Leben für Whitehead zum Thema wird. Die Funktion der Vernunft in ihrer vollen Gestalt richtet sich nicht nur darauf, die Rationalität gegenwärtigen Wahrnehmens aufgrund ihrer Zweckgerichtetheit mit abstraktionsfähigem Wissen auszustatten, sondern sie muß in diese Abstimmung zugleich die Sensibilität für die Transformation der Methode selbst einbringen, d. h. in Whiteheads Diktion: sie muß auf das »urteilsmäßige Erfassen aufblitzender Neuheiten« gerichtet sein (FR 19):
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Wo eine Lebensform sich stabilisiert hat, gibt es keinen Platz für die Vernunft; und die beherrschende Methode bringt nichts Neues mehr hervor, sondern nur noch Wiederholungen. Die Vernunft ist das Organ, das das Neue hervorhebt. Sie gibt dem in der Idee Verwirklichten durch ihr Urteil den Nachdruck, mit dessen Hilfe es zur Verwirklichung in der Zielsetzung und schließlich zur Verwirklichung des Faktischen kommt. (FR 19 f.) Es ist mißverständlich, wenn Whitehead an dieser Stelle in der Stabilisierung einer Lebensform der Vernunft keinen eigenen Platz einräumt. Tatsächlich ist sie seinen eigenen Kriterien nach konstitutiv für diese Stabilisierung. Es wird aber gleichzeitig deutlich, daß er die Auffächerung seines Vernunftbegriffes nun um eine dritte Komponente ergänzt: neben ihrer odyssenischen und ihrer platonischen Funktion ist die Vernunft auch die Instanz, der die Wahrnehmung von Neuheiten als Innovationsmöglichkeiten für eine Lebensform obliegt.14 Diese Komponente der Vernunft kommt zum Tragen, wenn die Methoden des Überlebens und des guten Lebens »ermüden«, wenn deren Orientierungsangebote an Realitätsnähe einbüßen. Sie bildet ein »Gegen-Agens« (FR 24. 26), das der Tendenz zur Ermüdung mit einem Streben nach »Aufstieg« (FR 28) dadurch begegnet, daß es in sich wandelnden Umgebungen neue Optionen der Anpassung an diese Umgebungen oder der Anpassung dieser Umgebungen an die eigenen Zwecksetzungen eröffnet. Das »bessere Leben« besteht in solchen gelingenden Gegensteuerungen, in gleichsam kreativen Widerständen gegen eine Monotonie der Abstraktionen, die sich vor den Herausforderungen beständig im Wandel begriffener Umgebungen verschließen. In der Funktion eines kreativen Widerstandes kommen der Vernunft diejenigen Eigenschaften zu, die in Whiteheads Kategorienschema mit dem Begriff des »Kontrasts« und der daraus gewonnenen Vorstellung der Intensitätssteigerung von Erfahrung bezeichnet sind. In seinem Phasenmodell der Wahrnehmung hatte er die Fähigkeit, Kontraste zu erzeugen, als die am höchsten entwickelte Form des Bewußtseins interpretiert. Entsprechend liegt in ihrer kreativen Widerständigkeit die Vernunft in ihrer ausgeprägtesten Gestalt vor. Wo sie nur rudimentär ausgebildet ist oder wo sich eine Lebensform nicht zum »Abenteuer entschließen« kann (FR 19), ist ihre Lebensfähigkeit insgesamt in der von Whitehead definierten Vollform als Überleben, gutes und besseres Leben gefährdet. Eine Spezies, die an konstante klimatische Bedingungen gebunden ist, verfügt über ein geringeres Maß an kreativer Vernunft als eine, die ihren Lebensraum vom Wasser ans Land oder umgekehrt verlegen kann. Whitehead suggeriert gelegentlich, daß die drei Formen der Vernunft zugleich auf unterschiedliche evolutionäre Stufen zu verteilen wären (FR 35. 38 f.) und die speku14 Whitehead spricht meist nur von zwei Formen der Vernunft, einer praktischen und einer spekulativen (FV 35. 37), letztere wiederum unterteilt er, jedoch begrifflich nicht fest fixiert, in zwei Funktionsweisen (FV 69). Dem stehen jedoch die drei Lebensformen des Überlebens, des guten und des besseren Lebens gegenüber, die jeweils von einer dieser Formen der Vernunft bestimmt werden. Diese systematische Inkonsistenz wird im folgenden durch die Rede von drei interdependenten Formen der Vernunft ausgeglichen − einer pragmatischen, einer spekulativen und einer kreativen.
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lativen Anteile der Vernunft erst ein Ergebnis der Zivilisationsgeschichte der Menschheit darstellten. Innerhalb dieser Zivilisationsgeschichte sind es dann noch einmal die letzten 200 Jahre, denen – gegenüber allen vorangegangenen Stadien der Geschichte – der exponentiell angestiegene wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt aufgrund der optimierten Abstimmung dieser drei Formen zu verdanken sei (FR 37). Das legt mitunter den Verdacht nahe, als sei der Prozeßmetaphysiker Whitehead gegen eigene, bessere Einsichten doch auch ein, aus heutiger Sicht wohl naiv zu nennender Geschichtsidealist gewesen. Inwiefern er dies auch war, mag hier dahingestellt sein. Es ist jedoch ein eigentümlicher Zug des Whiteheadschen Denkstils, daß die Entfaltung und Explikation einzelner Teilbereiche seiner Theorie immer wieder in Gestalt ideengeschichtlicher Analysen durchgeführt wird. ›Wissenschaft und moderne Welt‹ ist das beste Beispiel für dieses Vorgehen. Dabei geht es nicht wirklich darum, einen historischen Anspruch zu erheben. Wenigstens für die von Whitehead herangezogene Phase von der Antike bis in die Moderne soll gerade nicht behauptet werden, daß sich die Prozesse, in denen Erfahrung und Erkenntnis gebildet werden, grundlegend verändert hätten. Auch das Aufkommen von Technologie und Medien hat Whiteheads Einschätzung nach daran nichts geändert. So ist es nicht die Erkenntnis, die als Geschichte evolviert, wohl aber sind es die daraus gewonnenen Erkenntnisse, die die Geschichte in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichem Richtungsverlauf vorangebracht haben. Für das Verständnis von Whiteheads Theorie der Vernunft bedeutet dies, daß die Vernunft zunächst nicht nur in ihrer pragmatischen, dann in ihrer spekulativen und schließlich auch in ihrer kreativen Gestalt auftritt, vielmehr ist Vernunft − historisch wie systematisch − immer durch das Zusammenwirken aller drei Komponenten gekennzeichnet. Sie richtet sich auf die Abstimmung der Wechselwirkungen zwischen unseren situativen Urteilen, unseren allgemeinen Annahmen und der kreativen Wahrnehmung von Differenz. Denkt man Whiteheads Ansatz weiter, dann ist zunächst von Belang, daß jede Komponente für sich allein betrachtet sinnlos ausfiele: situatives Urteilen wäre beliebig und willkürlich − es spielte keine Rolle, ob wir so oder so urteilten, denn nichts könnte gewährleisten, daß wir im nächsten Augenblick nicht schon alles wieder mit ganz anderen Augen und unter ganz anderen Voraussetzungen wahrnähmen. Erkenntnis ausschließlich allgemeinen Annahmen zu unterstellen würde andererseits bedeuten, in einem Zustand andauernder Abstraktion zu verharren, die Welt nur als Rauschen wahrzunehmen, dem wir unsere Annahmen überstülpen, ohne dabei überhaupt zu wissen, wovon wir eigentlich abstrahieren. Kontrastive Kreativität schließlich bedarf schon per definitionem eines Standortes; sie erschließt sich in einem Spannungsfeld, das fixiert sein muß, wenn Differenzsensibilität nicht nur in der diffusen Begeisterung für die Andersartigkeit des Anderen aufgehen soll. Gleichwohl erlaubt dieses triadisch-dynamische Modell von Vernunft durchaus unterschiedliche Akzentuierungen innerhalb der Wechselwirkungen der Teilkomponenten. Den Reichtum und die Komplexität einer Situation zu erfassen, kann bedeuten, diese zunächst auf sich wirken zu lassen und das Einfließen spekulativer und kontrastiver Elemente zu minimieren. Man kann hierbei an den Genuß eines guten Essens denken,
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der eher gemindert als verstärkt wird, wenn man gleich zu der Frage übergeht, welches Rezept verwendet wurde und wie man dieses noch verfeinern könnte. Ein anderes Beispiel wäre das Zuhören in einem persönlichen Gespräch, das eines Sich-aufeinander-Einlassens der Gesprächspartner bedarf und durch Typisierungen (›das habe ich auch schon oft erlebt‹) oder gutgemeinten Rat von außen sofort an Intensität verlieren würde. Die Präponderanz allgemeiner Annahmen andererseits kann sich dann als vernünftig erweisen, wenn es um Routinen und Gewohnheiten geht, die uns das Leben erleichtern, es uns erlauben, die Komplexität, die in jeder Wahrnehmung angelegt ist, zu reduzieren, statt sie immer wieder neu bewältigen zu müssen. Es wird dann aber immer wieder Gelegenheiten geben, in denen wir den Intensitätsverlust, der jede Gewohnheit und Routine einmal einholt, gezielt mit Kontrasten konterkarieren. Das heißt für Whitehead allerdings nicht, daß sich die Akzentuierung unseres Vernunftgebrauches von dem Gegenstand her ergibt, auf den sich unsere Wahrnehmung richtet. Ein und dieselbe Wahrnehmung kann von jeder der drei Formen der Vernunft aufgenommen werden: ob wir ein Gemälde von Dali um eines ästhetischen Erlebens willen betrachten, es als Repräsentant einer bestimmten Kunstrichtung einordnen oder dessen surrealistische Form- und Farbarrangements als kreative Ressource unserer allgemeinen Form- und Farbwahrnehmungen ausschöpfen, hängt von den Bedürfnislagen und den Zweckbindungen ab, die jede unserer Wahrnehmungen begleiten.
4. Gott und Vernunft Nach den bisherigen Überlegungen zu Whiteheads Verständnis von Vernunft ist diese in ihrer kontrastiv-kreativen Gestalt zugleich für die Wahrnehmung von Neuheit maßgeblich. Sachlich analog kann Whitehead auch sagen, daß die Vernunft Zukunft eröffnet: Es gehört zum Wesen [der] Spekulation, daß sie über die unmittelbar gegebenen Tatsachen hinausgeht. Ihre Aufgabe ist, das Denken schöpferisch in die Zukunft wirken zu lassen; und sie erfüllt diese Aufgabe durch das Erschauen von Ideensystemen, die das Beobachtete umfassen, aber über seine Grenzen hinaus verallgemeinert sind. (FR 67) Dabei fällt nun auf, daß die Verbindung von Neuheit und Zukunft den Begriff der Vernunft bei Whitehead in einen Verweisungszusammenhang mit seinem Gottesbegriff bringt. Auch von Gott kann Whitehead sagen, daß es ohne ihn nichts wirklich Neues gäbe (PR 306) und daß wir ohne Gott nicht in der Lage wären, auch nur einen Schritt über den Hort unserer Gegenwart hinaus zu tun (WR 62), − was nicht heißt, daß wir ohne Gott im Grunde gar nicht lebensfähig wären. Es ist für Whitehead vorstellbar, daß wir einen Tag durchleben, ohne daß etwas Neues geschehen und ohne daß dabei ein Schritt von der Gegenwart in die Zukunft getan werden müßte. Auch hier ist nochmals daran zu erinnern, daß Whiteheads Gotteslehre keine ontologische Begründung der Wirklichkeit zum Ziel hat. Er behauptet allerdings, daß Aussa-
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gen über Neuheit und Zukunft, insofern diese anhand seines metaphysischen Schemas getroffen werden, der Interpretamente ›Gott‹ und ›Vernunft‹ bedürfen. Das bestätigt zunächst unsere Ausgangsthese, daß Vernunft und Gott in Whiteheads Denken einander systematisch zugeordnet sind und als solche einen interpretativen Rahmen seines Kategoriensystems bilden. Religion bezeichnet Erfahrungen der schöpferischen Teilnahme Gottes an den Objektivierungsprozessen, aus denen wirkliche Welten hervorgehen.15 Gott und Religion gehören untrennbar zusammen.16 Das ist der Fall, weil die Irritationen, die Whitehead als religiöse Erfahrungsmomente auszeichnet, nicht von diffusen und chaotischen Zuständen ausgehen, sondern von sinnhaft strukturierten Möglichkeiten oder wie er bevorzugt sagen kann: von Rationalitäten. Was uns irritiert, uns zur Veränderung und Anpassung unserer Lebensverhältnisse führt oder aber Immunreaktionen auslöst, sind solche Möglichkeiten, deren Rationalität nicht erst dadurch entsteht, daß sie in wirkliche Welten überführt werden, sondern daß sie als Möglichkeiten bereits in sinnhafter Weise disponiert sind. Genau diese Annahme der Sinnhaftigkeit, der rationalen Disposition möglicher Welten führt Whitehead zum Gottesgedanken. Seine Grundüberzeugung, durch die er sich insbesondere von Descartes und Kant geschieden sieht, wonach die Grenzen aktualer Wahrnehmung nicht zugleich die Grenzen sind, jenseits derer es allenfalls noch Chaos und dumpfes Rauschen gibt, macht Gott − vorsichtig gesagt − zu einer denkbaren Option jeder Kosmologie. Das heißt für Whitehead jedoch gerade nicht, daß die Sinnhaftigkeit möglicher Welten auf Gott als deren Ursprung hindeutet. Whiteheads Gott ist kein Schöpfer, der ex nihilo schafft. Sein Handeln ist weder auf einen Anfangs- noch einen Endpunkt bezogen, und Whitehead hat auch nicht versucht, seine Gotteslehre im Sinnne einer Schöpfungstheologie oder Eschatologie zu erweitern. Die Gotteslehre fügt dem Theorieganzen keine neuen Kategorien hinzu, sie thematisiert jedoch den Übergang der universalen, sinnhaften Möglichkeitshorizonte in die relativen Rationalitäten aktualer Welten. Sie ist so wesentlich mit der Bearbeitung von Asymmetrie befaßt. Eben weil mögliche Welten universal, wirkliche Welten dagegen relativ strukturiert sind, gestalten sich deren Übergänge niemals homogen. Whitehead hat m.E. im Blick auf seine eigene Theorie sensibel wahrgenommen, daß aufgrund dieser Asymmetrie nicht absehbar ist, in welcher Art und Intensität sich die Prozesse aktualer Welten für die Möglichkeitshorizonte öffnen, die sie beständig umgeben. Whiteheads viel zitiertes Diktum, Gott sei derjenige, der wirkliche Einzelwesen dazu »verlocke« oder »anreize« (»lure on«), neue Möglichkeiten in die Konkreszenzen aktualer Welten einströmen zu lassen, spitzt diese Frage zunächst noch weiter zu: Was ist es eigentlich, das das Neue als erstrebenswert und gerade nicht als bedrohlich erscheinen läßt? Dies beantwortet Whitehead damit, daß er Gott die Fähigkeit zuschreibt, universale Möglichkeiten in einer Weise darzubieten, in der sie für relativ strukturierte Welten als Roland Faber: Prozeßtheologie. Zu ihrer Würdigung und kritischen Erneuerung, Mainz 2000, S. 254–257. 16 Darauf hat im Zusammenhang der Entstehungsgeschichte von Religion in the Making besonders Lewis S. Ford: Transforming Process Theism, New York 2000, S. 41–58 hingewiesen. 15
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konkrete Ideen greifbar und zugänglich werden. Nicht alles, was hypothetisch möglich ist, ist in einer bestimmten Phase eines Wirklichkeit stiftenden Prozesses auch sinnund bedeutungsvoll. Gottes Kreativität besteht demnach in seiner Fähigkeit, das Reich der Möglichkeiten für relative Welten zugänglich, verstehbar und reizvoll zu gestalten. Diese Art kreativer Gegenwart beschreibt Whitehead mit dem Bild von Gott als »Poet«, der die Welt »mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte« leitet (PR 618), − und es ist diese »Poesie«, auf die sich die Vernunft in ihrer dritten Gestalt − als Form des »besseren Lebens« − richtet. Durch das Zusammenspiel von Vernunft und göttlicher Poesie, die je auf ihre Weise kreative Vermögen sind, kann sich Neues als etwas ereignen, das, in Whiteheadscher Terminologie, »von Bedeutung« ist.
5. Abschluß Was die Gotteslehre angeht, haben sich die hier angestellten Überlegungen hauptsächlich auf die von Whitehead sogenannte »Urnatur Gottes« (»primordial nature of God«) bezogen. Dieser »Urnatur« nach liegt Gottes Bedeutung für die Welt darin, daß ihm das Reich des Möglichen vollständig vor Augen steht, ohne daß es sich dabei schon um manifeste Realität handelt und ohne daß schon gesagt ist, ob und inwiefern diese Möglichkeiten jemals zu Realität gerinnen. Entsprechend versteht Whitehead unter der »Folgenatur Gottes« (»consequent nature of God«) diese Möglichkeiten als Teil wirklicher Erfahrungswelten − seien diese schon vergangen oder aber gegenwärtig im Prozeß des Entstehens befindlich. Ohne den Implikationen dieser Folgenatur Gottes hier noch im Einzelnen nachgehen zu können17, sei jedoch ein Aspekt erwähnt, der für die Vorstellung von Gott als Poet der Welt wichtig erscheint. Es besteht ja die Frage, wie eigentlich Gott unsere Welt wahrnimmt, der er dann das Reich universaler Möglichkeiten eröffnet. Denkbar wäre, daß er in die jeweilige relative Perspektive wirklicher Einzelwesen gleichsam ›einsteigt‹, die Welt mit deren Augen sieht und auf diese Weise Wirklichkeit erfährt und erlebt. Auf eine solche empathische Gegenwart Gottes scheint Whitehead besonders dann abzuzielen, wo er von Gott als dem »Gefährten« spricht, »der versteht« (»the fellow sufferer who understands«). Demnach übernähme Gott die begrenzten, relativen und insofern fehlbaren Perspektiven wirklicher Einzelwesen. Kohärenter mit der Vorstellung der beiden Naturen Gottes ist allerdings die Annahme, daß Gott die wirkliche Welt als Teil seiner eigenen »consequent nature« wahrnimmt. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß Gott wirkliche Einzelwesen dann nicht nur je für sich sondern als Teil der Fülle aller Wirklichkeit wahrnimmt − und damit in einer Weise, die uns gerade nicht verfügbar ist. Dies bedeutet vor allem eines: Gottes Perspektive auf uns unterliegt nicht den Beschränkungen, denen unser Wahrnehmen, Erfahren und Erinnern ausgesetzt sind. Weder vergißt Gott noch muß er sich der Abstraktionen bedienen, mit denen wir Erfahrung machen und Erfahrung binden. Als Teil seiner Folgenatur sind wir Gott 17
Hierzu verweise ich auf den Beitrag von Reiner Wiehl in diesem Band.
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demnach in einer Weise erschlossen, die uns selbst nicht unmittelbar zugänglich ist. Es ist dann aber auch diese umfassendere Wahrnehmung, auf die hin Gott uns zukünftige Möglichkeiten darbietet. Anders gesagt: in der Begegnung mit dieser Zukunft erschließt sich uns unsere eigene Vergangenheit und Gegenwart in einer nicht abgeschlossenen, sondern offenen und insoferen reicheren Weise. Gerade das Vergangene, Unerledigte oder auch Vergessene wird als Teil der Folgenatur Gottes zukunftsfähig.18 In diesem Ansatz mag auch eine Begründung dafür liegen, warum wir dem »Locken« Gottes in die Zukunft gegenüber überhaupt aufgeschlossen sind. Dabei handelt es sich nicht nur um den Reiz des Neuen um seiner selbst willen, sondern gerade um die erneute und erneuerte Begegnung mit dem, was schon hinter uns liegt und was wir aus eigenen Kräften nicht mehr zurückgewinnen oder gar ändern können. Insofern ist Whiteheads Verständnis von Kreativität nicht nur auf den Übergang von Gegenwart und Zukunft konzentriert, sondern richtet sich auf alle drei Zeitformen und damit auf ein komplexes Relationsgefüge des Erinnerns, Erfahrens und Erwartens.
Literatur Balentine, Samuel E.: Job, Smyth & Helwys Bible Commentary, Macon GA 2006 (im Druck). Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1990 [1979]. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 14. Aufl., München 1990 [1951]. Cobb, John B. / Griffin, Daniel R.: Process Theology. An Introductory Exposition, Philadelphia 1976. Dalferth, Ingolf U.: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992. Faber, Roland: Prozeßtheologie. Zu ihrer Würdigung und kritischen Erneuerung, Mainz 2000. Ford, Lewis S.: Transforming Process Theism, New York 2000. Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, Beck’sche Reihe 547, München 1998. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 5. Aufl., Tübingen 1986 [1977]. Jüngel, Eberhard: Gott − um seiner selbst willen interessant. Plädoyer für eine natürlichere Theologie, in: ders.: Entsprechungen: Gott, Wahrheit, Mensch, 2. Aufl., München 1986 [1980], S. 193–197. Meland, Bernard E.: Fallible Forms and Symbols. Discourses on Method in a Theology of Culture, Philadelphia 1976. Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie I, Göttingen 1988.
18 Dazu anregend Michael Hampe: Alfred North Whitehead, Beck’sche Reihe 547, München 1998, S. 158 f.
Gottes Poesie und menschliche Vernunft
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Der gute Wille zum Neuanfang. Eine religionsphilosophische Kategorie
Reiner Wiehl (Heidelberg)
I. Der gute Wille zum Neuanfang ist ein häufiges, wohlbekanntes Vorkommnis im menschlichen Bewußtsein. Dieses Vorkommnis zeigt eine außerordentliche Spannweite. Es reicht vom Trivialen bis zum Tiefsten und Bedeutsamsten in der menschlichen Natur. Die triviale Seite zeigt sich im bekannten Vorsatz, es heute und morgen besser zu machen als gestern und vorgestern, im Wunsche, daß es im kommenden Jahr besser werden möge als im vergangenen. Die tiefe und bedeutsame Seite des menschlichen Lebens tritt dort hervor, wo das Bewußtsein eines solchen Willens aus dem Bewußtsein einer Schuld entspringt, die am eigenen Verhalten und an eigenen Handlungen haftet und die den Rückblick auf das eigene Leben im Ganzen entscheidend prägt. Der gute Wille zum Neuanfang, der im alltäglichen Bewußtsein des Menschen vorkommt, hat eine moralische, eine rechtliche und eine religiöse Seite: eine moralische, sofern dieser Wille aus dem Schuldbewußtsein entspringt; eine rechtliche, sofern die Abbüßung einer Strafe ein Recht auf eine neue Unschuld bzw. die Wiederherstellung des Standes der Schuldlosigkeit begründet; eine religiöse, sofern es ein Schuldbewußtsein gibt, das im Gefühl der eigenen Ohnmacht gegenüber der begangenen Schuld, der Ohnmacht, Geschehenes ungeschehen zu machen, auf die Gnade einer höheren Instanz, auf Verzeihung und Erlösung hoffen läßt. All dem zuvor aber gibt es die philosophische Frage, die zunächst eine ontologische Frage ist, nämlich, ob es einen solchen Willen überhaupt in der Realität geben könne. Und diese philosophische Frage hat ihre subtilen Nebenfragen, Fragen der Differenzierung der hier angestellten Frage: Fragen wie diese, ob es ein Gutes überhaupt gebe, ob es so etwas wie einen freien Willen gebe, ja ob es überhaupt einen Willen im Menschen gebe und nicht nur den Schein von Vorsätzen, Wünschen, Vorstellungen, deren Schein genauer besehen den Charakter von Epiphänomenen einer uns entzogenen und durchgängig bestimmten Geschehensweise bildet. Zur ontologischen Fragestellung nach dem guten Willen zum Neuanfang gehört schließlich auch die Beziehung der Frage, ob es dies gibt, das Neue, den Neuanfang: eine Frage, die nach der Möglichkeit eines Anfangs überhaupt fragt, und nach der Möglichkeit eines Neuanfangs, sofern jeder Anfang von einem anderen Anfang herkommt und ein Neuanfang im Grunde nur ein Schein sein könne, angesichts der durchgängigen Herrschaft des Prinzips der Kausalität. Das Nest von Fragen, das durch die Frage nach dem guten Willen zum Neuanfang sich aufwirft, stellt die Philosophie vor eine Frage, die zu ihrem ureigensten Charak-
Der gute Wille zum Neuanfang
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ter gehört: wie sie es überhaupt mit solchen Fragen halten wolle, die – mit Kant zu reden – durch die menschliche Vernunft aufgeworfen werden, ungeachtet dessen, daß sie zumindest in einem ersten und zweiten Anlauf sich nicht beantworten lassen; ob sie wie Wittgenstein diese Fragen als belastend, als belästigend betrachtet, um deswegen Anstalten zu treffen, auf die eine oder andere Weise diese Fragen zum Verschwinden zu bringen. Oder ob sie in diesen Fragen noch so viel Wissenschaftlichkeit der Vernunft findet, daß sie selbst neugierig ist, eine Antwort auf dieselben zu finden, wie vorläufig und provisorisch auch immer. Werfen wir einen Blick auf die klassische Philosophie der Neuzeit, so finden wir einen großen Reichtum von Positionen, die sich den genannten Fragen stellen, um sie weiterzudenken, auch wenn eine endgültige Antwort ausbleibt. Wenn hier von einer religiösen Seite der Beantwortung der Fragen die Rede ist, so heißt dies, diese Beantwortung in einem Glauben zu suchen, den die neuzeitliche Philosophie in Anknüpfung an Kant den Vernunftglauben genannt hat. Der Vernunftglaube unterscheidet sich vom Wissen der Vernunft dadurch, daß er an ein Sein bzw. an eine Existenz glaubt, deren Dasein durch keine Macht der Vernunft zu beweisen ist, der aber auf der anderen Seite eine Bedeutsamkeit für die Vernunft enthält, die den Glauben an dieses Sein unvermeidlich macht. Der klassische philosophische Autor in Sachen des guten Willens ist Kant. Aus der Sicht des Beweisganges der Kritik der reinen Vernunft läßt sich so viel sagen, daß dieser gute Wille in seiner Existenz – analog zur Existenz Gottes – weder beweisbar noch widerlegbar ist. Freiheit – ein anderer, ein erhabener Name für diesen guten Willen – ist die Fähigkeit, eine Reihe von Ursachen ohne Rekurs auf vorangehende Ursachen anzufangen, also eine neue Folge von Ursachen zu stiften. Und diese Möglichkeit eines neuen Anfangs kann durch keinerlei Beweismittel, die unserer Erfahrungswelt entnommen sind, widerlegt werden. Kants praktische Philosophie ist eine transzendentale Analyse dieses guten Willens – transzendental in dem Sinne, daß immer offen bleibt, ob es einen solchen Willen in unserer menschlichen Lebenswirklichkeit überhaupt gibt; und weiterhin transzendental, sofern die Analyse all das zutage fördert, was wir als untrennbar mit einem solchen hypothetisch angenommenen Willen verbunden denken müssen: also vor allem einen notwendigen Bezug zur Idee des Menschen als Selbstzweck und zur Idee einer einheitlich vorgestellten Menschheit. Kants praktische Philosophie ist eine transzendentale Analyse des guten Willens, und sie begreift diesen Willen als Ursache einer Handlung, die ihrerseits – dank ihrer Ursache – als gut beurteilt werden muß. Kant hat selbst eine Fortsetzung seiner transzendentalen Analyse des guten Willens gegeben. Seine praktische Philosophie hat ihre Fortsetzung gefunden in seinem Spätwerk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In diesem Werk, in dem bewußt ein methodischer Schritt von der philosophischen Ethik zur Philosophie der Religion getan wird, werden einige wichtige Modifikationen gegenüber dem Schwerpunkt der praktischen Philosophie vollzogen. Diese Modifikationen betreffen den guten Willen zum einen im Blick auf seine Beziehung zur Bestimmung der Handlung, zum anderen seine Qualifikation als guter Wille. Die erstgenannte Modifikation besteht in einer Erweiterung des Geltungsbereichs des guten Willens auf das Ganze eines Menschenlebens, die zweite in der Einschränkung der Idee eines guten Willens durch die Einsicht in die Mög-
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lichkeit des radikal Bösen im Menschen. In Kants Spätwerk wird ein Schritt über den Geltungsbereich der philosophischen Ethik, der Philosophie der praktischen Vernunft hinaus getan in den Geltungsbereich einer Religionsphilosophie hinein, in der die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zum Thema der philosophischen Erörterung wird. Die Frage, ob es mit den beiden Modifikationen zu einer Revision der kritischen Transzendentalphilosophie kommt, ist vor allem in der Philosophie des Marburger Neukantianismus, vor allem im Denken Hermann Cohens, durchdacht und entschieden verneint worden. (Ich sehe hier davon ab, daß diese Frage auch in der südwestdeutschen Schule, insbesondere bei Rickert erörtert worden ist.) Die Verneinung einer durchgängigen Transformation der kritischen Transzendentalphilosophie durch die oben angezeigten Modifikationen besagt: Es bleibt bei der letzten Konsequenz jener Kritik, welche dem Eudaimonismus in der Ethik eine entschiedene Absage erteilt hatte. Insofern können jene Modifikationen nur dies bedeuten: Die Erweiterung des Gefüges vom guten Willen und einer Handlung auf das Lebensganze konnte lediglich eine Affirmation des kritischen Grundgedankens sein, dem zufolge die Beschränkung des menschlichen Strebens nach Glück auf ein sinnvolles Bemühen, der Glückseligkeit würdig zu sein, für das gesamte menschliche Leben nun Gültigkeit gewinnt, und ferner, daß dieses sittliche Streben nur in Erweiterung auf das Ganze menschliche Leben seine Erfüllung finden kann. An diesem Punkt war die Grenze zwischen Ethik und Vernunftreligion von Kant im Blick auf die Bestimmung des guten Willens gezogen worden. Eine entsprechende Grenzziehung war aber aus Kants Sicht auch im Blick auf die Charakteristik des guten Willens als eines guten zu ziehen. Auch hier galt: daß die Kritik der praktischen Vernunft diesem Willen eine Grenze gesetzt hatte, indem es dessen menschliche Möglichkeit auf ein Sollen, auf einen Imperativ eingeschränkt hatte. Aber die Vernunftkritik hatte nur gezeigt, daß der gute Wille durch einen Imperativ dazu aufgefordert ist, gut zu sein, und dies hieß, in seinem Wollen immer den Menschen als Selbstzweck im Blick zu behalten und in jedem Menschen die Menschheit im Ganzen zu würdigen. Was die Kritik der reinen Vernunft im Blick auf einen solchen guten Willen hatte demonstrieren können, war dies, daß ein solcher Wille nicht unmöglich war, daß Existenzbeweise zu seinen Gunsten ebenso scheitern mußten wie Beweise seiner Unmöglichkeit. Mit dem Dasein des guten Willens war es analog bestellt wie mit den Beweisen der Existenz Gottes. Es ließ sich zwar trefflich in diesem wie in jenem Gebiet über das Pro und Contra streiten, nicht aber in einem solchen Streit eine endgültige Entscheidung herbeiführen. Auch hier mußte man feststellen: Es blieb in Kants Religionsschrift dabei, die Existenz des guten Willens, d. h. die Existenz menschlicher Freiheit ist lediglich eine Idee der menschlichen Vernunft, welche von dieser Vernunft notwendig gedacht werden muß und deren Gültigkeit durch die Kritik eben dieser Vernunft in der beschriebenen Weise eingeschränkt ist. Realität vermochte diese Idee nur zu gewinnen im menschlichen Streben, sich eines ständigen Glückes würdig zu erweisen. Die Würde des Menschen wurde hier nicht als immanente Eigenschaft ebendieses Menschen gedacht, sondern als eine Aufgabe, die sich diesem mit praktischer Vernunft begabten Wesen stellt: als die Aufgabe, diese Würde in jedem Menschen als Gegenstand des guten Willens anzusehen. Was die Religion der Vernunft demgegenüber zu bedenken gibt, ist, daß im Menschen ein unaus-
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rottbarer Hang zum Bösen vorhanden ist, der die Frage erzwingt: wie ein guter Wille überhaupt angesichts des unausrottbaren Hanges zum Bösen möglich sei. So gesehen zielte die Religion »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« zumindest indirekt auf den Nachweis, daß der gute Wille auch angesichts des besagten unausrottbaren Hanges des Menschen zum Bösen nicht unmöglich sei. Der transzendentalontologische Beweis der Möglichkeit menschlicher Freiheit erfuhr insofern seine transzendentalphilosophische Ergänzung in den Bestimmungen einer Vernunftreligion, deren wichtigste die Bestimmung der Vergebung und der Verzeihung sind. Diese Bestimmungen verlangen von der praktischen Vernunft, über die Vernunft des Menschen hinauszureichen und sich für die Möglichkeit des guten Willens eben eine solche Möglichkeit der Vergebung und der Verzeihung in einem höchsten Wesen zu erhoffen. Es ist die Vorstellung von der Verfehlung des guten Willens, die mit der Vernunftidee eines solchen Willens gegeben ist und die den Übergang von einer »Kritik der praktischen Vernunft« zu einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft unvermeidlich macht. Wenn wir die Vorstellungen von Gnade, von Verzeihung und Vergebung nicht nur auf eine bestimmte Handlung, sondern auf das Ganze eines Menschenlebens beziehen, ergibt sich zwangsläufig die Idee einer vita nuovae, eines neuen Lebens. Kants kritische Transzendentalphilosophie entfaltet diese Idee als Idee einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die skizzierte Grenzziehung zwischen Ethik und Religion in Kants Transzendentalphilosophie wirft aber die kritische Zusatzfrage auf, ob in dieser Grenzziehung etwas übersprungen werde, ein wichtiger Zwischenschritt nicht getan sei, nämlich der Gedankenschritt, dem zufolge nicht erst das menschliche Leben im Ganzen, sondern die aus dem guten Willen entspringende Handlung bereits die Möglichkeit der Verfehlung, die Anwesenheit des unausrottbaren Hanges zum Bösen und damit auch die Hoffnung auf Vergebung mitzudenken erforderlich macht. Es ist die Frage nach der Möglichkeit eines neuen Lebens, die sich unter diesem Gesichtspunkt nicht nur für das menschliche Leben im Ganzen, sondern auch für jeden entscheidenden Lebensabschnitt, für jede bewußt erlebte Lebenskrise neu stellt. Das Bedürfnis nach Neuem gehört zu den weitverbreitetsten menschlichen Bedürfnissen. Es reicht vom extremen Trieb nach Abenteuer und außerordentlichem Erleben bis zu dem bescheidenen Wunsch, von Zeit zu Zeit, oder auch nur einmal dem »grau in grau« des Alltags zu entgehen. Die moderne Wohlstandsgesellschaft trägt diesem Bedürfnis auf die vielfältigste Weise Rechnung. Tiefer aber geht das menschliche Bedürfnis im allgemeinen Künstlertum, vor allem in der neuzeitlichen westlichen Kultur, deren künstlerische Ausdrucksformen sich entsprechend von den nichteuropäischen Kulturen unterscheiden. Das Neue ist unter diesen mannigfachen Gesichtspunkten eine anthropologische Grundbestimmung vor ihrer zeitlich-geschichtlichen bzw. ontologischen Bestimmtheit. Allerdings: Die philosophische Frage nach dieser anthropologischen Bestimmung unterscheidet sich grundsätzlich von der eingangs erörterten Frage nach der Existenz des guten Willens zum Neuanfang. Das menschliche Bedürfnis nach Abwechslung, nach neuen Erlebnissen, nach dem Neuen überhaupt bedarf anders als jener gute Wille keiner Erörterung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Existenz. Daß es dieses Bedürfnis im Menschen gibt, in den einzelnen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Es
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macht deswegen keinen Sinn, den Bedingungen dieser Möglichkeit nachzufragen und deren Möglichkeiten der Existenz nachzuspüren. Was angesichts dieses anthropologischen Bedürfnisses nach dem Neuen zunächst lediglich zur Erörterung stehen kann, sind die mannigfachen Bedeutungen, die das Neue in den entsprechend mannigfachen menschlichen Bedürfnissen annimmt. Diese Erörterung kann sich auf die philosophische Methode der Phänomenologie stützen, soweit diese sich auf die möglichst genaue Beschreibung der mannigfachen phänomenalen Bedürfnisse beschränkt, ohne diese moralisch zu bewerten. Auch eine Erörterung der mannigfachen Formen der Befriedigung dieser menschlichen Bedürfnisse hält sich im methodischen Rahmen einer solchen Phänomenologie. Die hier zur Anwendung kommende Urteilsenthaltung ist allerdings zu unterscheiden von derjenigen, die Edmund Husserl in die von ihm begründete philosophische Phänomenologie eingebracht hat. Es geht hier nicht um eine Urteilsenthaltung hinsichtlich eines fraglichen Seins, wie im Falle des guten Willens zum Neuanfang, sondern um eine Urteilsenthaltung hinsichtlich des Wertes der fraglichen Bedürfnisse und der Art und Weise ihrer Verwirklichung. Man bekommt angesichts des hier erörterten philosophischen Themas eine Ahnung, wie mißlich es ist, philosophische Methoden vorschnell zu verallgemeinern. Die zunächst angezeigte ethisch-religiöse Problematik verlangt eine transzendental-analytische Erörterung, die anthropologische Bestimmung beruht demgegenüber auf der phänomenologischen Urteilsenthaltung hinsichtlich der Bewertung der mannigfachen Verhaltensweisen des Menschen gegenüber dem Neuen. Man ist versucht, eine Verbindung zwischen den beiden Methoden der Philosophie herzustellen, und zwar so, daß die transzendentale Methode die fragliche normative Geltung eines guten Willens zum Neuanfang begründet, die phänomenologische Methode der Werturteilsenthaltung dagegen geeignet ist, die Realität eines solchen Willens im Kontext der Erfahrung mit der Welt und dem Menschen zu gewährleisten. Kann man sich eine Verknüpfung der beiden philosophischen Methoden denken, derart, daß sie unser Erkenntnisbedürfnis in Sachen jenes angenommenen guten Willens zum Neuanfang befriedigen? Und wie steht es mit der Bestimmung eines Neuanfangs als eines solchen? Gibt es überhaupt im Blick auf die Geschehnisse in der Welt und im Menschenleben so etwas wie einen Neuanfang? Läßt sich die Realität eines solchen Neuanfangs überhaupt erweisen? Spricht dagegen nicht die durchgängige Verknüpfung aller Geschehnisse, insbesondere, sofern diese in der einen oder anderen Weise kausal miteinander verknüpft sind? Beruhen nicht etwa die normative Geltung des angenommenen Willens zum Neuanfang und die scheinbar plausible, aus der Erfahrung stammende Annahme der Realität eines solchen Willens auf einer chimärischen Vorstellung? Und wenn dem so ist, welche Konsequenzen ergeben sich von hier aus gesehen für die Bedeutsamkeit eines solchen fraglichen Willens? Hat er seine Bedeutsamkeit unabhängig von einem Realitätsbeweis? Es kann hier zunächst ein dritter methodischer Schritt erwogen werden, den man mit der Methode der semantisch-kategorialen Analyse umschreiben kann. Aufgabe einer solchen Analyse wäre die Klärung der mannigfachen Bedeutung der »Kategorie« des Neuen, insbesondere der »Kategorie« des Neuanfangs. Vor einem Eintritt in diese Bedeutungsanalyse sei ein Wort über die hier skizzierten philosophischen Methoden
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der Transzendentalphilosophie, der Phänomenologie und der semantischen Analyse im allgemeinen gemacht. Es geht bei der Anwendung der aufgezählten drei Methoden keineswegs um einen methodischen Pluralismus im gewöhnlichen Sinne, soweit wir mit einem solchen Pluralismus die Vorstellung einer gewissen theoretischen Liberalität, einer Toleranz im Denken verbinden. Toleranz und Liberalität in der Philosophie beziehen sich auf Philosophien, die vom eigenen Standpunkt aus nicht grundsätzlich verworfen werden können. Eine bestimmte Philosophie verdankt ihre Bestimmtheit einem methodischen Bewußtsein, einer methodischen Einstellung. Allerdings darf man angesichts des methodischen Anspruchs, den alle Philosophien in der europäischen Geschichte erhoben haben, diese nicht mit der Vorstellung einer reinen Methode verbinden, die sich eineindeutig von anderen Methoden unterscheidet. Eine solche reine einheitliche Methode – die absolute Methode – gibt es nicht. Eine jede Methode stellt bei genauerem Hinsehen ein methodisches Gemenge dar, in dem das eine oder andere methodische Element dominiert. Dies gilt auch für jede philosophische Methode. Eine solche Methode kann – auch auf die Gefahr einer zirkulären Definition hin – so umschrieben werden: Sie ist eine wohlbestimmte Form, verschiedene philosophisch relevante Sachverhalte so zusammen, so nebeneinander zu stellen, daß aus dieser Zusammenstellung eine philosophische Einsicht entspringt. Eine philosophische Methode ist demzufolge durch zwei Formen bestimmt, die nicht aufeinander reduziert werden können: zum einen durch eine Form der Neben- und Zusammenstellung der relevanten unterschiedlichen Gegebenheiten, zum anderen durch eine Form der Beziehung zwischen den Verschiedenheiten des Gegebenen. In einer philosophischen Methode ist insofern eine bestimmte Form auf eine andere in bestimmter Weise bezogen, eine Form der Organisation einer Mannigfaltigkeit sowie eine Form der Gegebenheit dieses Mannigfaltigen vor seiner Organisation. In dieser Formdifferenz der philosophischen Methode ist ihr dynamischer Charakter, ihr Bewegungsmoment gelegen. Eine philosophische Methode ruft durch ihren dynamischen Charakter in der Sache, auf deren Erkenntnis sie zielt, ein Geschehnis hervor, sofern sie sich nicht von vornherein auf ein Geschehen als Gegenstand ihrer Erkenntnis bezieht. Die Unmöglichkeit einer reinen absoluten Methode zeigt sich insbesondere auch, wenn wir das oben skizzierte Verhältnis zwischen transzendental-phänomenologischer und semantisch-kategorialer Methode betrachten: Jede dieser Methoden enthält für sich genommen ein Moment der anderen Methoden in sich; und keine ist für sich hinreichend, eine endgültige Einsicht in einen fraglichen Sachverhalt, wie hier den des guten Willens zum Neuanfang, zu ermöglichen. Die philosophische Hermeneutik, wie sie in H.-G. Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode vorgestellt wird, wird mehr oder weniger ausdrücklich in einem gewissen Abstand zum Methodenverständnis der Philosophie gehalten. Was dort allerdings undeutlich bleibt, ist dies, daß Hermeneutik, als Bedürfnis und Aufgabe der Interpretation, angewandte Methoden voraussetzt, gewissermaßen nur einen vorläufigen Schwerpunkt im Gebrauch philosophischer Methodik bedeutet, und zwar, sofern keine philosophische Methode für sich hinreicht, eine endgültige Einsicht in einen fraglichen Sachverhalt zu gewährleisten. Hermeneutik ist die Folge dessen, daß in aller philosophischen Erkenntnis immer und unvermeidlich eine Frage offenbleibt. Daher ist es die erste Aufgabe ei-
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ner philosophischen Hermeneutik, diese offengebliebene Frage zu entdecken. Deswegen verschreibt sich eine solche Hermeneutik der Verpflichtung zu einer Logik von Frage und Antwort, der zufolge die methodische Ausarbeitung der philosophischen Fragestellung Anfang und Ende der philosophischen Hermeneutik ausmacht. Diese Hermeneutik steht aber nicht am Anfang, sondern am Ende aller philosophischen Bemühungen um Erkenntnis. Ihre Aufgabe besteht darin, offengebliebene Fragen bewußt zu machen und in beantworteten Fragen die Unzulänglichkeit der Antwort zu entdecken – allgemeiner: die philosophische Frage wach zu halten. Die Gefahr einer solchen Hermeneutik liegt darin, daß sie über den Fragen die Antworten aus den Augen verliert und ein unverbindliches Spiel mit Fragen wird. Dies kann auch mit der Frage nach dem guten Willen zum Neuanfang geschehen. Nach der transzendentalen Erörterung und nach der phänomenologischen Beschreibung der anthropologischen und sozialpolitischen Realitäten ergeben sich Fragen über Fragen. Die kategoriale Bedeutungsanalyse zeigt zunächst die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen, die mit der gestellten Frage auftauchen: Gibt es überhaupt einen menschlichen Willen und nicht nur zellulare Determinanten des Geschehens, die die Gehirnprozesse auslösen und steuern? Und wenn es einen solchen Willen gibt, läßt sich dem ein bestimmtes Subjekt zuordnen, welches ihn, diesen Willen, so steuert wie der Wille die Handlung? Gibt es hier nicht einen Steuermann zu viel? Und wie steht es mit den allgemeineren, den umfassenderen Subjekten, wenn wir im politisch-historischen Raum von einer Stunde null, einem historischen Einschnitt in der Geschichte eines Landes, eines Staates sprechen. Wer ist das Willenssubjekt, an das sich zum Beispiel der große politische Essay von Karl Jaspers Über die Schuldfrage richtete? Gibt es ein überindividuelles Subjekt? Und wenn wir in der politisch-historischen Rede so argumentieren, als ob es ein solches Subjekt gäbe, wie ist ein solches Subjekt zu denken, etwa – analog zur juristischen Person, sofern diese sich von der natürlichen Person unterscheidet? In welchem Sinne aber sprechen wir hier von einem Rechtssubjekt? Aber diese Fragen greifen von der Bestimmung des Willens auf die Frage nach seiner Qualität über: Wir unterscheiden zwischen Stärke und Schwäche eines solchen Willens, zwischen Aktivität und Passivität. Läßt sich überhaupt von einem guten Willen reden, hinausgehend über eine entsprechende funktionale Bestimmung, daß ein Wille wissen muß, was er will und daß er auf die Verwirklichung des Zieles ausgerichtet sein muß, das ihm als erstrebenswert vor Augen steht. Was aber ist ein guter Wille mehr als der entschiedene Vorsatz zur Verwirklichung von etwas in der Meinung, das Beste zu wollen? Andererseits, was gibt es Trügerischeres als die so genannte gute Meinung und was ist gefährlicher als ein guter Wille, der im Vorsatz der Verwirklichung einer guten Meinung besteht? II. Die Fragen, die sich angesichts der Frage nach dem guten Willen häufen, bleiben aber bei diesem nicht stehen. Der Begriff eines Neuanfangs ist ein ebenso vertracktes Nest von Fragen ohne endgültig definite Antworten. Die Bestimmung des Neuen wird heute oft genug mit der Bestimmung der Kreativität in Verbindung gebracht. In beiden Fäl-
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len handelt es sich heute um Modewörter, die zu vielfältigem rhetorischem Gebrauch angewendet werden. Das Neue steht gegen das Alte, aber nicht nur als das Junge, sondern auch als das Bessere. Erneuerung gilt mithin als Verbesserung. Die Verbindung des Neuen mit der Kreativität schafft einen neuen Bedeutungszusammenhang, verglichen mit der alten Verbindung zwischen dem Neuen und der Phantasie. Das Neue in der neuen Verbindung liegt im Übergang vom freien Spiel der Kräfte zur Macht und zur Machtausübung. Aber die Schwierigkeiten mit dem Neuen sind auch Schwierigkeiten mit dem Anfang. Mit diesem ist es ähnlich wie mit dem Neuen bestellt. Es gibt eine triviale und eine bedeutsame Bedeutung hier wie dort. So wie immer in der Welt irgendwo etwas Neues geschieht, so fängt auch immer irgendetwas an. Immer lassen sich Kontraste im Geschehen zwischen dem einen und dem anderen beobachten. Alles hat irgendwo und irgendwann ein Ende. Also muß es auch einen Anfang gegeben haben und einen Anfang vor dem Anfang. In der europäischen Philosophie gibt es eine große und reichhaltige Überlieferung der Bemühung, in der Mannigfaltigkeit der Bedeutungen des Alten und Neuen, des Geschehens zwischen Anfang und Ende, gewisse Zusammenhänge herzustellen. Die von Heraklit gestiftete Tradition reicht bis in das 20. Jahrhundert, bis zu den herausragenden Denkern der so genannten Prozeßphilosophie, wie Henri Bergson und A. N. Whitehead. Vor allem Whitehead hat sich bemüht, das Geschehen radikal im Zeichen eines unaufhörlichen Anfangs und Aufhörens, mit dem Konkreten von Neuanfang und endgültigem Ende zu denken und dabei vor allem die Wertdifferenz zwischen dem Trivialen und dem Bedeutsamen, zwischen dem Einfachen und dem Komplexen auf den Begriff zu bringen. Die methodische Bedeutung der Prozeßphilosophie A. N. Whiteheads kann unter dem Gesichtspunkt einer radikalen Kritik an der transzendentalphilosophischen Begründung eines guten Willens zum Neuanfang und als Hermeneutik der mannigfachen anthropologisch-sozialpolitischen Bedeutungen eines solchen Willens gelesen werden. Dabei kommt der Kritik selbst, wie immer, eine hermeneutische Funktion zu, und zwar, sofern die Kritik zunächst einmal eine Vielfalt von Bedeutungen freilegt, um der wahren Bedeutung nachzugehen, die eigentlich gesucht wird. Die Kritik des guten Willens zum Neuanfang, die an der Transzendentalphilosophie geübt wird, tut einen ersten Schritt, indem sie die triviale, die nichts sagende Bedeutung eines solchen Willens aufzeigt. Dieser erste Schritt besteht in dem Nachweis, daß sich in jedem Geschehen – als Prozeß betrachtet – ein guter Wille zum Neuanfang verwirklicht. Dieser Nachweis wird geführt, indem jedes Ereignis, jedes Geschehnis in der Welt im Vergleich zu anderen Ereignissen etwas Neues darstellt, etwas, welches sich so nie wieder ereignen wird, auch dann nicht, wenn sich dank seines Zusammenhangs mit anderen Ereignissen Gleichförmigkeiten, Wiederholungen und Gewohnheiten herausbilden. Solche dem Neuen entsprechenden Charaktere betreffen aus einer solchen Sicht des Geschehens nur etwas an dem einzelnen Geschehnis, etwas, was dessen Zusammenhang mit anderen Geschehnissen, die Beziehung zwischen diesen, nicht aber sie selbst betrifft. Wie aber kann von einem einzelnen Ereignis aus, welches als Prozeß gedacht wird, die Bestimmung eines guten Willens zum Neuanfang begreiflich gemacht werden? Wie führt das Verständnis des einen Begriffes zu dem des anderen? Zum elementaren Begriff eines Prozesses ge-
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hören zunächst einige elementare begriffliche Unterscheidungen. Da ist zum einen die Unterscheidung zwischen einem Inneren und Äußeren des jeweiligen Prozesses. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der Annahme, daß ein Prozeß sich von einem punktuellen, in einem Jetztpunkt verankerten Ereignis durch seine Ausdehnung, durch seine räumlich-zeitliche Extension unterscheidet und daß die Extensivität eine entsprechende Differenz an die Hand gibt. Man kann an einem konkreten Prozeß unterscheiden, was in ihm und was außerhalb seiner vor sich geht. Ein einzelner Prozeß ist insofern in einen weiteren Zusammenhang eingebettet, aus dem die mannigfachen Außenperspektiven entstammen. Die Innenperspektive ist die, die der bestimmte Prozeß als solcher in seiner Unterscheidung gegenüber seiner Außenwelt darstellt. Mit einem Prozeß ist aber zugleich mit dieser Unterscheidung eine weitere Bestimmung gegeben, nämlich die eines dynamischen Selbst. Ein Prozeß ist nicht eine elementare in sich ausgedehnte Dauer als solche, sondern ein Geschehen, das sich von einem Anfang auf ein Ende hin bewegt und in diesem Ende den Abschluß seines Geschehens hat. Dies dynamische Selbst ist sowohl in der Innen- als auch in der Außenperspektive gegeben. Im einfachsten Falle ist dieses dynamische Selbst das eines Agens des Geschehens, das vom Anfang zum Ende hinführt und welches in diesem Geschehen ein und dasselbe bleibt. In der Außenperspektive zeigt ein Prozeß ein vielfältiges Bild, das nur in ganz bestimmten Fällen ihn selbst als einen ganz bestimmten Vorgang hervortreten läßt. Das dynamische Selbst eines Prozesses kann nun keineswegs ohne weiteres mit dem Willen gleichgesetzt werden, den wir als eine ausgezeichnete Ursache einer Handlung denken, so wenig der fragliche Prozeß als menschliche Handlung aufgefaßt werden kann. Wohl aber gilt umgekehrt: Der menschliche Wille ist ein dynamisches Selbst, welches sich in dem von ihm ausgehenden Geschehen als Selbst erhält. Ein elementarer Prozeß ist ein Prozeß der Selbsterhaltung, in dem das Selbst sich um die Erhaltung des von ihm gesteuerten Geschehens bemüht. Die Ursächlichkeit des Selbst eines Prozesses verlangt aber eine genauere Bestimmung des Begriffes der Kausalität und der Verbindung der Kausalität mit den einzelnen Geschehnissen. Der fragliche Wille zum Neuanfang setzt einen Begriff von Kausalität voraus, da der Wille selbst eine bestimmte Form von Ursächlichkeit darstellt. Kant zufolge ist der freie Wille die Instanz, die eine Reihe von Ursachen eröffnet. In Kants Theorie wird von vornherein ein Moment der Wertung mit dem freien Willen verbunden, und zwar dies bereits in Verbindung mit der Bestimmung einer Freiheit im negativen Verstande. Für diese Freiheit gilt, daß sie keinen äußeren bestimmten Ursachen unterworfen ist und daß in dieser Unabhängigkeit ihr normativer Charakter besteht. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß eine solche Freiheit nicht ausschließt, daß der Genese nach ein freier Wille durchaus durch äußere Kausalfaktoren veranlaßt oder beeinflußt werden kann. In der Tat hat Kant in seiner Begriffsbestimmung einer Freiheit im negativen Verstande eine solche Beziehung keineswegs ausgeschlossen. Seine Begriffsbestimmung schließt nicht aus, daß es zu der vorausgesetzten Freiheit zugleich einen Kausalzusammenhang gibt, der mit dieser Freiheit durchaus verträglich ist, dies aber so, daß der vorausgesetzte Kausalzusammenhang die vorausgesetzte Freiheit nicht kausal tangiert. Diese Kompatibilität von Kausalität und Freiheit ist allerdings rein logischer Natur. Sie stimmt nur formal überein
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mit der möglichen Verbindung zwischen Kausalität und Freiheit in der Realität. Kants transzendentalphilosophische Bestimmung der Freiheit setzt einen grundsätzlichen Dualismus von Genesis und Geltung einer Kritik der reinen Vernunft voraus. Dieser Dualismus entspricht dem Dualismus von Anfang und Ursprung. Der gute Wille zum Anfang kann als Anfang und als Ursprung gedacht werden, also als ein Anfang zum Neuanfang und als Ursprung eines solchen Neuanfanges. Das eine fällt in Kants kritischer Transzendentalphilosophie mit dem anderen nicht zusammen. Deren Bestimmung eines guten Willens zum Neuanfang deckt sich aber nicht mit der anthropologischen Bestimmung eines solchen Willens. Denn diese anthropologische Bestimmung kennt den Unterschied zwischen Genesis und Geltung nicht, so wenig wie einen methodischen Dualismus zwischen einem kausal bestimmten und einem freien Willen des Menschen. Der freie Wille des Menschen ist ein kausal bestimmter Wille, dessen kausale Bestimmung eine spezifische Art von Kausalität ist. Diese bestimmte Art von Kausalität verlangt geradezu, sie in Beziehung zu einer anderen Art von Kausalität zu denken. Die transzendentalphilosophische Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung setzt die Bestimmung des freien Willens auf die Seite der Geltung, die Bestimmung der anderen Art von Kausalität auf die Seite der Genesis. Die Geltung des freien Willens liegt in der Bestimmung dieses Willens als eines guten, die Genesis in der Bestimmung der Anfänglichkeit desselben als Anfänglichkeit einer Reihe von Ursachen. Diese Anfänglichkeit hat mit der Güte des fraglichen Willens nichts zu tun. Vor allem aber die Frage nach der Möglichkeit eines guten Willens zum Neuanfang ist nicht die Frage nach dem guten Willen als einem Neuanfang, sondern die Frage nach dem Neuanfang eines guten Willens als eines guten Willens zum Neuanfang. Die transzendentale Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung ist insofern geeignet, die Differenz zwischen den beiden Fragestellungen zu verwischen. Die Begriffsbestimmung eines guten Willens zum Neuanfang verlangt, daß Genesis und Geltung methodisch zusammengebracht werden. Die Bedeutung der anthropologischen Bestimmung eines guten Willens zum Neuanfang wird insofern nicht ohne die Annahme eines solchen Zusammenhanges verständlich. Wie aber ist ein solcher Zusammenhang denkbar? Hier bieten sich zwei Möglichkeiten einer Beantwortung dieser Frage an: Man kann die Kausalbeziehung selbst als eine Wertbeziehung denken oder aber als eine reale Beziehung, die eine Wertbeziehung einschließt. Im ersteren Falle kann man den Wert einer Kausalbeziehung in der Funktion suchen, welche eine kausale Erklärung für das Verhalten des Menschen in der Welt hat, also etwa in der Funktion einer Angstbewältigung. Dies war Nietzsches Zugang zu dem angezeigten Problem. Den anderen Weg ist der Neukantianer Heinrich Rickert in seiner groß angelegten Studie Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung gegangen, im Bewußtsein, daß dieser Weg eine entscheidende Alternative zu Nietzsches funktionalistischem Ansatz darstellt. Rickert suchte in dem genannten Buch eine Grundlegung der Geisteswissenschaften durch eine klare ontologische und methodische Abgrenzung derselben von den Naturwissenschaften. Die Grenzziehung erfolgte hier mittels der Unterscheidung zwischen der Geltung einer Kausalität unter Ausschluß und unter Einschluß von Wertbeziehungen. Diese beiden methodischen Ansätze – der von Nietzsche und der von Rickert – hatten für die Frage nach dem guten
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Willen zum Neuanfang unmittelbare Konsequenzen. Von Nietzsches funktionaler anthropologischer Betrachtung war es nur noch ein kleiner Schritt zur Feststellung, daß es sich bei dem fraglichen guten Willen nur um einen schönen Schein, um eine der vielen Selbsttäuschungen des Menschen handelte, die diesem zur Bewältigung seiner Lebensprobleme nützlich sind. Rickert war demgegenüber in der Lage, ein ungelöstes Problem der kantischen Philosophie, nämlich das der Verbindung von Transzendentalphilosophie und Anthropologie, einer Lösung näherzubringen, allerdings um den Preis eines unüberbrückbaren Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften. Durch diesen Dualismus wird die Frage nach dem guten Willen zum Neuanfang zu einer Frage der Kulturwissenschaften bzw. einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie. Die zuvor ins Spiel gebrachte Prozeßphilosophie A. N. Whiteheads ist diesen beiden Ansätzen gegenüber einen anderen Denkweg gegangen, bei dem es sich vor allem darum handelte, den angezeigten Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften um seiner agnostischen Konsequenzen willen zu vermeiden. Die versuchte Lösung des Problems bestand hier darin, Kausalität und Wertbeziehung als untrennbar zusammengehörig zu denken. Dabei ergaben sich zwei Denkmöglichkeiten: Entweder dachte man die Kausalität als reine Realbeziehung, in die sich die zahllosen Gestalten mannigfacher Wertbeziehungen in ihrer unterschiedlichen Komplexität einzuschreiben vermögen, oder aber die Verbindung von Kausalitäts- und Wertbeziehung als so untrennbar zusammengehörig, daß die beiden unterschiedlichen Beziehungen zwei Beziehungen in der Einheit einer ausgezeichneten Verbindung darstellen. Die Besonderheit dieser Verbindung besteht darin, daß die jeweils eine der beiden Beziehungen auf die andere bezogen, jede der beiden also die Beziehung einer Beziehung bildet. Dabei kann primär die Wertbeziehung auf die Realitätsbeziehung, aber auch umgekehrt diese primär auf jene bezogen sein. Ein Prozeß ist angesichts dieser Möglichkeiten mehr als nur eine einfache Relation, mehr aber auch als nur eine bestimmte Relation von Relationen. Ein Prozeß geht nicht in einer bestimmten Mannigfaltigkeit von Relationen und von Relationen von Relationen auf. Daraus resultiert das Problem eindeutig bestimmter Analysen von Prozessen. Daß ein bestimmter Prozeß nicht auf eine und nur eine bestimmte Art und Weise analysiert werden kann, ist kein zwingendes Argument gegen eine mögliche Rationalität der Realität. Im Gegenteil: Der Begriff eines bestimmten Prozesses schließt eine Mannigfaltigkeit von Relationen und damit die Bestimmung einer Mannigfaltigkeit möglicher Analysen ein. Daraus ergibt sich eine Konsequenz für den Begriff der Kausalität, und zwar unter der Voraussetzung, daß Kausalität als konkreter Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Prozessen und demzufolge als eine Relation von Relationen in einem solchen Zusammenhang gedacht werden muß. Demzufolge gibt es die eine, eindeutig bestimmte Form der Kausalität nicht. Kausalität ist vielmehr innerhalb eines jeweiligen Zusammenhangs von Prozessen, eine so oder so bestimmte Verbindung von Realitäts- und Wertbeziehungen. Den verschiedenen Formen einer solchen Verbindung korrespondieren verschiedene Formen der Kausalität und dementsprechend auch der Rationalität. Die elementarste Wertbeziehung eines Kausalzusammenhangs ist der in diesem Zusammenhang realisierte semantische Gehalt. Dieser Gehalt bestimmt, was ursächlich
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bestimmend ist und was ursächlich bestimmt wird. Jedes solche Was enthält zugleich ein Wie. Im Blick auf die zusammengehörigen Bestimmungen sprechen wir im allgemeinen von Determination. Durch einen Kausalzusammenhang entspringt die Determination einer bestimmten Realität. Eine bestimmte Determination hat demzufolge immer zwei Seiten, die nicht voneinander zu trennen sind: einen Realitätsaspekt und einen Wertgehalt. Der hier thematische gute Wille zum Neuanfang ist zunächst ein menschlicher Wille überhaupt und als solcher eine bestimmte Ursache. Als eine solche Ursache stellt er eine Realitäts- und eine Wertbeziehung zugleich dar, und zwar eine ganz bestimmte, sehr komplexe Verbindung von Realität und Wertbeziehung. Ein Wille, den wir als frei ansehen, zeichnet sich durch eine besondere komplexe Wertbeziehung aus. Die klassische Philosophie bestimmt diese Wertbeziehung als Erkenntnis. Demzufolge verlangt eine genauere Bestimmung des freien Willens eine besondere Bestimmung dieser Erkenntnis. Denn nicht jede Art von Erkenntnis führt automatisch zu einer Willensfreiheit. Und Entsprechendes gilt für den guten Willen. Damit ein freier Wille das Prädikat der Güte in einem echten Sinne verdient, ist eine ausgezeichnete Erkenntnis vonnöten, die diese Güte ermöglicht. So wie es mannigfache Formen der Kausalität gibt, so gibt es dementsprechend auch mannigfache Formen der spezifischen Kausalität des freien menschlichen Willens. Die Mannigfaltigkeit dieser Formen macht zwar eine Verallgemeinerung derselben nicht von vornherein unmöglich. Aber wie jede Verallgemeinerung überhaupt, so gilt auch für diese, daß sie leicht die konkreten singulären Erscheinungen in ihrer Vielfalt vergessen läßt und zur Verwechslung derselben mit den Abstraktionen der vorausgehenden Verallgemeinerung führt. Um zu dem elementaren dynamischen Selbst eines Prozesses zurückzukehren, von dem als solchem und im Blick auf die Kausalität des menschlichen Willens die Rede gewesen war: Dieses Selbst, von dem wir auch als von einem Streben und als einem Trieb sprechen können, ist bereits als eine elementare Verbindung von Real- und Wertbeziehung anzusehen. In einem solchen elementaren Selbst ist dieses Selbst als eine Realität auf einen Wert oder, umgekehrt, als ein Wert auf eine Realität des entsprechenden Prozesses bezogen. Diese Doppelseitigkeit reicht von den elementarsten Ausformungen des Selbstseins bis zum Selbstsein der menschlichen Subjektivität. In dieser sind Realität und Wertbeziehungen in der einen oder anderen Weise aufeinander bezogen. So gilt nicht zuletzt für die menschliche Subjektivität, daß die Bemühungen, diese in einer angemessenen Begriffsbestimmung zu erfassen, die Gefahr einer falschen Verallgemeinerung immer mit sich führen.
III. Das elementare dynamische Selbst eines Prozesses, das in jeglichem Werden enthaltene Streben, ist eine ausgezeichnete Beziehung eines Anfangs auf ein Ende, in der das Ende sich auf diesen seinen Anfang zurückbezieht, nämlich das Ende eben dieses Anfangs. Diese reflexive Beziehung, die zur Charakteristik eines jeden Prozesses gehört, macht das Selbst eines solchen Prozesses aus. Ein einzelner Prozeß ist in dieser seiner Selbstbeziehung ein Geschehen, in dessen Anfang das Ende ins Auge gefaßt und in dessen
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Ende ein Rückblick auf einen Anfang gegeben ist. Wie gesagt: Ein Prozeß ist weder ein unteilbarer Jetztpunkt noch eine undifferenzierte Dauer in Raum und Zeit, sondern Extension, Ausdehnung im Werden, ein Geschehen von einem Anfang auf ein Ende hin und ein Ende von einem Anfang her. Ein Prozeß ist in diesem seinem Selbstsein bestimmt. Er unterscheidet sich in seinem Selbstsein von anderen Prozessen. Hinsichtlich dieses seines bestimmten Selbst sprechen wir von seiner Determination. Diese muß dem determinierten Prozeß entsprechen und ist dementsprechend ihrerseits ein Geschehen. Demzufolge kann ein Prozeß nicht zugleich und überall innerhalb seines Geschehens gleichermaßen determiniert sein. Zugleich betrachtet, ist seine Determination in seinem Anfang eine andere als während seines Verlaufes und hinsichtlich seines Abschlusses. Insofern kann es die eine absolute Determination nicht geben, weder die eine absolute Determination eines vereinzelten Prozesses noch die eines konkreten Zusammenhangs zwischen Prozessen. Ein bestimmter Prozeß ist immer ein Geschehen, in dem sich Determination und Indetermination auf bestimmte Weise verbinden. Ist ein Prozeß in seinem Anfang bestimmt, ist er nicht schon dadurch in seinem Verlauf determiniert, und ist sein Verlauf einmal bestimmt, so ist damit immer noch die abschließende und endgültige Determination des Endes offen. Dieser Zusammenhang macht geradezu den Begriff des Prozesses aus. Angesichts eines Prozesses ist zwischen seiner Innenperspektive und seiner Außenperspektive zu unterscheiden. Diese unterschiedlichen Perspektiven geben ein unterschiedliches Bild der jeweiligen Indetermination und Determination eines Prozesses. In komplexen Prozessen wie dem hier fraglichen menschlichen Willen, in dem Realbeziehung und Wertbeziehung auseinander treten und wo sich ein Streben mit einer Erkenntnis verbindet, sind die Innenperspektive und die Außenperspektive miteinander auf die eine oder andere Weise verbunden. Deswegen ist es nicht möglich, diesen Willen eindeutig hinsichtlich seiner Determination und Indetermination zu fixieren. Kausalität und Determination werden in der philosophischen und in der wissenschaftlichen Diskussion häufig miteinander verwechselt, obwohl es sich um kategorial grundverschiedene Sachverhalte handelt. Kausalität ist die Art und Weise des Zusammenhangs zwischen Prozessen. Determination bezeichnet die Wertbeziehung, die zwischen Prozessen und innerhalb eines Prozesses im Blick auf seine Selbstbeziehung und seine Beziehung auf anderes besteht. Gleichwohl gilt: Auch wenn zwischen Kausalität und Determination zu unterscheiden ist, so haben sie eines gemeinsam: Beide haben die Unmöglichkeit des Absoluten zur Voraussetzung. Beides gibt es in unzähligen, voneinander verschiedenen Ausprägungen. Die Determination eines Prozesses ist die Bedingung möglicher Beschreibungen dieses Prozesses. Es wird hier nicht behauptet: Die Beschreibung eines Prozesses muß der Determination desselben entsprechen, sondern nur dies, daß ohne eine Determination die bestimmte Beschreibung eines Prozesses nicht möglich ist. Wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Ebenen zu tun, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen: eine erste Ebene, auf der zwischen einem fraglichen Prozeß und seiner Determination ein Korrespondenzverhältnis anzunehmen ist, und eine zweite Ebene, auf der mannigfache Beziehungen zwischen Determination und einer Beschreibung eines vorliegenden Prozesses bestehen. Es gibt nur eine, nur eine »bestimmte« Determination eines Prozesses, aber viele mögliche Beschreibungen des-
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selben. Zwischen der Determination und einer Beschreibung besteht keine Wahrheitsbeziehung, sondern nur die Beziehung einer gegebenen Bedingung möglicher Wahrheit. Auch wenn die Charakteristik dieser Beziehung einen transzendentalen Klang hat, so ist der entsprechende Terminus der Transzendentalität hier fehl am Platze. Denn es geht um eine reale Beziehung zwischen Determination und Beschreibung. Und diese reale Beziehung läßt lediglich erkennen, daß es die eine allgemein gültige Beschreibung der Determination eines Prozesses nicht gibt und auch nicht geben kann. So kann ein Prozeß zum Beispiel in seinem Verlauf aus der Sicht einer Außenperspektive beschrieben werden, ohne ausdrückliche Berücksichtigung seines Anfangs und seines endgültigen Endes. Ebenso gibt es aber auch Beschreibungen, die ausdrücklich vom Anfang des Geschehens ausgehen, und Beschreibungen vom Ende her, Beschreibungen, die mit dem Abschluß des Prozesses anfangen. Darüber hinaus gibt es zahllose Möglichkeiten, der Indetermination des vorliegenden Prozesses in der Beschreibung Rechnung zu tragen. Für die Bestimmung des freien menschlichen Willens spielt die Differenz zwischen seiner Determination und der Beschreibung derselben eine herausragende Rolle. Die Erkenntnis, die als maßgebliche Wertbeziehung zur Kausalität eines freien Willens gehört, ist auf diese Differenz bezogen: Sie ist Erkenntnis der Beziehung zwischen der Determination der Ursächlichkeit des freien Willens und einer Beschreibung desselben. Der freie Wille enthält in seiner Erkenntnis die Aufgabe, in der Beschreibung der eigenen Ursächlichkeit der Determination derselben möglichst gerecht zu werden. Einer Erkenntnis schreiben wir die Befähigung zur Freiheit zu, sofern sie zu dieser Einsicht befähigt ist. Zu einem wahrhaft freien Willen gehört die Befähigung zu dieser freien Erkenntnis. Und einen freien Willen nennen wir einen guten Willen, sofern es ihm mit der Freiheit seiner Erkenntnis ernst ist. Um zu dem elementaren Selbst eines Prozesses im einfachen Streben erneut zurückzukehren, welches dem menschlichen Willen und auch dem freien und guten Willen zugrunde liegt: Dieses Selbst eines Prozesses unterscheidet sich bereits in seinem Anfang von anderen Prozessen, die ihn umgeben und in die er teils eingebettet ist, teils denselben auf andere Weise gegenübersteht. Das Selbst eines Prozesses ist bereits in seinem Anfang Selbstunterscheidung von Anderem. Als ein solches ist es ein anfängliches Selbst, und ein solches ist in seiner anfänglichen Bestimmtheit Negation von Anderem, besser Negierung, sofern dieses anfängliche Selbst bereits Bestandteil des Prozesses und seinerseits ein Teilprozeß ist. Die reale Beziehung eines Prozesses schließt insofern bereits in ihrem Anfang eine solche Aktivität des Negierens ein: eine Grenzziehung gegenüber Anderem. Das anfängliche Selbst eines Prozesses ist insofern schon für sich ein komplexes Geschehen, indem es sich in doppelter Weise auf seine Umwelt bezieht, nämlich positiv und negativ: positiv, sofern es diesem Geschehen Einfluß auf sein eigenes Selbst in diesem seinem eigenen Geschehen einräumt, und negativ, indem es einen solchen Einfluß auf die eine oder andere Weise von sich fern hält. Zur Eigentümlichkeit einer solchen negativen Beziehung gehört es, daß sie immer auch auf die eine oder andere Weise ihren Niederschlag in dem sich herausbildenden Selbst eines eigenen Geschehens findet. Umgekehrt ist in der positiven Beziehung eines Geschehens auf das Geschehen seiner Umwelt immer auch ein ausschließendes Moment enthalten. Nicht alles, was im Umweltgeschehen geschieht, findet ungeschmälerten Eingang in
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das fragliche Geschehen. Insofern stellt die Differenz zwischen positiver und negativer Beziehung eines Geschehens auf seine Umwelt eine reine, in sich eindeutige Unterscheidung dar. Schon das einfachste Geschehen des elementarsten Prozesses ist als ein solches komplex: komplex in seinem Selbst und in dem Geschehen, welches dieses Selbst in seinem je eigenen Werden ist. Eine solche Komplexität eines Prozesses ist bereits in dessen Anfang gegeben. In diesem Anfang ist nicht bereits die Doppelbeziehung der Einbeziehung und des Ausschlusses eines vorgegebenen Umweltgeschehens, sondern in dieser Doppelbeziehung die Differenz zwischen der Beziehung auf dieses Umweltgeschehen und einer Selbstbeziehung, die ein jedes Geschehen ist, sofern dieses ein jeweils eigenes und unverwechselbares Selbst ist. Diese beiden Beziehungen eines elementaren Prozesses, die Doppelbeziehung der Position und der Negation und die der Beziehung auf Anderes und der Beziehung auf sich selbst, lassen sich nicht eindeutig einander zuordnen. Positive und negative Beziehung sind zunächst als positive und negative Beziehungen auf Anderes, und diese beiden Beziehungen finden ihren ausdrücklichen Niederschlag in der Beziehung auf sich, in der Selbstbeziehung, die ein Prozeß, auch der einfachste Prozeß, darstellt. Whitehead hat seine Kosmologie der Prozesse in betontem Gegensatz zu Kants Idee einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik des reinen Gefühls genannt. Mit dieser Kennzeichnung war gemeint, daß Kants Vernunftkritik gewissermaßen zu hoch ansetzte und daß eine solche Vernunftkritik die Dimension der Emotionalität übersprang, welche ihre eigenen Strukturen und Formbildungen und in diesen eine eigene spezifische Rationalität aufweist, die sich von der Rationalität des Verstandes wesentlich unterscheidet. Im Gegensatz zur Wirkungsgeschichte des »deutschen« Idealismus, welcher die kritische Philosophie des Verstandes zu einer kritischen Philosophie der spekulativen Vernunft erweitert hatte, suchte Whitehead nach der einer solchen abgeleiteten Rationalität zugrunde liegenden Rationalität struktureller Emotionalität. Hier, wo es um die Frage nach dem guten Willen zum Neuanfang geht, kann zunächst das Problem der ontologischen Verbindung zwischen Kosmologie und Anthropologie außer acht bleiben, welches durch Whiteheads universale Kosmologie aufgeworfen wird. Für die hier thematische Frage nach dem guten Willen zum Neuanfang ist es hinreichend, die anthropologische Relevanz einer solchen »Kritik des reinen Gefühls« im Kontext einer allgemeinen Theorie des Werdens und der Prozesse hervorzuheben. Wie zu Anfang gesagt: Kants transzendentalphilosophischer Begriff eines guten Willens setzt eine Kritik der reinen Vernunft und in dieser Kritik eine kritische Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens voraus. Aus der Perspektive einer »Kritik des reinen Gefühls« ist jene Kritik unzulänglich im Blick auf die aller Erkenntnis innewohnende Emotionalität. Eine »Kritik des reinen Gefühls« ist analog zu Kants Kritik der reinen Vernunft eine Analyse menschlicher Regungen, welche in ihrer ausgezeichneten Komplexität aller vernünftigen Erkenntnis vorausgeht und die auch in aller Aktivität der menschlichen Vernunft nicht zum Verschwinden kommt. Was die whiteheadsche Kosmologie der Prozesse zu zeigen vermag, ist ein zweifaches: zum einen, wie komplex bereits die einfachsten emotionalen Regungen des Menschen sind, aus denen hervorgeht, was wir vereinfachend den menschlichen Willen nennen, und zum anderen, daß diese Regungen aller Komple-
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xität zum Trotz einer rationalen Analyse zugänglich sind. Und eben dies gilt auch für diejenigen emotionalen Regungen des Menschen, in denen ein Bedürfnis nach einem Neuanfang zu beobachten ist, ein Bedürfnis, aus dem irgendwie der gute Wille zu einem solchen Anfang entspringen mag. Die Komplexität einer solchen emotionalen Regung läßt sich aufgrund der bisherigen Analyse von Prozessen als Komplexität eines Gefüges von Relationen beschreiben, deren jeweilige Zuordnung zueinander einer genaueren Bestimmung bedarf. Als die wichtigste dieser Beziehungen waren – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – benannt worden: die Differenz zwischen der Beziehung auf Anderes und auf sich selbst, die positive und die negative Beziehung auf Anderes und auf sich sowie die Außen- und Innenperspektive angesichts eines Geschehens, die nicht mit der Beziehung eines Selbst auf Anderes und auf sich verwechselt werden darf. Im Blick auf dieses komplexe Gefüge von Beziehungen, welches sich bereits in den elementarsten menschlichen Regungen ausmachen läßt, ist der Kontrast der so genannten Modalitäten, d. i. der Kontrast von Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit, von ausschlaggebender Bedeutung. Dieser Kontrast spielt nicht erst in der rationalen Erkenntnis und im vernünftigen Handeln des Menschen eine wichtige Rolle. Wir finden diesen Kontrast bereits in eben jenen fraglichen Regungen des Menschen, aus denen der gute Wille zum Neuanfang entspringt. Wir spüren immer schon, wenn wir uns einer solchen emotionalen Regung hingeben, daß Kontraste bestehen zwischen Möglichem, Wirklichem und Notwendigem; und wir spüren diese Kontraste im Blick auf das, was geschehen ist, auf das, was geschieht, und im Blick auf das, was geschehen kann und geschehen soll. In diesen Regungen kommen den Vorstellungen von Möglichkeiten besondere Bedeutung zu. Wir spüren, was anders hätte verlaufen sollen und können, und wir spüren auch, daß alles anders kommen kann und anders werden soll. In diesen emotionalen Vorstellungen des Möglichen werden Möglichkeiten des Geschehens, des Geschehenen und des Kommenden repräsentiert. Vorausgesetzt ist in solchen Vorstellungen, daß nicht nur das Gegenwärtige und Zukünftige, sondern auch das Vergangene voller Möglichkeiten ist: voller Möglichkeiten, die ergriffen und die versäumt oder verfehlt wurden. Der gute Wille zum Neuanfang entspringt in Vorstellungen von Möglichkeiten des Geschehenen: von Möglichkeiten, die nicht verwirklicht werden konnten, und von Möglichkeiten, deren Wirklichkeit versäumt oder unterlassen wurde. Die elementaren emotionalen Regungen des Menschen sind ein Gemisch von Befriedigung und Enttäuschung. Wenn die philosophische Bedeutung der Prozeßphilosophie in die ursprüngliche Verbindung von Realitäts- und Wertbeziehung gesetzt wurde, so ist in dieser Verbindung der Kontrast von Wirklichkeit und Möglichkeit wirksam. Dieser Kontrast ist der elementare intentionale Gegenstand der einfachsten menschlichen Regungen, aus denen der gute Wille zum Neuanfang resultiert. Dieser Wille war unter dem Gesichtspunkt von Realität und Wert, und zwar als Verbindung eines Strebens zur freien Erkenntnis bestimmt worden. Er entspringt in menschlichen emotionalen Regungen, in denen Vorstellungen versäumter und unterlassener Möglichkeiten wirksam sind. Die Erkenntnis des guten Willens ist die Einsicht, daß die versäumten Möglichkeiten eigene Möglichkeiten waren, deren Versäumnis zu den Enttäuschungen geführt hat, die den guten Willen in seinem Bedürfnis nach einem Neuanfang bestimmen.
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IV. Die in dem hier vorliegenden Beitrag enthaltene Thematik betrachtet den guten Willen zum Neuanfang im Zeichen der Religionsphilosophie. In dieser Betrachtung gilt der fragliche Wille nicht als Illusion. Seine ihm innewohnende Erkenntnis enthält den Glauben an die eigene Berechtigung und an die Kraft der Verwirklichung seiner selbst. Wenn zu Anfang von der damit fraglichen Religion als Vernunftreligion gesprochen wurde, so im Sinne einer Religion der Vernunftphilosophie, die Religion nicht als spezifische Konfession und als spezielle kulturelle Institution betrachtet, sondern als eine anthropologische Konstante, die sich bei genauerer Analyse in den meisten religiösen Konfessionen der mannigfachen Kulturen wiederfinden läßt. Dementsprechend ist der gute Wille zum Neuanfang in seiner Erkenntnis von einem Vernunftglauben begleitet. Die Erkenntnis ist eine Selbsterkenntnis des fraglichen Willens, in der die Grenzen der eigenen Möglichkeiten erkannt werden. Insofern ist die Selbsterkenntnis jenes guten Willens ein Geschehen, in dem nicht nur der Kontrast von Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern auch eine Erkenntnis von Unmöglichkeiten enthalten ist. Es sind diese Erkenntnisse von Möglichkeiten, deren Verwirklichung dem Selbst des guten Willens verwehrt sind. Genauer: Es sind Erkenntnisse der Grenzen der eigenen Macht. Erkenntnisse, in denen diese Grenzen anerkannt sind. Kreativität hat, wie zu Anfang gesagt, viel zu tun mit Macht. In ihr liegt ein Vertrauen in eigene neue Möglichkeiten. Nicht von ungefähr ist die in allen Kulturen vorhandene Vorstellung von Kreativität eine Kraft zur Schöpfung, zur Schöpfung von Neuem. Dementsprechend verlegen wir heute in unsere Vorstellungen von Kreativität Vorstellungen von Fähigkeiten des Erfindens und Entdeckens in Technik und Kunst. Wir bewundern die Schöpfungskraft der Natur, so wie wir ihre Macht zur Zerstörung fürchten. Viele Kulturen, insbesondere die jüdisch-christliche, kennen in ihrer Religion die Schöpfungsmacht des einen Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat. Die menschliche Erkenntnis ist eine Macht, und sie enthält als solche Möglichkeiten der Kreativität, Möglichkeiten der Entdeckung von nicht gesehenen, von übersehenen, von neuen, bislang unbekannten Möglichkeiten. Die Erkenntnis, die dem guten Willen innewohnt, verbindet sich mit diesem zu einer Kreativität besonderer Art. Diese Erkenntnis ist eine Erkenntnis der eigenen unüberwindlichen Grenzen, eine Erkenntnis von Unmöglichkeiten, die dem eigenen Willen in seiner Erkenntnis gesetzt sind. Diese Erkenntnis von Unmöglichkeiten ist etwas gänzlich anderes als ein Gefühl der Ohnmacht, der Resignation. Diese Erkenntnis ist kreativ dadurch, daß sie den Vernunftglauben der Religion zu Hilfe ruft. Der gute Wille zum Neuanfang, der in den elementaren menschlichen Regungen seinen Ursprung hat, ist hier bereits in diesem Ursprung ein Spüren von Grenzen: ein Spüren von Unmöglichkeiten im Kontrast zu Möglichkeiten und Wirklichkeiten, ein Spüren der Unmöglichkeit der Rückkehr zu den eigenen Anfängen. Worin besteht der Vernunftglaube der Religion, der dem guten Willen zum Neuanfang innewohnt? Es ist, mit einem Wort, der Glaube an die Macht des wahrhaft Guten. Es ist der Glaube, daß es eine solche Macht des wahrhaft Guten gibt und daß diese Macht zu Hilfe kommt, von wo auch immer – ob von einem anderen Menschen oder von irgendwo anders her, von einem Unbekannten aus. Zwischen der Macht des
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Vernunftglaubens und der Macht des Guten selbst besteht aber kein Kausalitätsverhältnis. Deswegen sprechen wir von diesem Zusammenhang als einem religiösen Raum. Menschliche Freiheit ist eine ausgezeichnete Form der Kausalität. Der freie Wille enthält in seiner Erkenntnis die Einsicht in die Grenzen der eigenen Möglichkeiten. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Wo eine unglückliche Entwicklung, wo ein Unrecht begonnen hat, ist nicht mehr endgültig auszumachen, nur, daß es geschehen ist und daß es nicht hätte geschehen dürfen, dies ist eine Erkenntnis, die der freie Wille sich zu eigen machen kann und sich zu eigen machen soll, wenn er wahrhaft frei sein will. Ein freier Wille enthält den Willen, frei sein zu wollen. Hierin liegt die Eigentümlichkeit seiner Reflexivität im Kontrast zur Selbstbezüglichkeit, zur Reflexivität des einfachen Selbstseins eines elementaren Prozesses. Der Vernunftglaube an die Macht des wahren Guten besteht nicht darin zu glauben, daß Geschehenes ungeschehen gemacht werden könnte, so sehr wir dieses auch häufig hoffen und wünschen. Aber auch ein Gott, auch nicht der höchste Gott, kann ein Geschehen ungeschehen machen. Die Macht des wahren Guten ist eine andere. Nietzsche hat in seinem Gedanken von der »Umwertung aller Werte« den Traum einer neuen menschlichen Unschuld geträumt. Und in der Tat ist in uns Menschen ein tiefes und elementares Bedürfnis nach Unschuld. Aber bekanntlich verfügen wir auch über ein großes und höchst zweideutiges Instrumentarium, um diesem Bedürfnis gerecht zu werden. Die Bemühungen um die Versetzung in den Zustand der Unschuld verstricken den Menschen oft genug und gerade erst recht in eine eigene Schuldhaftigkeit. Auch ein Psychotherapeut verfügt nicht über die Macht der Erlösung. In der Welt ist viel zu viel an Versäumnis des Guten, viel zu viel Böses und Unrecht, als daß wir auf eine Unschuld aus eigener Kraft hoffen dürften. Was wir hoffen können, ist nur dies, daß der Andere, um dessen Verzeihung wir bitten, diese gewährt. Die Prozeßphilosophie A. N. Whiteheads enthält die Idee, daß versäumte Möglichkeiten des Guten in einem höchsten Wesen bewahrt sind als ein Schatz, der irgendwann von den Menschen zur Verwirklichung gebracht werden kann, daß Versäumtes nachgeholt, neu bewertet und in eine neue Wirklichkeit integriert werden kann. Die Erhaltung versäumter Möglichkeiten kann so zur Quelle eines Neuen, eines Besseren werden. In dieser Vernunftidee liegt die Hoffnung auf eine bessere, eine friedfertigere Welt. Der gute Wille zum Neuanfang entspringt aus dieser Hoffnung, die in dem Vernunftglauben an ein wahrhaft Gutes gegründet ist.
Literatur Cohen, Hermann: Ethik des reinen Willens, 5. Aufl., Werke Bd. 7, hg. v. Helmut Holzhey mit einer Einleitung von Steven S. Schwarzschild, Hildesheim 1981. Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 2. Aufl., nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Darmstadt 1966. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 1986.
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Jaspers, Karl: Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften Bd. IV, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, S. 385– 463. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Gesammelte Schriften Bd. VI, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907, S. 1–202. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Gesammelte Schriften Bd. III, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904. Rickert, Heinrich: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 5. Aufl., Tübingen 1929. Whitehead, Alfred North: Abenteuer der Ideen. Mit einer Einleitung von Reiner Wiehl, Frankfurt/M. 2000. Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology, hg. v. David Ray Griffith u. Donald W. Sherburne, New York 1978.
KOLLOQUIUM 5 Verstehen und Erfinden – Die Kreation von Sinn als hermeneutisches Problem
Rüdiger Bubner Einführung Jean Grondin Gadamers ungewisses Erbe Mario Ruggenini Kreativität und Interpretation. Gehört dazu noch die Frage nach der Wahrheit? Tilman Borsche Wie und wozu erfinden wir unsere Welt? Zum Problem von Referenz und Bedeutung im interkulturellen Dialog
Einführung Rüdiger Bubner
Wer etwas zu verstehen sucht, benötigt dazu einen Gegenstand – sei es einen Menschen, eine Sachlage (wie beispielsweise die jüngste Wahlentscheidung in Deutschland) oder eine Warnung, ein Hinweiszeichen und natürlich Texte jeder Art, informative, belehrende, poetische und andere. Wer etwas erfindet, hat indes keinen Gegenstand vor sich, sondern schafft den erst: das Auto, den Anrufbeantworter, eine künstlerische Komposition oder die phantastischen Fluggeräte beispielsweise aus den Skizzenbüchern des Leonardo. Wer sich fragt, ob Verstehen und Erfinden an einem imaginären Punkte etwa konvergieren, sieht sich auf eine der ältesten Kategorien der europäischen Rhetorik verwiesen: die inventio. Inventio bedeutet in dem Zusammenhang, neu und originell zu erfinden, was der Redner braucht, um sein Publikum, auf das er professionell bezogen ist, zum Verstehen zu bringen, besser gesagt: zu überzeugen. Die Erfindungsleistung des geschickten und erfolgreichen Rhetorikers entspricht also systematisch der Verstehenskapazität der Zuhörer, denen die Rede gilt. Erfunden wird nichts, was keinen Anklang findet. So definiert Cicero in seinem langen Gespräch über den Redner, daß es darauf ankomme, in Akkomodation zu den Seelen jener, zu denen wir reden, dieselben dazu zu bewegen, was wir als Redner erreichen wollen (accomodatum ad eorum animos, apud quos dicimus, ad id, quod volumus, commovendos / de oratore, II 114). Zweierlei ist dabei nötig: einmal die Kenntnis der Tatsachen, die wir uns nicht ausdenken (excogitare) können, sondern die als Fakten, Dokumente, Verträge, Rechtsnormen usw. vorliegen und respektiert werden müssen. Dann folgt aber zweitens die Argumentation, mit deren Hilfe ein Redner sein Ziel erreichen will. Da ist nichts von der Sache vorgegeben, vielmehr hängt die ganze Kraft am Erfinden des Passenden, das man sich ausdenken muß (de inveniendis argumentis cogitandum est). Von dem Exempel des rhetorischen Erfindens im Dienste des Verstehens komme ich zu einem zweiten Modell. Bekanntlich hat die christliche Vorstellung eines weisen und allmächtigen Schöpfergottes seit der Renaissance das ästhetische Denken bis hinein in die neuere Geniekonzeption bestimmt. Aus dem Gedankenkreis zitiere ich jetzt Pico della Mirandola. Der hat 1486 seine berühmte Rede über die Würde des Menschen (de dignitate hominis) verfaßt und so ein klassisches Dokument des Humanismus hinterlassen. Dort erklärt Gott als Schöpfer aller Dinge, der jedes bestimmt und an seinen Platz gestellt hat, schließlich dem Menschen, der alles beurteilen und bewundern solle, daß dessen eigene Stellung unbestimmt bleibe. Er gehöre als Abbild des Schöpfers in die Mitte der Welt und sei gewissermaßen sein eigener Former und Erfinder (ipsius quasi arbitrarius honorarius que plastes et fictor). Darin liegt der Kern einer ganzen Kulturtheorie. Der
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Mensch schafft wie ein zweiter Gott sich und sein Umfeld frei, potent und durchaus mit dem Risiko, vom göttlichen Vorbild ins Tierische zu entarten. Hier wird zwar vorbildlose Erfindung, Autonomie und Eigendefinition eröffnet. Aber die göttliche Schöpfung der existenten Welt geht stets voran. Der erfinderische Mensch ist zugleich zum richtigen Verständnis des Kosmos aus seinen eigenen Kräften aufgerufen. Invention und Interpretation scheinen zu konvergieren. Mein drittes Lehrstück ist zugleich mein letztes. Die Schweizer Poetiker Bodmer und Breitinger benutzen im frühen 18. Jahrhundert die von Leibniz formulierte Idee, daß Gott eine Vielzahl möglicher Welten hätte schaffen können. Dieses logisch-metaphysische Konzept wird von den beiden Schweizern ästhetisch ausgebeutet, indem sie die Vielfalt möglicher Welten unterstellen, welche prinzipiell über die Ordnungsgestalt der realen Welt, die wir kennen, hinausreichen – diese Pluralität spiele sich in der künstlerischen Phantasie ab. Damit ist jedem Realismus einer Nachahmung des Vorhandenen eine Absage erteilt. Dennoch verlaufen sich die Phantasiewelten nicht ungeregelt ins Absurde. Sie sind nämlich durch den absoluten Geist Gottes, der sie allesamt ermöglicht, trotz ihrer poetischen Freiheit vom Horizont des Verstehbaren eingefaßt. Kein anarchistischer Ausbruch aus der Kosmosordnung, sondern nur die radikale Erweiterung unserer Perspektive ins Unvertraute.
Gadamers ungewisses Erbe Jean Grondin (Montréal)
Man könnte sich vielleicht fragen, ob das Thema des Erbes in die Thematik unseres Kongresses passt, die der Kreativität gewidmet ist. »Erbe« gilt, so meint man, der Vergangenheit, während Kreativität und Innovation zukunftsgerichtet seien. Der Hermeneutik von Gadamer wird ja oft nachgesagt, sie sei zu sehr auf die Vergangenheit, die Tradition gerichtet und habe wenig zum Thema der Kreativität beizutragen. Das mag für Gadamer zutreffen, aber mir scheint das Thema des Erbes etwas verfehlt, wenn man es der Kreativität entgegensetzt. Einerseits kann sich das Neue, das Kreative nur behaupten, wenn es sich vor dem Horizont eines Hergebrachten abzeichnet: Es gibt nämlich keine Kreativität ohne Erbe, also kein Einstein ohne Newton oder keine nichteuklidische Geometrie ohne Euklid. Andererseits, und wichtiger noch: Ein Erbe ist nur ein Erbe, wenn es angetreten wird, wenn es übernommen wird. Und diese Übernahme bildet stets eine Antwort der Gegenwart auf das, was ihr von der Vergangenheit überliefert wird. In diesem Sinne möchte ich mich im folgenden über das Erbe Gadamers besinnen, wie es von der Gegenwart übernommen werden kann. Ein philosophisches Erbe kann gewiß oder ungewiß sein. Vielleicht spielen beide Aspekte in jedes bedeutende Erbe hinein. In einem gewissen Sinne erscheint mir das Gadamersche Erbe gewiß genug: In einer zunehmend wissenschaftlich und technisch orientierten Zivilisation ist es ihm gelungen, andere und vielleicht grundlegendere Wahrheitsquellen kenntlich zu machen: Die Wahrheit der Kunst, der Geschichte und der Geisteswissenschaften, des Gesprächs, der Philosophie und sogar der Religion, wie er in seinem Spätwerk immer mehr betonte, Wahrheitsmodelle, die schließlich ihren Grund in unserer Spracherfahrung finden. Darin liegt ja der Sinn des Titels »Wahrheit und Methode«, mag er auch erst nachträglich entstanden sein (der ursprüngliche Titel sollte ja »Verstehen und Geschehen« lauten): Er will die grundlegende Vorgängigkeit der sprachlich artikulierten Sinnerfahrung gegenüber der methodischen Erkenntnis an den Tag legen. Die »hermeneutische Erfahrung«, wie Gadamer sie nannte, ist von dem methodischen Modell durch zwei Merkmale unterschieden: Ihr Gegenstand ist nie von uns ganz verschieden, da sie immer ein Selbstwissen impliziert, für das Gadamer das Paradigma der aristotelischen Phronesis bemüht. Es ist also kein »Wissen auf Abstand«, wie es Kierkegaard formulierte. Ferner zielt die hermeneutische Erfahrung nicht auf Beherrschung und Kontrolle, sondern auf Teilhabe und Bildung. Gadamers Erbe liegt also darin, daß er uns einen Sinn für das Erbe gegeben hat, für das in uns wirkende Erbe. Er ist der Wirkungsgeschichte dieses Erbes auf mannigfache Weise nachgegangen. Sein Werk hatte hier eine wertvolle anamnetische Wirkung, von der künftige Generationen wohl immer etwas zu lernen haben werden.
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Wenn sich die Frage nach Gadamers Erbe stellt, liegt das aber auch und vor allem daran, daß dieses Erbe auf weite Strecken hin ungewiß und insofern klärungsbedürftig ist. In dieser Ungewißheit läßt sich bis zu einem gewissen, sehr sehr bescheidenen Grade unsere Situation Gadamer gegenüber mit der der Schüler Hegels nach dem Tode des Meisters im Jahre 1831 vergleichen. Die sogenannten Junghegelianer mußten sich fragen: Was sollen wir denn aus diesem Hegelschen Erbe machen? Selbstverständlich lassen sich die beiden Situationen nicht recht vergleichen, das sei sonnenklar: Der systematische Anspruch des Gadamerschen Denkens, selbst wenn es Anspruch auf Universalität erhebt, läßt sich mit dem Hegelschen keineswegs messen, die »politische« Situation ist auch grundverschieden, und wir werden selbstverständlich nie so vermessen sein, uns mit den Schülern Hegels zu vergleichen. Diese Unterschiede lassen sich auf keinen Fall verkennen. Nichtsdestoweniger erscheint mir die Situation insofern ähnlich, als es im Denken Gadamers Spannungen gibt, die denjenigen ähneln, die die Erben Hegels im Denken ihres Lehrers zu gewahren meinten. Sie sahen nämlich widersprüchliche Tendenzen im Herzen des Hegelschen Systems, die sie zur Frage nötigte: in welche Richtung geht letzten Endes das Hegelsche Denken? Die entscheidende Spannung ist ja bekannt: Will denn Hegel eine neue Theologie aufstellen (wie die Rede von der Fleischwerdung des Geistes und vom absoluten Geist zu suggerieren schien) oder zielt sein Denken vielmehr auf ein radikal geschichtliches, ja anthropologisches Denken, das mit der Theologie aufräumen will? Die Junghegelianer haben hier eine Zweideutigkeit erkannt und gesehen, daß man sich zwischen zwei Lesarten des Hegelschen Denkens entscheiden mußte: sollen wir Hegel als einen Theologen lesen, gemäß den Buchstaben seines Systems, oder sollen wir seinen historisierenden Zug radikalisieren und somit die Theologie und die Metaphysik liquidieren, anstatt sie zu vollenden? Über diese Frage entzweite sich bekanntlich die Hegelsche Schule in eine linke und eine rechte. Es versteht sich, ich wiederhole, daß sich die Situation mit Gadamer völlig anders ausnimmt. Der Anspruch seines Systems ist grundverschieden, wenn man denn überhaupt von System sprechen darf, und wir wissen, daß wir es nicht dürfen. Hier geht es sicherlich nicht darum, sich zwischen einer Gadamerschen Linke und Rechte zu entscheiden. Nichtsdestoweniger denke ich, daß es im Denken Gadamers Spannungen, wenn nicht Widersprüche gibt, die uns zur Entscheidung aufrufen. Das Gadamersche Denken ist bekanntlich ein sehr konziliantes und versöhnliches, darin dem Hegelschen (oder dem Ricœurschen) nicht unähnlich. Aber es fragt sich, ob diese Versöhnung immer möglich ist. In diesem Sinne stellt sich die Frage nach seinem Erbe. Die Frage setzt voraus, daß dieses Erbe bereits auf eine bestimmte Art und Weise Aufnahme gefunden hat. Wenn ich beispielsweise Namen nenne wie die von Emilio Betti, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Jacques Derrida, Richard Rorty, John Caputo oder Gianni Vattimo, dann leuchtet sofort ein, daß die Rezeption von Gadamer im ganzen weitgehend relativistisch und historistisch ausgefallen ist. Diese Rezeption konnte sich sehr wohl auf das Werk selbst berufen, deren Aufgabe es war, die Geschichtlichkeit zum hermeneutischen Prinzip zu erheben. Sie tat es, indem sie die Vorurteile – also die
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Vorurteile einer Zeit, einer sprachlichen Gemeinschaft – zu Bedingungen des Verstehens erklärte. Gadamer würde sich insofern als der Fürsprecher eines radikalen und sogar glücklichen Historismus entpuppen, der die Idee einer ungeschichtlichen Wahrheit in Frage stellt. Dieses Denken zog sofort die Angriffe von Betti und Habermas nach sich: Als erste fragten sie sich, ob die Hermeneutik damit nicht einem heillosen Relativismus anheimfalle (ohne es, komischerweise, ganz anzuerkennen, aber dann um den Preis der Konsistenz). Auf der anderen Seite haben postmoderne Autoren Gadamer gelegentlich kritisiert, weil sein Denken nicht relativistisch oder historistisch genug sei bzw. weil er es versäumte, die relativistisch-nihilistischen Konsequenzen seines eigenen Denkens ganz einzusehen (Caputo, Vattimo). Deshalb haben sie es unternommen, eine radikalere Hermeneutik auszuarbeiten, für die jeder Seinsbezug von der Sprache und der Geschichte abhängt, so daß man überhaupt nicht mehr von einem Bezug zum Sein sprechen darf. Das sind epische Debatten, die bereits zum Erbe Gadamers gehören. Ich bin aber der Meinung, daß das Werk Gadamers in diesen Fragen nicht von kristallinischer Klarheit ist. Deshalb befinden wir uns vor der Frage, die die Junghegelianer bereits stellten: in welche Richtung geht denn letzten Endes das Gadamersche Denken? Die Alternative ist hier nicht die zwischen einer rechten und einer linken bzw. zwischen einer Theologie und einer Anthropologie. Sie lautet vielmehr: Zielt denn das Gadamersche Denken auf einen radikalen Historismus, wie etliche Texte von Wahrheit und Methode und große Teile seiner Rezeption zu suggerieren scheinen, oder zielt es nicht vielmehr darauf, den Historismus zu überwinden? Und falls das letztere zutrifft: Wie möchte es diese Überwindung des Historismus zuwege bringen, und gelingt sie ihm? Darf man hier die Zweideutigkeit beibehalten oder soll man sie auflösen? Was Gadamer angeht, meine ich, daß er die Zweideutigkeit sehr wohl toleriert hat und alle seine Türen offen lassen wollte. Es fragt sich aber, ob sich dieser Seiltanz wirklich durchführen läßt. Ich glaube selber, daß man den Widerspruch auflösen muß, und dies vor allem, wenn man auf die Herausforderung des Postmodernismus antworten will, die ja als solche nicht existierte, als Gadamer Wahrheit und Methode niederschrieb. Gleichwohl hat sich der Postmodernismus (man denke hier etwa an Rorty und Vattimo) Gadamers Erbe kongenial angeeignet. Es muß indes auffallen, daß Gadamer in seinen späteren Schriften zu den Konsequenzen des Postmodernismus (insbesondere denen von Derrida) auf Distanz ging. Man muß sich aber fragen, wie er es tun konnte von seinen historistischeren Prämissen aus, die den Postmodernen Milch und Honig sind. Im folgenden möchte ich also einige der daraus entspringenden Spannungen im Werk Gadamers namhaft machen und die Frage stellen, ob sich die Zweideutigkeit beibehalten läßt oder ob sie aufzuheben ist. Ich werde es tun, indem ich mich – im telegraphischen Stil – auf die drei Hauptteile von Wahrheit und Methode konzentriere und die Themen der Bildung, der Vorurteile und der Sprache erörtere.
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1. Kunst und Bildung: eine Bildung wozu eigentlich? Den Ausgangspunkt von Gadamer bildet bekanntlich eine Reflexion über den Wahrheitsanspruch der Geisteswissenschaften. Seine Grundthese ist, daß sich die Geisteswissenschaften viel besser aus der humanistischen Bildungstradition als aus dem Methodenideal der neuzeitlichen Wissenschaft verstehen lassen. Eine kleine Merkwürdigkeit mußte dabei immer auffallen: Wenn Gadamer von der humanistischen Bildungstradition spricht, redet er so gut wie nie von den Gründern des Humanismus in der Renaissance. Nie ist von klassischen Humanisten wie etwa Erasmus oder Pico de la Mirandola die Rede. Dies fällt umso mehr auf, als sich aus ihren Werken sehr viel für eine humanistische Bildungskonzeption gewinnen ließe. Gadamers Eideshelfer sind andere: Er bezieht sich lieber auf Autoren des 17. Jahrhunderts wie Baltasar Gracián (1601–1658) und den napolitanischen Humanisten Vico (1669–1744). Indes, die am meisten zitierten Autoren sind Herder und Hegel. Gewiß keine Katastrophe, denn Herder und Hegel fußen ja selber auf der humanistischen Tradition. Es handelt sich dennoch um eine etwas zweideutige Inspiration, wie wir sehen werden. Einschlägiger ist der Inhalt der Bildungskonzeption, die Gadamer dabei vorschwebt. Worin besteht Gadamers Bildungsideal? Ziel der Bildung ist es, führt Gadamer aus, zur Ausbildung des sensus communis, des Geschmacks und der Urteilskraft beizutragen. Gadamer beschreibt diese Bildung durchweg im Sinne einer Erhebung zu einer Universalität, die nicht die des wissenschaftlichen Gesetzes ist. Es handelt sich eher um die Universalität, die uns eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber unserer geschichtlichen und gesellschaftlichen Herkunft gewährt. Darauf liegt in der Tat der Akzent in Gadamers eindrücklicher Analyse: Wer gebildet ist, wird einer Allgemeinheit des Urteils fähig, kraft derer er eine Distanz von sich selbst und dem Kreis seiner Vorurteile gewinnt.1 Gadamer hebt übrigens auch die politische Bedeutung dieser neuen Bildungsgemeinschaft hervor, die im 17. Jahrhundert entstand und das alte Ideal der ständischen Gesellschaft ablöste:
Siehe die wichtige Diskussion des Bildungsideals von Baltasar Gracián in Wahrheit und Methode: »Das Bildungsideal, das Gracian (…) aufstellt, sollte Epoche machen. (…) Innerhalb der Geschichte der abendländischen Bildungsideale liegt seine Auszeichnung darin, daß es von ständischen Vorgegebenheiten unabhängig ist. Es ist das Ideal einer Bildungsgesellschaft. Wie es scheint, vollzieht sich solche gesellschaftliche Idealbildung überall im Zeichen des Absolutismus und seiner Zurückdrängung des Blutadels. Die Geschichte des Geschmacksbegriffs folgt daher der Geschichte des Absolutismus von Spanien nach Frankreich und England und fällt mit der Vorgeschichte des dritten Standes zusammen. Geschmack ist nicht nur das Ideal, das eine neue Gesellschaft aufstellt, sondern erstmals bildet sich im Zeichen dieses Ideals des ›guten Geschmacks‹ das, was man seither die ›gute Gesellschaft‹ nennt. Sie erkennt sich und legitimiert sich nicht mehr durch Geburt und Rang, sondern grundsätzlich durch nichts als die Gemeinsamkeit ihrer Urteile oder besser dadurch, daß sie sich überhaupt über die Borniertheit der Interessen und die Privatheit der Vorlieben zum Anspruch auf Urteil zu erheben weiß. Im Begriff des Geschmacks ist also ohne Zweifel eine Erkenntnisweise gemeint. Es geschieht im Zeichen des guten Geschmacks, daß man zur Abstandnahme von sich selbst und den privaten Vorlieben fähig ist.« (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 1986 [1960], S. 41 [Sperrungen Verf.]). 1
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Sie erkennt sich und legitimiert sich nicht mehr durch Geburt und Rang, sondern grundsätzlich durch nichts als die Gemeinsamkeit ihrer Urteile oder besser dadurch, daß sie sich überhaupt über die Borniertheit der Interessen und die Privatheit der Vorlieben zum Anspruch auf Urteil zu erheben weiß. 2 Ein schöner Gedanke: Die aus der Bildung erwachsende Urteilskraft gestattet es, uns »über die Borniertheit der Interessen und Vorlieben« hinaus zu erheben. Ausschlaggebend ist also hier auf keinen Fall die Verherrlichung der eigenen Partikularität. Es geht im Gegenteil darum, ihre Borniertheit zu überwinden und seinen Horizont zu erweitern. Darin liegt für Gadamer der Sinn der Bildung und dessen, was man Kultur nennen kann und was sich tatsächlich auch Kultur (im ciceronischen Sinne) nennt, d. h. die Beherrschung der eigenen Partikularität, die eine Erhebung zu einem allgemeineren Niveau möglich macht. Diese Allgemeinheit ist freilich nicht die der reinen Vernunft oder des mundus intelligibilis. Sie ist durchweg geschichtlich. Aber ebenso wichtig ist es, zu sehen, daß diese Bildung auch gegen die eigene geschichtliche Bedingtheit gerichtet ist. Dies trifft auch für die Wahrheitserfahrung zu, die Gadamer anhand der Kunst herausarbeiten wird. Es steht außer Zweifel, daß die Kunsterfahrung immer eine geschichtliche ist, aber nach Gadamer transzendiert sie auch ihre geschichtliche Bedingtheit, indem sie es uns erlaubt, das Wesen von etwas zu erkennen. Kunst liefert eine Wesenserkenntnis, betont Gadamer. So ist es z. B. Goyas berühmtes Gemälde vom »2. Mai« im Prado, das es uns erlaubt, das Wesen der napoleonischen Besetzung von Spanien zu verstehen. Sie kennen ja alle das eindrucksvolle Bild: Gesichtslose Soldaten erschießen aus nächster Nähe hilfslose, waffenlose spanische Bauern, die die Arme hochheben. Was das Bild uns sehen läßt, ist ein Wesen von bleibender Kraft: nämlich das wahre Wesen des spanischen Aufstandes von 1810, aber auch das Wesen des menschlichen Widerstandes gegen jede Form von Besetzung überhaupt. Der letzte Gadamer sprach hier von der »Transzendenz der Kunst« (in Wahrheit und Methode nannte er sie eher die »Wahrheit« der Kunst). So lautet ein Ensemble von Aufsätzen zur Kunst, die sich in seinem letzten Buch Hermeneutische Entwürfe3 finden. Man sieht also: In der Bildung sowie in der Erfahrung der Kunst geht es Gadamer nicht primär darum, die geschichtliche Bedingtheit des Verstehens hervorzukehren. Er will vielmehr zeigen, daß man sie ein Stück weit überwinden kann, in einer Art und Weise, für die die Kunsterfahrung das Modell abliefert. Hier erfolgt durchaus eine Erhebung zu einer Allgemeinheit des Urteils, die mit einem Abstand zum eigenen Provinzialismus einhergeht. Daraus ergibt sich, daß Gadamer viel eher ein Denker der Universalität als ein Denker des geschichtlichen Partikularismus ist.
Ebd. Hans-Georg Gadamer: Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2000, Teil III: »Zur Transzendenz der Kunst«. Siehe auch das Gespräch in: Jean Grondin (Hg.): Gadamer-Lesebuch, Tübingen 1977, S. 283 f.: »Ein Werk der Kunst ist gut oder schlecht, stark oder schwach. Aber das, was man dabei erfährt, ist eine spezifische Gegenwärtigkeit. Das nenne ich hier Transzendenz.« 2 3
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Deshalb erscheint mir die betonte Bezugnahme auf Herder etwas ambivalent in Wahrheit und Methode. Denn Herder läßt sich ja auch als ein Autor lesen, der die geschichtliche Partikularität verherrlicht. Denker wie Charles Taylor und Alain Finkielkraut in Frankreich (La défaite de la pensée, Gallimard, 1987) haben die mehr oder weniger verhängnisvollen Konsequenzen dieser herderianischen Zelebration der geschichtlichen Partikularität ausgemalt. Es sei auch ins Gedächtnis gerufen, daß sich Gadamer selber in diesem Geiste im Jahre 1941 in seinem sehr zeitbedingten Aufsatz über »Volk und Geschichte im Denken Herders« mit Herder solidarisiert hatte. Wenn es also hier zwei Gadamer gibt, einen »herderianischeren« Gadamer, der die geschichtliche Partikularität verherrlicht, und einen Gadamer, der eher eine Erweiterung unseres geschichtlichen Horizontes anmahnt, dann glaube ich, daß man sich für den letzteren zu entscheiden habe.
2. Vorurteile und Horizontverschmelzung Dieselbe Zweideutigkeit taucht im zweiten Teil von Wahrheit und Methode wieder auf, die die Geschichtlichkeit zum hermeneutischen Prinzip erheben will. Vielleicht mehr als anderswo in seinem Œuvre scheint hier der Akzent auf den uns bestimmenden Vorurteilen zu liegen. Wir sind so sehr von der Geschichte und der Tradition geprägt, daß Vorurteile provokativ zu »Bedingungen des Verstehens« erklärt werden. Das sind ja bekannte Ideen, die den Postmodernisten Flügel verliehen. Wenn man sich die Texte von Gadamer genauer ansieht, drängt sich jedoch – ja erstaunlicherweise – eine andere Lesart der Gadamerschen Grundkonzeption auf. Wenn Gadamer vom hermeneutischen Zirkel spricht, liegt der Akzent weit weniger auf der unüberwindlichen Bestimmtheit durch unsere Vorurteile als auf ihrer Berichtigung, die stets geboten und wünschenswert sei, will man nicht dem Kreis seiner Vormeinungen verhaftet bleiben. Gadamer schreibt tatsächlich: Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ›an den Sachen‹ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. Es gibt hier keine andere ›Objektivität‹ als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet.4
Gadamer: Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 272. Der Passus kurz davor lautet (ebd., S. 271 f., Hervorhebungen Verf.): »Daß jede Revision des Vorentwurfs in der Möglichkeit steht, einen neuen Entwurf von Sinn vorauszuwerfen, daß sich rivalisierende Entwürfe zur Ausarbeitung nebeneinander herbringen können, bis sich die Einheit des Sinnes eindeutiger festlegt; daß die Auslegung mit Vorbegriffen einsetzt, die durch angemessenere Begriffe ersetzt werden: eben dieses ständige Neu-Entwerfen, das die Sinnbewegung des Verstehens und Auslegens ausmacht, ist der Vorgang, den Heidegger beschreibt« [woran im übrigen Zweifel erlaubt sind]. 4
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Gadamer macht dabei auf mannigfache Weise geltend, daß sich die Vorurteile bewähren und erweisen sollen, und zwar an den Sachen selbst. Diese Passagen sind den nietzscheanischeren Erben Gadamers immer ein Dorn im Auge gewesen. Indem sie den Bezug auf die Sache selbst preisgaben, meinten sie hier, Gadamer besser zu verstehen, als er sich selbst verstand: Wie läßt sich denn von den »Sachen selbst« in einer panhermeneutischen Philosophie reden, die einen universellen Perspektivismus verteidigt, für die es sinnlos erscheint, von einer Übereinstimmung mit den Sachen selbst zu sprechen? Hier gibt es zweifelsohne eine Spannung, wenn nicht einen Widerspruch im Denken Gadamers, und zwar in seinem Kern. Das Entweder-oder, vor dem wir uns befinden, erinnert diesmal an das Dilemma der Nachkantianer mit dem kantischen Ding an sich: Entweder behält man das Ding an sich und die Idee einer Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihm bei, oder man wirft es weg zugunsten einer Konzeption, für die das Wissen eine reine Erzeugung des Geistes ist. Hier muß man sich also zwischen zwei Lesarten von Gadamer entscheiden, die sich vielleicht beide auf seine Texte berufen können, die aber miteinander inkompatibel sind: entweder eine postmoderne Lesart, die auf die Idee der Adaequatio und der Sache selbst verzichtet, oder eine Lesart, die sie beibehält. Ich glaube meinerseits, daß eine Preisgabe der Adaequatio völlig fatal wäre, denn in diesem Fall ließe sich die Möglichkeit einer Revision unserer Vorurteile und einer Überwindung der Borniertheit unserer Perspektiven nicht erklären. Eine ähnliche Spannung wohnt Gadamers berühmter Idee einer Horizontverschmelzung inne. Im Verstehensgeschehen verschmilzt sich der Entwurf des Verstehens mit seinem Gegenstand so sehr, daß sich beide nicht recht unterscheiden lassen. Das ist übrigens eine hübsche Beschreibung dessen, was eine gute Übersetzung leistet: Der Sinn eines Passus aus einer fremden Sprache oder Zeit verschmilzt mit der Sprache des Übersetzers und der Gegenwart. Indes, man muß auch sehen, daß die Möglichkeit des Irrtums auch hier besteht: Eine gelungene oder elegante Übersetzung oder Interpretation (oder Horizontverschmelzung) kann sich auch als falsch erweisen, und wichtiger noch: man kann es auch wissen. Aus diesem Grunde spricht Gadamer in Wahrheit und Methode von einer »kontrollierten Horizontverschmelzung«. Eine schöne Idee, die aber der Kontrollidee einen Stellenwert einräumt, der ihr in Wahrheit und Methode eher abgesprochen wird. In der »kontrollierten Horizontverschmelzung« verliert sich nämlich eine für Gadamer wesentliche Komponente, nämlich die, daß wir nicht wirklich Herr des Verstehensprozesses sind. Dies bringt Gadamer dazu, das Geschehensmoment im Verstehen hervorzukehren. Wahrheit und Methode sollte ja ursprünglich »Verstehen und Geschehen« heißen. Es springt in die Augen, daß das Geschehensmoment dabei just die Grenze der Kontrollidee markieren möchte, die die neuzeitliche Verstehenskonzeption auszeichnet. Der Gedanke einer »kontrollierten Horizontverschmelzung« stellt uns also vor die Frage: Läßt sich denn ein Geschehen kontrollieren? Worauf soll auch hier der Akzent liegen? Auf dem Geschehen oder auf der Kontrolle? Der evokative, jedoch schwierige Horizontbegriff hat seinerseits eine etwas schillernde Bedeutung in Wahrheit und Methode. Worin besteht ein Horizont? Ein Horizont
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ist etwas, das die Sicht sowohl möglich macht als auch begrenzt. Es gibt einerseits den Horizont, der das Verstehen einkapselt und limitiert und dem man insofern verhaftet bleiben kann, andererseits gibt es den Horizont, der uns hilft, diese Begrenzung zu relativieren. Dieser letztere Sinn fällt besonders auf, wenn Gadamer sagt, daß die Bildung uns dazu bringt, »Horizont zu gewinnen«: Der Begriff ›Horizont‹ bietet sich hier an, weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben muß. Horizont gewinnen meint immer, daß man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.5 »Horizont gewinnen« bedeutet also: »über das Nahe und Allzunahe hinaussehen« lernen (auf Französisch sagt man dazu: prendre du recul, und im Englischen: to put things in perspective). Der Horizont kann also zweierlei besagen: entweder die Perspektive, die die Sicht eingrenzt, oder aber just die Distanznahme von dieser partikularen Perspektive. Wenn man sich also zwischen zwei Lesarten der Hermeneutik entscheiden muß, also eine, die sich auf die Partikularität des Horizontes und der Differenz zurückbezieht, und eine andere, die eine größere Universalität, mehr Horizont verspricht, dann glaube ich auch hier, daß man für die letztere optieren soll.
3. Die Sprache der Dinge? Nach Gadamer gründet letzten Endes jede Horizontverschmelzung auf der Sprache. In ihr verschmelzen Sprache und Gegenstand, aber auch der Denkprozess und sein sprachlicher Vollzug. Diese Verschmelzung findet ihren Ausdruck in dem berühmten Diktum: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« Es wäre ein understatement zu sagen, daß es sich auch hier um ein vieldeutiges Diktum handelt. Man weiß indessen, wie es von den postmodernen Autoren rezipiert worden ist. Es trifft sich nämlich, daß sowohl Rorty als auch Vattimo von diesem Aspekt des Gadamerschen Erbes gesprochen haben in den Vorträgen, die sie anlässlich des hundertsten Geburtstages von Gadamer in Heidelberg am 12. Februar 2000 gehalten haben.6 Beide haben dabei Gadamers Diktum im Sinne eines linguistischen Relativismus gedeutet: Sein reduziert sich auf unsere Sprache für Vattimo, während Rorty freudigen Herzens einen »Nominalismus« verteidigt, für den unsere Erkenntnis es nur mit Begriffen, de dicto, und nie mit dem Sein, de re zu tun hat. Sie taten es mit guten Argumenten, die dem Geist der Zeit entsprechen. Gadamer schien ja selber zu behaupten, es gäbe nur einen sprachlichen Zugang zum Sein, so daß jede Seinsauffassung von der Sprache herrühren würde. Man könnte daraus den Schluss ziehen, daß jede Sprache, ja jeder Sprechende einen verschiedenen Zugang zum
Gadamer: Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 310. Siehe Richard Rorty: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache in: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M. 2001, S. 30–49 und Gianni Vattimo: Weltverstehen – Weltverändern, in: ebd., S. 50–60. 5 6
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Sein habe. Das Sein wäre somit nichts als eine Konstruktion oder gar Schöpfung der Sprache. Diese These schien Gadamer nahezulegen, als er die These vertrat, daß die Sprache sowohl den hermeneutischen Vollzug (also das Verstehen) als auch den hermeneutischen Gegenstand (also das »Sein«) bestimme. Gadamer wäre insofern ein mehr oder weniger geheimer Nominalist im Sinne Rortys. Gleichwohl ist das nicht das einzige, was Gadamer behauptet. Die für Gadamer grundlegende Idee einer Verschmelzung zwischen dem Sein und der Sprache läßt sich nämlich anders hören je nachdem, ob der Akzent auf der Sprache oder dem Sein liegt.7 Wenn der Akzent auf der Sprache liegt, die den Bezug zum Sein tragen soll, dann gibt es keinen Zweifel, daß in diesem Fall die Sprache das Sein verschlingt und verzehrt. Man kann dann nicht mehr vom Sein sprechen, sondern bestenfalls von einem »gesehenen Sein« (esse est percipi), also von einem von der Sprache erfundenen oder konstruierten Sein. In dieser Situation behielten die Postmodernen Recht: es gibt nur (sprachliche) Interpretationen, kein Sein. Wie stünde es aber, wenn der Akzent in dem besagten Satz auf dem Sein läge? Das Sein würde dann zum Subjekt und Träger des Satzes (was es grammatisch bereits ist). In diesem Fall wäre die Sprache nicht nur die unserer Interpretationen, sondern die des Seins, so daß das Sein seine Verständlichkeit in der Sprache entfalten würde. Zugegeben: Das klingt denkbar komisch für unsere nominalistischen Ohren. Nichtsdestoweniger ist es sehr wohl das, was Gadamer in den letzten Seiten von Wahrheit und Methode ausführt bzw. das, worauf er hinaus will. Gadamers Konzeption erscheint hier sehr spekulativ, aber sie verleiht dem Diktum »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« ein ganz anderes Profil. Die hier tragende, selten verstandene Idee ist die, daß die Sprache nicht nur die des Verstehens (und insofern einer Kultur oder Gemeinschaft) ist, sondern auch die des Seins, d. h. die Sprache der Dinge selbst, im Sinne des subjektiven Genitivs. Die Sprache ist zunächst »die Sprache der Dinge«8. Man könnte hier den Eindruck gewinnen, es handele sich doch nur um eine Metapher oder eine façon de parler. Ja und nein. Ja, weil wir es sind, die so und so sprechen, aber wir können nur so sprechen, weil es ein ursprüngliches Band zwischen Sein und Sprache gibt. Um diese ursprüngliche, ja »unvordenkliche« Beziehung zu denken, rekurriert Gadamer im letzten Teil von Wahrheit und Methode auf die mittelalterliche Metaphysik und seine Transzendenzienlehre. Es handelt sich um eine denkbar verblüffende Bezugnahme für einen Denker der Moderne. Ihr Sinn ist aber klar: Dieser Metaphysik war es noch gelungen, das ursprüngliche Band zu denken, das das Sein und die Sprache bindet, indem sie in ihnen nicht eine Gegenüberstellung (d. h. den Geist und seine Sprache auf der einen Seite, das Sein oder die Welt auf der anderen), sondern eine originelle Intimität und Zusammengehörigkeit erkannte.
Dazu vgl. auch meine Studie La fusion des horizons. La version gadamérienne de l’adaequatio rei et intellectus?, in: Archives de philosophie 68 (2005). 8 Siehe seine Studie von 1960: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Gesammelte Werke Bd. 2, Tübingen 1986, S. 66–75. 7
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Der Grundgedanke ist hier der, daß das Licht der Sprache bereits die des Seins ist. Diese Idee ist so ungeläufig, daß man sie vielleicht anhand von einigen Beispielen erläutern darf. Es ist jedermann bekannt, daß die neuerliche Genetik das menschliche Genom ans Licht bringen wollte, in dem sich unser genetischer Code zusammenballt. Bei dieser Theorie handelt es sich gewiß um eine wissenschaftliche, also falsifikable Erklärung und insofern um eine menschliche Sicht auf unsere Gene. Vermutlich wird man von den Genen in 100 Jahren ganz anders sprechen. Dafür handelt es sich aber nicht um eine pure Interpretation, d. h. um eine reine Erfindung unserer Intelligenz. Denn es ist der Genotyp selber, also die Sache selbst, die der Genetiker zur Sprache bringen will. Das Beispiel lehrt also: die Sprache unseres Verstehens ist auf eine Sprache des Seins ausgerichtet. Diese Sprache der Dinge ist auch die Instanz, die es uns erlaubt, unsere sprachliche Konstruktionen auf die Probe zu stellen und zu revidieren: dies oder jenes entspricht nicht dem, was die Sachen oder die Erfahrung sagen. – Es verhält sich ebenso, wenn man sagen kann, daß die Aussage »die Sonne dreht sich um die Erde« falsch ist. Sie ist nur darum falsch, weil sie der Sprache der Dinge und ihrer Evidenz zuwiderläuft. Die Dinge und die Erfahrung sagen etwas, und es ist diese Sprache der Dinge, die uns instand setzt, die Einseitigkeiten unserer Sprache zu überwinden. Hier bleibt also die Adaequatio sehr wohl möglich, aber es handelt sich um eine Übereinstimmung mit der Sprache der Dinge. Dies scheint mir der Sinn der Gadamerschen These, wonach das Sein, das verstanden werden kann, Sprache sei. Man hat sie viel zu oft im Sinne eines sprachlichen Relativismus9 gedeutet, während ihr metaphysischer Sinn in die Augen springt.10 Nicht umsonst hatte Gadamer in Wahrheit und Methode darauf insistiert, daß uns die Hermeneutik damit »in die Problemdimension der klassischen Metaphysik« zurückführt.11 Gadamer wollte also nicht das Sein auf die Sprache oder gar auf die Sprache einer bestimmten Zeit oder Kultur zurückführen, sondern vielmehr die Sprache einer gegebenen Epoche an die Sprache der Dinge zurückverweisen. Weit davon entfernt, einen linguistischen Relativismus zu vertreten, wollte er der Moderne in Erinnerung rufen, daß die Sprache weniger eine Konstruktion des Geistes als eine Manifestation des Seins ist. Damit wollte Gadamer just den von Rorty so zelebrierten Nominalismus, der die Sprache für eine technische Erfindung des Geistes hält, in seine Schranken weisen.
Vgl. Richard Rorty: Being that can be understood is language, in: London Review of Books 16 (März 2000) und in: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, a. a. O.; Gianni Vattimo: Histoire d’une virgule. Gadamer et le sens de l’être, in: Revue internationale de philosophie 54 (2000), S. 499– 513. 10 Siehe dazu meine Introduction à la métaphysique, Montréal 2004, S. 351–353. 11 Gadamer: Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 464. Siehe auch Hermeneutische Entwürfe, a. a. O., S. 23, wo Gadamer die griechische Konzeption der Vernünftigkeit der Welt als logos folgendermaßen charakterisierte: »Dem entspricht, daß die Vernünftigkeit des Seins, diese große Hypothese griechischer Philosophie, nicht primär eine Auszeichnung des menschlichen Selbstbewußtseins ist, sondern eine des Seins selber, das so das Ganze ist und so als das Ganze erscheint, daß die menschliche Vernunft weit eher als ein Teil dieser Vernünftigkeit zu denken ist und nicht als das Selbstbewußtsein, das sich dem Ganzen gegenüber weiß.« 9
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Dieser Gadamer hat sich bislang keiner allzu großen Rezeption erfreut. Womöglich handelt es sich auch um einen anachronistischen Gadamer, der von den Evidenzen des zeitgenössischen Denkens himmelweit entfernt ist. Das mag sein. Aber dieses Denken ist auch Teil seines Erbe, seines verborgenen Erbes vielleicht, das es aber gestattet, die Universalität der Hermeneutik auf eine ganz andere und kohärente Weise zu verteidigen. Literatur Gadamer, Hans-Georg: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Gesammelte Werke Bd. 2, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1986, S. 66–75. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2000. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1986 [1960], S. 41. Grondin, Jean (Hg.): Gadamer-Lesebuch, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1977. Grondin, Jean: Introduction à la métaphysique, Montréal: Presses de l’Université de Montréal 2004. Grondin, Jean: La fusion des horizons. La version gadamérienne de l’adaequatio rei et intellectus?, in: Archives de philosophie 68 (2005). Rorty, Richard: Being that can be understood is language, in: London Review of Books 16 (März 2000). Rorty, Richard: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, in: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 30–49. Vattimo, Gianni: Histoire d’une virgule. Gadamer et le sens de l’être, in: Revue internationale de philosophie 54 (2000), S. 499–513. Vattimo, Gianni: Weltverstehen – Weltverändern, in: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 50–60.
Kreativität und Interpretation. Gehört dazu noch die Frage nach der Wahrheit? Mario Ruggenini (Venedig)
1. Gewöhnliche, inflationäre Kreativität als allgemeine Versicherung der »Positivität« der Existenz Im Zeitalter der zunehmend globalisierten Herrschaft der Technik und der Massenproduktion immer wieder von Kreativität zu sprechen, birgt die Gefahr in sich, einem der inflationärsten Gemeinplätze der Massenmedien zu verfallen, deren Botschaften uns tagtäglich bombardieren und uns zum Konsum teurer Produkte verführen sollen, da sie Ausdruck des kreativen Genies des Stylisten, des Designers, des Innenausstatters oder gar des Architekten seien, der immer bessere Wohnlösungen erfindet. Im allgemeinen wird überhaupt jeder, der ein neues Produkt entwickelt, als kreativ bezeichnet, ebenso die Erfinder der Slogans, die diese Produkte als attraktiv und begehrenswert anpreisen, bis hin zu den Erfindern der überflüssigsten Gadgets, im Bereich der unendlichen Nachfrage nach Anreizen und Verlockungen für die Kunden, die ausschließlich der Notwendigkeit entspringen, die Ökonomie des Wohlstandes und des Konsums in Gang zu halten. Eine Massenproduktion, die nur dann funktioniert, wenn sie zugleich eine äußerst raffinierte und preziöse elitäre Produktion am Leben hält, die immer neue Modelle für den labilen und wandelbaren Kanon des allgemeinen Geschmacks liefern soll und die auf breiter Basis immer neue Moden diktiert. Ob als Fernsehkonsumenten, als Zeitungsleser, als Nutzer verschiedenster Dienstleistungen, ob wir als Reisende oder als Wandernde unterwegs sind, immer und überall werden wir bis zur Obsession von dem Mythos einer unbändigen und unerschöpflichen Kreativität verfolgt, die uns das Leben immer attraktiver und angenehmer machen soll. Kreativität als missbräuchlich von der globalen Produktion in Beschlag genommenes Prädikat, eine Art Mehrwert, um die Macht der Produktion voll zu entfalten. Ein Adelsprädikat, das daher auch Sicherheit verspricht, weil es die Welt der Konsumenten vor gefürchteten Angriffen und Stößen schützt, die von außen, nämlich aus der wirklichen Lebenswelt kommen können; eine Art Welt mit verhaltenem Atem, eine Welt, in die uns die Alltagsgeschäfte, auch die ernsthaftesten und professionellsten, verstricken, selbst jene, die sich aus Tätigkeiten und Aufgaben ergeben, die definitions- und traditionsgemäß als edel gelten, wie zum Beispiel der Beruf des Philosophen. In dieser Welt der Produktion des allgemeinen Wohlstandes und Wohlbefindens, das heißt, in dieser Welt der mutmaßlichen »Positivität des Seins«, halten wir alle gleichsam den Atem an, um ihn für später aufzusparen, um uns zur rechten Zeit verteidigen zu können, ausgesetzt wie wir sind der Angst vor Angriffen und Verletzungen eines Schicksals, das uns stets bevorsteht und das uns nicht immer wohl gesinnt ist, dessen Schläge uns den Atem rauben können.
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»Eher straft es [das Geheimnis], als wenn es spielte, die Naturbeherrschung Lügen durchs Memento der Ohnmacht ihrer Macht.«1 Adorno bringt in seinen Meditationen zur Metaphysik eine andere Wirklichkeit ins Spiel, indem er das Geheimnis beschwört, was selten geworden ist in der Philosophie, weil es von vornherein verdächtig ist, von Geheimnis zu sprechen. Das Geheimnis eines Schicksals, über das niemand verfügt, dessen Angriffe über uns hereinbrechen wie unerträgliche Kränkungen und die Glasglocke über der illusorischen Wirklichkeit zerbersten lassen, der sich die Menschheit der Produktion und des Konsums, die technologische Menschheit, anvertraut. Von diesem unvoraussehbaren Schicksal können die Menschen allerdings schroff und unvermittelt mit dem konfrontiert werden, was den technologischen Machenschaften von der Faktizität unserer Existenz irreduzibel entgleitet. Das Geheimnis eines Schicksals, das die Existenz auf die Probe stellt, das die Zerbrechlichkeit ihrer beruhigenden Illusionen aufdeckt und sie zugleich auf jenen Bereich des Nicht-Produzierbaren verweist, der sich immer wieder gleich und dennoch immer verschieden jenseits der Macht der Technik zeigt. Die Erfahrung einer anderen Wirklichkeit, besser eines differenten Seins, das anderes als alles Wirkliche bleibt, scheinbar zerstreut in ihre Erscheinungen, weil vielleicht nicht reduzierbar auf den globalen optimistischen Kreativismus, der aber heute durch die Gewalt unerwarteter Revolutionen und Kriege in Gefahr gerät, auch durch die eigene Arroganz, die dazu dient, seine uneingestandenen Schwächen zu verdecken. Die Erfahrung eines sich differenzierenden Seins, sicherlich eines nie ganz fremden, aber sicher auch nie eines einfach zu unserer Verfügung stehenden Seins. Viel eher kann sich eine solche Alterität ganz gleichgültig gegenüber unserer »positiven« Welt und unserer vermeintlich kreativen Lebensart verhalten, in ihrer ganzen Härte durch die manchmal eisige Indifferenz der Natur, ihre manchmal übermenschliche Gewalt erscheinen und als solche in der Lage sein, uns in die Abgründe der Schwermut totaler Bedeutungslosigkeit unseres Daseins zu stürzen. Dieser Widerstand, dieser Widerspruch, den uns das Leben nicht erspart, bringt die schmerzhafte, aber vielleicht notwendige und heilsame Zerstörung der Illusion mit sich, daß die technologische Kreativität der Existenz die Welt mit der eigenen »Positivität« füllen kann. Die Zerstörung der oberflächlichen Maske, die sich die Herrschaft der Produktion aufsetzt, um zu verhüllen, was sich an Lug und Trug in der optimistischen Perspektive der technologischen Herrschaft über die Welt versteckt. Eine postmetaphysische Rechtfertigungsstrategie einer mehr denn je unwahrscheinlichen Rationalität der Geschichte, wobei niemand glaubt, die Kosten dafür übernehmen zu müssen, weil die Rechnung angeblich immer aufgehen werde, wenn schon nicht für den einzelnen, so doch aufs Ganze besehen. Eine Art laizistisch-aufgeklärte Eschatologie des Fortschritts der technologischen Vernunft, die in abgeschwächter Form die religiösen Mythen der Erlösung beerbt, die Mythen der Erlösung vom unermeßlich Negativen der Existenz am Ende der Zeiten, Mythen, von denen sich die Menschen allzu lange genährt haben. Auch wenn die Hypothese nicht ganz von der Hand zu weisen ist, daß sie diese Mythen brauchten, um überleben zu können. Vorausgesetzt es bleibt nicht unerwähnt, daß die 1
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, S. 399.
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Menschheit zugleich gegen diese Mythen ankämpfen mußte, um sich von dem Unterdrückenden zu befreien, das sich in ihren Beruhigungen verbirgt. Aus diesen beiden antithetischen Überlegungen folgt, daß sowohl die Frage nach den Mythen als auch die nach der Religion auf einer tieferen Ebene ansetzen muß, als es rein funktionalistische Betrachtungsweisen und Erklärungsansätze tun. Denn selbst die Kreativität muß als der zweideutige Mythos der Zeit der Technologie interpretiert werden.
2. Metaphysische Schöpferkraft und ontologische Rechtfertigung des Neuen Kann man die Kreativität der Existenz außerhalb der Herrschaft der Technik fassen? Man muß sie neu auslegen und sie dazu von ihrem weit zurückliegenden Ursprung in der christlichen Metaphysik befreien: dies bedeutet, über die Antithese zwischen Sein und Nichts hinauszudenken, auf der sich der Thron der meta-physischen Allmacht des Schöpfergottes erhebt; es bedeutet nämlich, Abschied zu nehmen von der Ontologie und ihrer theo-logischen Begründung, das heißt, von der so genannten Onto-theo-logie, und daher von der physizististischen Verdinglichung und der Idee einer kausalistischfinalistischen Produktivität, worauf das Sein mit dem Aufkommen des Kreationismus reduziert wird; es bedeutet schließlich, der Rede von einer ersten und absoluten Ursache Gewicht und Bedeutung zu nehmen, überhaupt insgesamt das Denken von jedem Anspruch beziehungsweise von jedem Bedürfnis nach Absolutem zu befreien und in diesem Sinne die explizite oder heimliche Übertragung des Absoluten auf den Menschen zu unterbinden. Die Übertragung einer kreativen, allmächtigen Kraft, die aus dem Menschen den Schöpfer macht, zwar auf einer untergeordneten Ebene, aber dennoch fähig zu einer transzendenten, absoluten Produktion, die vollkommen von seinen kreativen Fähigkeiten abhängt. Auf dieser onto-theo-logischen Basis hat das herausragende Werk des Menschen – das Kunstwerk schlechthin, zuvorderst die Dichtung als Werk des Wortes, aber später alles, was eine neue Entdeckung oder noch besser eine absolut kreative Erfindung darstellen kann – den ausgezeichneten Wert einer unvergleichlichen Originalität angenommen, in der sich Freiheit als Macht, etwas ins Sein zu rufen, äußert. Der immer noch naturalistische Mythos der Macht, sich an den Anfang einer Reihe von Phänomenen zu setzen und aufgrund des Willens und der technischen Fähigkeit zu schaffen, was es vorher nicht gab und es nie gegeben hätte, wenn es nicht aus freien Stücken gewollt worden wäre. Gewollt gleichsam aus dem Nichts. In diesem radikal kausalistisch-produktiven Sinn, der den Weg öffnet für die technisch-kausale Behandlung der Natur in den modernen Wissenschaften und für das Vergessen der Grenzen, die jeder endlichen Existenz gesetzt sind, wird das kreative Genie zum absoluten Erneuerer, zum wahren Vermittler zwischen Unendlichem und Endlichem, wie es die ersten Generationen der Romantik vor dem Hintergrund der kantischen Metaphysik der Freiheit gerne dachten. Diese Freiheit, einmal als Fundament des moralischen Lebens errichtet, mußte in der Lage sein, sich im physischen (phänomenalen) Bereich durch die Produktion von Wirkungen zu behaupten, die ganz von ihrer Initiative abhängen. Auch bei Kant verweist also der ontologische Kontingentismus auf die Theologie des absoluten
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Seins nach der Auffassungsart des christlichen Kreationismus. Und sie durchdringt die abendländische Vorstellung vom menschlichen Handeln und seiner Macht, Neues zu schaffen, insofern es moralisch relevant ist und die Freiheit ins Spiel bringt. Dabei wird nicht beachtet, daß all die Bemühungen der Philosophie um die Rechtfertigung des Neuen nicht in Rechnung stellen, daß das, was unvergleichbar erscheint, dies nur im Lichte eines Vergleichs ist, der die Bedeutung jeder Neuheit relativiert und auf ein Maß an Unwiederholbarkeit reduziert, die ihrerseits situationsabhängig ist, beschränkt jeweils auf die Erfahrungen der Subjekte, die im Gespräch miteinander sind. Die Bedeutung dessen, was geschieht, verweist nämlich auf hermeneutisch-relationale Kontexte, die die traditionelle Ontologie noch nicht angemessen berücksichtigen konnte. Wenn sich das Neue ereignet, so ist dies, ganz einfach gesagt, Sache der Interpretation aufgrund eines Holismus, der die Erfahrungen miteinander vermittelt und somit das plötzliche Auftauchen von unvorhergesehenen Bedeutungen vernehmen läßt. Die Philosophie hingegen bleibt Jahrhunderte lang gelähmt durch die absolute – in Wahrheit leere – Gegenüberstellung von Sein und Nichts, dem Versuch und der Verpflichtung unterworfen, die totale Schaffung des Seienden aus dem Nichts zu denken. In der Tat seit dem Anfang der griechischem Metaphysik als próte philosophía unfähig, das Handeln des Menschen auch auf intellektueller Ebene anders zu denken denn als physischen Prozess (nach dem Paradigma der Bewegung von der Potenz zum Akt). Denn schon vor Aristoteles verortet Platon die Dichtung im Bereich der poíesis, die »jede Ursache umfasst, durch die etwas vom Nichtsein ins Sein kommt«, so daß ihre Urheber und Schöpfer (demiourgoí) als poietaí zu bezeichnen sind und als poiéseis die Werke (ergasíai) ihrer Künste (téchnai). Auch wenn nachher der Begriff poíesis auf jenen Bereich eingeschränkt wird, der mit der Musik und den Versen zu tun hat und den wir im engeren Sinn als Dichtung verstehen.2 Das »ontologische« Bild einer Kreativität, die wesentlich zur Natur gehört, ist so sehr deutlich, wie ebenso deutlich ist, daß die christliche Übersetzung der poíesis als Schöpfung die strengen Grenzen sprengt, innerhalb derer sich das Denken Platons bewegte, das die Idee eines absoluten Nichts außerhalb des Denkens zurückweist und keinen allmächtigen Gott kennen kann. Die Folgen dieses naturalistisch-metaphysischen Gedankenkomplexes zeigen sich noch heute in vielen Arten zu denken, zu handeln, zu leben, die mehr oder weniger bewußt Konzepte und Denkschemata vergangener Epochen reproduzieren, meist ohne zu verstehen, daß die Frage des Daseins des Menschen nicht eine des Seins, sondern die des Existierens ist. Auf diese existenziale Grundproblematik ist das Problem einer Kreativität zurückzuführen, die sich nicht auf die zwanghafte Produktion immer neuer Objekte, immer neuer Besitztümer oder Konsumgüter reduziert. Die Idee des künstlerischen Schaffens als absolut originelle Produktion des Kunstwerkes, die dem Kern der Modernität eingeschrieben ist, steht im Gefolge des christlichen Kreationismus und spiegelt die Idee einer meta-physischen Allmacht wider, die über die griechische Konzeption des Göttlichen und zugleich der poíesis hinausgeht und sie umstürzt, während sie die schwerwiegende physizistische Vorentscheidung umwendet mehr im Sinne ei2
Platon: Symposion, 205c.
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ner causa efficiens als einer exemplarischen und finalen Ursächlichkeit, wie sie noch das platonisch-aristotelische Modell prägte. Dieser Kreationismus hat der aufhebenden Vermittlung von Sein und Subjektivität widerstanden, die in großem Stile von der Moderne (Hegel) betrieben wurde und die die irreversible Krise der griechisch-christlichen metaphysischen Tradition sanktionierte. Nichtsdestoweniger hat die Moderne die Naturalisierung des kreativen Prozesses verschärft, insofern sie – begründet in der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt – die Neuheit und letztlich die Autonomie des Werkes gefährdet hat. Sie macht daraus das Objekt, in dem sich auf höchste und bedeutungsvollste Weise die Macht des Geistes, das heißt der modernen Subjektivität ausdrückt, die Macht der kreativen Freiheit, die den Menschen auszeichnet. Mehr als es bisher geschehen ist, muß also betont werden, daß der absolute Ursprung von etwas – von einem Phänomen, das zum Beispiel ein gesprochenes oder geschriebenes Wort sein kann, eine Handlung, ein Werk, der Anstoß eines Prozesses – über die Grenzen jedweder Empirie hinausgeht und daß ebenso wenig auf ihn aufgrund irgendeines Prinzips der Kausalität oder Finalität geschlossen werden kann. Eine solch radikale Ursprünglichkeit und Originalität, eine göttliche Freiheit der Erfindung (erfinden im Gegensatz zu entdecken nach kantischer Auffassung), ist nicht nur nicht gegeben und zeigt sich nicht, sondern ist vielmehr ein künstliches Postulat der Vernunft, das in der Tat undenkbar ist. Nichtdestoweniger schreibt es Kant der Einbildungskraft zu, die er sicher nicht zufällig als »schöpferisch« definiert. Denn aus dem Geist, dem man keine Ursache zuschreiben kann, kann man auch selbst keine Ursache machen. »Denn die Unsichtbarkeit (der Ursache zu einer Wirkung) ist ein Nebenbegriff vom Geiste.« In der Unsichtbarkeit der Ursache in Bezug auf die Werke des Geistes beginnt tatsächlich der wirkursächliche Sinn der christlich-modernen, metaphysischen Kausalität zu verblassen und sich der Sinn eines Geschehens abzuzeichnen, das in seiner Spontaneität etwas Unberechenbares hat. Daher spricht man nach Kant der Kreativität des künstlerischen Talents, das nicht nachahmt, sondern originell und daher exemplarisch ist, »den mystischen Namen« Genie zu, was soviel heißt wie vollkommene Fülle des Geistes, fähig, »ein Interesse [zu] erregen und zwar durch Ideen«.3 Dennoch ist für Kant klar, daß die Idee der produktiven Originalität nur soweit haltbar ist, als ihr – wie im Fall der Freiheit, die Wirkungen im phänomenalen Bereich zeitigt – der Status eines Dings an sich zugesprochen wird. Daraus ergibt sich, daß das noumenale Sein des ersten Ursprungs aller Dinge immer als Ursache gefaßt wird, wo die Kategorie der Kausalität jedoch nur fehl am Platz erscheinen kann, so daß Kant sich zu einer expliziten Rechtfertigung des doppelten, an sich amphibolischen Begriffssystems veranlaßt sieht, dessen er sich am
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1966, Bd. VI, § 54; ausführlicher in Kritik der Urteilskraft, Werke, a. a. O., Bd. V, §§ 46–50. Den Namen »Genie«, so die Anthropologie, verdient nur »ein nicht bloß nachahmender Künstler, sondern ein seine Werke ursprünglich hervorzubringen aufgelegter Künstler«; insofern also sein Produkt, sein Werk »musterhaft« erscheint, das heißt, »es verdient, als Beispiel (exemplar) nachgeahmt zu werden.« Von daher die Definition des Genies als »die musterhafte Originalität des Talents [eines Menschen] (in Ansehung dieser oder jener Art von Kunstproduktion).« 3
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Ende bedient.4 Das wirkliche Ergebnis ist nämlich, daß das Prinzip der Kausalität von ihm wieder eingeführt und etabliert wird, trotz seiner Vorsichtsmaßnahmen, letztlich sogar als höchstes, oberstes Regulativ der Seinsordnung, gerade weil es verwandelt und gerechtfertigt ist durch die Legitimation, die es erhielt, um die Beziehung zwischen dem Übersinnlichen und dem Sinnlichen im Zeichen einer Welt der Wirkursächlichkeit zu verwalten, die dazu bestimmt ist, sich in der auf alle Ebenen des Seins ausgedehnten Produktivität aufzulösen. Den nivellierenden Naturalismus des absoluten Kreationismus aufgeben! Auf der Suche nach einem Verständnis von Existenz, die als Interpretation einbezogen wird in das Ereignis des Neuen, das dadurch vom Physizismus befreit und der Verantwortung des Menschen übergegeben wird. Ohne das kreative Moment seines Seins zu verdecken, ja zu unterdrücken und ohne die Existenz in Illusionen zu wiegen bezüglich Mächten, die die Grenzen seiner konstitutiven Endlichkeit überschreiten. In dieser Richtung verläuft die gesamte Geschichte der christlichen Metaphysik, insofern sie Philosophie und Theologie des Unendlichen und Absoluten ist, von der Trunkenkeit einer unbemerkten, unerkannten, verführerischen Schwärmerei gepackt. Und damit unter der Herrschaft des verborgenen, tiefen Bedürfnisses, der Endlichkeit zu entfliehen, das den wahren Ursprung der philosophischen Fragen darstellt. Fragen, die die Metaphysik nicht unbeantwortet lassen kann, und sei es um den Preis, die Endlichkeit aufzuheben und damit das paradoxe Schicksal des Menschen, indem ihm eine Vernunft zugesichert wird, die dieses Schicksal rechtfertigen kann. Was die absolute Dialektik Hegels verwirklichen wird, ist von den Romantikern vorangekündigt: »die Vernichtung des Endlichen, weil es endlich ist«. Das bedeutet für Friedrich Schlegel: Selbstbildung als Selbstvernichtung. Dank einer ursprünglichen Intuition des Unendlichen kann der Künstler seine Vermittlung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen als Selbsthingabe vollbringen. So ist »jeder Künstler Mittler für alle anderen.« Der Künstler als der vollkommene Mensch, d. h. als Genie. »Die wahre Tugend ist Genialität.«5 Das Geheimnis der Metaphysik ist die Unerträglichkeit der Endlichkeit. Selbst die Hinwendung zum Menschen, zu einigen Momenten seines endlichen Existierens in der Welt in außergewöhnlichen Zuständen, im Bereich der religiösen Erfahrung, der künstlerischen Schöpfung, der poetischen und philosophischen Erfindung oder auch der charismatischen Macht, die vielen großen Figuren der Geschichte zugestanden wird, all dies wurde missverstanden als Manifestation übernatürlicher Kräfte, die den Menschen
4 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Werke, a. a. O., Bd. III, § 53. 5 Einige Zitate und kontextuelle Hinweise aus Friedrich Schlegel: Ideen in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, München, Paderborn, Wien: Schöningh / Thomas 1967, Bd. II, S. 256–272 und Athenäums-Fragmente, in: ebd., S. 165–255. Die im vorliegenden Text ausdrücklich zitierten Texte sind durch Halbfettschrift ausgezeichnet, d. h. aus Ideen: 13, 36, 44, 45, 81, 98, 131: »In der Begeisterung des Vernichtens offenbart sich zuerst der Sinn göttlicher Schöpfung. Nur in der Mitte des Todes entzündet sich der Blitz des ewigen Lebens.«; aus Athenäum, 181 (262): »Gott werden, Mensch sein, sich bilden, sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.«; 136 (168): »Und welche Philosophie bleibt dem Dichter übrig? Die schaffende, die zeigt […] wie die Welt sein Kunstwerk ist.«
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über den Menschen erheben und die Schwärmerei rechtfertigen, die Grenzen durchbrechen zu können, die seinem Sein eingeschrieben sind. Die Kreativität des menschlichen Genies belädt sich dadurch mit der übernatürlichen, zuerst christlichen und später subjektivistischen hýbris, die Natur uneingeschränkt den eigenen Bedürfnissen unterwerfen zu müssen. Dies bedeutet, sie zu beherrschen und – in der Begrifflichkeit der Moderne – sie als Objekt der eigenen Entwürfe und Berechnungen produzieren zu müssen. Was für den modernen Menschen, der zum Subjekt geworden ist, heißt, sie als Universum des Sinns neu zu schaffen. Der Sinn wird nämlich die Wahrheit des modernen Bewußtseins, der Sinn, den das Bewußtsein, die Arbeit, die Handlung oder der religiöse Glaube den Dingen zu geben imstande sind, nicht zuletzt auch der Natur selbst, die, auf den Bereich des Machbaren reduziert, als unerschöpfliche Ressource von Energien angesehen wird, über die der Mensch verfügt und in deren Gebrauch er sich als ihr Herr erkennt, dem sie zu dienen hat. Ausgehend von der freien Kreativität des Subjekts führt die moderne Menschheit das Abendland auf den Weg zur Herrschaft der Technik, die aber sein Machtvorhaben vereitelt und verhöhnt. Die Technik verweigert sich nämlich jedem Sinnanspruch, dem naiven Glauben, der gute Wille der Menschen könne sie beherrschen. Und sie enthüllt die tragischen Mißverständnisse des Mythos der metaphysichen Kreativität und des Willens zur Macht, den sie nährte. Aber gerade deshalb eröffnet sie auch die Möglichkeit einer neuen Erfahrung von Freiheit, einer nicht allmächtigen, sondern einer endlichen Freiheit, weil unumgehbar herausgefordert von den neuen Verantwortungen, die über sie hereinbrechen. Nicht mehr im Zeichen der »Positivität«, die unaufhaltsam voranschreitet, sondern vielleicht im Zeichen des unhintergehbaren Geheimnisses, das sich als unbegreifliches verweigert, weil es »schwer zu fassen« ist und bleibt,6 das aber gerade deshalb in der Lage ist, den Menschen zu seiner Existenz zu rufen und auf das Unbegründbare seiner Endlichkeit zu verweisen.
3. Die Entstehung des Werks in der Interpretation. Jenseits der Metaphysik des kreativen Genies Der Mensch existiert kraft der Erfahrung des Neuen, das heißt, kraft der Interpretation der Neuheit eines Ereignisses, das ihn herausfordert, demgegenüber er in der Haltung desjenigen ist, der empfängt und anerkennt – die Nachricht, das Geschenk, ein unerwartetes, überraschendes, bestürzendes Naturphänomen; aber der Mensch existiert auch kraft der Fähigkeit, Neues hervorzubringen. Besteht zwischen diesen beiden Momenten vielleicht eine radikale Gegenübersetzung wie sie zwischen Aktivität und Passivität angenommen wird? Oder muß man nicht viel eher die Kreativität der Existenz auf eine erneuernde Interpretation zwischenmenschlicher Beziehungen oder Naturzustände zurückführen? Schließt die kreative Arbeit nicht ein unauflösliches Spiel zwischen Aktivität und Passivität ein, aus dem das Neue, das Werk hervorbricht, ein Mehr, das sich nicht reduzieren läßt auf die einzelnen Momente des Prozesses, auf die 6
Friedrich Hölderlin: Patmos, Erste Fassung, 1–2.
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physischen und psychischen Elemente, die im Spiel sind, auf eine einfache Summierung der Elemente, auf ihre Interaktion? Der Entwurf eines Werkes skizziert eine Idee, die in sich die notwendige Bestimmtheit enthält, damit der Künstler, oder in einem allgemeineren Sinn der Interpret, sich an die Arbeit, ans Werk machen kann, aber zugleich auch ein Mehr von Unbestimmtheit, das sich in jedem Fall der Berechenbarkeit entzieht, so daß es das Werk selber ist, das sich hervorbringt und das nicht einfach ans Licht kommt als Wirkung einer produktiven Strategie physizistisch-kausaler Art, deren Geheimnis im Kopf und in den Händen des Künstlers liegt.7 Im Gegensatz zu der einseitigen Vereinfachung des kreativen Ereignisses, die aus dem schöpferischen Genie den Herrn des Werks macht, muss die potentielle Neuheit des Werks, die Differenz, deren Träger es ist, an den Anfang der Hervorbringung gestellt werden. Und daher wird es das Endergebnis werden können. Früher als die Wirklichkeit ist die Möglichkeit. Dies ist kein Nicht-Seiendes, nichts einfach Psychologisches, vielmehr handelt es sich um das sich ereignende Prinzip, das sich im Entwurf ankündigt, sofern dieser schon eine interpretative Antwort ist auf den Anspruch des Ereignisses, das ans Licht kommen will. Aber nur von seinem Gelingen her kann der Entwurf seinerseits in seiner Wahrheit als Vorwegnahme eines Werkes erscheinen, das sich auf der Höhe der eröffneten Möglichkeiten enthüllt; er wird etwas »Faktisches« nur kraft des factum est des Werkes. So wie das Früher des Anfangs nur aufgrund seiner Erfüllung gewesen sein wird. Diese Erfüllung hebt die Unbestimmtheit der Möglichkeiten, die der Entwurf eröffnet, nicht auf, begrenzt sie aber, und zwar – richtig verstanden – um neue hervorzurufen. Die effektive Verwirklichung des Werkes und des Entwurfs bringen also den Schöpfer als solchen aus der immer vagen Unbestimmtheit (Potenzialität) der Idee hervor, aus der Welt der Möglichkeiten, wie ausgefeilt auch immer die konstruktive Skizze im Kopf und auf dem Papier des Entwerfers sein mag.8 Der Autor, der Schöpfer geht auf diese Weise aus seinem Werk hervor, das jedoch, einmal geschaffen, das Werk von niemand Bestimmten mehr ist, wenn es das überhaupt jemals war; es ist vielmehr das Werk all jener, die es sich aneignen, indem sie auf die Botschaften antworten, die von ihm ausgehen. Sich das Werk aneignen heißt nämlich es interpretieren, es als Werk sein lassen, indem ihm die Möglichkeit eingeräumt wird, Werk zu werden aufgrund seiner Kraft, sich von Beginn an seinen Autor zu wählen, um ihn dann in seinem emsigen und mühsamen Entstehen zu definieren, und zugleich mit ihm auch die Interpreten, die ihrerseits berufen sein werden, es zu interpretieren. Der Autor selbst wird auf diese Weise nur zum ersten Interpreten, was nicht bedeutet, daß er zugleich auch der beste ist, auch wenn 7 Eine solche Konzeption, die noch weit verbreitet ist, verbleibt innerhalb des naturalistischen Rahmens der aristotelischen Theorie der vier Ursachen, die wohlgemerkt noch nicht den Primat der Wirkursache mit sich bringt. Jedenfalls war jene Theorie nicht nach der Logik der absoluten Kontrolle über das Produkt entworfen worden, die erst mit Beginn der technisch-wissenschaftlichen Revolution der Moderne geplant und durchgeführt werden konnte. Aristoteles führt die Idee als Formursache ein, die zur Verfügung stehenden Elemente als Materialursache, das handelnde Subjekt als Wirkursache und schließlich die Zweckursache als wozu (oder worumwillen) der Hervorbringung. 8 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann 1994.
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er (oder ggf. sie, bei mehreren Autoren) derjenige bleibt bzw. diejenigen bleiben, die es ans Licht gebracht und ihm geholfen haben, aus dem irreduzibel dunklen Andrang der vielen Möglichkeiten hervorzukommen. Um es plötzlich in den Händen zu haben, oder auf den Lippen, oder im Ohr und in den Noten, oder vor den Augen des Körpers oder des Geistes, als eine Wahrheit, die sich durchgesetzt hat, und nicht als einen Sinn (oder Nicht-Sinn) der Dinge und Existenzen in der Welt, den jemand interpretativ festsetzen konnte oder wollte. Das Werk ereignet sich als Wahrheit jenseits jeder Anmaßung von Sinn. Die irreduzible Neuheit des Werkes wird in der kantischen Konzeption der Unsichtbarkeit der Ursache zu einer Wirkung anerkannt, die schon erläutert wurde, auch wenn sie noch in der Logik der Wirkursache formuliert wird, die aber dennoch über jeden phänomenalen Bereich hinausgeht. Es ist bemerkenswert, daß durch die Einführung dieser Konzeption die Unmöglichkeit eingeräumt wird, daß ein Mensch mit Talent erklären kann, »wie er zu einer Kunst komme, die er nicht erlernen konnte«. Die berühmte Schlußfolgerung daraus ist, daß man das Genie auch das Talent nennen kann, »durch welches die Natur der Kunst die Regel gibt«. Auf diese Weise kann Kant das Subjekt und die kreativen Kräfte, die es bewegen und antreiben, noch naturalisieren, indem er der Einbildungskraft deren harmonischen Ausgleich anvertraut, aber »die Natur des Subjekts« und seine regulative Macht beschwört. Denn im Einklang mit der Natur, mit ihrer lehrmeisterlichen Eingebung erlernt man »die mechanischen Grundregeln der Angemessenheit des Produkts zur untergelegten Idee«, da »jede Kunst...[der] Wahrheit in der Darstellung des Gegenstandes [bedarf], der gedacht wird«. Zu diesem Zweck erweisen sich die scholastische Bildung und auch die Nachahmung, die zuvor in Frage gestellt wurde, wieder als nützlich. Die Nachahmung, zumindest die Nachahmung der Natur, wird so vom Wesen der téchne (Aristoteles) auf ein Moment der künstlerischen Erziehung reduziert. Eine originale Tollheit aus regellosem Verfahren und unbeherrschter Schwärmerei würde hingegen nichts Musterhaftes hervorbringen, also nichts, das die Auszeichnung der Genialität verdiente.9 Außerdem ist hier hervorzuheben, daß auch die Frage nach der Wahrheit in der Ästhetik Kants auf den Plan tritt. Die Neuheit, das Kreative, zu dem uns diese Überlegungen führen, besteht darin, das Werk nicht mehr ausgehend vom Autor zu betrachten, sondern umgekehrt den Autor, den Erfinder, den Schöpfer ausgehend von seinem Werk. Dies bedeutet eine Revolution der romantischen Revolution und ihrer Folgen, wonach das moderne innovative Genie sich im Werk selbst als Schöpfer hervorbringt. So als wäre das Werk dem Schöpfer zu Diensten und nicht dieser dem Werk; das Werk ist Werk, gerade weil es sich durchsetzt und bestimmend ist in dem Moment, in dem es seine Welt eröffnet und die Menschheit
9 So Aristoteles: Physik, II,2, 194a 21: »he téchne mimeîtai tèn phýsin«; vgl. noch Physik, II,8, 199a 15–17; Meteorologie, IV, 3, 381b 3–7. I. Die aristotelische Auffassung, auf Latein übersetzt, klingt: »ars imitatur naturam«. Kants Zitate nochmals aus Anthropologie, § 54, a. a. O., S. 544–545. Über die »Vorgeschichte des schöpferischen Menschen« gilt der Aufsatz von Hans Blumenberg als bahnbrechend: Nachahmung der Natur [1957], jetzt in: Ästhetische und Metaphorologische Schriften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.
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auserwählt, derer es bedarf, nicht um begriffen, sondern um verstanden, d. h. interpretiert und ausgelegt zu werden und um das Neue zu enthüllen, das es mit sich bringt. Wenn auch das Werk sicherlich sein Sein der kreativen, schöpferischen Interpretation des Kunstschaffenden verdankt, so schafft dieser es dennoch nicht aus dem Nichts, so als ob er beliebig über die Möglichkeiten verfügen könnte, die ihm aus der Welt entgegenkommen, vielmehr wählt er aus diesen nur aus, indem er so weit wie möglich der Eingebung folgt oder dem Ruf gehorcht, der aus dem Werk selbst kommt und ihn auf den Plan ruft. Eine Inspiration, die sich zusehends präzisiert aufgrund des Verständnisses, das der potentielle Kunstschaffende entwickelt, aufgrund dessen sich seine Verantwortung gegenüber dem Werk bestimmt, aber zugleich auch das Gesicht und die Gestalt des Werkes selbst. Man muss also die Begriffe der Erfindung und der Schöpfung selbst neu überdenken jenseits der metaphysischen Vorurteile, die sie nur mit Mühe verbergen. 4. Ist die Kunst mehr wert als die Wahrheit? Subjektivistische Metaphysik der Interpretation als Schöpfung von Sinn Gerade in dem Begriff der Interpretation, auf den sie sich gründet, bringt die Philosophie Nietzsches die extremen Folgen des neuzeitlichen metaphysischen Subjektivismus zum Ausdruck, subversiv sowohl in Bezug auf den metaphysischen Begriff des Erkennens, als auch auf den des Seins. Als Philosophie der Interpretation und nicht irgendeiner absoluten Wahrheit erfüllt sie das Schicksal der Moderne als Metaphysik des Sinnes und des Willens, der den Sinn festsetzt. Der Sinn ist nämlich nicht an und für sich ein der Wirklichkeit eingeschriebener, sondern nur ein gewollter. Den Sinn der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit als Sinn wollen heißt also, ihn erschaffen müssen. An und für sich betrachtet ist das Wirkliche ohne Sinn, ein chaotisches Werden, das kein Prinzip und keinen Zweck erkennen läßt, die es rechtfertigen könnten. Kein Gott steht dafür noch zur Verfügung. Der Sinn kann nur vom Willen zur Macht gewollt werden, der die Welt gestaltet, ihre Form erdichtet, sie als Welt der Interpretation herstellt. Die verborgene und unerschöpfliche Quelle dieser Konzeption ist der unüberwundene Dualismus zwischen dem vermeintlich ursprünglichen Nicht-Sinn und dem Willen, der dadurch zu einer Sinnstiftung herausgefordert wird, die aber über der Leere der abgründigen Sinnlosigkeit unabwendbar schweben muß. Vor diesem Abgrund bleibt der Subjektivität nichts anderes als der Wille zur Selbstbestätigung, nämlich das Leben immer wieder neu zu wollen (und zu bejahen), so wie es ist, ohne ihm etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Auf diesem Weg bedeutet der Wille zur Macht die Rückkehr zu einem extremen Kreationismus, und zwar nicht zur Schöpfung des Seins, sondern des Sinns. Das Sein selbst und die Wahrheit stehen unter der Macht dessen, was bei Nietzsche Interpretation als Ausdruck des Willens zur Macht heißt. In diesem Licht versteht man die Lehre des Zarathustra über »[seinen] schaffenden Wille, [sein] Schicksal«: »Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit«, denn »Schaffen – das ist die große Erlösung, und des Lebens Leichtwerden. Aber, dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viel Verwandelung«. »Viel bitteres Sterben in eurem Leben«,
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das ist Zarathustras Versprechen den Schaffenden gegenüber, die er als »[die] Fürsprecher und Rechtfertiger aller Vergänglichkeit« heraufbeschwört.10 Schöpfung von Sinn, seine radikale Erfindung im Hinblick auf die Erlösung und Befreiung vom Schmerz des Lebens, aber nicht im Hinblick auf seine Auslöschung, denn die Anerkennung des Schmerzes ohne Vorbehalt gehört zur kreativen, schöpferischen Macht eines Willens, der sich von jedem Ressentiment befreit hat. Die Umwertung, zu der dieser Wille fähig ist, ist Ergebnis immer mächtigerer Interpretationen, mächtiger, nicht weil sie »wahrer« wären, sondern weil sie bejahender sind, fähig, die Last der eigenen Bedürftigkeit zu tragen, um sie immer wieder von Neuem zu wollen und mit ihr alles, was war, »so wie es war und ist«, im Rausch eines »unersättlich[en] da capo«.11 Eine tragische Kreativität, die jeden metaphysischen Willen zur Wahrheit nur als eine verkannte und trügerische Form des Willen zur Macht entlarvt. »›Wille zur Wahrheit‹ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist.«12 Aufgrund dieser Absage an die Wahrheit des Unveränderlichen, die die kreisförmige Wahrheit der ewigen Wiederkehr entdeckt, kann Nietzsche am Ende seines Denkens sagen, daß die »Kunst göttlicher ist als ›Wahrheit‹«13, um nur einige Zeilen später zu betonen, daß »die Kunst mehr werth [ist] als die ›Wahrheit‹«, womit er den genauen Sinn des Vergleichs deutlich macht. »Göttlicher« heißt hier, »mehr werth sein«. Diese Konzeption von Kunst darf weder als eine Art »Artisten-Metaphysik«, noch als das »Artisten-Evangelium« im Sinne eines Ästhetizismus der Dekadenz mißverstanden werden; sie bringt vielmehr in extremer Form das ontologische Schicksal der Moderne zum Ausdruck, das letzte Ende der großen modernen Revolution der Subjektivierung des Seins. Sie rechtfertigt die Metaphysik Nietzsches als Metaphysik der Werte und des Willens, der sie festsetzt. »Das Wesentliche an dieser Conzeption ist der Begriff der Kunst im Verhältnis zum Leben […] als das große Stimulans […] als das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt …«.
5. Die Freiheit zu existieren als die wesentliche Kreativität der Existenz Der Knoten, den es zu lösen gilt, verbirgt sich in der Tiefe der unhinterfragten Annahme, die aus der Subjektivität und damit direkt oder indirekt-vermittelt aus dem Menschen das Prinzip jeden Schaffens macht und aus dem, was er macht und hervorbringt das Objekt, das ihm das Bild seiner eigenen Macht zurückgibt, wie ein Spiegel, der ihm seine Erhebung zur Aufgabe bestätigt, sich die Naturgewalten zu unterwerfen Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin, New York 1980 [KSA], Bd. 4, Teil II, Auf den glückseligen Inseln, S. 109–112 (alle Zitate bis zur folgenden Fußnote). 11 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: KSA Bd. 5, § 56. 12 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA Bd. 3, S. 343–651, 5. Buch, § 344, S. 576 f. 13 Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1887–1889, KSA Bd. 13, Gruppe 14, Nr. 21–25 (Nr. 24: der Wille zur Lust, »zum Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur Überwältigung, zum Widerstand, zum Krieg, zur Zerstörung […] ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung«). 10
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und sie zu beherrschen. Ein biblisches und fundamentaltheologisches Vermächtnis: der Mensch als »Ebenbild Gottes«14, das mit dem griechischen Verständnis des Menschen als einem natürlichen Wesen bricht und das das abendländische Denken nicht mehr vergessen hat, selbst dann nicht, als es sich gegen den Schöpfergott richtete, um das Ende seiner despotischen und zugleich eitlen Herrschaft zu feiern. Ohne Gott eignet sich der Mensch als Subjekt das Schöpfertum an, und zwar nicht mehr als transzendente Gabe, sondern aus sich und seinem eigenen Recht heraus, er eignet sich das Schöpfertum und die Ordnung des ansonsten sinnlosen Seins an. Der Mensch als Subjekt macht dadurch die Erfahrung einer neuen Freiheit, die ihn erhebt, zugleich aber auch die Erfahrung einer Angst, die ihn in seiner Schutzlosigkeit erniedrigt. Wie auch immer, trunken von der neuen Macht oder bedrängt von der unstillbaren Bedürftigkeit und Zerbrechlichkeit, alles scheint damit zu beginnen, daß er sich seiner »bewußt« geworden ist, d. h. mit der Entdeckung des Ichs des Bewußtseins, und es endet mit dem, was er aus sich und der ihn umgebenden Wirklichkeit zu machen imstande ist. Alles scheint sich aufzulösen in dem einen Sinn, den er der Welt zu geben vermag, die keinen anderen Schöpfer kennt, auch wenn die absolute Allmacht außerhalb seiner Reichweite liegt, was aber nicht ausschließt, daß allein seinem Handeln das Prädikat der Kreativität rechtmäßig zugesprochen werden kann. Nachdem er also auf alle Götter und jede Form der Rechtfertigung und Wiedergutmachung verzichtet hat, wird die Verherrlichung, die Vergötterung der kreativen Kräfte des Genies ein wirkungsvoller Ersatz. Vor allem aber nährt die moderne Umwandlung der Wissenschaften mit den technischen Ressourcen, die sie zur Verfügung stellt, die subjektivistische Anmaßung, die Natur beherrschen zu können – die Anmaßung, mit Hilfe der Technik über sie zu verfügen – und sie scheint die Behauptung jener kreativen Macht zu rechtfertigen, die vorher dem Menschen als Geschöpf von seinem Schöpfer garantiert wurde. Die Illusion, dank der Fortschritte der Wissenschaften die besten Möglichkeiten für die Zukunft der Menschheit in den Griff zu bekommen. Die größte Desillusionierung jedoch, die den Beginn der Postmoderne markiert, entspringt gerade aus der Macht, die die Technik als solche ist. Eine Macht, die mit der Kraft ihrer Innovationen unaufhaltsam alles umstürzt und verändert: Strukturen, Beziehungen, das öffentliche und das private Leben, Denkgewohnheiten, Ethik, Politik, Religion und Kultur, Krieg und Frieden, um am Ende auch noch das Geheimnis des Lebens und des Todes anzugreifen. Die Technik als globale Neustrukturierung der menschlichen Grundordnungen und -gefüge, der wesentlichen Erfahrungen der Existenz, die sie bewirkt, ohne auf die Autorisierung durch irgend jemanden zu warten. Die Technik stellt sich in den Dienst von niemandem, im Gegenteil, sie zwingt die Dienerschaft auf, die von den durch sie produzierten Zielen und Bestrebungen verlangt wird, im Hinblick auf die sie die Natur und die Menschen selbst gebraucht und benutzt. Die Technik autorisiert und garantiert sich selbst. Sie stellt sich so den Subjekten als den angeblich Schaffenden gleichsam als eine neue Transzendenz entgegen, die sogar in der Lage ist, jede innovative Fähigkeit der menschlichen Vorstellungskraft zu übertreffen, 14
Genesis 1, 26–27; Psalmen 8, 4–9; Brief an die Hebräer 2, 7.
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um schließlich mit ihren Wirkungen sogar die erfinderische Spontaneität eines jeden Genies oder menschlichen Talentes zu ersetzen aufgrund einer Funktionsfähigkeit, die auf keine Grenzen zu stoßen scheint und die die aufgeklärten Strategien jeder autonomen Subjektivität bagatellisiert. So betritt eine Kreativität die Bühne der Welt, die den modernen Menschen auf drastische Weise vom Thron seiner Herrschaftsambitionen stürzt, da sie als Maß allein die technisch kompatiblen Möglichkeiten zuläßt, ohne sich um die Entwürfe und Erwartungen der Subjekte zu kümmern und ohne vor ihren Fragen und Ängsten Halt zu machen. Das Versprechen, das ihre Ankunft in sich zu bergen schien, das Versprechen auf eine mächtigere, beschütztere, glücklichere Menschheit, die endlich Herrin der eigenen Welt werden kann, läßt schon längst viel eher die ungeheueren Risiken einer äußersten Bedrohung durchscheinen. Die Desillusionierung des entthronten Subjekts erlaubt es zumindest, das Mißverständnis einer globalisierten Produktivität zu erkennen, die unaufhaltsam das eigene Schicksal verwirklicht und in dem Maße, wie sie die Macht beanspruchen kann, selbst das Sein des Menschen zu produzieren, seine Möglichkeit, in Freiheit zu existieren, von Grund auf bedroht. Denn darin besteht letztlich die wesentliche Kreativität der Existenz, die Verantwortung für sich und die anderen, denen sie begegnet, übernehmen zu können im Angesicht der Herausforderungen, die die Zeit der Welt skandieren. Die Herausforderungen, die das Dasein eines jeden Menschen auf die Probe stellen, zusammen mit den anderen, die an dem Gespräch der Welt teilnehmen, zu dem er gerufen ist. Gerade weil zum Wort gerufen, findet sich jeder Mensch konstituiert in der Verantwortung für sich und die anderen. Gerade weil er von Beginn an und für immer ins Gespräch eingebunden ist, wird sein Sagen immer ein Zu-antworten-Haben sein, sowohl wenn er auf die Rede der anderen antwortet, als auch wenn er aus eigener Initiative einen Diskurs beginnt, den andere vor ihm noch nicht entfalten konnten. Aber selbst in dem explizit kreativen Moment der Erfindung des noch Ungesagten antwortet der Mensch in Wirklichkeit auf die Diskurse, die er schon verstanden hat und deren Bedeutung er sich auf originelle, ursprüngliche Weise aneignet, um sie auf neue Möglichkeiten des Gesprächs zu öffnen. Die kreative Aneignung als Interpretation, das Im-GesprächBleiben als Zu-antworten-Haben, nicht die eigenmächtige Erfindung des Sinns, sondern die Hermeneutik der Wahrheit, nach der jede Existenz auf der Suche ist. Die Verantwortung der Selbstentscheidung gegenüber den Möglichkeiten, die sie herausfordern, das ist die kreative Freiheit der Existenz. Freiheit demnach nicht als willkürliche Hervorbringung neuer Ereignisse aus dem Nichts, sondern als Antwort, die dem Menschen seine unersetzliche Individualität enthüllt. Kreatives Ereignis in dem Sinne, daß die Existenz, gerade dann, wenn sie sagt, tut, hervorbringt, was kein anderer weder sagen noch tun konnte oder je könnte, sich individualisiert ausgehend vom Wort, das sie verstanden hat, von dem Ruf, von dem sie sich bewegt fühlt, von der Ausführung, die von ihr verlangt wird und die ihre Verantwortung ins Spiel bringt. Sie individualisiert sich in der Antwort, die sich nicht versagt und die sie aus sich hinaus führt, im Wort, das sie sagt oder schreibt, im Werk, das sie schafft, im Dienst, zu dem sie sich verpflichtet. Sie versteht sich daher auch nicht aus sich selbst und nicht für sich selbst aufgrund der Annahme einer absoluten Macht der Selbstidentifikation, deren Mittel das
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Werk sein sollte, sondern sie versteht sich in der Antwort auf die Welt, in der sie sich vorfindet, in der Antwort auf die Gelegenheiten und Herausforderungen, die ihr die Welt zuschickt – eine andere Welt, die andere immer schon bewohnt und interpretiert haben – um des Wortes, der Geste, des Werkes willen, die das Gespräch mit den anderen, in dem sie sich befindet, von ihr verlangt oder zu denen es sie auch nur inspiriert. In diesem Sinne existiert jeder Mensch auf bestimmte und konkrete Weise aufgrund der Werke und der Handlungen, zu denen er durch die Anforderungen angeregt wird, die aus der Welt auf ihn zukommen. In seinem Antworten, seinem Entsprechen übernimmt er die Verantwortung gegenüber der Welt. Die Welt ist nämlich das Ereignis des Anderen der Existenz, dem jede Existenz angehört, wie jemand, der sich als ins Spiel gebracht vorfindet. Aufgrund dieses vielfachen Bezugs zu dem Anderen ist der Mensch konstitutiv in der Endlichkeit einer unaufhebbaren Abhängigkeit gebunden, aber zugleich in der Endlichkeit einer unersetzlichen Verantwortung, die sich effektiv im Werk zeigt, dem er sich widmet. Gebunden, um frei sein zu können.
6. Endlichkeit, Kreativität, Transzendenz Die Existenz, die die Herausforderung annimmt, sich ins Spiel zu bringen, setzt sich selbst dem Risiko des Neuen, das ihr entgegenkommt, aus: dem Risiko der Interpretation, die in Worten und Werken die verborgene Wahrheit sucht, die unverstandene, vergessene Wahrheit der Situationen und Beziehungen zwischen Subjekt und Subjekt, zwischen Existenz und Existenz, zwischen den Menschen und der Natur oder zwischen den Menschen und ihren Göttern. Das also, worüber man seit jeher sprach und diskutierte, um aber unweigerlich immer wieder beim Versuch anzukommen, das zu verstehen, was sich nicht begreifen läßt. Nichtsdestoweniger kommt dieses unstillbare Bedürfnis zu fragen nicht einem Versagen gleich, sondern es enthüllt vielmehr die Notwendigkeit, die uns existieren läßt, gerade weil es keine abschließende Antwort findet, die dem Menschen die Last seiner Endlichkeit abnehmen könnte. Das endliche Wesen der Existenz ist zu sehr von den fatalen Versprechungen neuer Himmel und neuer Welten herabgewürdigt worden, die auf vielfache Weise zur Verabscheuung der Welt der Leiden, aber auch der Freuden der Menschen geführt haben, dem einzigen ihnen zugesprochenen Aufenthaltsort. In Wahrheit ist die Endlichkeit der Existenz, die unüberschreitbare Welt seiner Beunruhigungen zwischen Angst und Enthusiasmus, der offene Raum für und durch die Kreativität des Werkes, der Kunst, des Wortes und der Tat, der Poesie, der Erfindung und Entdeckung. Das Ereignis, das zwar ganz dem Schöpfergeist des Menschen zu entspringen scheint, ihn aber in dem Maße, wie es ihn übersteigt, umso tiefer mit einbezieht, das ihn als Autor oder als Verbraucher und Genießer erstaunt und betroffen dem Außerordentlichen und Unerklärlichen überläßt, dem unerwartet Neuen, der Offenbarung und Enthüllung dessen, was nie allein vom Menschen kommt, sondern ihm wie ein Geschenk zukommt, das immer zugleich auch eine Herausforderung darstellt. Wie die plötzliche Erfahrung der Alterität des Anderen, die ihn sein läßt, die aber in sich das Unbegreifbare seiner Endlichkeit einschließt.
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Woher kommt denn die Musik Mozarts, die so außergewöhnlich heiter ist, daß sie in der Lage ist, in ihrer verführerischen Ausdruckskraft das Tragische der Existenz zu sagen, ohne es zu verraten, durch die zutiefst menschliche Melancholie ihres ironischen Blickes oder die rätselhafte Kraft ihrer religiösen Tonart? Oder die nachdenkliche Musik Bachs, ihr weiter und tiefer Atem, die tiefe Poesie und Feinheit der Übungen, die Dramatik des Glaubens, von der sie inspiriert ist? Und woher das begeisterte und enthüllende dichterische Wort Hölderlins, seine philosophische Geistesschärfe, seine bestürzende Anziehungskraft, seine ergreifende Ankündigung der untrennbaren Verbindung von Schönheit und Schmerz? Ganz zu schweigen von den kostbaren Goldgründen mittelalterlicher Malerei, vom kalten, aber feinen und schmerzlich sensiblen Licht der italienischen oder flämischen Renaissance-Bilder; von der geheimnis-umwobenen Leuchtkraft Caravaggios, die wie kaum eine andere fähig ist, die Menschlichkeit alles Menschlichen zum Ausdruck zu bringen, Gesichtsausdrücke und -züge von Christus, von Heiligen, Madonnen, von Göttern und Halbgöttern, von mythischen Helden und Heldinnen, in Verbindung mit dem Enigmatischen und Paradigmatischen der Figuren aus dem täglichen Leben, die sie heroisiert; ganz zu schweigen auch von der Freude und der Qual der Farbe der zeitgenössischen Malerei seit dem Impressionismus, von ihren Dekompositionen, ihren surrealen Träumen, ihren Sinnesverwirrungen, ihren zufälligen Linien, die jeden Sinnweg auflösen, in dem sich Zeichen und Farbe vermischen. All dies bringt die Kreativität der Existenz zum Ausdruck, d. h. die Wahrheit der Endlichkeit, die sowohl in Werken, als auch in Handlungen die vielfachen Bedeutungen des sich erschließenden Alteritätsbezugs befragt und interpretiert. Die Endlichkeit des einsamen Menschen, die allerdings zu verstehen ist im Sinne eines Schicksals, das darin besteht, sich nicht in sich verschließen zu können, denn in sich bleibt die Existenz offen für das Geheimnis der Welt, das im menschlichen Fragen und Unternehmen für Augenblicke aufblitzt aus der Dunkelheit, in der es sich dennoch verbirgt. Die Abwesenheit einer irreduziblen und dennoch nahen Alterität konstituiert nämlich das undurchdringliche Geheimnis jeder Existenz. Das Geheimnis also einer Endlichkeit, das auf keine metaphysische Transzendenz verweist, sich aber gleichzeitig gegen jede vereinfachende Reduktion verwehrt, die vorgibt, alle Fragen zur Existenz des Menschen den »objektiven« Antworten der Wissenschaften anzuvertrauen. Denn ja heute ist das Wort »Geheimnis« verbannt und es zu wagen, gilt es schon als das untrügliche Zeichen eines antiwissenschaftlichen Irrationalismus, in dem sich das kranke Denken metaphysischer Nostalgien verbirgt. Wenn sich in diesem Sinne die Kreativität der Existenz in der bis jetzt unausgesprochenen Antwort zeigt, zu der sie aufgerufen wird von dem Anspruch und dem Ruf, der von der Welt auf sie zukommt, von der Alterität, die ihr auf geheimnisvolle Weise entgegenkommt in Situationen, die sie auf die Probe stellen, in den »Krisen«, denen ihre Endlichkeit ausgesetzt ist, stellt dann nicht die Technik selbst trotz ihrer unwiderstehlichen Tendenz einer globalen Herrschaft die Krise dar, die über das Schicksal der gegenwärtigen Welt entscheidet? Eine Krise, über deren Geheimnis niemand verfügt und die daher im Doppelsinn zum einen als eine Herausforderung der Wahrheit zu verstehen ist, die das Sein des Menschen für einen neuen Bezug zur Welt öffnen kann und damit
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auch zu den neuen Existenzmöglichkeiten, deren er bedarf, und zum anderen aber auch als eine tödliche Herausforderung, die jede Möglichkeit, die ihm anscheinend eröffnet wurde, umwendet zur Unmöglichkeit, die ihn erstickt. Auch die Herausforderung des Kunstwerks, des zu sagenden Wortes, der erneuernden Handlung und des zu leistenden Dienstes kann sich im Scheitern des Interpreten auflösen, in der Verkümmerung jeder kreativen Antwort, also in der Einebnung jeder Möglichkeit auf das Niveau der Wiederholung des schon Gesagten und Gemachten. Gerade dies wäre die Gefahr der Technik, nämlich den Menschen zu reduzieren auf den Einsatz, für den sie ihn braucht, unfähig zu jeder kreativen Antwort. Oder besser gesagt: völlig aufgesogen von der diffusen Kreativität, die von der Technik ausgeht, die dadurch die Illusionen einer Scheinsubjektivität ohne Freiheit nährt. Die Frage, die sich daher stellt, ist folgende: Wenn nicht einmal die Differenz des Werkes, das heißt, seine endliche Transzendenz und die Herausforderung, mit der diese die Existenz überkommt, dem Menschen ein Schicksal der Freiheit garantieren kann, enthält dann nicht umgekehrt auch die Transzendenz der Technik jenes Moment der Unentschiedenheit, der wesentlichen Ambivalenz, dank der die Existenz von dem dramatischen Bruch und den neuen Herausforderungen, die sie darstellt, profitieren könnte, um zu einer noch unbekannten Freiheit zu gelangen? Wenn nämlich die Endlichkeit des Menschen verstanden wird im Bezug zur Alterität, die ihn umgibt, die ihn beschützt, aber zugleich auch bedroht, so stellt die Herrschaft der Technik heute die vorherrschende Gestalt dar, die das Andere der Existenz, das ihren Sinnsentwürfen irreduzibel widersteht, angenommen hat. Von der Technik ist der Mensch sicherlich zu einem blinden Produktivismus aufgefordert, solange er durch die Reduktion der Kreativität auf Effizienz allein der Herrschaftsinstanz gehorcht, die in der hyperbolischen Reproduktion desselben lediglich den Schein des Neuen hervorbringt. Aber auch die Technik läßt so wie jedes Ereignis eine doppelte Lesart zu, nämlich sowohl als Risiko mit überwältigenden Effekten, als auch im Gegenteil als Möglichkeit einer anderen Erfahrung der Wahrheit als die bisherige. Es kann nämlich geschehen – und es geschieht auch schon –, daß die andauernde Aggression, die die technologischen »Entdeckungen« ausüben, anstelle der eindimensionalen Anpassung und der unbewußten Unterwerfung die Warnung der Existenz vor der Gefahr und ihren positiven Widerstand hervorruft, jenseits jeder irrationalen Ablehnung, aufgrund der kreativen Interpretation, die die Frage nach der Wahrheit aufnimmt. Die Frage, die paradoxerweise als der Ausdruck der tiefsten Not der Existenz von der Tendenz zur Nivellierung selbst ausgeht. Die dringende Notwendigkeit einer kreativen Wahrheit für die Existenz fordert vom Denken, radikal Abschied zu nehmen von der Gleichsetzung von Sein und Natur, die konsequent die Reduktion der Wahrheit der Kreativität auf ein angleichendes, physizistisches Moment des Wahren enthält, und Abschied zu nehmen auch von der Subjektivierung des Wahren, deren Ende die Gleichsetzung von Sein und Wahrheit mit dem Produzierbaren und daher auch die Herrschaft um der Herrschaft willen ist, die den Entwurf der Freiheit der Subjektivität in sein Gegenteil verkehrt. Nicht nur verloren, sondern von den eigenen Allmachtsillusionen befreit, dem Trost ihrer allzu vielen metaphysischen Träume entrissen durch die Verbreitung der technisch-wissenschaftlichen Rationalität, ist die Existenz in die Lage versetzt, die eigene Endlichkeit
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wiederzuentdecken – sie neu zu erfinden, sie endlich auf kreative Weise zu interpretieren – als Bezug zur Alterität, der sie ihr Sein verdankt, von der sie aber keinen Schlüssel zu irgendeinem transzendenten Geheimnis erhält, sondern nur die Verantwortung, das Geheimnis ihrer irreduziblen Differenz zu wahren. Jener Differenz, die den Menschen existieren lässt. Das Geheimnis des auszuführenden Werkes, weil es eine zu schaffende Wahrheit mit sich bringt, die das menschliche Dasein zu neuen Existenzmöglichkeiten in der Welt befreit, für die sie es verantwortlich macht. Abschließend soll ein entscheidendes Wort Nietzsches, das oben bereits zitiert wurde, noch einmal aufgegriffen werden. An der Stelle, an der Zarathustra sein Wort an die Schaffenden richtet, verspricht er »die große Erlösung des Lebens«, aber zugleich »Leid und bitteres Sterben«. Hier denkt Nietzsche etwas Großes, nämlich die notwendige Verbindung zwischen Schöpfung, Leid und Trauer. Keine Geburt ohne Schmerzen. So ist am Anfang das Schicksal der Menschheit vorgezeichnet, dem sich das endliche Wesen nicht entziehen kann. Wenn die Kreativität der Existenz mit der Wahrheit zu tun hat, ohne die jede Möglichkeit, daß Menschen existieren können, untergeht, so bedeutet dies, daß die notwendige Erfahrung des Neuen nicht als Ideologie des unendlichen Fortschritts der Menschheit, ihrer immer wachsenden Bereicherung zu mißverstehen ist. Was dann zu denken bleibt, ist, daß jedes neue Werk, jedes neue Wort oder jede neue Handlung, in dem Maße neue Möglichkeiten erschließen kann, wie es andere wegfallen läßt, und das bedeutet in gewisser Weise, daß die Existenz immer einen Preis dafür zu bezahlen hat, die Herausforderung der sie umgebenden Alterität nicht zu versäumen. Man kann also keine grobe Idee einer Akkumulation der Kreativität nähren, die dem metaphysischen Traum der wachsenden Positivität der Wirklichkeit eine Erfüllung gäbe. Was die Warnung Nietzsches auch enthält, ist aber, daß Kreativität nicht gleichbedeutend ist mit den vermeintlichen »positiven« Werten des Lebens, mit dem Erfolg, der Macht, dem Reichtum, besser noch mit dem Überfluß, sondern daß es möglicherweise eine Kreativität gibt, die niemand erzwingen kann, sondern die nur aus Schmerz entstehen kann. Und das hat nichts mit dem Verbüßen einer Strafe zu tun, sondern es gehört zu dem endlichen Schicksal der einzigen Wahrheit, der die Existenz ihre kreative Antwort geben kann. Man kann sicher nicht pauschal die Gleichung »Kreativität gleich Schmerz« aufstellen, aber man kann versuchen zu denken, daß es keine Kreativität geben kann, wo die Existenz den Preis des Schmerzes nicht zu ertragen imstande ist. Und darum kann es auch keine Freude geben, die nicht durch das Leiden hindurch auf die Probe zu stellen ist.
Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966. Blumenberg, Hans: Nachahmung der Natur [1957], in: Ästhetische und Metaphorologische Schriften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann 1994.
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Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1966, Bd. VI, S. 395–690. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. V, S. 233–620. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. III, S. 109–264. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Montinari [KSA], Bd. 4, Berlin, New York 1980. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA, Bd. 3, S. 343–651. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: KSA, Bd. 5, S. 9–243. Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1887–1889, KSA, Bd. 13. Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, Bd. II, München. Paderborn, Wien: Schöningh / Thomas 1967, S. 165– 255. Schlegel, Friedrich: Ideen, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, Bd. II, München. Paderborn, Wien: Schöningh / Thomas 1967, S. 256–272.
Wie und wozu erfinden wir unsere Welt? Zum Problem von Referenz und Bedeutung im interkulturellen Dialog
Tilman Borsche (Hildesheim)
I. Einleitung Wie und wozu erfinden wir unsere Welt? Eine auf den ersten Blick merkwürdige Frage. Erlauben Sie mir dazu eine Vorbemerkung: Diese Frage stellt sich unabweislich, wenn wir ernsthaft versuchen, Äußerungen und Verhaltensweisen von Menschen, die einer fremden Kultur entstammen, besser zu verstehen, als das jeweils bislang in der Regel gelingt. Die Überlegungen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, sind motiviert durch das größere Projekt einer Suche nach einer tragfähigen Basis für den interkulturellen Dialog, dem eine anerkannte theoretische Basis bislang fehlt. Ich werde auf die Probleme eines solchen Dialogs selbst heute nicht eingehen, aber ich wollte die Zielrichtung meiner Überlegungen, von der die hier zu entwickelnden Denkschritte im Hintergrund gesteuert werden, nicht unerwähnt lassen. Hier und heute werde ich mich – dem Titel unseres Kolloquiums entsprechend – auf eine Untersuchung der hermeneutischen Voraussetzungen eines solchen Dialogs beschränken. Schwierigkeiten eines Dialogs zwischen den Kulturen rühren häufig von Differenzen bezüglich der Bedeutung und der Referenz der Worte her, mit deren Hilfe wir uns in der Welt orientieren. Man verwendet dieselben Worte in der Sprache des einen oder des anderen der Partner des Dialogs – oft genug in einer dritten Sprache, die beide zu verstehen meinen –, und doch kann es bei jedem konkreten Versuch der Mitteilung und des Austauschs von Gedanken geschehen, gleichgültig in welcher medialen Form, daß nicht nur die Bedeutung der Worte, sondern auch ihre Referenz unbemerkt »himmelweit« (Kant) auseinander gehen. Es ist nun die spezielle Absicht der folgenden Ausführungen zu zeigen, daß solche Differenzen nicht erst mit dem interkulturellen Dialog beginnen, in dem sie gleichwohl besonders auffällig hervortreten, und nicht auf ihn beschränkt sind. Der clash of civilizations hat sein Modell in den Verständigungsschwierigkeiten, wie sie jederzeit und überall zwischen Individuen auftreten können, und zwar auch innerhalb von Gruppen, die nach außen als homogen erscheinen. Differenzen im Verständnis der Worte, sowohl ihre Bedeutung als auch ihre Referenz betreffend, – so eine erste leitende These – sind die Signatur des menschlichen Geistes. Ohne sie gäbe es keine kulturellen Gegensätze – aber auch keine Kultur. Bevor man eine philosophische Erörterung des Dialogs der Kulturen beginnt, sollte man sich im Labyrinth der Probleme des Verstehens zu orientieren versuchen. Über einen ersten Orientierungsversuch wird dieser Text nicht hinauskommen.
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Nach diesen einleitenden Bemerkungen (Teil I) beginne ich die Erörterung des Themas mit allgemeinen Bemerkungen zum Begriff des Verstehens, wobei ich einen Wechsel der leitenden Perspektive vorschlage (Teil II). Daran schließen sich (Teil III) Überlegungen zu dem logischen Ort des Verstehens unter folgenden zwei Fragen an: Was, allgemein gesprochen, wird verstanden, wenn verstanden wird? Und ausführlicher: Wer, allgemein gesprochen, versteht, wenn verstanden wird? Im IV. Teil wird die Frage nach unserer Welt handhabbar gemacht, indem ich sie unter den Stichworten ›Daten‹ und ›Fakten‹ diskutiere, aus denen die Welt bekanntlich bestehen soll, bevor ich im V. Teil das kreative sinn- und gemeinschaftsstiftende Potential des sprachlichen Weltenbildens an zwei historischen Beispielen ansprechen und mit einigen Hinweisen vorstellen werde. II. Umkehr im Begriff des Verstehens Gewöhnlich nehmen wir an, daß es Gegenstände, Tatsachen, Ereignisse gibt, die die Eine Welt, in der wir alle leben, ausmachen, die aber von verschiedenen Augen bzw. aus verschiedener Perspektive und Interessenlage heraus unterschiedlich wahrgenommen und benannt, gewichtet und bewertet werden. Danach müßte es, im Prinzip, eine richtige Ansicht geben, die die Welt oder den Ausschnitt von ihr, der uns gerade interessieren mag, zeigt oder vorstellt, wie sie in ihrer qualitativen und quantitativen, nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Vielfalt ist, und daneben viele mehr oder weniger (un)richtige Ansichten. Worte, verstanden als Zeichen, müßten die Eine Welt und das, was sie im einzelnen ausmacht, darzustellen versuchen, auch wenn man leicht einzuräumen bereit ist, daß das nie so ganz gelingen wird. Mein Thema, an dem ich diese gewöhnliche Annahme im Folgenden prüfen möchte, ist ein notorisch schwieriger Begriff; schwierig, da er selbst benötigt wird, um den Begriff des Verstehens, wie er soeben skizziert wurde, zu explizieren: der Begriff ›Welt‹. Zunächst: Was bezeichnet das Wort ›Welt‹? Werfen wir einen Blick auf den aktuellen Sprachgebrauch: Das Wort ›Welt‹ wird inflationär gebraucht. Einerseits sprechen wir von der Welt der Bücher, der Welt der Kinder, der Welt des Fußballs; so als gäbe es zahllose Welten, die nebeneinander bestünden und zwischen denen wir ohne große Mühe wechseln könnten. Andererseits und gleichzeitig hat die emphatische Rede von der Einen Welt Konjunktur: Im Globalisierungsdiskurs ist sie erstrebtes Ziel, im Ökologiediskurs mahnende Erinnerung, im Gerechtigkeitsdiskurs letzte Norm. Schließlich wäre an die Logiker zu erinnern, die von der Einen wirklichen Welt unendlich viele mögliche Welten unterscheiden; was die Möglichkeiten der wirklichen Welt ebenfalls stark restringieren würde. Kurz, schon die flüchtige Aufzählung einiger Beispiele läßt klar werden, daß ›Welt‹ nicht nur ein physikalischer Begriff ist; was ›Welt‹ denotiert, fällt nicht mit dem Planeten Erde der Astronomen bzw. Geographen zusammen. Ebenso klar scheint zu sein, daß das Wort Welt neben seiner vordergründig objektiven stets auch eine hintergründig subjektive Denotation mit sich führt. ›Welt‹ impliziert immer auch eine Reflexion auf meine Welt, die Welt für mich; hier liegt die ständig sprudelnde Quelle für die Vielfalt
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Kolloquium 5 · Tilman Borsche
der Welten. Wollte man allerdings das Verständnis des Wortes ›Welt‹ auf diese subjektive Dimension reduzieren, würde das Problem, das im Gedanken von der Vielheit der Welten liegt, verdrängt und verharmlost. Auch eine genauere Analyse des Sprachgebrauchs bestätigt diesen ersten Befund: Sie kann zwar interessante, weil auf den ersten Blick unvereinbare Hinweise geben, hilft aber letztlich nicht weiter bei der Frage, wofür das Wort ›Welt‹ sinnvollerweise stehen mag, bzw. nach einem konsistenten Begriff von ›Welt‹. So viel aber deutet sich an: Die gewöhnliche Annahme von der Identität der Einen Welt, die unterschiedlich genau in Gedanken erfaßt und in Worten dargestellt wird, führt offenbar auf eine falsche Spur. Allgemeine sprachtheoretische Überlegungen haben zudem längst gezeigt, daß Worte oder andere Zeichen, durch deren Bedeutungen wir die Gegenstände, auf die sie referieren, zu erfassen versuchen, diese gerade nicht darstellen; denn es findet sich keinerlei Ähnlichkeit zwischen den Zeichen auf der einen und den Dingen bzw. den Gedanken auf der anderen Seite. Wenn wir Worte verständig verwenden – sprechen oder hören, genauer, wenn auch kontraintuitiv formuliert: sinngebend rezipieren bzw. sinnerfassend produzieren –, dann stellen diese zwar durchaus etwas dar, nie aber die referierten Gegenstände selbst, welche vielmehr ihrerseits durch die Worte ebenso erstellt wie verstellt werden; und nie die Gedanken (der Sprecher) selbst, die durch die Worte ebenso geformt wie verformt werden. Solange diese Beobachtung nicht widerlegt werden kann, würde daraus nach dem eingangs skizzierten gewöhnlichen Begriff des Verstehens folgen, daß wir Zeichen, die uns zu verstehen gegeben werden, niemals verstehen können. Denn wir kommen nicht über sie hinaus, weder zu den wirklichen Gegenständen der Welt noch zu den wirklichen Gedanken in den Köpfen der anderen – und können doch nur durch solche Zeichen Gedanken und Gegenstände identifizieren, unterscheiden, bestimmen. Wittgenstein bringt das Paradox, in das der gewöhnliche Begriff des Verstehens hier führt, auf den Punkt, wenn er dieser sprachtheoretischen Beobachtung präzisierend hinzufügt, daß wir auch unsere eigenen Zeichen – nach dem gewöhnlichen Begriff des Verstehens – nicht verstehen können: »Wenn man aber sagt: ›Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‹, so sage ich: ›Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‹«1 Welche Folgen aber hat dieses Paradox? Können wir Zeichen gar nicht verstehen und folglich auch nicht die Gedanken anderer aus den Worten, die wir vernehmen, ja nicht einmal unsere eigenen Gedanken aus unseren eigenen Worten? Das anzunehmen wäre absurd. In der Regel verstehen wir die Welt und uns selbst und andere. Und zwar verstehen wir die Welt und uns selbst und andere immer schon, bevor wir nach der Möglichkeit eines solchen Verstehens fragen. Wir müssen verstehen (können), um überhaupt nach dem Verstehen fragen zu können. Die Frage ist nur, welchen Begriff wir uns im Nachhinein von diesem Verstehen machen, näher: ob wir einen Begriff des Verstehens explizieren können, der nicht in das genannte Paradox führt. Beginnen wir mit dem, was gegeben ist: Wie ist unsere Lage zu beschreiben, wenn wir anfangen, nach dem Verstehen zu fragen? Offenbar haben wir bereits gelernt, mit 1
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 504, Frankfurt/M. 1967, S. 171.
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den Zeichen, die uns umgeben, mit den Zeichen, die unsere Kultur (Lebensform) ausmachen, umzugehen. Wir wissen, wie wir sie auf unsere Gefühle und Wahrnehmungen beziehen und wie wir sie untereinander verknüpfen können, sollen, dürfen. Dieses Wissen ist erworben. Es kann als Gabe der Kultur (Lebensform) angesehen werden, die uns erzogen hat, in ihr erschließt sich uns unsere je eigene Welt(ansicht). Nur durch dieses und in diesem Wissen, das eher ein Können ist, gewinnen und haben wir überhaupt Welt. So scheint das Verstehen ursprünglich auf eine je unsrige gemeinsame Lebensform bezogen, d. h. durch sie bedingt, aber auch beschränkt zu sein. Doch worin bestünde diese Gemeinsamkeit und wo wären deren Grenzen? Treten wir, um diese weitere Frage zu klären, noch einmal einen Schritt zurück: Wir kennen nicht irgendwelche Dinge an sich, schon gar nicht die Welt an sich; das ist auch unabhängig von Fragen des Verstehens philosophisch anerkannt, theoretisch geläufig und soll daher im Moment als unproblematisch gelten. Doch hat diese Einsicht immer noch überraschende Konsequenzen: Sie entzieht einer überkommenen und scheinbar unerschütterlichen Meinung den sicheren Boden, der Meinung nämlich, daß wir alle in Einer und derselben Welt leben. Nach wie vor fällt es schwer, diese Konsequenz aus der genannten kantischen Grundeinsicht, die längst zum philosophischen Gemeinbesitz geworden ist, zu ziehen. Viele, so scheint es, verweigern diesen Schluß aus der unbegründeten Angst heraus, mit dem Glauben an die Identität der Welt auch die Welt selbst zu verlieren. Das Gegenteil aber ist der Fall. Eine unendliche Fülle von Welten, die keineswegs festgefügt in sich und untereinander beziehungslos sind, erschließt sich dem, der jene Angst überwindet. Versuchen wir es also einmal umgekehrt. Nehmen wir an, daß wir, insofern wir uns überhaupt als Weltwesen verstehen, von Natur aus in verschiedenen Welten leben und daß diese Verschiedenheit nicht als ein Zeichen für unzulängliche, sei es vorwissenschaftliche, sei es ideologisch frisierte Ansichten einer und derselben Welt zu gelten hat. Denn diese Differenz ist entscheidend, sie ist befreiend! Die Frage nach dem Verstehen hat immer die zwei Seiten. Ich verstehe etwas (d. h. Zeichen: Dinge, Sachverhalte, Ereignisse, kurz: die Welt) und ich verstehe andere bzw. mich selbst (d. h. die Intentionen der Zeichengeber). Gewöhnlich stellt man die beiden Fragen in der genannten Rangfolge. Primär geht es um die Sache, um das, was gesagt wird und verstanden werden soll, dann erst um die (Intention der) Person, die etwas gesagt hat. Der vorgeschlagene Perspektivwechsel kehrt auch diese Reihenfolge um und stellt damit, so meine zweite These, eine natürliche, in der erkenntnis- und sprachtheoretischen Reflexion von jeher verkehrte Rangfolge wieder her. Das Sprechen ist es, was einerseits den Gedanken und andererseits den Gegenstand des Denkens evoziert, nicht umgekehrt. (Die traditionelle Rangfolge lautet bekanntlich: Gegenstand – Gedanke – Wort.) In diesem Sinn beginne ich mit dem geäußerten bzw. vernommenen Wort und frage zunächst: Wie steht es mit dem gegenseitigen Verstehen in einer unüberschaubaren Vielfalt von durch Worte erschlossenen Welten? Beginnen wir wieder mit dem, was gegeben ist: Wie ist unsere Lage zu beschreiben, wenn wir unter den neu gesetzten Rahmenbedingungen anfangen, nach dem gegenseitigen Verstehen zu fragen? In der Kommunikation zwischen Dir und mir und anderen, zwischen unseren verschiedenen Welten ist das Nicht-Verstehen normal. Referenz und
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Bedeutung derselben Worte bei verschiedenen Sprechern bzw. Hörern stimmen – zunächst und zumeist – nicht überein. Vielmehr sind Angemessenheit (im Blick auf die Dinge) und Verstehen (im Blick auf sich selbst und die anderen) zunächst ebenso glückliche wie flüchtige Ausnahmen. Es sind Ereignisse, die auf momentaner gegenseitiger Anerkennung von intendierter Bedeutung und Referenz des Gesagten beruhen; erst unter günstigen historischen Umständen stabilisieren sie sich zu dauerhafter Geltung als Produkte einer kontrollierten Disziplin im Gebrauch der Worte, im Festhalten an der jeweils anerkannten Referenz und Bedeutung der Worte. Nicht nur in der Schule und in der Politik, dort aber liegt es auf der Hand, gibt es Menschen, die sich darum bemühen, in diesem Sinn mehr Gleichförmigkeit (Verständigung mit anderen über Bedeutung und Referenz der gemeinsamen Worte) herzustellen. Auf diesem Hintergrund ist das Problem des Verstehens neu aufzurollen. Es geht nicht mehr um die Restauration des verlorenen Paradieses einer ursprünglichen Einheit in der Wahrheit, um die Beseitigung von Unfällen des Mißverstehens, von Fehlleistungen durch Irrtum und Lüge, sondern um die Erschließung und Gewinnung, Bewahrung und Erweiterung bedingungsreicher, räumlich und zeitlich begrenzter Übereinstimmungen. Die Grundfrage ist demnach nicht mehr: Wie verstehe ich richtig? (analog zur Frage: Wie erkenne ich richtig?), sondern eher: Zwischen wem, wann und wo und unter welchen Bedingungen geschieht gegenseitiges Verstehen?
III. Orte des Verstehens und Mißverstehens Ich beginne mit zwei Fragen: (1) Was, allgemein gesprochen, wird verstanden, wenn verstanden wird? (2) Wer, allgemein gesprochen, versteht, wenn verstanden wird? Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Ich erwarte hier und heute keinen ernsthaften Widerspruch, wenn ich sage, daß es Zeichen sind, die wir verstehen, wenn wir verstehen. Das heißt aber auch, daß die Antwort nicht viel besagt. Es handelt sich um wenig mehr als eine Nominalerklärung von ›Verstehen‹ bzw. ›Zeichen‹, die einen verbreiteten und unproblematischen Sprachgebrauch im Rahmen unserer heutigen ›akademischen‹ Kultur wiedergibt.2 Die zweite Frage ist schwieriger zu beantworten. Wer oder was kommt als Kandidat für das Subjekt von Verstehen in Frage? Nun kann man Unbekanntes nur durch Bekannteres zu erklären versuchen, und muß dabei in Kauf nehmen, daß auch das Bekanntere seinerseits vielleicht problematisch ist. Ich orientiere mich bei der folgenden Musterung von Kandidaten für das Subjekt von Verstehen an der weithin anerkannten, wenn auch keineswegs unproblematischen Stufenfolge von unbelebten, belebten und vernünftigen Wesen, wie sie aus der aristotelischen Naturphilosophie bekannt ist. 2 »Ein Zeichen ist das, was wir verstehen.« Josef Simon: Philosophie des Zeichens, Berlin, New York 1989, S. 39 (Eröffnungssatz des Hauptteils).
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(a) Unbelebtes: Dinge / Ereignisse / Konstellationen usw. sind natürliche Zeichen, und zwar in dem Sinn, daß sie als Zeichen verstanden werden können. Sie können aber Zeichen weder geben noch verstehen. (Das entspricht der aristotelischen Lehre, daß diese Dinge bewegt werden, aber nicht bewegen können.) (b) Lebewesen, insbesondere Sinnenwesen, sind natürlich in demselben Sinn auch Zeichen, aber sie können darüber hinaus selber Zeichen geben und etwas als Zeichen verstehen; im Blick auf solches Geben und Vernehmen spricht man in einem engeren aktiven Sinn von ›natürlichen‹ Zeichen. Lebewesen, die sich in solchen und durch solche Zeichen orientieren, leben, wenn nicht in identischen, so doch in ähnlichen und in ihrer Ähnlichkeit natürlich programmierten Zeichenwelten, die, artspezifisch unterschieden, ihre ›Umwelt‹ genannt werden. Wohl lernen sie neue Zeichen, aber stets solche, die sie dann wieder ohne weitere Interpretation unmittelbar verstehen. Bei ihnen gibt es keine Kluft zwischen verstehen und antworten. Ihr Verstehen ist ihre Antwort. Man nennt es, um den Unterschied zu markieren, ›Reaktion‹, und das Zeichen, das ihm vorausgeht, ›Reiz‹. Das Verstehen als Reaktion führt unmittelbar zu den Dingen / Ereignissen der Umwelt zurück. Es ist erfahrungsbedingt, bleibt aber eingebettet in den natürlichen ›Horizont‹ der Art, auf natürliche Zeichen beschränkt. Gerade deshalb aber kennen Lebewesen als solche das nicht, was wir ›Fakten‹ nennen. Ihren Zeichen fehlt die Unterscheidung von ›Bedeutung‹ und ›Referenz‹, sie bilden keine ›Sätze‹ (Urteile). (c) Vernunftwesen: Diejenigen, mit denen wir glauben, uns ›verständigen‹ zu können, im Prinzip wenigstens, sind zwar ebenfalls Lebewesen. Als solche sind sie nicht nur Zeichen, sondern sie geben und verstehen auch natürliche Zeichen. Und was sie so geben und verstehen, ist artgemäß bedingt (d. h. es ist an ihre spezifischen Rezeptionsorgane und -fähigkeiten gebunden), doch dabei bleibt es nicht. Denn sie verstehen die Zeichen als Zeichen und geben ihnen damit Bedeutung, d. h. einen Sinn, der über den unmittelbaren oder natürlichen Verweisungszusammenhang der Zeichen hinausdeutet. Für solche Wesen sind alle Zeichen, auch solche, die natürlicherweise klar und unzweideutig bestimmt sind, unterbestimmt, d. h. weiter bestimmungsfähig und bestimmungsbedürftig. Diejenigen Zeichen, die sie selber geben, und solche, die sie als von ihresgleichen gegeben ansehen, sind damit verstanden als ›künstliche‹, ›arbiträr‹ gesetzte Zeichen. Alle Sprachzeichen sind von dieser letzten Art. Künstliche Zeichen aber, insbesondere Sprachzeichen, erschließen das, was wir zur Unterscheidung nicht mehr Umwelt, sondern ›Welt‹ zu nennen gelernt haben. Welten sind arbiträr, ihre Ursprünge sind künstlich, ihre Gestalten folglich verschieden. Die Arbitrarität der Zeichen ist es, was die Vielfalt der Welten, in denen wir leben, nicht nur möglich, sondern letztlich auch unvermeidlich macht. Bedeutung ist arbiträr konstituiert, sie könnte nicht nur, sie kann in der Tat immer auch anders bestimmt werden, als es gerade intendiert war oder ist. Ein weiterer Schritt: Es gibt nicht zwei, arbiträre Zeichen verwendende Wesen, die von Natur aus in derselben Welt leben. Vielmehr bauen arbiträrer Zeichen fähige Wesen ihre eigenen Welten – sie haben vorher keine –, indem sie gegebene Zeichen arbiträren Ursprungs ihrerseits arbiträr zu gebrauchen lernen. Damit Zeichen, die keine natürliche Bedeutung haben, arbiträre Bedeutung gewinnen und das Gewonnene bewahren können, sind sie auf die Anerkennung ihrer Bedeutung durch andere Wesen, die diese Zei-
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chen zu verstehen in der Lage und bereit sind, angewiesen. Das Entscheidende an dieser konstitutiven Anerkennung liegt darin, daß sie nicht natürlich ist, sondern willkürlich, und das heißt, daß sie auch modifiziert, vorenthalten und entzogen werden kann. Jedes arbiträre Zeichen kann anders verstanden werden, als es intendiert war. Die Arbitrarität der Zeichen ist damit auch dasjenige, was die Vielfalt der Welten, in denen wir leben, nicht nur unvermeidlich, sondern auch erträglich und sogar wünschenswert macht. Denn sie eröffnet neue Horizonte, und zwar solche, die die Grenzen unseres je gegenwärtigen Verstehens überschreiten. In der traditionellen Sprache der Evolution ausgedrückt, die hier aber nichts weiter als eine logische Differenz markieren soll, liest sich dieser Gedanke folgendermaßen: Mit dem Sprung aus der tierischen Umwelt in die Welt des Geistes öffnet sich der unendliche Horizont des Nicht-Verstehens. Menschwerdung ist, wenn nicht Sündenfall, dann doch Vertreibung aus dem Paradies des natürlichen Verständigtseins in einer frage- und antwortlosen, natürlich determinierten Umwelt hinaus in das Gebiet und das Gefühl eines unendlichen Mangels an Wissen. In dieser Wüste vollzieht sich der Aufbau von Welt als eine konstruktive Gemeinschaftsleistung arbiträrer Zeichensetzung. Menschen, die wir als geistige Lebewesen auf Erden anzusprechen gelernt haben, auch dann, wenn wir sie (faktisch noch) nicht verstehen können, haben von Natur aus (als Lebewesen ihrer Art) weder eine Welt noch ein Selbst, lediglich die Fähigkeit zur Selbst- und Weltbildung. Offensichtlich machen sie von dieser Fähigkeit vielfältig Gebrauch. Gestalt und Gehalt, Zahl und Umfang der Welten, in denen Menschen leben, erscheinen selbst dem flüchtigen Beobachter unerschöpflich. Nur wenig läßt sich allgemein über diese Welten sagen, aber so viel vielleicht doch: Keine ist die Schöpfung eines Einzelnen, keine ist allen gemeinsam, und alle sind nur von bedingter Stabilität. Ohne hier weiter über die Entstehung von Welten spekulieren zu wollen, weder phylogenetisch noch ontogenetisch, möchte ich zur Beschreibung von ›Welt‹ im allgemeinen nur so viel festhalten: Sie ist das Produkt einer Kommunikationsgemeinschaft von denkenden und sprechenden Lebewesen. Sie realisiert sich in der wechselseitigen Anerkennung von arbiträrem Zeichengebrauch, in einer Anerkennung, die, wie gesagt, nicht in einem biologischen Sinn natürlich und folglich im Prinzip jederzeit kündbar ist. Sie ist aber in der Regel so stark, so bindend und so wichtig für das Fortleben einer Gemeinschaft, daß der Einzelne Opfer zu bringen, bisweilen sogar lieber das physische Leben aufzugeben bereit ist, als Gefahr zu laufen, die Welt der Kommunikationsgemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt, zu verlieren. Man kann das die ursprüngliche und konstitutive soziale Dimension von Welt nennen. Damit erweist sich das animal rationale (zôon lógon échon) zugleich als animal civile (zôon politikón). Oder anders und als These formuliert: (Un)Vernunft ist politisch und Politik ist (un)vernünftig, beide aber sind welten(um)bildend.
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IV. Daten und Fakten Gehen wir also davon aus, daß ›wir‹ (die Menschen insgesamt und als Vernunftwesen betrachtet) in verschiedenen Welten (d. h. aber immer auch in mitgeteilten, folglich geteilten und in Grenzen gemeinsamen Welten) leben. Diese Prämisse ist nicht weniger arbiträr als die gewöhnliche, gegenteilige, die cartesische These von der Einheit der Welt, die das logisch notwendige Pendant zur These von der Einheit der Vernunft3 darstellt. Das nämlich war die These, die die Selbstreflexion des neuzeitlichen Denkens mit der Zeit so sehr in Aporien verstrickt hat, daß es sich heute nahe legt zu versuchen, ohne die scheinbar so selbstverständliche Annahme von der Identität der Einen Welt bzw. der Einen Vernunft in der Verschiedenheit der ungenügenden Vorstellungen von ihr auszukommen. Doch haben Innovationen bekanntlich Folgelasten. Die Folgelastfrage, die sich auf der Basis dieser neuen Prämisse von der Differenz unserer Welten und der Vielfalt unserer Vernunft statt dessen stellt, lautet folgendermaßen: Was verbindet die verschiedenen Welten, in denen wir leben, wie kommunizieren wir über ihre Grenzen hinweg und wie kann eine solche Verbindung bzw. eine solche Kommunikation gedacht und expliziert werden? Auch wenn wir neue Begriffe oder alte Begriffe auf neue Weise verwenden wollen, können wir uns nur verständlich machen im Horizont der Begriffe unserer Zeit. Die Annahme von der Einheit der Welt ist eine Annahme, die wir gar nicht frei sind, zu leugnen oder nicht zu teilen, denn sie erscheint selbstverständlich, sie ist unserem kulturellen Gedächtnis tief einverleibt. Jedenfalls können wir sie nicht einfach ignorieren. Wir können sie nur überwinden, wenn es uns gelingt, sie aufzuheben. Beginnen wir damit, sie vorsichtiger auszudrücken, und zwar folgendermaßen: Was ›uns‹ – a priori – verbindet, bevor ›wir‹ – a posteriori – Verbindung miteinander aufnehmen, ist nicht dieselbe Welt (qua Lebewesen haben wir noch gar keine, nur Umwelt), sondern die Fähigkeit, eine Welt und ein Selbst zu bilden, was wir, indem wir beides für uns in Anspruch nehmen, allen anderen, mit denen wir uns glauben verständigen zu können, im Prinzip wenigstens, ebenfalls zugestehen und ansinnen. Was uns – a priori – verbindet, ist nicht eine wie auch immer natürlich bestimmbare, vielleicht als Tiefenstruktur aufzudeckende Übereinstimmung in Meinungen, Ansichten und Urteilen, in Erwartungen, Wünschen und Zielen, sondern die Fähigkeit, solche zu formulieren, zu reflektieren, zu modifizieren; d. h. die Fähigkeit (nicht nur gemeinsame, sondern) gerade auch unterschiedliche oder gegensätzliche Wünsche und Ansichten zu entwickeln. Ich plädiere dafür, in dieser Fähigkeit zur Bestimmung von Differenzen, zur Unterscheidung und Abgrenzung, logisch betrachtet, das allgemeine Merkmal des Geistigen, oder natürlich betrachtet, das Spezifikum des Menschen zu sehen, eben das, was alle Menschen als Menschen auszeichnet und verbindet. Vor diesem Hintergrund erscheint die faktische Nicht-Übereinstimmung in Urteilen und Zielen nicht mehr als ein Ausdruck der Defizienz eines biologischen Mängelwesens oder einer gefallenen Kreatur, sondern als »Le bon sens«, resp. »la raison« »est la chose du monde la mieux partagée«, René Descartes: Discours de La Méthode [1637], Eröffnungssatz. 3
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der natürliche Ausgangspunkt des Geistes. Übereinstimmung in Meinungen oder Wünschen wäre damit wohl jederzeit und überall – im Prinzip – möglich, ihre bedingte Realisierung aber unaufhebbar kontingent, und sie bliebe, wenn momentan erreicht, immer auch gefährdet. Nun kann es unsere Absicht sein, eine gemeinsame Welt zu bauen, zu stabilisieren, zu verändern, zu erweitern; kurz, möglichst viel und mit möglichst vielen Übereinstimmung in Urteilen und Zielen zu erstreben, z. B. im politischen Raum. Vermutlich ist es letztlich auch eine solche Absicht, angewandt auf einen globalen Maßstab, die dem Thema des interkulturellen Dialogs in jüngster Zeit so viel Aufmerksamkeit beschert hat. Das Problem dieses Dialogs bestünde dann darin, herauszufinden, wie wir dem Traum von einer gemeinsamen Welt im globalen Maßstab näher kommen können; vielleicht auch, wie denn eine solche Welt aussehen, welche Aspekte sie erfassen solle, könne, dürfe. (Interessanterweise – mit einem sicheren Instinkt für das Angemessene – wird diese letzte Frage allerdings kaum ausdrücklich gestellt; man begnügt sich meist damit zu bestimmen, wie sie nicht aussehen dürfe.) Ich möchte allerdings davor warnen, daß wir im Überschwang des guten Willens zur Verständigung und zur Übereinstimmung mehr erreichen wollen als möglich, wünschenswert und erträglich ist. Letztlich gilt nämlich: Nur noch Eine gemeinsame Welt wäre keine Welt mehr. Sie wäre der Tod des Geistes als die alle Differenzen resorbierende und in diesem Sinn totalisierende Umwelt einer sich renaturierenden Tierart Mensch. (Doch ist der Gedanke an eine solche Gefahr nicht mehr als eine logische Spielerei, die unsere ernsthafte Sorge nicht verdient. Die Entstehung des Geistes, d. h. der Differenz der Welten, in denen wir leben, dürfte irreversibel sein.) Die konkreten Probleme, mit denen sich eine Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen unseren Welten konfrontiert sieht, liegen in einer anderen Richtung. Denn die Welt als ganze ist kein Gegenstand unserer Erkenntnis, über dessen Identität oder Differenz zu streiten sich lohnte, weder im Denken noch im Handeln. Sie ist nach ihrem gewöhnlichen Verständnis als der »Inbegriff aller Erscheinungen« nur eine Idee (Kant, KrV B 447); dasselbe aber gilt auch für den Inbegriff aller möglichen Prädikate als ein geschlossenes Universum möglicher Bedeutungen: als Vorstellung von einem »All der Realität (omnitudo realitatis)« ist auch sie nur eine »Idee«, kein Gegenstand der Erkenntnis (KrV B 603 f.). In unseren Welten aber haben wir es, wenn wir von Erscheinungen sprechen, mit einzelnen Daten und Fakten zu tun, über die wir in der Tat und zu Recht streiten. Das nach dem gewöhnlichen Weltbegriff Überraschende und Irritierende liegt nun darin, daß diejenigen Daten und Fakten, von denen wir auszugehen gewohnt sind, weil sie in ihrer Summe die Welt ausmachen, in der jeder von uns wirklich lebt, daß diese Daten und Fakten nicht die gleichen für alle, ja daß sie, in verschiedenen Welten, oft nicht einmal miteinander kompatibel sind. Erst an diesem Punkt zeigt die so leicht dahingesagte These von der Verschiedenheit der Welten, in denen wir leben, ihre volle Tragweite. Daten und Fakten, die scheinbar unerschütterliche Basis unserer jeweiligen Weltorientierung, stehen zur Disposition. Wer sie anzweifelt, mithin das, was mir evident erscheint, ernsthaft in Frage stellt, ist unter der Prämisse der Einen Welt als dumm oder böse einzustufen. Nach der Prämisse
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der vielen verschiedenen Welten ist das nicht mehr der Fall: Vielleicht sieht er die Welt anders, trennt und verbindet, bestimmt und versteht nach anderen Regeln. Daten und Fakten sind nicht unerschütterlich; sie sind das mir Gegebene, Überlieferte, Gelehrte (data) bzw. das von mir Gemachte oder auf meine Weise Angeeignete (facta). Hier, an der Basis unserer jeweiligen Weltorientierung, setzt die Notwendigkeit des Dialogs mit Andersdenkenden und a fortiori mit Angehörigen fremder Kulturen ein. Die angemaßte Definitionshoheit (z. B. der Wissenschaft) über das, was und wie etwas ist, ist Ausdruck der besitzergreifenden Macht unseres Denkens, das als solches nach ›Welt‹herrschaft strebt. In jüngerer Zeit hat Jean-François Lyotard besonders eindrucksvoll auf die Arbitrarität von Daten und Fakten hingewiesen. Seine Argumente, die er vor allem in Le Différend entwickelt hat, sollen hier stellvertretend für andere zu Wort kommen. Ein Satz, daß etwas und was es ist, kann niemals bewiesen, er muß behauptet und immer wieder gegen Zweifel verteidigt werden.4 Gorgias, der Skeptiker, Sophist und Rhetor, reagiert auf diese Einsicht damit, daß er das Spiel der Meinungen den Interessen der Mächtigen unterwirft und diese Interessen durch die Macht der Rede und der Täuschung im Dienst der eigenen Interessen zu steuern versucht. Platon inauguriert stattdessen den Diskurs der Philosophie als Wissenschaft, indem er ein Ermittlungsverfahren zur Feststellung der Wirklichkeit, Dialektik genannt, entwirft und dieses Verfahren selbst ebenso wie das durch sie jeweils zu Ermittelnde dem auf individueller intuitiver Evidenz beruhenden und im Dialog immer wieder neu zu verwirklichenden Konsens anvertraut. Bis heute ist die Wissenschaft nichts anderes als eine institutionalisierte Variante dieses dialektischen Verfahrens, das auf freier Zustimmung (allerdings nur und jeweils) derer beruht, die erfahren, klug und guten Willens sind.5 Sie stellt (Hypo-)Thesen oder Behauptungen auf über etwas, das mit einem Namen benannt (referiert) wird und von dem dann ein Fall gezeigt werden muß. Stimmen Bedeutung (als These, Behauptung, Anklage), Name und Ostension zusammen, gilt das, was der Satz über die ›Wirklichkeit‹ aussagt, als (vorläufig) validiert – solange und soweit die Zustimmung reicht.6 Seit Platon hat sich diese von Lyotard so genannte ›kognitive Diskursart‹ in verschiedene Unterarten differenziert. Die jeweils anerkannten und gültigen Regeln des Verfahrens zur Ermittlung von Wirklichkeit sind heute andere z. B. vor Gericht, in der historischen Forschung, in den Naturwissenschaften. Jede Disziplin hat sie festgelegt, nicht unveränderlich zwar, aber doch im Moment unerbittlich; sie schließen von der Wirklichkeit aus, was unter ihren Regeln nicht vorkommt, ihren Bestimmungen widerstreitet. Das Zusammenspiel von Bedeuten, Benennen und Zeigen aber ist in allen erforderlich, um eine jeweils behauptete Wirklichkeit ermitteln und gegen Zweifel, wenn nicht sichern, so doch wenigstens verteidigen zu können.
Vgl. Jean-François Lyotard: Le Différend, Paris 1983, Nr. 3.–5. (S. 17 f.), Nr. 9.–11. (S. 22–24), Exk. Gorgias (S. 31–34), Nr. 28 (S. 34). 5 Vgl. ebd., Exk. Platon, 5. (S. 47 f.). 6 Vgl. ebd., Nr. 65 (70 f.). 4
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In einer exegetischen Skizze zur aristotelischen Physik 7 macht Lyotard auf eine weitere Besonderheit kognitiver Sätze aufmerksam: Im Gegensatz zu Sätzen der Logik gilt für Sätze über Wirkliches nicht mehr das russellsche Typen-Axiom. Denn nicht nur ihre Gegenstände sondern auch sie selbst sind Ereignisse und damit zeitlich, und sie sind auch als zeitliche Ereignisse zu begreifen. Dargestellte Wirklichkeit ist ihrerseits Gegenstand für Darstellungen, somit jederzeit überholbar, als wiederholte und bestätigte ist sie bereits überholt, bestehend aus schon »beurteilten Urteilen«.8 Sätze über Wirklichkeit sind Thesen, sie bedürfen der Validierung in einem weiteren Urteil, d. h. sie müssen bezeugt werden. (Z. B. dadurch, daß sie in ein Lehrbuch aufgenommen werden und dieses Lehrbuch im Rahmen des Lehrplans einer staatlichen, d. h. mit Sanktionskompetenz ausgestatteten Schule verbindliche Geltung erlangt.) In diesem Angewiesensein auf Bestätigung liegt die Notwendigkeit des wahrheitssuchenden Dialogs für Platon. Doch garantiert die Validierung durch Bezeugung, sei es durch mündliche oder schriftliche, durch persönliche oder institutionelle Bezeugung, nicht die endgültige Erkenntnis einer unveränderlichen Wahrheit, wie sie der Wahrheitsplatonismus verspricht. Vielmehr ist das, was im Moment als evident erscheint und aufgrund einer solchen Evidenz wie auch immer festgeschrieben werden mag, in den Worten Lyotards – der damit eine alte Einsicht in zeitgemäße Worte faßt – nichts weiter als ein »der Skepsis zugestandener Aufschub«9 der Falsifizierung. »Die Wirklichkeit ist keine Frage des absoluten Zeugen«, d. h. Gottes, der uno intuitu sähe, was wirklich war, ist und sein wird, sondern sie bleibt »eine Frage der Zukunft«10. Sie ist immer wieder von neuem deutungsfähig und deutungsbedürftig. Und diese Deutung vollzieht sich, wenn alles planmäßig läuft, nach den strengen Regeln der jeweiligen Kunst (d. h. im Rahmen einer kulturell etablierten Wissenschaft); bzw., wenn es zu einem offenen Dialog der Kulturen kommt, nach den Regeln einer jeweils neu zu erlernenden Kunst der Begriffsdiplomatie. Kehren wir zum Anfang dieses Abschnitts zurück: Gemeinsam ist allen Menschen (d. h. allen, mit denen wir glauben, uns verständigen zu können, im Prinzip wenigstens) der Horizont des Nicht-Verstehens einschließlich seiner Inseln des Verstehens, der Horizont von Differenzen mit seinen momentanen Ruhepunkten, den Raststätten der Identität. Auf diesen Inseln leben wir, auf ihnen bildet sich das geistige Selbst, wenn es sich denn bildet. Arbiträre menschliche Zeichen verweisen nicht auf Dinge (oder Ereignisse), von denen her sie sich verstünden. Denn wir leben nicht in einer Welt von Dingen (oder Ereignissen), sondern wir leben in einer Welt von Zeichen, die (zunächst immer) von anderen gegebene und gemachte Zeichen sind (Daten und Fakten), eine Welt von Zeichen, in der ein Zeichen immer auf andere Zeichen verweist. Dieser Übergang von einem zu einem anderen Zeichen (›der Satz‹, ›la phrase‹, in der Terminologie von Lyotard) ist, logisch betrachtet, eine Gleichsetzung von Verschiedenem. Schon jedes Wort, jeder Name setzt gleich, indem er Verschiedenes, zumindest potentiell, unter eine
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Vgl. ebd., Exk. Aristoteles, 1./2. (S. 111–114). Vgl. ebd., Exk. Protagoras, 5. (S. 22). Ebd., Nr. 90. (S. 88). Ebd., Nr. 88. (S. 86).
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Bedeutung bindet. Mehr aber noch als der Satz selbst ist die Verknüpfung von Sätzen, d. h. ein (un)erlaubter, (un)erwarteter, (un)möglicher Übergang von einem Satz zu einem anderen, der Ort, an dem die Wirklichkeitshaltigkeit der Rede (phrase) immer wieder auf dem Spiel steht. Nehmen Sie diesen Vortrag als Beispiel: Rede ich über etwas oder über nichts? Die Verständlichkeit im Kopf der Hörer wird darüber entscheiden. Ich kann mich diesem Urteil – trotz allem – gelassen aussetzen. Denn es ist kein Willkürurteil, Hörer / Leser können nicht nach Belieben über verständlich oder unverständlich entscheiden. Aber sie entscheiden. Jeder muß die Verständlichkeit der Worte, fremder und eigener Worte, an den eigenen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erfahrungen überprüfen – wir haben nichts Besseres.
V. Gemeinsame Welten bauen Die Suche nach neuen, weiteren, umfassenderen weltbildenden Gemeinsamkeiten wird eine andere Gestalt annehmen, wenn sie unter den soeben geschilderten Prämissen der Differenz stattfindet, als wenn dies unter den gewohnten Prämissen einer vorausgesetzten, uns leider entglittenen, nun aufs Neue gesuchten, einer uns verlorenen, aber wiederzufinden aufgegebenen oder einer zu erstrebenden und in the long run auch erreichbaren paradiesischen Einheit geschieht. Nun muß diese Suche nicht erst erfunden werden. Die Geschichte des Denkens kennt, so weit ich sehe, im Wesentlichen zwei Wege, wie mit dieser anders interpretierten conditio humana umzugehen sei: einerseits den Weg der Entgrenzung aller menschlichen Bedeutungsversuche, andererseits den Weg einer Steigerung der Individualität von Bedeutung im Sprechen und Verstehen. Beide Wege habe ich andernorts ausführlicher dargestellt, sie sollen hier nur kurz und schematisch vorgestellt werden. Als Repräsentanten dienen mir Nikolaus von Kues bzw. Wilhelm von Humboldt. Nikolaus wird mit der Differenz der Bedeutungen und den Grenzen des Verstehens durch den Zusammenprall der Religionen, insbesondere nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 konfrontiert. Bekanntlich reagiert er auf dieses Ereignis mit der Schrift De pace fidei (Über den Frieden im Glauben). Streng nach den Regeln der scholastischen Disputationskunst wird in diesem Text gezeigt, daß im Grunde alle Menschen dieselbe Religion haben und denselben Gott anrufen, dessen Verehrung nur, aufgrund unterschiedlicher historischer bzw. geographischer Bedingungen, auf verschiedene Weise praktiziert wird. »Una religio in rituum varietate« lautet seine bekannte Formel. Diese Einsicht wird jedoch nur auf einem fiktiven himmlischen Konzil unter den Weisen der Völker erreicht, der Text sieht also ausdrücklich von den wirklichen Bedingungen irdischer Auseinandersetzungen ab. Bestehende Differenzen werden dadurch überwunden, daß sie entwertet werden. Sie gelten als in Wahrheit scheinbar, oberflächlich, äußerlich, obwohl dem Autor ebenso wie seinen Lesern klar ist, daß sie in der Wirklichkeit so gerade nicht empfunden werden. Entscheidend dabei ist die Einsicht, daß das rationale entweder / oder der Positionen des Verstandes nicht in einer neuen, höheren rationalen Einheit aufgelöst werden kann.
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Diese Einsicht führt allerdings nicht in die Resignation. Ihr steht die Einsicht in die prinzipielle Nichtigkeit aller Positionen gegenüber, und diese Einsicht eröffnet der Sehnsucht nach Einheit eine neue Hoffnung. Sie erlaubt es nämlich, die geltenden Bedeutungen der Begriffe, aus denen sich die gegensätzlichen Positionen aufbauen, in Frage zu stellen, wenn sie nicht mehr tragbar sind, und ggf. zu verändern, zu erweitern oder einzuschränken. Bedeutungswandel aber läßt – falls zur rechten Zeit dazu das Rechte einfällt – den Widerspruch verschwinden, indem, »was absurd erscheint, durch ein anderes Wort erträglich wird«11. Damit reizt Cusanus die platonische Prämisse der Einen Welt und ihren vielfältigen Darstellungen im menschlichen Denken / Sprechen bis ins Extrem aus. Die verschiedenen Darstellungen (Riten / Worte) stellen alle »dasselbe« dar. Die jeweiligen Explikationen sind nur mehr oder weniger orts(un)üblich und (un)zeitgemäß, in Wirklichkeit aber synonym (realiter synonymum). – Läßt man den platonischen Mantel fallen, der nichts sagt, weil er nichts unterscheidet (non-aliud), bleibt die Verschiedenheit der Worte und die erstaunte und erstaunliche Beobachtung, daß deren Bedeutung sich mit den Zeiten wandelt. Wenn ein lange Zeit tragfähiges Wissen seine Deutungskraft verliert, dann ist unsere Kreativität gefragt: Wie kann, was heute absurd erscheint, so dargestellt werden, daß es wieder, für eine gewisse Zeit wenigstens, erträglich, sprich: verständlich wird? Wenn uns auf diese Frage eine Antwort gelingt, dann sind wir wieder in der Wahrheit, für eine gewisse Zeit wenigstens. Wilhelm von Humboldt geht den umgekehrten Weg, nicht über die Sprache hinaus, sondern in sie hinein. Aus seinen Beobachtungen zur Sprache möchte ich für den vorliegenden Zusammenhang folgendes herausgreifen: In jedem wirklichen Wort klingt eine ganze Sprache an. Mit der (äußeren) Gleichheit des Wortes bei verschiedenen Sprechern / Hörern aber verbindet sich die (innere) Verschiedenheit ihrer Sprache, von der die jeweilige Bedeutung des Wortes getragen wird. Nur das Wort wird ausgesprochen / vernommen. Man kann sich wohl darüber verständigen, welche Merkmale mit seinem Begriff deutlich gedacht werden sollen, niemals aber festlegen, welche anderen Vorstellungen und in welchem Grad von Klarheit oder Dunkelheit bei dem jeweiligen Erklingen / Vernehmen derselben ›Hülle‹ des Begriffs mit verstanden werden. Denn dem Ganzen der Sprache entspricht ein Ganzes der Gegenstände. Zwar muß dieses, als ein Ganzes, immer schon irgendwie eingeteilt sein. Der deutlich erkannte einzelne Gegenstand aber ist, wie der durch ein Wort gebildete deutliche Begriff, nur ein kunstvoll herausgearbeiteter Teil jenes Ganzen. Es ist die weitgehend dunkle, aber alles Sprechen und Verstehen tragende Ansicht des Ganzen der Gegenstände, die im wirklichen Gebrauch eines Wortes anklingt und der allgemeinen Form des Wortes im Moment vollständige individuelle Bestimmtheit verleiht.
11 Nicolaus Cusanus: De theologicis complementis, n. 14, Z 33–38: »Non oportet igitur, quod turberis in vi vocabuli, sed necesse est, ut coincidentiam et summam aequalitatem et simplicitatem illius circuli respicias, ubi omnia vocabula unum sunt, et tunc id, quod videtur absurdum, fit per aliud vocabulum tolerabile, quod quidem vocabulum, quoad nos aliud, non est ibi aliud, sed realiter synonymum.« (H.v.V.)
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Zur Benennung dieses Ganzen greift Humboldt auf den schon in seiner Ästhetik terminologisch eingeführten Begriff ›Welt‹ zurück. Der Inbegriff aller meiner Vorstellungen, das ist für mich die Welt. Da ich aber einen vernünftigen Begriff von mir selbst nur habe, indem ich mich als ein von anderen unterschiedenes Subjekt ansehe, und da der Begriff von der Andersheit der anderen Subjekte genau und nur das enthält, daß diese die Welt jeweils anders ansehen, begreife ich den Inbegriff aller meiner Vorstellungen notwendig als meine Weltansicht: Welt ist Weltansicht. Wenn wir nicht alle in ein und derselben Welt leben, sondern jeder seine eigene Weltansicht bildet, wie wir nicht alle ein und dieselbe Sprache sprechen, sondern jeder die Worte der anderen auf seine eigene Weise zu interpretieren genötigt ist, wie, so fragt auch Humboldt, ist gegenseitiges Verstehen dann überhaupt als möglich zu denken? Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um die Frage, ob wir uns verstehen können. Denn wir verstehen uns offenkundig, wenn auch nicht immer und überall und niemals vollkommen. Sondern es geht um die Frage, welchen Begriff wir uns von unserem Verstehen machen können. Und da zeigt es sich, daß die scheinbar so natürliche, näher besehen aber nur eben gewöhnliche Vorstellung, nach welcher zwei Individuen sich genau dann verstehen, wenn sie in (vorsprachlichen) Gedanken über (außersprachliche) Gegenstände übereinstimmen, nicht einlösbar ist. Das wahre tertium comparationis der Verständigung ließe sich nur aus einer göttlichen Perspektive bestimmen, einer Perspektive, aus der sich der (sprachphilosophisch aufgeklärte) Gott der mystischen Theologie schon längst zurückgezogen hat und die einzunehmen auch die Philosophen heute nicht mehr willens und in der Lage sind. So bleiben uns zur Überprüfung der Worte und ihrer Wahrheit oder ihrer Übereinstimmung mit der Natur der Dinge nur – andere Worte: Worte, die im Moment unstrittig sind und folglich im Moment als Kriterium für strittige Worte gelten können. Doch kann Verständnis, so verstanden, nicht erzwungen werden, hier gibt es keinen Richterspruch, Verständnis wird allein durch die Antwort gewährt; und es kann streng genommen nicht geprüft werden, denn hier gibt es kein (dauerhaftes, untrügliches) Kriterium. Verständnis realisiert sich vielmehr in der verständigen Handlung. Die angemessene Handlung (auch z. B. eine Sprachhandlung) zeigt, daß eine Rede (phrase) hier und jetzt angemessen verstanden wurde, selbst wenn sie gegen grammatische Regeln verstößt, Erwartungen enttäuscht.12 Praktisch genügt das, es muß genügen. Wir glauben zu verstehen und handeln danach. Theoretisch betrachtet aber wird jede Äußerung, auch wenn sie wirklich (praktisch) verstanden wird, immer auch anders verstanden, als sie gemeint war; denn sie wird in einem anderen Zusammenhang von Ansichten, das heißt von einem anderen Standpunkt aus verstanden: »Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen,… alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.«13 Doch ist diese Differenz im Moment des praktischen Verstehens bedeutungslos. Vgl. das schöne Beispiel in Lyotard: Le Différend, a. a. O., No. 43 (S. 53): »l’officier crie Avanti! et saute hors de la tranchée, les soldats émus crient Bravo! sans bouger.« 13 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. VI, hg. v. A. Leitzmann, Berlin 1907, S. 183. 12
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In diesem Zwischenraum des Andersverstehens liegt die Unsicherheit der sprachlichen Kommunikation durch arbiträre Bedeutungen und zugleich das kreative Potential einer solchen Kommunikation. Wir müssen kreativ antworten, um uns immer wieder von neuem verständlich zu machen, verständlich zu bleiben und den Horizont der gemeinsamen Welten zu erweitern im Wandel der Zeiten und der Bedeutungen. Verstehen ist ein notwendig kreatives Geschäft. Doch es gründet in schon Verstandenem und es rekurriert darauf. Es antwortet. So dient es unserer Orientierung durch arbiträre Zeichen, indem es gemeinsame Welten, große und kleine, zu bilden und umzubilden erlaubt.
VI. PS: Gemeinsamkeiten? Es gehört nicht mehr unter den Titel des Vortrags, wohl aber zu dem damit angesprochenen Thema, wenn ich abschließend noch eine kurze Bemerkung anfüge, die die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs zwischen den Kulturen vor dem Hintergrund der These von der irreduziblen, letztlich individuellen Verschiedenheit der Welten, in denen wir leben, betrifft. Welcher Art sind, allgemein gesprochen, die Gemeinsamkeiten, die zu finden und zu pflegen Ziel eines solchen Dialogs sein könnte? Gewiß, nach dem zuvor Gesagten geht es nicht um den Versuch einer Horizontverschmelzung. Um noch einmal Humboldt zu zitieren: Die Sprache »baut wohl Brücken von einer Individualität zur andren und vermittelt das gegenseitige Verständniss; den Unterschied selbst aber vergrössert sie eher«.14 Wenn schon von Horizonten die Rede ist, sei es von Individuen, von Gruppen oder auch von ganzen Kulturen, dann werden im Dialog die Konturen nur klarer und deutlicher hervortreten. Gemeinsamkeiten sind also nicht an sich gegeben und selbstverständlich, derart daß sie nur aufgedeckt werden müßten. Vielmehr müssen sie eingebracht und eingeräumt werden; immerhin sind sie möglich, wenn auch schwierig, und sie bleiben stets prekär. Sie betreffen niemals das Ganze der Kulturen selbst. Die Verschiedenheit der Charaktere bleibt erhalten, sie wird eher verstärkt und gefestigt, wenn man Orte und Felder der Übereinstimmung feststellt. Es geht eher um Inseln der Gemeinsamkeit in einem Meer von Verschiedenheiten. Man nehme das viel diskutierte Beispiel der Menschenrechte, die, in einer Kultur formuliert, anderen Kulturen zur Übernahme angesonnen werden. Vermittlungsversuche solcher Art sind motiviert durch den Wunsch, das Streben und die Kraft einer Reihe von Individuen, für bindende Verhaltensnormen, die ihrer eigenen Weltansicht entstammen, die Zustimmung anderer zu gewinnen, und zwar wenn möglich allein durch die Überzeugungsmacht der Worte. Doch kann das nur gelingen, indem man den anderen eine Brücke baut, derart daß sie von ihrer Warte aus, d. h. unter Bewahrung der Eigenheiten ihrer Weltansicht, dem fremden Denken zustimmen, es sich zu eigen machen können. Das aber setzt voraus, daß man die bleibenden Unterschiede zu sehen und zu übersehen in der Lage ist, zudem fähig und willens, auch im Gespräch die Eigenheiten der anderen zu tolerieren und zu akzeptieren. 14
Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. VII, a. a. O., S. 169.
Wie und wozu erfinden wir unsere Welt?
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Der Dialog kann nur gelingen, wenn er nicht aufs Ganze geht, wenn seine Gegenstände partiell und temporär bleiben, kurz, nur solange wir bereit sind, gelassen Raum zu geben für unverstandene Differenzen.
Literatur Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Bd. VI und VII, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1907. Lyotard, Jean-François: Le Différend, Paris 1983. Simon, Josef: Philosophie des Zeichens, Berlin, New York 1989. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1967.
KOLLOQUIUM 6 Invention und Innovation – Konzeptionen von Kreativität in der Technikphilosophie
Christoph Hubig Einführung Hans Lenk Postmoderne Kreativität – auch in Wissenschaft und Technik? Bernhard Irrgang Innovationskulturen: Bedingungen technischer Kreativität
Einführung Christoph Hubig (Stuttgart)
»Wo waren die Erfindungen, bevor sie gemacht wurden?« – Daß diese Frage abwegig sei, scheint bereits die Sprache zu verraten. Wenn die Erfindungen aber nirgends waren, kann man auch nicht lehren, wie man sie hätte finden können. Demnach können wir nur etwas finden, nachdem wir etwas gemacht haben: Wir können daran, dabei oder dadurch etwas finden – Eigenschaften des Mittels und Spuren der Medialität, die sich hierdurch schrittweise erschließen lassen, Konsequenzen des Einsatzes eines Mittels, uns und unsere Handlungsumwelt betreffend, wünschbare Sachverhalte, die nun als herbeiführbar erscheinen und somit Zwecke unseres Handelns werden können1. Gleichwohl scheint aber eben dieselbe Sprache auch anderes zu bekunden: Etwas wird er-funden, Lösungen werden ge-funden, ggf. auf der Basis einer Ent-deckung. Dann verlagert sich die Frage darauf, wie man lehren könne, dieses irgendwie existierende Etwas zu finden. Diese Frage hat die Technikphilosophie seit ihren vorsokratischen Anfängen geleitet: In der Textsammlung der dissoi logoi, der dialexeis, wird darauf verwiesen, daß Technik als Kunst, etwas zu erfinden, nicht lehrbar sei, denn dann wären längst alle und nicht bloß einzelne erfolgreiche Erfinder2. Diese brüchige Argumentation findet sich in vielen Facetten bis heute. Aber auch die Gegenposition wurde schon in jener Zeit begründet, im Umkreis der Sophisten, die beanspruchten, Methoden, also Wege, zu lehren, wie man ein Problem in der gewünschten Weise lösen, eine Problemlösung finden kann (und sie wurden wohlhabend bei diesem Geschäft, was sich in der Berater-Tradition bis heute gehalten hat). Unter einer spekulativen metaphysischen Modellierung der Technik ließe sich diese Alternative freilich auflösen: Postuliert man ein »Reich prästabilierter Lösungsgestalten«3, so ließe sich das Machen des schöpferischen Genies als implizite und intuitive Teilhabe am Schöpfungsgeschehen im Rahmen jener idealen Lösungsgestalten verstehen, das Finden der Wissenschaftler und Berater als methodisch geleitete Suche nach Aufdeckung dieser Lösungsgestalten. Diese Konstruktion ist jedoch technomorph4. Sie verdankt sich der Hochprojektion der Elemente eines Handlungsplanes auf eine diesem jenseitige Sphäre und setzt damit dasjenige bereits als gültig modelliert voraus, dessen Modellierung allererst zu klären ist. Technische Kreativität also als Domäne der Genies oder als Domäne der Wissenden? Christoph Hubig: Mittel, Bielefeld 2002. Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 10. Aufl., hg. von Walther Kranz, Berlin 1960, Bd. II, 6(4), 7(3), S. 414 ff. 3 Friedrich Dessauer: Streit um die Technik, Frankfurt/M. 1956, S. 156, 161 f. 4 Christoph Hubig: Technomorphe Technikphilosophie und ihre Alternativen, in: Renate Dürr et al. (Hg.): Pragmatisches Philosophieren, Festschrift für Hans Lenk, Münster 2005, S. 380–391. 1 2
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Kolloquium 6 · Christoph Hubig
Dilemmatische Konstruktionen verraten in der Regel, daß die Fragen insofern falsch gestellt sind, als die basalen Begriffe der Frage (Finden oder Machen, Lehrbarkeit ja / nein?) entweder unterkomplex und dogmatisch eingeschränkt oder kategorial inhomogen oder gar äquivok sind. (1) Die erwähnte Alternative differenziert nicht zwischen möglichen und wirklichen Lösungen. Eine solche Differenzierung würde die Frage erlauben, ob und wie mögliche Lösungen methodisch findbar sind und über welche Schritte ihre Realisierung, das Machen, ggf. stattfinden könnte. Und umgekehrt würde sie – aus konstruktivistischer Perspektive – die Frage erlauben, wie im Ausgang vom wirklichen Machen und seinen Artefakten über bestimmte Denkfiguren (z. B. der Analogiebildung, der Metaphorik – selbst eine metaphorische Bezeichnung – ) Mögliches erschlossen wird. (2) Die grobe Alternative differenziert nicht zwischen lehrbarem Wissen als solchem und der Rolle des Wissens für bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen, die praktisch eingeübt und fortgeschrieben werden müssen. Wissen hat hier oftmals den Status einer wertvollen, notwendigen aber nicht hinreichenden Strukturkomponente, die aber der Aktualisierung bedarf, zu der weitere Maßnahmen erforderlich sind. (3) Die grobe Alternative differenziert nicht wie bei allen Kompetenzen zwischen lehrbarem Wissen, das unter Wenn-Dann-Regeln Lösungen generiert, und Wissen über Methoden der Erschließung des Raums möglicher Lösungen, »[…] bloß problematisch gedacht, um, in Beziehung auf sie [als heuristische Fiktionen], regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen«5. (4) Die grobe Alternative blendet die Frage nach der Zweistelligkeit / Relationalität von »Lösung« (relativ zu »Problem«) aus, mithin die Frage, wie wir zu Problemstellungen gelangen und von dort aus nach entsprechenden Lösungen fragen. Kreativität hebt oftmals damit an, daß jemand dort ein Problem sieht, wo andere bislang gleichmütig das Gegebene hinnahmen, und dann so – und neu – fragt, daß vormals verstellte oder als unzugänglich erachtete Lösungen ins Blickfeld geraten. Das Fragen bedarf seinerseits bereits bestimmter Vorstellungen, die dann auch die Lösungssuche prägen. Kann man diese Vorstellungen finden? In der Problemtradition der Heuristik finden sich zwei Entwicklungslinien, die sich mit diesem »Finden« beschäftigen und dabei argumentative und technische »Lösungen« in Analogie zueinander behandeln6: Die sogenannte topische Heuristik hebt darauf ab, daß wir unter bestimmten wählbaren Gesichtspunkten und methodischen Strategien
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 799. Vgl. Christoph Hubig: Humanismus – Die Entdeckung des individuellen Ichs und die Reform der Erziehung, in: Propyläen-Literaturgeschichte, Bd. III, Berlin 1984, S. 31–67; ders.: Historische Wurzeln der Technikphilosophie, in: Hubig / Huning / Ropohl (Hg.): Nachdenken über Technik – Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 2000, S. 19–40. 5 6
Einführung
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(topoi) die Möglichkeitsräume (Ingenieure sagen »Suchräume«) für die Mittelbegriffe und Werkzeuge der Gestaltung unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge konstituieren. Deren Gesamtheit macht das System aus, unter dem wir dann sekundäre Probleme identifizieren und wirkliche Lösungen realisieren (»machen«). Kreativität als Inbegriff der Fähigkeit, begrifflich und technisch etwas Neues zu realisieren, bewegt sich im topisch bestimmten Möglichkeitsrahmen, unter dem bisherige Errungenschaften neu bewertet sowie neue Desiderate modelliert werden. Die Wahl der Topoi ist praktisch begründet. So forderte beispielsweise Cicero, daß eine Alternative (Sollen wir so oder so vorgehen, sollen wir etwas so oder so machen?) durch Rückführung (amplificatio) auf eine Grundsatzfrage (»quaestio infinita«) auf der Basis der »communis rerum generum summae« bearbeitbar werden soll7. Worin gründet aber das System einer Topik insgesamt? Wer richtet über die »summae«? In dieser Tradition, die von der Stoa über die Humanisten und Hegel bis zu Peter Klimentitsch von Engelmeyer reicht, bleibt dieser Anfang in der Unmittelbarkeit des Wollens unbestimmt, denn die Kulturleistungen selbst, die die Schemata der Topik abgeben, gelten selber schon als Erfindungen8. In einer zweiten – parallel laufenden – Tradition der Heuristik von Pappos über Thomas von Aquin, Raimundus Lullus und Leibniz bis zu den Lehrbüchern der Gegenwart werden hingegen eine aus Grundbausteinen und ihren Binnenrelationen geordnete Welt bzw. Weltausschnitte unterstellt, die den Möglichkeitsraum für konkrete Erfindungen ausmachen. Die kreative Aktivität kann sich dann auf zweierlei beziehen: Auf die Erschließung eines möglichst vollständigen »Alphabets« der Grundbausteine dieser Welt und – darauf aufruhend – auf eine Realisierung möglicher Formungen qua Kombinatorik. In dieser Tradition wird Technik im weitesten Sinne als Realisierung konkreter Artefakte im Rahmen der Möglichkeiten einer vorgegebenen Ordnung begriffen. Der Erfinder bedient sich hierbei nicht bestimmter Medien und Topiken, sondern ist bei seinen eigenen funktionalen Festlegungen den Möglichkeiten einer vorgegebenen Medialität verhaftet. Der Erfinder ist und bleibt letztlich Entdecker. Die Kritik an dieser Auffassung verweist darauf, daß die entsprechenden Konstruktionsheuristiken ihre jeweils vorauszusetzenden Arsenale und Kataloge von Entitäten (Naturkonstanten, funktionale Zusammenhänge etc.) gleichsam auf den Stand eines bestimmten Weltbildes einfrieren und nicht zu erklären vermögen, auf welcher Kreativitätsbasis ein Wandel von Weltauffassungen, Paradigmenwechsel o.ä. entstehen könne. Versuche, solche Paradigmenwechsel evolutionistisch zu begründen, stehen in der Kritik, daß die unterschiedlichen Evolutionskonzepte selbst Modellierungen sind. Moderne Heuristiken versuchen, der Alternative zwischen jenen beiden Heuristikkonzepten, gefaßt als Alternative zwischen einem »Medienidealismus« der topischen Tradition und einem »Medienrealismus« der kombinatorischen Tradition, zu entraten. Sie begreifen »Medialität« (von den allgemeinsten Topiken bis hin zu konkreten techni-
Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik – Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/ M. 1976, S. 61–90. 8 Peter Klimentitsch von Engelmeyer: Der Dreiakt als Lehre von der Technik und der Erfindung, Berlin 1910, § 15, § 51 ff. 7
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Kolloquium 6 · Christoph Hubig
schen Medien) im wörtlichen Sinne als das Vermittelnde, das weder einzig als Produkt eines Subjekts noch als Eigenschaft der Welt modellierbar ist. Nur in seinen Konkretisierungen, den Aktualisierungen seiner Ermöglichungsleistung, kann es (indirekt) zum Gegenstand einer Vorstellung werden, im Rahmen von Überraschungs-, Enttäuschungs-, Widerfahrnis- und Gelingenserlebnissen. Von solchen »Spuren« gehen dann insofern »kreative Impulse« aus, die als Systeme, Regeln, Schemata etc. ins Blickfeld geraten und abduktiv erschlossen werden, was dann die Voraussetzung dafür ist, daß sie partiell verfügbar werden. Die Subjektseite und die Weltseite des kreativen Prozesses sind mithin nicht mehr auseinanderzulegen; das Machen ist Katalysator des Erfindens und dieses wiederum eine Strukturkomponente des weiteren Machens9. Eine ausgezeichnete Weise, solchen Spuren zu begegnen, ist – wie wir gesehen haben – die Arbeit am Modell. Beginnend bei dinglichen Artefakten als Proben bis hin zu abstrakt simulierten Modellen von Weltausschnitten finden wir hier, daß über ihre intendierten Verfaßtheiten hinaus neue Erfahrungsräume eröffnet werden: Im Operieren mit Parametern und Variablen des Modells wird das Wechselspiel zwischen Subjektseite und Weltseite auf seine Gestaltbarkeit hin instantiiert und getestet. Hier findet sich das Forum von Kreativität und kreativer Konstruktion. Das betrifft sowohl die Konstruktion systemischer Gegenstände im Experiment wie auch die Realisierung technischer Artefakte. In auftauchenden Spuren bei der Modellierung begegnen wir dem Medialen als »Transformationsraum«10, in dem sich die Vorstellungen von Subjekt, von Regeln und Schemata einerseits sowie von Elementen der Objektwelt ständig verändern und kreative / konstruktive Fortschreibungen stattfinden im Zuge der Dynamik von Regeln und Regelfolgen. Dabei lassen sich im Blick auf Kreativität Priorisierungen entweder fiktionaler, theoretischer oder realer technischer Modelle schwerlich rechtfertigen: Analogiebildung oder metaphorisches Vorgehen können von realen Artefakten aus erfolgen (Archimedes findet die Kugel-Volumenformel durch Auswiegen von Kreisscheiben am Hebel), oder sie bewegen sich zwischen theoretischen Modellen (so wie die Elektrodynamik unter Modellen der Mechanik entwickelt wurde), oder sie erscheinen in der geläufigen Weise als sogenannte »Anwendung« theoretischer Modellierungen, wobei diese unterbestimmten Modellierungen unter bestimmten Aspekten auf weitere Eigenschaften hin aktualisiert werden (»Skelettbauweise«, »Planetengetriebe«). Im konkreten technischen Vorgehen wird oftmals die kombinatorische Heuristik favorisiert: als Katalysator der Zuordnung von Wirkungsprinzipien (Strukturen, Verfahren, Bauteilen etc.) aus dem Baukasten zu den vorab analysierten Teilfunktionen der Gesamtfunktion, die das Artefakt erfüllen soll. Was jedoch leitet die Annahme und die Analyse der Funktionen? Hier tritt die topische Heuristik ein. Der topischen Heuristik kommt noch aus einem ganz anderen Grund angesichts der gegenwärtigen Problemlage eine neue Bedeutung zu: Die klassische Vorstellung zum Verhältnis Grundlagenforschung – Angewandte Forschung – Innovation greift auf vie9 10
Hubig: Mittel, a. a. O., S. 25. Ebd.
Einführung
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len Feldern der Hochtechnologien nicht mehr. Nach jener Vorstellung findet im Ausgang von der Grundlagenforschung (der curiositas-geleiteten Domäne der Genies) angewandte Forschung statt, die die Entwicklung (Prototyping) erlaubt. Unter dem »triple A« (Adaption an die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Marktes, Antizipation solcher Bedürfnislagen oder Agilität als Einwirken auf das Marktgeschehen und die Gestaltung der Bedürfnislagen) sollen dann Produkt- und Prozeßentwicklungen stattfinden, die, nachdem zwischen 30 % und 50 % dieser Entwicklungen sich als Flops erwiesen haben, tatsächlich eine Produkt- oder Prozeßinnovation darstellen11. Der Markt entscheidet dabei, ob eine Invention eine Innovation ist, nach der Devise »Innovation ist Umsetzen von Wissen in Geld«12, unter der Tom Sommerlatte sekundiert: »Es gibt demnach keine ›technologische Innovation‹«13 Demgegenüber finden wir im Bereich der modernen Hochtechnologien eine veränderte Architektur, diejenige der »Anwendungsbezogenen Grundlagenforschung«. Ihr entsprechend werden im Ausgang von einer Produkt- oder Prozeßidee Gegenstandsbereiche und Handlungsfelder neu konstituiert (etwa in der Nanotechnik), entscheidend verändert (so in der Gentechnik) oder erweitert (z. B. im Zuge des Ubiquitous Computing). Die weitere Forschung, die unter hohen Opportunitätskosten und Amortisationslasten steht, widmet sich der Suche nach device-properties und deren Optimierung. Im Felde der Nanotechnologie werden auf der Ebene molekularer Strukturen size-dependent-device-properties gesucht, im Bereich der Gentechnik gen-dependent-device-properties und im Bereich des Ubiquitous Computing information-dependent-device-properties. Parallel dazu findet weitere Grundlagenforschung statt auf der Suche nach Modellierungen und Indikatoren für die Effekte der ausgelösten Prozesse: Auswirkungen auf bestehende Wirkungsgefüge und bisher stabile Rahmenbedingungen, neu indizierte Prozesse qua Selbstorganisation sowie die Kompetenzveränderungen derjenigen, die die neuen device-properties nutzen und mit entsprechenden Chancen und Risiken umgehen müssen. Die klassische Trennung der zwei Typen der Abduktion in der Technik, den Denkfiguren kreativen Vorgehens, gilt also hier nicht mehr: zwischen der Abduktion beim Erfinden, die von dem überraschenden Phänomen auf den Mechanismus seines Zustandekommens und dessen Optimierung zielt, auf der einen Seite, und der handlungsleitenden Abduktion von einem antizipierten, gesollten, gewünschten Resultat auf das hinreichende Verfahren seiner Herstellung, also die »Anwendung« auf der anderen Seite14. In der »Anwendungsbezogenen Grundlagenforschung« sind beide Typen verschränkt.
11 Joachim Milberg: Nachhaltiges Wachstum durch Innovationen, in: Dieter Spath (Hg.): Forschungs- und Technologiemanagement. Potenziale nutzen – Zukunft gestalten, München, Wien 2004, S. 45. 12 Hans-Jürgen Warnecke: Professor Hans-Jörg Bullinger – 35 Jahre Karriere in Lehre und Forschung, in: Dieter Spath (Hg.): a. a. O., S. XVI f. 13 Tom Sommerlatte: Gibt es (noch) technologische Innovationen?, in: Dieter Spath (Hg.): a. a. O., S. 51 ff. 14 Vgl. Christoph Hubig: Abduktionen als Strategie des Problemlösens – naturwissenschaftliche und technische Wissensbildung, in: Wissenskonzepte für die Ingenieurpraxis. Technikwissenschaften zwischen Erkennen und Gestalten, VDI-Report 35, Düsseldorf 2004.
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Kolloquium 6 · Christoph Hubig
Für den Einsatz solcher Technologien bedeutet dies folgendes: Nicht mehr die Einschätzung von Chancen und Risiken durch die Nutzerinnen und Nutzer am Markt adelt eine Invention zur Innovation – denn solcherlei ist mangels Kalkulationsbasis gar nicht seriös möglich. Stattdessen sollte die Beurteilung zentral sein, ob Lösungen als solche dahingehend akzeptanzfähig sind, daß angesichts von Chancen- und Risikopotenzialen (also den Möglichkeitsräumen, die neu geschaffen wurden und innerhalb derer mögliche Nutzen- oder Schadensereignisse auftreten können, also Metarisiken) die Fähigkeit zum Risikomanagement erhalten bleibt als Fähigkeit des Umgangs mit und der Gestaltung dieser Möglichkeitsräume. Die topische Kreativität, die sich mit der Gestaltung von Suchräumen beschäftigt, wäre hier also in neuer Weise herausgefordert, wenn (wie in neuerer Zeit von politischer Seite zunehmend gefordert) die Wertschöpfung bereits bei der Grundlagenforschung einsetzen müsse, was nichts anderes heißt, als daß diese Forschung immer anwendungsbezogener werden soll. Die im wörtlichen Sinne reaktionäre Devise, daß der Markt über Innovation entscheidet – was ja den Raum vor dieser Entscheidung für eine Grundlagenforschung negativ frei läßt – erscheint dann unter der Frage nach Voraussetzungen für technische Kreativität eher zielführend als die Funktionalisierung einer Forschung von Anfang an, wo sich die alte Idee einer praktisch und technikethisch fundierten Topik hilflos den Amortisationslasten gegenüber sieht. Diese scheinen nämlich eine Umsetzung in Marktprodukte geradezu zu erzwingen.
Literatur Bornscheuer, Lothar: Topik – Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1976. Dessauer, Friedrich: Streit um die Technik, Frankfurt/M. 1956. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker, 10. Aufl., hg. v. Walther Kranz, Berlin 1960, Bd. II. Engelmeyer, Peter Klimentitsch von: Der Dreiakt als Lehre von der Technik und der Erfindung, Berlin 1910. Hubig, Christoph: Abduktionen als Strategie des Problemlösens – naturwissenschaftliche und technische Wissensbildung, in: Wissenskonzepte für die Ingenieurpraxis. Technikwissenschaften zwischen Erkennen und Gestalten, VDI-Report 35, Düsseldorf 2004. Hubig, Christoph: Historische Wurzeln der Technikphilosophie, in: Chr. Hubig / A. Huning / G. Ropohl (Hg.): Nachdenken über Technik – Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 2000, S. 19–40. Hubig, Christoph: Humanismus – Die Entdeckung des individuellen Ichs und die Reform der Erziehung, in: Propyläen-Literaturgeschichte, Bd. III, Berlin 1984, S. 31–67. Hubig, Christoph: Mittel, Bielefeld 2002. Hubig, Christoph: Technomorphe Technikphilosophie und ihre Alternativen, in: Renate Dürr et al. (Hg.): Pragmatisches Philosophieren, Festschrift für Hans Lenk, Münster 2005, S. 380–391.
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Hubig, Christoph: Wirkliche Virtualität – Medialitätsveränderung der Technik und der Verlust der Spuren, in: G. Gamm / A. Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik – Eine neue Deutung der technisierten Welt, Bielefeld 2005. Hubig, Christoph / Poser, Hans / Debatin, Bernhard / Jelden, Eva: Algorithmus und Unsicherheit. Warum aus der Ethik der Technik keine Technik der Ethik werden kann, in: Richard Mackensen (Hg.): Konstruktionshandeln. Nicht-technische Determinanten des Konstruierens bei zunehmendem CAD-Einsatz, München 1997, S. 83–154. Milberg, Joachim: Nachhaltiges Wachstum durch Innovationen, in: Dieter Spath (Hg.): Forschungs- und Technologiemanagement. Potenziale nutzen – Zukunft gestalten, München, Wien 2004, S. 39–50. Sommerlatte, Tom: Gibt es (noch) technologische Innovationen? in: Dieter Spath (Hg.): Forschungs- und Technologiemanagement. Potenziale nutzen – Zukunft gestalten, München, Wien 2004, S. 51–55. Warnecke, Hans-Jürgen: Professor Hans-Jörg Bullinger – 35 Jahre Karriere in Lehre und Forschung, in: Dieter Spath (Hg.): Forschungs- und Technologiemanagement. Potenziale nutzen – Zukunft gestalten, München, Wien 2004, S. XIII–XVII.
Postmoderne Kreativität – auch in Wissenschaft und Technik? Hans Lenk (Karlsruhe)
I. Einleitung: Postmoderne Anverwandlungen und Anreize? Charakteristisch für die Postmoderne – zunächst in der Architektur – ist der Historismus (das z. T. zitierende Zurückgreifen auf vergangene und die Vergegenwärtigung früherer Stilmerkmale und Metaphern), der Bruch mit der rein funktionalistischen Moderne. Die Rolle von Metaphern, symbolischen Bedeutungen und sogar Metaphysik wird gegenüber der Moderne neu entdeckt, wobei die Metaphysik keine verbindliche sein kann: Die Metaphysik wird dann entweder als implizite oder als explizite Metapher ausgedrückt; die gemischten Metaphern scheinen ebenso kennzeichnend für die postmoderne Buntheit wie die Verwendung anthropomorpher, physiomorpher (entweder körperlicher oder gar geographischer und in Natur einbettender) Metaphern. Die Codierung, Mischung und perspektivische Interpretationsabhängigkeit der Metaphern ergeben Effekte der Selbstironisierung. Übercodierung, Ungereimtheit, narrative Akklamationen und explizite Überstilisierungen der Metaphern und Ausgefallenheit bzw. Indirektheit sowie die manieristische Überstilisierung und Überlappung scheinen den »metaphysischen Gehalt« aufzulösen und durch ein kaleidoskopisches Potpourri von Bedeutungsassoziationen zu ersetzen. Doch als Kennzeichen der Postmoderne dürften die Pluralität und Vieldimensionalität, die Vernetzung und Interdisziplinarität des Denkens, Forschens und Planens, die Zitatenorientierung, die Stilkombination, die Liebe zur ›spielerischen‹ publizitär-rhetorischen Imponiergeste, die semantische und interpretatorische Vielfältigkeit, ja, Vieldeutigkeit, die »Polymorphie… und Polysemie« (Welsch) von Formen und Sinndeutungen geblieben sein – also ein Kennzeichen spielerisch-kombinatorischer »Kreativität«. Inwiefern gilt dies auch in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik und deren Anregungen? Die Frage ist, ob dies in der Philosophie und Wissenschaftstheorie in der Postmoderne so grundsätzlich anders ist und wie die kreativen Anregungen etwa in Wissenschaft und Technik verlaufen (Verf. 1988). Hierzu werden einige Beispiele und Strategien aus der Bionik skizziert. Was ist, was kennzeichnet generell und strukturell psychologisch und methodologisch Kreativität, also kreative Prozesse, Personen und Umgebungen1? Kreativität: Auch in Wissenschaft und Technik?
Auf die psychologischen Kreativitätstheorien kann ich hier nicht näher eingehen (vgl. den Verf. 2000, S. 76–137 und S. 38–173). 1
Postmoderne Kreativität – auch in Wissenschaft und Technik?
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Es ist klar, daß z. B. postmoderne Anverwandlung von Stilen, Zitaten und Metaphern offensichtlich etwas Traditionsgeleitetes bzw. von eingegebenen Momenten, Ideen, Metaphern, Analogien o. ä. Abhängiges aufweist, also mit Kreativität und kreativer Kombination von Elementen zu tun hat. Das heißt jedoch, daß es dabei nicht um die geniale Neuerfindung von Gesamtgebieten, Regelungen und völlig neuen Grundlageninspirationen geht, also nicht um das, was Immanuel Kant als das Moment des genialen Künstlers im Auge hat (sich die »Regeln« ganzer Bereiche selber neu zu geben), sondern es handelt sich um die »kleine Kreativität« der kombinatorischen Entdeckungen, Transformationen, Umgestaltungen (Um- und Verwandlungen) von bereits Vorhandenem – jedenfalls der Tendenz oder Ausrichtung nach. Die Psychologie der Kreativität, der kreativen Prozesse und der kreativen Personen bzw. Phasen und Bedingungen in mittlerer Übersichtlichkeit ist hier also eher gefordert als eine Theorie der Genialität. Anverwandelndes kreatives Entwerfen könnte dann sozusagen den charakteristischen Phasen(merkmalen) der 10 »Is« genügen. Das ist die Abfolge von der Insinuierung (durch Anregung aus der Umwelt), Induzierung (Einverwandlung), Inkubation(sphase), (vorbereitete und aktuelle) Intuition, (zündende) Inspiration und Interpretation, sowie deren Internalisierung – vor der (eigentlichen) Intention, die nachfolgend zur Implementierung und Innovation (akzeptierte und evtl. verbreitete Neuerung) führen dürfte. Diese verfeinerte Phasenbildung ist bislang in der Psychologie der Kreativität noch nicht durchgeführt worden, sondern meist nur recht grob durch das übliche Dreier- oder Vierer-Modell von Inkubation, Intuition und Ins-Werk-Setzung (bzw. Innovation und Implementierung) umrissen worden. Diese sehr einfachen Phasen und Anregungs- bzw. Übertragungsmodelle sind aber m. E. noch allzu grob, um eine eingehendere Psychologie des kreativen Prozesses gerade auch der »kleinen« Genialität oder Kreativität zu erreichen (vgl. Verf. 2000). Im folgenden sollen am Beispiel nur kreative Anverwandlungen in den ersten Stufen – bis hin zur Inspiration und Interpretation bzw. Internalisierung – ein wenig beleuchtet werden, ohne daß auf die handlungstheoretische und technische Durchführung von Inventionen und die soziale Problematik der Verbreitung (Innovation) eingegangen wird. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf der Multidimensionalität des Assoziationsprozesses bzw. der Intuition und auf der Verwendung kreativer Metaphern (»Kreataphern«).
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Kolloquium 6 · Hans Lenk
II. Bionik zur kreativen Anregung Anregungen und Anverwandlungen, wie man etwas gestelzt und altertümlich sagen könnte, sind traditionell in der Aktivierung und Deutung von Kreativität. Der Mensch bewunderte die Leichtigkeit der Vögel, sich in die Luft zu erheben und wollte bereits in der Antike fliegen, wie es der Mythos von Ikarus und Daedalus sinnfällig ausmalt. Eine durchaus auch philosophisch interessante Deutung des prometheisch-faustischen Strebens des Menschen, sich durch Intelligenz, Erfindungen, sinnreiche Technik über seine naturalen Beschränkungen zu erheben (in doppelter Bedeutung des Wortes!). Die Bionik zeigt (Nachtigall2 2002), daß sich durchaus Übertragungsmöglichkeiten der Aerodynamik von Insekten und des Vogelflugs mit Gewinn für die Flugmaschinen des Menschen verwenden lassen, selbst wenn in der Tradition die »Anverwandlung« unter Umständen eher hinderlich gewesen ist, da die Flugbewegung der Flügel sich nicht so einfach auf menschliche und maschinelle Verhältnisse übertragen ließ – zumal bei noch relativ schweren Materialien. Man denke an Leonardo da Vincis »Schraubhelikopter« und Lilienthals Flugversuche. Erst mit den Miniaturisierungstendenzen auf dem Weg zu »Kleinstfluggeräten« (Nachtigall 2002, S. 232 f.) werden die Anverwandlungen wieder interessant, wenn auch mit kennzeichnenden, wesentlich anderen Prinzipien (Propellervortrieb, ultraleichte Fixflügel, Hebelübertragungen durch Ketten usw., Leichtbauweise von Motoren). (Für größere Fluggeräte bis hin zu modernen Großflugzeugen stellen
Nachtigall hat (2002) die früheren Definitionen der »Bionik als Wissenschaftsdisziplin« als »systematische… technische Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme« erweitert durch eine, wie er sagt, »zukunftsadaptive Umschreibung«: »Dazu gehören auch Aspekte des Zusammenwirkens belebter und unbelebter Teile und Systeme sowie die wirtschaftlich-technische Anwendung biologischer Organisationskriterien«, so daß man generell umreißen kann: »Bionik betreiben bedeutet lernen von den Konstruktionen, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien der Natur für eine positivere Vernetzung von Mensch, Umwelt und Technik« (ebd.) – einschließlich der entsprechenden wissenschaftlichen Analysen, holistischen und ökologischen Aspekte. Zwar kann man nach dem Gründungskongreß »Bionics Symposium – Living Prototypes – The Key to New Technology« (Dayton, OH, 1960) diese Neuschöpfung im Englischen nicht nur auf physikalische Analogien biologischer Komponenten und Subsysteme sowie mechanische Realisation höherer Funktionen belebter Systeme« beziehen oder gar, wie H. Foerster, meinen: »Spezialisation ist out, Universalität ist in«, (zit. Nachtigall 2002, S. 6), sondern zusätzlich zur nach wie vor notwendigen Spezialisierung ist nicht nur Generalisierung und evtl. Universalisierung, sondern insbesondere fächerübergreifende und methodologisch überhöhende Transdisziplinarität und Interdisziplinarität der Perspektiven wichtig. Die Fächerkluft zwischen biologischen und physikalisch-wissenschaftlichen Grundlagendisziplinen ist auch in Hinsicht auf die Design-Aufgaben und die Entwicklungsmöglichkeiten technologischer und anderer Innovativer oder auf Innovationen angewiesener Disziplinen notwendig. So sind vermehrt auch Öko-, Sozial- und gar Human- und Geisteswissenschaften sowie Kulturdisziplinen in diese übergreifende Orientierung einzubeziehen. An der Biologie und biologischen Prozessen orientierten Strategie zur Lösung von Design und technischen Entwicklungsproblemen lassen sich beispielhaft auch grundlegende methodologische und psychologische Fragen des Kreativitätsprozesses sinnvoll studieren. Dies ruft geradezu nach einer philosophischen Analyse und Diskussion, gerade auch von Seiten einer erst noch zu entwikkelnden Philosophie der Kreativität (vgl. Verf. 2000). 2
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sich natürlich andere Verhältnisse von Schub, Hub und Widerstand dar, so daß auf andere Prinzipien übergegangen werden muß.) Nachtigall, der wohl führende Bioniker in Deutschland, hat Jahrzehnte lang in mit Eigenmitteln gebauten Windkanälen Meßeinrichtungen für den Vogel- und Insektenflug entwickelt, die zu den »ausgefeiltesten weltweit« zählen. Die moderne Meßtechnik und Hochgeschwindigkeitskameratechnik erlaubt es, eine präzise Kinematik der Schlagflügelbewegung von Vögeln und Insekten mittels Hochfrequenzkinomatographie, Minimalzeitphotographie und stereographischen Datenerfassungs- und Auswertungsverfahren genauer zu untersuchen – etwa wenn man Vögel in Windkanälen fliegen läßt und mit besonderen Bedingungen (Lasten) zusätzliche Beschleunigungsgeber vertikal oder orthogonal dazu gibt usw. (fliegen zu lassen). Zur einführenden Anmutung seines Kapitels über Vogelflug führt Nachtigall an: Untersuchungen zum Vogelflug haben eine lange Tradition. Von den vorzüglichen Beobachtungen und den tastenden Interpretationen Leonardo da Vincis über die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Flug des Weißstorchs von Otto Lilienthal bis hin zu den Untersuchungen unserer Tage zieht sich eine ununterbrochene Kette von Ansätzen. Mit umgeschnallten Schlagflügeln »aus eigener Kraft« zu fliegen wie ein Vogel: Seitdem die messende und rechnende Aerodynamik Daten zur Verfügung gestellt hat, lässt sich zeigen, dass dies physikalisch nicht möglich ist; die Muskulatur auch trainierter Hochleistungssportler ist für die Bereitstellung der nötigen Flugleistung etwa zwanzigmal zu schwach. Muskelangetriebenes Fliegen, wie es z. B. mit dem »Gossomer Kondor« möglich war, geht denn auch weit vom Prinzip des Vogelflugs weg. In den letzten Jahrzehnten wurden Forschungen zur Biomechanik des Vogelflugs deshalb im Wesentlichen nach technischbiologischen Gesichtspunkten durchgeführt: Technische Ansätze helfen, die »Flugmaschine Vogel« zu verstehen. Beim Studium der Energiebereitstellungsmöglichkeiten und der entsprechenden geänderten Lastkraft sowie Anschubproportionen zeigt sich selbst in dem Kapitel »Technische Aspekte von Kleinfluggeräten nach Art von Vögeln« (ebd., S. 329 ff.), daß das, was man vom Vogel für Kleinstfluggeräte lernen kann, nicht zu Geräten führen wird, die wie Vögel aussehen. Allein schon deshalb nicht, weil in dem hier betrachteten Bereich Propeller etwa den gleichen Vortriebswirkungsgrad besitzen wie Schlagflügel, rotierende Systeme aber technologisch leichter in den Griff zu bekommen sind als periodisch bewegte« (ebd., S. 231 f.). Wie in dem historischen Rückblick von Nachtigall angedeutet, geht auch das menschliche »muskelangetriebene Fliegen«, zu dem übrigens zwei bayerische Brüder mit ihren im Deutschen Museum in München ausgestellten Flugfahrrädern Weltrekorde aufgestellt haben, »weit vom Prinzip des Vogelflugs weg«. Dennoch sind durch intelligente Nutzung und Kombination von Material-»Erleichterung« extremer Art, Ausschöpfung der Hebelübertragungsmöglichkeiten beim Muskelantrieb und physikalisch-technischer Intelligenz sowie Studium der Aerodynamik die Träume des Ikarus in höchst beachtlicher Weise realisierbar, ja, weitgehend verwirklicht. Zweifellos lassen sich Erkenntnisse aus der Bionik für die Kreativität und Innovation verwenden, wenn man nicht zu sklavisch an beobachteten und gemessenen Bewe-
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gungsformeln festklebt. So betont auch Nachtigall (ebd., S. 410): »Daß der bionische Vergleich von Technik und Natur die kreative Kraft des Ingenieurs – vor allem der jungen Leute – beflügelt, steht außer Zweifel.« Das sehe er bei seinen Kreativitätsseminaren immer wieder: »Wenn ich Problemlösungen aus der Natur vorstelle, höre ich regelmäßig: »Das ist ja direkt patentierbar!« Bionik wird von ihm zu Recht geradezu »als Kreativitätstraining« aufgefaßt: »Die Vielfalt biologischer Lösungsmöglichkeiten regt die kreative Phantasie an!« (ebd., S. 429). Vom »Fertigungsbetrieb Natur« könne man in vielerlei Hinsicht lernen – nicht nur bei Einzelkonstruktionen oder Entwürfen bzw. im relativ systematischen Ausschöpfen von Kombinationen und Ideen-Varianten, sondern gerade auch beim übergreifenden holistischen, »vernetzten Denken« (Vester 1988, 1999). Ein wesentlicher »Witz« der analogischen und anregenden Erfahrungen bzw. der Anverwandlungsversuche ist, daß man entsprechend der Auffassung von Kreativität als multidimensionaler Assoziationsentwürfe einerseits sorgfältig beobachtet, mißt, darstellt, auswertet, wie die Natur entsprechende Problemlösungen als evolutionäre Entwicklungen hervorgebracht hat, andererseits aber diese Möglichkeiten – dies allerdings wiederum über verschiedene natürliche biologische Lösungen hinaus verglichen! – intelligent variiert, entsprechend den Bedingungen der jeweiligen technischen bzw. wissenschaftlichen Aufgabenstellungen. Also Anregung und »Anverwandlung« ja, aber keinesfalls sklavisch oder fixierend im Sinne einer Scheuklappensichtweise, die für intelligente Variation ausreicht, u. U. aber den Übergang, ja Übersprung, auf andere Prinzipien, z. B. der Bereitstellung von Energie usw., verbaut. Deshalb entwerfen Vester, Nachtigall u. a. (z. B. der Designer und Konstrukteur Bernd Hill (Münster)) auch übergreifende methodische Prinzipien, Grundregeln der Biokybernetik mit Vorbildfunktion für »komplexe technische Systeme« sowie notwendige Aspekte für das »Einkoppeln bionischer Aspekte in den Konstruktionsprozess« (Nachtigall 2002, S. 435 f.; Vester 1999; Hill 1999). In Auswahl seien die hier relevanten »10 Gebote des bionischen Designs« nach Nachtigall (1997) und die »8 Grundregeln der Biokybernetik« (Vester 1999) gegenüber gestellt und kurz kommentiert sowie mit einigen methodologischen Bemerkungen versehen. Nachtigalls Grundprinzipien 1–5 sind geradezu selbsterklärend bzw. selbstverständlich – in einer sinnvollen Vergleichsperspektive von natürlichen und technischen Prozeßlösungen im Zusammenhang mit komplexen technischen Systemen bzw. Lösungsanforderungen: »1. Integrierte statt additiver Konstruktion«, »2. Optimierung des Ganzen statt Maximierung eines Einzelelements«, »3. Multifunktionalität statt Monofunktionalität«, »4. Feinabstimmung gegenüber der Umwelt«, »5. Energieeinsparung statt Energieverschleuderung«. Dasselbe gilt zweifellos für das Prinzip 9 »Vernetzung statt Linearität«. Zu Prinzip 10: »Entwicklung im Versuchs-Irrtums-Prozess« wäre es natürlich sinnvoll, gerade die Ausnutzung evolutionärer Entwicklungs- und Verbesserungsprozesse nicht nur im zufälligen Sinne der Mutation sondern der gelenkten Evolutionsstrategien (Rechenberg 1973, 1994), also durch das auch im Sinne der komplexen dynamischen Systemlernprozesse sinnvollen überwachte Lernen (Kralemann 2005–2006) zu ergänzen. Man könnte dieses als ein Prinzip 11 ergänzen.
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Auch bei den Vester-Grundregeln der Biokybernetik sind viele mittlerweile umfassend anerkannt – nicht nur in ökologischen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. So ist klar, daß negative Rückkopplung und Regelungsprozesse das Überschreiten von Grenzwerten vermeiden können und daß Konstanz des Energiedurchlaufs und Funktionsorientierung biologischer Regelungssysteme sowie Recycling und Symbiosebedingungen, wie auch Feedback-Planung in Bezug auf Organisationsformen, Entwicklungsstrategien und Verfahren sowie Produkte im Mittelpunkt stehen sollen. Für die Kreativität der Rezeptionen multidimensionaler Art sind natürlich besonders die intendierte »Mehrfachnutzung von Produkten, Funktionen und Organisationsstrukturen« und zumal die Erhöhung des Vernetzungsgrades« besonders wichtig, aber auch die Nutzung von bereitstehenden Fremdenergien (»Energiekaskaden-Energieketten«), während eigene Energie vorwiegend als Steuerenergie dient, also generell die »Nutzung vorhandener Kräfte nach dem Jiu-Jitsu Prinzip« (Vester 1999). Von den fünf Aspekten, die Hill (1999) hervorhebt, sind die ersten drei und der fünfte besonders wichtig für die praktische und methodische Organisation von kreativen Lösungsfindungen: »1…. Orientierungsmodelle zur Überwindung von Denkbarrieren«, Erweiterung der »Komplexität der Betrachtungen technischer Entwicklungsprozesse«; 2. »Aufgaben- bzw. Zielbestimmung: … biostrategische Orientierungsmittel in Form von Katalogen zu Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution werden zur Ableitung technischer Teilaufgaben benutzt«; 3. »Zuspitzung« der »funktionalen Anforderungen an die zu entwickelnde technische Lösung«, um »Widersprüche erkennbar werden« zu lassen; (4. »Widerspruchsorientierte Betrachtung«, um »die ›treffende‹ Entwicklungsaufgabe bzw. Suchfrage zu formulieren und Lösungen mit hoher Effizienz anzustreben«); 5. »verschiedene Analogieklassen als Katalogblätter zur Auslösung von Assoziationen«, um die »Lösungsfindung … strukturierter« zu gestalten. Die sog. »Katalogblätter« berücksichtigen die unterschiedlichen Grundaspekte, wie »Stoff, Energie und Informationen« beim technischen Konstruieren in einer quasi exhaustiv orientierten Zielsetzung, ohne eine »zu direkte Übernahme zu ›suggerieren‹«: »Der Konstrukteur erhält so einen schnellen Überblick über mögliche Prinzipien und den ihnen zugrunde liegenden Repräsentanten und kann die für das vorliegende Problem geeignete Struktur auswählen. Durch die Verwendung dieser Assoziationskataloge haben Nutzer aller Fachgebiete technischer Richtungen ein reiches Arsenal analoger Lösungsmöglichkeiten für konstruktive Probleme zur Auswahl. Sie sind für den Konstrukteur eine strategische und lösungsgenerierende Hilfe.« (Hill 1999)
Lösungsfindung: Technische Lösung Schritte / methodische Hilfen 1 2
Bestimmung der den widersprechenden Forderungen zugrundeliegenden Grundfunktionen / Orientierungsmodell biologischer Grundfunktionen Aufdeckung relevanter biologischer Strukturen mit gleichen oder ähnlichen Funktionsmerkmalen / Katalogblätter
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Zusammenstellung relevanter Strukturen in einer Tabelle und Ableitung erster Lösungsansätze (Prinzipienlösungen) / Tabelle biologischer Strukturdarstellungen 4 Übertragung der ermittelten Lösungsansätze in eine technische Lösung entsprechend den Anforderungen, Bedingungen (ökonomische, technischtechnologische, ökologische, soziale, …) 4.1 Variieren und/oder Kombinieren relevanter Merkmale / Variations- und/oder Kombinationsmethode 4.2 Bewertung von Lösungselementen bzw. technischen Varianten / Bewertungsmethoden 5 Ausarbeitung der technischen Lösung (Quelle: Hill 1999) Die hier am Beispiel technischer Entwicklungsaufgaben bzw. Erfindungen illustrierten Prinzipien sind allenfalls hilfreiche, keineswegs aber hinreichende oder notwendige Vorbedingungen der Entwicklung technischer und wissenschaftlicher Kreativität; sie können freilich die Mehrdimensionalität, die für den multidimensionalen Assoziationsprozeß nötig ist, anregen, fördern, in die Richtung(en) zu weiteren Grundlösungen führen, sind also kreativitätsanregend. Sie müssen allerdings unter dem genannten Gesichtspunkt: »Keine zu direkte Übernahme«! (Nachtigall 2002, S. 438; Hill 1999) angepaßt bzw. moderiert und in den Gesamtzusammenhang bzw. kreativen Entwicklungsprozeß eingepaßt werden. Sie können weder als automatisch Innovationen und Kreativität garantierende Strategie aufgefaßt werden, noch leisten sie eine kasuistische oder systematische mechanistische Ausschöpfung von Möglichkeiten nach dem »morphologischen« Kasten Zwickys im Sinne der ausschöpfenden Möglichkeitszusammenstellungen. Dennoch sind Biostrategien (Nachtigall), bionische und biokybernetische Aspekte als Ansatzmöglichkeiten für die Gewinnung kreativer neuer Lösungsgestalten sowie zum übergreifenden Wirksamwerden der Gesichtspunkte vernetzter Forschungs- und Denktechniken von hohem Wert und sollten gerade auch in der Philosophie der Kreativität als grundlegende und anregende Teildisziplin studiert und analysiert werden sowie in der Ausbildung, zumal jener der technischen Konstrukteure, aber auch allgemeinerer Biowissenschaften und Sozialwissenschaften, wie der ökologisch orientierten Systemwissenschaften, als Möglichkeiten für das »Kreativitätstraining« genutzt werden (Nachtigall 2002, S. 429 ff.): In der Tat, »die Vielfalt biologischer Lösungsmöglichkeiten regt die Phantasie an« – wenn man Anregungen nicht als fixe Vorgaben oder Muß-Bedingungen versteht und die aufgabenübergreifende Funktion holistischen bzw. vernetzten Denkens, also modern orientierter Systemdisziplinen über die traditionelle Feedback-Kybernetik hinaus in Betracht zieht.
III. Kreativität psychologisch und methodologisch anregen In seinem neuen Buch, Wisdom, Intelligence, Creativity Synthesized (2003) versucht Robert Sternberg über seine vorletzte »Investmenttheorie kreativer Beiträge« hinausgehend eine neue Theorie der Typen von vorwärtstreibenden kreativen Beiträgen (»The
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Propulsion Theory of Creative Contribution«, ebd., S. 124 ff.) zu entwickeln, die Gebrauch macht von interessanten, auch für die Entwicklungen in Technik und Wissenschaft fruchtbaren Typen der Kreativität, die kurz dargestellt werden sollen. Die Investmenttheorie (Sternberg / Lubart 1991, 1995) bezog sich im wesentlichen auf die Entscheidung kreativer Personen, kreativ zu sein bzw. zu werden, oder zu handeln, indem sie die Erzeugung von Ideen als gegen die Erwartung (»Defy the crowd!«) gerichtet deuten. Ferner handelt es sich um die entsprechende Bereitschaft, für die neuen ungewöhnlichen Ideen zu werben, dafür zu kämpfen, also diese sozial durchzusetzen: Sternberg möchte das Insgesamt von intellektuellen Fähigkeiten, Wissen, Denkstilen, Persönlichkeitsvariablen, die Risikobereitschaft und die Bereitschaft schulen, Hindernisse zu überwinden, Mehrdeutigkeiten auszuhalten, und Selbstwirksamkeit sowie intrinsische Motivation und eine kreativitätsförderliche Umgebung zu einem dynamischen Zusammenwirken bringen – mit bestimmten Schwellen und Interaktionen zwischen solchen Komponenten. Diese Theorie ist eher etwas traditionell, indem sie versucht, aus herkömmlichen Fähigkeitstheorien, Intelligenztheorien und Persönlichkeitsmerkmalen sowie sozialer Faktorenabhängigkeit eine Art Gesamtkonstrukt zu bilden, das durch einzelne empirische Untersuchungen gestützt bzw. durch pädagogische Empfehlungen, zumal für Kinder, ergänzt wird: Kreative Ideen verkaufen sich nicht von selbst: »Sell them!«, doch dies fördere angemessene Risikobereitschaft, Konfliktbereitschaft, (Fähigkeiten zum Ertragen von) Gratifikationsaufschub, Zeit für kreatives Denken und praktische Vorbilder sowie Wechselbefruchtung durch Querdenken usw. (Sternberg 2003, S. 106–123). Die neuere »Propulsionstheorie« kreativer Beiträge dagegen geht differenzierter auf Anlässe, Verläufe und Strukturbedingungen typischer kreativer Beiträge ein, die in acht Typen kreativer Beiträge entwickelt werden. Dabei steht die Fortentwicklung eines Bereichs (»field«) im Mittelpunkt, der durch den Beitrag eines kreativen bzw. schöpferischen Individuums weiterentwickelt bzw. einem ins Visier genommenen Zielzustand näher gebracht wird. (Der erste Fall der bloßen »Replikation« ist ein uneigentlicher, verändert den Bereich nicht.) Auch die »Neudefinition« eines Bereichs bzw. Problems bringt allenfalls eine neue Sichtweise, verändert das Feld aber nicht. Der dritte Typ der »Vorwärtsverbesserung« (»Forward Incrementation«) ist typisch für das, was ich gelegentlich »kleine Kreativität« genannt habe, indem er kreative sinnvolle Lösungen erbringen kann, die sich der ohnehin bestehenden Bewegung des Feldes einordnen. Dagegen ist der vierte Typ (»Advanced Forward Incrementation«, »Accelerated Forward Motion«) eine bewußte und merkliche Veränderung des Bereichs über den bislang verstandenen Stand hinaus: »The creator accelerates beyond where others in his or her field are ready to go – often ›skipping‹ a step, that others will need to take« (ebd., S. 134). Der fünfte Typ besteht in der Bereitstellung einer neuen Richtung (»Redirection«) der Entwicklung von einem bisherigen Startpunkt aus, also im Abweichen von der bisherigen generellen Leitlinie. Der sechste Rekonstruktionstyp (»Reconstruction / Redirection«) besteht darin, daß der Kreative die bisherige Generalentwicklung kritisiert, aber dabei auch auf einen vorherigen Stand zurückgeht und nun von dort aus
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einen neuen Zielzustand anpeilt, also in der Erinnerung der generellen Richtlinie von einem früheren, nicht mehr vertretenen Standpunkt aus fortsetzt. (Wie zu allen Typen bringt Sternberg auch Fallbeispiele, zumeist aus der Intelligenz- und Fähigkeits- sowie Sozialpsychologie, aber auch aus Musik und Literatur). Der siebente Typ der »Neuinszenierung« (»Reinitiation«) stellt dagegen einen größeren »Paradigmenwechsel« (»a major paradigm shift«) dar, in dem der kreative Beiträger einen ganz anderen Ansatz und Ausgangspunkt für einen entsprechenden Bereich oder Unterbereich wählt und einen Neuanfang in eine völlig andere Richtung setzt, bisherige Hypothesen und Annahmen kritisiert usw. (Spearman’s Faktorenanalyse und die Zweifaktortheorie der Intelligenz - generelle versus spezifische Fähigkeiten - sowie Festingers Entwurf einer Theorie der kognitiven Dissonanz werden als neue paradigmatische Anfänge in der Psychologie, Duchamps »Quelle« und Cages »4’33’’« als völlig neuartige Grundparadigmen – letztere in darstellender Kunst und Musik – präsentiert. Der letzte, achte (eigentlich siebente echte) Typ »Integration« besteht darin, daß der Schöpfer »zwei Typen von Ideen, die zuvor als nicht aufeinander bezogen oder gar als entgegengesetzt gesehen wurden, zusammenbringt« also bisher als getrennt oder unvereinbar Gesehenes vereint. (Eine neue theoretische Kombination von Quantentheorie und allgemeiner Relativitätstheorie würde diesem Typ entsprechen.) Mit den Typen sollen natürlich auch die differenziellen Klärungsmöglichkeiten, Differenzierungen usw. besser in Modellform dargestellt werden und zumal die Durchsetzung besser verstanden werden können. Ebenfalls die Fragen, wieweit Kreativität bereichsspezifisch oder allgemein ist und wieweit kreative Initation, Initiatoren eher dem einen oder dem anderen Typ zuneigen. Die differenzielle Sicht erlaubt natürlich erhebliche Flexibilität hinsichtlich der Komponenten und der in der Realität einander möglicherweise überlappenden Typen, wobei die Einsicht deutlich ist, daß nicht nur ein einziges Verfahren oder der eine umfassende Typ »Kreativität« und gar in minderem oder größeren Maße charakterisieren kann (ebd., S. 124–143). Sternberg versucht diese »Antriebstheorie der Kreativität« noch mit psychologisch besser untersuchten Gesichtspunkten wie der Intelligenzforschung (»creative intelligence«) in einer Komponententheorie expliziter und impliziter Faktoren von Intelligenz, Weisheit und Kreativität in eine Synthese (WICS: »Wisdom, Intelligence and Creativity Synthesized«) zu kombinieren oder besser zusammenzuraffen. Dies bleibt allerdings sehr skizzenhaft und geht nicht über die Einsichten der traditionellen theoretischen Ansätze (z. B. seiner eigenen Investmenttheorie) hinaus, daß Kreativität mehr als nur kreative Intelligenz benötigt, sondern auch Wissen, bestimmte Denkstile, Persönlichkeitsmerkmale und Motivationseigenschaften erfordert: Wer kreativ intelligent ist, muß nicht notwendigerweise kreativ werden im »kleinen« oder gar »großen« Sinne. Kreative Intelligenz bezieht sich auch auf mehrere persönliche Eigenschaften – weitgehend unabhängig von der Beurteilung der Kreativität« im Sinne eines ganzen Bereichs (ebd., S. 182)3. Bereits in seiner Investmenttheorie der Kreativität als einer Entscheidung unterscheidet Sternberg zwischen »creativity« und »Creativity« danach, ob die Leistung bzw. der Beitrag nur im Blick auf einen selbst bzw. auch in Bezug auf den ganzen Bereich als kreativ eingeordnet wird (2003, S. 106). 3
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Sternberg selber gibt zu, daß sein typologisches Modell nicht erschöpfend sein kann (ebd., S. 143), doch verbleibt er selber bei einem etwas integrationistisch verfaßten und weitgehend einspurigen Modell. Man könnte ohne weiteres Fälle der Integration von mehr als zwei unterschiedlichen kreativen Ansätzen bzw. Theorien oder Beiträgen ins Auge fassen (wissenschaftstheoretisch gesehen etwa die Verbindung von mehr als zwei Theorien in einen größeren, übergeordneten Gesamtzusammenhang: Beispiel etwa die kreative, weiterführende Vereinigung von Phänomenologischer Wärmetheorie, Statistischer Thermodynamik, kinetischer Gastheorie und Entropiekonzept sowie Zustandswahrscheinlichkeitsansätzen). Man könnte aber auch Modelle der differenzierenden und eher »kreativ trennenden« Weiterentwicklung, also einer differenzierenden Verfeinerung, Untergliederung, Komponententrennung von Faktoren als ein weiteres Modell ansehen oder gar den methodologischen Aufstieg auf höhere theoretische Metaebenen bzw. übergreifende interdisziplinäre Metatheorien, Metasprachen und Metagesichtspunkte, die zu Ebenen übergreifenden und höherstufigen neuen Perspektiven und Sichtweisen führen, wie ich sie in meinem Buche »Kreative Aufstiege« (2000, S. 59 ff., S. 164 ff.) zu skizzieren versuchte. Dennoch sind solche, auch durch Diagramme und Bildchen untermalte und insofern eingängige typologische Unterscheidungen deswegen sinnvoll, weil sie erlauben unterschiedliche Formen kreativer Weiterentwicklungen und Bereichsveränderungen bzw. Paradigmenwechsel oder inkrementale Fortschritte zu differenzieren und eventuell auch systematischer als bei Sternberg die Verbindungen zwischen solchen unterschiedlichen Modelltypen zu analysieren. (Selbstverständlich muß berücksichtigt werden, daß es sich hier um Modellvorstellungen handelt, die idealtypischen Charakter haben, also in der Realität entweder mehr oder minder klar abgegrenzt oder einander überlappend aufgespürt werden können bzw. hineingedeutet werden.) Gerade für die Entwicklungen und Diskussionen der Kreativitätsmuster in der Technik, aber auch in differenzierten Nachzeichnungen künstlerischer Kreativitätsstile bzw. deren Änderung (etwa das Zitationsprinzip der Postmoderne!4) lassen sich solche typologischen Ansätze in differenzierender Weise verfolgen und fruchtbar jeweils für die praxisnähere Diskussion nutzen. Wir wären also insgesamt (unter Ausschluß des bloßen Replikationsmodells ohne eigene Kreativität) dann bei 10 Typen der kreativen Beiträge angelangt – wobei die Liste natürlich wie schon Sternberg (2003, S. 143) feststellte, nicht erschöpfend ist, sondern als offen angesehen werden muß. Beispielsweise wären die bereichsübergreifenden Collagen, wie z. B. bei dem Duchamps’schen »Urinal-Kunstwerk«, auch in anderen Beziehungen zwischen ganzen Lebensbereichen möglich und evtl. als »kreative« Beiträge oder Provokationen bzw. Veränderungen der Welt des Menschen zu deuten: z. B. die Herstellung von TechnoBio-Organismen. Prothetik mit Neuro-Implantaten oder die Verknüpfung virtueller
Der Stil der postmodernen Aggregation und Collage bzw. Zitierung alter Grundstile und der quasi ironischen Distanzierung durch Verwendung scheinbar gegensätzlicher oder zeitlich überholter Stile könnte natürlich auch geradezu einen neuen aggregativen, »postmodernen«, Typ der kreativen Beiträge darstellen. 4
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Technologien mit realen Prozessen und Phänomenen (z. B. Virtual Reality, KünstlicheIntelligenz-Strukturen, Techno-Organische Hybridwesen, transgene Organismen, Neuromanipulationen durch Implantate oder Programmierungen), aber auch künstliche (virtuelle) Sozialrealitäten und deren Verzahnung mit Sozialprozessen im Sinne des soziologischen Thomas-Theorems5 bzw. u. U. subliminale Änderungen, Massensuggestionen usw. könnten als Beispiele für die Verkettung traditionell getrennter »Welten« und Weltrepräsentationen bzw. fiktiver und artifizieller Welt- und Selbstveränderungen des Menschen angesehen werden – bis hin zur potenziellen künstlichen Selbstmanipulation und Veränderung des menschlichen Genoms! Vor allem Beispiele mißgeleiteter Kreativität wurden und werden uns ja durch unsere Medien bereits im Übermaß so präsentiert, daß für Kinder und Heranwachsende die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Realität bereits verschwimmt. Kreative Hybridbildungen, Grenzen- und Bereichsüberschreitungen über traditionelle Trennungen hinweg, das bereits notorisch werdende Verschwimmen der »natürlichen«, materiellen / materialen mit den virtuellen und sozialen Realitäten zu deuten und zu analysieren, das u. a. wird die große Herausforderung einer künftigen Philosophie der kreativen Entwicklungen, Schöpfungen und Prozesse sein. Whitehead redivivus? Whitehead virtualiter verlagert, verfeinert und – verfremdet? Spannende ontologische wie auch methodologische Fragen… (Die gegenwärtige Psychologie und Philosophie der Kreativität blieben diesen Zukunftsausblicken gegenüber noch etwas blässlich traditionell zurück.) Künstliche Welt, Künstliches Leben, Künstliche Intelligenz – wie sind kreativitätstheoretisch diese überkünstelten, sich am Horizont abzeichnenden Abweichungen von Plessners »künstlicher Natürlichkeit« des Menschen zu beurteilen und evtl. anthropologisch zu deuten? Kreativität wird in diesem Beitrag generell als multidimensionaler Assoziationsprozeß verstanden. Für Kreativität und kreative Personen ist zumal die Neigung charakteristisch, zwischen Originalität und der Übernahme von traditionellen Methoden hin und her zu springen, Spannung auszuhalten sowie einen »optimalen Mix« herzustellen zwischen »Ikonoklasmus und Traditionalismus« (Simonton 1988). Darüber hinaus steht die mentale Kreuzbefruchtung zwischen verschiedenen Disziplinen besonders bei kreativen Neuentwicklungen im Vordergrund. Sie führt aber auch häufig dazu, daß die Kreativen in eine Art Randstellung (»marginal position«) in ihrer eigenen Disziplin geraten oder erst von einer solchen Randstellung aus kreativ werden, u. U. gar nicht oder erst spät entdeckt werden können (man denke an Gregor Mendel oder Robert Mayer). Das heißt, die Spannung zwischen Traditionalismus, den etablierten Methoden und arrivierten Ansichten innerhalb einer Disziplin einerseits und dem Bilderstürmerischen, dem radikal Neuen, dem Neuartigen, dem eventuell aus einem ganz anderen Gebiet Stammenden andererseits – diese Konfrontationstendenz ist offensichtlich charakteristisch für einen kreativen »Zusammenstoß«, für die »Zündung«. (Man könnte 5 Sinngemäß: Wenn Personen eine Situation als »real« »definieren« oder auffassen, dann ist diese »real« in ihren sozialen Konsequenzen.
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hier im Unterschied zu normaler, »kleiner« bzw. bloß kombinatorischer Kreativität von »großer« oder, mit Günter Abel (s. o.), von »radikaler« Kreativität sprechen.) Kreativität entsteht also durchaus auch aufgrund von bestimmten kulturellen und sozialen Vorbedingungen; diese sind typischerweise nur notwendige Bedingungen, aber keineswegs hinreichend, insbesondere wenn es um die Leistungserklärung bei den »intuitiven« oder »analytischen Genies« geht. Simontons (1988), Koestlers (1966) und der neueste Ansatz von Sternberg (2003) sowie der Metaphern-Ansatz MacCormacs und fraktal- und chaostheoretische Strategien werden neben der Bionik (Nachtigall) und Vernetzung (Vester) in ihren Grundprinzipien und einigen charakteristischen Thesen behandelt. (Sternbergs (2003) neue Typentheorie der kreativen Prozesse wird zum Beispiel kurz vorgestellt und um drei Typen ergänzt sowie z. T. kritisiert, da sie die unten genannten metastuflichen bzw. die Grundregeln ändernden oder gar revolutionierenden Neuerungsprozesse der »großen« Kreativitäten nicht differenziert berücksichtigt und diesbezüglich nur pauschal von »Paradigmen«-Wechseln spricht.) Die zündende »Bisoziation« bei Koestler (1966) wird zu einer Multiassoziationsvorstellung erweitert und auch auf höhere Schichten und Metastufen bezogen (vgl. Verf. »Kreative Aufstiege«, 2000). Man darf diesen Ansatz nicht auf bloß zwei Ebenen zusammenstreichen (wie es das Wort »Bi-soziation« suggeriert). Wir müssen vielmehr davon ausgehen, daß hier eine multiple Kollision, Kollusion (ein »Zusammenspielen«), Konfundierung, Wechselwirkung und Anregung und nicht nur ein »Extrapolieren« in einer Ebene, ein »Interpolieren« von einer anderen Ebene aus und dann eine Art von »Transponieren« stattfindet. Es handelt sich stattdessen erstens um ein sehr vielfältiges, großenteils dem Oberflächenbewußtsein und damit der Bewußtseinsenge entzogenes Zusammenspiel. Es können viele Ebenen sein, die sich schneiden und zu einem Lösungspunkt oder Zündungseinfall führen. Und zweitens ist zu sagen, daß Koestler tatsächlich nicht die schöpferische Metaschichtenbildung berücksichtigt, die eine große Rolle bei intellektuellen Entdeckungen, zumal bei Verallgemeinerungen, spielen dürfte – neben den sozusagen horizontalen »Bisoziationen« unterschiedlicher Disziplinen und Perspektiven. Das Schichtenübersteigen, das transzendierende Interpretieren gibt neben dem (auch von Koestler betonten) »Extrapolieren«, »Interpolieren«, »Transponieren« und »Transformieren« eine entscheidende Charakteristik des Kreativen ab. Das »Höhersteigen« bedeutet das abstraktere (oder abstrahierende) Modellieren, das Stufen übergreifende Zusammenfassen auf Metaschichten. Dabei kommen oft auch quasi postmoderne Codewechsel vor, die manchmal sogar bewußt werden. Fixierte Strategien werden flexibel gemacht. Man muß typischerweise zu anderen Bezugsrahmen übergehen. Das Wandeln und Abändern von solchen Bezugsrahmen selbst ist ganz wichtig. Doch man kann die Lösung eines Multi- oder Bisoziierungsproblems im Grunde nicht voraussagen; sie ist nicht kombinatorisch-mechanistisch oder kausal-deduktivistisch erklärbar oder gar erzwingbar. Man kann Entdeckungen nicht nur auf Kombinatorik oder auf kombinatorische Gymnastik zusammenstreichen. Das Modell von Koestler ist also in dieser Hinsicht zu einfach gewählt. Er hat auch nicht gesehen und berücksichtigt, daß dieses Zusammenspiel u. U. von verschiedenen
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Schichten, Stufen und Ebenen aus gesehen und betrieben werden kann, daß es neben der horizontalen Bisoziation auch eine vertikale gibt, daß man aus einer höheren Perspektive, aus einer metatheoretischen bzw. metasprachlichen Sicht bestimmte Gesichtspunkte der unteren, objektnaheren Ebenen eben anders sieht. Wir können auch vertikal kreativ assoziieren. Man könnte von Meta-Assoziation sprechen oder von einer Methode, Meta-Assoziationen zu kreieren. Dies ist auch multidimensional, interdisziplinär und heute zudem zunehmend multimedial zu verstehen. Das Schöpferische ist offenbar in allen Bereichen von gleicher oder ähnlicher Struktur, und der Ablauf des kreativen Prozesses bzw. Aktes ist im Großen und Ganzen gleich – auch bei den Motivationen des kreativen Menschen finden sich Übereinstimmungen. Neue Wahrheiten aber und neue Schönheiten sind »kreativ« – sind nur durch kreative Akte zu gewinnen und wirken ihrerseits »kreativierend«. Die bahnbrechenden Neuerungen sind besonders wichtig. »Radikale« Neuentwicklung, also auch Originalität, muß natürlich hinzukommen, damit wirkliche Kreativität sich realisiert. Solche grundsätzlich berechtigten Gesichtspunkte reichen aber meines Erachtens nicht aus. Hinzutreten müssen zumindest die folgenden Charakteristika und Beurteilungsgesichtspunkte, insbesondere bei besonders kreativen Entwicklungen: 1. die prinzipielle Ausrichtung auf Konfiguration, Ganzheit, Totalität (wie generell bei besonders großer Kreativität, vgl. a. Polet 1993); 2. die prinzipielle Neuartigkeit. Sie ist natürlich in der Forderung der Originalität enthalten, aber das ist noch zu allgemein; es muß m.E. die Entwicklung neuer Perspektiven, Darstellungsweisen und Gesichtspunkte hinzukommen. Die Originalität kann nicht elementar in dem Sinne sein, daß nur neue, jedoch kleine Erweiterungen vorgenommen und neue Kombinationen von schon Bekanntem erzeugt werden, sondern es müssen neue Grundlagen gesehen, ganz neue Sichtweisen geschaffen, neue Perspektiven, neue Schichten der Deutung entwickelt werden; es zählt also grundsätzlich eine Neoperspektivität oder ein Neoperspektivismus. 3. Die erwähnte Multidimensionalität und potentielle Multimedialität sowie Multiperspektivität, zum Beispiel Zitatenvielfalt, rhetorische oder semantische Mehrdeutigkeit usw., sind ein eher postmodernes Charakteristikum. 4. Entsprechendes gilt sodann, wie es beim Geniebegriff Kants (KU, § 46 f.) einschlägig ist, für die Schaffung neuer Regeln des Verständnisses und der Kreationen, aber auch natürlich der Interpretationen. Diese neuen Regeln konstituieren unter Umständen nicht bloß eine neue »individuelle Spielregel« (Koestler), sondern eine ganz neue Kunstrichtung – man denke an den bereits erwähnten Übergang von der bildlichen Kunst zu einer Relief- oder Collagekunst, die ins Räumliche ausgreift, oder an die Zwölftonmusik. Das ist dann als das Setzen und Durchsetzen neuer Regeln oder auch neuer Regeln der Beurteilung zu verstehen und führt natürlich auch zu einem radikal neuen Stil. Das Genie setzt nach Kant ja selbst neue Regeln und schafft damit in der Frage auch neue Standards der Beurteilung. 5. Damit greift das Phänomen des Kreativen nicht nur über einzelne Gebiete hinweg, sondern wird so zu etwas genuin Philosophischem, das eben darin zum Ausdruck
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kommt, daß man höhere Schichten der Entwicklung von Deutungen hat, die auf anderen Grundlagen und diese überhöhend aufbauen. Der Metaperspektivismus ermöglicht schichtenübergreifende Kreationen, sozusagen Metakreativität. Das könnte dazu führen, daß man die Koestlersche These der gemeinsamen, zumindest gleichphasigen und gleichartigen Struktur des Kreativen auf allen Gebieten zu einer Art von interdisziplinärer Zusammenschau in einer erst zu entwickelnden Philosophie der kreativen Tätigkeiten einmünden lassen könnte.
III. Chaotische Kreativität? Der Metaperspektivismus, so sagten wir, erfordert und ermöglicht schichtenübersteigende Kreativität, ja, Metakreativität. Das könnte angesichts der relativ gleichartigen Struktur des Kreativen auf allen Gebieten zu einer Art von interdisziplinärer Zusammenschau in einer erst zu entwickelnden Philosophie der kreativen Tätigkeiten führen. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den Zufallsmomenten oder dem traditionell so verstandenen Chaotischen – und auch unter Umständen den deterministischen komplexsystemaren chaotischen Entwicklungen in der nichtlinear verfaßten Natur – wesentlich, also Phänomene, die etwa die Chaostheorie heutzutage untersucht. Im folgenden möchte ich besonders auf Chaotisches in der Kunst bzw. den fraktalen Charakter und die Selbstähnlichkeit in der Kunst sowie auf bestimmte Korrelationen, formale Übereinstimmungen bzw. Analogien oder Parallelitäten zum natürlichen Phänomen des Wachsens eingehen. John Briggs hat in seinem Buch Chaos. Neue Expeditionen in fraktale Welten (1992, dt. 1993) im Wesentlichen versucht, einen Ansatz zur Deutung der Kunst auf fraktaler und chaostheoretischer Basis aufzubauen; dasselbe gilt für Friedrich Cramer, der sich viel mit den Problemen der Evolution, der Ordnung und den chaotischen Phänomenen in der Natur, sowie mit der Zeitstruktur des Erlebens und der Erfahrung befaßt hat. Beginnen wir mit Cramers Entwurf. Cramer geht davon aus (1994, S. 259), daß das Schöne als eine »Gratwanderung« zwischen dem Geordneten einerseits und dem Chaotischen andererseits und insbesondere natürlich dem Geordneten im Sinne der fraktalen Geometrie verstanden wird, so daß also Beziehungen und Korrelationen bestehen zwischen der Physik der komplexdynamischen Systeme mit fraktalen (chaotischen) Attraktoren einerseits und der Entwicklungsbiologie andererseits. Weil alle Entwicklungen immer vom jeweiligen Stand des evolvierenden Systems abhängen, entstehen hier natürlich unmittelbare formale Übereinstimmungen bzw. Analogien. Cramer meint, die Theorie des deterministischen Chaos lasse uns solche Übergänge zwischen Ordnung und Chaos besser verstehen und insbesondere auch das Erleben dieser Übergänge und dieser Oppositionen, solcher Unterschiede, die wir im Zusammenhang mit ästhetischem Erleben erfahren: »Schönheit entsteht überall dort, wo das Chaos in die Ordnung, wo Ordnung in Chaos mündet. Schönheit ist gleich der offenen, irrationalen Ordnung des Überganges, und so ist sie ihrem eigenen Prinzip nach vergänglich, fragil, gefährdet und je nur einmalig – wie das Leben selbst. Schönheit kann nur als lebendige Schönheit existieren« (ebd.). Das
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erinnert traditionell an Goethe, an die Schönheit, die sich nur realisieren kann als Gestalt, die lebt, sich entwickelt, sich stets verändern kann und erneut sich (re)konstituiert (»prägende Form, die lebend sich entwickelt«) – oder an Schiller, der die Schönheit im Spiel ansiedeln will oder aus dem Spiel hervorgehen sieht. Cramer meint, daß »die ›fraktale Geometrie‹ und die ›Chaosmathematik‹«, »welche die Schöne Form hervorbringt …, die nicht-lineare Realität« auch der Natur »besser zu beschreiben« (ebd., S. 261) gestattet, als das der Newtonische Ansatz vermag, der im Wesentlichen auf lineare Gleichungen und Überlagerungen von Zustandsgrößen in additiver, nämlich in linearer Hinsicht, hinaus läuft. »Der spezifische Reiz«, meint er, »der von den Naturformen ausgeht, dürfte darin zu suchen sein, dass sie … im Regelfall Prozessformen« sind, Ergebnisse von Wachstums- und Entwicklungsprozessen. »Sie sind gleichsam stehen gebliebene – in Wahrheit jedoch meist fortschreitende – Prozesse, die mit dem Prozess korrelieren, in dem der Beobachter selbst begriffen ist. Das Leben der Natur korreliert mit dem Leben des Betrachters. Wie dieses ist die Natur ein Wachstumsprozess« (ebd., S. 264), also die lebend sich entwickelnde Form oder Gestalt, die Goethe gesehen hat. Im übrigen macht Cramer (ebd., S. 265) auch eine Reihe von Anspielungen auf die Polarität in der Verfassung der Natur und der Welt – freilich, ohne hier Goethe zu zitieren, der ja auch gemeint hat, daß die Grundstruktur des lebendigen Gestaltens eine Art von polarem Hin- und Herspielen zwischen Gegensätzen sei, woraus sich erst Strukturwachstum und Entwicklung ergäben – insbesondere natürlich auch differenzierte und vielfältige Entwicklung, zumal sichtbar im pflanzlichen Wachstum, aber auch in der antagonistischen Attraktion, Dissoziation, Fortpflanzung der Organismen. Entsprechendes könne man dann übertragen auf die Gestaltung und Beurteilung von schönen Formen, die sich ebenfalls gestalten, sich gleichsam selbstgestaltend entwickeln. Unsere Wahrnehmung ist vorwiegend auf das Erfassen »prozessualer Strukturen« und »auf das Erkennen der Schönen Form (als einer tendenziell dynamischen Form) ›programmiert‹« (ebd., S. 268). Cramer sagt, die gewachsene Entwicklung und deren Struktur bilde somit die Voraussetzung für eine schöne Form. Man kann an einer Form, die als schön erlebt wird, den Prozeß der Entstehung immer mit finden, nicht verleugnen, nie ganz unterdrücken. Die Lebendigkeit einer schönen Form besteht gerade darin, daß man diese Art von Entstehungsprozeß vermutet und nach- oder miterlebt und daß dann – und da kommen wir schon auf die rein ästhetische Konnotation – die Möglichkeit besteht, immer tiefer in die Schichten dieser entsprechenden Form, des entsprechenden Wachstumsprozesses und des zugrunde gelegten dynamischen Entwicklungssystems einzutauchen oder gar einzudringen. Auf diese Weise entwickelt sich eine lebendige Aufnahme oder Erfahrung der Gestalt, weil immer neue Gesichtspunkte durch Tieferdringen, durch Verzweigungen usw. auftreten: Das ist eben das Kennzeichen der Schönheit an der Grenze zwischen Ordnung und Chaotischem, d. h. bei nicht im Einzelnen voraussagbaren Phänomenen. Natürlich findet man darüber hinaus auch in der Natur viele fraktale Gebilde, die Selbstähnlichkeit der Teilstrukturen aufweisen – wir kennen z. B. die »Blumenkohlvariante«, genannt »Romanesco«, eine Kreuzung zwischen Brokkoli und normalem Blumenkohl. Dasselbe gilt natürlich für viele andere Strukturen, Wolken oder Farben,
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Blätter usw. Diese Naturstrukturen haben ja zweifellos einen beträchtlichen ästhetischen Reiz. Zunächst aber zu den Wachstumsprozessen. Wachstumsprozesse stellen im Grunde eine Weiterentwicklung des jeweiligen Entwicklungsstandes dar, der bereits erreicht wurde, ursprünglich ausgehend von einem Anfangsstadium, zu dem dann stets zusätzliche Elemente hinzukommen, die aber im allgemeinen die vorherigen Elemente nicht ganz verdrängen. Es gibt – so sagt ein Biomathematiker der Universität von Calgary – Prusinkiewicz (zit. in Briggs 1993, S. 87; GEO 1990, S. 116) – »eine tiefe Beziehung zwischen Selbstähnlichkeit und Wachstumsregeln«. Man kann nun versuchen, deren Grundformen zu analysieren. Dabei findet man mit Sicherheit selbstähnliche Formen. Es findet so etwas wie eine Überschichtung von nicht bloß linearer Additivität statt, im Sinne der erwähnten Entwicklungskonkurrenz, mit der dann jeweils eine Art von Stabilisierung mittels Rückkoppelung oder Rückspeisung der Information über das Erreichte verbunden ist. Prusinkiewicz konstatiert mit den Physikern, daß auch »Selbstähnlichkeit« eine Art von »Symmetrie« sei (in Bezug auf Skaleninvarianz), und daß man die Symmetrieformen als Leitmotiv der modernen Wissenschaft immer wieder finde – etwa bei den Wachstumsprozessen. Insbesondere bilden die entscheidenden Brüche, die »Symmetriebrüche«, die Übergänge sozusagen von einer Ordnung zur anderen, von einer fraktalen Schicht zur anderen zum Beispiel, ein ganz besonders wichtiges Prinzip der Natur. Eben hierin könne, meint er, die Natur in ihrer Entwicklung und in ihren kontinuierlichen Wachstumsprozessen nachgeahmt werden, könnten die lebenden Formen sozusagen im sequenziellen Modell nacherzeugt werden – insbesondere unter Einschluß der entsprechenden Rückkoppelungen, um Veränderungen zu kontrollieren oder eben den Entwicklungsprozeß und auch die jeweilige Grobform relativ zu stabilisieren. Insofern kann man sagen, daß Wachstumsprozesse in diesem Sinne eine Art von kontinuierlicher Entwicklung auf verschiedenen Schichten darstellen – insbesondere im Sinne einer Weiterentwicklung von fraktalen Teilformen. Wenn man versucht, das quantitativ nachzuvollziehen, so gelangt man nicht nur zu negativ (beschränkend) rückgekoppelten Prozessen, sondern u. U. zu einem Exponentialgesetz in positivem Sinne (»positive Rückkopplung«), bei Bevölkerungszunahmen beispielsweise. Doch auch bei der Entwicklung der Blütenkörbe einer Sonnenblume gilt eine ähnliche rückgekoppelte Abhängigkeit vom bereits erreichten Entwicklungsstand, die sich z. B. in der spiraligen Anordnung der Kerne zeigt. Diese Zunahme hat einen ganz bestimmten Charakter, der normalerweise – und jetzt kommen wir der Ästhetik nahe – dem Goldenen Schnitt ähnelt. Cramer meint nun, das alles sei auch in der Kunst so. Die »wirkliche Kunst« sei – wie »Schönheit« – »eine Flucht nach vorne. Sie entsteht, wenn ein dynamisches System gerade noch vor dem Chaos ausweichen kann; Schönheit ist eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Zerfall und Erstarrung« (Cramer 1994, S. 276). Und sie sei eben auch in diesem Sinne zu verstehen. Man kann das Gesagte übrigens auch auf die Entwicklung von Ideen übertragen. Die Grundstruktur gilt ja insbesondere in der neueren Gehirnforschung. Man denke an Edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion im Sinne eines, wie er das nennt,
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neuralen oder neuronalen Darwinismus oder an Dennetts Auffassung, der zu Folge viele Entwürfe von vielen verschiedenen Zentren im Gehirn um den Eintritt in das Bewußtsein geradezu konkurrieren, so daß auf diese Weise eine neue »Idee« oder Vorstellung erst als Ergebnis eines selektiven Konkurrenzprozesses auf die Bühne des Bewußtseins gelangt. Auch hier findet man dieselbe Grundstruktur. (Zwar hat man den Fibonacci-Charakter der Hirnprodukte in diesem Sinne noch nicht nachgewiesen, aber man könnte sich das leicht vorstellen.) Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen, wir leben in einer dynamisch immer und überall von Wachstumsprozessen geprägten Welt, die von Prozessen und formalen Strukturen beherrscht ist, welche sich daraus ergeben, daß aus etwas Vorhandenem durch Weiterbauen und interne Konkurrenz dann das nächste Produkt, der nächste Zustand, die nächste Wachstumsphase entsteht und so eine teils exponentielle, teils spiralige, teils dem Goldenen Schnitt gehorchende Wachstumsentwicklung entsteht. Man könnte fast davon sprechen, daß wir in einer Fibonacci-Welt leben. (Das ist allerdings ein Ausdruck, den Cramer nicht benutzt.) Aber es scheint mir naheliegend, diese Bezeichnung zu wählen. Das Prozessuale einer Wachstumsentwicklung mit interner Konkurrenzstabilisierung – das ist die entscheidende Grundidee. (Allerdings sind die jeweiligen Schichtenübergänge bzw. Symmetriebrüche – auch bei der Selbstähnlichkeit – zu beachten: Letzteres besonders in der Kunst, s. u.) Cramer geht dann zur Kunst über und möchte die Kunst auch durch solche Entwicklungen und Nacherlebnisse dieser Wachstumsprozesse an der Grenze zwischen Chaos und Ordnung ansiedeln. »Ein Kunstwerk ist neu«, sagt er (ebd., S. 280): »Neues entsteht beim Durchgang durch chaotische Zonen. Kunstschöpfung ist ein Akt in größtmöglicher Nähe zum ›Gerade-noch-nicht-Chaos‹.« »Das in einer künstlerischen Gratwanderung ›an der Chaosgrenze‹ erzeugte Werk enthält im wahrsten Sinne den Augenblick des Künstlers« – einen Höhepunkt, der immer wieder beschworen worden ist – z. B. auch von Lessing – , »und eben das macht es zum Kunstwerk, daß dieser Augenblick so festgehalten wurde, daß er seinen subtil gefährdeten Schöpfungsprozeß nie mehr verleugnen kann« (ebd.). Der Prozeß zeigt einerseits die Orientierung am regelmäßig Symmetrischen, aber andererseits auch »die kleine Abweichung« – und gewinnt beim Betrachten des Werks gleichsam einen Überblick über dessen Entstehung und eine Erkenntnis der abweichenden, überraschend neuen, originären, originalen Variation. Das ist für Cramer das Charakteristikum der Kunst. Er bringt (ebd., S. 277) das aus der Psychologie bekannte Beispiel, daß man ein Gesicht als langweilig empfindet, wenn man zwei symmetrische Hälften aneinander heftet, und führt das am berühmten Selbstbildnis von Albrecht Dürer vor. Mit anderen Worten: erst die (kleine) Abweichung – etwa von der symmetrisch-regelmäßigen (oder auch der fraktalen Selbstähnlichkeit!) – verlebendigt das Kunstwerk. Wenn wir nun die Ideen über Selbstähnlichkeit zu einer Ästhetik im Sinne des chaostheoretischen und fraktaltheoretischen Ansatzes entwickeln wollen, so müßten wir zunächst fragen, worin eine solche Ästhetik bestehen kann. Wie ist eine solche Ästhetik zu erklären? Hängt sie davon ab, daß wir selbst in unserem Nacherleben solchen Strukturen biologisch gleichsam »vorprogrammiert« folgen, in dem Sinne, daß unsere neuronalen Assemblies oder neuronalen stabilisierten und plastischen Vernetzungen
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im Gehirn solchen Verzweigungen nachfolgen, ähnliche Einschwingungsprozesse wie solche dynamischen Systeme aufweisen, die freilich nicht isoliert funktionieren? Ganzheitliche Zusammenhänge und Rückkopplung scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Ich hatte ja bereits darauf hingewiesen, daß offensichtlich in den Gehirnmustern bestimmte sich wiederholende Muster von den Systemen eingespielt und angenähert werden. Man könnte direkt von Attraktoren und u. U. von fraktal strukturierten, d. h. »seltsamen«, Attraktoren im Gehirn sprechen. Man hätte dann bereits ansatzweise so etwas wie eine fraktale Ästhetik, die auf der fraktalen Grundstruktur, auf dem Hintergrundchaos der Gehirnprozesse ruht und verständlich macht, warum wir solche quasi natürlichen, fraktalen, sehr verzweigten, nicht sehr übersichtlichen, dynamisch komplexen Strukturen genießen, als »schön« empfinden. In der Kunst steckt immer mehr dahinter, als man sinnlich wahrnimmt. Wegen dieser Fähigkeit, Welten innerhalb von Welten anzudeuten, war die Kunst seit jeher fraktal. Die Chaosforschung trägt zu einem neuen Verständnis einer Ästhetik bei, die den sich wandelnden Kunstauffassungen verschiedener Zeiten, Kulturen und Schulen schon immer zu Grunde lag. (Briggs 1993, S. 28) Diese durch die fraktalen Formen neu entdeckten, aber faktisch altvertrauten Eigenschaften des Kunstwerks, »diese neue (und zugleich uralte) Ästhetik, die das Chaos ans Licht bringt«, versucht Briggs in folgender Weise zu beschreiben (ebd., S. 30): Sie ist holistisch – eine Harmonie, die davon ausgeht, daß Alles von Allem beeinflußt wird. Bei mathematischen wie bei natürlichen Fraktalen wird der Holismus in der Selbstähnlichkeit sichtbar, dem Beweis eines holistischen Rückkopplungsprozesses. In der Kunst entsteht Selbstähnlichkeit, die in unendlich vielfältigen Formen vorkommen kann, nicht dadurch, daß man eine Form sklavisch in unterschiedlichen Maßstäben permutiert. Sie hat eher etwas mit der Selbstähnlichkeit zu tun, die wir entdecken, wenn wir die menschliche Hand mit dem Flügel eines Kolibris, mit der Finne eines Wals oder einem Ast an einem Baum vergleichen. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, diese auffällige Beziehung zwischen Formen und Qualitäten, die selbstähnlich und zugleich selbstverschieden sind, aufzuspüren und auszudrücken und so ein Kunstwerk zu schaffen, das uns eine Ahnung von der holistischen Natur unseres Universums und unseres Daseins in ihm vermittelt. »Die Resultate« sind oft, meint Briggs (ebd.), »ein fraktales Dokument seiner Wechselwirkungen mit seinen Sujets, die in der Regel selber fraktale Objekte sind wie Farne, Vulkane oder turbulente Strömungen«. Die Schönheit der komplexen, verzweigten Naturstrukturen wird auf diese Weise vom Kunstfotografen eingefangen oder jedenfalls ausschnittweise modellhaft verdeutlicht. Diese neue und alte Gesamtästhetik der Naturdarstellung ist in der Tat »holistisch«. Sie zeigt eine Art von Harmonie, die in der Selbstähnlichkeit etwa vielfältiger Verzweigungen und Verschlungenheiten deutlich wird, die aber auch Dissonanzen und interne Konkurrenzen enthält, wie sie in der Selektivität des biotischen Wachstumsprozesses auftreten. Schließlich kommt es auch in der Natur vor, daß eine Form nicht »sklavisch« abgebildet, abgespiegelt, sondern
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abgewandelt wird; sie hat eher etwas mit der Selbstähnlichkeit zu tun, die wir entdekken, die jedoch immer wieder von der exakten skalenähnlichen Reduplikation abweicht – und also nicht genau bzw. ganz voraussagbar ist. Es gibt also bestimmte natürliche Entwicklungen, Rückkopplungen, Abweichungen, die in der Tat im Ganzen wie auch im Einzelnen die selbe Grundentwicklungslogik zeigen, ohne daß jedoch ein sklavisches Abbilden oder Wiederherstellen im Sinne einer isomorphen Iteration oder Reproduktion stattfindet. Die intermittierenden Faktoren, Zufallsumstände, Umgebungsvariationen, Einflusswirkungen sind zu komplex, dynamisch und nicht linear (nicht einander additiv überlagernd). Clifford Pickover hat angesichts der heutigen Möglichkeit, fraktale Strukturen auf jedem Heimcomputer zu erzeugen, gefragt, »ob es die Künstler nicht stört, daß jeder Gymnasiast heutzutage Bilder erzeugen kann, die von den meisten Menschen als schön empfunden werden, während ihnen die ›wahre Kunst‹ gleichgültig ist« (zit. n. ebd., S. 170). Die Frage stellt sich natürlich: Hat echte, große, originäre und originale Kunst im Zeitalter der nahezu beliebigen Reproduzierbarkeit von fraktalen Gebilden und Farb-Form-Komplexen noch eine Zukunft? Die entsprechenden, interessanteren Teilfragen lauten: Was macht den Unterschied zwischen den fraktalen computererzeugten Gebilden und eben Gebilden, Erzeugnissen echter, im höchsten Sinne kreativer Kunst aus? Was unterscheidet eine Grafik oder eine Serie von »Bildern« am Rande der Mandelbrotmenge von den bekannten, spiralig-seepferdartigen Strukturen eines Picasso oder beispielsweise von einem Bild van Goghs oder Breughels? Briggs sagt, daß das geniale Gedicht, das große Gemälde »immer neu« sei, »immer wieder feine Überraschungen« berge und neue Tiefenperspektiven aufschließe. (Tun aber das Letztere nicht auch die Skalierungsaufschlüsse am Rande der Mandelbrotmenge?) Briggs verweist auf die Gehirnuntersuchungen von Freeman und Rapp, die zu zeigen scheinen, daß im menschlichen Gehirn ganz ähnliche Prozesse ablaufen. Nach Briggs gilt (ebd., S. 171 ff.) daher, daß die Darstellungsform eines zeitlosen Kunstwerks einerseits eingängig wirkt, einer Aufnahmefähigkeit des Gehirns entspricht, daß aber andererseits seine »Größe« gerade darin besteht, daß es dieser »Gewöhnungstendenz des Gehirns« immer wieder »widersteht« – indem es nämlich von dieser normalen Standardform, der Selbstähnlichkeit und der erwarteten Schichtenstruktur, mehr überraschend als systematisch abweicht. Stets scheint »ein großes Kunstwerk … bei jeder (neuen) Begegnung im menschlichen Gehirn einen neuen, sehr seltsamen Attraktor hervorzurufen« (ebd., S. 174), so daß man ein solches immer wieder auf andere Weise als neu, als ein in der Rezeption variiertes und variierendes Gebilde erleben kann. Darin besteht das Besondere, die »Größe« eines großen Kunstwerks, nämlich in dieser »Mehrdeutigkeit«, die einerseits zwar an »die künstlerische Selbstähnlichkeit« angegliedert ist, Ausdrucksform bzw. -instanziierung von dieser ist, oder an die auch ständig zu reproduzierende Muster- oder Strukturwiederholung, von der es, das Kunstwerk, aber doch andererseits immer wieder abweicht. So erregt und verstärkt es immer wieder in typischer Weise eine Art neuerlicher (»reflektaphorischer«) Spannung, die auf den tieferen Ebenen bzw. bei der Weiterentwicklung oder Neubegegnung sich stets von Neuem auftut. Große Kunstwerke benutzen zwar selbstähnliche Formen und Farben,
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aber sie variieren diese abweichend von der jeweiligen rhythmischen Regelmäßigkeit. Sie »widerstehen« strikter Wiederholung, sind nicht strenge Abspiegelungen der selben Teilstruktur, obwohl sie sozusagen »selbstbezüglich« immer wieder auf diese Muster zurückgreifen, diese »kreativ« variierend. Sie erzeugen eine immer neuartige Spannung, die anregende Mehrdeutigkeiten erzeugt, hervorruft, antönt. Eine solche neue Nuancierung ist etwa diejenige, wie sie in der abweichenden und jeweils neue Spannung erzeugenden Verwendung von Metaphern zu finden ist, die Briggs und Peat »Reflektaphern« (1993, S. 302) genannt haben. Es handelt sich um Metaphern oder metapherähnliche Strukturen, die eine besondere Spannung im Zusammenspiel von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit, von Harmonie und Dissonanz erzeugen; und diese »reflektatorische« oder »reflektaphorische« Spannung ist dynamisch, erzeugt immer wieder eine Art von Lebendigkeit, auch beim Erfahren, Erleben, beim Wahrnehmen. Man erlebt Verblüffung, unerwartete Sichtweisen usw. Briggs meint (Briggs 1993, S. 174): Künstler müssen die richtige Distanz zwischen den Ausdrucksformen ihrer Reflektaphern finden, wenn sie ein Kunstwerk hervorbringen wollen – die richtige Balance zwischen Harmonie und Dissonanz, um die Spannung und die aufschlußreichen Mehrdeutigkeiten zu schaffen, die vom Kunstwerk ausgehen können. Diese richtige Balance überrumpelt die Denkprozesse und verhindert den Gewöhnungsprozeß. Denn sie zwingt unseren Verstand dazu, die Worte oder Formen oder Tonfolgen so wahrzunehmen, als sei es das erste Mal, und zwar jedes Mal aufs Neue, gleichgültig, wie oft wir sie zuvor schon wahrgenommen hatten.
IV. Metaphern und Reflektaphern Man könnte natürlich auch hier davon sprechen, daß es nicht nur um eine Balance auf gleicher Ebene geht, sondern auch um eine kontrastreiche Beziehung zwischen unterschiedlichen Schichten und Meta-Ebenen von Spannungsformen derart, daß Harmonie und Dissonanz auf unterschiedlichen Ebenen und natürlich auch die entsprechende Ebenen übergreifenden Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Man könnte daher neben der Balance auf der selben Ebene aufsteigend und erweiternd von Metabalancierungsprozessen sprechen, wie wir eingangs von Metainterpretationen oder interpretativen Schichtenüberschreitungen gesprochen haben, die nur jetzt auf das reflektaphorische Spannungsspiel zwischen unterschiedlichen Funktionen des großen Kunstwerkes anzuwenden sind. Dazu noch einmal Briggs (ebd., S. 174): Die reflektaphorische Harmonie finden die Künstler, indem sie die Distanz zwischen den selbstähnlichen Bedingungen zunächst in ihrem eigenen Verstand erproben. Ein Dichter, der ein Gedicht überarbeitet, liest es möglicherweise mehrere hundert Male durch. Wirkt die Metapher noch immer leicht überraschend, wenn man sie so oft gelesen hat? Trifft dies zu, so handelt es sich um eine Reflektapher: eine Nebenein-
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anderstellung von Ausdrucksformen, die sowohl selbstähnlich als auch verschiedenartig sind und deshalb eine Öffnung des Verstandes bewirken. (Hervorhebung hinzugefügt, H. L.) Die einzelnen Teile gleichen sich zu sehr oder unterscheiden sich in einigen Fällen zu sehr voneinander, um jenes von Mehrdeutigkeiten erfüllte reflektaphorische Gewebe zu erzeugen, das ein großes Kunstwerk kennzeichnet. Kunst ist viel mehr als ein bloßes Austauschen ähnlicher Formen. Sie ist kreativ auf eine der Kreativität der Natur entsprechenden Weise: Jede Form, jede Geste in einem Kunstwerk besitzt Autonomie und wird doch zugleich in ihrer Selbstähnlichkeit in eine Interaktion mit anderen Formen und Gesten des Werkes einbezogen. So entsteht ein Umfeld, das uns ständig zu der Erkenntnis zwingt, daß das Werk lebendig und dynamisch ist… Die Abweichung von der fraktalen Schichtenselbstähnlichkeit, wie sie sich in den üblichen »schönen« Fraktalstrukturen der Computergrafik bei Iterationen darstellt, beispielsweise bei den Bildern aus den Rändern der Mandelbrotmenge, zeigt also im Grunde so etwas wie eine ewige Wiederholung, welche die hervorgehobene reflektaphorische Spannung auf Dauer eben doch nicht tragen kann. Deswegen muß der Künstler eine Möglichkeit finden, Harmonie und Dissonanz aufrecht zu erhalten, die seltsamen Attraktoren in seinen Gebilden und auch in seinem eigenen Gehirn und in den Gehirnen der Zuhörer so zum Klingen und zum Einschwingen zu bringen, daß sie »der Gewöhnung widerstehen« (ebd., S. 176). »Es wäre ein Widerspruch in sich«, genauer: eine contradictio in adiecto, »zu glauben«, meint Briggs (ebd.), »daß ein mechanischer, wenn auch nicht nicht voraussagbarer Algorithmus diese außerordentlich komplizierte Aufgabe bewältigen könnte«. Wenn man – wie beispielsweise zwei Schweizer Wissenschaftler das versucht haben – »mathematische Extrakte« der Fugen von Johann Sebastian Bach in fraktaler Abwandlung wiederholte, dann würde letztlich »eine zwar interessante, aber doch leblose Bach-Imitation entstehen« – und keineswegs »Bach-ähnliche Musik von vergleichbarer Qualität«, wie die Kombinatorik-Komponisten behaupteten. Kurz und gut: Kreativität in ihrem eigentlichen Sinne ist nicht nur ein mechanischer Prozeß, nicht bloß Anwendung eines Algorithmus, wie etwa Roger Schank (1988) meinte. Künstler, so Briggs, »sind vor allem deshalb Künstler, weil sie die Fähigkeit besitzen, Reflektaphern hervorzubringen, die ihre Sichtweise einfangen« – die eben diese Art von Spannung erzeugen und auf Dauer aufrecht erhalten können: »Jedes große Kunstwerk ist eine Art von Mikrokosmos«, der sozusagen das Universum spiegelt, das größere Ganze aber nicht in einer exakten Abbildung isomorph wiedergibt, sondern eben in einer gewissen Grenzübertretung, und zwar nicht ganz systematisch-formal die Beziehung zwischen Ordnung und chaotischen Phänomenen reflektieren muß, in bestimmtem Sinne also die geheimnisvolle Struktur, »das mysteriöse Chaos und die Ordnung des Lebens, der Naturprozesse und Lebensphänomene« nichtidentisch wiedergibt, variierend reflektiert. Vielleicht könnte man besser sagen: »reflektaphiert« statt »reflektiert«, weil es ja nicht nur um bloße Reflektion im traditionellen Sinne geht, jedenfalls nicht im Sinne der Abspiegelung, Widerspiegelung. Eine solche Beinahe-Widerspiegelung ist keine Wiederspiegelung! »Die Selbstähnlichkeit der Reflektaphern ist
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viel reicher als die Selbstähnlichkeit mathematischer Fraktale; sie ermöglicht es jedem Künstler jeder Generation und jeder Kultur, einen einzigartigen Ansatz zu entwickeln« (Briggs 1993, S. 177). Earl MacCormac (1985, S. 42) hat manche umfassenden Überdehnungen der Sprachmetaphorik kritisiert, aber zugleich eine Ausdehnung metaphorischer Prozesse und Operationen auf das vorsprachliche Vorstellen und Denken durchgeführt, die von besonderer Bedeutung für das Verständnis kreativer Aktivitäten und Prozesse ist. Er behauptet, daß die Bildung und Verwendung von Metaphern als Prozeß aufgefaßt werden muß, der keineswegs nur auf der sprachlichen Ebene abläuft, sondern auf drei wechselseitig aufeinander bezogenen Ebenen: MacCormac unterscheidet Metaphern 1) als »Sprachprozeß«, 2) als »semantischen und syntaktischen Prozeß« (im Sinne einer linguistischen oder sprachwissenschaftlichen Erklärung) und besonders 3) als einen »kognitiven Prozeß, der in einen größeren Vorgang der Wissensentwicklung eingebettet ist«. Metaphernbildung wird also »nicht nur als ein semantischer Prozeß erklärt, sondern als ein zugrundeliegender kognitiver Prozeß, ohne den neues Wissen nicht möglich wäre«. Die Funktion der Metaphern besteht darin, daß sie eine Spannung zwischen den beiden Beziehungsgliedern, den »Referenten« der Metapher, erzeugen, also diaphorische Qualität aufzeigen, die zu einer neuen Vorstellung, zu einer überraschenden Gegenüberstellung, jedenfalls zu einer Spannung in Bezug auf das gewohnte Schema bzw. die Erwartung führt und unter Umständen emotionale Unruhe erzeugt. Diese Spannung entstehe eher aus »einer scheinbaren semantischen Anomalität … als aus rein emotionalem Unbehagen«: »Die psychologische Spannung entspringt einer semantischen Spannung« (MacCormac 1988, S. 85). MacCormacs Behauptung läuft darauf hinaus, daß Metaphern als Grundlage für die begrifflichen semantischen Anomalien durch die überraschende, mehr oder minder bewußte Gegenüberstellung der Beziehungsglieder (Referenten) erzeugt werden und daß »besonders die Identifizierung der Unähnlichkeiten die Möglichkeit der Umgestaltung (Transformation) dieser Unähnlichkeiten in Ähnlichkeiten gestattet, an die man zuvor nicht gedacht hat, wobei die Schaffung einer neuen Bedeutung etabliert wird« (MacCormac 1985, S. 50). »Kreativität liegt in der Auswahl geeigneter Referenten (= Bezugsglieder, H.L.), die genug Ähnlichkeit für das Wiedererkennen sowie ausreichende und die richtige Art von Unähnlichkeit produzieren, um eine (neue, H.L.) hypothetische Möglichkeit zu erzeugen« (ebd., S. 148). Das gilt sowohl für die Erzeugung neuer Metaphern und Perspektiven in allen kreativen Bereichen der Assoziation und Vorstellung wie auch für das Bilden neuer wissenschaftlicher Grundideen. Das Entscheidende ist, daß ohne Metaphern weder die kreative Bildung neuer wissenschaftlicher noch sonstiger Hypothesen und Vergleiche möglich wäre, daß semantische Veränderungen in der Sprache drastisch begrenzt wären, daß man »ohne irgendeinen Rückgriff auf die Metapher, das absichtliche begriffliche Bilden von semantischen Anomalien«, kaum »über das Unbekannte in Abhängigkeit vom Bekannten« (ebd., S. 51) spekulieren könnte und erkennend oder erfassend in den Bereich des Unbekannten ausgreifen könnte.
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Hoch kreative Menschen scheinen charakteristischerweise häufig Metaphern der Sprache und vor allem der Vorstellungen zu erzeugen, die auf kreative Tiefenprozesse zurückweisen. Generell scheint die Idee, daß metaphorische Prozesse die Grundlage kreativer Prozesse bilden und daß die Konzeption des Metaphorischen nicht nur auf die äußere Sprache bzw. die bloße syntaktisch-grammatische Gestalt beschränkt werden kann, zu greifen: Selbst wenn man nicht schlechthin Metaphern im engeren Sinne mit diesen kreativen Prozessen der multiassoziativen und tiefenpsychischen Prozesse identifizieren will, ist die Auffassung kreativer kognitiver wie auch Vergleiche schaffender Aktivitäten im Sinne der Verbindung gewöhnlich unassoziierter Begriffe durch Gegenüberstellung und Feststellung synthetisierender bzw. Ähnlichkeiten nachzeichnender Vergleichszüge, Eigenschaften, Erfahrungsweisen usw. offensichtlich notwendig zur dynamischen Entwicklung neuer Perspektiven in der kreativen Aktivität und Erkenntnis jeglicher Art. Statt des »metaphorischen Bewußtseins« des Jonathan Cohen könnte man spezifischer für kreative Menschen und Einstellungen geradezu von einem »kreataphorischen Bewußtsein« sprechen, einem Bewußtsein und einer lebendig-dynamischen Tendenz, stets neue spannungserzeugende Metaphern (Reflektaphern nach Briggs / Peat 1993) als Vehikel des Kreativen zu verwenden und zu sehen: Die ins Neue weiterführenden kreativen Metaphern sind kreative Reflektaphern und als solche eben Kreataphern, wie ich sagen möchte. (s. o.). Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, daß die Entwicklung und Verwendung kreativer Metaphern in der Tat ein erklärendes, zumindest plausibel metaphorisch illustrierendes Licht auf die Entstehung und den Ablauf kreativer Prozesse bzw. auf die Auffassungsweisen kreativer Personen, seien sie Denker oder Künstler, werfen kann. Daher erscheint mir in der Tat MacCormacs Ausdehnung der ursprünglich eigentlich nur sprachlich verstandenen Metapherntheorie auf eine allgemeinere Kreativitätstheorie des metaphorischen Vorstellens und Denkens richtig zu sein. Sie müßte jedoch auch auf das kreative Handeln ausgedehnt werden. Man sollte und könnte sie aber terminologisch von den enger linguistischen Konnotationen abtrennen, indem man etwa den Ausdruck »Metapher im engeren Sinne« im sprachlichen Bereich beläßt und in der allgemeineren Konzeption einer Theorie der kreativen Prozesse – und zwar nicht nur der kognitiven, sondern auch der handelnden, schaffenden: poietischen im weiteren Sinne – etwa von Kreataphern, d. h. dynamischen, weiterführenden kreativen Reflektaphern der Vorstellungen bzw. der Einbildungskraft (im Sinne Kants) spricht.
V. Spiele, Zufall und Kreataphern Das Spiel ist offensichtlich ein sehr umfassendes Phänomen im menschlichen Leben. Häufig wird die Idee auch so verallgemeinert, daß das Spiel fast zum umfassendsten Phänomen überhaupt wird. Das gilt z. T. selbst für Naturwissenschaftler: so haben etwa Manfred Eigen und Ruthild Winkler in ihrem Buch Das Spiel (1975, S. 17) geschrieben: »Das Spiel ist ein Naturphänomen, das von Anbeginn den Lauf der Welt gelenkt hat:
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die Gestaltung der Materie, ihre Organisation zu lebenden Strukturen wie auch das soziale Verhalten der Menschen« (i. O. kursiv). Eigen und Winkler meinen: »Zufall und Regel sind die Elemente des Spiels«; und es sei »nicht der Mensch, der das Spiel erfand«, wohl aber war er es, der »das Spiel, nur das Spiel« betreibe, um zum »vollständigen Menschen« zu werden. (Hier zitieren sie Schiller.) Wenn man das Erste behauptet, dann ist natürlich der Spielbegriff schon sehr weitgehend verallgemeinert worden; es sind dann gar nicht zwei oder mehrere Spieler, die gegeneinander spielen, sondern es handelt sich um ein prozessuales regelmäßiges, ja, unter Umständen durchaus im ebenfalls erweiterten Sinne, kreatives Sich-Entwickeln von Elementen in einem strukturierten Gesamtprozeß oder in einem komplexen Prozeßzusammenhang. Und das geht natürlich weit über das Spielen im üblichen Sinne hinaus. Selbst Huizinga, der die berühmte Monographie Homo ludens (dt. 1956) geschrieben hat und die Kultur als Tochter, als Abkömmling des Spiels ansah, und das Spielerische als das Grundlegende, bezog das Spiel natürlich nicht auf Naturkreationen und auf die Prozesse der Selbstorganisation in der Natur. Eigen und Winkler (1975, S. 88) aber meinen, daß alle Gestaltbildung in der Natur, in der anorganischen wie auch in der lebenden, organischen Natur, im Grunde diesem Spielprinzip folgt, wobei »Gestalt« »auf Ordnung in Raum und Zeit« beruhe. Sie unterscheiden im wesentlichen zwei Formen (ebd., S. 116, S. 89 ff., S. 110 ff.): nämlich erstens die konservative Form der Morphogenese oder das konservative energie- und kräfteerhaltende sowie durch Gleichheit der Kräfte und Nicht-Energieverbrauch nach außen charakterisierte Prinzip der Gestaltbildung – und zweitens, mit Prigogine, das dissipative Prinzip, bei dem immer Energie zugeführt werden muß, damit eine dynamische Ordnung entsteht. Diese Prinzipien sind unterschiedlich; doch insbesondere für lebendige Strukturen oder für Kreatives im engeren Sinne stehen die dissipativen Formen der Gestaltbildung im Vordergrund. Hier gibt es eine Art von Abstammung, eine Art von Übersummenhaftigkeit und Übertragbarkeit (»Transponierbarkeit«) – das sind ja die Prinzipien der Gestaltpsychologen in Bezug auf Gestaltkriterien –, die eine entscheidende Rolle spielen und vermittelt werden durch einen Energiefluß bzw. Stoffwechsel, der überhaupt erst diese dynamischen, relativ stabilisierten Ordnungszustände, wie sie für das Lebendige charakteristisch sind, ermöglicht. Auch die dissipativen Strukturen, insbesondere am Lebendigen, »resultieren« – sagen Eigen und Winkler (ebd., S. 118) – »in Form räumlicher Muster – ähnlich wie stehende Wellen – aus der Überlagerung von Materietransport und synchronisierter, periodischer Umwandlung und sind als solche nicht in additiver Weise aus den Unterstrukturen zusammensetzbar«; sie sind »übersummenhaft«, also nicht mehr linear. Gestaltbildung erfordert die »Kooperativität« der Entwicklung verschiedener Komponenten und ihrer »statistischen bzw. dynamischen Wechselwirkungen« und meistens, insbesondere natürlich im dissipativen Modell, auch autokatalytische Faktoren, die den Prozeß in Gang halten, verstärken und in gewisser Weise überhaupt erst ermöglichen. Es gibt eine Reihe von weiteren strukturellen Gemeinsamkeiten mit der konservativen Gestaltbildung, etwa beim Anorganischen und eben beim Dissipativen, aber auch die Unterschiede werden hervorgehoben. Diese sind hier nur kurz zu nennen: In einem dissipativen Modell »entwickelt sich ein stationäres Muster, ohne daß die Materieteilchen
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reproduzierbar im Raum fixiert sind«. »Die dissipative Form ist im Gegensatz zum konservativen Modell nicht allein durch die zwischen den materiellen Trägern wirksamen Wechselwirkungen bestimmt, sondern wird entscheidend von Randbedingungen, Begrenzungen des Systems beeinflußt«, steht stets in Wechselwirkungen mit bzw. ist von anderen Umgebungssystemen abhängig usw. Dann das Entscheidende: eine ständige Zufuhr von Energie ist nötig, die die Energieverluste durch »die ständige Dissipation von Energie« ausgleicht, welche zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels des Systems, seines »Metabolismus«, und auch der relativ stabilisierten Formen der Gestalten notwendig sind. – Zwar »verfügen« »konservative Strukturen … über einen höheren Grad an ›absoluter‹ (das heißt von Nebenbedingungen unabhängiger) Stabilität, Reversibilität und Superponierbarkeit«, also Überlagerbarkeit, aber »dissipative Muster können wegen ihrer Abhängigkeit von den Nebenbedingungen nicht unbeschränkt kombiniert bzw. einander überlagert werden« (ebd., S. 119). Mit anderen Worten: es ist also ein Muster, das geordnete, lebendige Strukturen in ihrer Entwicklungs- und Erhaltungsdynamik und in der relativen Stabilisierung ihrer Formen als eine Art von Spiel zu erfassen sucht, insbesondere auch im zeitlichen Ablauf, z. B. in der Generationen- und Artenbildung, deren Abwechslung und Veränderung usw. Es ist eine Art von natürlichem »Spiel« mit einfachen Grundelementen, die dann unter bestimmten Gesichtspunkten selektiert werden, im Darwinismus, aber nach Eigen auch schon auf der elementaren molekularen und prämolekularen Ebene. Symmetrie spielt dabei stets eine große Rolle; diese ist allerdings auch erst ein nachträgliches Produkt der Selektion und keineswegs von dieser vorausgesetzt. Das Gleiche gilt freilich (ebd., S. 151) für »viele symmetrische Strukturen in der Biologie«, die »ihren Vorteil effizienter zur Bildung zur Geltung bringen konnten«, weil sie sozusagen als symmetrische »die Selektionskonkurrenz gewannen« oder Symmetrie ausbildeten. Die Funktionalität ist also das Entscheidende und nicht die zugrunde gelegte Symmetrie. Diese These gilt sicherlich nicht gleichermaßen für die rein physikalische Grundlage der Weltformierung. Bei den Elementarteilchen dürfte sich die Sachlage anders darstellen. Von Eigen und Winkler wird also eine Idee eingebracht, die das »Spiel« in einem sehr erweiterten Sinne als das Grundprinzip der Kreation von lebendigen Formen ansieht – fast in dem Goethischen Sinne: »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«: spielerische Kreationen als Produkte des Selektionsprinzips auf einer sehr verallgemeinerten Stufe. Meines Erachtens muß man hier aber differenzierte Unterscheidungen vornehmen. Das Spiel zwischen unmittelbaren, bewußten menschlichen oder auch höheren tierischen Partnern ist etwas Anderes als dieses »Spiel« der Elemente in einem dissipativen, dynamischen System. Entsprechend steht es mit der Kreation als Selektion – und auch mit dem Begriff der Kreativität. Darauf komme ich noch zu sprechen. Beim Darwinismus, bei der Darwinschen Selektion handelt es sich ja um eine Reproduktion und bei den Arten, wie Darwin sagte, um »descent with modification by natural selection«, also um Abstammung mit Abänderung durch natürliche »Zuchtwahl« oder Auswahl, eben um Selektion im spezifisch naturbiologischen Sinne. Dabei tritt die Variation oder Modifikation jeweils zufällig ein – man kann wohl kaum wirklich sagen, daß sie vom
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Zufall »gesteuert« wird; und deswegen könnte man hier auch eher von »Zufallsselektion«, von »random modification« o. ä. sprechen. Dem gegenüber steht aber dann eine intentional-produktive strategische Kreation, die beispielsweise dem üblichen Begriff der »Kreativität« viel eher entspricht. Dabei findet nicht eine »selection with random modification« statt, sondern eine »election with strategic modification«, also eine Auswahl unter strategisch geplanten, intentionalen Variationen. Und diese Variantenerzeugung ist natürlich viel eher charakteristisch für die künstlerische Kreativität. Deswegen sollte man meiner Ansicht nach idealtypisch zwischen der Zufallskreativität im darwinistischen Sinne und einer Designer- oder Designkreativität unter diesen strategiegeleiteten Gesichtspunkten unterscheiden. Ich denke, es ist recht wichtig, die beiden Formen auseinanderzuhalten. Kreativspiele, im Sinne des creare, des Kreierens, Etwas-Neues-Schaffens (nicht nur des Erkennens), sind nicht in Caillois’ berühmter Aufstellung der Spielarten (1958, dt. 1982) zu finden. Gerade das eigentlich Kreative, auch übrigens die Kreativspiele der Einbildungskraft à la Kant, ist hier nicht zu finden. Die Kreativspiele6 müßten also mit einem anderen Merkmal charakterisiert werden: »creativitas« ist allerdings kein klassischer Ausdruck im Lateinischen, sondern höchstens ein neuklassischer. »Creans«, das Kreierende, könnte man anführen – und das ist natürlich zu unterscheiden von dem, was geschaffen ist, dem creatum (Whitehead). Das Spiel ist offensichtlich ein sehr umfassendes Phänomen im menschlichen Leben. Häufig wird die Idee auch so verallgemeinert, daß das Spiel fast zum umfassendsten kreativen Phänomen überhaupt wird. Das gilt z. T. selbst für Naturwissenschaftler und technische Erfinder bzw. z. T. Entwickler. Es handelt sich auch bei den Kreativspielen mit Metaphern, und zwar bei sog. kreativen kreativen (MacCormac) oder reflektatorischen (Briggs / Peat) Metaphern um Kreataphern. Man könnte sogar so weit gehen, daß man den Menschen selber als mit einem »kreataphorischen Bewußtsein« versehen ansieht, also den Menschen als das Wesen versteht, das fähig ist, Kreataphern zu schaffen: das »kreataphorisierende« Wesen. Das metainterpretierende Wesen ist das kreative, das Kreataphern-Wesen.
Sind etwa Wittgensteinsche »Sprachspiele« oder Spiele der Schematisierung, wie wir sie uns gleichsam in unseren Vorstellungen machen, also Schemaspiele, wie ich (1995) das in Verallgemeinerung der Wittgensteinschen Sprachspielkonzeption nenne, Kreativspiele? Oder repräsentieren sie wiederum eine weitere Form? Sie müssen ja nicht unbedingt kreativ, sondern können in der Regel äußerst konventionell sein. Wittgenstein sagt ja bekanntlich von seinem Ausdruck des »Spiels« (Philosophische Untersuchungen, § 71), daß dieser ein sehr vager Ausdruck sei, der offene Begrenzungen, verschwommene Ränder hat. Man kann sehr »vieles« als »Spiel« bezeichnen – und es gibt keinen einheitlichen, durchgehenden Zug, meint Wittgenstein (ebd.). Das Spiel an und mit den Grenzen des Chaos, der chaotischen Phänomene fehlt ebenfalls. Z. B. gerade auch angesichts der Diskussion darüber, ob fraktale Computergrafiken ästhetischen Wert haben, ob sie Kunst darstellen oder ob sich große Kunst fraktal- und chaostheoretisch (vollständig) erfassen läßt. »Chaosspiele« oder »Selbstorganisationsspiele« in diesem Sinne, Spiele an den Grenzen des Chaotischen, gehören vielleicht zu den Ordnungsspielen, sicherlich zählen sie aber nicht zum »Wettkampf«, zu den »Zufallsspielen«, zur mimicry oder zum Rauschhaften; also auch das Spielen am Rande des Chaos oder mit den Übergängen zum Chaos oder aus dem Chaos müßte man eigentlich noch als eine eigene Spielart anfügen. 6
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VI. Kreatives Philosophieren Auch philosophisches Re-flektieren ist stets auf neue Sichtweisen und Auffassungsebenen angewiesen, ist in diesem Sinne kreativ. Philosophieren ist nicht nur Widerspiegeln (im Sinne eines passiven Reflektierens), nicht nur Wiedergeben oder Abbilden von Vorgegebenem, sondern Philosophieren ist interpretierend, Perspektiven wandelnd aktiv, neue Sichtweisen und Grenz- wie Schichtenüberschreitungen schaffend. Wirkliches Philosophieren ist kreativ, kreatives schichten- und grenzenübersteigendes Interpretieren und begriffliches Entwerfen. Philosophieren als transzendierendes Interpretieren sollte kreativ sein. Philosophieren ist also in der Tat kreatives transzendierendes Interpretieren, Transinterpretieren und Metainterpretieren. Ähnlich wie in anderen kreativen Bereichen und bei anderen kreativen Wagnissen ist auch der Philosophierende auf kreative Entwürfe, auf kreative Aktivität und kreative Akte angewiesen. Wir sollten generell die letzte Anregung von meinem kürzlich 1o1jährig verstorbenen Freund und Whitehead-Schüler Paul Weiss (Creative Ventures, 1992) aufnehmen und nach einem charakteristischen »einzigartigen« kreativen Impuls, der sich in jeglicher kreativen Aktivität verkörpert, suchen – weit über die traditionell üblichen Bereiche des kreativen Schaffens (wie die Künste) hinaus. Der kreative Grundimpuls kann natürlich nur als Interpretationskonstrukt (Verf. 1993; 1995; 2000) erfaßt und wohl nicht als ontologische Wirkentität an sich perspektivenfrei beschrieben werden. Es gilt, eine kreative Philosophie der Kreativität zu entwickeln, die modernen methodologischen Gesichtspunkten Rechnung trägt, wie z. B. jenem von der konstruktiv-interpretatorischen Verfassung aller Erkenntnisse und Handlungsstrukturierungen, also aller »Erfassungen« (vgl. Verf. 1993; 1993a; 1995; 2000). Als Anregungs- und Ausgangspunkt kann man auch die darwinistische Evolutionsmetapher nehmen (Rechenberg) und diese mit Schichtenüberschreitungen und symbolischen Meta-Interpretationen verbinden. Es gibt offensichtlich sogar eine Strukturierungstendenz im Universum, wo sich Selbstorganisationsprozesse zu bestimmten Systemen mit emergenten Eigenschaften zusammenfinden, welche die Grundlage aller Struktur- und Formenbildungen sind, die auf Prozessen der Interaktionen und Entwicklungen sowie Zufallsbegegnungen und Einsprengseln beruhen. So weit kann in der Tat Whiteheads Grundmuster – etwa in quasi darwinistischer Perspektive gesehen – durchaus aufrechterhalten werden, ohne daß hierfür bereits Kreativität in Anspruch genommen werden muß. Kreativität i. e. S. würde erst dann – so der terminologische Vorschlag – gegeben sein, wenn nicht nur eine gewisse zielgerichtete Aktivität von einem Kreator aufgenommen und durchgeführt, sondern wenn eben auch grundsätzlich Neues, eventuell nicht final Angestrebtes, im Sinne der prospektiven Exzellenzfaktoren und vor allem des Originalitätsprinzips Wirkendes (wie bei Weiss impliziert), involviert ist. Insofern ist Kreativität in der Tat eine Sache der creative ventures (kreativer Wagnisse). Es geht aber nicht nur um das Ausleben eines Kreativitätsimpulses, eines Schaffensdranges in Werken, sondern auch um begriffliche Entwicklungen wie Theorien, neue Perspektiven, Ansätze. Last but not least können,
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sollten auch philosophische Entwürfe kreativ sein. Kreativität ist auch hier besonders wichtig – zumal im Überschreiten von Grenzen und Schichten oder Perspektiven. Das Kreative der Philosophie besteht im transzendierenden Metainterpretieren, wie oben betont. Gerade das Schichtenüberschreiten ist nur durch Symbolisierung und Metaphernbildung bzw. -abwandlung möglich. Die ebenfalls behandelten Kreataphern (als die Spannung erhaltende, stets weiter anregende, eben »kreative« Metaphern) sind Brennpunkte und Aktionszentren der kreativen Prozesse und Akte. Kreativität ist dabei nicht nur durch Neuigkeit, eventuell (aber nicht immer) Zielorientierung, (prospektives) Exzellieren und Originalität gekennzeichnet, sondern auch durch eine ständige exploratorische Aktivität des Dynamisch-Neugierigseins. (Und dies gilt besonders auch für kreative Philosophen, die ständig weiterdenken, stets neue und mehr Probleme sehen und finden, als sie je lösen können, tiefere Fragen und Perspektiven eröffnen und zu höheren Interpretationsschichten bzw. Verallgemeinerungen aufsteigen.) Der Mensch als das metainterpretierende, ständig symbolisch transzendierende Wesen ist das kreative Wesen par excellence. Menschliche Kreativität ist per se semper creans. Ausdrücke wie ›kreative Wagnisse‹ (Weiss 1992) und ›kreative Aufstiege‹ (Verf. 2000) zeigen dies. Nur der Mensch ist in der Lage, Stufen, Schichten, Perspektiven immer wieder zu übersteigen. Dieser Drang, immer weiter zu schaffen, immer weiter Grenzen und Schichten symbolisch zu transzendieren, ist gerade für das Kreativsein charakteristisch, wie wir einsahen. Menschsein ist nur möglich, wenn man über Versteinerungen hinaus in ständiger Kreativität lebt oder diese übt, in der Lage ist, kreative Metaphern und Reflektaphern zu schaffen und zu verwenden. Der Mensch ist also, wie erwähnt, das Kreataphern schaffende Wesen, man könnte fast von einem Homo crea(ta)phoricus sprechen, statt von einem Homo metaphoricus, wie es ansatzweise MacCormac tut. Kreativität ist das ständige Weiterschaffen, das Sich-selbst-Überholen der Kreataphern, die Fähigkeit und der Antrieb, über das ständige Risiko des Absterbens der Lebendigkeit von Metaphern und Reflektaphern hinauszugehen, indem man das Kreativspiel weiterspielt. Homo semper creans, semper creativus – Homo multicreans, metacreans. Das Gesagte gilt natürlich insgesamt nicht nur für die Entwicklung neuer Ideen in Wissenschaft und Technik, sondern weit darüber hinaus auch für Aspekte der künstlerischen Schaffensprozesse bzw. Inspiration, aber auch für die Anregungen und Techniken in literarischen und geisteswissenschaftlichen Bereichen, ja, ebenfalls der philosophischen Inspiration und Ideenentwicklung sowie -anregung. Schließlich profitiert auch das geisteswissenschaftliche und philosophische Denken heutzutage in erster Linie von fächerübergreifender, multidimensionaler Einbettung und Anregung: Nur so kann auch das Philosophieren – seiner alten Tradition angemessen – ein schöpferischer und innovatorischer Prozeß des eigenen Denkens, der fruchtbaren Weiterentwicklung und Variation eingeschlagener Richtungen, aber auch des Überspringens auf neue Ebenen, Lösungsgestalten, Grundprinzipien sein und bleiben.
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Innovationskulturen: Bedingungen technischer Kreativität Bernhard Irrgang (Dresden)
Kreativität hat sich nie zu einem wissenschaftlichen Begriff präzisieren lassen. Er kann für die Beschreibung von Personen, Handlungen und Ergebnissen einer Handlung herangezogen werden und bezieht sich auf Begriffe wie den schöpferischen Geist, Phantasie, Begabung, Originalität, Inspiration, Erfindung und künstlerisches Schaffen. Allerdings gibt es Probleme mit dem Messen und Interpretieren von Kreativität. Häufig werden eine Kombination von Vermögen und Kompetenzen oder dispositioneller Merkmale herangezogen und Vergleiche mit der Intelligenz angestellt.1 All dies gilt auch für die Beschreibung und Analyse technischer Kreativität. Dabei wurde lange technische Kreativität für technische Erfindungen reklamiert und so dem (erfinderischen) Ingenieur die zentrale Rolle bei der Zuschreibung technischer Kreativität zugebilligt. Aber schon Aristoteles unterscheidet technisches Handeln (1) als Gebrauch technischer Mittel und Produkte, wie der Steuermann das Steuerruder braucht, und (2) technisches Handeln des Schiffbauers, der das Steuerruder herstellt. Damit unterscheidet Aristoteles die Konstruktion eines technischen Hilfsmittels von seinem Gebrauch und stellt fest, daß ein geübtes Gebrauchswissen keinesfalls ein Konstruktionswissen voraussetzt. Den für uns interessanten Fall, ob ein Konstruktionswissen zumindest ein gewisses Wissen von dem späteren Gebrauch voraussetzt, diskutiert Aristoteles nicht. Allerdings ist es für seine Zeit nicht unplausibel zu unterstellen, daß Konstruktions- und Gebrauchswissen nicht auseinanderfallen, weil Konstruktion und Gebrauch rückgekoppelt sind. Aus kulturtheoretischer Sicht sind technische Produkte Teil eines komplexen Systems von Beziehungen und Bedeutungen, Momente sozialkultureller Konstruktion von Realität und deren Bedeutung. Versteht man unter Kultur in Anlehnung an Clifford Geertz ein geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen, vermittelt über gesellschaftliche Interaktion, so lassen sich technische Produkte als materiell objektivierter Teil von Kultur fassen. Die Bedeutung technischer Artefakte erschöpft sich nicht in ihrem Nutzen. Der soziale Gebrauch von Produkten ist weder aus ihren Eigenschaften erschließbar oder nur einfach aus der Gebrauchsanleitung abzulesen. Die Unterscheidungen von Nützlichem und Überflüssigem, Natürlichem und Künstlichem ist das Resultat kulturell generierter Selektionen.2
W. Matthäus: Art. Kreativität, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1194–1199. 2 Vgl. Bernhard Irrgang: Technische Kultur. Instrumentelles Verstehen und technisches Handeln (Philosophie der Technik Bd. 1), Paderborn 2001. 1
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(1) Innovation und kulturelle Einbettung Innovation meint die Verbesserung der alten und die Entwicklung von neuen Fähigkeiten von Menschen und ihrer gesellschaftlichen Organisation. Technologische Innovation bedeutet Wachstum in der Macht der menschlichen Technologie, neue und verbesserte Produkte und Dienstleistungen zu etablieren. Die Wirkungen technologischer Innovation auf den Menschen und seine Umgebung waren sowohl gut und nützlich wie zerstörerisch. Seine anwachsenden Fähigkeiten, Energietechnologien zu etablieren und Transporte zu leisten, befreiten den Menschen von den begrenzten Kräften der Muskeln von Tieren. Aber dieselben Technologien haben genauso seine Luft, sein Wasser und seinen Boden vergiftet. Der Gebrauch des Menschen von technologischer Innovation, um seine physikalische Umwelt zu bewältigen, hat zu einer sich sehr schnell ändernden Welt und zu einem anwachsenden Komplex von sozialen und physikalischen Eigenschaften geführt. Innovation ist ein in sich verknüpfter Prozeß, in dem viele und hinreichend kreative Handlungen, von der Forschung über Dienstleistung, untereinander verbunden, in einer integrierten Weise zur Realisierung eines gemeinsamen Zieles dienen. Der Innovationsprozeß ist nicht nur technische Entwicklung, sondern muß eine wohlverstandene soziale Unternehmung sein. Technologische Innovation ist der Prozeß der Wahrnehmung oder Erzeugung eines relevanten Wissens und dessen Transformation in neue und bewährte Produkte und Dienstleistungen, für die Menschen bereit sind zu zahlen.3 Innovation meint also insbesondere den ökonomischen und sozialen Wandel. Zahlreiche Fallstudien zu technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen haben einzelne Erfindungen, Industriezweige, die Geschichte von Unternehmen und Erfinder- bzw. Unternehmerbiografien zum Gegenstand gehabt. Gemeinsam ist diesen Fallstudien die Beschränkung auf kleine Sektoren der Technik. Es kam zum Postulat einer ökonomischen Determinierung der technischen Entwicklung. Außerdem wurden Niveauunterschiede zwischen Hersteller- und Verwenderwissen postuliert. Das weithin punktuelle Vorgehen bei der Analyse der technischen Entwicklung hat zu unzureichender Theoriebildung geführt, weil man versuchte, technische Entwicklung allein mit ökonomischen Kategorien zu beschreiben.4 Zu unterscheiden sind Großinnovationen, die das Paradigma verändern und ganz neue Formen des technischen Handels eröffnen, von Kleininnovationen, die sich aus der Umgangsstruktur technischen Handelns ergeben. Das Umgangswissen resultiert aus einem kontingenzdurchgriffenen Prozeß der Übertragungen und Analogiebildungen. Das Umgangswissen ist abhängig von einem Technikstil und damit auch die Innovationsfreudigkeit einer technischen Routine. Interpretationsmuster werden dabei zu einem zentralen Teil innovativen Verhaltens. In der traditionellen ingenieurmäßigen Ideologie folgte der Erfinder einem Grundmuster linearer Folgerichtigkeit, wodurch
Jack A. Morton: Organizing for innovation. A Systems Approach to Technical Management, New York u. a. 1971, S. 1–4. 4 Werner Pfeiffer: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung als Grundlage einer Planung und Prognose des technischen Fortschritts, Göttingen 1971, S. 23–29. 3
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Innovationen planbar und berechenbar waren. Bei dem Versuch einer Anwendung von Kuhns Modell der Wissenschaftsentwicklung auf die Technologieentwicklung ergeben sich andere Ergebnisse. Dazu muß die Alltagspraxis einer technologischen Gemeinschaft wie ihre Anomalien hinsichtlich der Technikverwendung untersucht werden. Die Anomalien sind dabei funktionale Fehler oder das Misslingen technischen Handelns. Technologische Revolutionen sind Veränderungen von jeweils traditionell herrschenden technischen Paradigmen, die eine neue Tradition ins Leben rufen.5 Kognitiver Wandel in der Technologie ist das Ergebnis von überlegten Problemlösungsaktivitäten der Mitglieder von relativ kleinen Gemeinschaften technisch Handelnder. In allen Fällen handelt es sich um Formen technischer Kreativität, in denen technische Kompetenz zu Lösungsstrategien führt.
(2) Technische Entwicklungspfade Die Grundpfeiler der Technologie sind Ideen. Und Technologie ist beides, ein privates und ein öffentliches Gut. Technologischer Wandel ist sowohl sozial konstruiert wie politisch und ökonomisch. Auch dafür bedarf es der Leitbilder wie sozialer Verantwortlichkeit6 und Nachhaltigkeit.7 Die Ausrichtung und Zuspitzung des technologischen Wandels geschieht durch die Umgebung, Ressourcenanforderungen, durch Regierungsaktivitäten, durch nationale wie lokale Politik, durch Klassen- und Gruppenzugehörigkeiten, durch die Steuerpolitik und Investitionsprioritäten von Regierung und Unternehmen, unterstützt von öffentlichen und privaten Quellen und ausgerichtet an den Präferenzen der Konsumenten.8 Invention, Innovation und Entwicklung sowie der Transfer von Technologie sind die Hauptvektoren technologischen Wandels und diese Agieren untereinander und folgen nicht einer gesetzesähnlichen Regel. Technologischer Wandel ist ein kontinuierlicher und kumulativer Prozeß, eine problemlösende Aktivität und eingebettet wie ausgerichtet durch soziale Interessen und Kräfte.9 Traditionell wurde zwischen Entdeckung naturwissenschaftlicher Gesetze und Erfindung technischer Artefakte unterschieden. Als charakteristisch für die Erfindung galt die materiale Verwirklichung einer Idee, die gewerbliche Nutzung und die Patentierbarkeit. In beiden Fällen handelt es sich um technische Kreativität, denn auch naturwissenschaftliches Wissen wird heute im Laboratorium technisch erzeugt und in vielfacher Form gewerblich genutzt. In der Praxis wurden wissenschaftliche Forschung Rachel Laudan (Hg.): The Nature of Technological Knowledge. Are Models of Scientific Change Relevant?, Dordrecht u. a. 1984, S. 51–53. 6 Vgl. Bernhard Irrgang: Technischer Fortschritt. Legitimitätsprobleme innovativer Technik (Philosophie der Technik Bd. 3), Paderborn 2002. 7 Vgl. Bernhard Irrgang: Natur als Ressource, Konsumgesellschaft und Langzeitverantwortung. Zur Philosophie nachhaltiger Entwicklung (Technikhermeneutik Bd. 2), Dresden 2002. 8 Govindan Parayil: Conceptualising Technological Change. Theoretical and empirical Explorations, Lauhan 1999, S. 171–176. 9 Ebd., S. 177–184. 5
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und technologische Entwicklung immer mehr miteinander verflochten und sind in der technologisierten Forschung nur noch theoretisch im Hinblick auf ihre Handlungsziele zu unterscheiden. Traditionen und technische Routinen sind eher beharrend. Dies ändert sich jedoch in Zeiten verstärkten Wertewandels. Erfindung, Akkumulation, Austausch und Anpassung sind die treibenden Faktoren technischer Entwicklung. Die Übernahme bzw. Imitation ist jedoch noch viel mehr eine Quelle von Erfindungen und damit von technischer Kreativität. Innovationen können auf dreifache Weise zustande kommen: Als originale Entdeckung, durch Übernahme und durch Anpassung an andere Umgebungen. Diese Anpassungen geschehen nicht sofort, sondern mit einer gewissen Verzögerung. Anpassung in diesem Sinne kann sehr schwierig sein und die Bildung völlig neuer gesellschaftlicher Institutionen erfordern, sie kann auch zu völliger Desorganisation führen.10 Es sind nur ganz wenige Erfindungen, die sich sehr schnell weltweit durchgesetzt haben. Sie betreffen nicht selten Kommunikationsstrukturen wie das Telefon, den Rundfunk und Fernsehen, Multimedia und das Internet, die zu den spezifischen Kulturtechniken gehören. Im Hinblick auf die Bestandteile innovativer Prozesse, Innovationstrends und ihre Determinanten gibt es die Nachfragesogtheorie und die technologische Anstoßtheorie bzw. Theorien des Angebotsdruckes. Marktkräfte wurden als die Hauptdeterminanten technologischen Wandels angesehen. Dabei gingen Nachfragetheorien vom Bedürfnis bzw. Konsumenten oder Nutzer von Nützlichkeitsfunktionen aus. Gemäß diesen Theorien konnte man a priori wissen, ob eine Innovation Erfolg haben wird oder nicht. Der Angebotsdruck unterstellt ebenfalls den Markt als Determinante für Innovationen. Beide Theorien können aber den Zeitplan von Innovationen nicht erklären. Insgesamt sollte eine eindimensionale Konzeption einer Verknüpfung von Wissenschaft, Technologie und Produktion vermieden werden. Zu berücksichtigen sind bei der Erklärung innovativer Effekte die anwachsende Rolle des wissenschaftlichen Inputs, die anwachsende Komplexität von F. u. E., eine signifikante Korrelation zwischen F. u. E.-Anstrengungen und innovativen Ergebnissen, die Bedeutsamkeit eines Lernens durch Tun, die anwachsende institutionelle Formalisierung von Forschung, kulturelle und staatliche Einbettungsfaktoren (z. B. das Recht), die institutionellen und internationalen Rahmenbedingungen sowie der Ausbildungsstand der Mitarbeiter wie der Konsumenten. Die Diffusion selbst ist als innovativer Prozeß anzusehen. Es gibt eine Diffusion von Innovationen zwischen den Unternehmen selbst und eine Diffusion in der Nachfrage von technologischen Produkten. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Fortschritt entlang einer technologisch definierten Linie. Hinzu kommen die endogenen Mechanismen des Wettbewerbes, die ebenfalls Innovation und die technologische Vernetzung verschiedener Sektoren befördern.11 Der Zusammenhang von technologischen Niveaus
William F. Ogburn: Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften, hg. von O. D. Duncan, Neuwied, Berlin 1969, S. 60–67. 11 Giovanni A. Dosi: Technical Change and Industrial Transformation. The Theory and an Application to the Semiconductor Industry, Houndsmills 1984, S. 285–287. 10
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Kolloquium 6 · Bernhard Irrgang
und von technologischen Entwicklungspfaden ist hervorzuheben. Nur im Rahmen von technischen Entwicklungspfaden lassen sich technische Niveaus und technologische Lücken definieren. Bei allen strukturellen Theorien der Beschreibung von Rahmenbedingungen von Innovationen wurden aber bislang kulturelle Faktoren nahezu vollständig übersehen. Dabei spielen sie bei der Formulierung technologischer Kompetenzen sowohl im Herstellungs- wie im Anwendungsbereich eine ganz zentrale Rolle.12 Hier liegt ein neues Aufgabenfeld für die Technikphilosophie. Im Unterschied zur Situation in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, in der der Konsens über ein neues Paradigma im wesentlichen nur zwischen den Fachleuten des betreffenden Wissenschaftsgebietes erforderlich ist, kann sich ein neues technologisches Paradigma erst herausbilden, wenn der Konsens auch die Anwender mit einschließt, wenn also ein doppelter Konsens bei Paradigma und Leitbild erfolgt.13 Die Bell‘sche Vision vom Telefon sowie die Durchsetzung des Telefonparadigmas und des Telefonleitbildes eines »universal Service« waren nicht das Ergebnis eines Wettbewerbsprozesses, sondern das Ergebnis eines vereinbarten und gesetzten Telefon-Standards, der Voraussetzung für die Realisierung eines umfassenden Netzes war. Dazu waren Standardisierungsprozesse erforderlich.14 Andere Faktoren, die die technologische Wandlungsrate einer Industrie beeinflussen, sind rechtliche Rahmenbedingungen, insbesondere das Patentwesen, die gesellschaftliche Grundhaltung gegenüber technologischem Wandel, die Motivation der Arbeiter und die Art und Weise, in der Firmen und die Industrie sich organisieren und ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilung managen, die Aktivitäten relevanter Regierungsabteilungen und der Charakter der Forschungs- und Entwicklungsart, die an Universitäten oder in anderen Forschungseinrichtungen betrieben werden. Forschung ist ursprünglich ausgerichtet auf die Entdeckung neuen wissenschaftlichen Wissens und der Initiierung von Entwicklung. Dabei ist ein Motor für die technische Entwicklung der Umgang mit nicht routinemäßig auftretenden Problemen, die bei der Übersetzung von Forschungsergebnissen in den Produktionsprozeß vorgenommen werden. Obwohl noch nicht klar die Linie zwischen Forschung und Entwicklung gezogen werden kann, läßt sich sagen, daß sie ohne Zweifel dasselbe beinhalten.15 Die Theorien technologischer Lücken heben die Asymmetrien zwischen verschiedenen Firmen hervor, die hervorgerufen werden durch die unterschiedlichen Fähigkeiten im Hervorbringen und in der Kommerzialisierung von Innovationen. Die Lücke zwischen der ersten absolut innovativen Einführung eines neuen Produktes und der ersten Imitation definiert diese technologische Lücke. Sie wird bestimmt durch Diffusionsraten. Ein Faktor hierbei ist die Elastizität der Marktnachfrage. Das in einer spezifischen
Vgl. Irrgang: Technische Kultur, a. a. O. Josef Esser u. a. (Hg.): Soziale Schließung im Prozeß der Technologieentwicklung. Leitbild, Paradigma, Standard, Frankfurt, New York 1998, S. 27 f. 14 Ebd., S. 30–32. 15 Edwin Mansfield: Industrial research and technological innovation. An econometric analysis, New York 1968, S. 6 f. 12 13
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Technologie führende Land ist hier ebenfalls wichtig. Der Lebenszyklus eines technischen Produktes ist sehr kurz, die Rate des technologischen Wandels sehr hoch. Dies beschleunigt Asymmetrien zwischen den Firmen. Es gibt aber auch internationale technologische Asymmetrien. Niedrige Lohnkosten und günstige Wechselkurse ermöglichen es Schwellenländern unter bestimmten Bedingungen, die Differenzen der Produktivität zu kompensieren im Hinblick auf die führenden Länder und ihrer Unternehmen. Die Rolle technologischer Führer ist durch eine Reihe von Rahmenbedingungen bestimmt. Es gibt einige Produkte, die nur der technologisch Führende produzieren kann. In diesem Falle sind die Unterschiede in einzelnen Ländern irrelevant. Dies führt zu einer internationalen Spezialisierung und Arbeitsteilung. Für Länder mit unterschiedlichen technologischem Level empfiehlt sich oft eine kreative Imitation. Länderspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten, der Ausbildungsstand, regionale Besonderheiten und die Lohnhöhe, dies alles beschreibt nationale Marktspezifitäten, die eine zentrale Rolle spielen bei der Erzielung bzw. Durchsetzung von Innovationen. Dies alles erzeugt strukturelle Bedingungen, unter denen Unternehmen agieren.16 Dabei entsteht die Frage, ob Technologietransfer auch Kulturtransfer impliziert.17 Das Konzept der Pfadabhängigkeit und die neue positive Rückkoppelungsökonomie wurde von Brian Arthur 1990 formuliert. Mit Hilfe dieser Theorie läßt sich Technologietransfer anders als vorher erklären. Gemäß diesem Modell läßt sich nicht hundertprozentig vorhersagen, welche Technologie erfolgreich transferiert wird und welche der Innovationen sich letztendlich am Markt durchsetzen werden. Es hängt in gewisser Weise mit der Anzahl von Nutzern zusammen, die in einer gewissen Zeitspanne gewonnen werden können.18 In einer ganzen Reihe von Fällen setzt sich auch keineswegs das technisch ausgereiftere oder gar technisch bessere Konzept durch. Vielmehr setzten sich Systeme durch, für deren gesellschaftliche Akzeptanz mehr investiert worden ist. Es genügt eben heute nicht mehr, nur noch Technologien zu entwickeln und sie anzubieten, sondern es müssen gewisse Entwicklungs-, Transfer- und Nutzerpfade angeboten werden, damit sich eine bestimmte neue Technologie vor dem Hintergrund bereits eingeführter Standards und angesichts der Notwendigkeit, neue Umgangsformen und neue Standards lernen bzw. vorgeben oder vormachen zu müssen, mit einkalkulieren.19
(3) Nationale Innovations-Systeme In der Zwischenzeit haben induzierte Innovationsmodelle eine stärkere Beachtung gefunden. Rahmenbedingungen haben Metaproduktionsfunktionen. Für die Vertreter der exogenen Variablen ist technologischer Wandel abhängig von ökonomischen Kräften. Dosi: a. a. O., S. 218–276. Vgl. Bernhard Irrgang: Technologietransfer transkulturell. Komparative Hermeneutik von Technik in Europa, Indien und China, Frankfurt u. a. 2006. 18 Esser: a. a. O., S. 136. 19 Ebd., S. 148; vgl. Bernhard Irrgang: Technische Praxis. Gestaltungsperspektiven technischer Entwicklung (Philosophie der Technik Bd. 2), Paderborn 2002. 16 17
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Die Nachfrage determiniert die Innovationsrate. Lange Zeit beschränkte sich die Behandlung des Themas auf eine Erfindergeschichte. Die Rate aber, mit der neue Technologien angenommen werden, in den Produktionsprozeß eingebettet und angepaßt werden, ist jedoch ganz wichtig. Die Produktivität und anwachsende Effekte höherer Technologien hängen ab von ihrem Gebrauch an geeigneten Plätzen. Die Diffusion von Technik und der technische Entwicklungsstand korrespondieren. Die kumulative Auswirkung von unzähligen technologischen Verbesserungen, Modifikationen und Adaptationen beeinflussen die Art und Weise der Annahme und Einbettung einer Innovation.20 Die Verknüpfung zwischen Verkäufern und Käufern führt zu einer gewissen Spezialisierung und Standardisierung sowie zur Reorganisation und zur Verknüpfung von Innovationen. Nationale Innovationssysteme haben unterschiedliche nationale Innovations- und Verknüpfungsgeschwindigkeiten.21 Innovationen werden heute nicht allein oder von einzelnen Firmen erzielt. Wenn wir den Prozeß der Innovation beschreiben, verstehen, erklären und möglicherweise auch beeinflussen wollen, müssen wir alle wichtigen Faktoren erfassen, die Innovationen gestalten und beeinflussen. Es geht um die Struktur und die Dynamik solcher Systeme, »Nationales System der Innovation« (NIS) genannt. Dieser Forschungsansatz wurde Ende der 80er von einigen Ökonomen in der USA entworfen und in den 90ern weiterentwickelt und vertritt eine Theorie der Innovation als interaktiven Lernens im Rahmen eines technologischen Systemzugangs.22 In Deutschland wurde dieser Ansatz bevorzugt von der Technikgeschichte rezipiert. Im NIS-Konzept werden organisatorische, institutionelle oder soziale Dimensionen berücksichtigt. Nationale, transnationale, internationale, regionale und sektoriale Gesichtspunkte spielen eine Rolle.23 Organisationen und Institutionen konstituieren Elemente des Systems der Innovation und können daher auch in verschiedenen Ländern unterschiedlich sein. Organisationen, existierende Gesetze, Regeln, Anweisungen und kulturelle Bräuche sind zu berücksichtigen. Erhebliche kulturelle, soziale und technologische Transformationen resultieren aus der technologischen Entwicklung und der Diffusion neuer Produkte.24 Organisatorischer und technologischer Wandel sind eng miteinander verknüpft. Alle Technologien sind durch Menschen gestaltet worden. Sie sind in diesem Sinne sozial konstruiert. Es geht um industrielle Forschung und Entwicklung, um eine akademische Infrastruktur, um andere Institutionen und staatliche Förderpolitik. Institutionen sind im Sinne von Routinen zu verstehen.25 Institutionen haben in anwachsender Weise sich als bedeutsam erwiesen für Innovationstheorien. Institutionen sind ein Set von gemeinsamen Grundhaltungen, Routinen, etablierten PrakNathan Rosenberg: Inside the Black Box: Technology and Economics; Cambridge u. a. 1982, S. 17–21. 21 Charles Edquist (Hg.): Systems of innovation. Technologies, institutions and organisations, London, Washington 1997, S. 244–254. 22 Ebd., S. 3 f. 23 Ebd., S. 6–11. 24 Ebd., S. 19–23. 25 Ebd., S. 22–28. 20
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tiken, Regeln oder Gesetzen, die die Beziehungen und die Wechselwirkungen zwischen Individuen und Gruppen regulieren. Institutionelle Rahmenbedingungen sind daher von größter Bedeutsamkeit.26 In der Konzeptualisierung von Infrastrukturen und der Beschreibung ihrer Effekte gilt es zu unterscheiden zwischen physikalisch-materiellen und Wissensinfrastrukturen. Zentral ist der Zusammenhang in den Systemen. Es geht um die systematische Interaktion von Institutionen. Ökonomische Infrastrukturen und technologische Infrastruktur sind zu unterscheiden. Es geht in der Infrastruktur um die Verteilung von Ressourcen und Produkten sowie um Hilfssysteme. Die Infrastruktur kann auch nicht-materielle Komponenten enthalten, und sie stellt oft Formen von Dienstleistungen des öffentlichen Sektors dar. Diese sind technische Standards, Erziehungssysteme und Gesetzessysteme. Die technologische Infrastruktur ist ein Set von kollektiven spezifisch industrierelevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für verschiedene Anwendungen installiert wurden und in zwei oder mehr Firmen oder Benutzerorganisationen eine Rolle spielen. Sie sind Voraussetzung für eine effektive Kooperation, um öffentliche Güter zu produzieren, z. B. auf öffentliche Sicherheit. Infrastruktur muß als Gesamtsystem entworfen werden. Sie ist multibenutzerorientiert und im Rahmen eines technologischen Regimes angeordnet. Infrastruktur gilt als multifunktionales Rahmenwerk. Es geht um unterstützenden Wettbewerb, um Transportinfrastruktur, um Telekommunikations-Infrastruktur, um Wissensinfrastruktur, um industrielles Wissen und fundamentale technologische Fähigkeiten.27 (4) Nutzung und Gebrauch von Technik: Über die technische Kreativität des Nutzers Es war immer wieder angeklungen: Die technische Kreativität nicht nur des Konstrukteurs, sondern auch des Techniknutzers ist für die Technikphilosophie von zentraler Bedeutung geworden. Technische Mittel sind nicht neutral, sie gehen vielmehr ein in den Gebrauch von Technik. Mittel nehmen Einfluß auf Handlungsziele und rekurrieren auf kulturelle und soziale Kontexte technischen Handelns.28 Schlechtes Produktdesign führt zu fehlerhafter Nutzung. Dies konnte man im Bereich der Expertensysteme, der künstlichen Intelligenz sehen, überhaupt bei strukturellen Koppelungen zwischen Maschine und Nutzer. Der Kontext beschränkt mögliche Nutzungsweisen von Artefakten. Daher sind interpretative Flexibilität technischer Artefakte und ihre situativ gebundene Nutzung hervorzuheben. Gesellschaftliche Konventionen machen die Nutzung von Technik möglich. Sie verdankt dies einer kulturellen Kontextualisierung.29 So kann nach dem
Ebd., S. 41–49. Ebd., S. 86–95. 28 Stefan Beck: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte, Berlin 1996, S. 224. 29 Ebd., S. 241 f. 26 27
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Kolloquium 6 · Bernhard Irrgang
Sinn und der Bedeutung gefragt werden, die Artefakte für einen Handelnden annehmen. Es geht um die Thematisierung technischer Gebrauchskulturen.30 Auf den Begriff der Nutzung bzw. den Gebrauch technischer Artefakte ist neben Heidegger in »Sein und Zeit«31 insbesondere der Pragmatismus eingegangen. Er untersucht interaktionistische, auf konkretem Handeln basierende Erfahrungs- und Konstruktionsprozesse.32 Technik kann Handeln stabilisieren und destabilisieren, sie kann auch als kreatives Handeln verstanden werden. Routinisiertes Alltagshandeln ist vom kreativen Gebrauch der Technik zu unterscheiden,33 geht aber ineinander über. Technik ist im Kontext der Praxis zu sehen. Der konstitutive Situationsbezug der Praxis manifestiert sich im alltäglichen Umgang mit Technik. So kann von einer technologischen Infizierung der Praxen gesprochen werden. Diese manifestiert sich im routinisierten Gebrauch der Technik und in Gebrauchsanweisungen für die Nutzung von Artefakten. Gebrauchsanweisungen für Technik können sprachlicher und nichtsprachlicher Art sein. Nutzung setzt Orientierung voraus. Der Orientierungskomplex technischen Handelns wird durch eine argumentativ-diskursive Praxis in differenzierten Ordnungsstrukturen konstituiert, welche die zentralen Argumente zur Bewertung spezifischer technischer Handlungstypen herausarbeitet. In ihnen wird über erlaubte und nicht erlaubte Nutzungsarten von Technik diskutiert. Hier finden symbolische Kämpfe zur Rechtfertigung unterschiedlicher Umgangsweisen und Nutzungsweisen von Technik statt.34 Sozial und kulturell differente Technikstile sind zu unterscheiden.35 Im Sinne einer Philosophie der Alltagspraxis geht es um die Produktivität bzw. Kreativität des Konsumenten,36 z. B. die Weiterentwicklung von Software durch Hacker oder insgesamt durch ihre Nutzer. Rekonstruiert werden soll die tägliche Kreativität des Nutzers und seine Wege zu operieren, die unzählige Praktiken konstituieren. Praktiken sind eine Mixtur von Ritualen und Machenschaften, Manipulationen des Raumes, Operationen von Netzwerken und Konventionen. Diese kulturelle Aktivität der Nichtproduzenten, die ein Produkt wieder und wieder nutzen und umnutzen, gilt es zu analysieren. Rekonstruiert werden sollen die alltäglichen Praktiken.37 So nutzen viele Chinesen das Internet für Nachrufe und Todesanzeigen. Oder in Indien wird die Pränatale Diagnose zur Geschlechtsbestimmung des Kindes herangezogen. Die Alltagspraxis ist gekennzeichnet als Person durch Jedermann und Niemanden, durch den gemeinen Mann. Gekennzeichnet ist dieser als die große Mehrheit. Der Zugang zur Kultur ist in gewisser Weise narrativ und funktional, es geht darum, Geschichten zu erzählen. Es werden diese Geschichten erzählt im Namen des normalen und gewöhnlichen, des alltäglichen Lebens. Es geht um Worte und ihren alltäglichen Gebrauch. Dieser alltägliche 30 31 32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 279. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 12. Aufl., Tübingen 1972. Beck: a. a. O., S. 280. Ebd., S. 330 f. Ebd., S. 355. Ebd., S. 352. Vgl. Irrgang: Technische Praxis, a. a. O. Michel de Certeau: The practics of everyday life, übers. v. S. Rendall, Berkeley u. a. 1984, S. XI–XX.
Innovationskulturen: Bedingungen technischer Kreativität
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Gebrauch ist der gewöhnliche Gebrauch.38 Es gibt unzählige Wege, etwas zu machen, unzählige kulturelle Techniken und ebenso viele Formalitäten und Arten der Praxis, also Formen von Kreativität.39 Zentral für den Erfindungsprozeß und den Prozeß von Innovationen ist die Macht der Ideen und die Macht der Visionen. Spezifische Haltungen von Individuen oder Gruppen von Menschen spitzen die Entwicklung von Technologie in verschiedenen Arten und Weisen zu. Vor hundert Jahren betrachteten Amerikaner grundsätzlich Technologie als gute Sache. Heute gibt es Länder, in denen Vorsicht eine zentrale Rolle als Grundhaltung gegenüber Technologie spielt. In einigen Ländern ist diese Vorsicht und die Verdächtigung von Technologie soweit gegangen, daß bestimmte technische Entwicklungen beendet wurden wie z. B. Gentechnologie und Kerntechnologie. Der Prozeß der Invention selbst ist geleitet vom Glauben und von Praktiken, die vorher durch Jahre von Erfahrungen mit Versuch und Irrtum entstanden sind und die resistent sind gegenüber radikal neuen Ideen, welche technologisch völlig neue Wege eröffnen.40 Das Thema technischer Kreativität weist auf den Machtaspekt der und in der Technik hin, der höchst selten thematisiert wurde. In der Technikentwicklung kommt es für den letztlich eingeschlagenen Entwicklungspfad entscheidend darauf an, welche der vorgeschlagenen Lösungsprofile die durchsetzungsfähigeren Befürworter auf ihrer Seite hatten, wem es gelang, die überzeugenderen Visionen insbesondere für die Nutzer zu entwickeln, welche politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen bzw. Konstellationen herrschten, wer welche Konflikte und Machtkämpfe für sich und seine Partei gewann. Letztlich entscheidet der Nutzer durch Kauf und Gebrauch über den Erfolg oder Mißerfolg einer Erfindung. Zentral ist der kreative Umgang mit der jeweils konkreten Situation. Ein Kaleidoskop der Macht und ihrer Realisierung ist die Basis technischer Entwicklung und zeigt eine große Vielfalt an Möglichkeiten technischer Kreativität. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Rahmenbedingungen und Konstellationen macht eine Prognose zum Erfolg einer Innovation schwierig, zeigt auch Probleme des internationalen Technologietransfers auf, gibt aber auch Anlaß zu der Hoffnung, daß wir die entsprechenden Prozesse verstehen, um sie dann in Grenzen auch gestalten zu können. Es handelt sich dabei um wissenschaftliche, technologische, ökonomische, soziale und kulturelle Macht. Nicht zu unterschätzen aber ist auch die Definitionsmacht der Interpretationsgemeinschaft. Hier könnte für die Technikphilosophie ein neues Aufgabenfeld entstehen, wenn es ihr gelingt, größere öffentliche Aufmerksamkeit mit ihren Themen zu finden. Literatur Arthur, Brian: Increasing Returns and Path Dependence in the Economy, Ann Arbor 2000 [1994]. 38 39 40
Ebd., S. 2–11. Ebd., S. 29–39. Robert Pool: Beyond Engineering. How Society shapes Technology, New York, Oxford 1997, S. 57.
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Beck, Stefan: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte; Berlin 1996. Certeau, Michel de: The practice of everyday life, übersetzt von S. Rendall, Berkeley u. a. 1984. Dosi, Giovanni A.: Technical Change and Industrial Transformation. The Theory and an Application to the Semiconductor Industry, Houndsmills 1984. Edquist, Charles (Hg.): Systems of innovation. Technologies, institutions and organisations, London, Washington 1997. Esser, Josef u. a. (Hg.): Soziale Schließung im Prozeß der Technologieentwicklung. Leitbild, Paradigma, Standard, Frankfurt, New York 1998. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übersetzt von B. Luchesi u. R. Bindmann, Frankfurt 1994. Irrgang, Bernhard: Natur als Ressource, Konsumgesellschaft und Langzeitverantwortung. Zur Philosophie nachhaltiger Entwicklung (Technikhermeneutik Bd. 2), Dresden 2002. Irrgang, Bernhard: Technische Kultur. Instrumentelles Verstehen und technisches Handeln (Philosophie der Technik Bd. 1), Paderborn 2001. Irrgang, Bernhard: Technische Praxis. Gestaltungsperspektiven technischer Entwicklung (Philosophie der Technik Bd. 2), Paderborn 2002. Irrgang, Bernhard: Technischer Fortschritt. Legitimitätsprobleme innovativer Technik, (Philosophie der Technik Bd. 3), Paderborn 2002. Irrgang, Bernhard: Technologietransfer transkulturell. Komparative Hermeneutik von Technik in Europa, Indien und China, Frankfurt u. a. 2006. Laudan, Rachel (Hg.): The Nature of Technological Knowledge. Are Models of Scientific Change Relevant?, Dordrecht u. a. 1984. Mansfield, Edwin: Industrial research and technological innovation. An econometric analysis, New York 1968. Matthäus, W.: Art. Kreativität, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1194–1204. Morton, Jack A.: Organizing for innovation; A Systems Approach to Technical Management, New York u. a. 1971. Ogburn, William F.: Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften, hg. v. O. D. Duncan, Neuwied, Berlin 1969. Parayil, Govindan: Conceptualizing Technological Change. Theoretical and empirical Explorations, Lauhan 1999. Pfeiffer, Werner: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung als Grundlage einer Planung und Prognose des technischen Fortschritts, Göttingen 1971. Pool, Robert: Beyond Engineering. How Society shapes Technology, New York, Oxford 1997. Rosenberg, Nathan: Inside the Black Box: Technology and Economics, Cambridge u. a. 1982.
KOLLOQUIUM 7 Der ›neue‹ Mensch – Ethische Probleme der Genforschung und Biotechnologie
Carl Friedrich Gethmann Einführung Ludwig Siep Die biotechnische Neuerfindung des Menschen Ludger Honnefelder Bioethik und die Frage nach der Natur des Menschen
Einführung Carl Friedrich Gethmann (Essen)
Die Wendung vom »neuen« Menschen, die für den Titel dieses Kolloquiums gewählt wurde, ist zweifellos der Rahmenrhetorik dieses Kongresses geschuldet. Die Frage, die gestellt werden soll, ist, ob wissenschaftliche und technische Kreativität sich auch auf die Neuerfindung des Menschen erstrecken soll bzw. darf. Dabei zeigt sich, daß der Begriff der »Kreativität« durch die Kolloquien und Sektionen des Kongresses hindurch erhebliche Konnotationswechsel erfährt. In den meisten Kontexten hat es den Anschein, als sei der höchste Grad an Kreativität (wie immer man ihn mißt) auch der am meisten wünschenswerte. Die phantasievollste wissenschaftliche Theorie, das bizarrste technische Artefakt, das avantgardistischste Kunstwerk scheinen uns gerade recht zu sein. In diese Richtung scheint auch die Wendung von der »radikalen Kreativität« zu zielen, die der Kongreßpräsident in seinem Eröffnungsvortrag verwendet hat. Tatsächlich dürfte jedoch mit dem Begriff der Kreativität, um im ökonomischen Jargon zu sprechen, kein Maximierungs- sondern ein Optimierungsproblem aufgeworfen sein. Demnach gilt es das Neue zu nutzen, aber überschießende Kräfte im Zaume zu halten. Jedenfalls gilt nicht generell die Devise des anything goes. Wissenschaftliche Theorien unterliegen immer Auswahlstandards kognitiver und funktionaler Art; neue Theorien sollten beispielsweise wenigstens die Erklärungskapazitäten der alten aufweisen. Technische Artefakte werden an Effektivität und Effizienz gemessen. Kunstwerke sollen nicht nur anders sein, sondern auch unsere Erwartungen an das Kanonische erfüllen. Kurz: Regelverletzungen sind nur dann »kreativ« in einem positiven Sinn des Wortes, wenn die entsprechenden Handlungen (andere) Regeln weiterhin oder neuerdings erfüllen. Ein maximaler Radikaler Avantgardismus dürfte in den meisten Kontexten so wenig wünschenswert sein wie ein radikaler Konservatismus. Eine unbegrenzte Kreativität ist erst recht in der Sphäre der praktischen Philosophie unplausibel. Einen genial ausgeführten Raubüberfall oder ein ideenreiches Humanexperiment würden wir uns als Betroffene nicht gern durch den Hinweis auf die Kreativität der Akteure (seien sie Räuber oder Ärzte) empfehlen lassen. Gleichwohl gilt auch in der Sphäre des Praktischen nicht einfach ein Konservativitätsprinzip. Neue Ethos-Regeln für das Zusammenleben einer Gemeinschaft, neue Ethikkonzeptionen für die Konfliktregulierung zwischen Moralen, neue Rechtsnormen zur Regulierung neuer Koordinationsprobleme sind prinzipiell erwünscht. Dementsprechend ist auch die Wendung vom »neuen« Menschen, mit der ebenso viele positive wie negative Konnotationen verbunden werden, nicht im Handumdrehen ethisch zu klassifizieren. Dabei geht es bei der Frage nach dem »neuen« Menschen grundsätzlich nicht um die eine oder andere neue, durch die Fortschritte der Bio- und Gentechnik eröffnete Handlungsmöglichkeit (so schwierig die Fragen im Einzelnen ethisch zu evaluieren sind), sondern um die moderne
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Kolloquium 7 · Carl Friedrich Gethmann
biomedizinische Forschung überhaupt. Mit der Wendung vom »neuen« Menschen ist die Frage aufgeworfen, welches Zwecksyndrom hinter der modernen biomedizinischen Forschung steht. Es geht um das generelle Telos medizinischen Handelns in Diagnose und Therapie. Die Frage stellt sich deshalb so dringend, weil dieses Telos gegenwärtig immer unklarer zu werden scheint, ja durch eine tiefe Ambiguität gekennzeichnet ist. Sie kann zunächst durch die Frage erfaßt werden, ob wir unter dem »neuen« Menschen den Menschen verstehen, wie wir ihn kennen, möglichst weitgehend befreit von der Mühsal des Lebens, oder ob wir ein Nachfolgewesen planen, das die Endlichkeitserfahrung als solche abgeschüttelt hat. Diese Alternative kann man auf die Kurzformel bringen: »Kontingenzbewältigung versus Kontingenzbeseitigung«. Die oft begrifflich verworrenen Diskussionen um »Ethos des Heilens«, »Enhancement«, »Transhumanismus« usw. sind letztlich – so der hier vorgelegte begriffliche Vorschlag – daraufhin zu überprüfen, ob das hinter ihnen stehende Telos die Kontingenzbewältigung oder die Kontingenzbeseitigung ist. Mit dem Begriff der »Kontingenz« sollen hier diejenigen Widerfahrnisse der Selbst- und Welterfahrung zusammengefaßt werden, die zugleich Erfahrungen der eigenen Begrenztheit und der Begrenztheit des anderen darstellen. Dabei lassen sich unterscheiden – Erfahrungen der Bedürftigkeit, z. B. der Angewiesenheit auf Nahrung, Schlaf, Erholung, soziale Einbindung und kulturelle Aktivität; – Erfahrungen der Störanfälligkeit, z. B. der Verletzbarkeit durch Mißgeschicke und Unfälle und der Anfälligkeit für Krankheiten; – Erfahrungen der eigenen Sterblichkeit und der Sterblichkeit des anderen Menschen; – Erfahrungen der Phasenhaftigkeit des Lebens, z. B. des Alterns. Die philosophische Tradition faßt diese Erfahrungen als conditio humana zusammen und verleiht ihnen damit eine Art apriorischen Status. Das bedeutet, daß diese Erfahrungen nicht nur faktische Widerfahrniserlebnisse sind, sondern zugleich Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung sind. Ihre Abschaffung oder wenigstens tiefgreifende Veränderung würde in der Tat die Rede vom »neuen« Menschen rechtfertigen. Allerdings wird der apriorische Status von vielen Formen des Kontextualismus vor allem durch Hinweis auf die historische und kulturelle Variabilität dieser Erfahrungen bestritten. Ein Phänomen, das in diesem weiten Sinne variabel ist, scheint ohne ethische Bedenken schließlich auch abschaffbar zu sein. Dies wird im Zusammenhang der Diskussion um den »neuen« Menschen vor allem von den Transhumanisten ins Feld geführt. Es läßt sich jedoch leicht zeigen, daß die historische und kulturelle Variabilität von Kontingenzerfahrungen durchaus strukturelle Grenzen hat. Beispielsweise scheint die Erfahrung des Bedürfnisses nach Nahrung durch seine Befriedigung zu verschwinden. Doch dies ist nur ein Schein. Bei aller historischen und kulturellen Variabilität menschlicher Bedürfnisbefriedigung im Bereich der Ernährung bleibt der Kern des Kontingenzphänomens, nämlich die Angewiesenheit auf Nahrung bestehen. Eine Gesellschaft im Status der nutritiven Vollversorgung ist nicht eine solche, in der das Bedürfnis nach Nahrung verschwunden ist, sondern eine solche, in der es von mal
Einführung
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zu mal befriedigt wird. Analoge Überlegungen lassen sich in Bezug auf die Erfahrung von Krankheiten anstellen. Krankheiten können überwunden werden, vielleicht sogar endgültig. Daß die Pocken »endgültig« ausgemerzt sind, kann bedeuten, daß kollektive Impfprogramme nicht mehr notwendig sind; es bedeutet jedoch nicht, daß die Gefährdung durch sie aufgrund menschlicher Anfälligkeit nicht weiter besteht. Krankheiten werden in Zukunft hoffentlich in großem Umfang heilbar, die Anfälligkeit für sie bleibt jedoch bestehen. Bezüglich der Sterblichkeit ist zu bemerken, daß die Lebenserwartung des Menschen vermutlich auch weiter, vielleicht erheblich gesteigert werden wird, daß jedoch auch dann das menschliche Leben weiterhin sein Ende finden wird. Insgesamt wird durch den apriorischen Status von Kontingenzerfahrungen also nicht ihre kulturelle Invarianz behauptet, sondern vielmehr ihre strukturelle »Unwegdenkbarkeit«. Ob wir die menschliche Kontingenzerfahrungen prinzipiell wegdenken und schließlich wegschaffen können, das scheint das Hintergrundproblem zu sein, wenn nach dem »neuen« Menschen gefragt wird.
Die biotechnische Neuerfindung des Menschen Ludwig Siep (Münster)
I. Menschen wollten schon immer über sich hinaus. Sie wollten den Göttern gleich werden, sich von ihrem Körper trennen oder sich auf der Stufenleiter der niederen und höheren Wesen1 dem Reich der höheren Geister nähern. Zumeist waren Techniken der Askese, der Moralisierung, der Sublimierung der Affekte, der Anstrengung des Denkens oder der Meditation die Methoden eines solchen Aufstiegs. »Übermenschliche« Leistungen konnten aber auch durch Training des Körpers oder Erlernung von Techniken und Künsten erreicht werden. »Übermenschlich« kann dabei entweder den Abstand zu »normalen« menschlichen Leistungen bedeuten – so spricht man umgangssprachlich oft von übermenschlichen Leistungen biologisch normaler Menschen – oder eben eine die conditio humana übersteigende Stufe. Derzeit werden Techniken der Überwindung menschlicher Leistungsgrenzen im Zusammenhang mit biotechnischen Entwicklungen wie der Gentechnologie, der medizinischen Anwendung der Nanotechnologie oder der Stammzellforschung erörtert. In der bioethischen Diskussion streitet man über die Differenz zwischen Therapie und Enhancement, Bekämpfung von Krankheiten gegenüber Verbesserung körperlicher Leistungen.2 Während Therapie durch das allgemeine Gebot der Hilfeleistung und speziell durch das ärztliche Ethos der Leidensbefreiung und der Wiederherstellung körperlicher Leistungsfähigkeit moralisch geboten und jedenfalls unbedenklich erscheint, ist die Erlaubnis zur Verbesserung des menschlichen Körpers ethisch problematisch. In der bioethischen Diskussion liegt der Akzent heute zumeist auf der Frage, ob zwischen Therapie und Enhancement überhaupt eine Grenze zu ziehen ist. Verwischen Implantate und Pharmaka, vor allem Psychopharmaka, aber auch Anti-aging und Lifestylemedizin nicht schon lange diese Grenzen? Partizipieren sie damit nicht an den ethisch erlaubten, ja gebotenen Hilfeleistungen? Oder zeigt ihre Akzeptanz nicht zumindest, daß auch Maßnahmen, die nicht Krankheit bekämpfen oder Funktionen wiederherstellen, sondern Wünsche nach Leistungssteigerungen erfüllen, wenn schon nicht als Hilfe geboten,
Zu der von der griechischen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung einer aufsteigenden Kette von natürlichen und geistigen Wesen vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (The Great Chain of Being, 1933), übers. v. D. Turck, Frankfurt/M. 1985. 2 Vgl. dazu den umfassenden Bericht des »President’s Council on Bioethics« der USA: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness. A Report of The President’s Council on Bioethics, US Government Printing Office, Washington DC (15.10.2003). 1
Die biotechnische Neuerfindung des Menschen
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dann doch als unproblematische Wunscherfüllung zumindest erlaubt sind? Und wo könnte dann noch eine Grenze zur Höherzüchtung des Menschen liegen? Im folgenden möchte ich diese Fragen einmal von der umgekehrten Richtung her angehen: Liegt nicht auch in der biotechnischen Neuerfindung oder der Überschreitung der bisherigen biologischen Grenzen der Gattung ein Wert? Ist eine solche Höherentwicklung nicht eines der vornehmsten Ziele menschlicher Kreativität? Stellt sie vielleicht sogar ein Gebot dar, das wir erfüllen sollten – entweder eines, das die Evolution oder ihr Schöpfer uns auferlegt, oder das die zukünftigen Probleme einer Menschheit mit beschränkten biologischen Fähigkeiten uns aufzwingen? Wenn diese Fragen eines Gebotes oder Wertes der Steigerung des Menschen durch Biotechniken beantwortet sind, können auch die ethischen Fragen nach der Erlaubnis medizinischer Verbesserungen über Therapie hinaus zumindest deutlicher gestellt werden. Es ist dann nämlich klarer, ob jenseits der Therapie überhaupt verbotenes Land liegt oder vielmehr ethisch zu suchendes. Die Argumente der »Bedenkenträger« gegen derzeitige und voraussehbare Formen des Enhancements wären entkräftet, der Streit um die Grenze weitgehend überflüssig. Bevor ich auf die Frage der Gebotenheit, Erlaubtheit oder des Wertes einer biotechnischen Neuerfindung des Menschen eingehe (II.–V.), hier vorab einige Hinweise auf die geistes- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der gegenwärtigen Debatte über Kreativität. In der europäischen Neuzeit haben die Tendenzen der Selbsttranzendierung des Menschen in drei Hinsichten eine neue Richtung und einen neuen Schub bekommen. Erstens durch die Aufwertung des Schöpferischen gegenüber dem vormodernen Ideal der Nachahmung der Natur als einer vorbildlichen Ordnung. Zweitens durch die Säkularisierung von Jenseits-Vorstellungen einer erlösten und verwandelten Menschheit zu einem Ziel der immanenten Entwicklung innerhalb der menschlichen Gesellschaft und Geschichte. Drittens durch die Entwicklung der auf der neuzeitlichen Wissenschaft beruhenden Technik und Medizin. Sie führt zu einer enormen Beschleunigung und Erleichterung der Verbesserung der Natur und des menschlichen Körpers in technischer und sozialer Hinsicht. (1) Über den ersten Aspekt sind wir durch Arbeiten zur Entstehung des Ideals der Schöpferischen aufgeklärt worden. Hans Blumenberg hat in seinem Aufsatz »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen« (1956) die antiken und mittelalterlichen Wurzeln freigelegt.3 Die entscheidende Voraussetzung des neuzeitlichen Kreativitätsideals sieht er in der Ablösung eines nach festen Ideen und Begriffen die Natur erschaffenden Gottes durch den allmächtigen Willensgott, der unendlich mehr Möglichkeiten realisieren könnte, als die tatsächlich erschaffene Natur zu erkennen gibt. Sich diesem Gott anzunähern, besteht daher nicht in der Nachahmung
Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1956, S. 55–103. Zu den philosophischen Grundlagen dieser Idee in der Renaissance vgl. auch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Die zweite Schöpfung der Welt. Sprache, Erkenntnis und Anthropologie in der Renaissance, Mainz 1994. 3
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Kolloquium 7 · Ludwig Siep
seiner Schöpfung, sondern seiner Schöpferkraft, d. h. seiner Fähigkeit, Neues, Unvorhersehbares und bislang Unvorstellbares zu imaginieren und zu materialisieren. Blumenberg konnte aber selbst 1956 kaum ahnen, inwieweit das Schöpferische, Kreative, Innovative, Visionäre zum Vorbild bzw. zur Forderung nicht nur an den Künstler und Erfinder, sondern auch an den Politiker, Manager, Wissenschaftler, weitgehend auch an den »Normalmenschen« werden würde. Die Gründe dafür sind zahlreich und komplex und können hier allenfalls angedeutet werden. Zu ihnen zählt die Technifizierung der Lebenswelt mit ihren permanenten Verheißungen von Verbesserungen und Leistungssteigerungen der Apparate, Strukturen und Organisationen; sicher auch die ökonomischen Erfordernisse hoch technisierter rohstoffarmer Länder, die nur durch technisches Know-how und entsprechende Produkte ihre Stellung im globalen Verteilungskampf behaupten können. Kreativität ist nicht mehr nur etwas Bewundernswertes, sondern etwas zur Erhaltung von Wohlstand Notwendiges. Zudem kreieren die unvorhersehbaren technischen Entwicklungen und ihre Wechselwirkungen ständig Probleme, die anscheinend ebenfalls nur durch neuartige technische und organisatorische Vorstellungen zu bewältigen sind. Die Forderung nach Kreativität ist zunehmend auch eine Reaktion gegen die Spezialisierung der Tätigkeiten und sozialen Systeme geworden: Wer Visionär oder »Querdenker« ist, kann die Grenzen dieser Systeme durchbrechen und neue Perspektiven erobern. Schließlich paßt diese Forderung auch in eine Gesellschaft und eine Weltregion, in der die Notwendigkeiten der alltäglichen Lebensbewältigung sich in begrenzter Zeit bewältigen lassen und das Verlangen nach Überwindung von Langeweile und von ermüdender Wiederholung zunimmt – wobei solche Wiederholungen durch die Serienund Massenproduktion sowie die weltweit gleichen Standards der Verkehrs- und Konsumwelt selber produziert und ihre Frequenz gesteigert wird. Weiter soll der Konjunktur der Kreativitätsforderung als derzeitiger Form des »Ideals des schöpferischen Menschen« hier nicht nachgegangen werden. Zum Thema Kreativität gehört heute sicher auch die Möglichkeit einer kreativen Neuerfindung des Menschen, nicht nur hinsichtlich der Überwindung seiner Mängel, sondern auch hinsichtlich seiner Steigerungsmöglichkeiten. Daß ihm diese nicht durch eine Negation seiner Schwächen oder einer Orientierung an körperlosen Wesen, sondern durch die Kapazitäten von ihm selbst erfundener Maschinen vor Augen treten, ist ein Charakteristikum der jüngsten Zeit. (2) Zum zweiten oben erwähnten Aspekt, nämlich der Säkularisierung von sozialen Enderwartungen, sind deshalb einige Bemerkungen nötig, weil die medizinisch-technischen Utopien der Neuzeit vielfach im Zusammenhang mit Sozialutopien entwickelt wurden. Der Grund für die unüberwindlichen sozialen Konflikte, für Unterdrückung und Ungerechtigkeit liegt ja sowohl in der Knappheit der natürlichen Ressourcen wie in der unzureichenden »Sozialausstattung« der Menschen: ihrem Mangel an Sympathie, ihrem Streben nach Exklusivität und ihrer Bereitschaft zur Aggressivität. Daß dem möglicherweise schon im diesseitigen Leben, nicht erst in jenseitiger Erlösung, durch Erziehung, Gesetze, aber auch durch technische Verbesserungen abzuhelfen sei, beschäftigt die Utopien und Reformprogramme der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert.
Die biotechnische Neuerfindung des Menschen
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Francis Bacon hat in der Nova Atlantis (1638) gefordert, daß der Einsatz der Wissenschaft und Technik, gerade auch der Tierzucht und Medizin – darunter Forschungen zur Lebensverlängerung – die Erziehungsprogramme und Staatsordnungen ergänzen muß.4 Auch Züchtungsprogramme zur Verbesserung der Menschen finden sich mit Rückgriff auf die Platonische Politeia schon im frühen 17. Jahrhundert (z. B. bei Campanella).5 In großem Maßstab in das Programm einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen aufgenommen werden sie freilich erst in Utopien und Sozialexperimenten des 19. und 20 Jahrhunderts. Hier wird Eugenik unter Einsatz der medizinischen Technik ein wichtiges Mittel, den Menschen für eine Endzeitgesellschaft fähig zu machen.6 (3) Die Bindung der technischen Naturverbesserung an radikale gesellschaftliche Reformprogramme hat die Tendenz zur Verbesserung der biologischen Anlagen des Menschen aber auch mit erheblichen Problemen und Hindernissen konfrontiert. Sie stand nicht nur den Strukturen der traditionellen Moral und Religion entgegen, sondern auch dem neuzeitlichen Streben nach individueller Autonomie und nach privater Lebensplanung und -führung. Diese Hindernisse werden erst durch den dritten der erwähnten Schritte überwunden. Erst aufgrund der modernen Chemie, der Mikro- und Biotechnik ist die Medizin in der Lage, direkt und gezielt in genetische Informationen und biochemische Prozesse des Körpers einzugreifen. Jetzt ist anstelle einer erzwungenen staatlichen eine individuell gewünschte Verbesserung menschlicher Eigenschaften und Funktionen denkbar, die so genannte »liberale Eugenik«.7 Natürlich liegt der Impuls zur Entwicklung von chemischen, pharmazeutischen und biotechnischen Angeboten solcher Verbesserung nicht nur bei den individuellen Wünschen des »Empfängers«. Vielmehr gibt es große Anreize für Produzenten, Marktanbieter, Bedürfniserzeuger, möglicherweise auch für (politische) Interessenten an Vorhersehbarkeit und Steuerbarkeit menschlicher Wünsche. Aber die Unterstellung, bei den Tendenzen zu einer biotechnischen Erneuerung und Verbesserung des Menschen seien dämonische Hintermänner am Werk, ist zu vage und zu unsicher, um zur Beurteilung der Wünschbarkeit oder Erlaubtheit der gegenwärtig diskutierten Optionen Wesentliches beizutragen. Um eine solche ethische Bewertung der biotechnischen Erneuerung des Menschen soll es im folgenden gehen. Zunächst soll die Frage erörtert werden, inwieweit die gegenwärtig anvisierten Verbesserungen des Menschen tatsächlich eine Art »Neuerfindung« darstellen oder zumindest qualitativ von den bisherigen körperlichen Veränderungen des Menschen in der modernen Zivilisation abweichen (II.). Daran schließen sich die
4 Francis Bacon: Neu-Atlantis (Nova Atlantis. Fragmentorum alterum, 1638), dt. v. K. J. Heinisch, in: Der utopische Staat (Morus, Utopia; Campanella, Sonnenstaat; Bacon, Neu-Atlantis), übers. u. hg. v. K. J. Heinisch, Hamburg 1986, S. 171–215. 5 Vgl. Tommaso Campanella, Sonnenstaat (Civitas Solis), übers. v. K. J. Heinisch; in: Der utopische Staat, a. a. O., S. 111–169. Der Sonnenstaat ist 1602 entstanden und wurde 1623 zum ersten Mal separat publiziert. 6 Zur Geschichte der Eugenik in Deutschland vgl. Kurt Bayertz / Jürgen Kroll / Peter Weingart: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988. 7 Vgl. Allen Buchanan / Dan W. Brock / Norman Daniels / Daniel Wikler: From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge, New York 2000.
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ethischen Fragen, ob eine biotechnische Erneuerung des Menschen gesollt (III.) oder zumindest erlaubt (IV.) ist. Aus ihrer Beantwortung lassen sich Konsequenzen ziehen für den Wert einer möglichen »kreativen« Verbesserung der menschlichen Natur, aber auch für die ethische Beurteilung der derzeitigen Entwicklung medizinischer Therapien gegen degenerative Prozesse des Körpers (V.).
II. Technische und medizinische Veränderungen menschlichen Körper gibt es in wachsendem Maße. Dazu zählen Prothesen, Implantate und Transplantate, aber auch chirurgische Eingriffe und die Einnahme von Pharmaka verschiedenster Art. Die Grenzen zwischen einer Therapie von Krankheiten, einer Wiederherstellung normaler körperlicher Funktionen und einer Verbesserung körperlicher Leistungen ist oft schwer zu ziehen. Im folgenden soll es aber primär nicht darum gehen, ob zwischen Therapie, Leistungssteigerung und grundlegender Veränderung des menschlichen Körpers ein fließender Übergang stattfindet. Es geht vielmehr um die Fragen: Sollen wir den Menschen verbessern, dürfen wir es und wie sind die wahrscheinlichen Folgen zu bewerten? Um die ethische Bewertung einer kreativen Umgestaltung der menschlichen Natur diskutieren zu können, müssen wir zunächst nach klaren Fällen einer wirklichen Veränderung oder gar Neuerfindung des Menschen fragen. Selbst bei den kühnsten Plänen der »Transhumanisten«, die den bisherigen Menschen bewußt übersteigen wollen, ist sicher nicht von der Kreation eines völlig neuen Wesens die Rede.8 Viel mehr geht es darum, bisherige menschliche Leistungsgrenzen in sprunghaftem Ausmaß zu überwinden. Dazu würden etwa grundsätzliche Erweiterungen der Sinneswahrnehmungen in einen Bereich bisher unhörbarer akustischer Frequenzen oder unsichtbarer optischer Wellenlängen gehören. Sicher auch die Steigerung von Gehirnleistungen in Nachahmung hoch leistungsfähiger Computer. Ferner gehören dazu eine radikale Verlängerung der menschlichen Lebensdauer und eine grundsätzliche Änderung der menschlichen Reproduktion etwa durch Klonierung oder durch extrakorporale Fortpflanzung. Auf der Grenze zwischen Therapieverbesserung und Erneuerung stehen Maßnahmen zur Regenerierung ausgefallener Körperteile oder zu ihrem Ersatz durch technische Implantate und Steuerungen. Zu denken ist etwa an die Vorstellungen, gelähmte Körperteile über implantierte Sender – evtl. durch extrakorporale Vermittlung – wieder gezielt bewegen zu können. Dies wäre sicher eine die bisherigen Fähigkeiten des menschlichen
Der Begriff »Transhumanismus« wurde geprägt von Julian Huxley in New Bottles for New Wine, London 1957. Inzwischen gibt es eine weltweit organisierte Vereinigung der Transhumanisten, die World Transhumanist Association (WTA) mit zahlreichen online Publikationen (http://www.transhumanismus.de/texte.html). Zu den Konzepten einer genetischen Verbesserung des Menschen vgl. auch Gregory Stock: Redesigning Humans: Our Inevitable Genetic Future, Boston 2002; mit Akzent auf den neuen Fortpflanzungstechniken: Lee M. Silver: Remaking Eden: Cloning and Beyond in a Brave New World, New York 1998. Kritisch dazu Francis Fukuyama: Our Posthuman Future, Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002. 8
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Körpers weit übersteigende Leistung, aber doch eher eine Wiederherstellung normaler körperlicher Funktionen. Das grundsätzlich Neue an den erwähnten Vorstellungen der Verbesserung des Menschen besteht darin, daß es nicht mehr um eine Steigerung körpereigener Funktionen und Leistungen geht, sondern um die Nachahmung von Leistungen nicht-menschlicher Wesen bzw. Geräte. Menschlichen Organen oder dem, was sie als Implantat ersetzen soll, Fähigkeiten zu vermitteln, die durch das Studium von Organen anderer Lebewesen und durch die Konstruktion von Geräten wie Rechnern erst erkennbar und wünschbar geworden sind, ist etwas anderes als die Erhöhung körperlicher Fitness. Technikphilosophen wie Arnold Gehlen haben die Entwicklung technischer Geräte als Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung verstanden.9 Die technische Verbesserung menschlicher Körperfunktionen könnte man in Anlehnung an diese Deutung als eine Art Rückübertragung der verbesserten Organe in den menschlichen Körper verstehen. Aber die moderne Entwicklung etwa in der elektronischen Datenverarbeitung läßt sich kaum noch als bloße »Organüberbietung« verstehen. Die kreativ entwickelten Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz oder der Sensortechniken werden zu Maßstäben für Leistungen, die man auch dem menschlichen Körper vermitteln möchte. Auf diese Weise käme ein Wesen zustande, dessen Fähigkeiten von denen des bisherigen Menschen so verschieden wäre wie die Fähigkeiten einer biologischen Spezies von einer anderen oder die Leistungen eines technischen Gerätes von dem einer unterschiedlichen »Generation«. Eine solche Steigerung des menschlichen Körpers nach dem Vorbild außermenschlicher Wesen oder Maschinen kann man nicht einfügen in eine gleitende Skala bisheriger therapeutischer und leistungssteigernder Maßnahmen. Nicht, weil es die Zwischenstufen und Übergänge nicht gäbe, sondern weil die Frage, inwieweit menschliche Kreativität auf die Ummodelung des eigenen Körpers angewandt werden soll und darf, eine andere ist als die nach der Erlaubnis bestimmter leidensbefreiender Maßnahmen. Man kann umgekehrt die Frage, inwieweit Maßnahmen des Enhancement zulässig sind, nicht allein vom Gesichtspunkt der entgrenzten Therapie her beurteilen. Vielmehr muß auch die Frage erörtert werden, was es mit der Absicht einer gezielten Steigerung des Menschen nach dem Vorbild anderswo in der Natur und der Technik realisierter oder realisierbarer Leistungen auf sich hat. Hier handelt es sich um eine technische Nachfolge des alten Strebens des Menschen, höhere Stufen des Kosmos zu erreichen. Allerdings steht diese Nachfolge heute nicht mehr im Rahmen eines Weltbildes, das an fester kosmischer Hierarchie orientiert wäre, sondern in demjenigen der Evolutionstheorie. In der evolutionären Entwicklung finden nicht nur Komplexitäts- und Leistungssteigerung durch Mutation und Selektion statt. Es kommt auch zum Aussterben von Arten, die dem Wettbewerb um körperliche Fitneß nicht gewachsen sind. Aus dieser evolutionären Sichtweise wird denn auch immer wieVgl. Arnold Gehlen: Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie [1953], in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Hamburg 1972, S. 93–103, hier S. 94. 9
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der ein Postulat oder sogar ein Gebot zur Verbesserung des Menschen abgeleitet. Darauf wird als erstes der nun folgenden Argumente für ein Gebot zur kreativen Steigerung der menschlichen Natur einzugehen sein.
III. Seit Entwicklung der Evolutionstheorie sind immer wieder Imperative für menschliches Verhalten aus dem bisherigen Verlauf der Evolution abgeleitet worden. In den verschiedenen Formen des Sozialdarwinismus und des Rassismus waren dies in der Regel Verhaltensvorschriften, die das Überleben von sozialen Gruppen oder Rassen gegenüber Konkurrenten um Lebensraum, Ressourcen, Fortpflanzung, Verbreitung oder Macht sichern sollten. Die meisten davon beruhten schon biologisch auf falschen Voraussetzungen. Die Erhaltung eines bestimmten Genpools in der Evolution hängt im Wesentlichen von der Fortpflanzungsfähigkeit und -rate der Träger ab, für die höhere körperliche Fähigkeiten und Leistungen, abgesehen von individuell überlebens- und fortpflanzungsnotwendigen, kaum von Bedeutung sind. Außerdem fehlt der Menschheit auf absehbare Zeit ein Konkurrent um dieselbe biologische Nische, der die Fortpflanzung der Spezies gefährden könnte. Eine Population, deren Mitglieder fortpflanzungsfähig sind und die zufällig keine Konkurrenten um die gleichen Ressourcen der Selbsterhaltung hat, muß um ihr Fortbestehen nicht fürchten – jedenfalls nicht »von außen«.10 Neben diesen biologischen Irrtümern beruhen die Theorien, die aus Fakten der Evolution Normen des menschlichen Verhaltens ableiten wollen, auf einem naturalistischen Fehlschluß. Aus evolutionären Fakten folgen nicht unmittelbar Verhaltensnormen. Ebensowenig wie das Gebot der Erhaltung folgt auch ein Gebot der Höherentwicklung der Menschheit aus Fakten der natürlichen Evolution. Egal ob die Evolution zu einer Höherentwicklung oder zu einer Minderung körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit des Menschen führt, eine Vorschrift, sie in dieser Entwicklung zu fördern bzw. ihr entgegenzuwirken, gibt es allein auf evolutionstheoretischer Basis nicht. Wenn sie aufgestellt wird, so hat man normative oder evaluative Prämissen unterstellt, die aus den naturwissenschaftlichen Fakten nicht folgen. Es kann aber sein, daß solche Prämissen für sich einleuchten und daß ihnen die Evolutionstheorie eine zusätzliche Plausibilität verleiht. Welche Prämissen könnten das sein? Die folgenden scheinen eine gewisse »Anfangsplausibilität« zu besitzen:
10 Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Versuch, das Wachstum der Erdbevölkerung nach Wertvorstellungen der Friedlichkeit und Gerechtigkeit zu »verkraften« nicht große Anstrengungen und Leistungssteigerungen nötig machen könnte. Aber das geht über evolutionstheoretische Argumente weit hinaus – in der natürlichen Evolution würden solche Probleme u. U. durch drastische Formen der Bevölkerungsreduzierung »gelöst«.
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1. Die Höherentwicklung durch biotechnische Maßnahmen könnte notwendig sein, damit die Menschheit nicht an inneren Konflikten und Problemen zugrunde geht. 2. Sie könnte aus ästhetischen Gründen der Vervollkommnung, Veredlung, Leistungssteigerung der Menschheit geboten sein. 3. Sie könnte aus hedonischen Gründen geboten sein, damit für Angehörige der Gattung Erfahrungen des gesteigerten Genusses bzw. der Erfüllung ihrer Träume vom Glück möglich werden. 4. Sie könnte aus moralischen Gründen geboten sein, damit mehr gute Handlungen in der Welt möglich werden. 5. Sie könnte aus theologischen Gründen geboten sein, weil der Schöpfer die Vollendung seiner Schöpfung, das heißt die Fortentwicklung der natürlichen Evolution durch ein dazu fähiges Geschöpf gewollt hat. Halten diese Thesen einer Prüfung stand? (ad 1) Zur ersten ist zunächst zu sagen, daß nur bestimmte Verbesserungen diesem Ziel dienen könnten, andere es aber eher gefährdeten. So wird immer wieder die Senkung der Aggressivität als eine notwendige Bedingung der Fortexistenz einer exponentiell wachsenden Menschheit genannt. Auch die Steigerung intellektueller Fähigkeiten zur Lösung der Probleme der immer komplexeren sozialen, ökonomischen, technischen und ökologischen Wechselwirkungen wird für überlebensnotwendig gehalten. Dabei muß aber Folgendes berücksichtigt werden: Zum einen ist seit der Diskussion um die Aggressionstheorien der Verhaltensforscher der sechziger Jahre11 klar geworden, daß es »die Aggression« als einen homogenen Trieb oder eine einheitliche Disposition nicht gibt. Es gibt vielmehr eine Fülle von Formen und Ursachen, unterschiedlichste Leidenschaften, Frustrationen, intellektuelle und emotionale Reaktionen, die zu gewalttätigen Aktionen oder Reaktionen führen können. Sie zu beseitigen, würde, wenn es möglich wäre, eine Vielzahl menschlicher Emotionen und Handlungsantriebe treffen, ohne die das menschliche Leben einer erheblichen Verarmung ausgesetzt sein könnte. Für die Steigerung menschlicher Intelligenz zur Lösung von Gattungsproblemen gilt ebenfalls, daß die Begriffe der Leistungssteigerung und Problemlösung für sich ganz unbestimmt sind. Das gilt übrigens auch für die heutigen politischen und wissenschaftspolitischen Diskussionen: Es gilt allenthalben als ausgemacht, daß wir Eliten bilden und Exzellenz produzieren müssen, um Probleme der Gesellschaft zu lösen. Welche das sind und welche Lösungen als gute Lösungen zu bezeichnen sind, bleibt dabei meist unbestimmt. Es ist aber schon abzusehen, welche Probleme die Züchtung von Eliten und »Spitzen« erzeugen werden: die Degradierung von Institutionen, Gruppen und Individuen, die auf der Skala der sozialen Achtung und der Selbstachtung absinken – und zwar vielfach ohne überzeugende, nüchterner Kritik standhaltende Kriterien. Es ist zumindest unwahrscheinlich, daß der Versuch, die Intelligenz und Kreativität der Menschen auf biotechnische Weise zu erhöhen, eher mit egalitären Verteilungen verbunden Vgl. etwa Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 21. Aufl., München 1998 [1963]. 11
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wäre und weniger Eliten- und Klassenbildungen zur Folge hätte. Daß biotechnische Verbesserung des Menschen mehr Probleme lösen als schaffen würde, ist also keineswegs überzeugend. (ad 2) Das ästhetische Argument kann in einer objektiven oder subjektiven Variante vertreten werden. Man kann es als intrinsischen Wert ansehen, daß Menschen die höchsten Leistungen erreichen, die ihnen durch technische Steigerung möglich sind. Es scheint ja auch geboten, das perfekte Kunstwerk zu schaffen oder das beste mögliche Fahrzeug zu konstruieren. Eher subjektivistisch wäre die Version, daß Menschen de facto alle zur Perfektion streben, oder, selbst wenn sie in diesem Streben resignieren, Perfektion bei anderen Menschen bewundern – sei es sportliche, künstlerische, intellektuelle oder moralische. Allerdings ist umstritten, ob dies auch für die unter technischer Hilfe erzielten Leistungen gilt, etwa beim Doping im Sport oder bei unter Drogen zustande gekommenen Kunstwerken. Für diese Leistungen fehlt dem »normalen« Menschen ja das Maß, er kann nur das schiere Resultat, aber nicht die dafür aufgewandten Anstrengungen und Fortschritte beurteilen. Natürlich könnte er die Leistungen eines biotechnisch verbesserten Menschen so bewundern wie die eines »hochgezüchteten« Autos. Aber daß die biotechnische Vervollkommnung von Menschen an sich ein erstrebenswertes Ziel ist, folgt daraus nicht. Auch etwa die großen Leistungen, die Machiavelli vom Erobererfürsten und Nietzsche vom Übermenschen erwarteten, sind bewundernswert in Relation zur normalen conditio humana. Einen Menschen mit übermenschlichen biologischen Eigenschaften zu erschaffen, mag für einige ein ästhetisches Ideal sein, objektive oder allgemein zu unterstellende subjektive ästhetische Gründe dafür sind nicht zu erkennen. (ad 3) Überzeugender erscheint die hedonische Prämisse: Es ist kaum zu bestreiten, daß alle Menschen nach Glück streben, daß sie dafür alle möglichen erfreulichen sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Erfahrungen suchen und daß zu den erfreulichsten die Freude über eigene körperliche und geistige Leistungen zählt. Wenn es für alle diese Freuden Steigerungsmöglichkeiten in einem biotechnisch verbesserten Körper gibt, dann sollte dessen Konstruktion doch ein lohnenswertes Ziel aktiv betriebener Evolution sein. Indessen hat auch dieses Argument zumindest drei »Haken«: Zum einen sind diese Freuden ja die Freuden anderer, zukünftiger Menschen. Man muß also schon ein gehöriges Maß an Altruismus ansetzen, wenn man dieses »hedonische« Ziel auch für heutige normale Menschen als wünschenswert bezeichnet. Zum zweiten kennen wir zwar die Freuden, die von normalen menschlichen Körpern innerhalb der Bandbreite des bisherigen Resultats der biologischen Entwicklung des Menschen erwartet werden können. Wir wissen aber nicht, welche Freuden und Enttäuschungen von erhöhten körperlichen Leistungsfähigkeiten zu erwarten sind. Wie steht es mit der Ruhe und Intimität der Nacht, wenn Menschen in der Dunkelheit sehen können wie einige Tiere und Maschinen? Wie erfreulich ist das Kalkulieren und Jonglieren der Berechnungen eines Gehirns mit der Leistung eines Großcomputers? Sind die Leiden eines Hochbegabten, der das ihm möglich gewordene Potential vielleicht individuell doch nicht ausschöpft, durch seine Erfolgserlebnisse auszugleichen?
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Der dritte »Haken« betrifft wieder die Verteilung der gesteigerten Gaben. Die Gefahren der wachsenden Ungleichheiten, der möglichen Privilegierung von Eliten und der Herrschaft, die sie auf verschiedene Weise über die »Nicht-Verbesserten« ausüben könnten, wurden schon erwähnt. Ob dem durch eine wirkliche Gleichverteilung der gesteigerten Möglichkeiten zu entgehen ist, wird noch zu diskutieren sein. (ad 4) Daß eine biotechnische Steigerung des Menschen die Bedingungen für moralisch richtiges Handeln verbessern könnte und darum geboten sei, ist ebenfalls nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Läßt sich nicht mit besseren intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten eher überlegt, vorausschauend, kontrolliert und effektiv handeln – und zwar ebenso im Dienste anderer wie eigener Interessen? Ließe sich nicht Autonomie steigern, Frustration verhindern, Aggressivität abbauen und damit die – schon von Aristoteles erwähnten – glücklichen Voraussetzungen für tugendhaftes Handeln allgemein verbreiten? Wer dies verneint und die Moral, als etwas unbedingt Erhaltenswertes, an die bisherigen biologischen Gattungseigenschaften der Hinfälligkeit, Hilfsbedürftigkeit, begrenzten Sympathie und andere Anlässe und Voraussetzungen verdienstvollen Handelns binden will, gerät in ein Dilemma: Er muß das, was durch moralisches Handeln gemildert werden soll – Armut, Krankheit, Hinfälligkeit – zugleich als Bedingung verdienstvollen Handelns erhalten wollen. Elend zugunsten mitleid- und verdienstvoller Elendsmilderung oder Bekämpfung zu erhalten, grenzt aber an Zynismus. In dieses Dilemma gerät auch Habermas’ Konzeption des Gattungsethos, wenn sie nicht nur die Ungeplantheit des Individuums hinsichtlich seiner genetischen Anlagen, sondern auch die Hilfsbedürftigkeit und Defizienz der biologischen Ausstattung des Menschen generell zur Bedingung der Moral macht.12 Wenn Moral allein in dem Willen zur Einpassung eigener Maximen in universale Gesetze besteht und wenn die Existenz solcher Moral allein dem biologischen Dasein Sinn und Zweck verleiht, wie Kant postuliert,13 dann ist in der Tat kaum zu erkennen, warum dieses biologische Dasein nicht moraltauglicher gemacht werden dürfte bzw. sollte. Was aber das moralische Argument zugunsten einer Gesolltheit biotechnischer Verbesserung des Menschen zweifelhaft macht, ist zweierlei: Zum ersten wissen wir nicht, wie sich menschliche Emotionen und Wünsche durch eine Verbesserung der genetischen Anlagen verändern würden. Und zum anderen ist der Inhalt einer Ethik für Menschen mit enorm erweiterten intellektuellen und körperlichen Anlagen unklar – zumindest wenn zur Ethik mehr als nur rationale Gesetzgebung und -befolgung gehört.14 Eine
Vgl. Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, erweiterte Auflage, Frankfurt/M. 2005, sowie dazu meine Besprechung der Erstauflage (2001): Moral und Gattungsethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/1 (2002), S. 111–120. 13 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 84, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. V, S. 434, 436. 14 Eine »anthropologiefreie« Ethik, wie Kant sie intendiert, mag davon nicht berührt werden. Aber selbst ein differenzierter Begriff von Freuden und Leiden (pleasure and pain) für eine utilitaristische 12
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inhaltlich unbestimmte Ethik kann aber nicht die Bedingungen ihrer Ermöglichung verlangen – und umgekehrt kann die derzeitige Moral nicht die Herstellung biologischer Bedingungen für etwas fordern, das mit ihr selber nicht mehr identifizierbar ist bzw. sie mindestens in gravierenden Hinsichten verändern würde. Solange wir also nicht wissen, welche Verhaltensweisen die »höheren« Menschen für ethisch richtig hielten und ob diese Urteile für uns als moralische wiederzuerkennen wären, kann es kein ethisches Gebot zur Erfindung und Herstellung solcher Menschen geben. Es gibt übrigens auch kein unbedingtes Gebot, die menschliche Art zu erhalten – auch wenn Hans Jonas in manchen Formulierungen seines Buches »Prinzip Verantwortung« so verstanden werden konnte. In anderen macht er klar, daß es sich um das Überleben einer menschlichen, zum Befolgen moralischer Normen zumindest fähigen Menschheit handelt.15 Eine genetisch nur noch zu gänzlich amoralischen Verhaltensweisen – etwa strukturellem Sadismus – fähige Menschheit hat keinen moralischen Anspruch auf Fortexistenz. Die Erhaltung der Menschheit ist insofern ein hypothetischer, an die mögliche Fortdauer guter oder zumindest erlaubter Handlungen gebundener Imperativ. (ad 5) Das theologische Argument zugunsten eines göttlichen Gebotes zur Vollendung der Schöpfung hat in der Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Bei einem der bedeutendsten Reformer der neuzeitlichen Philosophie, Wissenschaft und Gesellschaft, bei John Locke, wird die Unvollkommenheit der menschlichen und außermenschlichen Natur sowie die Fähigkeit des Menschen, durch Selbstverbesserung und Naturbeherrschung sein Leben zu erleichtern – und sich zugleich ewige Verdienste zu erringen –, als unverkennbarer Auftrag Gottes an den Menschen verstanden.16 Sprachkritik, Erkenntniskritik, empirische Wissenschaft, Arbeit und Technik sind nach Locke Weisen, den göttlichen Auftrag zu erfüllen. Wenn aber die Unvollkommenheiten und die Ursachen für Mangel und Mühsal eine Herausforderung und einen Auftrag zu ihrer Verbesserung enthalten, warum soll das nicht auch für den Menschen selber gelten? Erfordert die Nachahmung des Gottmenschen nicht eine Verbesserung der gewöhnlichen menschlichen Natur? Nach traditioneller theologischer Deutung ist allerdings diese Nachahmung zuerst als moralische Verbesserung zu verstehen. Und die Berechtigung, sich zur Erleichterung des diesseitigen Lebens »die Erde untertan zu machen«, wurde primär als Erlaubnis zur
Ethik hängt von körperlichen und emotionalen Eigenschaften eines zukünftigen Menschen ab. Zur Kritik an der Idee einer anthropologiefreien Ethik vgl. auch Ludwig Siep: Ethik und Anthropologie, in: A. Barkhaus / M. Mayer / N. Roughley / D. Thürnau (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt/M. 1996, S. 274–298. 15 Jonas spricht von der unbedingten Pflicht zum Dasein der Menschheit in Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979, S. 90: »Der erste Imperativ: daß eine Menschheit sei«. Zur »Idee des Menschen« (S. 91) gehört aber nach Jonas’ teleologischer Konzeption zumindest die »humane« Eigenschaft, moralische Pflichten erkennen und erfüllen zu können, wobei die Grundlagen der traditionellen Moral gemeint sind – die etwa eine genetisch zum Sadismus veränderte Spezies nicht mehr haben würde. 16 Vgl. etwa John Locke: Über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Human Understanding, 1689), übers. v. C. Winckler, 4. durchgesehene Aufl., Hamburg 1981, Bd. II (4. Buch), S. 340 f., 351, 437.
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Zucht und zum Verbrauch von Pflanzen und Tieren, allenfalls auch zu medizinischen Eingriffen in natürliche Prozesse verstanden. In der modernen Diskussion sind allerdings sogar technische Optionen wie die industrielle Nutzung der Kernenergie mit dem Auftrag begründet worden, die Schöpfung zu vollenden. Was es aber auch im Rahmen schöpfungstheologischer Überlegungen fragwürdig macht, von einem Gebot zur Transzendierung der menschlichen Natur auszugehen, ist wohl das Folgende: Der Begriff der Vollendung bzw. Vervollkommnung setzt voraus, daß in der Natur und den Anlagen des Menschen eine Intention erkennbar ist, die weiter geführt werden kann. Wenn Vollendung aber allein in der Erweiterung der Möglichkeiten des Wahrnehmens, Erlebens, Leistens liegen soll – inwiefern kann dann von einer unvollkommenen, aber positiven und zielgerichteten Anlage überhaupt die Rede sein? Warum soll man dann nicht auch die Leistungen anderer Geschöpfe steigern? Ist die Schöpfung aber durch den Sündenfall grundsätzlich verdorben, dann wäre es ohnehin menschliche Hybris, ihre Erlösung durch biotechnische Steigerung seiner eigenen Leistungsfähigkeit bewirken zu wollen. Man müßte also schon die Gesamtevolution als ein Reservoir an Möglichkeiten der physischen und intellektuellen Leistungen verstehen, die den Plan eines Wesens vorzeichneten, das alle positiven Leistungen enthielte, die bisher aufgetreten sind oder die sich technisch realisieren lassen. Was technisch möglich ist, vollstreckt aber nur zu einem sehr geringen Teil das in der Natur Angelegte. In weiten Teilen ermöglicht die Technik Leistungen durch gänzlich unnatürliche Prinzipien, wie Hans Blumenberg am Beispiel des Fliegens mithilfe von Verbrennungsmotoren illustriert hat.17 Von einem in der Schöpfung liegenden Gebot der Vollendung könnte also wirklich nur im Hinblick auf die unendliche Schöpferkraft selber gesprochen werden, die dem Menschen grenzenlose Neuerfindung seiner selbst zur Aufgabe machte. Dies auf einen in der Schöpfung – oder der Offenbarung – erkennbaren göttlichen Auftrag zurückzuführen, erscheint aber als eine allzu gewagte theologische Spekulation.
IV. Die Argumente für ein Gebot zur biotechnischen Erweiterung der Möglichkeiten des menschlichen Körpers sind also von geringer Überzeugungskraft. Aber daraus folgt natürlich nicht, daß eine solche Erweiterung verboten ist (A). Insofern sie das nicht ist, müßte sie als erlaubt gelten (B). A. Fragen wir daher zunächst, ob und aus welchen Gründen eine grundlegende Verbesserung des Menschen verboten sein könnte. Drei Gründe bieten sich an: 1. Die Schädigung der Interessen anderer. 2. Ein Verstoß gegen die Würde des Menschen 3. Eine Schädigung öffentlicher oder gemeinschaftlicher Güter. 17
Blumenberg: a. a. O., S. 60 f.
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(ad 1) Durch die Herstellung von Menschen mit grundsätzlich erweiterten körperlichen Möglichkeiten würden diejenigen gefährdet, die auf die unterlegenen Kompetenzen beschränkt bleiben. Bei einer Ungleichverteilung der neuen Möglichkeiten würden ja viele leer ausgehen. Die Gefahr erscheint in der Tat groß, im Wettbewerb mit den »Übermenschen« den Kürzeren zu ziehen, an Achtung und Wohlstand einzubüßen, möglicherweise sogar unterdrückt zu werden. Auf zwei Weisen wäre ihr zu begegnen: Zum einen durch eine ausnahmslose Verbesserung der gesamten Menschheit; zum anderen dadurch, daß auch die moralischen Fähigkeiten der neuen Menschen verbessert würden. Auf diese Weise könnte die Gefahr der Ausnutzung der Vorteile und der Beherrschung oder Mißachtung der Unterlegenen gemildert werden. Über die Schwierigkeit, Kriterien für eine moralische Verbesserung zu bestimmen, ist schon gesprochen worden. Eine gezielte Verbesserung solcher Eigenschaften ist schwer vorstellbar, weil moralische Urteile und Verhaltensweisen eine Gesamtleistung der körperlichen, emotionalen und intellektuellen Verfassung des Menschen voraussetzen. Außerdem gibt es hier keinerlei Vorbilder an den Leistungen von Tieren oder Maschinen, an deren sonstigen Fähigkeiten die biotechnische Verbesserung des Menschen orientiert würde. Wenn also besondere Rücksichtnahme und Verzicht auf die Ausnutzung körperlicher Vorteile von den verbesserten Menschen kaum zu erwarten ist, kommt alles auf die Verteilung der Fähigkeiten an. Nach den bisherigen Erfahrungen mit verbessernder Medizin, etwa im Bereich des Anti-aging, der Lifestylemedizin oder des Doping muß sicher mit erheblichen Kosten gerechnet werden. Die könnten bei massenhafter Verbreitung natürlich sinken. Biotechnische Eingriffe zur Verbesserung des Genoms oder zur Klonierung besonders günstiger Genome sind aber bereits technisch höchst aufwendig. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß sie nur für wenige erschwinglich wären – jedenfalls solange sie nicht auf dem Wege natürlicher oder kostengünstiger künstlicher Reproduktion weitergegeben würden. Sich einen derartigen evolutionären Vorteil über ehemalige Artgenossen zu verschaffen, stellt sicher eine Schädigung dar. Erträglich wäre sie nur, wenn die Gesellschaft denjenigen, die nicht zum Erwerb derart günstiger Eigenschaften in der Lage sind, Kompensation leisten würde. Das betrifft die öffentlichen Güter der Gleichheit und der Solidarität. (ad 2) Doch bleiben wir zunächst bei Schädigungen individueller Rechte und Ansprüche. Verstößt eine grundlegende Änderung der menschlichen Natur nicht gegen die Menschenwürde? Hier kommt es sicher auf die Art der Veränderung an. Eine weitgehende Ausdehnung der Lebensdauer – etwa um das Doppelte der bisherigen Lebensspanne – würde allenfalls dann als Verletzung der Menschenwürde gelten können, wenn den Langlebigen in der letzten Lebensperiode kein menschenwürdiges Leben mehr möglich wäre – man denke an die Karikatur der Vierhundertjährigen in Swifts »Luggnag«– Reise Gullivers.18 Fraglich ist allerdings, ob eine Verletzung der Menschenwürde auch Die Reise nach Luggnag, der Insel der Unsterblichen (»Struldbruggs«), ist ein Teil der dritten Reise Gullivers. Vgl. Jonathan Swift: Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver [1726], vollständige Ausgabe, aus d. Engl. übertragen v. K. H. Hansen. München 1958, S. 321 ff. 18
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dann vorliegt, wenn die Verbesserung mit autonomer Zustimmung zustande gekommen wäre. Schließlich sehen wir auch die Menschenwürde stark pflegebedürftiger alter Menschen heute nur dann verletzt, wenn ihr Zustand durch vermeidbare äußere Umstände oder Handlungen anderer verursacht ist. Bei Steigerungen perzeptiver, motorischer oder intellektueller Fähigkeiten werden wir nicht von Menschenwürde-Verstößen sprechen können, solange die moralischen Fähigkeiten nicht durch das sozusagen technische Design beeinträchtigt sind. Hier ist, wie erörtert, eine Abschätzung nur schwer durchführbar. Besonders brisant ist die Frage, ob Vermehrung von Gliedmaßen oder Organen, erhebliche Veränderung der Maße von Körpern oder Körperteilen und Ähnliches mit der Menschenwürde vereinbar sind. Transhumanisten19 haben auf dem Recht, solche Veränderungen freiwillig durchzuführen, als Folge des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper bestanden. Ihre Gegner sehen darin eine Entstellung des gewohnten Bildes vom menschlichen Körper und seiner Maße, an dem unsere Vorstellung von der Würde der Gattung orientiert ist. Allerdings sprechen wir diese Würde auch menschlichen Wesen zu, die mit weit vom Durchschnitt abweichenden Körpern unter uns leben. Auf der anderen Seite gibt es immer noch Beschränkungen erlaubter Bekleidungs- und Verhaltensweisen, deren Verletzung als Erregung öffentlichen Ärgernisses geahndet wird. Der rasche gesellschaftliche Wandel auf diesem Gebiet macht es allerdings schwer, in der Wahrung eines gemeinsamen Erscheinungsbildes der Menschen eine Forderung der Würde zu sehen. Offenbar handelt es sich um gemeinsame Konventionen und Rücksichtnahmen, die eher im Bereich öffentlicher Güter liegen als dem des Individualrechts auf Schutz der Menschenwürde. (ad 3) Was ist zur möglichen Schädigung öffentlicher Güter zu sagen? Ohne ausführlich auf ökonomische oder ethische Theorien öffentlicher und kommunaler Güter einzugehen,20 kann man öffentliche Güter als positiv bewertete Zustände, Einrichtungen oder Gegenstände verstehen, die nur durch Mitwirkung aller oder einer großen Zahl von Mitgliedern einer Gemeinschaft zustande kommen, und von deren Genuß man auch die nicht beitragenden Mitglieder, d. h. die Schwarzfahrer, nicht ausschließen kann.21 Dazu gehört etwa ein breit zugängliches Bildungs- oder Gesundheitssystem sowie ein hohes Maß an sozialer Konfliktfreiheit oder an Toleranz und wechselseitiger Achtung. Es ist leicht ersichtlich, daß eine Reihe derartiger Güter, wie Chancengleichheit, Solidarität und Toleranz, durch die Herstellung einer neuen Generation wesentlich verbesserter Menschen erheblich gefährdet ist. Die Leistungen solcher Übermenschen würden hohe Gratifikationen rechtfertigen, ihre Solidarität mit den Schwächeren könnte als immer heroischere Forderung erscheinen. Zum Transhumanismus vgl. o. Anm. 8. Vgl. dazu auch Ludwig Siep: Private und öffentliche Aufgaben (Schriften der Akademie FranzHitze-Haus), Münster 2005. 21 In der ökonomischen Theorie sind public goods charakterisiert durch einen »high degree of nondiminishability and non-excludability«. Vgl. Robert H. Frank: Microeconomics and Behavior, 4. Ed., Boston 2000, S. 626. 19 20
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Vor allem löste sich das Maß von Gesundheit und Normalität auf, an dem bisher die Ansprüche auf Hilfe und Kompensation gemessen werden. Ohne eine normale gegebene Verfassung des Menschen läßt sich nur noch schwer feststellen, wer mehr als zumutbare Leiden und Mängel hinzunehmen hat – also solche, für die eine Gesellschaft mit Gleichheits- und Solidaritätsidealen einstehen muß. Hier läßt sich einwenden, daß eine derartige Situation schon heute bestehe und durch eine biotechnische Überwindung von Krankheit und körperlichen Nachteilen eher gebessert werden könnte. Mit der bisherigen Verteilung natürlicher körperlicher und geistiger Gaben sind vielleicht auch nur die zufrieden, die dabei günstig weggekommen sind. Allerdings besteht bei der bisherigen menschlichen Verfassung zumindest der Vorteil, daß die körperlichen und geistigen Unterschiede nicht so groß sind, daß gemeinsame oder zumindest verständliche und nachvollziehbare Erfahrungen mit Leid und Freude, Achtung und Mißachtung, Erfolg und Frustration verhindert würden. Ob sie noch möglich sind, wenn Menschen mit Übermenschen zusammenleben, ist dagegen fraglich. Um sich klar zumachen, wie viel private und öffentliche Güter auch durch eine scheinbar so universal wünschbare Eigenschaft wie die Langlebigkeit betroffen sind, sollte man folgendes überlegen: Ob eine beträchtliche Lebensverlängerung wirklich ein erstrebenswertes Gut ist, hängt nicht nur von der dann erreichbaren Lebensqualität im hohen Alter ab. Die längere »Verweildauer« einer Generation auf der Erde führt auch zu einem verbreiteten Interesse an Verlangsamung der Reproduktion. Das würde zur Folge haben, daß weniger Menschen immer länger die Ressourcen für ein möglichst erfreuliches Leben für sich in Anspruch nehmen und nachrückende möglichst verhindern – eine ganz neue Frage der Generationengerechtigkeit. Es würde auch zu einer erheblichen Abnahme an Jugend, Erneuerung, Veränderung, vermutlich auch Kreativität kommen. Es geht also nicht darum, daß wir unseren Kindern ein so unbezweifelbares Gut wie die Langlebigkeit nicht vorenthalten dürfen.22 Es geht vielmehr um eine Gesamtabwägung von individuellen und gemeinsamen Gütern und ihrer Beeinträchtigung durch eine erhebliche Verlängerung der menschlichen Lebensdauer. B. Trotzdem kann die Frage nach der Erlaubtheit der Neuerfindung des Menschen nicht so eindeutig beantwortet werden wie die nach ihrer Gebotenheit. Die möglichen Schäden und Risiken vor allem durch die Gefährdung der Gleichheit und Unabhängigkeit der Individuen und einer Anzahl gemeinsamer und öffentlicher Güter sind zwar deutlich erkennbar. Ob sie zu vermeiden wären, hängt aber teils von den Kosten und der Zugänglichkeit der Verbesserungen ab, teils von der Art der Fähigkeiten, deren Verbesserung angestrebt wird. Sie könnte etwa die Steigerung des Seh- oder Hörvermögens sozial relativ unschädlich sein, auch wenn die Frage nach dem Verhältnis zu den bisherigen erfreulichen Erfahrungen mit den normalen menschlichen Organen offen bleibt. In dieser Richtung äußert sich auch der Nobelpreisträger James Watson. Zu seiner Auffassung eines Gebotes der Perfektionierung des Menschen vgl. C. Abram: Gene Pioneer Urges Human Perfection, in: Toronto Globe and Mail, 26. Oct. 2002. 22
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V. Als Resultat der vorausgegangenen Überlegungen läßt sich festhalten, das weder von einem Gebot der Verbesserung des Menschen im Sinne einer aktiven Fortsetzung der Evolution noch von einer generellen Erlaubnis solcher Maßnahmen gesprochen werden kann. Auch der private Erwerb einer verbesserten biologischen Ausstattung stellt die Gesellschaft vor Gleichheits- und Gerechtigkeitsprobleme – jedenfalls so lange sie an einer Gerechtigkeitsvorstellung festhält, die biologische und schicksalhafte Nachteile durch gesellschaftliche Maßnahmen abzumildern gebietet.23 Durch eine biologische Verfassung, deren Freuden und Leiden, Leistung und Leistungsdefizit, Gesundheit und Krankheit von der bisherigen Erfahrung gravierend abweichen, gehen die Maßstäbe für öffentliche Leistungen – und seien diese nur subsidiär – verloren. Eine Reihe von öffentlichen Gütern ist gefährdet. Die Folgen für die Stellung der menschlichen Art in der Natur insgesamt oder die Verteilung der Ressourcen auf der Erde sind ohnehin kaum zu übersehen. Das Ziel einer biotechnischen Steigerung der menschlichen Art ist also von sehr zweifelhaftem Wert. Gründe für gesellschaftliche Anstrengungen in dieser Richtung gibt es wenige, und sie sind mit starken Einwänden konfrontiert. Hingegen sind medizinische und biotechnische Leistungen zur Therapie oder Verhütung von Krankheiten oder von Einschränkungen normaler menschlicher Kompetenzen legitimiert durch die gebotene Hilfeleistung der Menschen untereinander und auch durch Forderungen der Gerechtigkeit. Das alles spricht dafür, die Grenze zwischen Therapie und Enhancement so weit wie möglich einzuhalten. Das heißt aber nicht, daß die Entwicklung medizinischer Therapien gegen degenerative Prozesse des Körpers insgesamt unerlaubt wäre. Eine maßvolle Verlängerung der Lebensdauer durch Bekämpfung von Krankheiten und Alterungsprozessen führt, so lange sie allen Bürgern zugute kommt, nicht zu den zuvor erörterten Schäden. Sicher bringt die derzeitige Verlängerung der Lebenszeit einer großen Zahl von Menschen gesellschaftliche Probleme mit sich. Aber noch ist nicht sichtbar, daß sie die fundamentalen Wertekonsense und die Kompromißfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen prinzipiell überforderte. Die meisten der derzeitig angezielten Therapien der regenerativen Medizin, von Stammzelltherapien über somatische Gentherapien bis zu diagnostischen und kompensatorischen Mikroimplantaten, kommen im Übrigen nicht nur Patienten hohen, sondern auch mittleren Lebensalters zugute. Es ist aber nicht zu bestreiten, daß es hier eine Reihe schwieriger Abwägungsprobleme gibt. Die Prophylaxe altersdegenerativer Prozesse des Gehirns etwa durch Mittel, die die Leistungen des jungen und gesunden Hirns erhöhen, um späteren degenerativen Ausfällen vorzubeugen, können die Chancengleichheit und die Maße für normale menschliche Leistungen bereits gefährden. Hier ist ein Prinzip der Vorsicht (precautionary principle) durchaus angebracht. Weder ganz verwerflich noch ganz unproblematisch sind andere Formen der AntiVgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice, 1971), übers. v. H. Vetter, Frankfurt/M. 1975. 23
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aging-Medizin oder der Sport- und anderer Lifestylemedizin. Daß Menschen sich von subjektiv empfundenen körperlichen Beeinträchtigungen ihres Lebensgefühls oder von Hindernissen bestimmter angestrebter Leistungen und Lebenspläne befreien wollen, ist nicht illegitim. Welcher Beruf sich zur Erbringung solcher Leistungen als geeignet betrachtet, ist bei gesicherter Kompetenz und medizinischer Versorgung eine Frage des Berufsethos und der Gewerbefreiheit. Problematisch wird diese Wunscherfüllung aber dann, wenn gesellschaftliche Ungleichheiten entstehen, mit deren Ausgleich oder Kompensation die Gesellschaft überfordert wird. Es ist durchaus möglich, daß sich die Fähigkeiten und Grenzen der biologischen Verfassung des Menschen auch auf dem Weg einer primär therapeutischen Medizin und Biotechnik langsam verschieben und erweitern. Mit jeder Erweiterung werden neue Wünsche wach, an diesen Möglichkeiten teilzunehmen. Entsprechend wird jedes Mal die Gesellschaft aufgefordert, den Abstand zwischen den Begünstigten und den Benachteiligten nicht zu groß werden zu lassen. Dieser Prozeß der ständigen Spannung und graduellen Verschiebung der Grenzen menschlicher Fähigkeiten scheint mir aber grundsätzlich ethisch akzeptabler und für die Gattung weniger gefährlich als entweder die Verbesserung bewußt und aktiv voranzutreiben, oder die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement für obsolet zu erklären und alles dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. So wenig wie wir bedenkenlos den Abstand zwischen geistigen Eliten und der Masse der normal Begabten und Geschulten vergrößern sollten, um unbekannte Probleme nach unbekannten Maßstäben zu lösen, so wenig erscheint es ethisch gut, die biologische Verbesserung des Menschengeschlechts – de facto aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls nur einer schmalen Elite – voranzutreiben oder von interessierten Gruppen vorantreiben zu lassen. Wir haben für wertvolle Ziele des individuellen Lebens wie für gemeinsame Werte, die das soziale Zusammenleben tolerabel oder gar erfreulich machen, ziemlich stabile, zuweilen auch interkulturelle, Erfahrungen aufgrund unserer bisherigen körperlichen Verfassung und unserer gemeinsamen Geschichte. Diese Erfahrungen können sich durch medizinische und technische Entwicklungen erweitern. Sie aber durch die Erfindung einer an den Leistungen von Maschinen orientierten Übermenschheit außer Kraft zu setzen, dafür sprechen keine guten Gründe. Nicht einmal der heute allenthalben so strahlende und unumstrittene Wert der Kreativität.
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Die biotechnische Neuerfindung des Menschen
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Bioethik und die Frage nach der Natur des Menschen Ludger Honnefelder (Bonn)
So hoch die Dringlichkeit der Regelung aktueller Fragen der Bioethik bislang eingeschätzt wurde, so wenig ist – von Ausnahmen abgesehen – die philosophische Bedeutung der Herausforderung in den Blick geraten, die mit verschiedenen bioethischen Fragen verbunden ist. Diese Bedeutung liegt keineswegs nur darin, daß die Bioethik die praktische Philosophie mit bislang unbekannten Handlungsmöglichkeiten konfrontiert, die – wie neuartige Anwendungskontexte in anderen Bereichen – dazu führen, die Leistungsfähigkeit der zeitgenössischen Ansätze der Ethik zu prüfen, tragfähige Ansätze weiterzuentwickeln und in Teilbereichen auch zu korrigieren. Vielmehr läßt die Bioethik im Zusammenhang der neuen Handlungsfelder Fragen sichtbar werden, denen der Charakter grundsätzlicher Herausforderungen zukommt, weil sie Grundannahmen nicht nur der zeitgenössischen Ethik, sondern auch der uns vertrauten Anthropologie, Naturphilosophie, Metaphysik und nicht zuletzt Epistemologie fraglich werden läßt und damit neu zur Debatte stellt. Anders gewendet, die Bioethik stellt Fragen, die auf dem Boden gängiger Ansätze nur mit Hilfe von Maßnahmen zu bewältigen sind, die eher als ›Notoperationen‹ denn als überzeugende Lösungen erscheinen. Besonders gilt dies für die Art und Weise, in der die Bioethik mit der der Philosophie wohlvertrauten Frage nach der Natur des Menschen konfrontiert. Denn Genomanalyse und Genommanipulation, Organtransplantation und Klonierung, Molekulare Medizin und Hirnforschung sind nicht nur mit der Möglichkeit des Eingriffs in die Natur des Menschen verbunden, die unmittelbar sein Subjektsein betrifft. Sie lassen ›Natur‹ als etwas erscheinen, zu dem sich nur schwer ein angemessenes Begreifen auf dem Boden der vertrauten Ansätze einstellen will, seien diese Ansätze eher naturalistisch-monistischer oder formal-dualistischer Art. Deshalb verwundert es nicht, daß die neuen Erkenntnisund Handlungsmöglichkeiten die verbreiteten Prinzipienansätze der Ethik in eine Verlegenheit bringen, deren Ausmaß an den vorgeschlagenen ethischen Regelungen deutlich ablesbar ist, mögen diese Ansätze regelethischer oder gar naturalistischer Art sein. Zu den Herausforderungen dieser Art gehört die Frage nach der Wahrnehmbarkeit der Natur des Menschen als Natur, d. h. als einer ›vorgegebenen‹ Größe, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Realitätsstatus als auch im Hinblick auf ihre inhaltliche Abgrenzung (I). Dazu gehört die Frage nach der Einheit von personalem und organischem System, d. h. von ichhaftem Subjekt und Leib, und zwar sowohl in qualitativer Hinsicht (II) als auch im Hinblick auf die zeitliche Erstreckung (III), was die Frage nach der ontologischen Interpretation der Natur, sei es als endurant oder als occurant einschließt, sowie – last but not least – die Frage nach der evaluativen Interpretation, wobei es besonders um die Fragen der Parallelisierbarkeit von Entwicklungs- und Schutzstufen geht (IV). Alle genannten Fragen hängen eng zusammen und betreffen die Sprach-
Bioethik und die Frage nach der Natur des Menschen
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analyse ebenso wie die Epistemologie, die Naturphilosophie ebenso wie die Ontologie. I. Wie die Geschichte der Ethik als Reflexion auf die Kriterien gelingenden menschlichen Handelns zeigt, ist die Orientierung des Handelns an der dem Menschen eigenen Natur offensichtlich ebenso notwendig wie klärungsbedürftig. Was ist überhaupt am Menschen Natur, und wie zeigt sie sich? Kann Natur Leitfaden der Orientierung für ein Wesen sein, das seiner Natur nach künstlich, also von Natur aus Kulturwesen ist? Wie läßt sich auf Natur in praktischer Hinsicht Bezug nehmen, wenn Natur im Doppelaspekt von Innen und Außen, von Vorgegebenheit und Aufgegebenheit, von Natürlichkeit und Künstlichkeit bzw. Kultürlichkeit äquivok zu werden droht? Fragen dieser Art sind für die Philosophie nicht neu und von Protagoras bis Plessner dem Versuch einer angemessenen Verhältnisbestimmung unterzogen worden. Doch wurde in allen Ansätzen, die zur Lösung der Probleme vorgelegt wurden, die Natur des Menschen zwar als eine solche betrachtet, die als Seinkönnen erhebliche Spielräume der kultürlichen Gestaltung enthält und deren Gelingensgestalten deshalb eine entsprechende kulturelle Variabilität aufweisen, deren Gestaltungsraum aber gleichwohl begrenzt ist, und zwar so begrenzt, daß von einer Artnatur gesprochen werden kann, die die Grenzen der Variabilität des Menschlichen angibt und die Einheit und Gemeinsamkeit der Menschheit begründet. Im Licht einer Biologie, die den Schritt von der beschreibenden in die synthetische, konstruierende Biologie getan hat und deren Einsicht in die molekularen Grundlagen des Lebens Eingriffe zuläßt, die nicht mehr nur den Charakter von Reparatur und Meliorisierung haben, sondern Neukonstruktion erlauben, verliert der Begriff der Natur aber eben die Kontur, die bislang trotz aller Natur-Kultur-Verschränkung fraglos war. Nicht nur Veränderungen des Genoms durch Eingriff in die Keimbahn und andere Optimierungen der menschlichen Natur sind möglich. Auf der Basis von künstlich geschaffenen Chromosomen ist die Entstehung von bislang unbekannten Lebewesen denkbar geworden. Rekombinationstechniken und Reproduktionsmedizin eröffnen die Möglichkeit völlig neuer Abstammungsmöglichkeiten bis hin zur Bildung von Mensch-Tier-Mischwesen. Der der lebendigen Natur als Physis eigene Charakter, »von sich aus« das zu sein, was ein Lebewesen ist, wird zum Artefakt, an die Stelle der Evolution tritt das herstellende Handeln. Dies alles ist bekannt und in entsprechenden Szenarien beschrieben worden. Was der Frage nach der Natur und insbesondere nach der Natur des Menschen eine in dieser Form bislang unbekannte Bedeutung gibt, ist der aus den neuen Möglichkeiten einer konstruktiven Biologie folgende Verlust der Orientierung und der damit verbundene »Schrecken«. Sich nach dem eigenen Entwurf hervorzubringen, hatte I. Kant mit Blick auf die Biowissenschaften noch ausgeschlossen.1 »Woran wollen wir uns denn orientieImmanuel Kant: Rezension zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 779–812, hier S. 792 ff. 1
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ren«, heißt es bei G. Böhme, »wenn wir die Ordnung der Natur nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern überhaupt erst ›nach eigenem Entwurf‹ hervorbringen wollen?«2 Was daraus folgt, wenn sich diese durch die Möglichkeiten der konstruktiven Biologie aufgeworfene Frage als unbeantwortbar erweist, ist bislang kaum diskutiert worden. Über weite Strecken orientiert sich die Regelung der durch die modernen Lebenswissenschaften eröffneten neuen Handlungsfelder an ›Natürlichkeitsannahmen‹.3 Heilung wird als legitimierendes Ziel akzeptiert, weil sie die Gesundheit, d. h. die Integrität der menschlichen Natur wiederherstellt. Künstliche Befruchtung erscheint als gerechtfertigt, sofern sie der natürlichen Fruchtbarkeit aufhilft. Der vollständige Ausfall aller Hirnfunktion wird als Kriterium der Organentnahme betrachtet, weil er das Kriterium des natürlichen Todes des Menschen darstellt. Was aber rechtfertigt die Normativität der Annahmen über die menschliche Natur, wie sie mit dem Rekurs auf die Gesundheit, auf die Natürlichkeit der Fortpflanzung und den natürlichen Tod verbunden sind? Der Rekurs auf eine unmittelbar ablesbare metaphysische Ordnung der Natur machte einen philosophisch unerreichbaren God’s eye view erforderlich und hätte zudem die durch die Lebenswissenschaften eindrucksvoll bestätigte Einsicht in Rechnung zu stellen, daß es gerade zur Natur des Menschen gehört, Kulturwesen zu sein, also auch die eigene Natur zum Gegenstand der Selbstgestaltung machen zu können und zu müssen. Aber auch der sich auf die Wissenschaften selbst stützende Naturalismus führt nicht weiter. Die Gesetze, die die molekulare Ebene bestimmen und die Basis für eine mögliche Konstruktion lebendiger Natur darstellen, geben nicht an, an welchen Zielgestalten sich solche Konstruktion orientieren kann, soll der Eingriff über Heilung oder Optimierung hinausgehen. Der Rückgriff auf Erhaltungsbedingungen leistet zu wenig; die Orientierung an funktionalen Zielen setzt entsprechende evaluative Urteile bereits voraus. Wollten wir rationale Orientierung auf das beschränken, was sich mit naturwissenschaftlichen Methoden erkennen läßt, dann wäre die Einsicht, die die Konstruierbarkeit der Natur erlaubt, zugleich die Ursache für das Ausbleiben von Gründen, an denen sich unser Handeln orientieren könnte. Auch der die neuzeitlich-moderne Ethik über weite Strecken beherrschende Ansatz, der szientifischen Erfahrung der Natur die Selbsterfahrung des handelnden Subjekts an die Seite zu stellen und aus ihr die gesuchte Orientierung in Form einer die Moralität allererst hervorbringenden Vernunft zu erwarten, gerät durch die Erkenntnisse der modernen Biologie an ihre Grenze. Denn gerade die Möglichkeiten einer tiefgehenden Manipulation von Genom und Gehirn des Menschen, ebenso wie die Konstruktion von Mensch-Tier-Mischwesen, lassen erkennen, daß das Subjekt – auch methodisch – nicht von seiner Natur so getrennt werden kann, daß es als Orientierungsinstanz ausreicht. 2 Gernot Böhme: Die Vernunft und der Schrecken. Welche Bedeutung hat das genetische Wissen: Naturphilosophische Konsequenzen, in: L. Honnefelder / P. Propping (Hg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 189–195, hier S. 190. 3 Vgl. Carl Friedrich Gethmann / Ludger Honnefelder / Oswald Schwemmer / Ludwig Siep (Hg.): Die »Natürlichkeit« der Natur und die Zumutbarkeit von Risiken. Abschlussbericht (= Forschungsbeiträge des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Bd. A1), Bonn 2001.
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Es ist ja gerade die offenkundige Einheit von Natur und Subjekt, die die Neu- oder Umkonstruktion der menschlichen Natur zu einem Problem für die normative Bewahrung des Subjektseins werden läßt. Schon die Tatsache, daß mein Genom – wie im Fall des reproduktiven Klonens – Resultat der Entscheidung eines Dritten ist und mir damit das Schicksal im ›Schatten‹ eines zeitversetzten Zwillings4 auferlegt wird, ist kein Umstand, zu dem ich mich in der gleichen Weise verhalten kann wie zu den durch den genetischen ›Zufall‹ bestimmten Zügen meiner Natur. Ist diese Einheit aber – wie die thought-experiments in der Philosophie des Geistes suggerieren – beliebig oder – wie bei Descartes – kognitiv nicht zugänglich, sondern nur erlebbar, scheidet eine normative Orientierung an der Einheit von Natur und Subjekt aus. Kann aber weder ein (unmittelbar zugänglicher) metaphysischer noch ein szientistischer Naturalismus als Orientierungsinstanz für die Handlungsfelder einer radikal konstruktiven Biologie betrachtet werden und führen auch die verschiedenen Formen der modernen Regelethik nicht weiter, liegt es nahe, auf eine Ethik des guten Lebens zurückzugehen. Doch auch hier begegnen bekannte Schwierigkeiten: Ethiken des guten Lebens sind der Kontroverse um die Gestalt gelingenden menschlichen Lebens ausgesetzt; zudem setzen sie Annahmen über die Natürlichkeit der menschlichen Natur voraus, um deren Beanspruchbarkeit es gerade geht. Mit Recht gibt es deshalb von verschiedenen Seiten erste Ansätze einer Suche nach einem gehaltvollen Naturbegriff, der mit Blick auf die neuen biotechnologischen Veränderungsmöglichkeiten normative Orientierung erlaubt. Wenn die vorgelegte kurze Skizze der Problemlage zutrifft, müßte ein solcher Naturbegriff einer Reihe von Forderungen genügen, um die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen zu können: 1. Um die geforderte Zustimmungsfähigkeit zu haben, müßte er diesseits der Entwürfe gelingenden Lebens angesiedelt sein, um nicht in deren Kontroverse zu geraten. 2. Um jedoch Orientierung vermitteln zu können, müßte er Aussagen enthalten, die über die Aussagen der Naturwissenschaften hinausgehen und normative Annahmen enthalten. 3. Um die gesuchte Orientierung auf die Veränderung der Natur beziehen zu können, deren Möglichkeit derzeit Gegenstand der Biologie und Biotechnologie ist, müßte der gesuchte Naturbegriff anschlußfähig an die Natur sein, die Gegenstand der Wissenschaften ist. Sucht man unter den in der Philosophie vorgeschlagenen Naturbegriffen denjenigen, der wenigstens vom Ansatz her in der Lage ist, diesem ›Lastenheft‹ für einen praktisch orientierenden Naturbegriff zu entsprechen, dann scheint es der zu sein, den Aristoteles seiner Ethik zugrunde legt und den er in seiner Naturphilosophie skizziert. Denn Aristoteles versteht Natur als physis, d. h. als eine sich »von sich aus« entwickelnde und sich vollziehende Größe, die es erlaubt, Handeln als eine diese Natur entfaltende Praxis zu verstehen. Er deutet diese Praxis als menschliches Gelingen, womit dasjenige Handeln als moralisch geboten erscheint, das als Realisierung der in der Natur gelegenen Strebensziele betrachtet werden kann. Natur erscheint als ›zweite‹ Natur, insofern sie
4 Vgl. Søren Holm: A Life in the Shadow: One Reason Why We Should not Clone Humans, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 7 (1998), S. 160–162.
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als (in Strebenszielen) ausgelegte und auf diese Weise evaluativ ausgezeichnete Natur begegnet. Es wird also weder auf Natur als reine Vorgegebenheit (wie sie in dem von der spätmittelalterlichen Theologie benutzten Grenzbegriff eines status naturae purae begegnet) zurückgegriffen, noch wird Natur einfach gleichgesetzt mit der jeweiligen kultürlichen Selbstauslegung des Menschen. Und schließlich enthält die ›zweite‹ Natur die von der Wissenschaft erfaßte Natur in sich, ohne in ihr aufzugehen. Mit dem Verweis auf Aristoteles ist freilich nur ein Hinweis gegeben, unter welchem Anforderungsprofil nach einem praktisch orientierenden Naturbegriff zu suchen ist, nicht aber bereits eine Lösung gefunden. Denn es müßten unter den heutigen Bedingungen die Annahmen ausgewiesen werden, die von Aristoteles aus seiner Sicht vorausgesetzt bzw. impliziert werden, und auch die Fragen beantwortet werden, die er offen gelassen hat. Zu den Annahmen gehört die These, daß das, was Aristoteles unter Natur versteht, eine nichtepistemische Größe ist, die gleichwohl nur epistemisch in Erscheinung tritt, also einen schwachen Realismus impliziert.5 Unterscheidet man mit Sellars und Davidson zwischen dem logischen Raum der Naturgesetze und dem logischen Raum der Gründe6, dann läuft eine Rezeption der aristotelischen Naturauffassung – wie McDowell zeigt7 – darauf hinaus, Natur als eine irreduzible Größe im Raum der Gründe zu verstehen, sie zugleich aber in Form von empirischen Erfahrungen und körperlichen Handlungen als Realisierung von Anlagen aufzufassen, die zur Natur im logischen Raum der Naturgesetze gehören. Will man diesen Bezug der lebensweltlich erfahrenen und interpretierten Natur auf die in den Naturgesetzen erfaßte Natur nicht in Form eines Reduktionismus erklären, bedarf nicht nur die Irreduzibilität der besonderen Begründung; auch die Frage nach der Weise, in der sich Natur hier wie dort zeigt und welche Beziehung dem zugrunde liegt, braucht eine tiefere Klärung. Zu den Implikationen eines Rekurses auf den Begriff einer praktische Orientierung erlaubenden ›zweiten‹ Natur, wie er bei Aristoteles begegnet, gehört aber nicht nur der beschriebene Realismus, sondern auch das, was man einen schwachen Essentialismus nennen könnte. Die menschliche Natur wird als gestaltungsoffen betrachtet, dies aber im Rahmen von elementaren Strebungen bzw. Grunddispositionen des Handelns, denen ein Anspruch zugeordnet wird, der als unbeliebig bewertet wird und der dem Handeln deshalb bestimmte Grenzen auferlegt. J. Finnis, M. Nussbaum, A. Gewirth und andere haben in anderen Zusammenhängen auf solche Strukturen als Grunddimensionen
5 Zur Problematik vgl. Ludger Honnefelder: Die Frage nach der Realität und die Möglichkeit der Metaphysik, in: H. Lenk / H. Poser (Hg.): Neue Realitäten – Herausforderungen der Philosophie. XVI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Berlin 20.–24.9.1993, Berlin 1993, S. 405–423. 6 Vgl. Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, in: H. Feigl / M. Scriven (Hg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. 1, Minneapolis 1956, S. 253–329, hier S. 298 f.; Donald Davidson: Geistige Ereignisse, in: ders.: Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1990, S. 291–316, hier S. 313. 7 Vgl. John McDowell: Geist und Welt, Frankfurt/M. 2001, S. 18 ff. – Vgl. dazu auch Michael Quante: Zurück zur verzauberten Natur – ohne konstruktive Philosophie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 953–965.
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menschlichen Gelingens metanormativ Bezug genommen.8 Voraussetzung ist freilich ein Holismus, der davon ausgeht, daß das für den Menschen Gute nicht anders als im Umriß einer auf solche Weise beschreibbaren Natur gesucht werden muß. Trifft die Skizze der Problemlage zu, dann bedeutet dies, daß die Herausforderung der Bioethik durch eine radikal konstruktive Biologie die Ethik dazu zwingt, den Stellenwert der Natur im normativen Diskurs neu in Rechnung zu stellen. Denn wenn die Natur des Subjekts in einer Weise Gegenstand der Veränderung zu werden beginnt, die das Subjektsein selbst betrifft, und wenn aufgrund dieser Konstellation weder der Rekurs auf die formale Selbstauslegung des Subjekts noch auf einen (unmittelbar zugänglichen) metaphysischen oder einen strikt szientistischen Naturalismus Abhilfe verspricht, steht die Ethik vor einer in dieser Form unerwartet neuen und umfassenden Herausforderung. Offensichtlich geht es um nicht weniger, als der orientierenden Kraft derjenigen Natur eine zentrale Rolle einzuräumen, die bislang als die selbstverständliche und deshalb verschweigbare normative Voraussetzung in den bioethischen Diskursen am Werk war. Als Beleg für diese Schlußfolgerung kann J. Habermas’ Versuch betrachtet werden, die Herausforderung aufzunehmen, die aus der Anwendung der neuen konstruktiven Biologie auf den Menschen selbst erwächst.9 Wenn das normative Fundament methodendualistisch auf die wechselseitige Anerkennung der Subjekte beschränkt werden muß, bleibt nur die Einführung einer »Gattungsethik« als Ausweg, um eine orientierende Instanz zu gewinnen, die es erlaubt, die Grenzen zu bestimmen, in denen das Subjektsein festgehalten werden kann. Schon der gewählte Terminus aber zeigt an, daß mit der »Gattungsethik«, d. h. der moralischen Sicht des Menschen als Gattungswesen, auf mehr Bezug genommen wird als auf eine faktisch vorhandene aber als solche kontingent bleibende moralische Überzeugung.10
II. Wie bei der Skizzierung der Problemlage bereits deutlich wurde, lassen die Möglichkeiten der Anwendung einer radikal konstruktiven Biologie auf den Menschen im Modus der Gefährdung eine Einheit von Subjekt und Natur, von organischem und personalem System erkennbar werden, die gängige Deutungen dieser Einheit von Subjekt und Natur bzw. deren Unterscheidung an ihre Grenzen führt. Sie zeigen eine Weise der Verschränkung von Identität und Nichtidentität, der weder ein Dualismus in der cartesianischen Vgl. etwa John Finnis: Fundamentals of Ethics, 2. Aufl., Oxford 1985; Martha Nussbaum: Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution, in: G. Patzig (Hg.): Aristoteles’ »Politik«, Göttingen 1990, S. 152–186; Alan Gewirth: Reason and Morality, Chicago, London 1978, S. 48–128. 9 Vgl. Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. Aufl., Frankfurt/M. 2002, S. 70–80. 10 Vgl. näher Ludger Honnefelder: Bioethik und Menschenbild, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 7, Berlin, New York 2002, S. 32–52. 8
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Linie noch ein Monismus in Form eines reduktionistischen Naturalismus gerecht wird. Zumindest ist aus solchen Deutungen keine ethisch-normative Orientierung zu gewinnen. Denn geht man von einem szientistischen Naturalismus aus, der Kausalität ausschließlich als eine Relation zwischen Zuständen und Ereignissen (event-causality) kennt und dabei ein 4-dimensionales Raum-Zeit-System voraussetzt, dann können mentale Eigenschaften nur als komplexe Zustände eines materiellen Körpers aufgefaßt werden, was auf einen Monismus hinausläuft, der keine Annahmen von Bedeutung zuläßt und damit ohne normative Kraft bleibt.11 Oder aber die mentalen Eigenschaften stellen einen eigenen, auf die Eigenschaften des Körpers nicht zurückführbaren Bereich dar, was auf einen methodischen bzw. ontologischen Dualismus hinausläuft.12 Die ›Lebendigkeit‹ ist dann eine physische Dispositionseigenschaft bestimmter materieller Körper, der die ›Geistigkeit‹ als Dispositionseigenschaft eines anderen Bereichs von Entitäten gegenübersteht. Materielle Körper sind von Personen unterschieden und in belebte und unbelebte unterteilbar. Im Fall des angenommenen Monismus blieben die durch die konstruktive Biologie ermöglichten fundamentalen Veränderungen des organischen Systems ohne normative Bedeutung. Im zweiten Fall ist nicht zu ersehen, wie an der Unabhängigkeit, der sich die normative Rolle des mentalen Bereichs verdankt, festgehalten werden kann, wenn die Veränderungen den Status des Subjekts selbst fundamental verändern. Damit ist die alte Frage nach der Einheit des Menschen im Doppelaspekt von organischem und personalem System neu gestellt. Will man dem beschriebenen Dilemma entgehen, muß man auf eine Deutung zurückgehen, die die menschliche Natur als eine solche betrachtet, die zugleich Dispositionseigenschaften wie Lebendigkeit und Geistigkeit besitzt. Gefragt ist eine nicht-naturalistische Lösung (›naturalistisch‹ im Sinn des strikten szientistischen Naturalismus verstanden), die zugleich nicht dualistisch ist. Das aber heißt, den Menschen im Rahmen einer pluri-kategorialen Ontologie als etwas zu betrachten, zu dessen Natur es gehört, Bestimmungen unterschiedlicher Kategorien (wie ›Säugetier einer bestimmten Art zu sein‹ oder ›die Fähigkeit zu kognitiven und volitiven Akten zu besitzen‹) in einer unauflösbaren Einheit zu umfassen.13 Auch hier kann man die aristotelische Naturphilosophie und Ontologie als Hinweis auf einen aussichtsreichen Deutungsrahmen betrachten. Denn sie geht nicht von einer dualistischen, ebenso wenig wie von einer monistischen Ontologie aus, sondern betrachtet den Menschen als Lebewesen einer natürlichen Art, d. h. als eine persistierende, in Raum und Zeit fortdauernde Entität, zu deren Natur oder Wesen es gehört, eine bestimmte Ausstattung zu besitzen und sie – im Fall von Lebewesen – in Form einer natürlichen Entwicklung auszubilden. Die »Seele« stellt dabei als »Form« das Lebensund Organisationsprinzip dar, das die Natur des individuellen Lebewesens bestimmt,
Vgl. dazu näher McDowell: Geist und Welt, a. a. O., 5. und 6. Vorl., S. 113–154. Vgl. ebd. 13 Vgl. dazu ausführlicher Ludger Honnefelder: Der Streit um die Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993), S. 245–265. 11 12
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insofern es die Grundstrebungen, Fähigkeiten und Dispositionen sowie die Identitäts-, Kontinuitäts- und Existenzbedingungen festlegt, die allen Individuen der betreffenden Art von Lebewesen eigen ist. Zu diesem Verständnis gehört es, menschliches Gelingen als die Praxis zu verstehen, in der sich die Natur des menschlichen Lebewesens zur Entfaltung und Erfüllung bringt. Das Sortalprädikat, das das Individuum mit Hilfe der Angabe seiner natürlichen Art charakterisiert, ist koextensiv mit einem Wertprädikat und erlaubt damit die normative Orientierung am Umriß der Natur. In ontologischer Hinsicht geht eine solche Deutung davon aus, das Vorkommen einer Entität als das Gegebene zu betrachten, und zwar als ein solches, das als Exemplar einer natürlichen Art eine bestimmte Natur besitzt. Vorausgesetzt wird also eine Ontologie von (in aristotelischer Diktion) ousiai, also Substanzen, oder in terms der modernen analytischen Philosophie von continuants, die eine qualitative Kontinuität (endurance) in der Zeit besitzen und durch einen schwachen Essentialismus gekennzeichnet sind, wie er für natürliche Arten charakteristisch ist und im Fall von menschlichen Lebewesen Bestimmungen unterschiedlicher Kategorien in einer unauflösbaren Einheit umfaßt. Im Rahmen der oben skizzierten monistischen bzw. dualistischen Deutung sind das Gegebene mentale Eigenschaften, die im vorliegenden Fall an einem Körper auftreten, der seinerseits durch bestimmte materielle (physikalische und chemische) Eigenschaften charakterisiert ist und – so die Annahme aus der Perspektive einer event causality – eine 4-dimensional bestimmbare Kontinuität in der Zeit hat (perdurance), d. h. als eine Entität verstanden wird, die aus zeitlichen Teilen zusammengesetzt ist und deren Kontinuität aus der qualitativen Relation aufeinander folgender Zeitphasen besteht.14 Sofern in diesem Rahmen wertende Aussagen getroffen werden, sind sie an das aktuelle Vorliegen der für die Wertung relevanten Eigenschaft gebunden, was freilich nur unter methodendualistischen Voraussetzungen möglich ist. Erklärungsleistungen und Folgelasten dieser beiden Deutungen sind dementsprechend unterschiedlich: Die zuletzt genannte Deutung kann an die Perspektive der modernen Naturwissenschaften anknüpfen, die durch eine ausschließlich theoretische Einstellung gekennzeichnet ist und aus methodologischen Gründen – sehr verkürzt gesprochen – nur Zustände und Relationen zuläßt, Kausalität ausschließlich als eine Relation zwischen Zuständen bzw. Ereignissen (event-causality) kennt und dabei ein 4-dimensionales Raum-Zeit-System voraussetzt. Die Deutung, wie sie in der aristotelischen Linie begegnet, geht dagegen von der lebensweltlichen Sprache aus, die auch als Einführungs- und Referenzsprache der naturwissenschaftlichen Sicht unverzichtbar ist und die durch ein Zugleich von theoretischer und praktischer Einstellung gekennzeichnet ist sowie eine Ontologie impliziert, in der Lebewesen natürlicher Arten begegnen, die – wie im Fall des Menschen – als pluri-kategorial gekennzeichnete continuants zugleich agierende Subjekte, d. h. Ursprungspunkte einer agent-causality sind.15
Vgl. näher Edmund Runggaldier: Personen und diachrone Identität, in: Conceptus 26 (1992/3), S. 107–123. 15 Vgl. ebd. 14
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Kolloquium 7 · Ludger Honnefelder
Da von einer solchen Deutung eine lebensweltliche Erfahrung der menschlichen Natur in Anspruch genommen wird, in der die handelnden Subjekte Lebewesen wie andere Lebewesen sind, ist der Bezug auf die naturwissenschaftlich erfaßte Natur durchaus konstitutiv, wobei freilich zu zeigen wäre, daß dies nicht notwendig einen Reduktionismus der als normativ betrachteten mentalen Akte auf die Eigenschaften der Natur impliziert, wie sie sich in naturwissenschaftlicher Sicht zeigt. Umgekehrt kann die Deutung, die davon ausgeht, daß mentale Eigenschaften Eigenschaften sind, die an einem materiellen Körper auftreten, der seinerseits szientistisch aufzufassen ist, normative Kraft nur gewinnen, indem sie einen Methodendualismus zugrunde legt, der der reduktionistischen Sicht der Natur die irreduzible Welt des Mentalen gegenüberstellt, eben damit aber die Einheit von Subjekt und Natur nicht zu erfassen vermag, mit der allein der Herausforderung der konstruktiven Biologie erfolgreich zu begegnen ist. Gegenüber der Reduktion auf die event causality erscheinen substanzontologische Deutungen wie die aristotelische auf den ersten Blick als voraussetzungsreicher. D. Parfit nennt in diesem Sinn die Annahme eines der Kontinuität der Person zugrunde liegenden continuant einen »deep further fact«, also eine zusätzliche tiefere Tatsache, die anzunehmen ihm nicht sinnvoll erscheint.16 Andererseits fordert die Reduktion der Kontinuität der Person auf psychological connectedness, wie er sie zugrunde legt, zu ihrer Konsistenz eine Ontologie der 4-Dimensionalität, die weit stärkere Voraussetzungen unterstellt als die Ontologie von continuants, ganz abgesehen davon, daß sie – wie angedeutet – in erhebliche Dissonanzen mit der lebensweltlichen Selbsterfahrung und der darin eingeschlossenen Naturwahrnehmung führt.17
III. Evident wird die Leistungskraft der beiden Deutungen bei der Frage der zeitlichen Erstreckung der menschlichen Existenz. Virulent ist diese Frage dadurch geworden, daß Lebensanfang und Lebensende durch Reproduktionsgenetik und Intensivmedizin ihren Charakter eines schicksalhaft vorgegebenen Faktums verloren haben und in den Bereich menschlicher Machbarkeit geraten sind.18 Was aber können angesichts der so veränderten Lage die normativen Leitfäden des Handelns sein, wenn Lebensanfang und Lebensende die Daten sind, die die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens markieren? Verzichtet man auf die Annahme einer persistierenden Entität, d. h. einer Substanz, zu deren Natur es gehört, die das Wertprädikat begründenden Eigenschaften zu beVgl. Derek Parfit: Reasons and Persons, Oxford 1984, S. 325. Vgl. näher Honnefelder: Der Streit um die Person, a. a. O. 18 Zum Lebensanfang vgl. Ludger Honnefelder: Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos, in: O. Höffe / L. Honnefelder / J. Isensee / P. Kirchhof (Hg.): Gentechnik und Menschenwürde, Köln 2002, S. 79–110; zum Lebensende, vgl. Ludger Honnefelder: Hirntod und Todesverständnis: Das Todeskriterium als anthropologisches und ethisches Problem, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. 65–78. 16 17
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sitzen, steht man vor der Schwierigkeit zu begründen, warum das Wertprädikat nicht nur von denjenigen Zuständen des Menschen ausgesagt wird, in denen die fraglichen mentalen Eigenschaften aktuell gegeben sind, warum also Zustände des Schlafs, der Bewußtlosigkeit, der ersten Lebensphase oder der Demenz nicht von der Zuschreibung des Wertprädikats auszuschließen sind. Greift man zu diesem Zweck auf Kriterien wie Spezieszugehörigkeit, Identität, Potentialität und Kontinuität zurück, so nimmt man Leitfäden zur Hilfe, die ihrerseits nicht ohne die ontologischen Implikationen wie die einer diachronen Identität in Form von Persistenz, einer natürlichen Entwicklung von natürlichen Arten etc. zu begründen sind, also Voraussetzungen, welche in Deutungen, für die die aristotelische als Beispiel genannt wurde, eine konstitutive Rolle spielen, die aber weder die genannte monistische noch die methodendualistische Deutung gemäß dem gewählten Ansatz akzeptieren kann. Auch mit Blick auf die Einheit von Subjekt und Natur und deren zeitliche Erstrekkung nötigen die Herausforderungen der konstruktiven Biologie eine Bioethik, die über intuitive Annahmen und interessegeleitete Ad-hoc-Prämissen hinausgehen soll, die Akten von Naturphilosophie und Ontologie neu zu öffnen und sich tragfähiger Leitfäden der diachronen Einheit und Identität eines Individuums zu versichern, das ein Lebewesen ist, von dem angenommen werden muß, daß ihm als diesem Lebewesen die normativ auszeichnende Fähigkeit des Subjektseins zukommt. Wie die Frage nach Beginn und Ende des menschlichen Lebens sichtbar macht, setzen diese Leitfäden aber ihrerseits grundlegendere Annahmen voraus, die des Ausweises bedürfen.
IV. Halten wir das Ergebnis unserer bisherigen Überlegungen im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach einem praktischen Naturbegriff fest: – Ein strikter Naturalismus führt nicht zum Ziel, weil ein unmittelbar normativer metaphysischer Naturalismus schon an der Frage der Zugänglichkeit scheitert und ein sich auf die naturwissenschaftliche Sicht reduzierender szientifischer Naturalismus auf sich allein gestellt keine normative Bedeutung zu gewinnen vermag. – Auch ein methodendualistischer Ansatz gerät angesichts der Ausgangsfrage in Schwierigkeiten, denn der in Ergänzung des (normativ bedeutungslos bleibenden) szientifischen Naturbegriffs als irreduzibel festgehaltene Begriff eines mentalen Subjekts ist als ontologisch unabhängige Größe nicht aufweisbar und aufgrund seiner Trennung von der physischen Natur nicht leistungsfähig für die Fragen, die das Subjekt gerade in seiner Einheit mit der Natur betreffen. – Um den lebensweltlich ständig getroffenen Rekurs auf die Einheit von Subjekt und Natur auszuweisen, bleibt also nur der Weg, den Begriff einer Natur wiederzugewinnen, der Subjekt und szientifisch erfaßbare Natur zugleich umgreift. Wie das Beispiel des aristotelischen Naturbegriffs zeigt, läßt er sich nur in Rekonstruktion der Natur erreichen, wie sie sich aus der Perspektive des Handelnden zeigt. Denn sie umgreift
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Subjekt und Natur und zeigt sich als ›zweite‹, d. h. vom Subjekt ergriffene, von ihm her ausgelegte, aber sein Handeln zugleich disponierende Natur. Wenn einem solchen Ansatz gemäß der Zugang zur normativ maßgeblichen Natur über die lebensweltliche Selbsterfahrung der handelnden Subjekte gewonnen wird, muß dies Konsequenzen für die Weise haben, in der wir naturgestützte normative Aussagen zu machen vermögen. Vor allem stellt sich die Frage, wie eine Natur, die als ›zweite‹, d. h. gestaltete und interpretierte Natur erkannt wird und gleichwohl als real und identisch mit der ersten Natur gedacht werden muß, der hermeneutischen Beliebigkeit entgehen und angesichts der Vielgestaltigkeit, in der die ›zweite‹ Natur begegnet, normative Bedeutung gewinnen kann. Möglich scheint dies in Form einer Deutung, die vom aktuellen Handlungsvollzug auf zugrunde liegende Dispositionen und Potentialitäten zurückgeht und diese Dispositionen und Potentialitäten normativ als solche auszeichnet, von deren Erfüllung das Gelingen menschlichen Lebens abhängt und die deshalb als konstitutiv für die »Lebensgüter«19 des Menschen betrachtet werden müssen. Dabei werden als normativ unbeliebig diejenigen Strebens- und Handlungsziele betrachtet, die Bedingungen der Möglichkeit desjenigen Strebens sind, das als grundlegend wird gelten müssen, sich nämlich vernünftig und frei selbst zum Handeln bestimmen zu können. Einem solchen Ansatz folgen die bereits genannten Deutungen wie die von J. Finnis, M. Nussbaum, oder A. Gewirth20, wenn sie bestimmte Dimensionen des Handelns als grundlegend betrachten und entsprechend normativ auszeichnen. Im Zusammenhang des Menschenrechtsgedankens und der Grundrechtskataloge im Rahmen nationaler Verfassungen wie des deutschen Grundgesetzes erscheinen solche »Anfangsbedingungen«21 des gelingenden Menschseins als Inhalte grundrechtlicher Ansprüche. Wie die rechtliche Auslegung der solche Bedingungen schützenden Menschen- und Grundrechte zeigt, will die normative Rolle der zugrunde liegenden Grunddimensionen oder Anfangsbedingungen wohl bestimmt sein. Sie gewinnen Normativität aus ihrem Charakter, reale Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Gelingens zu sein, zugleich sind aber aus ihnen konkrete Normen nicht einfach ablesbar. Wie ihre Eruierung aus Verletzungstatbeständen zeigt, besteht ihre normative Funktion darin, bestimmte Grenzen zu setzen und Ansprüche zu formulieren, in deren Rahmen das konkret handlungsleitende Urteil nicht selten auf dem Weg der Abwägung, oder des – wie es im Ver-
Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1994, S. 544. Vgl. Anm. 8. – Bereits die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen Ethik weist in diese Richtung; vgl. Ludger Honnefelder: Güterabwägung und Folgenabschätzung. Zur Bestimmung des sittlich Guten bei Thomas von Aquin, in: D. Schwab / D. Giesen / J. Listl / H. W. Strätz (Hg.): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift P. Mikat, Berlin 1989, S. 81–98. 21 Vgl. Otfried Höffe: Transzendentale Interessen: Zur Anthropologie der Menschenrechte, in: W. Kerber (Hg.): Menschenrechte und kulturelle Identität, München 1991, S. 15–36; Ludger Honnefelder: Person und Menschenwürde, in: L. Honnefelder / G. Krieger (Hg.): Philosophische Propädeutik, Bd. 2: Ethik, Paderborn 1996, S. 213–266. 19 20
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fassungsrecht heißt – ›schonenden Ausgleichs‹ mit anderen grundrechtlich geschützten Ansprüchen zu gewinnen ist.22 Der moderne Menschenrechtsgedanke greift dabei auf das dahinter stehende Verständnis von menschlichem Lebewesen bzw. menschlicher Natur zurück, wenn es den Grund für die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit sieht, selbstverantwortliches Subjekt zu sein, zugleich aber das Kriterium der Zuschreibung in nichts anderem sieht als der, Mensch zu sein. Dies ist plausibel nur, wenn man zwischen dem Menschsein und der den Würdeschutz begründenden Fähigkeit des Subjektseins eine strenge Einheit sieht und das Menschsein als jenes Zuschreibungskriterium betrachtet, das im Vergleich zu allen anderen fundamental und als solches der Beliebigkeit entzogen ist. Normativ virulent wird der hier sich zeigende Bezug auf die Einheit von Subjekt und Natur und damit auf die zugehörigen ontologischen Konzepte bei zwei miteinander zusammenhängenden Fragen, nämlich der nach der zeitlichen Erstreckung des Schutzes, der dem Menschen gebührt, und nach der Möglichkeit einer graduellen Abstufung dieses Schutzes. Wenn die Antwort auf diese beiden Fragen davon ausgehen soll, was als normativ einvernehmlich gilt, nämlich der Annahme einer Schutzwürdigkeit des erwachsenen Menschen, dann ist die Frage entscheidend, aufgrund wessen wir dem Menschen denn überhaupt normative Dignität zuerkennen. Ist diese Frage mit Hilfe eines (unmittelbar zugänglichen) metaphysischen oder eines szientistischen Naturalismus einerseits oder einer methodendualistischer Perspektive auf Subjekt und Natur andererseits nicht beantwortbar, ohne sich in die skizzierten epistemologischen und normativen Dilemmata zu verwickeln, dann stellt sich unvermeidlich die Frage, an welchem Begriff der Natur des Menschen sich die zu findende handlungsleitende Norm orientieren kann. Da die konstruktive Biologie die Erzeugung von Zuständen menschlichen Lebens erlaubt, denen nicht einfach anzusehen ist, ob hier ein Individuum der natürlichen Art Mensch vorliegt, werden im Fall der Reproduktionsgenetik die Kriterien maßgeblich sein, nach denen wir entscheiden, ob es sich um ein Lebewesen der menschlichen Art handelt, das diachron identisch ist mit dem geborenen Menschen, dem die in Frage stehende normative Auszeichnung unzweifelhaft zukommt. Denn wenn eine solche diachrone Identität vorliegt und die normative Auszeichnung am Menschsein hängt, muß sie auch entsprechenden vorgeburtlichen Stadien des menschlichen Lebewesens zukommen. Diachrone Identität ist aber nach dem zugrunde gelegten Naturverständnis im Fall des Menschen dann gegeben, wenn eine lebendige Entität, also ein Lebewesen vorliegt, das sich »von sich her« und gemäß seiner Artnatur zu einem geborenen Menschen zu entwickeln vermag. Dem entspricht es, die sog. Totipotenz, d. h. die Fähigkeit zur Ausbildung eines ›ganzen‹ Menschen in Verbindung mit den Annahmen der Spezieszugehörigkeit, der Identität und Kontinuität als maßgeblichen Leitfaden für die Übertragung der Schutzwürdigkeit vom geborenen auf den ungeborenen Menschen zu betrachten.23
22 23
Vgl. ebd., S. 258 ff. Vgl. ausführlicher Honnefelder: Die Frage nach dem moralischen Status, a. a. O.
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Versteht man Totipotenz bzw. Potentialität anhand dieses Naturverständnisses als Entwicklungs- und nicht als Erzeugungspotentialität, können die Zwecke, zu denen die konstruktive Biologie solche Potentialität herstellt oder herzustellen vermag, nicht konstitutiv für die Frage sein, ob ein menschliches Lebewesen vorliegt, das sich aus sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln vermag und dem deshalb die zu prüfende Schutzwürdigkeit zukommt. Maßgeblich kann in dieser Hinsicht nur sein, ob ein Lebewesen mit der artspezifischen Totipotenz entstanden ist, unabhängig davon, wie die Herstellungsbedingungen sind und ob es zu ihnen natürliche Äquivalente gibt. Im anderen Fall wären durch die Faktizität des zu Normierenden, nämlich die faktisch vorliegenden Handlungsszenarien der konstruktiven Biologie die Kriterien aufgehoben, an denen allererst geprüft werden soll, ob und inwieweit man in diese Handlungsszenarien eintreten soll oder nicht. Angesichts des Entwicklungscharakters von Lebewesen, wie er auch dem menschlichen Lebewesen zukommt, Abstufungen in der Schutzwürdigkeit vorzunehmen, die den verschiedenen Stadien des menschlichen Lebewesens zukommt, ist bei Inanspruchnahme des zugrunde liegenden Naturverständnisses schwierig. Natürlich gehen Bedingungen wie der Entwicklungsstand eines Lebewesens in das handlungsleitende Urteil ein, wenn Güter von prinzipiell gleicher Schutzwürdigkeit konfligieren. Doch geschieht dies nur über die Handlungsumstände, nicht in Form einer Graduierung in dem, was das Schutzgut selbst konstituiert.24 Denn wenn das menschliche Lebewesen das Schutzgut ist und es zu Lebewesen dieser Art gehört, ihr Leben in der Weise zu leben, daß sie sich entwickeln, kann ein bestimmtes Entwicklungsstadium nicht die Schutzwürdigkeit verändern, es sei denn, man verläßt die Bindung der Schutzwürdigkeit an das Vorhandensein eines menschlichen Lebewesens und knüpft sie an eine bestimmte Eigenschaft dieses Lebewesens. Das aber erfordert nicht nur eine Begründung für die Auswahl dieser Eigenschaft, sondern ist auch mit dem Konzept einer jedem Individuum der Spezies Mensch kraft seiner Natur zukommenden Fähigkeit, Subjekt seines Handelns zu sein, kaum zu verbinden. Selbstredend wird bei einem solchen Rückgriff auf den Leitfaden der Natur des menschlichen Lebewesens auf eine teleologisch gedeutete Natur Bezug genommen. Dies aber ist im Rahmen einer ›zweiten‹ Natur nicht nur legitim, sondern notwendig, ist doch eine aus der Perspektive des handelnden Subjekts erfaßte Natur zwangsläufig eine auf Handlungsdispositionen und -ziele bezogene Natur. Kommen wir zur Eingangsfrage zurück: Die Konfrontation der Bioethik mit der konstruktiven Biologie zeigt auf unerwartet neue Weise, welche Bedeutung die Natur des Menschen für unsere Moral besitzt. Natur erweist sich als unverzichtbarer Teil unserer grundlegenden moralischen Einschätzungen, sofern wir am Subjektsein als Prinzip der Moralität festhalten wollen. Sie ist – um mit Ch. Taylor zu sprechen25 – ein konstitutives Gut unserer die Moral bestimmenden Lebensgüter und als solche eine Moralquelle eigener Art. Eben diese unverzichtbare normative Rolle der Natur kann nicht rekonstruiert 24 25
Vgl. ebd., S. 108 ff. Taylor: Quellen des Selbst, a. a. O., S. 178, sowie Teil IV, S. 537–679.
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werden, wenn wir uns auf einen szientistischen Naturalismus beschränken oder einen methodendualistischen Rekurs zugrunde legen, der nur ein »punktförmiges Selbst«26 erkennen läßt. Ein Begriff der Natur, auf den wir zur Orientierung unseres Handelns im Umgang mit den Möglichkeiten der konstruktiven Biologie zurückgreifen müssen, wird gehaltvoller sein müssen als die den Gegenstand der Biologie bildende Natur und mehr umfassen müssen als das mentale Subjekt, das sich im beschriebenen methodendualistischen Konzept zeigt. Auf der Suche nach einem solchen Begriff der ›zweiten‹ Natur gibt die aristotelische Deutung wichtige Hinweise. Freilich ist sie noch nicht die Antwort selbst, bedarf sie doch unter veränderten Bedingungen einer neuen Ausarbeitung ihrer theoretischen Fundamente. Die in der Bioethik übliche ›Ad-hocery‹, die auf einzelne Aspekte einer solchen Natur zurückgreift bzw. einen monistischen oder methodendualistischen Zugang wählt, der sich seine Implikationen nicht eingesteht, bleibt wirkungslos. Erst wenn die philosophische Herausforderung der Bioethik angemessen erfaßt ist, wird sie auch ihre praktischen Funktionen erfüllen können.
Literatur Böhme, Gernot: Die Vernunft und der Schrecken. Welche Bedeutung hat das genetische Wissen: Naturphilosophische Konsequenzen, in: L. Honnefelder / P. Propping (Hg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 189–195. Davidson, Donald: Geistige Ereignisse, in: ders.: Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1990, S. 291–316. Finnis, John: Fundamentals of Ethics, 2. Aufl., Oxford 1985. Gethmann, Carl Friedrich / Honnefelder, Ludger / Schwemmer, Oswald / Siep, Ludwig (Hg.): Die »Natürlichkeit« der Natur und die Zumutbarkeit von Risiken. Abschlussbericht (= Forschungsbeiträge des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Bd. A1), Bonn 2001. Gewirth, Alan: Reason and Morality, Chicago, London 1978. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. Aufl., Frankfurt/M. 2002. Höffe, Otfried: Transzendentale Interessen: Zur Anthropologie der Menschenrechte, in: W. Kerber (Hg.): Menschenrechte und kulturelle Identität, München 1991, S. 15– 36. Holm, Søren: A Life in the Shadow: One Reason Why We Should not Clone Humans, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 7 (1998), S. 160–162. Honnefelder, Ludger: Bioethik und Menschenbild, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 7, Berlin, New York 2002, S. 32–52. Honnefelder, Ludger: Der Streit um die Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993), S. 245–265. Honnefelder, Ludger: Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Em26
Ebd., S. 288–318.
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Kolloquium 7 · Ludger Honnefelder
bryos, in: O. Höffe / L. Honnefelder / J. Isensee / P. Kirchhof (Hg.): Gentechnik und Menschenwürde, Köln 2002, S. 79–110. Honnefelder, Ludger: Die Frage nach der Realität und die Möglichkeit der Metaphysik, in: H. Lenk / H. Poser (Hg.): Neue Realitäten – Herausforderungen der Philosophie. XVI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Berlin 20.–24. 9. 1993, Berlin 1993, S. 405– 423. Honnefelder, Ludger: Güterabwägung und Folgenabschätzung. Zur Bestimmung des sittlich Guten bei Thomas von Aquin, in: D. Schwab / D. Giesen / J. Listl / H.W. Strätz (Hg.): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift P. Mikat, Berlin 1989, S. 81–98. Honnefelder, Ludger: Hirntod und Todesverständnis: Das Todeskriterium als anthropologisches und ethisches Problem, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. 65–78. Honnefelder, Ludger: Person und Menschenwürde, in: L. Honnefelder / G. Krieger (Hg.): Philosophische Propädeutik, Bd. 2: Ethik, Paderborn 1996, S. 213–266. Kant, Immanuel: Rezension zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 779–812. McDowell, John: Geist und Welt, Frankfurt/M. 2001. Nussbaum, Martha: Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution, in: G. Patzig (Hg.): Aristoteles’ »Politik«, Göttingen 1990, S. 152–186. Parfit, Derek: Reasons and Persons, Oxford 1984. Quante, Michael: Zurück zur verzauberten Natur – ohne konstruktive Philosophie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 953–965. Runggaldier, Edmund: Personen und diachrone Identität, in: Conceptus 26 (1992/3), S. 107–123. Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, in: H. Feigl / M. Scriven (Hg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. 1, Minneapolis 1956, S. 253– 329. Taylor, Charles: Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1994.
KOLLOQUIUM 8 Virtuelle Welten – Kreativität und Phantasie in Mathematik, Naturwissenschaften und anderen Künsten
Sybille Krämer Einführung. Wie aus ›nichts‹ etwas wird: Zur Kreativität der Null Dieter Mersch Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität Christian Thiel Kreativität in der mathematischen Grundlagenforschung Bernd Mahr Die Schöpfung der Maschine. Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen
Einführung Wie aus ›nichts‹ etwas wird: Zur Kreativität der Null Sybille Krämer (Berlin)
1. Drei unterschätzte Aspekte der Kreativität Das Zentrum unserer gängigen Kreativitätsvorstellung bilden drei Annahmen: Kreativität ist verbunden mit dem Hervorbringen, dem Erzeugen von etwas: (i) Kreativität erschafft Neues, so noch nicht Dagewesenes. (ii) Kreativität ist ein Attribut des individuellen Handelns und individuellen Einfalls; kreativ ist das Tun Einzelner. (iii) Kreativität ist Symptom unserer Geistigkeit, sie ist Ausweis unserer Vernunftbegabung. Wie bei allen Gemeinplätzen: Ganz falsch ist das nicht. Und doch bleiben im Schlagschatten dieses Gemeinplatzes Aspekte, ohne die unser Verständnis von Kreativität gleichwohl unzureichend bleibt. Auf drei dieser wenig bedachten Facetten sei hier hingewiesen: (i) Kreativität gründet zu einem Gutteil weniger in der Erschaffung und Neuerzeugung, vielmehr in der Übertragung eines Sachverhaltes zwischen heterogenen Domänen. Können wir unser Modell von Kreativität also nicht nur am Modell des Demiurgen, sondern auch am Modell des Vermittlers bzw. Mittlers gewinnen, welcher nicht erzeugt, vielmehr verbindet und verschiedenartige Sphären in Berührung bringt? Kann hier die Übertragungsleistung der Metapher (meta-phora) vorbildgebend sein? (ii) Kreativität geht Hand in Hand mit Praktiken der Verkörperung und mit Kulturtechniken der Materialisierung des Intellekts. Nicht einfach daß wir Geist ›haben‹, sondern daß wir in Bild, Schrift und Zahl sinnliche Spuren des Geistigen bilden, die wir dann nicht nur deuten, sondern mit denen wir handgreiflich operieren können, beflügelt unsere Schöpferkraft. (iii) Das Schöpferische ist immer auch ein Resonanzphänomen, welches antwortet auf etwas, das in der Umwelt bereits vorliegt. Der kreative Akt zehrt von Wechselwirkungen mit der ›Umgebung‹. Gegenüber dem methodologischen Individualismus, der die Kreativität von Personen favorisiert, sind überindividuelle Faktoren kultureller Formationen und Dynamiken im Spiel, die den Nährboden jener Fragen abgeben, aus denen das Neue einer schöpferischen Antwort inspiriert wird und vor allem: dann auch Anerkennung finden kann.
2. Wissenschaft und Kunst: Gedanken-Spuren Es sind gerade die Wissenschaften und die Künste, in denen die Schöpferkraft des Umgangs mit Verkörperungen zur Springquelle von Kreativität werden kann. Denn Kunst wie Wissenschaft zehren davon, Ideen zu materialisieren, also sinnliche Manifestationen des Geistigen zu bilden und mit diesen Vergegenständlichungen des Ungegenständlichen dann
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Kolloquium 8 · Sybille Krämer
auch praktisch umzugehen. Auf diese Weise wird es uns möglich, wirkliche Erfahrungen mit ideellen Sachverhalten zu machen. Das aber ist eine Definition von ›Virtualität‹! Anders als es Husserls Krisisschrift nahelegt, welche die Dynamik moderner Wissenschaft mit der Evolution ihres Vermögens zur Abstraktion und ihres Potentials zur Entgegenständlichung in Verbindung bringt, ist es also die Versinnlichung von Sinn, die Konkretisierung des Abstrakten, die Materialisierung von Gedanken, welche Kreativitätsschübe ermöglicht und befördert. Gerade die Mathematik, – gewöhnlich als die Inkarnation abstrahierenden Umgangs mit theoretischen Entitäten geltend –, demonstriert nachdrücklich diese materiale Seite der Kreativität und deren kulturtechnische Verwurzelung in überindividuellen Praktiken. Nichts demonstriert dies schlagender als Einführung und Gebrauch der Null.
3. Die Null oder: Wie aus ›nichts‹ etwas wird. Die Ziffer Null, von den Indern ca. 600 erfunden und von den Arabern nach Europa gebracht,1 ist ursprünglich das Lückenzeichen im dezimalen Positionssystem: sie ist das Zeichen für die Abwesenheit einer Zahl, mit den Worten Charles Seifes »digit, not a number«.2 Doch im Zuge der Einführung und Verbreitung des schriftlichen Rechnens mit den Dezimalzahlen in Europa, gewinnt die Null ein ›Heimatrecht im Zahlenraum‹ und wird – allerdings erst im Zuge eines Jahrhunderte währenden Kulturkampfes zwischen ›Abacisten‹ und ›Alogristen‹ – schließlich als Zahl anerkannt.3 Aus einem Zeichen für die Abwesenheit einer Zahl ist ein Zeichen für eine wohlbestimmte Zahl geworden: aus ›nichts‹ wurde ›etwas‹. Wie aber ging das zu? Hier nun treffen wir auf jene Aspekte, die allzu leicht als Rückseite unserer herkömmlichen Kreativitätsauffassung im Verborgenen bleiben: auf Übertragung, Verkörperungspraktiken und interaktive Resonanz. Deuten wir zumindest an, wie das gemeint ist. Wir können die Architektur des dezimalen Positionssystems systematisch – wenn auch nicht historisch – erklären aus der Übertragung des Prinzips der Zahlendarstellung auf dem Rechenbrett auf die Zahlendarstellung mit schriftlichen Dezimalziffern.4 Wie aber kann eine leer bleibende Spalte des Rechenbretts übertragen werden auf eine Zeichenfolge auf Papier? Die ›Eigenlogik‹ des Mediums dezimaler Zifferndarstellung erzwingt also ein Sonderzeichen für das Fehlen einer Zahl. Das, was die Metamorphose eines Lückenzeichens in ein Zahlzeichen, was diese kreative Uminterpretation in Gang setzt, war die Veralltäglichung der schriftlichen Rechentechnik, in welcher die Ziffer ›0‹ den Zahlzeichen bereits gleichgestellt wird, indem sie etwas ist, mit dem regelhaft gerechnet werden kann. Es ist also der rechenhafte Umgang mit der Verkörperung des
Jaffe 1999; Kaplan 1999; Krämer 1991; Seife 2000. Seife 2000, S. 16. 3 Sie ist diejenige Zahl, die zu einer beliebigen Zahl x addiert, diese unverändert läßt. Zur Veränderung der Zahlvorstellung im Zuge der Einführung der dezimalen Ziffern: Klein 1936. 4 Krämer 2005, S. 93. 1 2
Einführung. Wie aus ›nichts‹ etwas wird: Zur Kreativität der Null
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›Nichts‹, der ›Leere‹ und der Abwesenheit, welche deren positive Bestimmung als etwas, das quantifizierbar ist als Zahl, überhaupt erst ermöglicht. Das Operieren mit der Null (techné) geht ihrer Interpretation als Zahl (episteme) voraus und bereitet ihr überhaupt erst den Weg. Die Anerkennung der Null als Zahl ist überdies eingebettet in und verbunden mit wirtschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen und auch metaphysischen Konstellationen:5 Da ist der aufstrebende Handelskapitalismus, mit dem in den Rechenstuben der Kaufleute die Entscheidung für das indische und gegen das römische Zahlenzeichensystem als dem effizienterem Recheninstrument fiel. Da ist die Verbreitung der zentralperspektivischen Bildkonstruktion, die in Gestalt des Fluchtpunktes so etwas wie eine ›visuelle Null‹ geschaffen hat. Da ist die Aufweichung des antiken horror vacui und der christlichen Ablehnung der ›Leere‹ in den sich präzisierenden Vorstellungen vom ›leeren Raum‹ und vom Vakuum, welches schließlich auch experimentell nachgewiesen und anerkannt wird. So erweist sich die Genese der Zahl Null aus dem technischen Geiste der frühneuzeitlichen Rechenverfahren als ein Resonanzphänomen, in dem die metaphysische Positivierung des ›Nichts‹, die Strategien zur Visualisierung des Unsichtbaren und die Quantifizierung der Leere ihren kreativen Widerhall finden.
Literatur Jaffe, Michele Sharon: The Story of 0: Prostitutes and Other Good-For-Nothing in the Renaissance, Cambridge MA: Harvard UP 1999. Kaplan, Robert: The nothing that is. A natural history of zero, London: Penguin press 1999. Klein, Jakob: Die griechische Logistik und die Entwicklung der Algebra, in: Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Bd. 3, H.1, S. 18–105 u. Bd. 3, H.2, S. 122–235, Berlin: Springer 1936. Krämer, Sybille: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin, New York: de Gruyter 1991. Krämer, Sybille: Das Geld und die Null: Die Quantifizierung und die Visualisierung des Unsichtbaren in Kulturtechniken der frühen Neuzeit, in: K. W. Hempfer / A. Traininger (Hg.): Macht, Wissen, Wahrheit, Freiburg, Berlin: Rombach 2005, S. 79–100. Rotman, Brian: Die Null und das Nichts. Zur Semiotik des Nullpunktes, Berlin: Kadmos 2000 [Orig.: Signifying nothing, Basingstoke: McMillan 1989]. Seife, Charles: Zero. The biography of a dangerous idea, New York: Viking 2000.
5
Rotman 1993.
Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität Dieter Mersch (Potsdam)
Wenn ich nicht mehr sicher bin, beginnt die Kreativität. Willem de Ridder
Vorbemerkung Kulturelle Innovation und besonders die künstlerische Produktivität wird zumeist gekoppelt an die Erfindung des ›Neuen‹. Der Grund des ›Neuen‹ liegt dabei zumeist in Prozessen der Imagination oder Figuralität – im weitesten Sinne in der Produktivkraft von Bildern, Assoziationen oder Metaphern. In Abgrenzung zu solchen Ansätzen, die zumeist aus subjektiven oder symbolischen Quellen schöpfen, wird die Rolle des Paradoxen in den Mittelpunkt gestellt. Das Paradox fungiert nicht selbst als Figur, sondern als Movens, das ebenso sehr der Reflexivität bedarf wie es Reflexion induziert. Drei Gedanken werden auf diese Weise miteinander verbunden: Erstens, das ›Neue‹ ist als Begriff nur aporetisch explizierbar; zweitens, das Paradox wird als eine Möglichkeit unter anderen rekonstruiert, Alterität zu erzeugen, die selbst wiederum als eine Bedingung von Kreativität erscheint; drittens, soweit der Begriff des ›Paradoxons‹ in einem weiten, nicht notwendig logischen Sinne verwendet und von ›Antinomie‹ unterschieden wird, erfolgen kreative Sprünge aus reflexiven Prozessen, die das ›Unlösbare‹ zu lösen trachten. Reflexivität und Kreativität erweisen sich dann unmittelbar miteinander verwoben. Um von vornherein Mißverständnisse zu vermeiden: Meine Überlegungen verorten sich in einem historischen Kontext zwischen Imaginations- und Figuralitätstheorien, wie sie für Kunst- und Kulturtheorien seit der Aufklärung der Romantik entscheidend waren. Beide werden als unzureichend herausgestellt. Im Gegenzug dazu werden mediale Paradoxa als Differenzmodelle aufgewiesen. Nicht berührt werden dagegen alternative, vor allem in den Naturwissenschaften prominente Ansätze wie das Konzept der Abduktion oder Theorien der Emergenz. Ihnen wären eigene Erörterungen zu widmen.
1. Paradoxalität des Neuen Das ›Neue‹ bezeichnet eine widerspenstige Kategorie. Wie der Begriff des ›Anderen‹ nimmt sie in der Reihe der Prädikate eine Sonderstellung ein, insofern sie in ihrer Bestimmung notwendig auf Aporien zurückgreifen muß. Ihre Aporetik schwankt dabei zwischen der Unmöglichkeit des Neuen als Neuen, das als solches unverständlich bliebe, wie gleichfalls der Unmöglichkeit, Neues als Verwandlung von Altem zu denken, das
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wiederum Neues als Neues ausschließt. Erweist sich die stets theologisch konnotierte Idee einer creatio ex nihilo insoweit als problematisch, als sie Neues als ursprungslose Schöpfung modelliert, bleiben transformatorische oder evolutionäre Vorstellungen ebenso problematisch, weil sie das Neue gegenüber dem Vorangehenden nicht mehr angemessen ausweisen können. Offenbar bedarf der Begriff des Neuen einer Negativität oder Differenz, die weder als ursprungslos noch nicht ursprungslos gedacht werden kann. Zwischen Ursprünglichkeit und Ableitung hält er sich vielmehr in einer Unbestimmbarkeit, die sich der Gleichzeitigkeit von Anschluß und Absetzung, von Kontinuität und Diskontinuität verdankt. Zur kulturellen Produktivität gehört folglich eine gleichermaßen grundlose wie unverständliche Setzung, die zugleich eine Trennung oder Differenz impliziert, deren Riß durch keinen Begriff übersetzt werden kann, wie sie im gleichen Maße eine Fortsetzung postuliert, die ihre Verständlichkeit sichert. Mithin verlangt die Formulierung oder Schaffung von Neuem auf paradoxe Weise einen Rückgriff auf Strukturen, mit denen sie gleichzeitig bricht. Neues oder Anderes ist deshalb ohne Paradoxien nicht zu kennzeichnen. Das betrifft einerseits den Diskurs, der Neues in Anschlag zu bringen sucht oder über Neues spricht, soweit er einen »kategorialen Sprung« verlangt, der als Sprung ebenso sehr, wie es ähnlich Heidegger in Identität und Differenz ausgedrückt hat, wegspringt »aus der geläufigen Vorstellung« und solange »in einen Abgrund« springt, wie er sich nicht »losläßt«, vielmehr an der Vorstellung, die er zu überwinden trachtet, festhält.1 Entsprechend ist der Diskurs des Neuen konstitutiv an Unverständlichkeit gebunden. In jede »Theorie des Neuen« geht insofern der Begriff des »Nichtverstehens« ein, der gleichermaßen hermeneutische wie semiotische oder konstruktivistische Ansätze sprengt. Sie muß sich folglich auf eine unmögliche diskursive Bewegung berufen, die Sinn und Unsinn, Vertrautes und Unvertrautes, Darstellbares und Undarstellbarkeit oder Bezug und Bruch in einer Figur zusammenschließt. Die genannte Aporetik betrifft aber andererseits auch die kulturelle Praxis des Neuen, d. h. die Seite seiner Hervorbringung und Rezeption. Sie ist begleitet von Widerständigkeit und Emphase, wofür paradigmatisch die frühe Geschichte der Avantgarde herangezogen werden kann. Sie bildet zugleich eine Geschichte der Karikatur und Ablehnung bis hin zu Maßnahmen der offenen Gewalt, wie umgekehrt eine Geschichte der nicht minder heftigen Provokation und an Radikalität überbietenden Tabubrüche. Ihr agonaler Charakter zwischen Feier und Verwerfung verhält sich genau spiegelbildlich zu der kontradiktorischen Struktur der diskursiven Rede, die, um sich verständlich zu machen, zumeist auf fremde Traditionen zurückgreift, deren Fremdheit und Sperrigkeit nicht selten ihr eigenes Unwesen treibt. Ihr Streit spaltet die kulturellen Prozesse, lähmt ihre Dynamik, erbringt aber auch Verschiebungen, die ihre Setzungen buchstäblich an einen anderen Ort versetzen, dorthin, wovon ihre Utopien nie zu träumen vermochten. Im Rahmen kultureller Diskurse und Praktiken erweist sich Kreativität darum als stets prekär, insofern die Erfindung des Neuen mit dem Makel der Konfusion und Irrationalität behaftet erscheint, wie diese sich umgekehrt der Mittel des Bruchs und des Widerspruchs bedienen muß, um Gehör 1
Nach Martin Heidegger: Identität und Differenz, 6. Aufl., Pfullingen 1978, S. 20.
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zu finden. Der Rolle des Paradoxen, das die Diskurse anhält und die Praktiken verwirrt, indem es die Bedeutungen still stellt und Unsicherheiten hervorruft, fällt dann eine aktive Rolle zu, weil es die Differenz ebenso markiert, wie – hegelsch gesprochen – ihre »Lösung« erzwingt. Es gleicht einer Passage, deren Weg weder vorgezeichnet ist noch genau beschrieben werden kann, deren Durchgang allenfalls in verschiedene Richtungen vollziehbar ist. Als Mittel der Negation und der Andersheit findet kulturelle Kreativität an ihr ihre Ereignishaftigkeit.
2. Theorien des Neuen: Imagination und Figuralität Der Begriff der Kreativität selbst bleibt so eine Rätselfigur. Sie gleicht einer unbesetzbaren Leerstelle, einer Vakanz, die jede ›Theorie des Neuen‹ scheitern läßt, insofern sie, schon aufgrund der aporetischen Struktur des Begriffs, notwendig in eine contradictio in adiecto münden muß. Ohne Vorbild oder Regel behauptet sie ein Prinzip des Prinzipienlosen. Sie generiert das Nichtgenerierbare. Kreativität impliziert insbesondere die Regelverletzung, die Differenz oder Brechung, deren Rückführung auf einen Grund oder ein Metaprinzip deren Auslöschung bedeutete, insofern es dort eine Identität forderte, wo der Unterschied regiert. Dennoch hat es in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt, sich der Frage der creatio und den Voraussetzungen des Neuen im Sinne einer übergreifenden Theorie oder einer Bestimmung und eines allgemeinen Modells zu widmen. An ihnen lassen sich zugleich die Brüche und Reflexe philosophischer Systeme und deren Diskursgeschichte entnehmen.
2.1. Imagination Seit der Antike bis zum 19. Jahrhundert bildet der einflußreichste Ansatz die Theorie der Imagination. Durchgängig wurde die kreative Produktivität an Prozesse der phantasia oder imaginatio gebunden – beide Ausdrücke nannten ursprünglich dasselbe, obgleich der Wechsel vom Griechischen zum Lateinischen bereits einen Platzwechsel bedeutete und die Nuancen verschob: von phainestai, dem Erscheinen zu imago, dem Bild im Doppelsinn von Vorstellung und Trugbild. Beide Ausdrücke erfuhren allerdings durch ihre lange Geschichte hindurch eine charakteristische Umwertung. Wurde von alters her der Augenblick der creatio einer unbestimmt bleibenden Kraft oder »Inspiration« zugeschrieben, die ihren Grund oder Ort einer Alterität verdankte, um zuletzt die schöpferische Handlung in theologisch motivierten Figuren der passio oder »Widerfahrnis« zu begründen,2 definiert er sich seit der frühen Neuzeit in Akten der Souveränität. Entsprechend avancierte das Subjekt zum creator. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei verschiedene theoretische Modelle herausarbeiten: Erstens die Kreativität als Resultat geistiger Verknüpfungen und Assoziationen, sowie zweitens als Ausdruck eines 2
Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt/M. 1993, S. 293.
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ebenso freien wie spontanen Vermögens. Beide korrespondieren mit unterschiedlichen historischen Grundpositionen, nämlich der frühneuzeitlichen Verortung des Schöpferischen in Prozeduren der Ähnlichkeit, die ihren Grund in Bildern besitzen, und der sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert durchsetzenden Vermögenslehre der Einbildungskraft. Namentlich bei Addison, Kant und Fichte verlagerte sich der kreative Akt in die Spontaneität des Subjekts, was freilich die Frage nach der Beziehung zwischen Freiheit und Vernunft und damit der Bändigung der allzu ausschweifenden Phantasie durch die Rationalität aufwarf. Damit ist ein Dauerthema angesprochen, das die Diskurse um die Imagination und das Imaginäre seit Ficino und Pico della Mirandola über Diderot bis zu Herder und Hegel beherrschen sollte. Assoziiert mit der »wilden Seite« des Subjekts kreisten sie ebenso um die Verteidigung wie Einhegung der im Kern unberechenbaren wie zügellosen Einbildungskraft, deren Kontrastbegriff eine ›Vernunft‹ darstellte, deren Medium der Begriff war, der ihre Domestikation besorgte.3 Solange in diesem Sinne die Imagination in Opposition zur Vernunft gestellt wurde, überwog ihre negative Bewertung. Als Stätte von Traum und Chaos, von Täuschung und Illusion wurde ihr zwar ein produktives Moment zugebilligt, doch zum Preis, daß ihr tendenzieller Überschuß gleichwohl beständig unter Verdacht geriet. Auf diese Weise ist eine Diskursgeschichte eröffnet, die zugleich die Geschichte einer Rivalität erzählt, die zwischen der Anerkennung der imaginatio als schöpferischer potentia, sowie der Aberkennung ihrer Wahrheitstauglichkeit hin- und herschwankte. Die Imagination, obzwar als allgemeine Fähigkeit des Menschen akzeptiert, oblag in ihrem Gebrauch vor allem dem Künstler, der seine Freiheit jedoch mit der Nähe zum Wahnsinn bezahlte, solange er nicht der Form, der Regel gehorchte, während die Wissenschaft die Einbildung auszuschließen suchte, insofern diese für die Lüge anfällig blieb und die Wahrheit allein durch diskursive Vernunft gesichert werden konnte. Wir haben es folglich mit einer Zweiteilung des Geistes zu tun, deren einer Teil beständig unter die Kontrolle des anderen gestellt wurde. Da jedoch offenbar die Vernunft nur kritisch und nicht selbst schöpferisch agieren konnte, bedurfte es gleichwohl des derart bewachten Anteils der Produktivität, der freilich, um den Zwiespalt zu lösen, selbst noch einmal geteilt werden mußte: in das positive Vermögen der inventio, die Kant in seiner Anthropologie die »willkürliche Phantasie« nannte, und das negative des gaukelspielerischen Traums, den Kant als »unwillkürlich« bezeichnete.4 Zeugnis dieser Auseinandersetzungen bildeten insbesondere jene säkularen Diskurse, die zwar der Einbildungskraft durchaus einen festen Platz in der menschlichen Seele einräumten, sie gleichwohl aber in ihren Folgen ambivalent bewerteten, insofern sie ebenso zur Verblendung neige wie sie gleichzeitig Ausdruck einer überbordenden Produktivität sei, die der künstlerischen Tätigkeit als ihre Quelle diene. In diesem Sinne kann Shakespeares Sommernachtstraum als literarisches Äquivalent der philosophischen Diskurse gelesen
Lima Luiz Costa: Die Kontrolle des Imaginären. Vernunft und Imagination in der Moderne, Frankfurt/M. 1990, S. 15 ff. 4 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werke in 12 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 12, Frankfurt/M. 1964, § 28, 29; A B 80 ff., 88 ff., S. 476 ff., 482 ff. 3
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werden, das die Ambiguitäten der imaginatio zwischen dissimulatio und einer auf Darstellung gerichteten simulatio zur Anschauung brachte. Einzig letzterer blieb gestattet, als selbständige Kraft, wiewohl der Vernunft untergeordnet und durch sie behütet, neben sie zu treten, während erstere, krankhaften Vorspiegelungen der Halluzination fähig, verworfen wurde.5 Man kann diese, seit der frühen Neuzeit angelegte Zwiespältigkeit der Einbildungskraft vor allem bei Kant und den Ästhetik-Diskursen des 18. Jahrhunderts finden, wenngleich die imaginatio dort bereits eine vorsichtige Positivierung in jene Richtung erfährt, die ihr später die Romantik zudachte. Als gleichermaßen spontanes wie schöpferisches Prinzip erscheint sie in der Kritik der reinen Vernunft als Bindeglied zwischen Anschauung und Verstand und darin ebenso selbständig wie als vermittelnde Kraft.6 Es ist dies zugleich der Punkt, an dem das Verständnis von Kreativität derart an den Begriff spontaner Einbildungskraft gebunden wurde, daß sie zur einzigen Quelle künstlerischer Produktivität avancierte, wie besonders der »Genie«-Begriff der Kritik der Urteilskraft und der Anthropologie deutlich macht: Der Genius bindet die creatio an die »musterhafte Originalität« in »Freiheit von aller Anleitung der Regeln« und schließt die »nicht nachgeahmte Produktion« zur Figur zusammen, um somit einen Stil zu erfinden, statt ihn zu modifizieren oder zu imitieren.7 Gleichwohl liegen die Aporien dieses Ansatzes auf der Hand: Die Subjektivierung der Kategorie löst nicht das Problem der Kreativität, sondern verschiebt es. Denn die Crux der Modellierung besteht darin, daß Kant das Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstandesbegriffen, wie es der Schematismus operabel macht, durch eine Kluft bestimmen muß, die die Subjektivität des Subjekts zuletzt in zwei separate Regionen oder Leistungen aufspaltet. Die Postulierung der Differenz macht dabei deutlich, daß das Problem des Schöpferischen nicht hinreichend gelöst werden kann, weil ihm ein Impuls zugewiesen werden muß, dessen Grund grundlos bleibt. Kant hat der Mißlichkeit einerseits dadurch zu entkommen gesucht, daß er die »Einbildungskraft« in der transzendentalen Deduktion der Ersten Kritik noch einmal zweiteilte und in ein rezeptives bzw. »reproduktives« und »produktives« Vermögen zerlegte – erstes als »Ingredienz der Wahrnehmung«, letzteres als »tätiges Vermögen (in uns)«,8 was in der Dritten Kritik und der Anthropologie durch die weitere Unterscheidung zwischen »imaginatio affinitas« und »imaginatio plastica« noch einmal verfeinert
Charakteristischerweise wechseln sich die Plätze ab: Mal wird die Phantasie verurteilt und die Imagination als schöpferisches Darstellungsprinzip hervorgehoben, mal das Verhältnis genau umgekehrt, letztere »Einbildungen« zugeschrieben und erstere als eigentlich zeichenbildend bestimmt; vgl. etwa Diderot oder, exemplarisch G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke in 20 Bänden, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970, §§ 455 ff., S. 262 ff. 6 Die Rolle der Einbildungskraft in der transzendentalen Deduktion erscheint allerdings nicht eindeutig; sie variiert nach A und B; vgl. dazu Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1973, §§ 26 ff., S. 122 ff. 7 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke in 12 Bänden, a. a. O., Bd. 9 und 10, Frankfurt/M. 1964, A 197 ff., B 199 ff., S. 418 ff.; ders.: Anthropologie, a. a. O., § 27, A B 76, a. a. O., S. 472. 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, A 120, S. 176a. 5
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wird.9 Andererseits verzichtete Kant auf jede eigentliche Erfindungsgabe der »produktiven Einbildungskraft«, soweit ihr zwischen Anschauung und Vernunft jede schöpferische Möglichkeit verwehrt bleibt, die nicht gleichzeitig der Wahrnehmung entspringt. Sie erweist sich folglich als passiv-aktiv zugleich, so daß sie nur variieren kann, nicht aber Freies schaffen. Entsprechend bleibt die Kreativität an Vermittlung gebunden: Ihr Grund ist die Verwandlung, die ebenso der Sinnlichkeit wie der Begriffsschemata bedarf: »Nihil est in phantasia, quod non antea fuit in sensu«, heißt es mit Bezug auf den bereits Aristoteles zugeschriebenen Topos in Alexander Baumgartens Metaphysica,10 wie gleichermaßen in Kants Anthropologie die Einbildungskraft, mag sie als eine »noch so große Künstlerin, ja Zauberin« erscheinen, sie »doch nicht schöpferisch [ist], sondern muß den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen«: »Die produktive [Einbildungskraft] (…) aber ist dennoch darum nicht vermögend, eine Sinnesvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen (…).«11 Erneut wird so die phantasia, die nicht aus Wahrnehmungen schöpft, sondern Phantasmagorien entwirft und somit in die Welt bringt, was nicht in ihr enthalten ist, verworfen. Erst Schiller, vor allem aber die Romantiker werden die Imagination – korrespondierend zum Geniekult – von der Fessel der Vernunft zu befreien suchen, um in ihr das eigentliche humanum, ja sogar eine heilige Kraft zu erblicken, deren Ursprung jener Rausch ist, den Kant als Mittel zur Erregung von Einbildungen rundweg verurteilte.12 Entsprechend kehrte Coleridge die klassische Hierarchie von Vernunft und Einbildungskraft um und stilisierte die Imagination zu einem ebenso freien wie unbestimmten Akt, auf dem nicht nur alle Schöpfungen von Dichtung und Kunst beruhen, sondern worin sich das Subjekt selbst finden und verwirklichen sollte. Die Auffassung hält sich noch bis ins frühe 20. Jahrhundert, besonders in den phänomenologischen Theorien der Phantasie und des Imaginären bei Husserl und Sartre, der in ihr ein transzendentales Prinzip erblickt, um noch einmal im Surrealismus André Bretons überhöht und in den Rang einer Heilung der Zeit durch die Kunst und den nunmehr positiv besetzten Wahnsinn gehoben zu werden: »Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten«, heißt es bekanntlich in dessen Erstem surrealistischen Manifest: »Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (…).«13
9 Ebd., A 115ff, B 150 ff. (§ 24), S. 164a ff., 168a ff.; sowie ders.: Anthropologie, a. a. O., § 25, 28; A 67, B 68 u. A B 79, S. 466, 475 f. 10 Alexander Baumgarten: Metaphysica, § 559, Auswahl, Hamburg 1982, S. 198. 11 Kant: Anthropologie a. a. O., § 25, A 69, B 70 u. A68 B 69, S. 468 u. 466. Ebenso ders.: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., § 49, A190 f. B193, S. 414. Weitestgehend folgt Hegel diesem Diktum, wenn er von reproduktiver, assoziativer und symbolisierender oder dichterischer Einbildungskraft spricht und letztere als »den sinnlichen Inhalt (…) aufnehmend und aus diesem Stoffe sich Vorstellungen bildend bestimmt«. Hegel: a. a. O., § 458, S. 270. 12 Kant: Anthropologie, a. a. O., § 26, A 70, B 71, S. 468. 13 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 15, 12, passim.
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2.2. Figuralität Im Augenblick ihrer höchsten Wirksamkeit und Anerkennung ist die Stellung der Imagination jedoch durch den linguistic turn, wie er von Wittgenstein, Heidegger und Saussure vorbereitet wurde und seit Mitte des 20. Jahrhunderts virulent geworden ist, rigoros umgestürzt und entwertet worden. Seither regieren die Sprache und ihr tropisches Register. Die Prozesse der Imagination treten hinter dieses zurück und werden nunmehr in Beziehung zum Symbolischen und dessen Ordnungen gedacht. Entsprechend werden die subjekttheoretischen Bestimmungen von Kreativität zugunsten sprachphilosophischer Modelle aufgehoben, die im Sinne klassischer Dichtungstheorien an Rhetorik anschließen, deren Zentrum die Figuralität ist. Ihre Paradigmen sind vor allem Metapher und Metonymie, die psychoanalytisch ebenso auf die psychischen Primärprozesse der Verdichtung und Verschiebung verweisen, wie sie Freud in seiner Traumdeutung zugrunde legte, wie sie gleichzeitig Jakobson, Barthes, Lacan und Julia Kristeva auf die sprachlichen Primärfunktionen der Syntagmatik und Paradigmatik bezogen haben.14 Sie bilden das eigentliche Movens symbolischer bzw. textueller Erfindung. Auffallend ist jedoch, daß mit diesem Platzwechsel auch die Richtung wechselt: Changierte die subjekttheoretische Bestimmung der imaginatio zwischen Assoziativität und spontanem Vermögen, die beide der actio entsprangen, wird jetzt das Schöpferische medial bestimmt: als »Transposition« im Sinne Lacans und Kristevas oder als Spiel von »Figuration« und »Defiguration« im Sinne Paul de Mans und Jacques Derridas.15 Der Platztausch konfrontiert zugleich mit einem Übergang von der Potentialität zur Medialität, wobei das Medium nicht länger die Bildlichkeit der Einbildung, sondern Texturen des Symbolischen und das Spiel der Signifikanten mit ihrer immanenten intertextuellen Verweisungsstruktur darstellt. Vorbereitet wird die Wende allerdings bereits bei Ernst Cassirer, der die Position der Einbildungskraft bei Kant durch die Funktion des Symbolischen ersetzte. Damit
Bilden nach Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt/M. 1961, VI, A, B; S. 235 ff., 255 ff., »Verschiebung« und »Verdichtung« die beiden Grundmerkmale der Traumarbeit, hat diese Roman Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, S. 117–141, ihre Ökonomie mit der Similaritätsund Kontiguitätsrelation der Sprache, der Selektion und Kombination von Zeichen verglichen und sie auf diese Weise an die rhetorischen Übertragungsfunktionen der Metonymie und Metapher angeschlossen – ein Vergleich, der für die gesamte strukturale Semiologie paradigmatisch geworden ist. Ebenfalls stellte sie Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften II, Olten 1975, S. 30 ff. ins Zentrum der »signifikanten Arbeit« des sprachanalog strukturierten Unbewußten: Die Traumarbeit gehört danach der Rhetorik an, wobei Metapher, Metonymie wie auch Katachrese, Synekdoche, Allegorie und andere Tropen sämtlich zu den »semantischen Verschiebungen« gehören, während die »syntaktischen Verschiebungen« von jenen Figuren vollzogen werden, welche wiederum Roland Barthes: Die alte Rhetorik, in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 85 ff. insgesamt der ausschmückenden elocutio zurechnete. 15 Vgl. insb. Paul De Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988; Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im Text der Philosophie, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. überarb. Aufl., Wien 1999, S. 229–290. 14
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ist eine wesentliche Umbruchsstelle markiert, die von der Subjektivität des Bewußtseins zur Struktur semantischer Relationen führt. Sie kulminiert bei Cassirer im Begriff der »symbolischen Prägnanz«,16 der das Herzstück der Philosophie der symbolischen Formen bildet und als Analogon zu Kants »Synthesis speciosa« fungiert.17 Wie diese das Mannigfache der Wahrnehmung zu Figuren bündelt und damit der Erkenntnis Gestalt verleiht,18 erzeugt die Prägnanz, die Cassirer als Leistung einer kreativen Energie des Geistes versteht, symbolische Formen, die aus »Wahrnehmungserlebnissen« »anschaulichen Sinn« generieren.19 Beruhte die Synthesis der Einbildungskraft bei Kant im wesentlichen auf Bildprozessen, versteht demgegenüber Cassirer die Prägnanz als sinngebenden Gestaltungsprozeß, der in gewisser Hinsicht die Idee der Figuration schon antizipiert. Doch ergibt sich durch eine solche Lokalisierung des Imaginären am Ort des Symbolischen das doppelte Problem, daß einerseits die Bestimmung des Verhältnisses beider unklar wird, insofern sich die subjektive imaginatio allein unter der Prämisse ihrer Symbolisierung explizieren läßt, umgekehrt diese aber im Sinne einer »geistigen Energie« das Symbolische mitkonstituiert. In sämtlichen nachfolgenden Symbol-, Zeichenoder Sprachphilosophien wird es auf dieses Dilemma keine adäquate Antwort geben. Andererseits wird in dem Maße, wie die creatio zur transformatio gerät, die eigentliche Produktivität der Transformation ausgeblendet, so daß die Prägnanz buchstäblich ohne prägende Kraft bleibt. Postuliert etwa Goodman, von Cassirer und Susanne Langer her, daß alles »Erschaffen Umschaffen« sei,20 bleibt die Dynamik des Umschaffens tatsächlich ohne dynamisches Prinzip, wie sich besonders anhand der Metapherntheorie Goodmans zeigen läßt, sofern sich dort die Kreativität der Metaphernbildung »überraschender« oder »ungeprobter« Verknüpfungen zwischen konventionellen Etiketten verdankt,21 deren Verbindung doch ihrerseits wieder der Kreativität bedarf. Dasselbe gilt für die strukturalistischen Praktiken der Figuration: Dominieren im Medium des Textes die symbolischen Strategien der Metonymie, Katachrese (z. B. Derrida) oder Prosopopöie (z. B. De Man, Chase), bleibt unentscheidbar, was die Figuration ihrerseits figuriert. Kreativität kann dann nicht anders als ein »Spiel« ununterbrochener »Ver-Setzung« oder Vertauschung von Stellen gedacht werden, deren Bewegung entweder in denselben Figuren gründet, die sie bewegen, oder selbst ohne Bewegung bleibt. Notwendig entspringt sie vielmehr einer ebenso unbestimmten wie unbestimmbaren Differenz, doch erscheint dann weder die Differenz in ihrer Beziehung zum Neuen, noch das Neue als Neues wirklich benennbar. Es war Derrida, der diese Konsequenz gezogen
16 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde, Bd. 3, 9. Aufl., Darmstadt 1990, S. 222–237. 17 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 151 f.; S. 165b f. Ausdrücklich konstatiert Cassirer in der Davoser Disputation mit Heidegger, daß seine Arbeit am Symbolischen ihren Ausgang bei Untersuchungen zur Synthesis der Einbildungskraft genommen hat. Teilweise abgedruckt in Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., Anhang, S. 246–268, hier: S. 248. 18 Vgl. Kant: Anthropologie, a. a. O., § 35, A B 106 f., S. 497 ff. 19 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a. a. O., S. 235. 20 Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 19. 21 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. 1995, S. 73 ff.
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hat, zu dem Preis jedoch, daß die creatio selbst in die Ereignishaftigkeit der différance fällt, die weder Begriff noch Prinzip ist, soweit sie die je konkreten Differenzen allererst austrägt,22 die freilich die Kreativität der creatio nirgends mehr beurteilbar macht, weder als Fortschritt oder als Rückschritt noch als Neuheit oder bloße Repetition, vielmehr eignet ihr einzig das Prädikat einer Singularität. Diese wiederum korrespondiert mit jener ursprünglichen Instabilität im Zeichen, die der Formel von der »Iteration als Alteration« entspricht,23 deren Alternierung insofern ohne Plausibilität geschieht, als sie der unbestimmt bleibenden Bewegung der Differenz entspringt. Entsprechend bleibt die Möglichkeit von Veränderung, die kein Geschehen eines buchstäblich sinnlosen Unterscheidens ist und darum nicht als Koinzidenz »passiert«, die vielmehr einen qualitativen Sprung, eine Neuerung birgt, ungeklärt: Der Prozeß der Alteration changiert ausschließlich zwischen Ereignishaftigkeit (différance) auf der einen und figuraler bzw. »defiguraler« Performanz auf der anderen Seite, wobei beiden, Ereignis und Performanz, keine weitere Bestimmung zukommt. So büßt die Dekonstruktion, indem sie den entscheidende Punkt der Herkunft oder Möglichkeit des Neuen als einem anderen Anfang ausklammert, die Antwort auf die Frage nach der Kreativität wieder ein. Soweit diese allein als »Differenz« markiert wird, bleibt das »Differierende der Differenz« offen und damit das Kriterium für die Generierung von »Unterschieden, die Unterschiede machen«, unbestimmt. Davon handelt gleichermaßen auch der Verlegenheitsbegriff der ›Emergenz‹, dem sprunghaften Auftauchen von ›Neuem‹ oder ›Anderem‹ aus kausal nicht herleitbaren Eigenschaften eines Systems oder einer Systemmenge – eine Schwierigkeit, die gleichfalls die Systemtheorie Luhmanns betrifft. Soweit diese sich vorrangig an die Differenzenlogik George SpencerBrowns orientiert, vermag sie die Konstruktion von Neuem einzig nach dem Muster von Ausdifferenzierung und »Reentry« zu formalisieren. Doch ermangelt ihr auf diese Weise die Lokalisierung der Differenzierung und des »Reentry«, so daß ihr die Performativität des Aktes der Unterscheidung fehlt, weil nicht klar ist, wo dieser ansetzt und welche Unterscheidungshandlung jeweils wirksam wird. Der Formalismus von Anschluß und Differenzierung erklärt darum nichts: Ausschließlich folgt er dem Muster einer schematischen Fortschreibung von Komplexität, die weder die Orte von Anschluß und Differenzierung noch deren Effekte verständlich zu machen erlaubt. Das Problem gründet hier überall in der einseitigen Privilegierung des Diskursiven: Weil Semiotik und Hermeneutik gleichwie Strukturalismus oder Systemtheorie allein von Signifikanz und Unterscheidung ausgehen, die unbestreitbar in die Figuren kultureller Produktion eingehen, vervielfältigen sie das Paradox der Kreativität, indem sie an deren Stelle das Prinzip einer Differenzierung setzen, die lediglich um der Differenz willen geschieht.
Jacques Derrida: Die Différance, in: ders.: Randgänge der Philosophie, a. a. O., S. 31–56, hier: S. 36 ff. 23 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, a. a. O., S. 325– 351, hier: S. 333. 22
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3. Produktive Paradoxa: Medialität und Kreativität Das Resultat der Überlegungen führt so zunächst zu einer negativen Zwischenbilanz: Soweit die Theorien der Imagination und der Figuralität einer Modellierung von Kreativität dienen, bleiben sie in systematischer Hinsicht unzureichend. Sie münden sämtlich in eine petitio principii, die supponiert, was sie zu begründen trachtet. Der Augenblick der Kreativität und ihr Grund werden lediglich auf einen anderen Ort verwiesen und damit im Kern verfehlt. Wird entsprechend spätestens seit dem 18. Jahrhundert die creatio der imaginatio zugeschlagen und damit subjektiviert, wird gleichzeitig in den zeitgenössischen Ästhetiken der Begriff der künstlerischen Originalität an Akte genuiner Spontaneität gekoppelt. Dabei erklärt die imaginative Originalität die Kreativität nicht, sondern sie bedarf noch der Kreativität, um inventiv zu sein. Die »Spontaneität« der inventio setzt somit die creatio voraus, wie diese andererseits der inventio entspringt. Beide bedingen einander und schließen sich zu einem einträchtigen Zirkel. Dagegen streicht der figurale Ansatz, der Prozesse der Kreativität an rhetorische Figuren oder »Transpositionen« von Zeichen innerhalb einer symbolischen Ordnung knüpft, jeden theologisch begründeten Anspruch auf eine creatio ex nihilo aus, doch bleibt dann offen, was (oder wer) die Umbesetzungen innerhalb der strukturalen Matrix vornimmt. Entweder gibt es nichts Neues, insofern dieses immer nur auf der Umschreibung oder Umbesetzung eines Alten fußt, oder aber die Kreativität der Umschreibung und Versetzung bleibt ohne jede Basis. Werden sie als Emergenzen oder Mutationen gedacht, sind sie von Zufällen nicht zu trennen. Dasselbe gilt für das Ereignis der différance, das die Singularität der creatio an Schrift und Differenz bindet und aus einem fortwährenden »Spiel« von »Iteration« und »Alteration« hervorgehen läßt. Die Schwierigkeit verdichtet sich noch in Judith Butlers Theorien der Performativität und des »Queering«, die einerseits ohne explizite Akteure auszukommen sucht, andererseits aber von neuem Figuren der Souveränität und Verfügung, die die Performanz vollziehen und das Queering explizit machen, in Anschlag bringen muß.24 Offenbar sperren sich die Begriffe der Kreativität und der Erfindung des Neuen einer angemessenen Analyse; stets erweisen sie sich nur unter Bedingungen einer nachträglichen Theoretisierung thematisierbar. Überall bleibt vielmehr eine Kluft, ein wesentlicher »Riß« oder eine Differenz, die durch nichts gedeckt werden kann und sich keiner adäquaten begrifflichen Definition fügt. Darum war Derridas Intervention konsequent, mündete jedoch in Bezug auf den Moment der Kreativität in einem ausschließlich negativen Bescheid. Drei Schlüsse lassen sich daraus ziehen: Erstens kann von Kreativität bzw. Neuheit nur gesprochen werden, wenn eine unaufhebbare Differenz markiert ist, die nicht wiederum umstandslos auf Strategien der Symbolisierung oder auf Inszenierungseffekte und Konstruktionen zurückgeführt werden kann. Zweitens zwingt der Umstand zu einer Umkehrung der Perspektive. Nicht nur fügt sich kulturelle Kreativität – weder im Feld subjektiver Vermögen und deren Spontaneität noch im Feld Vgl. dazu auch Dieter Mersch: Kunst und Sprache, in Jörg Huber (Hg.): Ästhetik Erfahrung. Interventionen, Zürich 2004, S. 41–60. 24
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der Zeichen, ihrer Ordnung und deren Bedeutungen – keiner überzeugenden Modellierung oder Begründung, vielmehr bildet sie eine nichtdiskursive bzw. nichtkonstruktive Grundlage kultureller Praxis. Die creatio beschreibt kein Vermögen des Menschen oder des Symbolischen, sondern ist Effekt der Diskontinuität kultureller Prozesse selber. Diese erweisen sich an Reflexivitäten gebunden. Keineswegs beruht Kreativität auf der regellosen oder irrationalen Seite des Subjekts noch auf dem selbst grundlosen Spiel der Zeichen, vielmehr zeigt sie sich unmittelbar mit der Arbeit der Reflexion verflochten. Verlangt ist daher ein kritischer Neuansatz. Auf seine Spur führt die Paradoxie oder Lücke in der Begründung selbst. Denn indem die anhand von Imagination und Figuralität aufgewiesenen Aporien ein reflexives Potential bergen, das für das Problem von Kreativität fruchtbar gemacht werden kann, avanciert drittens der Bruch oder die Fraktur des Paradoxen zum eigentlichen Movens von Produktivität. Sie avancieren insbesondere deswegen zu einem Movens, als sie im Moment der Kontradiktion an das Ereignis von Alterität rühren. Tatsächlich enthüllen sich auf diese Weise drei eng ineinander verflochtene Momente als konstitutiv für das Phänomen von Kreativität, ohne es damit freilich erklären zu können: Differenz, Reflexivität und Alterität. Letztere bedingt die maßgebliche Umkehrung der Perspektiven. Führt nämlich offenbar die petitio principii, der Zirkel der Begründung zu einer Wiederauszeichnung der klassischen Lehre von der Inspiration als Empfängnis einer »Andersheit«,25 weil sich das Imaginäre sowenig wie das Figurale als selbstproduzierendes Prinzip ausweisen läßt, sondern stets eines Anstoßes von außen bedarf, wäre allerdings der Begriff der ›Inspiration‹ noch von seinem schwer zu tilgenden Anruch des Theologischen zu befreien. Denn während die Inspiration entgegennimmt, was anderswo gegeben wird, und damit von einer ›Gabe‹ im Sinne einer absoluten Alteritätserfahrung zeugt, lassen stattdessen die Paradoxien innerhalb bestehender Systeme Unlösbarkeiten oder Unvereinbarkeiten hervortreten, woraus die Möglichkeit eines Anderen erst herausspringt. Andersheit ist dann nicht ›Andersheit schlechthin‹, sondern immer nur relatives Anderes – Andersheit in Bezug auf ein Symbolisches, eine Handlung oder einen Diskurs. Es hat die Kontur eines ›Anders als‹ und bleibt damit kontextuell gebunden. Treffend hatte deswegen Josef Beuys vermerkt, daß das »Paradoxon (…) die phantastische Eigenschaft (hat), etwas aufzulösen und es in einen Nicht-Zustand zu versetzen. Aus dem Nichts heraus ergibt sich dann ein neuer Impuls, der einen neuen Beginn setzt.«26 Was es Neues oder Anderes evoziert, ist dabei nicht im selben Schema formulierbar; die Paradoxie führt vielmehr ein Medium oder ein System und dessen Praktiken an ihre Grenzen, und zwar so, daß im Repertoire desselben Mediums, Systems oder der selben Praktiken ›Rätsel‹ entstehen, deren Lösung ein ›Denken des Anderen‹ erfordern, welches nur dort gegeben werden kann, wo diese versagen. Indem derart Paradoxa im Innern nicht nur begrifflicher, sondern auch medialer und praktischer Schemata Inkonsistenzen aufweisen, die nach keiner Seite hin Iser: a. a. O., S. 377 ff. Joseph Beuys in: Jacqueline Burckhardt (Hg.): Ein Gespräch. Joseph Beuys, Jannis Konnelis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi, 4. Aufl., Zürich 1994, S. 144. 25 26
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befriedet werden können, setzen sie den Blick auf Anderes frei, das nirgends anders als ereignishaft und in Differenz zu ihnen beschrieben werden kann, das jedoch solange ein Fremdes oder Unterschiedenes bleibt, wie es diesen folgt, das aber als solches schon ein Anderes provoziert, ohne freilich bereits einen Ort oder eine Stellung zu besitzen. Paradoxa lassen sich daher als eine Bedingung der Ermöglichung von »Alterität« im Sinne der »Ereignung von Andersheit« entziffern: Indem sie Unauslotbares oder Dissonantes, Störungen und Zusammenbrüche oder Sichentziehendes und Nichteinordnenbares erzeugen, vollbringen sie im selben Maße Abschlüsse oder Enden, wie sie gleichsam andere Räume oder Fluchtpunkte öffnen, die sich positiver Besetzung zwar verweigern, auf die sich gleichwohl aber indirekt hindeuten läßt.27 Das bedeutet insbesondere, den Begriff des Paradoxen weit zu fassen und in der literalen Bedeutung von para doxa, dem Bruch oder der Überspringung des Meinbaren oder Darstellbaren zu nehmen; er beinhaltet dann nicht nur im engeren Sinne logische Antinomien und Unentscheidbarkeiten, die allerdings die gleichen Eigenschaften besitzen, wie die Geschichte der Mathematik bezeugt, sondern er umfaßt auch mediale Zerwürfnisse und Frakturen oder konträre intermediale Konstellationen und sich widersprechende Formate, worin Form und Inhalt, Medialität und Materialität ebenso wie Szenen, Körper, Bilder und Texte derart gegeneinander arbeiten und sich wechselseitig in der Schwebe halten, so daß jener »Nichtzustand« entstehen kann, den Beuys als eigentlich produktiv auszeichnete. Für solche Verfahrensweisen dienen entsprechend künstlerische Praktiken als Wünschelruten und Paradigmen.28 Sie zielen auf eine systematische Blickumkehrung, auf die Inversion von Aufmerksamkeiten oder jene Erprobung eines »anderen Denkens«, das erst entstehen kann, wenn die Potentiale bestehender Systeme erschöpft sind und an ihre Ränder getrieben sind. Beispiele solcher Art sind in der klassischen Moderne Legion: Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915) wie ebenso Robert Rauschenbergs Ausradierte De-Kooning-Zeichnung (1951), René Magrittes Ceci n’est pas une pipe (1928), oder Jasper Johns Flag (1955–58) und Andy Warhols Brillo Boxes (1970), um nur einige anzuführen. Sie bilden Modelle jener künstlerischen Strategien, die eine ästhetische Reflexion dadurch induzieren, daß sie »mediale Paradoxa« erzeugen, die auf das gehen, was die im einzelnen verwendeten Medien jeweils verbergen. So läßt sich Malewitschs Schwarzes Quadrat als ein »Nichtbild« deuten, das unentschieden läßt, ob es sich – wie der Titel sagt – um ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund oder um einen weißen Rahmen auf schwarzem Grund handelt. Dem Negativ einer Fotografie vergleichbar, das Schwärze zeigt, wo Weiße entwickelt wird und Weiße zeigt, wo Schwärze entsteht, bildet es gleichsam einen »Nullpunkt« der Malerei, der zugleich den Anfangspunkt einer neuen Ästhetik setzt. RauVgl. dazu auch meine Überlegungen in: Dieter Mersch: Das Paradox als Katachrese, in: Ulrich Arnswald / Jens Kertscher / Matthias Kroß (Hg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 81– 114. 28 Vgl. Dieter Mersch: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 75–96; ferner ders.: Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache, in: Journal Phänomenologie, Jacques Derrida, Heft 23 (2005), S. 14–22. 27
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schenberg wiederum löscht ein Bild unter Beibehaltung der Spuren seiner Auslöschung aus und rührt damit an die Paradoxie der Unmöglichkeit einer vollständigen Negation, weil noch die Spurenverwischung jene Spuren einbehält, die bei der Verwischung entstehen. Durch die Vernichtung des Mediatisierten hindurch bestätigt er auf diese Weise die Bildlichkeit des Bildes und zwingt damit zu deren Selbstbeobachtung. Mit seinem berühmten Pfeifenbild operiert darüber hinaus Magritte an der Grenze zwischen Bild und Text, um, gestützt auf Methoden emblematischer Werbung und Plakatmalerei, bekannte Codes derart zu verwirren, daß zwischen Bildaussage und Textaussage eine Unstimmigkeit entsteht, die im Unklaren hält, wem zu glauben ist: der Evidenz des Bildes oder der Wahrheit des Satzes.29 Nicht entscheidend ist dabei, daß es sich selbstverständlich um keine Pfeife, sondern um deren Bild handelt – insofern ist der Satz wahr –, vielmehr entsteht die Vexierung nur, wenn das Pfeifen-Bild als Bild einer Pfeife erkannt wird und den Satz konterkariert. Der entscheidende Punkt ist dann, daß auf diese Weise die klassische und über Jahrhunderte unangefochtene Text-Bild-Hierarchie aus den Fugen gerät. Man könnte von einer chiastischen Verwerfung sprechen, worin beide, Text und Bild, sich auf eine Weise kreuzen, daß keines den Vorrang vor dem anderen erlaubt. Ähnliches gilt für Jasper Johns Flag (1955–58). Als Bild einer Flagge handelt es sich um keine Flagge, vor der sich salutieren ließe, sondern eine Malerei, die gleichzeitig keine Malerei ist, weil sie sich eines patriotischen Symbols bedient, das es karikiert. Wir bekommen es folglich mit einem politischen Akt, einer Intervention zu tun, die die Kunst auf ihren Kontext, der nirgends vom Politischen getrennt werden kann, zurückführt. Schließlich vollziehen Warhols Brillo Boxes einen Medienwechsel, indem sie durch Materialshift und den singulären Akt der Malerei ein Serienprodukt der Warenproduktion in ein Kunstobjekt verwandeln und damit nicht nur dieses nobilitiert, sondern die Kunst zugleich depraviert. Nicht nur spielen die Boxes mit der Indifferenz zwischen serialisierter und gemalter Oberfläche, sondern sie verweisen überhaupt darauf, daß, wie Arthur Danto zu Recht betont hat, die Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst nicht länger am Wahrnehmbaren haftet, sondern einem Denken gehorcht, daß sich an deren ästhetischer Unentscheidbarkeit entzündet.30 Die Reihe der Beispiele ließe sich endlos weiterführen, doch ist entscheidend, daß jedes dieser Modelle eine andere Öffnung induziert, die die Frage der Kunst und ihrer Medien neu stellt. Sie erscheinen nicht als solche relevant, sondern als Paradigmen solcher aporetischen Konstellationen, die nicht nur ein anderes Licht auf die künstlerische Praxis werfen, sondern Sprungstellen bieten, die einen anderen Anfang setzen. Ähnliche Friktionen entstehen entlang von Bruchstellen der Undarstellbarkeit, wo das Bildliche versagt oder die Sprache über die Strukturen des Sprechens keine Auskunft mehr zu geben vermag, dort, wo Sagen und Zeigen einander durchkreuzen oder wo Unübersetzbarkeiten auftauchen, die anderer Mediatisierungsstrategien bedürfen, wie auch bei Hybridbildungen, die in keine Kategorie zu passen scheinen. Solche Verfahren, die im Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2002. 30 Arthur Danto: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 18 ff. 29
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Unterschied zu logischen Aporien mit »medialen Paradoxen« arbeiten, überschreiten den Rahmen diskursiver Praktiken im Sinne intermedialer Prozesse, die Reflexivität mit Kreativität koppeln. Nicht nur gehören Reflexionen zu ihren Voraussetzungen, insofern die Konstruktion von Paradoxa auf selbstreferentiellen Manövern rekurrieren, sondern ebenfalls zu ihren Konsequenzen, soweit die Barrieren, die sie kenntlich machen, übersprungen werden müssen. Paradoxe Strukturen weisen deshalb nicht nur auf Ausschlüsse wie die Grenzen formaler Logik durch den Pseudomenos oder die Grenzen figuraler Darstellungen durch die ikonische Figur-Hintergrund-Vexierung, vielmehr erschließen sie unbestimmte Zwischenzonen, die eigens erst entdeckt und beschritten werden müssen. Sie bilden gleichsam Vorbedingungen kreativer ›Ver-Anderung‹. Entsprechend fungieren Paradoxien weniger als Verbote oder Demarkationslinien – das hieße, sie normativ auszulegen –, sondern sie bilden Medien einer Alteration.
Fazit Kreativität erweist sich mithin als ein nicht feststellbarer Begriff. Seine Modellierung führt auf die Erfahrung von Differenz, die einen Bruch oder eine Kluft festhält, die in keiner bestimmten Richtung auflösbar scheint, jedoch einen ›Sprung‹ initiiert, aus dem Neues und Anderes hervorgehen kann. Eine solcher Differenzsetzungen bildet das Paradox. Es bezeichnet keine Figur der Schließung, des Abbruchs, sondern der Öffnung, der Passage und Übergänglichkeit. Ebenso sehr setzt es Reflexivität voraus, wie es diese induziert und dort in Bewegung setzt, wo noch Bewegung fehlt. Am Rande des Sagbaren oder Darstellbaren erzeugt es damit Unentscheidbarkeitsmomente, an denen Nichtbestimmtes oder Unvorhersehbares einbricht. Als Orte nichtantizipierbarer ›Ereignisse‹ lassen sich Paradoxa deshalb als Boten von Alternativen verstehen, woran der kreative Impuls sich entzünden kann. Das bedeutet nicht, daß sie notwendig Kreativität auslösen, sondern lediglich ermöglichen. Medien nehmen darin eine Schlüsselposition ein, und zwar nicht dadurch, daß sie Agenten neuer Vorstellungen oder Wahrnehmungen darstellen und dazu Techniken oder Praktiken einer Inszenierung des Unerhörten oder Niedagewesenen aufbieten, sondern weit eher dadurch, daß sie die Möglichkeit des Andersseins dort preisgeben, wo es zu Störungen, Ambiguitäten oder Unterbrechungen kommt, wo Lücken entstehen und sich im Übergang von einem Medium zu anderen Interferenzen bilden und sich Risse, Ausfälle oder Unschärfen zeigen. Deswegen war von ›medialen Paradoxa‹ die Rede, worin gleichfalls ein konträres oder unauslotbares Spiel der Grundmedien ›Schrift‹, ›Bild‹, ›Ton‹ und ›Zahl‹31 wie auch die von ihnen abgeleiteten Verfahren der Narration, der Installation oder Performanz eingehen. Sie bilden das bevorzugte Terrain der experimentellen Verfahren der Künste, aber nicht nur dieser. Indem sie jedoch sämtlich mit Alterität assoziiert sind, läßt sich auf neue Weise die alte
Vgl. Dieter Mersch: Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten medialen Darstellens, in: ders. (Hg.): Die Medien der Künste, München 2003, S. 9–49. 31
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Einsicht reformulieren, daß das Ereignis von Kreativität im Augenblick im Moment einer Nichtintentionalität oder Unbeherrschbarkeit statthat.
Literatur Barthes, Roland: Die alte Rhetorik, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988. Baumgarten, Alexander: Metaphysica, Auswahl, Hamburg 1982. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1977. Burckhardt, Jacqueline (Hg.): Ein Gespräch. Joseph Beuys, Jannis Konnelis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi, 4. Aufl., Zürich 1994. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde, Bd. 3, 9. Aufl., Darmstadt 1990. Costa, Lima Luiz: Die Kontrolle des Imaginären. Vernunft und Imagination in der Moderne, Frankfurt/M. 1990. Danto, Arthur: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996. De Man, Paul: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988. Derrida, Jacques: Die Différance, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. überarb. Aufl., Wien 1999, S. 31–56. Derrida, Jacques: Die weiße Mythologie. Die Metapher im Text der Philosophie, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. überarb. Aufl., Wien 1999, S. 229–290. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. überarb. Aufl., Wien 1999, S. 325–351. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt/M. 1961. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. 1995. Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke in 20 Bänden, hg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970. Heidegger, Martin: Identität und Differenz, 6. Aufl., Pfullingen 1978. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1973. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt/M. 1993. Jakobson, Roman: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen, in: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, S. 117– 141. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werke in 12 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 12, Frankfurt/M 1964. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werke in 12 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9 und 10, Frankfurt/M. 1964. Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders.: Schriften II, Olten 1975.
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Mersch, Dieter: Das Paradox als Katachrese, in: Ulrich Arnswald / Jens Kertscher / Matthias Kroß (Hg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 81–114. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2002. Mersch, Dieter: Kunst und Sprache, in Jörg Huber (Hg.): Ästhetik Erfahrung. Interventionen, Zürich 2004, S. 41–60. Mersch, Dieter: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 75–96. Mersch, Dieter: Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache, in: Journal Phänomenologie, Jacques Derrida, Heft 23 (2005), S. 14–22. Mersch, Dieter: Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten medialen Darstellens, in: ders. (Hg.): Die Medien der Künste, München 2003, S. 9–49.
Kreativität in der mathematischen Grundlagenforschung Christian Thiel (Erlangen)
Hätte ich der ursprünglichen Erwartung der Veranstalter entsprechen können, so ginge es im folgenden um Kreativität in der Mathematik. Da jedoch ein so gewaltiges Thema in 40 Minuten selbst von einem produktiven Mathematiker kaum zu bewältigen wäre, und ich nicht einmal ein solcher bin, sondern nur ein schlichter Logikhistoriker, der sich auch mit Philosophie der Mathematik befaßt hat, habe ich das engere Thema vorgeschlagen, das jetzt den Titel dieses Vortrags bildet und den Inhalt der folgenden Überlegungen bestimmt. Auch das eingeschränkte Thema hat mir allerdings Schwierigkeiten bereitet, die jetzt freilich weniger in meiner Person und meiner Kompetenz liegen, als vielmehr in der Sache selbst. Denn als charakteristisch für Kreativität wird ja in vielen Definitionsversuchen der geniale Regelverstoß angesehen. Der aber paßt nun offensichtlich weder auf die Mathematik noch auf die mathematische Grundlagenforschung, denn in beiden geht es ja weithin um Kalküle, also Regelsysteme, und um das Handeln nach solchen Regeln innerhalb der durch die Systeme gesetzten Grenzen. Kreativität werden wir dann entweder nur bei der Erfindung neuer oder bei der Modifikation schon bekannter Regelsysteme erwarten, oder aber in der Entdeckung neuer, phantasievoller, überraschender, manchmal vielleicht auch als genial empfundener Handlungsmöglichkeiten mit den vorgegebenen Regeln oder Regelsystemen. Das baut nicht unbedingt Schranken für die Kreativität in der mathematischen Grundlagenforschung auf, es dürfte aber auf die Art der hier auftretenden Kreativität Einfluß haben. Niemals wird die Freiheit grenzenlos sein: die Fesselung an Regeln ist unvermeidbar, da sie ja gerade Voraussetzung des schöpferischen Handelns ist. Kreativität wird hier also weniger dem freien Spiel als vielmehr dem Problemlösen verwandt sein. Das erschwert etwas die Auffindung geeigneter Beispiele, ganz abgesehen von dem Dilemma, daß ich einem philosophisch gebildeten Publikum nicht gut irgendwelche esoterischen Beispiele vorführen kann, die eher technische Virtuosität als Kreativität illustrieren, daß ich aber andererseits mit einer auch logisch und metamathematisch gut vorgebildeten Leserschaft rechnen muß, die sich vom Autor unterfordert oder gar zum Narren gehalten fühlen könnte. Ich habe mich entschlossen, lieber dieses letzte Risiko einzugehen, beginne aber nicht mit Beispielen, sondern mit zwei Fällen, die ich nicht als Beispiele für Kreativität in der mathematischen Grundlagenforschung ansehe. Der erste Fall ist ein in populären Darstellungen mathematischen Denkens sehr beliebter, den ich auch selbst in meiner Studie über Philosophie und Mathematik (Thiel 1995, S. 76 ff.) gebracht habe: das sog. Artinsche Brett, so benannt nach dem großen Algebraiker Emil Artin (1898–1962), der dieses Beispiel gelegentlich in Vorträgen verwendet haben soll. Ein Fliesenleger habe das Problem, eine quadratische Bodenfläche
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von 160 × 160 cm mit Doppelkacheln vom Format 20 × 40 cm zu belegen, wobei allerdings zwei gegenüberliegende Ecken durch Eckpfeiler blockiert sind. Kann er die Fläche vollständig bedecken, ohne eine der Doppelkacheln zu zerschneiden? Denken wir uns die Fläche schon durch vorgezeichnete Quadrate gegliedert, so erhalten wir folgendes Bild:
Natürlich könnte der Fliesenleger das Problem grundsätzlich durch Ausprobieren lösen, was freilich weder ihm (des Zeitaufwandes und der Nerven wegen) noch seinem Auftraggeber (der Kosten wegen) attraktiv scheinen wird. Die von Artin bevorzugte kürzere und elegantere Lösung beruht auf einem besonderen Einfall. Er besteht darin, sich die Felder der zu kachelnden Fläche wie bei einem Schachbrett abwechselnd schwarz und weiß gefärbt zu denken:
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Man erkennt dann, daß jede Doppelkachel immer gerade ein schwarzes und ein weißes Feld überdeckt. Eine genaue Ausfüllung einer beliebigen Figur aus solchen Feldern bedeckt also stets gleichviele schwarze und weiße Felder, d. h. ebenso viele schwarze wie weiße. Unsere Bodenfläche hat die Gestalt eines großen Schachbretts, bei dem zwei gegenüberliegende Diagonalfelder fehlen. Da diese beiden Felder gleichfarbig sein müssen (wie man als Schachspieler weiß oder jedenfalls leicht nachprüfen kann), hat unsere Fläche entweder zwei schwarze Felder mehr als weiße, oder zwei weiße Felder mehr als schwarze. Der schachkundige Fliesenleger wird also sofort sehen, daß die von ihm zu kachelnde Fläche nicht zu den durch Doppelkacheln genau auszufüllenden Flächen gehört, er erkennt m. a. W., daß eine Überdeckung der geforderten Art nicht möglich ist. Er kann sich also das Probieren sparen – dank des hilfreichen Einfalls. Das ist ein wundervolles Beispiel für einen überraschenden Einfall, das ich keineswegs als untypisch für Einfälle auf mathematischem Gebiet ansehe. Aber es hat m. W. weder eine spezifische mathematische Anwendung gefunden noch eine in der mathematischen Grundlagenforschung – obwohl manche Leserinnen und Leser dabei an die entfernt verwandte Lösung des letzten, sog. œ›œ-Falls des Entscheidungsproblems denken werden, die von Mustererkennung des Typs »Domino« Gebrauch macht.1 Den zweiten von mir erwogenen Fall bildet die Erfindung der Begriffsschrift durch Gottlob Frege 1879. Sie gehört als Schöpfung des ersten Kalküls der klassischen Quantorenlogik zweifellos zur mathematischen Grundlagenforschung, und sie ist kreativ mit Bezug auf die Historie (also »H-creative« in der Terminologie der Kreativitätsforscher) insofern, als sie absolut keinen historischen Vorläufer hat. Sie ist sogar allgemein problemorientiert insofern, als sie nicht nur Freges eigene Frage nach der Analytizität der Arithmetik beantworten hilft, sondern m. E. ganz bewußt und gezielt entwickelt wurde, um mit Hilfe des neuen Werkzeugs der Quantoren, ihrer Wirkungsbereiche und der gebundenen Variablen präzise Definitionen der zeitgenössisch lebhaft diskutierten Begriffe der Stetigkeit, der gleichförmigen Stetigkeit u. a. zu formulieren. Ich habe mit schlechtem Gewissen auf das Beispiel verzichtet, auch weil der Fall bisher kaum erforscht ist. Die ε-δ-Methode wurde ja um 1870 verbal bereits praktiziert, wenn auch oft unpräzise; Freges Quantorenlogik erlaubte ihre optimale Erfassung durch strenge Regeln für den Umgang mit geschachtelten Quantoren. Ich würde Gottfried Gabriels Urteil, es handle sich bei der Erfindung der Quantorenlogik um »eine kreative Leistung ersten Ranges«2, natürlich nicht widersprechen wollen, habe sie aber nicht als Gegenstand der Reflexion gewählt, weil ich mich nicht in der Lage sehe anzugeben, worin genau die Kreativität dieser so rätselhaft fast aus dem Nichts kommenden Schöpfung besteht.
Vgl. Hao Wang: Proving theorems by pattern recognition II, in: Bell System Technical Journal 40 (1961), S. 1–41; ders.: Dominoes and the œ›œ-case of the decision problem, in: Proc. Symp. on Mathematical Theory of Automata (Brooklyn Polytechnic Institute: New York 1962), S. 23–55; Richard Büchi: Turing machines and the Entscheidungsproblem, in: Mathematische Annalen 148 (1962), S. 201–213. 2 Gottfried Gabriel: Die Kreativität der Logik und die Logik der Kreativität, in diesem Band, S. 47– 57, Zitat S. 56. 1
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Etwas anders steht es mit Gabriels Hinweis auf Freges Nutzung des von ihm aus der Chemie in die logische Analyse der Sprache übernommenen Bildes der »Ungesättigtheit«: so wie Verbindungen ungesättigte, d. h. freie Valenzen enthalten können, haben für Frege Funktionen bzw. Funktionsausdrücke (erster Stufe, insbesondere Begriffe bzw. Begriffsausdrücke erster Stufe) freie Argumentstellen, die durch Gegenstände bzw. Eigennamen gefüllt werden können und bis zu diesem Ereignis gewissermaßen »ungesättigt« sind.3 Wenngleich Freges ontologische Deutung dieser Eigenschaft in ihren Folgen für die Philosophie der Logik heute eher kritisch gesehen wird, schließe ich mich doch der von Gabriel in der Diskussion zum hier abgedruckten Vortrag geäußerten Meinung an, daß diese spezielle Anwendung ein überzeugendes Beispiel für Kreativität in der Logik darstellt.4 Ich beginne meine eigenen Beispiele mit einem sehr elementaren Verfahren, bei dem sich der Akt der Kreativität nicht einmal historisch genau festmachen läßt. Es geht um das Verfahren der Induktion, deren einfachste Variante den meisten als »vollständige Induktion« in der Arithmetik vertraut ist. Bekanntlich ist der Aufbau dieser Disziplin unabhängig von dem zugrunde gelegten Zählzeichensystem, so daß man auch da das einfachste solche System wählen kann: die (schon vor ca. 30.000 Jahren verwendeten) Strichlisten. Als Regeln für ihre Herstellung kann man z. B. q | nqn| wählen, also eine Anfangsregel zur Herstellung eines ersten, einzelnen Striches, und eine Fortsetzungsregel, durch die aus einer nach diesem Zählzeichenkalkül herstellbaren (in der Fortsetzungsregel durch eine »Eigenvariable« vertretenen) Strichliste eine weitere erzeugt wird. Durch schrittweise Anwendung dieser Regeln ergibt sich die Reihe der natürlichen Zahlen oder (da einige Autoren auch die Null zu den »natürlichen« Zahlen rechnen, eindeutiger:) Grundzahlen | || ||| |||| ….. , deren Reihencharakter in der Nachfolge Kants vor allem die Neukantianer (z. B. Natorp) in ihrer Philosophie der Mathematik betont haben. Die ausdrückliche Hervorhebung der Herstellungsregeln findet sich m. W. allerdings erst 1931 bei Hugo Dingler5 – wenn
So der Sache nach schon in Gottlob Frege: Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle / S. 1879, terminologisch erstmals in: ders.: Function und Begriff, Jena 1891. 4 Chemische Metaphern als solche waren damals nicht neu, vgl. dazu ausführlich Eva Picardi: La chimica dei concetti, in: Lingua e Stile 25 (1990), S. 363–381; leicht verändert in: dies.: La chimica dei concetti. Linguaggio, logica, psicologia 1879–1927, Bologna 1994, S. 181–210, sowie dies.: The Chemistry of Concepts, in: Bernd Naumann / Frans Plank / Gottfried Hofbauer (Hg.): Language and Earth. Elective Affinities Between the Emerging Sciences of Linguistics and Geology, Amsterdam, Philadelphia 1992, S. 125–146. 5 Hugo Dingler: Philosophie der Logik und Arithmetik, München 1931 (2. Kapitel, I. Teil, § 1: Herstellungsregeln, S. 79 ff.). 3
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man nicht in Wittgenstein einen Vorläufer sehen will, der dann freilich z. B. in Drobisch einen weiteren Vorläufer hätte.6 Das Zutreffen einer Eigenschaft E(x) auf alle Grundzahlen kann man dann so beweisen, daß man zunächst ihr Zutreffen auf die | nachweist und dann zeigt, daß wenn sie auf eine beliebige Grundzahl n zutrifft, sie auch auf deren Nachfolger n | zutrifft: E( | ) E(n) 3 E( n | ). Das Zutreffen der betrachteten Eigenschaft überträgt oder vererbt sich dann gewissermaßen von der Eins ausgehend auf alle ihr in der Reihe folgenden Grundzahlen: E( | ) 3 E( || ) 3 E( ||| ) 3 ..... Diese sog. vollständige Induktion hat eine lange und nicht ganz einfache Vorgeschichte. In seinem Traité du triangle arithmétique von 1654 formuliert Blaise Pascal die Beweismethode in vorbildlicher Klarheit; seine Worte könnten aus dem 20. oder 21. Jahrhundert sein.7 Der Sache nach benützen das Verfahren aber schon Maurolico um 1555 und noch vor ihm Levi Ben Gershom um 1321, ja Proklos berichtet, die Pythagoreer hätten das Näherungsverfahren für das Verhältnis von Seite und Diagonale des Quadrats durch eine eindeutig rekursive Überlegung (mit der Rekursionsformel s' = s + d ; d' = 2s + d, d. h. d² = 2s² ± 1 mit abwechselnd +1 und –1) gefunden – und van der Waerden glaubt Proklos sogar, daß dieser Beweis altpythagoreisch, also vorplatonisch sei.8 Was ich als kreativ empfinde, ist aber nicht dieses in der Rückschau als schlicht erscheinende Verfahren der arithmetischen Induktion, sondern seine Erweiterung zu einem Beweisverfahren für Aussagen über beliebige komplexe Ausdrücke, deren Aufbau durch Erzeugungsregeln eines Ausdruckskalküls bestimmt ist. Kommt eine Eigenschaft den von den Anfangsregeln dieses Kalküls erzeugten Figuren zu, und läßt sich zeigen, daß diese Eigenschaft jeder durch eine Fortsetzungsregel erzeugten Figur zukommt, sofern sie den Prämissen dieser Regel zukommt, so kommt die Eigenschaft offenbar allen durch diesen Ausdruckskalkül erzeugten Figuren zu. Wie bei der vollständigen Induktion über Grundzahlen läßt sich das Verfahren nicht nur zum Beweis von Allaussagen über einzelne Objekte, sondern auch von Aussagen über Paare, Tripel usw. von solchen einsetzen. Beispielsweise sind ja die in der Junktorenlogik betrachteten Aussagen entweder Primaussagen oder können aus solchen durch Negation oder zweistellige Operationen wie Konjunktion, Adjunktion, Subjunktion schrittweise hergestellt werden. Daher kann man eine metalogische Aussage über sie etwa dadurch beweisen, daß man ihre Moritz Wilhelm Drobisch: Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen, mit Rücksicht auf Mathematik und Naturwissenschaft, 2., völlig umgearbeitete Aufl., Leipzig 1851 (Logischmathematischer Anhang III.3: Ueber die Anwendung der Induction in der Mathematik, S. 222–235); Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, London 1922, 6.02. 7 Blaise Pascal: Traité du triangle arithmétique […] (1654), Paris 1665; zit. nach Œuvres complètes, ed. Louis Lafuma, Paris 1963, S. 50–54. 8 Bartel Leendert van der Waerden: Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich, München 1979, S. 402–405. 6
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Gültigkeit für Primaussagen zeigt und nachweist, daß sie für eine zusammengesetzte Aussage stets dann gilt, wenn sie für deren im Herstellungsprozeß unmittelbar vorausgehende Teilaussagen gilt (»Induktion über den Aufbau des Ausdrucks« oder »Teilformelinduktion«). Die Herstellung läßt sich durch Regeln beschreiben wie q a , q b , ..... A q ¬A A,B q AvB; A,Bq AwB; A,B q A;B, wobei a, b, … Primaussagen sind und A, B, … Eigenvariablen des Kalküls. So liefert etwa eine Anwendung der Anfangsregel die Primaussage a, eine andere die Primaussage b, aus a stellen wir nach der ersten Fortsetzungsregel ¬ a her, aus ¬ a und b nach der dritten Fortsetzungsregel ¬ a w b, usw. Es bietet sich an, die – potentiell unendlich vielen – Primaussagen statt durch paradigmatisch ausgewählte Kleinbuchstaben und Pünktchen genauer als p, *p, **p usw., also ihrerseits durch eine Anfangs- und eine Fortsetzungsregel mit P als Eigenvariabler zu erfassen: qp P q *P. Es scheint, daß sich als erster Emil Leon Post in seiner Dissertation von 1921 dieses Verfahrens bei seinem Beweis der Vollständigkeit der klassischen Junktorenlogik bedient hat, und zwar auf einer überraschend fortgeschrittenen Stufe, nämlich als Induktion über den (eigens und auf durchaus raffinierte Weise definierten) »Rang« eines Ausdrucks. Ob diese Verallgemeinerung in der beweistheoretischen Schule Hilberts schon damals geläufig war, habe ich trotz einer Umfrage bei einschlägig bekannten Kollegen bisher nicht herausfinden können. Wajsberg verwendet eine Variante 1931 in der MetaAussagenlogik, Gentzen 1935 eine anspruchsvolle zweifache Induktion beim Beweis seines Schnittsatzes
S 2 A ; S, A 2 B — S 2 B , und Lorenzen, Arnold Schmidt und Schütte bedienen sich in den 50er Jahren ganz selbstverständlich dieses Beweisverfahrens, das heute zu einem elementaren Standardverfahren geworden ist: als Induktion über den Aufbau eines Ausdrucks, über die Länge einer Herleitung, über die Anzahl der Anwendungen einer bestimmten Regel usw.9 Die Zu den historischen Hinweisen vgl. Gerhard Gentzen: Untersuchungen über das logische Schließen, in: Mathematische Zeitschrift 39 (1935), S. 176–210 und S. 405–431; gemeinsamer reprographischer Nachdruck, Darmstadt 1969; Paul Lorenzen: Algebraische und logistische Untersuchungen über freie Verbände, in: The Journal of Symbolic Logic 16 (1951), S. 81–106; Emil Leon Post: Introduction to a General Theory of Elementary Propositions [1921], in: Jean van Heijenoort (Hg.): From Frege to Gödel. A Source Book in Mathematical Logic, 1879–1931, Cambridge MA 1967, S. 264–283; Hermann Arnold Schmidt: Mathematische Gesetze der Logik. I. Vorlesungen über Aussagenlogik. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960; Kurt Schütte: Beweistheorie, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960; Stanisław J. Surma: Emil L. Post’s Doctoral Dissertation [1970], in: ders. (Hg.): Studies in the History 9
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Kreativität liegt in der Einsicht in die Parallelität des schrittweisen Aufbaus der Figuren, von denen ein Satz handelt, zu dem schrittweisen Aufbau des Nachweises der in dem Satz ausgesagten Eigenschaft. So etwas muß man sehen, ganz ähnlich wie die Möglichkeit der Musterung im Artinschen Brett. Ich komme zu meinem zweiten Beispiel, den Diagonalkonstruktionen. Sie sind das entscheidende Hilfsmittel in Beweisen dafür, daß sich eine bestimmte Gesamtheit von Objekten (die beweistheoretisch betrachtet immer durch Figuren gegeben sind) nicht abzählen, sich also nicht in einer Liste vollständig erfassen läßt. Der bekannteste solche Fall ist wohl Georg Cantors Beweis der Nichtabzählbarkeit der Gesamtheit der reellen Zahlen mit Hilfe des sog. zweiten Cantorschen Diagonalverfahrens10. Es ist den meisten, die ihm zum ersten Mal begegnen, suspekt, doch ist die Grundidee ganz einfach zu verstehen, wenn man sie auf die Gesamtheit der unendlichen »Dualfolgen« anwendet, d. h. auf die unendlichen Folgen von Nullen und Einsen (die mühelos als äquivalent der Gesamtheit der reellen Zahlen nachzuweisen ist). Wir betrachten also die Gesamtheit M* aller solchen unendlichen Folgen von Nullen und Einsen. Ist M irgendeine abzählbare Menge von Elementen von M*, so daß wir sie als einfach unendliche Folge b1, b2, …, bν , … schreiben können, so gibt es immer ein Element d von M*, das mit keinem der bν zusammenfällt. Um dies zu zeigen, ordnen wir die Folge so:
Wir definieren nun eine neue Dualfolge d : = d1d2d3..... durch di / 1– bii.
of Mathematical Logic, Wrocław u. a. 1973, S. 11–18; Stanisław J. Surma: A Historical Survey of the Significant Methods of Proving Post’s Theorem About the Completeness of the Classical Propositional Calculus, in: ders. (Hg.): Studies in the History of Mathematical Logic, Wrocław u. a. 1973, S. 19–32; Mordchaj Wajsberg: Aksjomatyzacja trójwarto´sciowego rachunku zda´n, Comptes Rendus de la Société des Sciences et des Lettres de Varsovie, Classe III, 24 (1931), S. 126–145. 10 Georg Cantor: Ueber eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 1 (1890–91), S. 75–78.
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Man erkennt, daß d nicht zu M gehören kann, denn es ist von jedem einzelnen bν verschieden: v n (d … bn). Wäre nämlich d = bk für irgendein k, so wäre die k-te Ziffer von bk (und das heißt: bkk) gleich der k-ten Ziffer dk von d, die nach ihrer Definition gleich 1 – bkk ist, und wir hätten entweder 0 = 1 oder 1 = 0. Also kann d nicht zur Folge b1, b2, ..... gehören: es gilt zwar d 0 M*, aber d ó M. Diese Überlegung gilt auch dann, wenn wir als M die Gesamtheit M* aller Dualfolgen nehmen – womit wir die Annahme machen, daß M* als Folge darstellbar, also abzählbar sei. Die Überlegung ergibt dann, daß d nicht zu M* gehören kann, obwohl es nach Konstruktion eine Dualfolge ist und also zu M* gehören muß. (Setzt man in der letzten Formel des vorigen Absatzes M* für M, so hat man explizit den formalen Widerspruch »d 0 M* und d ó M*«). M* kann also nicht als Folge M unserer Überlegung genommen, d. h. nicht in die Form einer Folge gebracht werden: M* ist nicht abzählbar. Das Ergebnis, daß sich diese Gesamtheit auf keine Weise in einer Liste erfassen läßt, ist ein negatives Ergebnis, und zum Beweis negativer Ergebnisse haben sich die Diagonalkonstruktionen bis heute als hervorragend geeignet und leistungsstark erwiesen – etwa in der theoretischen Informatik beim Halteproblem, oder in der Metamathematik bei Gödels Konstruktion einer syntaktisch korrekt gebildeten Aussage mit den Ausdrucksmitteln eines die Arithmetik erfassenden Kalküls, die ebensowenig selbst zu den herleitbaren Ausdrücken dieses Kalküls gehört wie ihr Negat (obwohl sie sich inhaltlich sogar als wahr herausstellt). Auch hier ist die Grundidee – der Gedanke, zu einer Gesamtheit von Objekten eines gegebenen Typs ein weiteres Objekt desselben Typs zu konstruieren, das dennoch von allen bis dahin vorliegenden verschieden ist – scheinbar sehr schlicht. Cantors Entdeckung einer allgemeinen Methode dafür war m. E. kreativ – »H-creative« hinsichtlich der Allgemeinheit des Verfahrens (während eine spezielle Diagonalkonstruktion schon 1875 von Paul Du Bois-Reymond veröffentlicht worden war11), »P-creative« (»psychologically creative«), weil eine Äußerung Cantors in seinem Briefwechsel mit Dedekind zeigt, daß er noch 1873 in der Beurteilung der Sachlage schwankte. Ebenso berühmt wie Cantors Verwendung von Diagonalkonstruktionen in seinen Nichtabzählbarkeitsbeweisen ist heute unter Kennern ihre Anwendung in Kurt Gödels Beweis seines ersten Unvollständigkeitssatzes. Während sich dieser m. E. nicht als Beispiel für Kreativität auf dem hier diskutierten Gebiet eignet, kommen zwei einzelne Komponenten desselben durchaus dafür in Frage: zum einen das Verfahren der »Gödelisierung«, zum anderen das der »negationstreuen Vertretung«. Obwohl der Beweis als ganzer hier nicht einmal skizziert werden kann12, läßt sich für die beiden genannten Beweiskomponenten die Grundidee doch verständlich machen. Vgl. Paul Du Bois-Reymond: Ueber asymptotische Werthe, infinitäre Approximationen und infinitäre Auflösung von Gleichungen, in: Mathematische Annalen 8 (1875), S. 363–414. 12 Eine solche Skizze findet sich bei Christian Thiel: Kurt Gödel: Die Grenzen der Kalküle, in: Josef 11
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Sie läßt sich unter das Schlagwort einer Arithmetisierung der Vollformalismen bringen, wobei die beiden darin vorkommenden Termini natürlich erst erläutert werden müssen. Als »Vollformalismus« bezeichnen wir einen Kalkül, in dem jede Regel nur endlich viele Prämissen hat (evtl. gar keine, wenn sie nämlich eine Anfangsregel ist), und unter diesen auch alle Bedingungen von Regelanwendungen in strenger Form erfaßt sind, die beim gewöhnlichen Umgang mit Kalkülen meist dem »learning by doing« nach Maßgabe geeigneter Beispiele überlassen werden (z. B. das freie Vorkommen einer Variablen und die Umbenennungsregeln in der Quantorenlogik). Wie bei den bisher betrachteten Kalkülen werden alle als Prämissen oder Konklusionen zugelassenen Zeichen und Zeichenketten nach Regeln des Kalküls selbst erzeugt. In den Vollformalismen, auf die sich der Gödelsche Satz bezieht, müssen dann außer den quantorenlogischen und arithmetischen Regeln Ausdrucksregeln vorkommen, nach denen Ziffern und Ziffernfolgen, Variable und Terme, Funktions-, Relations- und Verknüpfungszeichen und mit ihnen zusammengesetzte logische Aussageformen sowie arithmetische Aussagen erzeugt werden. In den zu betrachtenden Vollformalismus sollen aber auch noch die arithmetischen Beweise integriert werden, in denen von Axiomen (also den Konklusionen von Anfangsregeln) ausgehend in meist zahlreichen Schritten arithmetische Sätze hergeleitet werden. Solche Beweise pflegt man, mit dem bewiesenen Satz als Endformel, schematisch als »Bäume« zu präsentieren. Sie lassen sich mit einem technischen Trick aber auch als lineare Zeichenreihen darstellen, indem man den Sachverhalt, daß p1 Konklusion aus den Prämissen p2, p3, … , pk ist, mit Hilfe eines eigens dafür eingeführten »Anordnungsfunktors« Γk durch die Zeichenreihe Γk p1, … , pk ausdrückt. Das klingt komplizierter als es ist, da in den üblichen Vollformalismen für die Arithmetik keine Regeln mit mehr als 7 Prämissen vorkommen, so daß man mit ebenso vielen Anordnungsfunktoren Γ1, …, Γ6 auskommt; allerdings enthält ein solcher Vollformalismus i. a. mehr als 70 Regeln. Das Ergebnis ist jedenfalls, daß wir die unendlich vielen nach den Regeln unseres Vollformalismus herstellbaren Ausdrücke (einschließlich der Beweisfiguren) als endliche lineare Zeichenreihen verfügbar haben, die sich (quasi alphabetisch) in einer Liste erfassen lassen. Nun kommt die »Gödelisierung« ins Spiel, indem wir den linearen Zeichenreihen von nicht ihre jeweiligen Listennummern, sondern Grundzahlen zuordnen, für welche die Bezeichnung »Gödelnummern« üblich geworden ist. Wir ordnen den Grundzeichen (der 0, der Nachfolgerfunktion, den Anordnungsfunktoren und den logischen Verknüpfungs- und Relationszeichen) der Reihe nach die ungeraden Zahlen zu, dann den Zahlvariablen wieder der Reihe nach die bis dahin noch nicht zugeordneten Primzahlen, den schematischen Buchstaben für Aussagen die Quadrate der letzteren und den Anfangszeichen von Aussageformen ihre Kuben. Die Gödelnummer g(z) eines Grundzeichens z soll nun die ihm zugeordnete Grundzahl sein. Die Gödelnummer einer aus k Zeichen zusammengesetzten Zeichenreihe uvw…x soll das Produkt 2u · 3v · 5w · … pkx Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit VI, Göttingen 1992, S. 138–181; anspruchsvolle Detaildarstellungen liefern Paul Lorenzen: Metamathematik, Mannheim 1962 und Raymond M. Smullyan: Gödel’s Incompleteness Theorems, New York, Oxford 1992.
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aus den entsprechenden Potenzen der aufeinanderfolgenden Primzahlen sein (pk ist also die k-te Primzahl in der Primzahlenreihe). Damit ist jeder Zeichenreihe von eindeutig eine Gödelnummer zugeordnet und gesagt, wie sie berechnet werden kann. Umgekehrt läßt sich für jede gegebene Grundzahl feststellen, ob sie die Gödelnummer einer Zeichenreihe von ist, da ja jede Grundzahl eine eindeutige Zerlegung in Primfaktoren besitzt, d. h. eine eindeutige Darstellung als Produkt von Primzahlen (wobei wir mehrfach auftretende zu Primzahlpotenzen zusammenfassen).13 Hinter dieser »Gödelisierung« steht die Idee, allen Eigenschaften von Zeichenreihen von und allen Relationen zwischen solchen Zeichenreihen Eigenschaften der ihnen jeweils zugeordneten Gödelnummern bzw. Relationen zwischen diesen entsprechen zu lassen. Effektiven, also nach den Regeln des Vollformalismus in wirklich ausführbaren Operationen sollen effektiv ausführbare Berechnungen (bildlich gesprochen »außerhalb« von ) korrespondieren. Geht z. B. aus einem Ausdruck A durch eine zulässige Einsetzung ein neuer Ausdruck A* hervor, so soll sich aus der Gödelnummer g(A) des ersten die Gödelnummer g(A*) des zweiten Ausdrucks effektiv berechnen lassen. Einen kurzen Exkurs verdient die Tatsache, daß eine ganz verwandte Idee bereits Leibniz gehabt hat, als er bei seinen Überlegungen zu einer allgemeinen Charakteristik die Enthaltenseins-Beziehungen zwischen Begriffen (genauer: zwischen Begriffsinhalten bzw. dual dazu zwischen Begriffsumfängen) mit denen zwischen Grundzahlen in analogische Beziehung brachte. So gibt er in den »Elementa Characteristicae universalis« 1679 als Regel für die Zuordnung von Zahlen zu Begriffen an, daß einem aus zwei Begriffen F und G zusammengesetzten Begriff H das Produkt der beiden Zahlen zuzuordnen sei, die F und G zugeordnet sind. Erklärt man z. B. den Begriff »Mensch« als aus den Merkmalen (Teilbegriffen) »vernunftbegabt« und »Lebewesen« zusammengesetzt und ist dem Begriff »vernunftbegabt« die Zahl 2, dem Begriff »Lebewesen« die Zahl 3 zugeordnet worden, so erhält der Begriff »Mensch« die Zahl 2·3, also 6 zugeordnet.14 Dem Sachverhalt, daß 2 und 3 »Teile«, nämlich Teiler des Produkts 2·3 sind (also 2|6 und 3|6 gilt), entspricht dann der Sachverhalt, daß »vernunftbegabt« und »Lebewesen« Merkmale, Teilbegriffe des Begriffs »Mensch« sind (V d M und L d M bei der von Leibniz hier bevorzugten intensionalen Auffassung). Um der kalkulatorischen Behandlung auch komplizierterer Begriffsverhältnisse, wie sie uns etwa in der traditionellen Syllogistik begegnet, in der Wissenschaft der Zahlenverhältnisse, also der Arithmetik, parallele und damit adäquate Rechenverhältnisse an die Seite zu stellen, erweist es sich dann freilich als nötig, den Begriffen statt einfacher Zahlen geordnete Zahlenpaare zuzuordnen.15 Für Details und zwei einfache Berechnungsbeispiele vgl. S. 160 meiner in Anm. 12 genannten Skizze. 14 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Elementa Characteristicae universalis [Fragment], AkademieAusgabe VI. Reihe, IV. Band, Teil A, Berlin 1999, S. 182; ähnliche Formulierungen ebd., S. 196, 201, 206 und 209. 15 Vgl. Christian Thiel: Leibnizens Definition der logischen Allgemeingültigkeit und der »arithmetische Kalkül«, in: Theoria cum Praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 12.–17. November 1977, Bd. III: 13
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Ersichtlich sind Vollformalismen der von Gödel betrachteten Art weit komplizierter als Leibnizens Begriffslogik oder die traditionelle Syllogistik, so daß kompliziertere Zuordnungen erforderlich sind. Auch fehlt bei Leibniz das Merkmal der »Effektivität« des Beweisens und des Rechnens, das wohl als evident vorausgesetzt und eben deshalb nicht formal zu erfassen versucht wird. Aber Gödel ging es gar nicht in erster Linie darum, logisches Schließen auf arithmetisches Rechnen zurückzuführen, es ging ihm darum, Grenzen des Beweisens in einem Vollformalismus aufzuzeigen. Eine solche Grenze zeigte sein schon erwähntes berühmtes Resultat, zu dem Gödel nicht ohne einen zweiten tiefliegenden Gedanken hätte gelangen können. Wir hatten gesehen, daß die Beweisbarkeit einer Aussage S in (kurz: | S) im Vorhandensein einer nach den Regeln von korrekten Beweisfigur in mit S als Endformel besteht. Diese Beweisfigur hat eine Gödelnummer m, ihre Endformel (der bewiesene Satz) eine Gödelnummer n, und zwischen beiden besteht eine rekursiv definierbare Relation, nennen wir sie Bew (m, n). Gödel hat nun die Konstruktion seines (metamathematischen!) Unvollständigkeitsbeweises so angelegt, daß jeder rekursiven n-stelligen Relation R(m1 , … , mk) innerhalb von eine Aussageform AR (x1, … , xk) so entspricht, daß die aus ihr durch Einsetzen der in den Grundzahlen m1 , … , mk entsprechenden Zählzeichen m1 , … , mk für x1, … , xk hervorgehende Aussage in beweisbar ist, wenn die Relation besteht, daß dagegen das Negat dieser Aussage beweisbar ist, wenn die Relation nicht besteht (wir sagen dann, daß die n-stellige Relation R durch die ihr entsprechende Aussageform AR (x1, … , xk) in »negationstreu vertreten« wird: R(m1 , … , mk) ε wahr R(m1 , … , mk) ε falsch
↔ ↔
| AR (m1 , … , mk) | ¬ AR (m1 , … , mk).
(»negationstreue Vertretung«) Insbesondere wird die Relation Bew (x, y) durch eine Aussageform ABew (x, y) in negationstreu vertreten, d. h. so, daß | ABew (m, n) falls Bew (m, n) gilt, | ¬ ABew (m, n) falls Bew (m, n) nicht gilt. Mit Hilfe der Bew (x, y) in vertretenden Aussageform ABew (x, y) läßt sich die neue einstellige Aussageform G(y) » v x ¬ABew (x, y) bilden; ihre Gödelnummer sei i. Von der aus G(y) durch Ersetzung der Variablen y durch das Zählzeichen i hervorgehenden Aussage G » v x ¬ABew (x, i)
Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Theologie, Wiesbaden 1980, S. 14–22; Klaus Glashoff: On Leibniz’s Characteristic Numbers, in: Studia Leibnitiana 34 (2002), S. 161–184.
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konnte Gödel zeigen, daß weder sie selbst noch ihr Negat in ableitbar ist. In diesem Sinne ist unvollständig – ganz unabhängig von der bemerkenswerten Tatsache, daß die Aussage G nicht nur inhaltlich wahr ist, sondern zugleich, semantisch »von außen« betrachtet und etwas schlampig ausgedrückt, von sich selber behauptet, daß sie in unableitbar sei. Die Erörterung dieser Paradoxie würde hier jedoch zu weit führen, so daß wir uns mit der m. E. unleugbaren Kreativität des Zusammenwirkens von Gödelisierung und negationstreuer Vertretung begnügen. Das letzte von mir als kreativer Schritt in der mathematischen Grundlagenforschung in Erwägung gezogene Beispiel sei hier nur noch skizziert: die Idee einer Dialogsemantik für Logikkalküle. Nachdem Leibnizens Kalkülbegriff16 eine regelorientierte, operative Erfassung logischer Schlußverfahren ermöglicht hatte, war das durch Freges Kalkül der klassischen Quantorenlogik (s. o.) geschaffene Paradigma eines axiomatischen Aufbaus der Logik bis Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vorherrschend geblieben. Seit Ende der 20er Jahre entwickelten unabhängig voneinander Logiker in Warschau und in Göttingen Regelsysteme der Logik, welche den in der Mathematik tatsächlich angewandten Schlußweisen u. a. dadurch näher standen als die axiomatischen, daß sie unmittelbar aus Annahmen zu schließen erlaubten (Ja´skowski 1934; Gentzen 1935). Der Umgang mit den logischen Partikeln wurde dabei nicht durch Wahrheitstafeln oder andere semantische Hilfsmittel bestimmt, sondern durch Regeln für ihre Verwendung zur Verknüpfung gegebener Formeln zu komplexeren und umgekehrt zum Übergang von diesen zu ihren unmittelbaren Teilformeln. So ergaben sich Systeme des »natürlichen Schließens« bei Ja´skowski und Gentzen, sowie bei letzterem die Variante der »Sequenzenkalküle«, denen Beth 1955 noch seine Methode der semantischen Tableaux hinzufügte. Kalküle des natürlichen Schließens, Sequenzenkalküle und Verfahren zur Arbeit mit semantischen Tableaux lassen sich sowohl für die klassische als auch für die effektive (konstruktive, intuitionistische) Logik aufstellen. Eine semantische Deutung existierte aber zunächst nur für die klassische Logik, während die effektiven Kalküle durch eher vage verbleibende Deutungen als Logik von Aufgaben oder Konstruktionen gerechtfertigt wurden. Es bedeutete daher einen wesentlichen Schritt, als Lorenzen 1959 seine schon einige Jahre früher konzipierte operative Deutung der Logik zu einer Dialogsemantik weiterentwickelte. Eine logisch zusammengesetzte Aussage heißt begründbar (traditionell: wahr), wenn es einer sie behauptenden Person möglich ist, sie gegen jeden von einem Opponenten vorgebrachten Zweifel zu verteidigen; sie heißt allgemeingültig (traditionell: formal wahr), wenn eine solche Verteidigung ohne Rückgriff auf Begründungen oder auf die Nichtbegründbarkeit irgendwelcher in der These auftretenden Primaussagen gelingt (wenn es also für den die These Behauptenden eine inhaltsunabhängige »Gewinnstrate-
»Calculus vel operatio consistit in relationum productione facta per transmutationes formularum, secundum leges quasdam praescriptas factis.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Fundamenta calculi ratiocinatoris, N. 192 in der Akademie-Ausgabe, VI. Reihe, IV. Band, Teil A (Berlin 1999), S. 917–922, Zitat S. 921. 16
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gie« gibt). Das Feststellungsverfahren wird als ein Argumentationsspiel stilisiert, für das zunächst festzulegen ist, wie um eine logisch zusammengesetzte Aussage zu argumentieren ist. Dies geschieht für die einzelnen Argumentationsschritte durch Partikelregeln (die genau den Einführungs- und Beseitigungsregeln des natürlichen Schließens und der Sequenzenkalküle entsprechen) und für den Gesamtverlauf der Argumentation durch sog. Rahmenregeln, von denen manche je nach dem verfolgten Ziel verschieden gewählt werden können und so z. B. wahlweise die klassische oder die effektive Allgemeingültigkeit von Thesen zu prüfen erlauben. Eine gängige Form der Partikelregeln ist
wobei in jeder Tafel oben die zusammengesetzte Aussage, darunter links die zulässigen Zweifel und jeweils rechts daneben die zugehörigen Verteidigungen angegeben sind (bei Quantifikation haben die »Teilaussagen« die Gestalt von »Fallaussagen«). Die vollständige Ausbreitung der Regelsysteme würde hier zu weit führen, sie kann z. B. in Lorenzen 1987 nachgelesen werden. Ein Beispiel für die Überprüfung einer These im »Dialogspiel« mag genügen:
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Die Abfolge der Argumente ist in diesem speziellen Fall sogar zwangsläufig und liefert eine triviale Gewinnstrategie für die (z. B. mit der Wahrheitstafelmethode gar nicht feststellbare) effektive Allgemeingültigkeit der untersuchten These: das Aussagenschema (a 3 ¬ b) 3 (b 3 ¬ a) ist also ein Satz der effektiven Junktorenlogik. Da wir mit dieser hier nur skizzierten Methode nicht bloß die syntaktische Struktur logisch zusammengesetzter Aussagenschemata behandeln, sondern auch z. B. deren Allgemeingültigkeit, Erfüllbarkeit und Widerlegbarkeit definieren und untersuchen können, haben wir eine Semantik vor uns – freilich keine Referenzsemantik, sondern eine pragmatisch orientierte »Dialogsemantik«. Ihre Entwicklung um ca. 1960 war eine kreative Innovation, die nicht nur ein weiteres interessantes Verfahren in der Logik und Metamathematik lieferte, auch nicht eine bloße Verallgemeinerung früherer Verfahren war, sondern eine völlig neue Perspektive eröffnete. Sie erlaubte eine einheitliche Betrachtung von Deduktionen (sei es vom axiomatischen Typ, sei es von dem des natürlichen Schließens) und von Tableaux, lieferte eine plausible Interpretation der Bethschen effektiven Tableaux (durch einsichtige Motivation der Reihenfolgeregel) und führte über die nur formale Differenzierung von »unterschiedlich strenger« Wahrheit oder Allgemeingültigkeit hinaus zu einem einheitlichen Begriff der Gewinnbarkeit von »Spielen« nach unterschiedlichen Regelsystemen, die nicht bloß technisch von einem schon bekannten Ziel her, sondern als Antworten auf verschiedene sinnvolle Fragestellungen motiviert sind. Da die wesentlichsten Gesichtspunkte dazu schon ausführlich erörtert worden sind17, kann die Reihe der Kandidaten für kreative Ideen und Gedankengänge auf dem Gebiet der mathematischen Grundlagenforschung mit der Dialogsemantik hier enden. Was ich in allen angeführten Beispielen am Werke finde, ist die schöpferische Funktion des »Sehens«, meist als ein Erkennen von Analogien und Beziehungen zwischen heterogen scheinenden Bereichen, und eine fruchtbare Verwendung dieser Analogien (wobei ich vermute, daß die Wertbeziehung, die in vielen Definitions- oder Charakterisierungsversuchen von Kreativität genannt wird, im wesentlichen auf solche Fruchtbarkeit zielt). Auffallend ist, daß dieses für die Kreativität wesentliche Erkennen historisch wie systematisch ganz oft am Anfang einer Entdeckungslinie steht, daß es aber nicht wie ein Sprungbrett zurückbleibt, sondern unentbehrlich bleibt für die Ergebnisse, die in der betreffenden Disziplin (hier der mathematischen Grundlagenforschung) mit späteren, raffinierten Techniken gewonnen werden und gelegentlich als spektakulär Aufsehen erregen. Ob Originalität, Entdeckung, Innovation, Einfallsreichtum, Phantasie und Imagination dabei die wesentliche Rolle spielen, wird sich im Einzelfall schwer entscheiden lassen und im allgemeinen kaum beantwortbar sein. Aber das Gebiet der mathematischen Grundlagenforschung scheint mir sehr geeignet als ein Probierstein für Versuche zur allgemeinen Definition von Kreativität. Sollte sich eine solche Definition hier nur schwer oder überhaupt nicht anwenden lassen, wäre es ratsam, sie noch einmal zu überdenken. Vgl. Christian Thiel: Über Ursprung und Problemlage des argumentationstheoretischen Aufbaus der Logik, in: Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Theorie des wissenschaftlichen Argumentierens, Frankfurt/M. 1980, S. 117–135. 17
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Die Schöpfung der Maschine Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen Bernd Mahr (Berlin)
Vorbemerkung Schöpfung sehen wir als Tat Gottes. Nur bei Kunstwerken und in der Mode gestehen wir den Erschaffern zu, Schöpfer zu sein. Grund dieser Zurückhaltung im Wortgebrauch ist vermutlich die angestammte Ehrfurcht vor dem Geglaubten, dem Schöpfer dieser Welt und der Größe seines Werkes. Bei der Kunst ist es die große Bewunderung der künstlerischen Leistung, die es rechtfertigt, von einer Schöpfung zu sprechen, während die Rechtfertigung bei der Mode vielleicht dem Charme der Worttreue entspringt, der in der direkten Übersetzung des französischen création liegt, möglicherweise aber auch der ästhetischen Wirkung von Kleidern, denen nichts entspricht, das als ihr Vorbild gelten kann. Was aber rechtfertigt es, von der »Schöpfung der Maschine« zu sprechen? Zum einen sicherlich die Tatsache, daß Maschinen, die sich in unserem täglichen Leben immer weiter ausbreiten, das Ergebnis einer kreativen Leistung sind, in der etwas Neues zur Realität wurde. Zum anderen aber die Frage, die sich hinter der zweiten Lesart des Genitivs versteckt: kann Schöpfung auch die Tat von Maschinen sein? Diese Frage mag absurd erscheinen. Aber sie hat in der Frage nach dem Verhältnis von ›Maschine‹ und ›Kreativität‹ tatsächlich einen faßbaren Inhalt. Um diese Frage und um die Methodik ihrer Behandlung geht es hier.
1. Das Maschinelle und das Kreative Der Bau von Maschinen hat sich mit unserer Kultur entwickelt1. Maschinen entstanden als Werkzeuge und Hilfsmittel der Arbeit, waren aber schon früh auch ein Gegenstand der Phantasie. Die Griechen sahen in ihnen eine List gegen die Natur. Der Bau von Kriegsmaschinen und Uhren gehörte zum Metier der Architekten, wie Vitruv in seinen decem libri de architectura ausführt. Die Maschinen Leonardos dienten, wenn sie nicht gezeichnete Gedankenexperimente waren, ganz praktischen Zwecken der TransformaSiehe hierzu Jutta Bacher: Das Theatrum Machinarum – Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen, in: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion – Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 509–518. 1
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tion von Kräften. In der Neuzeit hat man Maschinen zur Belustigung und zum Zeitvertreib entwickelt und in Theatern und Wunderkammern ausgestellt: Schreiber, Spieler und Tänzer, eine verdauende Ente oder einen zeichnenden Affen2; und schon in der griechischen Klassik gab es den deus ex machina. Mit fortschreitender Technisierung und Automatisierung wurden Maschinen zum wichtigsten Mittel der Steigerung von Produktivität. Das ist bis heute so. Gleichzeitig wurde das Maschinelle aber auch zum Synonym für Dummes, Künstliches und Unbeseeltes. Der Betrachtung offenbaren sich Maschinen durch maschinelle Prozesse, die einer vorgegebenen Steuerung unterliegen und zu Ergebnissen führen, die implizit durch diese Steuerung schon feststehen. Im prototypischen Ideal sind Maschinen von unkontrollierten äußeren Einflüssen unberührt und produzieren nur das, was ihnen zuvor in anderer Form zugeführt wurde. Sie applizieren und wandeln um, aber sie erzeugen nichts Neues. Im Maschinellen wird deshalb ein direkter Gegensatz zum Kreativen gesehen. Kreativität bezeichnet in sehr unbestimmter Weise die menschliche Fähigkeit zu schöpferischer Leistung3. Was im Einzelnen als kreativ gelten kann, hängt stark von der Umgebung ab, in der diese Leistung gefragt ist und erbracht wird. Seit die kognitive Psychologie ihre Forschung auf diesen Begriff richtet, ist die Überzeugung gewachsen, daß Kreativität ein Schlüssel innovativer Produktion ist und lernbar. Gleichzeitig haben empirische Untersuchungen gezeigt, daß Kreativität nicht eine Folge von Intelligenz ist, sondern von dieser weitgehend unabhängig. Kreativität zu messen, zu beobachten und zu fördern, gehört seither auch zu den Leistungsangeboten erleuchteter Persönlichkeiten, die das Potential im Menschen erkannt haben und sich auf das laterale Denken verstehen und die für ein Honorar auch den Umgang mit den Kreativitätstechniken beherrschen. Kreativität steht, der verbreiteten Auffassung zufolge, in einem fundamentalen Gegensatz zum Maschinellen. Bei einem kreativen Prozeß, so diese Sicht, sind die Aktionen, die den Prozeß ausmachen, unbestimmt und äußeren Einflüssen zugänglich, und es kommt zu einem Ergebnis, das nicht schon vorher feststeht, sondern, im prototypischen Ideal, unerwartet, selten oder sogar neu ist. Es ergibt sich folgerichtig mit dem Kreativen ein Gegensatz zum Maschinellen, weil sich die Merkmale der jeweiligen Prozesse ja einander ausschließen. Denn was unbestimmt ist, ist nicht bestimmt, was offen ist, ist nicht geschlossen, und was neu ist, steht nicht schon fest. Die Formulierung dieses Gegensatzes ist nicht ohne Nutzen. Sie schärft den Blick für unterscheidbare Fähigkeiten und Arbeitsweisen und trägt ohne Zweifel auch zum besseren Verständnis der Abläufe menschlichen Denkens und Handelns bei. Trotz ihrer Eingängigkeit ist aber die Opposition von ›Maschine‹ und ›Kreativität‹ nicht klar. Beide Begriffe sind stark vom Wohlwollen derer abhängig, die sie zu verstehen haben, und bei ihrer Gegenüberstellung fällt eine gemeinsame Betrachtung nicht leicht. Eine Maschine ist ein Artefakt, Kreativität dagegen bezeichnet die menschliche Fähigkeit zu schöpferischer Leistung, und das Maschinelle an Maschinen liegt in ihrer Arbeitsweise, das Besondere der Kreativität aber im Ergebnis der Leistung. Um über das Verhältnis von 2 3
Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Berlin 2000. Hellmuth Benesch: dtv Atlas Psychologie, München 1997, S. 196–197.
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Maschine und Kreativität urteilen zu können, müßten beide aber vergleichbar sein. Eine solche Vergleichbarkeit ergibt sich, wenn man in ihnen unterschiedene Merkmale des ›Entstehens‹ sieht. Die Frage nach dem Verhältnis von Maschine und Kreativität wird dann zu einer Frage nach dem Verhältnis von maschinellem und kreativem Entstehen.
2. Ein Modell des Entstehens Nach dem Entstehen von Etwas zu fragen, macht von der Vorannahme Gebrauch, daß es entstanden ist. Wir gehen selbstverständlich davon aus, daß unsere reale Welt entstanden ist, ebenso, daß auch ein Motor bei seiner Fertigung auf dem Fließband entstanden ist und auch, daß ein Verlust am Rouletttisch einer Spielbank entstand und nicht immer schon da war. Diese Selbstverständlichkeit geht jedoch verloren, wenn wir danach fragen, wie Etwas entstanden ist. Der große Erklärungswert, der in der Darlegung des Entstehens von Etwas liegt, ist offenbar nicht leicht zu haben. Der Versuch, Entstehen darzulegen, führt bei systematischer Betrachtung unmittelbar zur Frage nach dem logisch oder zeitlich früheren Entstehen der Voraussetzungen dieses Entstehens. Was wir dabei als Entstehensvoraussetzung ansehen, ist sehr stark vom Zusammenhang der Betrachtung abhängig und steht weitgehend in unserem Belieben. Es ist zum Beispiel eine Glaubensfrage, ob wir der christlichen Lehrmeinung folgen und davon ausgehen, daß die reale Welt voraussetzungslos entstanden ist, also eine creatio ex nihilo, oder ob wir dem ex nihilo nihil fit der Vorsokratiker Parmenides und Heraklit folgen, oder auch Aristoteles, und deshalb meinen, daß es Entstehensvoraussetzungen der Welt geben muß. Dabei muß eine Entität nicht nur eine einzige Voraussetzung ihres Entstehens besitzen. So lassen sich die Teile, aus denen ein Motor zusammengesetzt wird, ebenso als Entstehensvoraussetzungen auffassen, wie die Zwischenstadien seiner Fertigung an den Stationen des Fließbands. Wofür wir uns entscheiden, ist eben eine Frage des Betrachtungszusammenhangs. 1. Eine Entität ist entstanden. Das Entstehen einer Entität ist entweder voraussetzungslos oder von Entstehensvoraussetzungen abhängig, die selbst Entitäten sind. Dem Entstehen einer Entität geht logisch oder zeitlich das Entstehen ihrer Entstehensvoraussetzungen voraus. Bei der Darlegung des Entstehens einer Entität ergibt sich ein Regreß von Fragen nach den Entstehensvoraussetzungen. Denn was bei einer Entität erfragt werden kann, das kann man auch bei den Entitäten erfragen, die deren Entstehensvoraussetzungen sind. Nur dann, wenn wir bei einem solchen fortlaufenden Fragen zu einem voraussetzungslosen Entstehen gelangen, kann dieser Regreß immer gleicher Fragen zu einem Ende kommen. Anderenfalls ist er im Prinzip unendlich. 2. Mit dem Entstehen einer Entität sind Folgen von Entstehensvoraussetzungen verbunden, deren erstes Element die Entität ist, deren zweites Element eine der Entstehensvoraussetzungen dieser Entität ist, u. s. w.
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Die Unendlichkeit eines solchen Regresses läßt sich als potentielle Unendlichkeit auffassen. Jede Entität des Regresses ist nach endlich vielen Fragen erreichbar und der Regreß gewinnt seine Unendlichkeit nur im Prinzip, d. h. durch die denkbare Möglichkeit des fortgesetzten Fragens. Potentielle Unendlichkeit steht mit unserer Erfahrung nicht in ernsthaftem Widerspruch. Die Beziehung, die zwischen einer Entstehensvoraussetzung und der Entität besteht, deren Entstehensvoraussetzung sie ist, läßt sich als Entstehensschritt auffassen. Jeder Folge von Entstehensvoraussetzungen entspricht daher in umgekehrter Richtung eine Sequenz von Entstehensschritten. 3. Mit jeder Folge von Entstehensvoraussetzungen einer Entität ist eine Entstehenssequenz, eine Sequenz von Entstehensschritten, verbunden, deren Elemente die Entitäten sind, die in der Folge von Entstehensvoraussetzungen vorkommen, und in der zwei Entitäten aufeinanderfolgen, wenn die erste eine Entstehensvoraussetzung der zweiten ist. Zwei aufeinanderfolgende Entitäten bilden einen Entstehensschritt. Das letzte Element der Sequenz ist das Ergebnis des Entstehens. Eine Entstehenssequenz kann endlich oder unendlich sein. Besitzen alle Folgen von Entstehensvoraussetzungen ein letztes Element, dann ist das Entstehen endlich und diese letzten Elemente sind die Anfänge des Entstehens. Anderenfalls ist das Entstehen unendlich und ohne Anfang. Während eine unendliche Folge von Entstehensvoraussetzungen noch als potentiell unendlich aufgefaßt werden kann, ist die ihr zugehörige Entstehenssequenz nur noch als aktuelle Unendlichkeit zu begreifen. Sie besitzt in der Aufeinanderfolge ihrer Elemente zwar ein Ende, aber keinen Anfang. Ein Entstehen ohne Anfang ist nicht leicht vorstellbar. Die Situation eines Entstehens aus dem Unendlichen wird deshalb seit jeher als problematisch empfunden. In der Darlegung eines solchen Entstehens wird offenbar keine Erklärung mehr gesehen. Eine Erklärung, die sich auf ein Entstehen ohne Anfang gründet, ist daher oft nicht frei von Anleihen aus dem Virtuellen. Parmenides, Heraklit und Aristoteles folgen ihrer Überzeugung des ex nihilo nihil fit und müssen folglich die zeitliche Unendlichkeit der Welt annehmen. Aber für sie bildet das Chaos oder ein ewig vorgegebener Stoff das Ausgangsmaterial des endlich geordneten Kosmos. In anderen Entwürfen des Weltentstehens ist von einem Ursprung die Rede, der nicht in der Zeit liegt oder von einem unvergänglichen Urgrund. In der christlichen Religion besteht die Vorstellung einer zeitlichen Ewigkeit und eines ewigen Gottes. Gott, der Anfang und Ende dieser Ewigkeit ist, Alpha und Omega, steht über ihr oder ist sie selbst. Mit der Annahme eines Schöpfergottes, einer ersten Ursache der realen Welt und einer creatio ex nihilo löst sich das Problem des regressus in infinitum. Weil aber auch das Geschehen eines voraussetzungslosen Entstehens nur schwer vorstellbar ist, gab es immer auch Zweifel an der Schöpfungslehre. Ungeachtet eines möglichen Anfangs oder einer unendlichen Vergangenheit wird das Entstehen der Welt seit langem als eine fortdauernde Schöpfung gedacht. Es treten aber auch hier unterschiedliche Positionen auf. So wird gegenwärtig darüber gestritten, ob die Schritte der fortdauernden Schöpfung notwendig als bestimmt anzusehen sind und
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von einer kreativen Intelligenz planvoll gesteuert werden, oder ob ihnen ein kausales Prinzip der Evolution und des echten Zufalls zugrunde liegt. Mit dieser Diskussion steht ein anderer Aspekt des Entstehens im Vordergrund der Betrachtung: das Entstehensprinzip, d. h. das Prinzip, das den einzelnen Entstehensschritten zugrunde liegt und das erklärt, wie eine Entität aus den Voraussetzungen ihres Entstehens zustande kommt. 4. Jedem Schritt einer Entstehenssequenz liegt ein Entstehensprinzip zugrunde. Ein Entstehensschritt kann kontingent sein oder bestimmt. Das Entstehen einer Entität kann uniform sein oder nicht uniform. Bei einem uniformen Entstehen gibt es ein universelles Prinzip, das als Entstehensprinzip in gleicher Weise allen Entstehensschritten zugrunde liegt. Bei einem nicht uniformen Entstehen ist dies nicht der Fall. Der Verlust am Ende eines Tages, den ein Spieler am Rouletttisch verbracht hat, ist das Ergebnis eines Entstehens, bei dem in jedem Entstehensschritt auf uniforme Weise durch den immer gleichen Ablauf der Spiele ein, wie wir hoffen, zufälliges Spielergebnis entsteht, das den Vorrat an Jetons, über den der Spieler verfügt, vermehrt oder verringert. Dagegen ist das Entstehen eines Motors auf dem Fließband in jedem Entstehensschritt bestimmt, aber nicht uniform, weil ja in jedem Montageschritt etwas anderes getan wird. Die Beispiele zeigen, daß die Darlegung eines Entstehens, und damit auch ihr Erklärungswert, nicht nur davon abhängt, was man als die Voraussetzungen des Entstehens ansieht, sondern auch davon, was man als die Prinzipien des Entstehens betrachtet. So könnte man zum Beispiel bei der Fertigung des Motors auch an jeder Station des Fließbands das immer Gleiche erkennen, etwa den Einsatz eines Roboters. Diese Freiheit der Betrachtung ist kein Defizit der Modellbildung, sondern ein nützliches Phänomen der Anwendung konzeptueller Modelle. Über die Entstehensstruktur und die Entstehensprinzipien hinaus stellen sich bei der Erklärung einer Entität noch weitere allgemeine Fragen. Dazu gehört vor allem die Frage nach den Agenten des Entstehens: Was treibt das Entstehen voran, und in welcher Weise geschieht das? In unserer realen Welt geschieht dieses Entstehen durch die Dynamik, die aus der Bewegung und dem Leben kommt, die es auf der Erde gibt. Am Rouletttisch sind diese Agenten ein immer gleiches Agens: der fortgesetzte Antrieb des Spielers, sein Glück in einem weiteren Spiel zu versuchen, die jeweilige Wahl von Farben und Zahlen, die Handlungen, die zum Einsatz der Jetons führen, das Drehen der Scheibe und das Springen des Balls, bis nichts mehr geht. 5. Das Entstehen einer Entität wird durch Agenten bewirkt. Agenten vollziehen die Entstehensschritte. Sie können technisch, natürlich, gedacht oder aus diesen Arten kombiniert sein. Ein Entstehen ist homogen, wenn es ein Agens gibt, das alle Entstehensschritte vollzieht. Andernfalls ist es inhomogen. Das Entstehen des Spielverlustes ist in diesem Sinne homogen. Das Entstehen eines Motors auf dem Fließband ist dagegen inhomogen, weil die einzelnen Schritte des Zusammenbaus durch verschiedene Roboter durchgeführt werden, die als technische Agenten die Fertigung vollziehen.
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Agens und Agenten bewirken zwar das Entstehen einer Entität, aber sie können es nicht veranlassen. Wenn eine Entität nicht autonom entsteht, ist sie das Ergebnis einer Veranlassung. Eine Veranlassung erfolgt durch eine äußere Instanz, die in dieser Rolle nicht selbst Teil des Entstehens ist. Beim Roulettspiel erfolgt die Veranlassung durch die Spielbank, die ein Spielangebot unterbreitet, und den Spieler, der das Angebot wahrnehmen möchte. Das Roulettspiel wird in dem Moment veranlaßt, in dem der Spieler die Spielhallen betritt und dadurch die Spielregeln anerkennt und in den zwischen ihm und der Spielbank zu schließenden Dienstleistungsvertrag einwilligt. Bei der Fertigung eines Motors ist die veranlassende Instanz die Fabrik und die Veranlassung selbst die Anweisung zur Realisierung des Produktionsplans. Die Veranlassung des Entstehens unserer Welt, so sieht es Platon, ist die Tat eines Demiurgen, der das Entstehen der Welt nach dem Vorbild der Ideen veranlaßt hat. Im christlichen Glauben wird die Veranlassung des Entstehens der Welt ihrem Schöpfer zugeschrieben. Im Gegensatz zum Rost auf dem Gartenzaun ist die Welt nach dieser Auffassung nicht autonom entstanden. 6. Das Entstehen einer Entität ist das Ergebnis einer Veranlassung der Entstehensschritte. Ein Entstehensschritt ist entweder autonom oder institutionell. Ein institutioneller Entstehensschritt ist durch eine Institution veranlasst. Bei einem autonomen Entstehen ist das nicht der Fall. Die Veranlassung eines Entstehensschrittes kann intendiert sein oder nicht intendiert, und ein Entstehensschritt kann einem institutionell gegebenen Plan folgen oder ohne Plan sein. Gottes Schöpfung der Welt ist intendiert, weil sie Gottes Willen folgt. Sie ist darüber hinaus mit einem Plan verbunden, mit dem Plan Gottes. Anders als ein Gewinn, ist der Verlust des Spielers nicht intendiert. Ihm liegt auch kein Plan zugrunde. Auch einem Gewinn kann kein Plan zugrunde liegen, weil es keinen Plan gibt, der einem Spieler einen Gewinn sichert. Andererseits könnte man in einem Spielsystem natürlich einen Plan sehen, ganz gleich, ob dieses nun funktioniert oder nicht. Die Fertigung eines Motors ist dagegen intendiert und folgt einem institutionell gegebenen Plan.
3. Die Anwendung konzeptueller Modelle Konzeptuelle Modelle, wie dieses Modell des Entstehens, sind Instrumente der Modellierung4. Ihre Anwendung erzeugt Beschreibungen, die einen existierenden oder zu konstruierenden gedachten oder realen Gegenstand in systematischer Weise erfassen und darlegen. Dadurch ermöglichen sie Spezifikationen, Klassifizierungen und Vergleiche.
4 Konzeptuelle Modelle sind ein universelles Werkzeug der Informatik. Sie werden zur Entwicklung von Systemen, Anwendungen und Standards eingesetzt. Eine theoretische Reflexion ist nur implizit in Monographien zur Systementwicklung, in Sprachdefinitionen zur Modellierung und in Dokumenten internationaler Standards, wie etwa der ISO, gegeben. Ein interessanter Gegensatz besteht zur Konzeptualisierung in Rudolph Carnaps Logischem Aufbau der Welt.
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Wie hier, ist auch allgemein ein konzeptuelles Modell durch eine Spezifikation von Konzepten gegeben. Unabhängig von der Art ihres Gegebenseins, als Bild, in schriftlicher Form oder auf andere Weise, konstituieren diese Konzepte einen Zusammenhang von Begriffen und Aussagen, der es erlaubt, Entitäten, Merkmale und Sachverhalte eines zu erfassenden und darzulegenden Gegenstands zu identifizieren. Man kann in einem konzeptuellen Modell deshalb eine Logik sehen, der ein darzulegender Gegenstand durch die Anwendung des Modells unterworfen wird. Praktisch läßt sich die Anwendung eines konzeptuellen Modells als Befragung verstehen, bei der die Begriffe und Aussagen als Fragen gelesen werden und die Antworten als eine Beschreibung, durch die der zu erfassende Gegenstand dargelegt wird. Den Antworten liegt eine gedachte Zuordnung von Phänomenen des betrachteten Gegenstands zu den Konzepten des Modells zugrunde. Diese Zuordnung drückt sich in der resultierenden Beschreibung als Instanziierung aus, bei der die Begriffe und Aussagen des konzeptuellen Modells eine Spezialisierung erfahren. Mit der Darlegung eines Gegenstands ist niemals dieser Gegenstand selbst gegeben, sondern immer nur ein beschreibendes Modell, das ihn in einer Möglichkeitsform repräsentiert. In diesem Sinne sind konzeptuelle Modelle Metamodelle, die einer Darlegung Struktur und Begrifflichkeit geben. Immer ist die Darlegung eines Gegenstands auch eine Erklärung.5 Bei der Darlegung des Entstehens einer Entität wird also nicht nur diese Entität durch ihr Entstehen erklärt, sondern durch seine Darlegung auch das Entstehen selbst. Erklärt werden durch die Darlegung eines Gegenstands Existenz, Sachverhalte und Merkmale, die das Spezifische des Gegenstands ausmachen. Der Erklärungswert einer Darlegung, die durch ein konzeptuelles Modell vermittelt ist, hängt dabei nicht nur von diesem Modell ab, sondern auch von anderen Faktoren, insbesondere natürlich von der Qualität der Anwendung. Die Anwendung konzeptueller Modelle ist nicht selbstverständlich. Es gibt im allgemeinen große Freiheiten bei der Zuordnung der Phänomene des Gegenstands zu den Konzepten des Modells und damit eine weitgehende Offenheit der Darlegung. Was den Konzepten im einzelnen zugeordnet wird, ist durch das Modell nicht vorgeschrieben. Vorgaben bestehen nur durch die Spezifikation der Konzepte und durch den Sinnzusammenhang, der dadurch zwischen den Begriffen und Aussagen hergestellt ist. Eine Anwendung eines konzeptuellen Modells, die diese Vorgaben respektiert, erzeugt deshalb eine gewisse Kohärenz der Darlegung. Darüber hinaus lassen sich dem Modell aber keine weiteren Einschränkungen entnehmen. Auch die Art der Darlegung ergibt sich erst bei der Anwendung des Modells. Sie bestimmt mit der Zuordnung zu den Konzepten die Auswahl und den Charakter der Phänomene, die zugeordnet werden, und legt dadurch fest, als was der Gegenstand gesehen wird, welche Phänomene des Gegenstands bei der Darlegung unberücksichtigt Erkenntnistheoretische Erklärungsmuster lassen sich strukturell mit dem hier gegebenen Modell des Entstehens in Einklang bringen. Dies legt die Darstellung in Hans Poser: Wissenschaftstheorie – Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001, S. 42–60 nahe. 5
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bleiben und welchen Konsistenzbedingungen des Gegenstandsbereichs seine Darlegung unterliegt. So kann etwa das Entstehen unserer Welt als zufällig und autonom oder aber als bestimmt und von einer höheren Instanz veranlaßt angesehen werden. Dem entsprechend ergeben sich daraus verschiedene Konsistenzbedingungen, die bei der Darlegung zu berücksichtigen sind. Durch die Anwendung eines konzeptuellen Modells wird also eine Sicht auf den betrachteten und darzulegenden Gegenstand konstituiert. So gelten zum Beispiel für eine aufgeklärte und an den Naturwissenschaften orientierte Sicht auf die Welt nicht der Glaube, sondern die Prinzipien der Kausalität, die mathematische Beschreibung und die Erfahrbarkeit durch Beobachtung und Experiment als die grundlegenden Kriterien, an denen eine Erklärung zu messen ist. Zwischen der Sicht auf einen Gegenstand und dem Erklärungswert seiner Darlegung besteht deshalb ein untrennbarer Zusammenhang. Darlegungen, die einen großen Erklärungswert für die reale Welt beanspruchen, unterliegen daher hohen Anforderungen. Selbst dann, wenn der Gegenstand der Betrachtung, der mit den Konzepten des Modells erfaßt werden soll, gut identifiziert ist, kann die Granularität der Darlegung d. h. das Maß dessen, was in der Darlegung als atomar und selbstverständlich und was als zusammengesetzt und erklärungsbedürftig angesehen wird, weitgehend wählbar sein. Die Granularität der Darlegung ist deshalb ein Faktor, der die Qualität der Anwendung mitbestimmt, weil er Einfluß darauf hat, was mit der Darlegung erklärt werden kann. Es macht zum Beispiel einen erheblichen Unterschied, ob die Darlegung der Fertigung eines Motors auf einem Fließband auf der Ebene der Roboterbewegungen gegeben wird, oder auf der Ebene der im Roboter ablaufenden informationstechnischen Prozesse, die diese Bewegungen berechnen und steuern. Auch kann die Bewegung des Balls auf einem Rouletttisch als bestimmt angesehen werden, wenn man sie auf der Ebene der auf den Ball wirkenden Kräfte betrachtet, als zufällig jedoch, wenn man nur sein Springen im Kessel beobachtet. 4. Die Ordnung in virtuellen Welten Die Darlegung eines Entstehens, das sich in der realen Welt vollzieht, unterliegt Konsistenzbedingungen, die ihm durch die Realität des Gegenstandsbereichs auferlegt sind. Davon unabhängig sind solche Darlegungen im allgemeinen von der Weltsicht geprägt, die als maßgebende Vorannahmen in die Erklärung eingehen. Im Gegensatz zur realen Welt sind virtuelle Welten nicht vorgefunden. Sie sind Erzeugnisse und werden von Menschen geschaffen. Im Unterschied zur realen Welt sind sie das Ergebnis gedanklicher Konstruktionen in gedachten Räumen von Denkmöglichkeiten. Deshalb ist Entstehen in virtuellen Welten schwebend. Der Darlegung eines Entstehens in einer virtuellen Welt fehlt die erfahrbare Realität als Regulativ. Dadurch eröffnen virtuelle Welten aber Raum für Irreales, das heißt Raum für das Entstehen von Etwas, dem in der realen Welt nichts entspricht. Bezieht man das konzeptuelle Modell des Entstehens auf das Entstehen von Entitäten in virtuellen Welten, ergeben sich offensichtliche Entsprechungen. Dem konstruktiven Charakter virtueller Entitäten entspricht das Postulat des Modells, daß Entitäten ent-
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standen sind, und dem architekturellen Charakter gedanklicher Konstruktionen entspricht das Postulat, daß sich Entstehen in Schritten vollzieht. Dadurch behält auch im Virtuellen die Annahme ihre Gültigkeit, daß durch die Darlegung des Entstehens einer Entität eine Erklärung gegeben werden kann. Ein einfaches Beispiel kann diese Entsprechungen zeigen, die für Erklärungen im Virtuellen allgemein gelten: Fragen wir nach dem Entstehen der Zahl 5. Es ist eine sinnvolle Antwort zu sagen, daß die Zahl 5 aus der Zahl 4 durch die Addition von 1 entstanden ist. Als Entstehensvoraussetzung einer Zahl wird dabei ihre nächst kleinere Zahl angesehen und als Entstehensschritt die Addition von 1. Jede Zahl verfügt deshalb über genau eine Folge von Entstehensvoraussetzungen, die zudem endlich ist. Denn dadurch, daß die 0 als voraussetzungslos entstanden angesehen wird, kommt der Regreß der Fragen nach den Voraussetzungen des Entstehens zum Ende. So ist die Folge der Entstehensvoraussetzungen der Zahl 5 die Zahlenfolge 5,4,3,2,1,0, die nach fünf Schritten abbricht. Die ihr entsprechende endliche Entstehenssequenz ist demnach 0,1,2,3,4,5. Mit der Konstruktion des Nachfolgers, in anderen Worten mit der Nachfolgerfunktion als Konstruktor, liegt jedem Entstehensschritt das gleiche universelle Prinzip zugrunde, das jede Zahl in uniformer Weise entstehen läßt, d. h. aus der 4 entsteht die 5 in der gleichen Weise, in der aus der 2 die 3 entsteht. Die Agenten des Entstehens sind also für alle Zahlen und für alle Entstehensschritte gleich und nur gedacht. Man könnte das Agens des Entstehens deshalb als die Gedankenbewegung der Nachfolgerkonstruktion fassen. Schließlich ist das Entstehen der 5 durch die fortgesetzte Nachfolgerbildung durch den Gedanken der Konstruktion mit Hilfe von Konstruktoren veranlaßt. Es ist darüber hinaus intendiert und wegen seiner Regelhaftigkeit und der Definiertheit der Nachfolgerfunktion mit einem Plan verbunden. Die Darlegung des Entstehens der Zahl 5 ist einfach und hat einen hohen Erklärungswert. Bei den natürlichen Zahlen ist der Betrachtungszusammenhang auch sehr vertraut. Die Verhältnisse sind aber nicht immer so überschaubar. Die Erklärung virtueller Entitäten kann auch schwierig sein, wie die Geschichte der Darlegung des Entstehens von π oder √2 zeigt. Die Erklärung virtueller Entitäten kann sogar mit Zweifeln behaftet sein, wie im Fall der imaginären Einheit i, die als Lösung der Gleichung x²=−1 definiert ist. Es zeigt sich, daß Entitäten auch in virtuellen Welten erklärt werden müssen. Deshalb besteht auch für Gedankenkonstruktionen Erklärungsbedarf. Im Virtuellen kann nicht alles existieren, was denkbar ist. Zwar sind die Gedanken frei, aber im allgemeinen verlangen wir, daß sie im Hinblick auf die Existenz virtueller Entitäten den Gesetzen einer Logik unterliegen. Die größte Ordinalzahl kann es nicht geben und auch die Menge aller Mengen existiert nicht. Zu den grundlegenden Forderungen mathematischer Disziplinen gehört es deshalb, Identität und Existenz der konstruierten Entitäten zu klären. Mit der Erklärung einer Entität muß deshalb im allgemeinen nicht nur deren Konstruktion offengelegt werden, die ihre Identität bestimmt, sondern es muß auch sichergestellt werden, daß sie tatsächlich existiert. Zu diesem Zweck hat die Mathematik Techniken entwickelt, um gedankliche Konstruktionen unter den Schutz von Axiomen und Konsistenzgarantien zu stellen, und sie bietet Rahmentheorien an, wie die Mengenlehre oder die Kategorientheorie, die,
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abhängig von offengelegten Annahmen, Existenz und Identität der in ihrem Rahmen vollzogenen Konstruktionen garantieren. Die Mathematik unterstützt außerdem den Bau virtueller Welten durch Methoden der Definition und Beweisführung und stellt für die Darlegung der Konstruktionen Notationssysteme und Strukturmodelle bereit. Und schließlich pflegt und vermittelt sie in ihren Disziplinen die Erfahrungen, die erkennen lassen, was man machen kann und was nicht. Dadurch entstehen Stile der Konstruktion und Traditionen der Beurteilung. Der eventuelle Eindruck, daß es in virtuellen Welten keine Maßstäbe für Erklärungen gibt, wie sie in der realen Welt durch die Realität und die Weltsicht gesetzt sind, täuscht deshalb. Tatsächlich kann man sogar Prinzipien der Erklärung realer Entitäten auch im Virtuellen wiederfinden. Unwidersprochen ist auch im Virtuellen die Forderung, ein Entstehen ohne Anfang zu vermeiden. Grund dieser Forderung ist nicht die alte Scheu vor der aktuellen Unendlichkeit, dem horror infiniti, sondern vermutlich ein ganzes Bündel von Vorstellungen, die als nicht explizit ausgesprochene Vorannahmen zu einer Weltsicht im Virtuellen geworden sind. Zu solchen Vorannahmen gehört die Vorstellung einer Zeitlichkeit, die von der Zeitbezogenheit des Konstruierens auf die Erklärung des Konstrukts übertragen wird, ebenso, wie die Vorstellung einer gewissen Handhabbarkeit, wie sie sich zum Beispiel im Gedanken des »Zusammenfassens von Elementen zu einem Ganzen« ausdrückt, der dem Begriff der Menge zugrunde liegt. Ganz allgemein hat sich mit der Erfahrung ein Gefühl von Natürlichkeit und Einfachheit entwickelt, das vielfach zur Grundlage von Beurteilungen geworden ist. Es ist zu vermuten, daß hier die Gründe zu finden sind, die erklären, warum ein unendlicher Regreß als etwas anderes gesehen wird als ein unendlicher Progreß. Auf das Problem eines unendlichen Regresses stößt zum Beispiel die Wahrheitstheorie. Schon Sokrates erkannte im Dialog mit Theätet, daß Wissen richtige Meinung verbunden mit Wissen ist, das Wahres von Falschem zu unterscheiden vermag, einer Art höheren Wissens also. In der Erkenntnis dieser zu einem unendlichen Regreß führenden Zyklizität beendet Sokrates den Dialog mit der Feststellung einer Windgeburt.6 Alfred Tarski wandelt diesen Regreß in eine unendlich aufsteigende Hierarchie von Wahrheitsprädikaten, kann aber natürlich auch kein endliches Entstehen der Wahrheit erklären.7 Offenbar liegt dieser unendliche Regreß aber in der Wahrheit selbst, die man gerne mit logischen Mitteln und als eine einzige Wahrheit ohne Lücken definieren möchte. Zu kämpfen hatte auch die Mengenlehre, die mit dem Fundierungsaxiom den unendlichen Regreß bei der Konstruktion von Mengen verbot, der über die Elementbeziehung als Entstehensschritt entstehen kann. Die Modelle der Mengenlehre gehen aus diesem Grund von einer Klasse voraussetzungslos entstandener Individuen aus oder, den Vorsokratikern nicht unähnlich, von Urelementen. Oder sie benutzen die beweisbar existierende leere Menge zur Fundierung der anderen Mengen. Da man nicht umhin kommt, in den Elementen einer Menge deren Entstehensvoraussetzungen zu sehen, ist, Platon: Sämtliche Werke, Band V, Zürich, München 1974, S. 123. Alfred Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Wissenschaften, in: Studia Philosophica 1 (1935), S. 261–405. 6 7
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zumindest in der klassischen Mengenlehre, ohne ein Verbot ein solcher Regreß unvermeidlich. Schon Cantor forderte in seiner Definition der Wohldefiniertheit, daß für die Bestimmtheit einer Menge die Bestimmtheit ihrer Elemente Voraussetzung ist, d. h. man muß die Elemente schon haben, bevor man sie zu einer Menge zusammenfassen kann. Nun ist aber das Fundierungsaxiom von den übrigen Axiomen der Mengenlehre unabhängig, so daß es als Forderung auch entfallen könnte, ohne daß dadurch Widersprüche entstünden. Und tatsächlich kann auch die Mathematik ohne das Fundierungsaxiom aufgebaut werden.8 Es ist wohl eher das Gebot der Natürlichkeit, dem die Mengenlehre mit ihrem Festhalten am Fundierungsaxiom gerecht werden möchte. Andererseits zeigt das natürliche Vorkommen selbstanwendbarer Funktionen in der formalen Semantik von Programmen und in der semantischen Fundierung nebenläufiger Prozesse einen Bedarf an nichtwohlfundierten Mengen. Selbstanwendbare Abbildungen stehen aber im Widerspruch zum Fundierungsaxiom, so daß ihre Konstruktion in der Disziplin der klassischen Mengenlehre nicht zulässig ist. Die Informatik umgeht dieses Verbot, zum Beispiel durch eine aufwendige Colimes-Konstruktion in der Kategorie der Verbände und stetigen Funktionen, wie in Scotts reflexiven Domains, oder durch einen operationalen Funktionsbegriff im Lambda-Kalkül9. Oder sie stellt ihre eigenen Überlegungen zu einer Mengenlehre mit nichtwohlfundierten Mengen an, wie es unter anderen Peter Aczel mit seinem Antifundierungsaxiom getan hat. Damit die Darlegung des Entstehens einer virtuellen Entität als Erklärung gelten kann, sind also Grenzen zu berücksichtigen. Und wie das Beispiel des Fundierungsaxioms zeigt, garantiert auch die Konsistenz der Gedanken noch nicht, daß sie zulässig sind. Zulässigkeit einer Konstruktion betrifft deshalb für das Erklären in virtuellen Welten das, was dem Erklären des Entstehens in der realen Welt durch die Konsistenzbedingungen des Gegenstandsbereichs, durch die Vorannahmen und durch die Weltsicht auferlegt ist. Dabei bedeutet die Forderung der Zulässigkeit nicht nur, bei einer Denkkonstruktion logische Prinzipien und Konsistenzbedingungen einzuhalten, sondern auch das Gebot, bei der Darlegung des Entstehens die disziplinären Kenntnisse, Erfahrungen und Traditionen zu berücksichtigen. Andererseits stehen den Restriktionen, die sich aus solchen Traditionen und Stilen ergeben haben, Freiheiten der Erklärung gegenüber, die es für die Darstellung des Entstehens in der realen Welt nicht gibt. Erklärungen in virtuellen Welten unterliegen nicht dem Kriterium der Richtigkeit. Sie lassen oft verschiedene Darlegungen des Entstehens zu. In der Realität, in der es sehr weitgehend um die Erklärung einer Welt mit vorgegebener Gesetzlichkeit geht, können Alternativen nur Hypothesen sein, die nicht zugleich vollständig richtig sein können, niemals aber Tatsachen, deren Bedeutung in der dadurch geschaffenen Identität und Existenz liegt. Hier zeigt sich die Freiheit im Virtuellen. Der Raum der Denkkonstruktionen ist groß. Aber er ist nicht frei und er ist disziplinär beherrscht. In einem weiten Sinne verstanden, ist dieser Raum mathematisch. Denn es gibt wohl kaum virtuelle Welten, die nicht mathematisierbar wären, auch wenn sie 8 9
Siehe Thomas Jech: Set Theory, Berlin, Heidelberg 2003, S. 63–71. Hendrik Pieter Barendregt: The Lambda Calculus – Its Syntax and Semantics, Amsterdam 1984.
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noch nicht oder auch nicht mehr zum Gebiet der mathematischen Wissenschaften gehören. Wohl nicht zuletzt deshalb haben die Merkmale mathematischer Konstruktionen paradigmatische Bedeutung für Gedankenkonstruktionen schlechthin. Ein eigenes Universum virtueller Welten bilden in diesem mathematischen Raum die Maschinen.
5. Die Marginalisierung der Opposition von Maschine und Kreativität Aus Maschinen, die für die Aufstellung numerischer Tafeln Berechnungen durchführen konnten, hat sich im 20. Jahrhundert der Computer entwickelt.10 Seine Entwicklung ist nicht mehr alleine mit dem Erfülltsein technischer Voraussetzungen zu erklären und läßt sich auch nicht mehr mit dem Erwerb feinmechanischer Fertigkeiten begründen. Vielmehr ist die Entwicklung des Computers ganz wesentlich das Ergebnis einer formal mathematischen Beherrschung gedanklicher Konstruktionen im Virtuellen. Die gedanklichen Wurzeln, die zur Entwicklung des Computers geführt haben, liegen in der Grundlagenforschung der Mathematik. Alan Turing bewies 1936 die Unentscheidbarkeit der Prädikatenlogik erster Stufe unter Bezugnahme auf ein Maschinenmodell der Berechenbarkeit.11 Eine solche Argumentation war nur dadurch möglich, daß sich mit der zunehmenden Algebraisierung und Formalisierung im 19. Jahrhundert auch die Darlegung der Deduktion von Aussagen zum Gegenstand der Mathematik entwickelt hatte. Für Aussagen über Axiomensysteme und Kalküle wurden die Begriffe des Beweises und der Ableitung als Entstehenssequenzen formalisiert. Und für die mathematischen Definitionen der Berechnung und der Maschine wurden schließlich neben maschinellen Entstehensschritten auch die Programme und Ablaufpläne der maschinellen Prozesse zu mathematischen Objekten. Turing machte mit seinem Maschinenmodell der Berechenbarkeit einen radikalen und folgenreichen Schritt. Die Prinzipien seiner Papiermaschinen wurden zur Grundlage Information verarbeitender Maschinen schlechthin. Er zeigte, daß auch die Agenten und die Pläne mathematische Objekte sind, die wie Wörter oder Zahlen maschinell verarbeitet werden können – eine Erkenntnis, die wohl zu den bedeutendsten der informationstechnischen Automatisierung gehört. Dabei ist die Arbeitsweise einer Turingmaschine ganz einfach. Sie ist an realen Vorbildern der menschlichen Arbeit mit Symbolen orientiert und hat viel Ähnlichkeit mit dem Schreiben auf einer Schreibmaschine. Eine Turingmaschine rechnet, indem sie als Entstehensschritte symbolische Transformationen auf der elementarsten Ebene vollzieht. Turings mathematische Sicht auf das Maschinelle findet sich auch im Begriff der abstrakten Maschine, der seit den 60er Jahren in der allgemeinen Systemtheorie studiert wurde. Eine abstrakte Maschine ist dort als eine Funktion definiert, die Zustände in Zustände transformiert. Sieht man in einem Zustand, auf den die Maschinenfunktion angewandt wird, die Entstehensvoraussetzung des Zustands, der das Resultat der FunkHerman H. Goldstine: The Computer – from Pascal to von Neumann, Princeton 1973. Alan Turing: On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem, in: Proceedings of the London Mathematical Society 42 / 2 (1937). 10
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tionsanwendung ist, dann beschreibt der Lauf einer abstrakten Maschine, der durch das fortgesetzte Anwenden der Maschinenfunktion zustande kommt, ein Entstehen im Sinne des Modells. Die Funktion selbst kann bei dieser Interpretation als das universelle Prinzip aufgefaßt werden, das den Entstehensschritten zugrunde liegt. Das Agens der abstrakten Maschine ist gedacht und bewirkt ein homogenes Entstehen, das institutionell veranlaßt, intendiert und mit einem Plan versehen ist. Die Existenz des Plans ergibt sich dabei aus der Tatsache, daß die Maschinenfunktion als wohldefiniertes mathematisches Objekt bestimmt ist. Mit einigen einfachen mathematischen Konstruktionen läßt sich auch umgekehrt jedes maschinelle Entstehen als Lauf einer abstrakten Maschine auffassen, wenn man die Entitäten, die in den Folgen von Entstehensvoraussetzungen vorkommen, in geeigneter Weise zu Zuständen zusammenfaßt und die Entstehensprinzipien in der Definition der Maschinenfunktion reflektiert. Diese Überlegungen zeigen die grundsätzliche Möglichkeit, den Lauf einer abstrakten Maschine im Modell des Entstehens zu interpretieren, sowie umgekehrt, maschinelles Entstehen als Läufe abstrakter Maschinen zu formalisieren. Computer, die seit 1945 gebaut wurden, sind technische Realisierungen dieser metamathematischen Konzepte des Entstehens. Sie werden durch ausführbare Programme gesteuert und realisieren Berechnungen mit technischen Mitteln als Entstehenssequenzen in realen elektronisch arbeitenden Maschinen. Computer sind Maschinen, die anfangs noch ganze Räume ausfüllten oder später dann auf dem Tisch stehen, und die heute in die Bremse eines Autos eingebaut sind, in den Stoff eines Hemdes eingewebt oder in das Gehirn eines Menschen implantiert. Im Verlaufe dieser sechzig Jahre hat sich die Informations- und Kommunikationstechnik so weit entwickelt, daß die gängigen Vorstellungen vom Maschinellen ihre offensichtliche Gültigkeit verloren haben. Maschinen können heute Wirkungen erzeugen, die nicht mehr an Maschinelles denken lassen. Die enge Verflechtung technisch realisierter maschineller Informationsverarbeitung und Kommunikation mit alltäglichen Abläufen unserer Lebenswelt läßt die Grenzen zwischen natürlichen und künstlichen Vorgängen nicht mehr klar erkennen. Die funktionalen Grenzen zwischen Hardware und Software können nicht mehr gezogen werden. Maschinen sind heute klein, schnell, offen, verteilt, intelligent, mobil, autonom und gegenüber ihrer Umgebung sensitiv. Sie ergänzen oder ersetzen menschliche oder andere maschinelle Arbeit und Leistung und sind in ihrem Betriebszusammenhang oft unsichtbar. Daß Systeme eine Grenze besitzen müssen, ist seit den 90er Jahren als Forderung aus den internationalen Standards verschwunden. Die wachsende Beherrschung des Entstehens gedanklicher Konstruktionen im Virtuellen, die mit George Boole in der Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem mit David Hilbert zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, hat durch die Informatik praktische Bedeutung und massenhafte Anwendung erlangt. So kam es, um im Bild der Welten zu bleiben, zur breiten Besiedelung der Metaebenen des Virtuellen. Mit maschineller Unterstützung hat die Informatik Formen der Modellierung und der Metamodellierung entwickelt, die den Bau virtueller Welten organisierbar und effizient machen. Sie hat Werkzeuge gebaut und Systeme realisiert, die Funktionen und Leistungen erbringen, denen in der Realität nichts mehr entspricht. Sie hat die Darstellung fiktiver Räume,
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Körper und Bewegungen möglich gemacht und das Lesen von Gehirnströmen Millisekunden vor der menschlichen Reizreaktion. Oder sie hat Maschinen mit kombinatorischen Fähigkeiten gebaut, die den Menschen um ein Vielfaches übertreffen. Die Schöpfung der Lebenswelt vollzieht sich dadurch zunehmend im Virtuellen und läßt uns zu Partnern von Maschinen werden, deren maschinellen Charakter zu erkennen wir nicht mehr in der Lage sind. Immer öfter wird der Turing Test von Maschinen gewonnen. Das Maschinelle, das sich als ein klassifizierendes Merkmal des Entstehens verstehen läßt, verschwindet durch diese Entwicklung aus dem Blick. Der allgemeinen Auffassung folgend zeichnet es sich doch durch die Existenz eines universellen Prinzips aus und durch ein Entstehen, das endlich, uniform und homogen ist, und dessen Entstehensschritte bestimmt und nicht kontingent sind. Die Agenten bewirken dabei ein Entstehen, das nicht autonom ist, sondern institutionell veranlaßt und intendiert, und das einem Plan folgt. Das stimmt natürlich immer noch, aber doch in dieser Ausschließlichkeit nur auf der untersten operativen Ebene heutiger Maschinen. Um deren Leistungen und Verhalten erklären zu können, muß man die höheren Entstehensebenen betrachten, die durch die Koinzidenz oder Koordination der verteilten und autonomen Prozesse geprägt und in die hinein die Gedankenkonstruktionen kodiert sind, die den Leistungen und dem Verhalten zugrunde liegen. Die Entstehensschritte auf diesen Ebenen weisen kaum noch die Charakteristik des Maschinellen auf, sondern zeigen eher die Merkmale kreativer Prozesse. Das Kreative, folgt man der allgemeinen Auffassung, zeichnet sich durch das Fehlen eines universellen Prinzips aus. Kreatives Entstehen ist deshalb nicht uniform. Die einzelnen Entstehensschritte kreativen Entstehens sind nicht notwendig bestimmt und werden im allgemeinen durch natürliche Agenten bewirkt. In jedem Fall ist kreatives Entstehen veranlaßt und intendiert, jedoch ohne Plan. Diese Merkmale treffen weitgehend auch auf Entstehenssequenzen heutiger Maschinen zu, bei denen ein universelles Prinzip, das Bestimmtsein der Entstehensschritte und das Vorhandensein eines Plans nicht mehr erkannt werden können. Das Maschinelle charakterisiert deshalb heutige Maschinen nur noch in ihren elementarsten technischen Grundlagen auf der feinsten granularen Ebene, vermag sie aber nicht mehr in ihren Leistungen und in ihrem Verhalten zu erklären. Die direkte Beziehung, die zwischen dem Entstehen in virtuellen Welten und der technischen Ebene realer Maschinen besteht, läßt zudem erwarten, daß sich diese Differenz zwischen dem Maschinellen und den Maschinen noch vergrößern wird. Und auch das Kreative verblaßt bei genauerer Betrachtung. Es ist nicht ausschließlich menschlichen Individuen zuzuordnen. Es entfaltet sich in Gruppen leichter als am einsamen Schreibtisch und ist, wenn es lernbar ist, sofern man den Experten glauben darf, durch vermittelbare Regeln zu transportieren. Dadurch ist es dann aber auch maschinell simulierbar. Zur Charakterisierung des Kreativen wurden verschiedene Faktoren identifiziert. Die Psychologie nennt als solche Faktoren Problemsensitivität, Ideenflüssigkeit, Flexibilität und Originalität, die jeweils kaum besser denn als exemplarisch bestimmt und meßbar sind. Eine nur schwache Operationalisierung erhalten sie über ihre Negation, d. h. durch die Beseitigung ihrer Hemmnisse – Hemmnisse übrigens, denen
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das Maschinelle nicht unterliegt. Denn Maschinen mangelt es nicht an der Qualität der Instruktion, deren Aufgabe es sein sollte, zum Problemlösen anzuregen, und Maschinen leiden auch nicht unter fehlendem Zutrauen, mangelnder sozialer Anerkennung und ansteckender Langeweile. Und auch »Selbstverständlichkeit« und »Killerphrasen« wirken sich auf Maschinen nicht hemmend aus. Von einer fundamentalen Kategorie des Prozeßhaften würden wir mehr erwarten als nur schwache Verweise auf die Intension, die sie zum Ausdruck bringen soll. Die Qualifizierungen des Maschinellen und des Kreativen sind also als fundamentale Kategorien des Prozeßhaften, als die sie bis heute gesehen werden, nicht haltbar. Und so wenig es gerechtfertigt ist, im Maschinellen und im Kreativen fundamentale Kategorien zu sehen, so wenig darf man auch den Gegensatz von Maschinellem und Kreativem überschätzen. Trotz seiner Eingängigkeit trägt dieser Gegensatz nicht. In keinem Fall läßt sich aus ihm der Unterschied zwischen Maschinen und Menschen erklären und schon gar nicht der Gegensatz von Unmenschlichem und Menschlichem. In dem Maße aber, in dem die erfahrbare Gegensätzlichkeit von Maschinellem und Kreativem verschwindet, sind wir gezwungen, in anderen Kategorien zu denken. In der untauglichen Entgegensetzung von Maschinellem und Kreativem kann man daher auch die Aufforderung sehen, erneut über das Prozeßhafte und die Vielfalt seiner Erscheinungsformen nachzudenken. Dazu braucht man dann eine Logik des Entstehens.
Literatur Bacher, Jutta: Das Theatrum Machinarum – Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen, in: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion – Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 509–518. Barendregt, Hendrik Pieter: The Lambda Calculus – Its Syntax and Semantics, Amsterdam 1984. Benesch, Hellmuth: dtv Atlas Psychologie, München 1997. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Berlin 2000. Goldstine, Herman H.: The Computer – from Pascal to von Neumann, Princeton 1973. Jech, Thomas: Set Theory, Berlin, Heidelberg 2003. Platon: Sämtliche Werke, Band V, Zürich, München 1974. Poser, Hans: Wissenschaftstheorie – Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001. Tarski, Alfred: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Wissenschaften, in: Studia Philosophica 1 (1935), S. 261–405. Turing, Alan: On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem, in: Proceedings of the London Mathematical Society 42 / 2 (1937).
KOLLOQUIUM 9 ›Creatio ex nihilo‹ und ›Creatio continua‹ – Der Schöpfungsgedanke in der Philosophie des Mittelalters
Andreas Speer Einführung Johann Kreuzer Der Augenblick der Schöpfung. Zur Logik des Kreativen bei Eriugena, Eckhart und Nikolaus von Kues Theo Kobusch Die Würde des Schöpferischen. Von der Selbsterschaffung des Menschen
Einführung Andreas Speer (Köln)
Das vom Veranstalter vorgegebene Sektionsthema »Creatio ex nihilo« und »Creatio continua« scheint alle Mittelalterklischees zu bestätigen: Denn die »creatio ex nihilo« kommt allein Gott zu – daran besteht kein Zweifel, für keinen Denker, den wir jener Epoche zuordnen, die wir als Mittelalter zu bezeichnen uns angewöhnt haben. Hierbei schwingt zumeist etwas von jenem polemischen Unterton mit, der etwa bei Petrarca zu lesen ist, wenn dieser sich im Rückgriff auf eine vermeintlich ursprüngliche Antike gegen die zeitgenössische Universitätsscholastik wendet, vor allem aber gegen jene Naturphilosophen, die Aristoteles als ihren wahren Gott verehren – so können wir in seiner Invektive De sui ipsius et multorum ignorantia, »Über seine und vieler anderer Unwissenheit«, lesen1. Doch kehren wir zum systematischen Kern der hier angesprochenen Problematik des Schöpfungsgedankens im Mittelalter zurück. Gegenüber der göttlichen Schöpfermacht ist die Kreativität der Natur an die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, d. h. an ihre Ursachen gebunden, innerhalb der Veränderung, Entstehen und Vergehen gedacht werden kann, ohne daß diese Ursachenordnung verlassen oder im Sinne einer Selbstsetzung gedacht werden kann. Jedoch handelt es sich bei der »creatio ex nihilo« nicht um eine mystifizierende Interpretation eines kreativen Prozesses, der über die bloße Rekombination bestehender Regeln hinausreicht, vielmehr um die prinzipientheoretische Befragung der Bedingungen intramundaner Kreativität, der über antike Modelle hinausführt. Hier liegt einer der deutlichen und kontroversen Bruchpunkte des mittelalterlichen Aristotelismus mit dessen Ahnherrn, der nicht zuletzt in den Debatten um die Ewigkeit der Welt manifest wird2. Was für die Natur gilt, trifft mit doppelter Konsequenz für den Menschen zu, ist doch die menschliche Kreativität außer an ihre eigenen Bedingungen noch an die Gesetzmäßigkeit der Natur gebunden: Eine gläserne Säge kann der Mensch ebensowenig schaffen wie er ein Haus aus Wasser bauen kann. So zumindest sehen es mittelalterliche Denker vom Format eines Wilhelm von Conches, Robert Grosseteste oder Thomas von Aquin. Demnach erscheint der Mensch in der Naturordnung als eine schöpferische Potenz dritter Ordnung, dessen Kreativität zunächst ihren vorzüglichen Sinn in der Francesco Petrarca: De sui ipsius et multorum ignorantia, lat.-dt.: Über seine und vieler anderer Unwissenheit, übers. von Klaus Kubusch, hg. v. August Buck, Hamburg 1993, S. 50–61. 2 Siehe hierzu Roland Hissette: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes Médiévaux 22), Louvain, Paris 1977; Luca Bianchi: L’errore di Aristotele. La polemica contro l’eternità del Mondo nel XIII secolo, Florenz 1984; Über die Ewigkeit der Welt. Texte von Bonaventura, Thomas von Aquin und Boethius von Dacien, übers. von Peter Nickl, mit einer Einleitung von Rolf Schönberger, Frankfurt/M. 2000 (dort findet sich auch eine ausführliche Bibliographie). 1
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Mängelkompensation besitzt. Dieses Grundmuster menschlicher Kreativität zeichnet jedenfalls Wilhelm von Conches in der entsprechenden Passage seiner Timaios-Glosse. In seinem Kommentar zu Timaios 28 A und zum berühmten Carmen 9 aus dem dritten Buch der Consolatio philosophiae stellt er die verschiedenen Formen der Kreativität einander gegenüber. Allein das Werk des Schöpfers ist Schaffen ohne Rücksicht auf irgendwelche Entwurfsbedingungen. Vielmehr erschafft Gott kreativ die Bedingungen für das Werk der Natur, die nicht wirklich Neues schafft, sondern Gleiches aus Gleichem hervorbringt. Mit Günter Abel könnte man hier von einer radikalen Kreativität im Unterschied zu einer schwachen Kreativität sprechen. Der menschliche »artifex« ahmt in allem, was er tut, die Natur nach, bleibt also stets bezogen auf die Bedingungen der geschaffenen Wirklichkeit. Und so ist auch allein das Werk des göttlichen Schöpfers ewig und unauslöschlich, während das an sich vergängliche Werk der Natur in der Aufeinanderfolge von »generatio« und »corruptio«, von Entstehen und Vergehen einen gewissen Bestand hat. Das Werk des Menschen aber ist wie dieser selbst vergänglich, die menschliche Kreativität erscheint beschränkt3. Bedurfte es demnach nicht einer neuen Epoche und vor allem der Befreiung vom theologischen Prädispositiv, um die menschliche Kreativität wirklich frei denken zu können? Nun, zumindest Wilhelm von Conches, meinem Gewährsmann, ist ein solcher Vorwurf nicht zu machen. Seine Absicht ist die Versöhnung von Timaios-Auslegung und Genesis-Exegese, und dies nicht in theologischer, sondern in naturphilosophischer, ja naturwissenschaftlicher Perspektive, die sich vehement und bisweilen polemisch gegen die Naivität biblisch-theologischer Erklärungsmuster wendet. Dafür ist Wilhelm mit kirchlichen Autoritäten in Konflikt geraten und in der Konsequenz als Prinzenerzieher Henry Plantagenets an den normannischen Königshof gewechselt4. Wir müssen also zunächst die Intuition ernst nehmen: Die menschliche Kreativität ist gebunden an die Grenzen der menschlichen Natur und somit im Verhältnis zur radikalen Kreativität des göttlichen Schöpfers nur in einem analogen, schwachen Sinn schöpferisch. Das gilt zunächst auch für die Vernunft, mit der sich der Mensch gleichwohl über die Bedinungen der Natur zu erheben vermag. Hier, in der Vernunft, liegt somit der Ausgangspunkt für ein Überschreiten der natürlichen Grenzen. Zwar ist die menschliche Vernunft nicht Urheberin der Naturgesetze und kann diese nicht verändern. Aber die Ordnung der Vernunft muß als eine Ordnung eigener Art verstanden werden, die dem Menschen im Ganzen der Wirklichkeit eine andere Stellung gibt. Deren genaue Bestimmung unterliegt jedoch einer großen Bandbreite. Als »nexus Dei et mundi« kennzeichnet ihn Albertus Magnus im Anschluß an die hermetische Tradition5, als Horizont (»horizon«) der geistigen und körperlichen Naturen bezeichnet ihn Thomas von Aquin
3 Guillaume de Conches: Glosae super Platonem, XXXVII (In Timaeum 28 A), ed. Édouard Jeauneau, Paris 1965, S. 104–105; siehe ferner Andreas Speer: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ›scientia naturalis‹ im 12. Jahrhundert (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 45), Leiden, New York, Köln 1995, S. 201–204. 4 Hierzu Speer: Die entdeckte Natur, a. a. O, S. 130–136. 5 Albertus Magnus: Metaphysica, lib. I, tr. 1, c. 1 (Ed. Col. XVI,1), S. 2, 2–15.
Einführung
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im Ausgang vom Liber de causis, sofern er eine Mittelstellung einnimmt6, als »imago Dei«, sofern er wie Gott über Vernunft und einen freien Willen verfügt7. Doch gerade Thomas ist überaus nüchtern: Die Freiheit, von der hier die Rede ist, hat ihre Ursache zunächst in einem Mangel der Vernunft, das einzelne nicht anders als in allgemeinen Termini erfassen zu können, und in der daraus folgenden Unbestimmtheit der Vernunftordnung im Verhältnis zur Naturordnung. Die Freiheit liegt also zunächst in nichts anderem als in dem sich aus dieser Asymmetrie gegenüber einem strengen Determinismus ergebenden Handlungs- und Interpretationsspielraum. Dieser aber ist nicht unbegrenzt, denn er ist faktisch rückgebunden an die Determinanten, die eine Entsprechung von Natur- und Vernunftordnung allererst ermöglichen und diese fundieren. Das aber heißt zugleich: weder die Naturordnung noch die menschliche Vernunftordnung sind selbstursprünglich. Ihre Kreativität ist an Voraussetzungen gebunden, die es zu respektieren gilt, damit die Kreativität nicht fehlgeht. Das gilt für die Naturgesetze etwa bei der Erzeugung eines Lebewesens wie für die Gesetzmäßigkeiten des Schlußfolgerns8. Oder reicht die menschliche Kreativität doch weiter? Vermag sie die Immanenz und die Grenzen des intramundanen Standpunktes zu überschreiten, die Gebundenheit an äußere Vorstellungen und Daten, an das diskursive Durchschreiten in Raum und Zeit? Ist der menschliche Geist nicht selbst, indem er die Sprache hervorbringt, konkreativ und somit das wahre Pendant zum schöpferischen göttlichen Geist? Ein solcher ursprünglich kreativer Geist aber hat, so läßt uns beispielsweise Nicolaus Cusanus wissen, die engen Grenzen einer am Widerspruchssatz gemessenen und gebundenen Vernunft schon überschritten. Für ihn ist das Unendliche keine vage Möglichkeit, sondern der wahre Horizont jeder gedanklichen Synthesis und zugleich der eigentlich Referenzpunkt der eigenen Subjektivität9. An dieser Stelle halte ich ein. Denn hier setzen die Beiträge dieser Sektion ein, die weit genauer als mir dies in dieser einleitenden Skizze möglich war die Logik des Kreativen und die Eigentümlichkeit der kreativen Selbsterfassung analysieren. Neben einer genaueren Bestimmung des mittelalterlichen Schöpfungsdiskurses tun sich hier auch systematische Perspektiven auf, welche die Gegenwartsdebatten mit überraschenden Gesichtspunkten befruchten und vor einer scholastischen Engführung bewahren können.
6 Thomas von Aquin: In III Sent, prol.; ders.: Summa contra gentiles III, 97; vgl. Liber de causis, prop. II, 22 und prop. VIII (IX), 84. 7 Thomas von Aquin: Summa theologiae, I, qu. 93, a. 4 und I–II, prol. 8 Siehe etwa Thomas’ Argumentation in: De malo, Quaestio 6 »De electione humana«; ferner Andreas Speer: The Epistemic Circle: Thomas Aqinas on the Foundation of Knowledge, in: Gerd van Riel / Caroline Macé (Hg.): Platonic Ideas and Concept Formation in Ancient and Medieval Thought, Leuven 2004, S. 119–132. 9 Siehe Andreas Speer: Verstandesmetaphysik. Bonaventura und Nicolaus Cusanus über die (Un-) Möglichkeit des Wissens des Unendlichen, in: Martin Pickavé (Hg.): Die Logik des Transzendentalen (Miscellanea Mediaevalia 30), Berlin, New York 2003, S. 525–553, bes. S. 544–551.
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Literatur Bianchi, Luca: L’errore di Aristotele. La polemica contro l’eternità del Mondo nel XIII secolo, Florenz 1984. Hissette, Roland: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes Médiévaux 22), Louvain, Paris 1977. Petrarca, Francesco: De sui ipsius et multorum ignorantia, lat.-dt.: Über seine und vieler anderer Unwissenheit, übers. von Klaus Kubusch, hg. v. August Buck, Hamburg 1993. Speer, Andreas: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ›scientia naturalis‹ im 12. Jahrhundert (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 45), Leiden, New York, Köln 1995. Speer, Andreas: The Epistemic Circle: Thomas Aqinas on the Foundation of Knowledge, in: Gerd van Riel / Caroline Macé (Hg.): Platonic Ideas and Concept Formation in Ancient and Medieval Thought, Leuven 2004, S. 119–132. Speer, Andreas: Verstandesmetaphysik. Bonaventura und Nicolaus Cusanus über die (Un-)Möglichkeit des Wissens des Unendlichen, in: Martin Pickavé (Hg.): Die Logik des Transzendentalen (Miscellanea Mediaevalia 30), Berlin, New York 2003, S. 525– 553 Über die Ewigkeit der Welt. Texte von Bonaventura, Thomas von Aquin und Boethius von Dacien, übers. von Peter Nickl, mit einer Einleitung von Rolf Schönberger, Frankfurt / M. 2000.
Der Augenblick der Schöpfung. Zur Logik des Kreativen bei Eriugena, Eckhart und Nikolaus von Kues Johann Kreuzer (Oldenburg)
Übersicht. Bei den folgenden Überlegungen zur Logik des Kreativen bei Johannes Scottus Eriugena, Eckhart von Hochheim und Nikolaus von Kues geht es um die begrifflichen Implikationen der Rede vom Augenblick der Schöpfung und deren Erläuterung. Ihnen sind in Teil 1 einige Bemerkungen zu Platon vorangestellt. Diese Bemerkungen gelten der reflektierten Form, die Platon den ihm vorliegenden Schöpfungsmythen im Timaios gegeben hat. Hier rekonstruiert er durch eine Erzählung – »gemäß der wahrscheinlichen Rede« – ein Ordnungsgefüge, das den Kosmos zur Erscheinung einer schöpferischen Kausalität (sie wird bekanntlich Demiurg, auch Gott oder Vater genannt) werden läßt.1 Die Erzählung des Timaios interessiert dabei primär das Ordnungsgefüge, dem dieser der Bedingung der Zeit unterliegende und als geschaffen gedachte Organismus folgt. Es interessiert nicht die Substruktur des Übergangs der Erfahrung von Zeit als der Bedingung, der die gewordenen und werdenden Dinge in diesem geschaffenen Organismus unterliegt. Diese Bedingung und Realität des Werdens wird im Parmenides anhand der Bestimmung des wunderbaren Wesens des Augenblicklichen thematisiert.2 Ihr gilt die zweite Hälfte der Vorbemerkungen. Sie ist Platons Antwort auf die Frage danach, was in der Zeit wirklich und – für den Zusammenhang unserer Überlegungen – als jener Ursprung zu denken ist, den die Rede vom Augenblick der Schöpfung rekonstruieren wird. In Teil 2 wird die Fortbestimmung dieses von Platon grundgelegten Theorems, das die Welt des Veränderlichen (des Gewordenen und Werdenden) als Erscheinung einer sich in ihr zeigenden und in ihr zu begreifenden Kausalität (des Werdens) versteht, bei Eriugena, Eckhart und Cusanus diskutiert. Hegel hat formuliert – oder programmatisch beansprucht –, daß wir es in der Philosophiegeschichte, »ob sie gleich Geschichte ist, doch nicht mit Vergangenem zu tun (…) haben.«3 Eingedenk dieser Einsicht oder dieses Monitums folgen nach einer kurzen Zusammenfassung (Teil 3) in Teil 4 Hinweise, die an das Erbe der hier diskutierten Logik des Kreativen im ›Mittelalter‹ anschließen.4 Sie
Vgl. Timaios (im folgenden: Tim.) 28c, 37c, 41a. Vgl. insbes. Parmenides 156d / e. 3 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Theorie Werkausgabe Bd. 18, Frankfurt/M. 1971, S. 57. 4 Die Epochenbezeichnung ›Mittelalter‹ hat sich eingebürgert. Es ist eine mißliche Bezeichnung. Sie insinuiert, bei der Epoche des Denkens zwischen Augustinus und Nikolaus v. Kues handele es sich um eine eigentlich zu übergehende Zwischenphase. So wenig es ›das Mittelalter‹ gibt, so wenig stellt es 1 2
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Kolloquium 9 · Johann Kreuzer
werden sich zwar nicht in die Emergenzphänomene der Gegenwart – dem Residuum des Kreativitätsgedankens im Kontext naturalistischer Reduktionen –, aber doch wenigstens ins 20. Jahrhundert vorarbeiten. Dabei geht es um Ansatzpunkte, die den Begriff der Kreativität in jenem Gedanken fruchtbar werden lassen, daß (die als Schöpfung verstandene) Natur eine Geschichte hat – ›Geschichte‹ bedeutet so keine zweite Natur im Vergleich zu einer ersten, die ihr ursprünglich (als bloßes Objekt) vorausläge. Die ›zweite‹ Natur der Geschichte ist vielmehr die erste des menschlichen Geistes, sie ist der Schauplatz der Schöpfung.5 Doch nun zu den Platon geltenden Vorbemerkungen – sie betreffen gewissermaßen das logische Fundament der Rede von einer Logik des Kreativen.
1 Im Timaios ist Ausgangspunkt die These, daß dieser Kosmos geworden ist.6 Ist er geworden, dann ist er es notwendig aus einer Ursache. Mit gleicher Notwendigkeit handelt es sich bei dieser Ursache (diesem logischen Prinzip der Verursachung) um eine (d. h. einzige) und um eine ununterbrochen (kontinuierlich), unveränderlich, d. h. immerwährend und ›ewig‹ (aei) wirkende Ursache.7 Als unvergängliches Prinzip ist sie verschieden von dem, was sie bewirkt. Der sichtbare Kosmos ist ›Bild von etwas‹ (eikóna tinòs). Platon nennt diese Ursache, deren Bild die geschaffene Welt sei paradeígma. Und er folgert dreierlei: a) daß die geschaffene Welt in logischer Hinsicht der einzige Ort ist, an dem diese Ursache wirklich ist. Wie es nur eine Ursache des zeitlichen Kosmos gebe, so sei dieser Kosmos auch das einzige Bild dieser Ursache – b) die Isomorphie des (prinzipiierten) Bildes mit der Ursache, die in ihm (prinzipiierend) erscheint. Aus dieser
eine Schwundstufe selbstverschuldeter Unmündigkeit dar, die erst mit der Neuzeit überwunden sei. Das gilt gerade für die Frage der Kreativität, der die folgenden Überlegungen dienen. Zu den Grenzen und zum Sinn des Epochenbegriffs ›Mittelalter‹ vgl. Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, München 2000; Kurt Flasch: Grundlegung der mittelalterlichen Philosophie, in: ders.: Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 21–81; Alain de Libera: Denken im Mittelalter, übers. v. Andreas Knop, München 2003 (Übers. Penser au Moyen Age, Paris 1991). 5 Vgl. Johann Georg Hamann: Aesthetica.In.Nuce, mit einem Komm. hg. v. Sven A. Jørgensen, Stuttgart 1968. Die Geschichte der als Schöpfung verstandenen Natur umgreift die Geschichte des sich als Teil der Natur begreifenden Menschen. Zur Relation zwischen erster und zweiter Natur vgl. auch Marx’ klassische Definition: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen (…)« (Deutsche Ideologie, zit. nach: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 18). 6 Vgl. Tim. 28b. – Zu den Hintergründen dieser These vgl. z. B. Hans-Georg Gadamer: Platon und die vorsokratische Kosmologie, in ders.: Vom Anfang des Wissens, Stuttgart 1999. Zum Timaios insgesamt vgl. Karen Gloy: Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios, Würzburg 1986; Walter Mesch: Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt/M. 2003. 7 Vgl. Tim. 27d–31b, zur Bestimmung aei insbes. 28a.
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Isomorphie folgt schließlich c) die Erkenntnisfähigkeit des Bildes, das die gewordene Welt ist.8 Platon übersetzt diese logische Struktur in die mythische Rede vom ›Schöpfer des Geschaffenen‹ und folgert, daß man »gemäß der wahrscheinlichen Rede« sagen müsse, diese Welt sei »durch des Gottes Fürsorge als ein in Wahrheit beseeltes und mit Vernunft begabtes Lebewesen« entstanden.9 In diesem sichtbaren, zeitlich erscheinenden Kosmos sei die Weltseele zugleich als zahlhafte Struktur gegenwärtig, was ihn zum Bild jenes göttlichen Geistes werden läßt, der als seine Ursache gedacht wird. Die Seele erscheint als ›kosmische‹ Wirklichkeit und als kosmischer Garant jenes Geistprinzips, das dem unaufhörlichen vorübergehenden Werden in der Zeit Logizität verleiht. Dieses mit oder in sich identisch bleibende Prinzip zeigt sich in dem, was es prinzipiiert – dem, was von ihm verschieden ist und der Bestimmung der Verschiedenheit unterliegt. ›Verschiedenheit‹ – das ist die Erscheinungsweise des körperhaften Kosmos. Verschiedenheit heißt Veränderlichkeit und Wechsel. Die Kategorie der Verschiedenheit zeigt oder materialisiert sich in der irreversiblen Sukzession des Werdens. Und die Kategorie der Verschiedenheit erklärt die Differenz (›Verschiedenheit‹) der dieser Bedingung unaufhörlicher Sukzession unterliegenden veränderlichen Welt von dem ›zeitlosen‹ Prinzip, das als diese Veränderlichkeit bewirkend gedacht wird – und daß als dieses Prinzip wirklich ist, solange und sofern die Unaufhörlichkeit der Sukzession des Zeitlichen sich (in die Zukunft hinein) fortsetzt.10 Damit sind die Voraussetzungen der Definition formuliert, daß der »Chrónos ein nach Zahlen fortschreitendes Bild des im Einen verharrenden Ewigen« sei.11 Das primäre Interesse Platons im Timaios ist, wie erwähnt, ein Ordnungsbedürfnis und mit ihm eines an der Mathematizität des Geschaffenen. In der Konstruktion der Matrix der Welt kommt die kontingente Vielfalt (das ›Schicksal‹) der der Bedingung der Zeit unterliegenden Einzelwesen nicht vor. Gegen diese Verdrängung hatte sich Pindar gewandt.12 Von ihm übernimmt Platon die Frage, wie sich innerhalb der Bedingung der Endlichkeit jenes schöpferische Moment begreifen und bestimmen läßt, das mit der Rede vom Augenblick gemeint wird. Platon formuliert seine Antwort darauf im Parmenides mit der Bestimmung des »exaiphnes«, der Explikation des wunderbaren Wesens des ›Plötzlichen‹ (bzw. Augenblicklichen oder Augenblitzlichen).13 Die ortlose (a-topische) Natur Vgl. Tim. 29b–30b. Vgl. Tim. 30 b / c. – Übersetzung nach: Platon: Werke in acht Bänden, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 7, Darmstadt 1972, S. 39 10 Vgl. Tim. 37a. – Vgl. Günter Figal: Zeit und Identität. Systematische Überlegungen zu Aristoteles und Platon, in: Zeiterfahrung und Personalität, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt/ M. 1992, S. 34–56, insbes. S. 47 ff.; vgl. auch Anm. 15, 17, 54. 11 Tim. 37d. 12 Vgl. Michael Theunissen: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000. 13 Vgl. Anm. 16 / 17. – Die Fundierung der logischen Bestimmung, daß uns etwas ›plötzlich‹ einsichtig wird, im Vermögen des Sehens zeigt der etymologische Zusammenhang von »augenblicklich, -blitzlich und plötzlich«, vgl. Grimm’sches Wörterbuch die Art. Augenblick, Augenblitz (ND München 1984, Bd. 1, S. 802–04) und Blitzlich: »BLITZLICH, blitzschnell, (…) blicklich, plötzlich« (ebd., Bd. 2, S. 134). Sehen heißt, daß uns etwas plötzlich, d. h. augenblicklich aufleuchtet: »das auge blickt, blitzt und leuch8 9
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des Augenblicklichen: das ist Platons Antwort auf die Frage danach, was – für den Zusammenhang unserer Überlegungen – als jener Ursprung zu denken ist, den die Rede vom Augenblick der Schöpfung rekonstruiert.14 Diese Antwort ist eingesponnen in die Diskussion der »Hypothesen«, die er Parmenides (im gleichnamigen Dialog) vorführen läßt, und die die Kunst der Dialektik und mit ihr das Wesen wie Sinn und Zweck der Philosophie demonstrieren sollen. Es kann im Rahmen dieser Überlegungen nur auf den Punkt eingegangen werden, der schöpfungsoder zeitlogisch interessiert, das ist die Frage, wie das, was als Ursprung des zeitlich Verschiedenen – d. h. als schöpferisch – zu denken ist, von diesem zeitlich Verschiedenen (dem als geschaffen Gedachten) selbst verschieden und ihm zugleich immanent ist. Dieses ›Eine‹ ist nichts Zeitliches. Wäre aber das, was mit dem Einen gedacht wird, nur die Negation alles Zeitlichen, dann hätte dies Eine einen Gegensatz, so daß es nicht ›das Eine‹ wäre, das mit ihm gedacht werden soll. Aus diesem Grund kann dabei, daß das Eine als Negation der Zeit gedacht wird – als Zeitlosigkeit im Gegensatz zur Zeit – nicht stehengeblieben werden; es muß, anders gesagt, die Negation, die das Eine von der Zeit trennt, selbst negiert werden. Zu diesem Zweck geht Platon (in der zweiten Argumentationsreihe) von der Negation aus.15 Die Negation also lautet: daß das Eine nicht in der Zeit ist. Wenn es aber ist – und wir haben Grund zur Annahme, daß es ist: denn im Hinblick worauf bezeichnen wir das zeitlich Verschiedene als Verschiedenes: was ist (als) das Sich-gleich-Bleibende im Unterschied zum Vorübergehen des Veränderlichen in der Zeit? –, dann muß auch ihm eine zeitliche Qualität zukommen. Diese zeitliche Qualität kann a) nicht wie Zeitliches in der Zeit gedacht werden – denn in dieser Form unterläge es der Bestimmung der Aufeinanderfolge. Sie muß b) als zu aller Zeit wirklich gedacht werden können. Denn wäre das Eine nicht zu aller Zeit wirklich, würde es auf eine Zeitstelle beschränkt werden (wäre also gedacht als bzw. wie Zeitliches: das soll es aber gerade nicht sein usw.), also muß es sowohl als gewesen / vergangen als auch als gegenwärtig / gegenwärtig als auch als sein werdend / zukünftig gedacht werden können. Wie geht das: daß das Eins / e zu aller Zeit und nicht wie Zeitliches wirklich ist? Die Antwort darauf lautet, daß es jeweils im Übergang wirklich ist: In dem, was selbst keine Realität hat, ist der schöpferische oder wirkliche Grund aller Realität nicht nur zu suchen, sondern zu finden. Das »Augenblickliche (Το εξαíφνης) (…) und seine wunderbare Natur (he exaíphnes aute phýsis atopós) (…) scheinen dergleichen zu bezeichnen (…)«, daß es zeitlich Verschiedenes trennt und verbindet zugleich.16 Die wunderbare Natur
tet« (Art. Blick, ebd., S. 114). Noch (oder gerade) Wittgenstein ist auf diesen Sinn der Bestimmung des Augenblicks zurückgekommen. Der Augenblick bzw. Augenblitz des Sehens ist ein Akt der Korrelation, in dem »das Auge blickt, blitzt und leuchtet.« (Vgl. Zettel, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Frankfurt/M. 1984, Bd. 8, S. 222) 14 Zum Ganzen vgl. Johann Kreuzer: Von der erlebten zur gezählten Zeit, in: ders. / Georg Mohr (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2006. 15 »Also kann auch wohl das Eins überhaupt nicht in der Zeit sein (oudè en chróno einai tò hén)« – »Also hat es auch keine Zeit an sich und ist in keiner Zeit (oud’ éstin én tini chróno)«. Vgl. Platon: Parmenides 141a, 141d, Übers. aus: Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 5, Darmstadt 1983, S. 242–245. 16 »Das Augenblickliche und seine wunderbare Natur (…) liegt zwischen der Bewegung und der
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des Augenblicks ist zugleich ein Datum, das uns unter der Bedingung der chronologischen Zeit erfahren läßt, was wir als zeitloses Verursachungsprinzip denken. Dieses Erfahrungsdatum hat Auswirkungen für das Verständnis einer als geschaffen – als endliches Bild eines nicht-endlichen Prinzips – gedachten Natur. Denn wenn die Zeit des Chronos ein nach Zahlen fortschreitendes Bild des im Einen verharrenden Ewigen ist – so die Definition im Timaios, die über Boethius für die ganze Folgezeit wirkmächtig geworden und geblieben ist17 –, dann ist sie die Erscheinung bzw. die daseiende Wirklichkeit jenes schöpferischen Augenblicks, dessen wunderbare Natur von allem zeitlich Erscheinenden verschieden, aber gerade deshalb dem Prozeß zeitlichen Erscheinens immanent ist. Damit ist das begriffliche Instrumentarium formuliert, das sich bei Platon zur Klärung der Frage findet, wie ein Ursprungsprinzip in dem von ihm Prinzipiierten erscheint, wie es diesem Prinzipiierten (dem Gewordenen) also immanent ist und zugleich von ihm verschieden bleibt. Es zeigt sich, daß dieses Ursprungsprinzip gerade auf Grund seiner Transzendenz dem von ihm als verursacht Gedachten ›innewohnend‹ ist.18 Das wird für die christliche Adaptation des platonisch-neuplatonischen Prinzipientheorems leitend. Vom Fundament der Logik des Kreativen bei Platon zu Johannes Scottus Eriugena braucht es einen Sprung über 1100 Jahre – und vieles fällt dabei aus, etwa die Differenzen zwischen Plotin und Augustinus oder die Adaptation von Proklos im Corpus Areopagiticum.19
Ruhe, nirgends / niemals in der Zeit seiend (metaxý tes kinéseos te kai stáseos, en chróno oudenì ousa), und in ihm und aus ihm geht das Bewegte über zur Ruhe und das Ruhende zur Bewegung. (…) Auch das Eins also, wenn es ruht und auch sich bewegt, muß aus diesem zum anderen übergehen; denn nur so kann es beides tun. Geht es aber über, so geht es im Augenblick über (metabállon d’exaíphnes metabállei), so daß, indem es übergeht, es in gar keiner Zeit ist (en oudenì chróno an eie) (…)« (Parmenides 156d, ebd., S. 288; Übers. vgl. ebd., S. 289). – Zum »εξαíφνης« vgl. bei Platon auch die Parallelstellen Kratylos 396d; Symposion 210e, 212c; Politeia 515c, 516c; 7. Brief 341c. – Zur Tradierung vgl. insbes. Plotin Enn. IV.6.3,37; V.3.17,26–34; V.5.7,34; VI.7 (pass.); VI.9.4,18; 8,43; 9,13; vgl. Werner Beierwaltes: Εξαíφνης oder: Die Paradoxie des Augenblicks, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966 / 67). Bei Augustinus wird es vom Augenblick des Gegenwärtigen heißen, daß er »raptim a futuro in praeteritum transvolat« (Confessiones XI.15.20, hg. v. Lucas Verheijen, 2. Aufl., Turnhout 1990, S. 204), vgl. dazu Johann Kreuzer: Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995, S. 184 ff. 17 Vgl. Platon: Tim. 37d; Boethius: Philosophiae consolatio III.c.9. 18 Vgl. Hegels Zusammenfassung, daß das »Wahrhafte in dem, was Platonische Philosophie heißt«, in der Einsicht besteht, »(…) daß das Eine in dem Anderen, in den Vielen, Unterschiedenen identisch mit sich ist.« (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Theorie Werkausgabe Bd. 19, Frankfurt/M. 1971, S. 76. 19 Zu Plotin vgl. insbes. Enneade III.7, Über Ewigkeit und Zeit, übers., eingel. und komm. v. Werner Beierwaltes, Frankfurt/M. 1967; zu Augustinus vgl. Johann Kreuzer: Pulchritudo, a. a. O.; zu Dionysius Ps.-Areopagita vgl. Endre v. Ivánka: Pseudo-Dionysius Areopagita, in ders.: Plato Christianus, 2. Aufl., Einsiedeln 1990, S. 225–289; Stephen Gersh: From Iamblichus to Eriugena. An Investigation to the Prehistory and Evolution of the Pseudo-Dionysian Teadition, Leiden 1978, und zum Hintergrund bei Proklos: Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1979.
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2 Von Johannes Scottus Eriugena zu Nikolaus von Kues 2.1 Periphyseon stellt mit seinen fünf Büchern über die ›Einteilung der Natur‹ die systematische Formulierung des Gedankens dar, daß die Transzendenz desjenigen, was als schöpferische und ungeschaffene Natur Gottes gedacht wird, zusammengehört mit der Immanenz jenes ›Teils‹ (bzw. Aspekts) der ›geschaffenen Natur‹, der für die in ihrer Endlichkeit zu erfahrende Welt steht.20 Entfaltet wird ein Schöpfungskonzept, in dem Natur als prozeßhafte Erscheinung eines schöpferischen Prinzips verstanden wird.21 Der zentrale Gedanke lautet: »Und während er in allem wird, hört er nicht auf, über allem zu sein.«22 Gott als das Eine bleibt von dem, was ›etwas‹ wird, prinzipiell verschieden – sonst wäre es nicht Prinzip dieses Werdens.23 Aber: Wäre dasjenige, was als Eines schöpferisch ist, von diesem Werden nur unterschieden, unterläge es der Bestimmung Verschiedenheit – also der Bestimmung, von der es sich als Einheit gerade unterscheiden soll. Was als Eines gedacht wird, muß vielmehr als Teil des Prozeßganzen Natur verstanden werden. Aus diesem Grund lautet die Antwort auf die rhetorische Frage in Buch I, in dem es um jenen ›Teil der Natur‹ geht, der mit der Rede von einem kreativen Ursprung reflektiert wird: »Gott war also nicht, ehe er alles schuf? – Er war nicht.«24 Denn, so Eriugena in Buch III, das sich um
20 Eriugena schließt hier zum einen nicht zuletzt terminologisch an Augustinus an – vgl. etwa De trinitate: »est igitur natura non facta quae fecit omnes ceteras (…) naturas (…). illa autem ceteris natura praestantior deus est« (Augustinus: De trinitate XIV.12.16, hg. v. Johann Kreuzer, Hamburg 2001, S. 218); »supra hanc ergo naturam (…) deus est, natura scilicet non creata, sed creatrix.« (De trinitate XV.1.1, ebd., S. 248); diese »natura creatrix« ist zu denken ist als das, was »facit et ipse non fit« (vgl. De trin. V.8.9, ebd., S. 382; De civitate dei 5.9, hg. v. Bernhard Dombart u. Alphons Kalb, Turnhout 1955, S. 139). Zum anderen faltet Eriugena das bei Dionysius Pseudo-Areopagita formulierte Denkmotiv, daß das göttlich Eine als die ›aus allem zu erkennende Wirkursache von allem‹ zu begreifen ist (vgl. De divinis nominibus VII.3, hg. v. Beate Regina Suchla, Berlin 1990, S. 198 (PG 3, 872 B)), aus. 21 Vgl. Iohannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon I–V, hg. v. Edouard A. Jeauneau (CCCM 161– 165), Turnhout 1996 / 1997 / 1999 / 2000 / 2003 (zitiert als: P, jeweils mit römischer Band-, MPL-Kolonnen- sowie arabischer Seitenzahl in CCCM). – Zu Eriugena vgl. Werner Beierwaltes: Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt/M. 1994; Johann Kreuzer: Natur als Selbstwerdung Gottes, in: ders.: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, a. a. O., S. 55–81. 22 »(Deus) in theophaniis suis aperitur, (…) et dum in omnibus fit super omnia esse non desinit« (P III, 683B, a. a. O., S. 91). Vgl. Dionysius Pseudo-Areopagita: De divinis nominibus I.6, a. a. O., S. 119 (596 C); VII.3, ebd., S. 198 (872 A). 23 Vgl.: »aliud sit ipsa (divina natura) quia superessentialis est et aliud quod in se creat« (P III, 675C / D, a. a. O., S. 81). – Vgl. auch: »Et dum sic pulchre multiplicatur et in omnia procedit, manet in seipso (…) sensus omnes omnesque superat intellectus« (Expositiones In Ierarchiam Coelestem I, 356, hg. v. J. Barbet, Turnhout 1975 (=CCCM 31), S. 10); »super omne quod dicitur et intelligitur, exaltata est (deitas)« (II, 512 / 13, ebd., S. 33); »Superessentialitas illius omnem superat intellectum.« (VIII, 558 / 59, ebd., S. 133) 24 »Deus ergo non erat prius quam omnia faceret? – Non erat.« (P I, 517C, a. a. O., S. 104) – Die Konsequenz dieses »non erat« ist bei Augustinus nahegelegt, der in De civitate dei zunächst fragt: »Wieso immer Schöpfer, wieso immer Herr war, wenn es nicht immer dienende Kreatur gab (quo modo
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die den Bedingungen von Raum und Zeit unterliegende kreatürliche Welt dreht: »Mit dem Namen Natur pflegt nämlich nicht bloß die geschaffene Gesamtheit, sondern auch deren Schöpferin bezeichnet zu werden.«25 Ausgehend von der Einsicht, daß sich die Transzendenz des Ursprungs – des prinzipiell Kreativen – in der Immanenz des Kreatürlichen zeigt, ist dann zu fragen, wie zu denken ist, daß »(…) Ewiges und Gewordenes nicht verschieden, sondern ein- und dasselbe sind, zugleich ewig und geworden.«26 Eriugena fragt damit nicht danach, wie Ewiges zu Geschaffenem wird. Er fragt nach der Ewigkeit als dem schöpferischen Grund des in der Zeit Erscheinenden, der sich in ihr als dessen Ursprung zeigt, so daß das All der geschaffenen Dinge, die universitas rerum, in seinem Werden »zugleich ewig und geworden« heißen kann.27 Wie ist das ›Eine‹ als Unendliches im Endlichen zu denken, ohne aufzuhören, als Unendliches von der Vielfalt des Endlichen unterschieden zu sein? Die Antwort darauf beruht auf einer Begriffsanalyse. Eriugena nennt diese Antwort sein »maximum argumentum« und faßt es folgendermaßen zusammen: »Ist nun die Kreatur aus Gott, so ist Gott die Ursache, die Kreatur aber die Wirkung. Ist jedoch Wirkung nichts anderes als gewordene Ursache, so folgt daraus, daß Gott als Ursache in seinen Wirkungen wird. Denn nichts geht aus der Ursache in ihre Wirkungen hervor, was ihrer Natur (der der Ursache, JK) fremd ist.«28 Daraus ergibt sich für die als Schöpfung unter der Bedingung von Zeit gedachte Natur ein »duplex intellectus de creatura«. Im einen »betrachtet man ihre Ewigkeit in der göttlichen Erkenntnis, in der alles wahrhaft und wesentlich bleibt. Im anderen betrachtet man ihre zeitliche Gründung gleichsam nachfolgend in ihr selber«.29 Dem, was als Ursache des Veränderlichen gedacht wird, ist Zeitlosigkeit zu attributieren – es hat keine Zeitstelle in der Sukzession des Zeitlichen. Zugleich kann ohne das, was zwischen zwei Zeitstellen plötzlich oder augenblicklich umschlägt – so Platon und Augustinus –, kein Fortgang in der Zeit gedacht werden.30 Es ist dieser Augenblick des Gegenwärtigen, den wir als schöpferisches Prinzip erinnern. »Alles ist nämlich im Augenblick des Auges gemacht.
semper creator, semper dominus, si creatura serviens non semper fuit (…)?«, um dann zu bekennen, daß es seine Kräfte übersteige, diese Konsequenz zu ziehen (vgl. De civitate dei 12.16, a. a. O., S. 372). 25 »Eo nanque nomine quod est natura non solum creata universitas verum etiam ipsius creatrix solet significari.« (J. S. Eriugena, P III, 621A, a. a. O., S. 5) 26 »(…) omnia in deo verbo et aeterna simul et facta sunt (…) et non alia esse quae aeterna sunt et alia quae facta; sed eadem sunt simul et aeterna et facta.« (P III, 641C / D, ebd., S. 35) 27 »(O)mne quod est in uniuersitate rerum conditarum (…) in uerbo dei et semel et simul aeternum et factum esse (…) ut quaeratur non quomodo sunt aeterna et facta sed qua ratione dicuntur et facta et aeterna« (P III, 670C / D, ebd., S. 74). – Zum »simul et semel« der »im Wort« (d. h. ihrer äußeren Erscheinung) schöpferisch gedachten Ewigkeit vgl. Augustinus: Confessiones XI.7.9. 28 »Est etiam maximum (…) argumentum: (…) At si creatura ex deo, erit deus causa, creatura autem effectus. Si autem nil aliud est effectus nisi causa facta, sequitur deum causam in effectibus suis fieri. Non enim ex causa in effectus suos procedit quod a sua natura alienum sit.« (P III, 687B / C, a. a. O., S. 97) 29 »Duplex (…) de creatura dabitur intellectus: Vnus quidem considerat aeternitatem ipsius in diuina cognitione in qua omnia uere et substantialiter permanent, alter temporalem conditionem ipsius ueluti postmodum in se ipsa.« (P III, 677A, ebd., S. 83) 30 Vgl. Anm. 16.
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Denn auch das, was im Laufe der Zeiten zeitlich verschiedene Zeugung erfuhr und erfährt und noch erfahren wird, ist zugleich und auf einmal in ihm selber gemacht, in dem sowohl Vergangenes als auch Gegenwärtiges und Zukünftiges zugleich und auf einmal und Eins sind.«31 Die Natur des Augenblicks ist die Einheit von Ewigkeit und Zeit. Wenn es heißt, daß alles »im Augenblick des Auges (in momento oculi)« gemacht ist, so bedeutet das nicht, daß dies ›alles‹ schon geworden ist. Das ist wichtig nicht allein im Hinblick auf das Theorem der »creatio continua«, das Eriugena hier mit aller Entschiedenheit formuliert. Die Augenblicke der Ewigkeit gehen dem »cursus temporum« nicht in zeitloser Abgeschlossenheit voraus. Sie zeigen sich in der Unaufhörlichkeit zeitlichen Erscheinens (des Erschienenseins, Erscheinens und Erscheinenwerdens von Zeitlichem): jeweils jetzt in der Sukzession von Zeit mit allem zugleich. Im Augenblick – ›in dem alles gemacht ist‹ – wird Zeit auf ihren schöpferischen Ursprung hin durchsichtig. Es ist die Natur der Zeit, anhaltendes Vorübergehen oder erscheinende Ewigkeit zu sein.32 Auf Grund dieser Zusammengehörigkeit von Ewigkeit und Zeit ist erscheinende Natur »der allgemeine Name für das, was ist und nicht ist«. Als Ursprung von Zeit gehört der Augenblick der Ewigkeit nicht in die Reihe der endlich erscheinenden Wirkungen – weder als ein gegenständlich bestimmbares Etwas noch als ein Unendliches, das sich aus Endlichem an einem ›Ende der Zeit‹ konstituiert haben würde. So wäre das Unendliche nur als Ende, nur als ›finis‹ des Endlichen vorgestellt und bliebe als Negation des Endlichen selbst endlich und abstrakt bestimmt. Was als Unendliches gedacht wird, erscheint aber als die anhaltende Negation dieser Negation: als principium, finis und medium des endlich Erscheinenden.33 Natur ist deshalb »gleichzeitig als ewig und geworden« zu denken.34 Geworden ist sie in den Wirkungen, die wir als der Dimension und Bedingung der Zeit unterliegend ordnen. ›Ewig‹ ist die zeitlose Zeitlichkeit des Augenblicks, der sich im Vorübergehen des Zeitlichen schöpferisch zeigt und als Ursprung der in der Zeit erscheinenden Wirkungen begreifbar wird. Wir können – und das ließe sich als ›transzendentales‹ Moment in Eriugenas Denkart bezeichnen – die universale Natur, und hier insbesondere jene kreative Kausalität, als deren Wirkung wir sie denken, nur so erkennen, wie sie uns erscheint, wir können sie nicht so erkennen, wie sie außerhalb unseres oder wie sie ohne unser Erkennen ist. Denn das hieße, sie als Ursache ohne Wirkung, das heißt nicht als schöpferische Ursache zu denken. Dem gegenüber gilt, daß »Gott der Macher von allem und in allem geworden »Omnia enim in momento oculi facta sunt. Nam et ea quae per cursus temporum distincta generationem acceperunt et accipiunt et acceptura sunt simul et semel in ipso facta sunt in quo et praeterita et praesentia et futura simul et semel et unum sunt.« (P III, 699E / D, a. a. O., S. 116) 32 Zu diesem Zusammenhang zwischen dem Begriff kreativer Ewigkeit als »implicatio« (der Zeiten) und der Sukzession des kreatürlich Zeitlichen als ihrer »explicatio« vgl. zusammenfassend Nikolaus v. Kues: De visione dei X, XI, in: Philos.-Theol. Schriften, hg. v. Leo Gabriel, übers. v. Dietlind u. Wilhelm Dupré, 2. Aufl., Wien 1982, Bd. III, S. 136–140. 33 »(Causa divisionis totius uniuersitatis, JK) (…) omnis uniuersitatis principium est et medium et finis (…) horum omnium principium causale et medium implens et finis consummans (…)« (P III, 621D / 622A, a. a. O., S. 6 / 7). 34 Zu »(…) non alia esse quae aeterna sunt et alia quae facta sed eadem sunt simul et aeterna et facta (…)« vgl. Anm. 26. 31
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ist: Und während er über allem gesucht wird, wird er in keiner Wesenheit gefunden. Das Sein nämlich ist noch nicht. Wenn er aber in allen Dingen eingesehen wird, besteht in diesen nur er selbst.«35 Gerade wegen ihrer Immanenz ist die schöpferisch gedachte Ewigkeit jedem bestimmten Erscheinen transzendent. Aber ihre Transzendenz bedingt keine Negation des Endlichen, sondern ist dessen inneres Prinzip. Aus diesem Grund kommt es darauf an, »Gott in diesen sichtbaren Kreaturen zu erkennen«.36 Das Sein, das ›noch nicht ist‹, in der empirischen Gegebenheit der Kreatur zu erkennen, erfordert so etwas wie eine Ontologie des Noch-Nicht-Seins – darauf wird noch zurückzukommen sein. Natur ist zu denken als Wirkung von etwas, das gerade deshalb dem Werden von Natur immanent ist, weil es als der Grund des Werdens – als das »überall Ursächliche«37 – alles Gewordene transzendiert, weil es »in allem alles wird, während es in sich selber (…) als von allem Abgesondertes besteht«.38 Es ist ein- und dieselbe Natur, die zum einen als Transzendenz Gottes und zum anderen in der Immanenz erscheinender Natur betrachtet wird. Als Prozeß des Erscheinens verstanden bedeutet Natur die Zusammengehörigkeit von Immanenz und Transzendenz. Was als schöpferisches Prinzip gedacht wird, braucht nicht noch hinter den Erscheinungen, die die Gegenstände unserer Erfahrung sind, gesucht zu werden. »Dieser Stein oder dieser Holzklotz ist mir Licht«, hält Eriugena deshalb, Röm. 1.20 erläuternd, fest.39
2.2 Was wir mit der Rede von einer Ewigkeit als kreatives Prinzip denken, erscheint im Vorübergehen des Zeitlichen. Es ist in Relation zum Vorübergehen des Endlichen (als) dessen Ursprung (zu denken). Worüber sprechen wir, wenn wir über dieses kreative Prinzip sprechen?40 In der Antwort darauf knüpft Eckhart von Hochheim an Eriugenas ›Augenblickstheorem‹ an und spitzt es zu.
»(…) deum omnium factorem esse et in omnibus factum. Et dum super omnia quaeritur, in nulla essentia invenitur. Nondum enim est esse. Dum vero in omnibus intelligitur nil in eis nisi solus ipse subsistit« (P III, 683 A, a. a. O., S. 91). – Daß das, was »esse« heißt, noch nicht ist, hat zum ersten Mal Boethius in die kategoriale Bestimmung des schöpferisch gedachten Seins aufgenommen; vgl. De hebdomadibus: »Diversum est esse et id quod est; ipsum enim esse nondum est« (Tractatus III, 28 / 29, zit. nach: A. M. S. Boethius: Die Theologischen Traktate, hg. v. Michael Elsässer, Hamburg 1988, S. 36). 36 »(…) deum in his uisibilibus creaturis cognoscere (…)« (P III, 689 D, a. a. O., S. 100 / 101). 37 Als das »ubique existentium causale«, vgl. P III, 682 D, a. a. O., S. 91. 38 »(…) et fit in omnibus omnia (verbum patris, JK) (…) et (…) ab omnibus segregatum subsistit« (P III, 643 B, ebd., S. 37). – Vgl. Dionysius Ps.-Areopagita: De divinis nominibus XIII.1–2, a. a. O., S. 226–228 (977B–980A). 39 »(…) lapis iste vel hoc lignum mihi lumen est« (Expositiones in ierarchiam coelestem I.1, a. a. O., S. 4). Vgl. Anm. 66. 40 »(…) got (…) ist ein ursprunc aller dinge.« (Pr. 25, zit. nach: Meister Eckhart: Werke I / II, hg. v. Niklaus Largier, Frankfurt/M. 1993 (im folgenden wird der Einfachheit halber meist nach dieser Ausgabe = L zitiert), I, 274) 35
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Die Rede vom Ursprung reflektiert das Vorübergehen des Endlichen als Erscheinungsweise jener Kausalität, die als Ewigkeit erinnert ist. Mit der Rede vom Ursprung wird die kontinuierliche Wiederkehr des Hervorgehens endlicher creatura, d. h. ein immer von neuem wiederkehrender Akt des ›Entspringens‹ bezeichnet. Ursprünglich ist das »Jetzt der Ewigkeit Gottes«, das jeweils »heute« ist. Von ihm hatte es schon bei Augustinus geheißen, daß »deine Jahre dein heutiger Tag (sind). Und wie viele unserer und unserer Väter Tage sind schon durch dein Heute vorübergegangen (…) und es werden noch andere (durch dein Heute) vorübergehen (…). Du aber bleibst derselbe selbst, und alles Morgige und das danach und alles Gestrige und das vorher: heute wirst du es tun, heute hast du es getan.«41 Das »Heute der Ewigkeit Gottes« ist der immer von neuem wiederkehrende Ursprung sich veränderlich denkender Kreatur. Das ist die ›christliche‹ Substanz des Gedankens der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹. Eckhart im Kommentar von Gen. 1,1: »Er hat also so geschaffen, daß er gleichwohl immer schafft. Denn was im Anfang ist und wessen Ende Anfang ist, entsteht immer, wird immer geboren und ist immer geboren. Daher sagt Augustin im 1. Buch der Bekenntnisse: ›alles, was von gestern oder noch früher her ist, das wirst du heute machen, hast du heute gemacht‹.«42 Was wir als Ursprung denken, ist ein sich in der Zeit wiederholender Akt. Ihn gilt es, im Vorübergehen des Endlichen in der Zeit zu erkennen und zu ›finden‹. Dies Finden ist ein »Wiederkehren« in den Ursprung. Von ihm sagt Eckhart einmal betont, daß »in diesem Augenblick alle verlorene Zeit wiedergebracht wird.«43 Durch seine Zeitlosigkeit unterscheidet sich dieser Ursprung vom Vorübergehen des Zeitlichen. Er unterscheidet sich aber dadurch, daß als zeitfrei in der Zeit erscheinend jener Augenblick gedacht werden muß, aus dem alles ursprünglich so hervorgeht wie es hervorgegangen sein muß. Die Augenblicke, in denen die verlorene Zeit wiedergebracht wird, bedeuten die Erinnerung eines Ursprungs, den wir als Grund des Zeitlichen denken, im äußeren Erscheinen des Zeitlichen selbst. Er ist »mit allem zugleich«.44 Es ist »(…) anni tui hodiernus dies: et quam multi iam dies nostri et patrum nostrorum per hodiernum tuum transierunt (…) et transibunt adhuc alii et accipient et utcumque existent. Tu autem idem ipse es et omnia crastina atque ultra omniaque hesterna et retro hodie facies, hodie fecisti.« (Confessiones I.6.10, a. a. O., S. 5) Zur Erläuterung vgl. Johann Kreuzer: Pulchritudo, a. a. O., S. 157–170. 42 »Sic ergo creavit, ut nihilomninus semper creet. Quod enim est in principio et cuius finis principium, semper oritur, semper nascitur, semper natum est. Unde Augustinus I Confessionum: »omnia quae hesterna sunt et retro, hodie facies, hodie fecisti«.« (Prologus gen. in op. tripart., L, II, S. 480) Und kurz darauf erneut: »Igitur omne quod creavit praeteritum, creat ut praesens in principio; quod creat sive agit nunc ut in principio, simul creavit in praeterito perfecto. Augustinus: »omnia quae retro sunt, hodie facies, hodie fecisti«.« (Ebd., S. 482) 43 »Aber ich spriche: swenne sich dirre wille kêret (…) wider in sînen êrsten ursprunc, dâ stât der wille (…) vrî, und in disem ougenblicke wirt alliu verlorne zît widerbrâht.« (Pr. 5 B, L, I, S. 72) Eckhart verbindet hier das neuplatonisch-proklische Theorem der epistrophé – im erkennenden Rückbezug kehrt der Geist aus den Formen der Entzweiung in das ursprünglich Eine zurück – qua »Wille« mit Augustinus’ Explikation der trinitarischen Natur des Geistes (memoria-intellegentia-voluntas, vgl. De trinitate X.11.17–12.19) und lädt es dadurch zugleich mit lebensgeschichtlicher Dynamik auf. 44 »Got ist in allen dingen. Ie mê er ist in den dingen, ie mê er ist ûz den dingen: ie mê inne, ie me ûze, und ie mê ûze, ie mê inne. Ich hân ez etwenne mê gesprochen, daz got alle dise werlt schepfet nû alzemâle.« (Pr. 30, L, I, S. 338) 41
Der Augenblick der Schöpfung
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der Begriff schöpferisch gedachter Ewigkeit, der dabei erinnert wird. Von ihm sagt Eckhart, daß »Gott die Welt jetzt erschafft (…). Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun, und die Zeit, die da vergangen ist vor tausend Jahren, die ist Gott jetzt ebenso gegenwärtig und ebenso nahe wie die Zeit, die jetzt ist.«45 Das ›gegenwärtige Nun‹ – seine Erinnerung ist der Augenblick des Göttlichen – setzt das Vorübergehen des Zeitlichen voraus. Die ihm gemäße Verbform ist nicht das ›Sein‹ punktualisierter Gegenwarten, sondern das »erat« – die Synthesis der Erfahrung qua Erinnerung, die das Vorübergehen von Zeit in sich enthält. Eckhart erläutert das in einer Predigt, die er mit dem Referat der konventionellen Entgegensetzung zwischen Ewigkeit und Zeit begonnen hatte.46 Wo schließen sich das protentionale ›kommend‹ und das retentionale ›gekommen-ist‹ in eins? Die Antwort lautet: im »Nun des Gegenwärtigen«.47 Dieses Nun des Gegenwärtigen ist das, was gewesen sein muß, soll das, was in der Zeit ›ist‹, keine bloße Einbildung sein, sondern in seiner Realität gedacht werden können. Das Gegenwärtige ist nur, indem es erinnert wird. Das schließt die – nicht von der Seele produzierte (kreatürlich-objektive) – Realität dieses Gegenwärtigen (als des jeweils Zukünftiggewesenen) nicht aus, sondern setzt sie voraus. Von daher dürfte sich auch der Sinn des exponierten Satzes in Eckharts erster Pariser Quaestio erklären, daß die Zeit, obwohl sie »ihr Sein von der Seele« habe, »nichtsdestoweniger eine Form der Quantität, einer realen Kategorie« sei.48 Gedacht wird das (Wirklich-)Sein des Gegenwärtigen als der auf der Zeitachse mitlaufende Augenblick, in dem Zukünftiges (was kommend ist) als das Gegenwärtige gewesen (gekommen) ist und »war«. Im »erat« wird das Vorübergehen des Zeitlichen als Erscheinungsweise seines Ursprungs erinnert: ›wiedergebildet in das erste Bild‹. Ursprung bedeutet keinen zeitlichen Anfang.49 Ursprünglich ist vielmehr, was mit allem zugleich ist. Ursprung heißt, etwas als Grund (causa) einer Wirkung (effectus) »Ich sprach einest, daz got die werlt nû schepfet (…) Spræchen wir, daz got die werlt schepfete gester oder morne, sô giengen wir mit einer tôrheit umbe. Got schepfet die werlt und alliu dinc in einem gegenwertigen nû; und diu zît, diu dâ vergangen ist vor tûsent jâren, diu ist gote iezuo als gegenwertic und als nâhe als diu zît, diu iezuo ist.« (Pr. 10, L, I, S. 128) 46 Vgl. die Predigt »Postquam completi erant dies …«: »Daz wort ›erat‹ gehœret gote allereigenlîchest zuo. In latînischer zungen sô enist kein wort, daz gote als eigen sî als ›erat‹. (…) daz blôze wesen, dem niht zuogeleget enist, dáz meinet ›erat‹. (…) ›erat‹ meinet eine geburt, ein volkomen gewerden. Ich bin nû komen, ich was hiute komende, und wære diu zît abe in dem, daz ich kam und komen bin, sô wære daz komende und komen-bin in ein geslozzen und wære ein. Dâ sich daz komende und komen-ist in ein sliuzet, in dem werden wir geborn und widerschaffen und widerbildet in daz êrste bilde.« (Pr. 44, L, I, S. 474–477) 47 »Nime ich ein stücke von der zît, sô enist ez weder der tac hiute noch der tac gester. Nime ich aber nû, daz begrîfet in im alle zît. Daz nû, dâ got die werlt inne machete, daz ist als nâhe dirre zît als daz nû, dâ ich iezuo inne spriche, und der jüngeste tac ist als nâhe disem nû als der tac, der gester was.« (Pr. 9, L, I, S. 104–06) 48 »(…) tempus suum esse habeat ab anima, nihilominus est species quantitatis realis praedicamenti.« (Quaestio Parisiensis I, zit. nach Eckhart von Hochheim: Utrum in deo sit idem esse et intelligere?, hg., übers. u. mit einer Einl. vers. v. Burkhard Mojsisch, in: Bochumer Philos. Jahrbuch für Antike und Mittelalter, hg. v. Burkhard Mojsisch, Olaf Pluta u. Rudolf Rehn, 4 (1999), S. 181–197, Zitat. S. 186) 49 Das »in principio« ist ein logischer, kein chronologischer Ausdruck. Es bedeutet nicht »in primo« 45
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zu denken. Eckhart wiederholt Eriugenas »maximum argumentum«, daß Wirkung (die Sphäre des Endlichen) logisch betrachtet nichts anderes ist als gewordene Ursache (causa facta).50 Es seien die »natürlichen Bedingungen eines wesenhaften Ursprungs, daß das aus ihm Entsprungene in ihm enthalten ist wie die Wirkung in der Ursache und daß in und bei dem Ursprung die Wirkung der Kraft nach gleichen Alters mit dem Ursprung ist.«51 Das Endliche ist Erscheinung eines Ursprungs, der in seinen Wirkungen wird und in ihnen gegenwärtig ist. Ursprünglich ist das, was allem sich mitteilt und insofern allem ›gemein‹ ist.52 Was wir in der Zeit erfahren, ist Erscheinung eines schöpferischen Prinzips, als dessen Wirkung wir es denkend rekonstruieren.53 Die Erfahrung, daß die Transzendenz jener Instanz, die mit der Rede von Gott gemeint wird, von allem endlich Gewordenen unterschieden bleibt, gibt es nur durch dieses endlich Gewordene selbst – das endlich Gewordene wird dadurch zum ›Bild‹. Alles, was unter der Bedingung von Raum und Zeit erscheint, ist ›nur‹ Bild, das heißt Erscheinung von etwas. Doch sind Bilder nicht nur ›Schein‹ gegenüber dem ›Sein‹ des Denkens. Ein Bild ist vielmehr, so Platon im Sophistes, ein »Verschiedenes von der gleichen Art« – ein »héteron toioûton« – im Hinblick darauf, wovon es als Bild gedacht wird.54 Es ist dem, wovon es als Bild gedacht wird, ›ähnlich‹ – sonst wäre es nicht Bild. Es ist ihm aber nicht gleich: sonst fiele es mit dem zusammen, wovon es als Bild gedacht wird. Der logische Ort des Bildes ist somit nicht, daß es als das ›Abbild‹ eines daneben verfügbaren ›Urbildes‹ zu denken ist. Auch solche ›Urbilder‹ blieben immer nur Bilder. Der logische Ort des Bildes ist vielmehr, daß es in seiner materiellen Endlichkeit die Erkenntnis dessen gewährt, wovon es als Bild gedacht wird, sein logischer Ort ist damit die »Verflechtung« von Identität und Differenz.55 Dieser Gedanke Platons gewinnt in Verbindung mit Gen. 1.26 / 27, wo der Mensch als Bild Gottes in den Schöpfungszusammenhang eingeführt wird, enorme Dynamik. Der menschliche Geist (die mens) ist das Bild einer Instanz, die seiner Macht entzogen ist. Daß er dieses Bild ist, realisiert er angesichts der materiellen Sphäre des (vgl. Augustinus: De civitate dei XI.33, a. a. O., S. 354). – In der Konsequenz dieses Gedankens liegt eine Deutung von Gen. 1.1, die das »Bereschith bara ’Elohim« nicht übersetzt mit: »im Anfang schuf Gott«, sondern übersetzt mit: »der Anfang schuf Gott« (vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M. 1967, S. 241). 50 Vgl. Anm. 29. 51 »(…) quattuor sunt condiciones cuiuslibet principii essentialis naturales. Prima, quod in ipso contineatur suum principiatum sicut effectus in causa (Hervorhebung, JK). Quarta (…), quod in ipso et apud ipsum principium sit effectus virtute coaevus principio« (Eckhart: In Johannis Evangelium tract., n. 38, L, II, S. 524). 52 »(…) ursprunclich ist, (…) er gemeinende sich allen dingen.« (Pr. 80, L, II, S. 162) 53 Insofern läßt sich sagen: »die Semantik von ›Ewigkeit‹ ist letztlich nichts anderes als der Inbegriff von Zeit, von Gegenwart, aus der die Zeitekstasen überhaupt erst entspringen können (…)« (Alois M. Haas: Meister Eckharts Auffassung von Zeit und Ewigkeit, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 27 (1980), S. 351). 54 Vgl. Sophistes 240a / b. – Ein Bild realisiert jene Struktur der Wirklichkeit, die Platon mit der Kategorie des Verschiedenen oder Anderen (héteron) im Sophistes (insbes. 254d ff.) prinzipiell reflektiert. Das andere ›Beispiel‹ ist das der Sprache. 55 Zur erfahrungskonstitutiven Verflechtung (symploké) von Seiendem und Nichtseiendem im Bild vgl. Soph. 240c.
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Kreatürlichen, die ebenfalls ›Bild‹, d. h. Erscheinung jener kreativen Kausalität ist, die sich in ihr zeigt und sich der Willkür des menschlichen Geistes entzieht. Umgekehrt hat diese kreative Kausalität ohne die Differenz des materiellen Bildes, das die Schöpfung ist, weder Sein noch wird sie bewußt.56 Der Augenblick der Schöpfung wird deshalb in Relation zum Sein des Geschaffenen erkannt. Eckhart betont in der Predigt über Joh. 16.16: »Verginge das »Bild«, das nach Gott gebildet ist, so verginge auch das »Bild« Gottes.«57 Im ›Bild‹, das der Geist ist, verdichtet sich das Bild, das die Schöpfung von der kreativen Instanz gibt, deren Erscheinung sie ist. Dabei kommt es auf die sinnlichmaterielle Differenz dieses Kreatürlichen an. Der Augenblick der Schöpfung meint deshalb nicht nur einen noetischen Gegenstand – ein ›Gedankending‹ –, sondern ist von unmittelbar ästhetischem Interesse.58 Ihm entspricht, was Sehen heißt. Sehen ist die Reflexion eines Gesehenwerdens, das als Grund der Sichtbarkeit der Dinge gedacht wird.59 Was in dieser Gegenläufigkeit von Sehen und Gesehenwerden »sieht, (ist) dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge«. Eckhart fährt in der Predigt über »Qui audit me« mit dem oft zitierten Satz fort: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben«.60 Sehen und Gesehenwerden »sind eines und dasselbe«: »Videre et videri unum sunt, idem (…)«.61
Zum Ganzen vgl. Johann Kreuzer: Bewußtsein des Bildes. Zur Aktualität mittelalterlichen Denkens. Mit einer Nachbemerkung zu Wittgenstein, in: Siegfried Blasche / Mathias Gutmann / Michael Weingarten (Hg.): Repraesentatio Mundi: Bild, Bildbewußtsein, notwendige Metaphern und Gegenstände mittlerer Eigentlichkeit, Bielefeld 2004, insbes. S. 29–31. 57 Vgl. Eckhart: Pr. 69, a. a. O., II, S. 52. 58 Macht man dagegen aus dem Augenblick der Schöpfung ein von der Sphäre des Kreatürlichen abgelöstes Gedankending, so wird aus einer logischen Bestimmung eine ontologische Behauptung: »Denn daß das erste Subjekt der Kausalität alles Entstehens und Vergehens selbst nicht (im Felde der Erscheinungen) entstehen und vergehen könne, ist ein sicherer Schluß (…). Wenn dieser Ursprung als Wirkung von einer fremden Ursache angesehen wird, so heißt er Schöpfung, welche als Begebenheit unter den Erscheinungen nicht zugelassen werden kann (…).« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 251, zit. nach: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. III, S. 238 / 39) 59 »Dâ got die crêatûre anesihet, dâ gibet er ir ir wesen; dâ diu crêatûre got anesihet, dâ nimet si ir wesen.« (Eckhart: Pr. 10, a. a. O., I, 130) Vgl. Anm. 67. 60 »(…) daz selbe, daz dâ sihet, daz ist daz selbe, daz dâ gesehen wirt mit dem ougen. Daz ouge, dâ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mîn ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin gesiht und éin bekennen und éin minnen.« (Pr. 12, ebd., S. 148) Eckhart bezieht sich in seiner Verteidigung dieses Satzes auf Augustinus: De trinitate XI.2.2 / 3 (vgl. Meister Eckhart: Deutsche Werke I, hg. v. Josef Quint, Stuttgart 1958, S. 201). Hegel zitiert dieses Theorem. Mit ihm habe Eckhart »das Innerste des göttlichen Wesens« gefaßt (vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, TheorieWerkausgabe Bd. 16, Frankfurt/M. 1969, S. 209). 61 In Johannis Evangelium tract., n. 107, zit. nach Meister Eckhart: Lat. Werke, Bd. III. Hg v. Karl Christ u. a., Stuttgart 1994, S. 92. 56
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2.3 ›Sehen und Gesehenwerden ist eines und dasselbe‹. Diesen Satz Eckharts übernimmt Nikolaus v. Kues und macht ihn zum Zentrum seiner Explikation dessen, was als Augenblick der Schöpfung zu begreifen ist: »Sähe ich so, wie ich sichtbar bin, so wäre ich nicht Geschöpf. (…) Das Sein des Geschöpfes ist zugleich Dein Sehen und Gesehenwerden«.62 In der materiellen Gegebenheit von Kreatur, ihrem Gesehenwerdenkönnen, wird das Sehen Gottes reflektiert. Wie »das Sehen zum Sichtbaren (…) verhält sich Gott zu allem«.63 Was wir als Sehen Gottes denken, ist der schöpferische Augenblick, den wir im Sehen als Koinzidenz von Sehendem und Gesehenem erinnern. Unser Sehen faltet in ein Nacheinander aus, was Nikolaus v. Kues in De non aliud unter dem Titel »momentum« die Substanz der Zeit nennt und mit ihr jene kreative Dynamis, die er als Gott definiert. In der Übersetzung einer Stelle aus De divinis nominibus notiert er weiter: »Er sagt, daß Gott zutreffend Augenblick genannt werden kann.«64 Dieser göttliche Augenblick ist kein Gegenstand des Sehens, sondern im Sehen wirklich. Dabei geht es nicht darum, die Gegenstände der Erfahrung zu vergöttlichen oder zu vergötzen. Vielmehr geht es darum, die – ganz gewöhnlichen – Gegenstände der Erfahrung in ihrer jeweiligen schöpferischen Ursprünglichkeit zu erkennen.65 Es sei nicht verwunderlich, daß Gott als kreative Instanz unsichtbar sei (oder nach 1 Tim. 6.16 im unsichtbaren Licht wohnt). Gerade deshalb aber kommt es – hier wiederholt Nikolaus v. Kues Eriugena – darauf an, »Gott in seinen Geschöpfen zu erkennen.«66 »Si ego viderem sicut visibilis sum non essem creatura. (…) Ab omnibus creaturis es visibilis et omnes vides. In eo enim, quod omnes vides videris ab omnibus. Aliter enim esse non possunt creaturae, quia visione tua sunt. (…) Esse creaturae est videre tuum pariter et videri.« (De visione Dei X, a. a. O. (Philos.-Theol. Schriften I–III, vgl. Anm. 32; Nikolaus v. Kues wird, der Einfachheit halber, in der Regel nach dieser Ausgabe oder den in der Editio minor der Opera omnia vorliegenden zweisprachigen Ausgaben zitiert), S. 134) 63 »Deus se habet ad omnia sicut visus ad visibilia.« (De deo abscondito, ebd., I, S. 308) 64 Vgl. De non aliud XVI: »Momentum enim ipsum Deum convenientissime dici posse ait.« (De non aliud, zit. nach: ebd., Bd. II, S. 518) Mit momentum übersetzt Nikolaus v. Kues καιρóς, vgl. Dionysius Ps.-Areopagita: De divinis nominibus X.2, X.3, a. a. O. (vgl. Anm. 20), S. 215, 217 (PG 3, 937B; 940A). – Nikolaus v. Kues fährt kommentierend fort, daß der Augenblick die ›Substanz‹ der Zeit sei, nehme man ihn weg, bleibe nichts von der Zeit. Der Augenblick (des Schöpferischen) scheine »die Substantialität von allem zu sein, (…) in der Ewigkeit (ist er) Ewigkeit, in der Zeit Zeit, im Monat Monat, im Tag Tag, in der Stunde Stunde und im Augenblick Augenblick«: »Momentum est temporis substantia. Nam eo ablato nihil temporis manet (…); videtur enim ipsa substantialitas (…) in aeternitate aeternitas, in tempore tempus, mensis in mense, in die dies, in hora hora, momentum in momento (…)« (Nikolaus v. Kues: De non aliud XVI, a. a. O., S. 518). 65 Vgl. De dato Patris luminum, II: »Non est igitur terra deus aut aliquid aliud, sed terra est terra, et aer est aer, et aether aether, et homo homo, quodlibet per formam suam.« (Ebd., S. 656) Nicht als ein mögliches Objekt, sondern im Sehen zeigt sich, daß diese »Welt die Erscheinung des unsichtbaren Gottes« und »Gott die Unsichtbarkeit des Sichtbaren« ist: »Quid est mundus nisi invisibilis Dei apparitio? Quid Deus nisi visibilium invisibilitas (…)« (Trialogus de possest, n. 72, Lat.-Dt., hg. v. Renate Steiger, 3. Aufl., Hamburg 1991, S. 88). 66 »Non est mirandum Deum creatorem esse invisibilem (…). Deum itaque in creaturis suis cernimus (…)« (De non aliud XXIII, a. a. O., S. 546 / 47). Zu Eriugena vgl. Anm. 36. Wie bei Eriugena (und 62
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Unser Sehen – endliches Sehen – aktualisiert ein prinzipielles Gesehenwerdenkönnen.67 Diesen Grund der Sichtbarkeit nennt Nikolaus v. Kues den lebenden Spiegel der Ewigkeit, in dem alles widerstrahlt.68 Der Bedingung von Raum und Zeit unterliegendes (kreatürliches) Sehen unterscheidet sich vom göttlichen Augenblick. Es wird von ihm als dem lebenden Spiegel des Sehens Gottes aber deshalb unterschieden, weil wir unser Sehen ohne diesen göttlichen Augenblick, d. h. ohne einen Ursprung und einen materiellen Unterschied, der sich unserer Willkür oder der Bestimmung durch uns entzieht, nicht zu denken vermögen. Im endlichen Sehen, das das von ihm realiter Unterschiedene nicht produziert, sondern reflektiert, realisiert sich ein ursprüngliches Gesehenwerdenkönnen. Indem wir unser Sehen als beschränktes (endliches) Sehen begreifen, gehen wir zugleich von den Wirkungen zu ihrer kreativen Ursache. Wir begreifen, daß das, was wir sehen, in seiner materiellen Gegebenheit von unserem Sehen ebenso verschieden bleibt wie die kreative Kausalität, deren Wirklichkeit sich im Vorübergehen dieses Kreatürlichen zeigt. Im Begreifen dieser Differenz wird das die materielle Gegebenheit des Kreatürlichen reflektierende Sehen selbst produktiv. Es reproduziert den Augenblick der Schöpfung – den ›Augenblick des Auges‹ – in sich. Begreifendes Sehen ist das Leben des Intellekts. Der Intellekt bringt die Dinge, die er begreifend sieht, nicht hervor. Er ist abhängig davon, daß das, was gesehen wird, in seiner Materialität unterschieden bleibt vom Sehen selbst. Insofern ist das begreifende Sehen, das der Intellekt ist, abhängig von jener kreativen Kausalität, die die Realität des Gesehenen erklärt. Der Intellekt ist aber nicht nur abhängig von dieser kreativen Kausalität, die sich als lebendiger Spiegel der Wirklichkeit zeigt, sondern entspricht ihr. Kann die Realität des Sehens nicht ohne den ›lebenden Spiegel der Ewigkeit‹ gedacht werden, so wird der Intellekt in der Erkenntnis dieser Beziehung selbst zu einem ›lebendigen Spiegel‹. Er wird zum ›lebendigen Bild‹ jener schöpferischen Instanz, als deren unschöpferische Entsprechung er sich selbst versteht und die er in dem ›Spiegel‹, der er ist, ›sieht‹.69 Der Intellekt finde, »da Erkenntnis Angleichung sei, alles in sich wie in
bei Augustinus, vgl. z. B. De trinitate VI.10.12) stellt auch bei Nikolaus v. Kues die biblische Vorgabe Röm. 1.20 (»invisibilia enim ipsius a creatura mundi per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur«, Vulgata, 3. Aufl., Stuttgart 1983, S. 1750) dar: vgl. Trialogus de possest, n. 2–4, a. a. O., S. 2–6). 67 So heißt es schon bei Augustinus, daß mit dem Sehen und Erkennen Gottes bezeichnet wird, was das Gesehenwerden und Erkanntwerden ›macht‹: »ad tempus videre et cognoscere dicitur, quod videri et cognosci facit.« (De civitate dei XVI.5, a. a. O., S. 506) Nikolaus v. Kues präzisiert die mythologisierende Rede vom ›Machen‹ mit der logischen Bestimmung des ›Können-selbst‹ (vgl. Anm. 71). 68 »Sed visus tuus, cum sit oculus seu speculum vivum, in se omnia videt. Immo quia causa omnium visibilium. Hinc omnia in causa et ratione omnium, hoc est in se ipso complectitur et videt. Oculus tuus Domine sine flexione ad omnia pergit.« (De visione Dei VIII, a. a. O., S. 126) Zu diesem »speculum vivum« als dem »speculum aeternitatis vivum (…), in quo omnia relucent«, vgl. De visione Dei XII, XV, ebd., S. 142, 160. – Leibniz hat dieses Theorem tradiert (vgl. z. B. Monadologie, § 56). Kant hat es mit (dem Verfahren) der reflektierenden Urteilskraft begrifflich expliziert. 69 Vgl. z. B. Idiota de mente III, n. 72: »Conceptio divinae mentis est rerum productio; conceptio nostrae mentis est rerum notio. (…) (Mentis divinae) conceptio est rerum creatio, et nostrae mentis conceptio est entium assimilatio.« (Zit. nach: Der Laie über den Geist. Lat.-Dt., übers. u. hg. v. Renate Steiger, Hamburg 1995, S. 24; vgl. auch Compendium X, n. 33, XI, n. 35)
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einem lebendigen Spiegel im geistigen Leben. In sich blickend sieht er alles als in ihm Angeglichenes. Und diese Angleichung ist das lebendige Bild des Schöpfers und aller Dinge. Wenn es aber ein lebendiges und geistiges Bild Gottes ist, und Gott nichts anderes gegenüber einem anderen ist, erblickt der Geist in sich, wenn er in sich selbst eintritt und weiß, daß er ein solches Bild ist, wie beschaffen sein ursprüngliches Vorbild ist.«70 Im Intellekt verdichtet sich die Dynamik des Schöpfungsgeschehens zur erkennenden Realisierung der Bildstruktur kreatürlich erscheinender Wirklichkeit. Ihr gegenüber nimmt das begreifende Sehen, das der Intellekt – und mit ihm der Geist – ist, keine noetisch-externe Position ein, es ist vielmehr Teil dieser universalen Bild-Wirklichkeit. Im Bild, das der Geist ist, kommt das Bild, das die Schöpfung ist, zu sich. Das erklärt die Isomorphie zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisakt, die den Intellekt nicht nur zum lebendigen Spiegel, sondern zum ›lebendigen Bild‹ werden läßt. Der Intellekt ist jene ›in-sich-blickende‹ Tätigkeit, die sich die kreatürlich gegebenen Bilder assimiliert. ›In-sich-Blicken‹ heißt hier Bewußtmachen der Spiegelungsverhältnisse, in denen sich das Universum kreatürlicher Bilder – einschließlich des Bildes, das der Geist ist – reflektiert. Die Bildstruktur der Wirklichkeit ist nicht der sekundäre, sondern der primäre Ort jener kreativen Dynamis, von der der Prozeß endlich erscheinender Natur zeugt. Im Bild, das der Geist ist, kommt deshalb nicht allein das Bild, das die Schöpfung ist, zu sich. Im Bild, als das sich der Geist begreift, kommt vielmehr auch zu Bewußtsein, wovon er Bild ist. Zum Namen dieser Instanz, bezüglich der der Geist sich als Bild begreift, wird Nikolaus v. Kues das posse ipsum (Können selbst). In De apice theoriae faßt er seine Überlegungen dazu zusammen.71 Das posse ipsum – das ursprüngliche Können, das allem gemein ist, insofern das Seinkönnen allem bestimmten Sein vorgängig und zugleich in allem Gewordenen enthalten ist – wird zur inneren Bestimmung eines Natur- oder Schöpfungszusammenhangs, der als dynamisches Prozeßganzes zu verstehen ist. Dem ihm inhärenten Können-selbst ist es wesentlich zu erscheinen – und zwar in lebendi70 »Unde cum cognitio sit assimilatio, reperit omnia in se ipso ut in speculo vivo vita intellectuali. Qui in se ipsum respiciens cuncta in seipso assimilata videt. Et haec assimilatio est imago viva creatoris et omnium. Cum autem sit viva et intellectualis Dei imago, qui Deus non est aliud ab aliquo, ideo cum in se intrat et sciat se talem esse imaginem, quale est suum exemplar in se speculatur.« (De Venatione Sapientiae, n. 50, Lat.-Dt., auf der Grundlage der Ausgabe v. Paul Wilpert neu hg. v. Karl Bormann, Hamburg 2002, S. 70–72) – Vgl. Tilman Borsche: assimilatio – die schöpferische Kraft des Denkens, in: ders.: Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus v. Kues und Nietzsche, München 1990, S. 193 ff. 71 »(…) posse ipsum, quo nihil perfectius esse potest, melius ipsum nominabit (…), sine quo nihil quicquam potest nec esse nec vivere nec intelligere (…)« (De apice theoriae, n. 5, in: Die höchste Stufe der Betrachtung, Lat.-Dt., übers. u. mit Einl., Komm. u. Anm. hg. v. Hans Gerhard Senger, Hamburg 1986, S. 8). »Non est, nisi quod esse potest. Esse igitur non addit ad posse esse.« (De apice theoriae, nr. 18 (Memorialis apicis theoriae II), ebd., S. 30) »Posse cum addito imago est ipsius posse, quo nihil simplicius. Ita posse esse est imago ipsius posse, et posse vivere imago ipsius posse, et posse intelligere imago ipsius posse. Verior tamen imago eius est posse vivere, et adhuc verior posse intelligere. In omnibus igitur videt contemplator posse ipsum, sicut in imagine videtur veritas. Et sicut imago est apparitio veritatis, ita omnia non sunt nisi apparitiones ipsius posse.« (De apice theoriae, nr. 20 (Memorialis apicis theoriae IV), ebd., S. 32; vgl. auch Trialogus de possest n. 1–8, a. a. O., S. 2–10)
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ger, kreatürlicher, gegenständlicher Form. In der Gegebenheit solcher lebendiger, kreatürlicher, gegenständlicher Formen wird wirklich, was rücksichtlich des Gewordenen sein kann. Was sein kann ist mit dem Gewordenen verbunden durch die Bestimmung des Noch-nicht-seins. Die als Schöpfung verstandene Natur indiziert die Präsenz eines Noch-nicht-seins. Die Präsenz des ›Seins‹, das als kreatives Prinzip in den Gestalten seines Erscheinens zu erkennen ist, gehört mit der Präsenz des Noch-nicht-seins zusammen. Sein ›Sein‹ ist in und mit keiner gewordenen Wirklichkeit erschöpft. Bezogen auf das kreatürlich Gewordene ist es immer von neuem ›noch nicht‹. Die Präsenz kreativen Seins zeigt sich in der Sphäre der Endlichkeit – vermittelt in Bildern. Da sich die Präsenz kreativen Seins jedoch in keiner dieser Bildwerdungen erschöpft, besteht seine Wirklichkeit darin, daß es immer von neuem ›noch nicht‹ ist. Der Prozeß der Vermittlung durch das Hervorgehen differenter ›Bilder‹ wird zum logischen Ort der Vergegenständlichung der Präsenz oder Wirklichkeit jenes kreativen Seins, das die Rede vom Augenblick der Schöpfung reflektiert. In der Abhandlung über das Sehen Gottes oder das Bild thematisiert Nikolaus v. Kues, daß das bewußt gemachte Bild (die »icona«) die Bildstruktur kreatürlicher Wirklichkeit bewußt macht.72 Das genau auch markiert die Bedeutung von De visione dei im Übergang zur Renaissance. Der menschliche Intellekt ist ein ›zweiter Gott‹. Dies ist er aber nicht mehr allein, sofern er als Verfahrenstechniker einer göttlichen Ordnung fungiert – wie etwa in Idiota de mente, wo der Geist »lebendige Zahl, das heißt zählende Zahl« genannt wird.73 Zweiter Gott ist er nun vor allem durch seine eigene Produktivität und Kreativität, die in der Bedingung der Endlichkeit die Entsprechung der regulativ zu denkenden göttlichen Kreativität darstellt.74 Was den Wahrheits- oder besser Evidenzanspruch des dergestalt in materiellen Formen reproduzierten Augenblicks der Schöpfung angeht, nimmt Nikolaus v. Kues zwischen 1453 und 1464 eine bemerkenswerte Selbstkorrektur vor. Sprach er in De visione dei noch davon, daß Gottes »Angesicht« die »absolute Schönheit« sei, die »enthüllt nicht gesehen« werde, solange man nicht »über alle Gesichter hinaus in ein gewisses geheimnisvolles und verborgenes Schweigen
Tractatus (…) de visione dei sive de icona liber, a. a. O. (vgl. Anm. 32), S. 94. – Zu De visione dei vgl. Nikolaus v. Kues, Von Gottes Sehen, hg. v. Elisabeth Bohnenstaedt, 2. Aufl., Leipzig 1944, S. 163 ff.; Werner Beierwaltes: Visio facialis. Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus, München 1988; Günter Wohlfart: Mutmaßungen über das Sehen Gottes. Zu Cusanus’ »De visione Dei«, in: Philosophisches Jahrbuch 93 (1986); Johann Kreuzer: Der Raum des Sehens – Über ein Theorem von Nikolaus v. Kues, in: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, a. a. O., S. 169–205. 73 »(mens) sit numerus vivus, scilicet numerus numerans« (Idiota de mente, nr. 157, a. a. O., 122). Die kreatürliche Welt erscheint als die Außenseite eines noetisch geschlossenen Regelkreissystems, in dem Bewußtsein als Reflexion der es hervorbringenden Verfahrenstechnik zu fungieren scheint. 74 Als »zweiter Gott« hat der Mensch den Intellekt, der »im schöpferischen Tun dem göttlichen Intellekt ähnlich ist«, und »mißt seinen Intellekt durch die Kraft seiner Werke, und darum mißt er den göttlichen Intellekt«: »mensurat suum intellectum per potentiam operum suorum et ex hoc mensurat divinum intellectum (…)« (De beryllo VI, nr. 7, zit. nach: De beryllo, Lat.-Dt., übers. u. hg. v. Karl Bormann, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 8). Vgl. Kurt Flasch: Nicolaus Cusanus, München 2001, insbes. S. 77–100. 72
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eintrete«, so heißt es in De apice theoriae: »Die Wahrheit ist, je klarer, desto einfacher. Einmal glaubte ich, daß sie im Dunkel besser zu finden sei. Die Wahrheit ist von großer Kraft, in ihr leuchtet das Können selbst sehr, sie ruft nämlich auf den Gassen.«75 Nicht hinter den kreatürlichen Phänomenen, sondern in ihnen zeigt sich, was Augenblick der Schöpfung heißt. 3 Konklusion. Das logische Fundament für die Rede von der Schöpfung einer gewordenen Welt hatte bei Platon (vgl. Teil 1) ergeben, daß a) der veränderliche Kosmos qua seines Gewordenseins als Erscheinung einer schöpferischen Kausalität zu begreifen ist und daß es b) der ortlose Augenblick des Plötzlichen ist, der logisch als Ursprung dessen zu denken ist, was in der Zeit erscheint.76 Eriugena formuliert diese logischen Ingredienzen zu dem Satz aus, daß alles im Augenblick des Auges gemacht ist und daß die Transzendenz des göttlich Einen das innere Prinzip, der kreative Grund eines dynamischen Prozeßganzen Natur ist (vgl. Teil 2.1). Eckhart von Hochheim spitzt (vgl. Teil 2.2) die Konsequenzen dieses Gedankens von Eriugena zu. Ursprung ist – im Unterschied zu allen Mythen von Ursprungserzählungen77 – kein Anfang der Schöpfung, sondern ein jeweiliges Anfangen, eine jeweilige creatio in der Schöpfung. Das Theorem Sehen = Gesehenwerden entspricht dem. Nikolaus v. Kues faßt dann (vgl. Teil 2.3) die verschiedenen Aspekte dieser Kreationslogik zusammen. Sich seiner Endlichkeit bewußt werdendes Sehen entfaltet die göttliche Natur des schöpferischen Augenblicks in das Nacheinander verschiedener Perspektiven. In ihnen ist der Augenblick der Schöpfung ebenso aufgehoben, wie das Begreifen der Verschiedenheit dieser Perspektiven das endliche Sehen in sich aufhebt. Endliches Sehen wird zum lebenden Spiegel des göttlichen Augenblicks und gewinnt seinen Sinn nicht zuletzt in Beziehung zu dem, was noch nicht und das Können-selbst schöpferischer Po-
Vgl. De visione dei VI : »Est igitur (tua facies) ipsa pulchritudo absoluta (…). Revelate autem non videtur quamdiu super omnes facies non intratur in quoddam secretum et occultum silentium, ubi nihil est de scientia et conceptum faciei.« (A. a. O., S. 115 / 16). Und die Replik: »Veritas quanto clarior tanto facilior. Putabam ego aliquando ipsam in obscuro melius reperiri. Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum lucet, clamitat enim in plateis (…)« (De apice theoriae, a. a. O., S. 8). – Die Selbstkritik gilt zugleich dem Bezugspunkt in der »Mystica theologia« von Dionysius Ps.-Areopagita, in der vom »Dunkel des Schweigens« und dem »Allerdunkelsten« als Ziel ›mystischer Schau‹ die Rede ist: vgl. De mystica theologia I.1, in: Corpus Dionysiacum II, hg. v. Adolf Martin Ritter, Berlin 1991, S. 142. 76 Dies logische Fundament hat es mit der Bestimmung zu tun, daß unter Schöpfung nichts anderes als »die Ursache vom Dasein einer Welt oder der Dinge in ihr (der Substanzen)« zu verstehen sei; »wie das auch der eigentliche Begriff dieses Wortes mit sich bringt (actuatio substantiae est creatio); welches mithin nicht schon die Voraussetzung einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache (…) mit sich führt (…)« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft § 87, B 424 (Anm.), in: Werke in zwölf Bänden, a. a. O., Bd. X, S. 576). 77 Auch die Rede von einer creatio ex nihilo stellt eine solche mythische Ursprungserzählung dar. ›Urknalltheorien‹ repetieren im übrigen den Mythos der creatio ex nihilo. 75
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tentialität ist. Dazu noch eine abschließende Bemerkung – sie führt zwar nicht ins 21., aber immerhin ins 20. Jahrhundert zurück. 4 Schöpfung steht für ein Selbstverhältnis sich in ihrer Endlichkeit begreifender Natur, das einen zeitlichen Index hat. Diesen Grundgedanken einer als Geschichte endlicher Wesen verstandenen ›Schöpfung‹ formuliert insbes. Röm. 8.21 / 22: »Auch sie soll frei werden, denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.«78 Es gibt Natur nur in der Form ihres zeitlichen Erscheinens, d. h. als vergehende. Die Form ihres Erscheinens wird unter der Bedingung von Endlichkeit als Geschichte reflektiert. Der Gedanke der Schöpfung steht für die Zusammengehörigkeit von Natur und Geschichte. Sofern Endlichkeit Form und Bedingung der als Geschichte verstandenen Natur ist, konvergieren beide im Begriff der »Vergängnis«. Deren Begriff hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Benjamin exponiert. »Auf dem Antlitz der Natur steht ›Geschichte‹ in der Zeichenschrift der Vergängnis.«79 Adorno hat diesen Gedanken als »Idee der Naturgeschichte« aufgegriffen und für signifikant genug erachtet, daß er ihn als Fazit der Diskussion des Verhältnisses von Geschichte und Metaphysik in der Negativen Dialektik formuliert: Es gelte, »(…) das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein (zu) begreifen, oder die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich beharrt, (zu) begreifen als ein geschichtliches Sein. (…) Das Moment jedoch, in dem Natur und Geschichte einander kommensurabel werden, ist das von Vergängnis (…)«.80 Sich als Schöpfung zu begreifen heißt, sich als zeitlich bestimmtes, d. h. vergängliches und kreatürliches Sein zu begreifen. Das Selbstverhältnis sich in ihrer Endlichkeit begreifender Natur ist das Bewußtsein von Kreatürlichkeit. Die Rede vom Augenblick der Schöpfung faltet den zeitlichen Index, der mit diesem Bewußtsein der Kreatürlichkeit verbunden ist, ein und aus. Schon Kant ist im übrigen auf diesen Gedanken zurückgekommen, daß die als Schöpfung verstandene Natur eine Geschichte hat, die nicht auf einen fiktiven Anfang zu reduzieren, sondern als offener Prozeß zu begreifen ist. »Die Natur bleibt«, heißt es in einer Nachlaß-Reflexion: »aber wir wissen noch nicht, was Natur ist (…).«81
Vgl. Rev. Luther-Übersetzung in: Nestle-Alland, Das Neue Testament Gr.-Dt., Stuttgart 1986, S. 423. 79 Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften Bd. I, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 353. 80 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1970, S. 351. Zur Bezugnahme auf Benjamin vgl. Die Idee der Naturgeschichte: »Die Natur als Schöpfung ist von Benjamin selbst gedacht mit dem Mal der Vergänglichkeit. Natur selbst ist vergänglich. So hat sie aber das Moment der Geschichte in sich. Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht.« (in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1973, S. 359; vgl. auch ebd., S. 354 f.) 81 Refl. 1524. S. I, Kant’s ges. Schriften, Akad. Ausg. XV.2, Berlin ND 1969, S. 896. 78
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›Wir wissen noch nicht, was Natur ist‹: Ich denke, hier sollte an Blochs Rede vom Dunkel des gelebten Augenblicks und sein Programm einer Ontologie des Noch-NichtSeins nicht nur erinnert, sondern angeknüpft werden.82 Gerade in einem gesellschaftlichen Klima, das allein am Funktionieren und Perfektionieren von Regelkreissystemen interessiert scheint, sollte sich philosophische Reflexion nicht auf die mentale Reduplikation der geschlossenen Logik von Input und Output und die damit verbundenen Reduktionen beschränken lassen. Kreativität ist kein nachrangiges oder bloß abzuleitendes Phänomen. Sie lebt von der Erinnerung dessen, was noch nicht ist: Sie macht es erinnerungsfähig. Damit hat Adorno das Wesen des Kunstwerks bestimmt.83 Diese Bestimmung ist aber auch eine schöne Umschreibung für die Logik des Kreativen, die hier an Johannes Scottus Eriugena, Eckhart von Hochheim und Nikolaus von Kues erläutert wurde. Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970. Adorno, Theodor W: Die Idee der Naturgeschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1973. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1970. Augustinus: Confessiones, hg. v. Lucas Verheijen, 2. Aufl., Turnhout 1990. Augustinus: De civitate dei, hg. v. Bernhard Dombart und Alphons Kalb, Turnhout 1955. Augustinus: De trinitate, hg. v. Johann Kreuzer, Hamburg 2001. Beierwaltes, Werner: Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt/M. 1994. Beierwaltes, Werner: Εξαíφνης oder: Die Paradoxie des Augenblicks, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966 / 67). Beierwaltes, Werner: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1979. Beierwaltes, Werner: Visio facialis. Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus, München 1988. Benjamin, Walter: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften Bd. I, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/M. 1970. Boethius, A. M.S.: Die Theologischen Traktate, hg. v. Michael Elsässer, Hamburg 1988. Borsche, Tilman: Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus v. Kues und Nietzsche, München 1990.
82 Vgl. Ernst Bloch: Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, in: ders.: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/M. 1970. 83 »Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht – die Wirklichkeit dessen, was nicht ist –, das verwandelt sich ihr in Erinnerung.« (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 200)
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de Libera, Alain: Denken im Mittelalter, übers. v. Andreas Knop, München 2003 [Orig. Penser au Moyen Age, Paris 1991]. Dionysius Ps.-Areopagita: De mystica theologia, in: Corpus Dionysiacum II, hg. v. Adolf Martin Ritter, Berlin 1991. Eriugena: De divinis nominibus, hg. v. Beate Regina Suchla, Berlin 1990. Figal, Günter: Zeit und Identität. Systematische Überlegungen zu Aristoteles und Platon, in: Zeiterfahrung und Personalität, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt/M. 1992, S. 34–56. Flasch, Kurt: Grundlegung der mittelalterlichen Philosophie, in: ders.: Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 21–81. Flasch, Kurt: Nicolaus Cusanus, München 2001. Gadamer, Hans-Georg: Platon und die vorsokratische Kosmologie, in ders.: Vom Anfang des Wissens, Stuttgart 1999. Gersh, Stephen: From Iamblichus to Eriugena. An Investigation to the Prehistory and Evolution of the Pseudo-Dionysian Teadition, Leiden 1978. Gloy, Karen: Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios, Würzburg 1986. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 30. Neudruck, München 1984. Haas, Alois M.: Meister Eckharts Auffassung von Zeit und Ewigkeit, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 27 (1980). Hamann, Johann Georg: Aesthetica.In.Nuce, mit einem Komm. hg. v. Sven A. Jørgensen, Stuttgart 1968. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Theorie Werkausgabe Bd. 18, Frankfurt/M. 1971. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Theorie Werkausgabe Bd. 19, Frankfurt/M. 1971. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Theorie-Werkausgabe Bd. 16, Frankfurt/M. 1969. Iohannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon I–V, hg. v. Edouard A. Jeauneau (CCCM 161– 165), Turnhout 1996 / 1997 / 1999 / 2000 / 2003 [zitiert als: P, jeweils mit römischer Band-, MPL-Kolonnen- sowie arabischer Seitenzahl in CCCM]. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. III. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. X. Kreuzer, Johann: Bewußtsein des Bildes. Zur Aktualität mittelalterlichen Denkens. Mit einer Nachbemerkung zu Wittgenstein, in: Siegfried Blasche / Mathias Gutmann / Michael Weingarten (Hg.): Repraesentatio Mundi: Bild, Bildbewußtsein, notwendige Metaphern und Gegenstände mittlerer Eigentlichkeit, Bielefeld 2004. Kreuzer, Johann: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, München 2000. Kreuzer, Johann: Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995. Kreuzer, Johann: Von der erlebten zur gezählten Zeit, in: ders. / Georg. Mohr (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2006. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd. 3, Berlin 1969.
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Meister Eckhart: Deutsche Werke I, hg. v. Josef Quint, Stuttgart 1958. Meister Eckhart: Lat. Werke, Bd. III, hg v. Karl Christ u. a., Stuttgart 1994. Meister Eckhart: Werke I / II, hg. v. Niklaus Largier, Frankfurt/M. 1993 [L]. Mesch, Walter: Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt/M. 2003. Nikolaus v. Kues: De apice theoriae / Die höchste Stufe der Betrachtung, Lat.-Dt., übers. u. mit Einl., Komm. u. Anm. hg. v. Hans Gerhard Senger, Hamburg 1986. Nikolaus v. Kues: De beryllo / Über den Beryll, Lat.-Dt., übers. u. hg. v. Karl Bormann, 4. Aufl., Hamburg 2002. Nikolaus v. Kues: De visione dei, in: Philos.-Theol. Schriften, hg. v. Leo Gabriel, übers. v. Dietlind u. Wilhelm Dupré, 2. Aufl., Wien 1982, Bd. III. Nikolaus v. Kues: Idiota de mente / Der Laie über den Geist, Lat.-Dt., übers. u. hg. v. Renate Steiger, Hamburg 1995. Nikolaus v. Kues: Trialogus de possest / Dreiergespräch über das Können-Ist, Lat.-Dt., hg. v. Renate Steiger, 3. Aufl., Hamburg 1991. Platon: Werke in acht Bänden, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1983. Plotin: Enneade III.7, Über Ewigkeit und Zeit, übers., eingel. und komm. v. Werner Beierwaltes, Frankfurt/M. 1967. Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M. 1967. Theunissen, Michael: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000. von Hochheim, Eckhart: Utrum in deo sit idem esse et intelligere?, hg., übers. u. mit einer Einl. vers. v. Burkhard Mojsisch, in: Bochumer Philos. Jahrbuch für Antike und Mittelalter, hg. v. Burkhard Mojsisch, Olaf Pluta u. Rudolf Rehn, 4 (1999), S. 181– 197. von Ivánka, Endre: Pseudo-Dionysius Areopagita, in ders.: Plato Christianus, 2. Aufl., Einsiedeln 1990, S. 225–289. Wittgenstein, Ludwig: Zettel, Werkausgabe, Frankfurt/M. 1984, Bd. 8. Wohlfart, Günter: Mutmaßungen über das Sehen Gottes. Zu Cusanus’ »De visione Dei«, in: Philosophisches Jahrbuch 93 (1986).
Die Würde des Schöpferischen Von der Selbsterschaffung des Menschen Theo Kobusch (Bonn)
Das Element des Schöpferischen ist schon immer als ein Wesensmerkmal des Menschen angesehen worden. Ob im Rahmen einer Kulturentstehungslehre, ob als Genieästhetik, ob als Täter der Geschichte oder als Poet – der Mensch erscheint als Schöpfer einer Welt. Doch der Mensch ist auch immer als das sich in gewisser Weise selbst erschaffende Wesen gedacht worden. Die Selbsterschaffung des Menschen, weit davon entfernt, ein Instrumentarium für epochenspezifische Überlegungen abzugeben, ist ein allgemeiner Topos, eine Grundfigur des Denkens in der gesamten Geschichte der Philosophie. Das sucht der folgende Beitrag deutlich zu machen, indem er das Denken der Renaissance, das die Würde des Menschen in seiner Selbsterschaffung sieht, als Ausgangspunkt nimmt. Von hier aus erst kann die Bedeutung eines revolutionären Grundgedankens der Patristik gewürdigt werden. Er hat unmittelbar oder durch Pico della Mirandola vermittelt das Denken Schellings und Schopenhauers angestoßen. J. P. Sartre hat ihn in den Mittelpunkt seines frühen Denkens gestellt. Seitdem lebt er in revidierter, reduzierter, kritisierter oder auch gesteigerter Form fort im philosophischen Denken, bis in unsere Tage hinein.
1. Pico und das spätantike Denken: Die Stellung des Menschen im Kosmos Wenn wir die Idee der Selbsterschaffung des Menschen historisch überdenken, fällt uns möglicherweise zuerst die berühmte Oratio des Giovanni Pico della Mirandola ein, deren Titel »de hominis dignitate« nicht von Pico selbst stammt, sondern von späteren Herausgebern hinzugefügt wurde. Dies wiederum beruht auf der Vermutung, daß wir im allgemeinen das Thema der Selbsterschaffung des Menschen für ein typisch neuzeitliches Thema halten. Tatsache ist, daß es unter dem Titel der »Menschenwürde« am Beginn der Neuzeit neu ins philosophische Spiel kam. Die Rede wurde 1486 von Pico als Einleitung zu einer öffentlichen Disputation von 900 Thesen verfaßt, die in Rom abgehalten werden sollte. Doch kam die Disputation wegen des Häresieverdachts einiger Thesen nie zustande. Deswegen wurde auch die Rede nie gehalten und auch zu Lebzeiten Picos nicht veröffentlicht. Wie P.O. Kristeller gezeigt hat, hat Pico sie jedoch teilweise bei der Verteidigung seiner Thesen, die 1487 veröffentlicht wurden, verwendet1. Vgl. Paul Oskar Kristeller: Giovanni Pico della Mirandola and His Sources, in: L’Opera e il pensiero di Giovanni Pico della Mirandola nella storia dell’ umanesimo: Convegno internazionale, Vol. I, Relazioni, Florence 1965, S. 56–57. 1
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Die berühmte Oratio gilt als das »humanistische Credo«, nicht, weil sie zum ersten mal das Thema der Menschenwürde anspräche. Vielmehr gab es schon vor Pico Traktate über die Würde des Menschen, so etwa von Bartolomeo Facio oder von Gianozzo Manetti2. Was die Oratio Picos über diese traditionell argumentierenden Abhandlungen hinaushebt, ist eine These, die schon als der eigentliche Beginn der neuzeitlichen Philosophie oder auch als die Vorwegnahme der existentialistischen Ansicht vom Menschen gefeiert wurde. Pico stellt sie selbst der traditionellen Sicht gegenüber, wie sie uns etwa in dem hermetischen Traktat Asclepius, der unter den Schriften des Apuleius auf uns gekommen ist, gegenübertritt. Danach ist der Mensch ein großes Wunder, denn er steht in der Mitte der Reihe aller Wesen, ein Mittelding zwischen Gott und den Tieren, zwischen Ewigkeit und Zeit, der Deuter der Natur, nur wenig dem Engel unterlegen. Pico stellt diese besondere Mittelstellung des Menschen nicht in Frage. Aber er gibt eine andere Begründung, so daß die Besonderheit der Stellung des Menschen im Kosmos noch deutlicher wird und sogar die überweltlichen Geister ihn darob beneiden müssen. Sie kommt in der berühmten Rede Gottes, an Adam gerichtet, zum Ausdruck. Der Mensch wurde in die Mitte der Welt gesetzt, damit er gerade keinen festen Platz, auch kein bestimmtes Aussehen habe, sondern sie sich selbst festlegen könne. Während das Wesen der gesamten übrigen Schöpfung von Gott definiert und seinem Naturgesetz unterworfen wurde, liegt es in der Hand des Menschen, sich sein Wesen selbst festzulegen3. Das ist die revolutionäre These Picos, daß die Freiheit des Menschen nicht im Rahmen eines vorgegebenen Wesens wirklich wird, sondern das Wesen selbst gestaltet. Der Mensch ist nicht sterblich oder unsterblich geschaffen, so sagt Gott zu Adam vor dem Sündenfall, sondern der Mensch hat, mit »Umsicht« ausgestattet, aufgrund deren er das unsterblich Machende und Tödliche wahrnehmen kann, sich selbst seine Natur gemacht, die zweite – theologisch verstanden –, er kann deswegen Selbstbildner genannt werden. Er kann sich zum Tier erniedrigen oder zum Gott erheben, je nach dem, ob er sich der Welt des Sinnlichen oder Geistigen zuwendet. In diesem Sinne erschafft der Mensch sich selbst. Er macht sich zu dem, was er ist, oder wie das E. Cassirer viel besser ausgedrückt hat: »Er ist, wozu er sich macht«4. Insofern es eine von Gott verliehene selbstschöpferische
Zur Vorgeschichte des Würde-Themas in der Renaissance vgl. Eckhard Keßler: Menschenwürde in der Renaissance, in: A. Siegetsleitner / N. Knoepffler (Hg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog, Freiburg, München 2005, S. 41–66, hier: S. 49 ff. 3 Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate, ed. E. Garin, Firenze 1942, 104 / 106: »Nec certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam, ut quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea, pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu, nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo. Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari«. 4 Ernst Cassirer: »Über die Würde des Menschen« von Pico della Mirandola, in: Studia Humanitatis 12 (1959), S. 48–61, hier S. 49. Auch Eugenio Garin: Der italienische Humanismus, Bern 1947, S. 126 sieht in der Schöpferkraft des Menschen seine besondere Würde begründet. 2
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Freiheit ist, gehört Picos berühmte These in der Oration in die Tradition der »bedingten Selbstverursachung« oder der »relativen Autonomie«5 Picos Lob der Menschenwürde ist für das Menschenbild der Renaissance von einzigartiger Bedeutung. Es stellt das scholastische Denken auf den Kopf. Picos Worte klingen nicht nur modern, sie sind es, und es ist kein Zufall, wenn diese Rede Picos zu den wenigen Stellen aus der philosophischen Literatur der Renaissance gezählt wird, die wegen ihres existentialistischen Timbres bei modernen Lesern Anklang gefunden haben. Ein Kenner wie P. O. Kristeller, der gewissermaßen nicht glauben wollte, was hier vorgeht, hat jedoch seine Zweifel geäußert, ob Picos Worte »so modern gemeint waren, wie sie klingen«6. Zweifellos sind sie modern. Und doch sind sie nicht neu. Vielmehr verweisen sie auf eine Epoche der Philosophiegeschichte, die sowohl dem allgemeinen Bewußtsein wie auch dem Bewußtsein der meisten Fachkollegen entzogen ist. Der erste Teil der Oratio, der eigentlich allein den Titel »de hominis dignitate« verdient, atmet den Geist der spätantiken Philosophie. Das ist schon daran erkennbar, daß Picos dem Schöpfer in den Mund gelegter Gedanke von der allen Dingen festgelegten »Grenze« und »Natur« und den sie bestimmenden göttlichen Gesetzen die Rezeption eines neuplatonischen Grundgedankens verrät – ohne daß dadurch geleugnet werden soll, daß es auch innerhalb des Neuplatonismus Versuche gegeben hat, etwa durch die Idee eines »changing self« oder der »Annäherung« (Ðmo…wsij) bzw. der »Relation« (scšsij) die scharfen wesenhaften Grenzen aufzuweichen. So hat z. B. auch Hierokles, der Neuplatoniker, die besondere Stellung des Menschen im Kosmos damit begründet, daß er genau in der Mitte desselben angesiedelt ist, ein amphibisches Wesen, das einerseits durch die Hinwendung zum Geistigen und Tugendhaften mit dem Unsterblichen Kontakt hat und so seine ihm eigene Bestimmung finden kann, andererseits aber sich durch die Übertretung göttlicher Gesetze dem Vergänglichen annähern und seine ihm zukommende »Würde« verlieren kann. Wenn der Mensch aber darauf hoffte, ein unsterblicher Gott zu werden oder auch durch seine sittliche Entartung ein unvernünftiges Lebewesen, bzw. eine Pflanze, dann zeigt das nur, daß er, in Unkenntnis um das unveränderliche Wesen der menschlichen Seele, die gottgegebenen »Grenzen der Natur« nicht kennt. Deswegen kann nach Hierokles der Mensch allein nach Maßgabe seiner sittlichen Schlechtigkeit oder Tugend ein Tier oder ein Gott genannt werden, obwohl er keines von beiden seiner Natur nach ist, sondern nur der »Annäherung« oder der »Beziehung« nach7. Im Hintergrund steht die griechisch-christliche Ansicht von der ontologischen Mittelstellung des Menschen oder der menschlichen Seele. Der Mensch ist seiner Natur nach ein Grenzgänger, er lebt auf einer »Grenzscheide« (meqÒrioj). Wenn die Pythagoreer die Seele als eine Art der »Harmonie« verstanden, so haben sie nach der Deutung des Neuplatonismus eben diese Zur Selbstverursachung vgl. u. Anm. 84. Alexander Thumfart: Die Perspektive und die Zeichen. Hermetische Verschlüsselungen bei Giovanni Pico della Mirandola, München 1996, hat die Würde der Selbsterschaffung näher als relative Autonomie zu beschreiben versucht, vgl. S. 384–393. 6 Paul Oskar Kristeller: Eight Italian Philosophers of the Italian Renaissance, Stanford 1964, ins Deutsche übers. von E. Blum, Weinheim 1986, S. 58. 7 Vgl. Hieroclis In Aureum Pythagoreorum Carmen Commentarius, ed. F. W. Koehler, Stuttgart 1974, c.XXIII, 95, 3–97,5 5
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Mittelstellung zwischen Gott und der Materie gemeint8. Diese ontologische Ortung des menschlichen Daseins entspricht durchaus allgemein griechischer Auffassung, wenngleich erst Philo von Alexandrien dem auch terminologisch Ausdruck verleiht. Nach Philo ist der Mensch von sterblicher und unsterblicher Natur, insofern er durch seinen Leib am Sterblichen und durch sein Bewußtsein am Unsterblichen Anteil hat. Er ist ein Grenzgänger zwischen Tugend und moralischer Bosheit9. Ganz ähnlich wird auch im Corpus Hermeticum die Mittelstellung des Menschen zwischen der göttlichen unsterblichen und der veränderlich-sterblichen Sphäre herausgehoben. Die Überzeugung von der besonderen Mittelstellung des Menschen in der Welt ist in der spätantiken Philosophie weitverbreitet, ja geradezu toposhaft belegbar10. Die christliche Anthropologie hat diesen Grundgedanken durchaus aufgenommen und für Jahrhunderte, bis hin zu Kant, festgeschrieben: Der Mensch ist ein Bürger zweier Welten, des mundus sensibilis und des mundus intelligibilis, und stellt zugleich auch das Bindeglied beider Welten dar11.
8 Vgl. Damascius: In Phaedonem 59, 1 ff., ed. L.G. Westerink, in: The Greek Commentaries on Plato’s Phaedo, vol. 2., Amsterdam 1977, S. 53. 9 Philo: De opificio mundi 135, 10, ed. L. Cohn, in: Opera, vol. 1, Berlin 1896 (ND 1962), 47, 8: diÕ kaˆ kur…wj ¥n tij e‡poi tÕn ¥nqrwpon qnhtÁj kaˆ ¢qan£tou fÚsewj enai meqÒrion ˜katšraj Óson ¢nagka‹Òn ™sti metšconta kaˆ gegenÁsqai qnhtÕn Ðmoà kaˆ ¢q£naton, qnhtÕn mn kat¦ tÕ sîma, kat¦ d t¾n di£noian ¢q£naton. (Darum kann man eigentlich sagen, daß der Mensch auf der Grenze steht zwischen der sterblichen und unsterblichen Natur, da er an beiden soviel, wie nötig ist, teilhat, und daß er zugleich sterblich und unsterblich geschaffen ist, sterblich in Bezug auf seinen Körper, unsterblich hinsichtlich seines Geistes.) Philo: De praemiis et poenis 62, 1, ed. L. Cohn, in: Opera, vol. 5, Berlin 1906 (ND 1962), 349, 23: fÚsei ge m¾n p£ntej oƒ ¥nqrwpoi, prˆn teleiwqÁnai tÕn ™n aØto‹j lÒgon, ke…meqa ™n meqor…J kak…aj kaˆ ¢retÁj prÕj mhdšter£ pw talanteÚontej (Denn wir Menschen befinden uns, bevor die Vernunft in uns zur Vollendung gelangt, naturgemäß alle auf der Grenze zwischen Schlechtigkeit und Tugend und neigen uns noch nach keiner Seite.) Philo: De virtutibus 9, 5, ed. L. Cohn, in: Opera, vol. 5, Berlin 1906 (ND 1962), 269, 1: Ð d spouda‹oj Ñligode»j, ¢qan£tou kaˆ qnhtÁj fÚsewj meqÒrioj, tÕ mn ™pidej œcwn di¦ sîma qnhtÒn, tÕ d m¾ poludej di¦ yuc¾n ™fiemšnhn ¢qanas…aj. (Der Weise dagegen braucht wenig, er steht auf der Grenze zwischen unsterblicher und sterblicher Natur, er hat zwar Bedürfnisse wegen seines sterblichen Leibes, er braucht aber nicht viel wegen der Seele, die nach Unsterblichkeit strebt.) 10 Vgl. Plotin: Enn. III 2,8: TÕ d ke‹tai ¥nqrwpoj ™n mšsJ qeîn kaˆ qhr…wn kaˆ ·špei ™p' ¥mfw kaˆ Ðmoioàntai oƒ mn tù ˜tšrJ, oƒ d tù ˜tšrJ, oƒ d metaxÚ e»sin, oƒ pollo…. Simplicius: Commentaire sur le Manuel d’Epictète, ed. I. Hadot, Leiden 1996, 336, 341 ff.: `H d ¢nqrwp…nh yuc¾, mšsh proelqoàsa tîn te ¢eˆ ¥nw menousîn yucîn, di£ te t¾n ™n tÍ yucikÍ oÙs…v ¢krÒthta, kaˆ di¦ t¾n toà noà mšqexin: DÚo tinîn kat¦ tÕ ¢krÒtaton prÕj ¥llhla diesthkÒtwn, mšson ™stˆ tÕ ¢nqrèpinon, tÁj te qe…aj kaˆ ¢swm£tou fÚsewj, kaˆ tÁj ¢lÒgou kaˆ kthnèdouj zwÁj. 11 Vgl. Nemesius: De natura hominis 1, ed. M. Morani, Leipzig 1987, 2, 24: diÕ kaˆ ésper ™n meqor…oij ™stˆn nohtÁj kaˆ a»sqhtÁj oÙs…aj, sunaptÒmenoj kat¦ mn tÕ sîma kaˆ t¦j swmatik¦j dun£meij to‹j ¥lloij zóoij te kaˆ ¢yÚcoij, kat¦ d tÕ logikÕn ta‹j ¢swm£toij oÙs…aij, æj e‡rhtai prÒteron. (Deswegen ist er auch gleichsam auf der Grenzscheide zwischen einer intelligiblen und sinnfälligen Wesenheit, insofern er einerseits durch den Körper und die körperlichen Vermögen mit den übrigen Lebewesen verbunden ist, andererseits aber durch das Vernunftvermögen mit den unkörperlichen Wesen, wie vorher gesagt wurde.) Ebd. 5, 9: ™n meqor…oij oân tÁj ¢lÒgou kaˆ logikÁj fÚsewj Ð ¥nqrwpoj tacqe…j, mit Berufung auf Philo: ebd. S. 6, 6: `Ebra‹oi d tÕn ¥nqrwpon ™x ¢rcÁj oÜte qnhtÕn Ðmologoumšnwj oÜte ¢q£naton
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Deswegen kommt ihm nach der platonisch-christlichen Vorstellung auch der Charakter des »Amphibischen« zu, insofern ihm zugleich die Neigung zur Welt des Körperlichen wie zum Geistigen eignet, insofern er selbst ein Gemisch von Freiheit und Notwendigkeit ist, insofern er teils das Leben »dort«, teil das Leben »hier« lebt, in »Abstieg« und »Aufstieg« unaufhörlich begriffen – ein Wesen, das nicht festgestellt ist12. Unter den christlichen Autoren hat Gregor von Nyssa diese Idee des Platonismus am deutlichsten aufgenommen und sie in typischer Weise akzentuiert. Es ist kein Zweifel möglich: Das menschliche Leben trägt den Stempel der Ambiguität, zwischen Schmutz und Glanz hin und hergeworfen, halb Tier, halb Mensch, zwischen Leben und Tod, beflügelt von großer Hoffnung und zugleich immer nah am Abgrund, ja es ist die menschliche Seele selbst, die nach Gregor, wie ja auch nach Pico, in dieser Weise doppelgesichtig ist, einerseits unkörperlich, geistig und unvermischt, andererseits körperlich, materiell und unvernünftig13, sie ist es, die, auf der Grenzscheide stehend zwischen zwei Welten, durch ihren autonomen Willen die Fahrt in den Tod, in den wirklichen Tod, stoppen und die
gegenÁsqa… fasin ¢ll' ™n meqor…oij ˜katšraj fÚsewj, †na ¨n mn to‹j swmatiko‹j ¢kolouq»sV p£qesi peripšsV kaˆ ta‹j swmatika‹j metabola‹j, ¨n d t¦ tÁj yucÁj protim»sV kal¦ tÁj ¢qanas…aj ¢xiwqÍ. (Die Hebräer behaupten aber übereinstimmend, daß der Mensch von Anfang an weder sterblich noch unsterblich ist, sondern auf der Grenzscheide beider Naturen steht, damit er, wenn er den körperlichen Leidenschaften nachgibt, auch den körperlichen Veränderungen unterliege, wenn er aber das Schöne der Seele vorzieht, die Unsterblichkeit erreiche.) 12 Vgl. Maximus von Tyrus: Dialexeis 13, 8, ed. G. L. Koniaris, Berlin, New York 1995, 166, 137: ¢ll' ésper tîn ¢mfib…wn zówn oƒ Ôrniqej koinwnoàsin toà ™n ¢šri drÒmou to‹j metars…oij, toiaÚthn Ðrù kaˆ tù ¢nqrèpJ t¾n diagwg¾n toà b…ou, ¢mf…bion kaˆ kekramšnhn Ðmoà ™xous…v kaˆ ¢n£gkV: (Aber wie von den amphibischen Lebewesen die Vögel mit den Überirdischen den Flug in der Luft gemeinsam haben, lassen sie eine solche Lebensführung auch beim Menschen erkennen, amphibisch und gemischt zugleich aus Freiheit und Notwendigkeit.) Plotin: Enn. IV 8, 4: G…gnontai oân oŒon ¢mf…bioi ™x ¢n£gkhj tÒn te ™ke‹ b…on tÒn te ™ntaàqa par¦ mšroj bioàsai, ple‹on mn tÕn ™ke‹, a‰ dÚnantai ple‹on tù nù sune‹nai, tÕn d ™nq£de ple‹on, aŒj tÕ ™nant…on À fÚsei À tÚcaij ØpÁrxen. (So hausen denn die Seelen gleichsam in zwei Elementen wie Amphibien, im Wechsel sind sie genötigt bald dort oben, bald hienieden zu leben; die das Vermögen haben zu dauernder Gemeinschaft mit dem Geiste, leben vorwiegend dort oben, hier unten die anderen, denen Anlage oder Geschick jenes verwehrte.) Proclus: In rem publicam, ed. W. Kroll, Bd. II, Leipzig 1901, 85, 22: tÕ d d¾ tr…ton ™pistršfei mn ¹m©j, ¢ll' ™pˆ t¦ prÕ ¹mîn kaˆ t¾n ™pistas…an tîn kreittÒnwn kaˆ t¾n prÒnoian kaˆ t¾n eƒmarmšnhn t¾n e„j ¹m©j kaq»kousan, fÚsin œcontaj ¢mf…bion, ¢nioàs£n te kaˆ katioàsan: (Das Dritte wendet uns um, aber nun zu dem, was vor uns liegt, zu der Herrschaft der Überlegenen (=Götter), zur Vorsehung, zum Schicksal, das bis zu uns herabreicht, die wir eine amphibische Natur besitzen, die aufsteigt und hinabsteigt.) Zur neuplatonischen Lehre vom amphibischen Charakter des Menschen vgl. auch Hierocles In Aureum Pythagoreorum Carmen Commentarius, ed. F. W. Koehler, Stuttgart 1974, 95, 4. 100, 6 und Simplicius: Commentaire sur le Manuel d’Epictète, 336. 13 Gregor von Nyssa: In Cant. Cant., ed. H. Langerbeck, GNO VI, Leiden 1960, 333,13: ¹ ¢nqrwp…nh yuc¾ dÚo fÚsewn oâsa meqÒrioj, ïn ¹ mn ¢sèmatÒj ™sti kaˆ noer¦ kaˆ ¢k»ratoj ¹ d ˜tšra swmatik¾ kaˆ Ølèdhj kaˆ ¥logoj, Vgl. Pico della Mirandola: Oratio, a. a. O., 116: »Hic duplicem naturam in nostris animis sitam, quarum altera sursum tollimur ad caelestia, altera deorsum trudimur ad inferna, …«
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Teilhabe an den hohen Gütern, am Leben erringen kann. Himmel oder Hölle, Auferstehung oder Trennung – das liegt in der Hand des Menschen. Der Mensch, das ist nach dieser patristischen Denkrichtung die verkörperte Unsicherheit, das stets Gefährdete, aber auch der Sprung zum göttlichen Sein. Die einen haben mehr, die anderen haben weniger am Guten Anteil je nach der freien Entscheidung ihres Willens. Die Natur des Menschen, das ist nicht das schlechthin Vorgegebene, sondern das durch den Willen gestaltete14. Die Mittelstellung des Menschen, das ist nach Gregor drückende Faktizi-
Vgl. Gregor von Nyssa: De vita Moysis II, ed. H. Musurillo, GNO VII / 1, Leiden 1964, 53, 10: … ™n oÙqetšrv fÚsei ¢kribîj mšnonta kaˆ ¥nqrwpon mn kat¦ t¾n fÚsin Ônta, ktÁnoj d di¦ tÕ p£qoj ginÒmenon, kaˆ di¦ toàto tÕ ¢mf…bion ™ke‹no kaˆ ™pamfoter…zon tÁj zwÁj eŒdoj ™pideiknÚnta … (… in keiner Natur exakt verbleibend, zwar der Natur nach Mensch seiend, aber viehisch geworden durch die Leidenschaft und deswegen jenen amphibischen und nach beiden Seiten hinneigenden Charakter aufzeigend …) Vgl. auch Gregor von Nyssa: Contra Eunomium I 274, ed. W. Jaeger, GNO I, Leiden 1960, 106, 17 ff. Ebd. III / 1 121, GNO II, 45, 1: oÙkoàn ™pˆ mÒnwn ¢lhqj tÕ toioàtÒn ™stin oŒj meqÒrioj prÕj ¢ret»n te kaˆ kak…an ¹ fÚsij (Solches ist allein bei den Wesen wahr, bei denen die Natur auf der Grenzscheide zur Tugend und zur Schlechtigkeit ist. ) Ebd. III / VI 76, GNO II, 213, 3: oŒj d ¹ fÚsij meqÒrioj, toÚtoij ™pamfoter…zei prÕj ˜k£teron ¹ ·op», kat' ™xous…an to‹j kat¦ gnèmhn prosklinomšnh. (Die Wesen, deren Natur auf der Grenzscheide steht, haben eine Neigung nach beiden Seiten hin, die in Freiheit sich dem dem Willen Unterworfenen zuneigt.) Gregor von Nyssa: De beatitudinibus or. 8, ed. J. F. Callahan, GNO VII / 2, Leiden, New York, Köln 1992, 164, 16: 'Epeid¾ g¦r ™n meqor…J ke‹tai toà ¢gaqoà kaˆ toà ce…ronoj ¹ ¢nqrwp…nh zw¾, ésper Ð tÁj ¢gaqÁj te kaˆ ØyhlÁj ™lp…doj ¢polisq»saj, ™n tù bar£qrJ g…netai: (Da ja das menschliche Leben auf der Grenzscheide liegt zwischen dem Guten und dem Schlechteren, wie auch der, der vom Weg der guten und erhabenen Hoffnung abgeglitten ist, in den Abgrund gelangt.) Gregor von Nyssa: Oratio catechetica, ed. E. Mühlenberg, GNO III / 4, Leiden, New York, Köln 1996, 49, 10: tÕ dialuqÁnai mn tù qan£tJ toà sèmatoj t¾n yuc¾n kat¦ t¾n ¢nagka…an tÁj fÚsewj ¢kolouq…an m¾ kwlàsai, e„j ¥llhla d p£lin ™panagage‹n di¦ tÁj ¢nast£sewj, æj ¨n aÙtÕj gšnoito meqÒrion ¢mfotšrwn, qan£tou te kaˆ zwÁj, ™n ˜autù mn st»saj diairoumšnhn tù qan£tJ t¾n fÚsin, aÙtÕj d genÒmenoj ¢rc¾ tÁj tîn diVrhmšnwn ˜nèsewj. (Wenn Gott den Tod nicht daran gehindert hat, Leib und Seele nach dem unvermeidlichen Gesetz der Natur zu trennen, so hat er doch den einen und die andere durch die Auferstehung wieder miteinander verbunden, um selbst der Grenzpunkt der Begegnung beider, des Todes und des Lebens, zu sein, indem er einerseits in sich selbst die todesbedingte Zersetzung der Natur zum Stillstand brachte, andererseits aber selbst zum Prinzip der Vereinigung der getrennten (Bestandteile) wurde.) Gregor von Nyssa: De virginitate, ed. J. P. Cavarnos, GNO VIII 1, Leiden 1963, 306, 5: kaˆ ésper ti meqÒrion qan£tou kaˆ zwÁj ˜autoÝj st»santej ™pšscon aÙtÕn tÁj ™pˆ prÒsw for©j. Gregor von Nyssa: In Cant. Cant., or. XI, GNO VI, S. 333, 13: ¹ ¢nqrwp…nh yuc¾ dÚo fÚsewn oâsa meqÒrioj, ïn ¹ mn ¢sèmatÒj ™sti kaˆ noer¦ kaˆ ¢k»ratoj ¹ d ˜tšra swmatik¾ kaˆ Ølèdhj kaˆ ¥logoj, ™peid¦n t£cista tÁj prÕj tÕn pacÚn te kaˆ geèdh b…on scšsewj ™kkaqarqe‹sa di' ¢retÁj ¢nablšyV prÕj tÕ suggenj kaˆ qeiÒteron, oÙ paÚetai diereunwmšnh kaˆ ¢nazhtoàsa t¾n tîn Ôntwn ¢rc»n, t…j ¹ toà k£llouj tîn Ôntwn phg», pÒqen brÚei ¹ dÚnamij, t… tÕ phg£zon t¾n ™mfainomšnhn to‹j oâsi sof…an. (Die menschliche Seele ist doch Grenzscheide zweier Naturen, von denen die eine leiblos, verständig und lauter ist, die andere aber körperlich, materiell und unvernünftig. Sobald sie (sc. die Seele) nun schnellstmöglich gereinigt ist von der Neigung zum groben und irdischen Leben und mit Hilfe der Tugend zu dem aufblickt, was ihr verwandt und göttlicher ist, hört sie nicht auf, den Ursprung des 14
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tät, aber auch eine einmalige Ausgangsstellung, die sie Gott, Engeln und Tieren voraus hat. Von hier aus kann er sich den höheren Wesen angleichen, aber auch sich zum Tier erniedrigen. Größe und Elend, das ist hier ganz nah beieinander. Mit anderen Worten: Der Mensch, das ist jenes Wesen, das in der Lage ist, nach beiden Seiten sich zu wenden und so eine Veränderung seiner selbst bewirken zu können (™pamfoter…zein)15. Diese neuplatonisch-christliche Lehre von der ontologischen Mittelstellung des Menschen im Gesamten des Kosmos ist der allgemeine Hintergrund der These Picos. Von ihr hat E. Cassirer mit Recht gesagt: »Aber diese Ungewißheit, diese ständige Gefährdung des menschlichen Daseins – nicht im physischen, sondern im sittlichen und religiösen Sinne – macht nach Pico zugleich seine eigentliche Größe aus«16. Was darüber hinaus die Präsenz der spätantiken Philosophie, besonders in ihrer neuplatonisch-christlichen Form, in der Oratio Picos deutlich anzeigt, ist die wissenschaftstheoretische Struktur, die ihr zugrunde liegt. Indem die Oratio die Würde des Menschseins thematisiert, d. h. den möglichen Prozeß vom tierischen Zustand bis zur Vergöttlichung, folgt sie der ursprünglich stoischen Einteilung der Philosophie in die Ethik, Physik und Logik, an deren letztere Stelle die christliche Philosophie die Theologie gestellt hat. Pico hat daneben auch die Logik in der Gestalt der Dialektik aufgenommen und ihre Aufgaben so verteilt: Durch die Moralwissenschaft werden die Leidenschaften, das Tierische im Menschen gezügelt, die Dialektik reinigt von Unwissenheit und Lastern, die geläuterte Seele kann sich dann vom Licht der Naturphilosophie durchfluten lassen, ehe sie ihre Vervollkommnung durch die Erkenntnis der göttlichen Dinge erfährt17. Schaut man genauer hin, so entdeckt man, daß diese Disziplinenaufteilung im Lichte der christlichen Philosophie gesehen wird. Nicht nur deswegen, weil Pico offensichtlich die Naturphilosophie im Sinne der platonischen Timaiosexegese und Hand in Hand damit auch des Buches Genesis, d. h. der Hexaemeron-Tradition versteht18. Vor allem wird auch die Theologie im Sinne der christlichen Philosophie charakterisiert. Denn sie bewirkt die Einheit im Geiste, in »einsamer Dunkelheit«19. Auch außerhalb der Oratio
Seienden auszuforschen und danach zu suchen, wer die Quelle der Schönheit des Seienden ist, woher die Kraft strömt und welches (Prinzip) die Weisheit, die sich im Seienden zeigt, hervorfließen läßt.) 15 Jean Daniélou hat das Thema der Mittelstellung des Menschen bei Gregor geradezu erschöpfend behandelt in dem Artikel Frontière, in: ders.: L’Être et le Temps chez Grégoire de Nysse, Leiden 1970, S. 116–132, in dem auch neuplatonische Parallelen aufgewiesen werden. Zum neuplatonischen Hintergrund des Begriffs ™pamfoter…zein vgl. seinen Aufsatz Grégoire de Nysse et le Néo-Platonisme de l’école d’Athènes, in: REG 80 (1967), S. 395–401. 16 Cassirer: a. a. O., S. 55. 17 Pico della Mirandola: Oratio, a. a. O., 112 / 114: »ergo et nos cherubicam in terris vitam aemulantes, per moralem scientiam affectuum impetus coercentes, per dialecticam rationis caliginem discutientes, quasi ignorantiae et vitiorum eluentes sordes animam purgemus, ne aut affectus temere debacchentur aut ratio imprudens quandoque deliret. Tum bene compositam ad expiatam animam naturalis philosophiae lumine perfundamus, ut postremo divinarum rerum eam cognitione perficiamus.« 18 Ebd., 104. 19 Keßler: Menschenwürde in der Renaissance, a. a. O., S. 62 sieht in diesem Begriff den Beleg für den Einfluß der »christlichen Mystik« auf Pico, wobei die Mystik selbst schon auf den griechischen Begriff des »gnofoj« bei Gregor von Nyssa, bzw. Ps. Dionysius Areopagita zurückgreifen konnte. Aller-
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charakterisiert Pico die Theologie, d. h. die Metaphysik als jene Disziplin, die nicht nur die »menschliche Würde« bewahrt, sondern auch die Wiedergeburt des »himmlischen Menschen« bewirkt20. Sie ist keine bloße Harmonie, sondern ein auf unaussprechliche Weise Eines. Gleichwohl ist es keine differenzlose Einheit, die so hergestellt wird, sondern die Einheit von Braut und Bräutigam. Es kann keinen Zweifel geben: Die Theologie, die Metaphysik, von der Pico in der Oratio spricht, ist die Metaphysik des Hohenliedes, die Origenes begründet hat und die durch so berühmte Autoren wie Gregor von Nyssa, Ambrosius u. a. bis ins hohe Mittelalter fortgeführt wurde. Als äußeren Hinweis auf diese christliche Vätertradition kann man die Begriffe der »Selbstvergessenheit« und des »mystischen Todes« ansehen, die die christliche Variante der platonischen meditatio mortis darstellen und bis zu den Viktorinern im 12. Jahrhundert die eigentlich metaphysische Tätigkeit bezeichnen21. Deswegen verwundert es auch nicht, daß Pico sich wenig später in der Oratio, genau wie Origenes und Gregor in ihren Hoheliedkommentaren, auf die aus der Mysteriensprache bekannte »Epopteia« beruft, die Clemens von Alexandrien ausdrücklich mit der »Metaphysik« identifiziert hatte22. Es gehört zum Kennzeichen dieser neuen Metaphysiktradition, daß in ihr – im Unterschied zur aristotelischen – die Selbstverwandlung und Umgestaltung des erkennenden Subjekts in den Vordergrund rückt, die durch Begriffe wie die Selbsttranszendierung, die Ekstase, den excessus mentis, die Trunkenheit u. ä. angedeutet wird. Pico spielt auch auf diesen Grundgedanken der Hohelied-Metaphysik an – der sich durchaus mit der sokratischen Mania im platonischen Phaidros (wo der Begriff des »Epoptischen« erstmals belegbar ist) verträgt –, indem er sagt, daß wir durch die Liebe außer uns versetzt
dings könnte der Ausdruck auch als die Rezeption jenes Topos verstanden werden, nach dem Moses »einsam« im Dunkel Gott dem »Einsamen« begegnete. Vgl. schon Origenes: C.Cels. II 55. VI 17; Gregor von Nazianz: De virtute (carmen morale 10), PG 37, 716,8. 20 Vgl. Ioannis Pico Mirandulae Expositiones in Psalmos, ed. A. Raspanti, Firenze 1997, 164: »Tum vero id maxime facit theologica scientia ad maiora nos provehens et non solum ad id cohortans ut integram retineamus humanam dignitatem neve ab homine degeneremur in brutum, sed ut sancta aemulatione divinarum mentium, quarum illa nobis naturam demonstrat, ex terrenis hominibus in coelestes homines regeneremur.« 21 Pico della Mirandola: Oratio, a. a. O., 120: »Quo tanto hospite si se dignam praestiterit, … non ut hospitem iam, sed ut sponsum excipiet, … immo se ipsam oblita, in se ipsa cupiet mori ut vivat in sponso, … mors, inquam, illa, si dici mors debet plenitudo vitae, cuius meditationem esse studium philosophiae dixerunt sapientes.« Auch in Picos Erstlingswerk, dem Commento III 4, übers., mit einer Einleitung und Anm. hg. v. Th. Bürklin, Hamburg 2002, S. 138–146, ist vom mystischen Tod die Rede, der einerseits durch die typisch neuplatonische Unterscheidung zwischen der Trennung der Seele vom Leib und der Trennung des Leibes von der Seele angedeutet, andererseits aber durch den in der Hohelied-Tradition üblich gewordenen Begriff des »mystischen Kusses« in christlicher Perspektive gesehen wird. Vgl. dazu vom Verf.: Freiheit und Tod. Die Tradition der »mors mystica« und ihre Vollendung in Hegels Philosophie, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984), S. 185–203; Der Tod. Elemente einer Begriffsgeschichte, in: G. Binder / B. Effe (Hg.): Tod und Jenseits im Altertum (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 6), Trier 1991, S. 167–179, und das demnächst erscheinende Buch Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität. 22 Pico della Mirandola: Oratio, a. a. O., 122.
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werden, so daß wir nicht mehr wir selbst, sondern der sein werden, der uns geschaffen hat23. Kurzum: Die Theologie, von der Pico in der Oratio spricht, ist die Metaphysik der christlichen Philosophie, die keine abstrakte Seinslehre ist, sondern der Vollzug der Vereinigung der Seele mit Gott.
2. Pico und die Kirchenväter: Natur und Freiheit Nun besagt die Hauptthese Picos in seiner Oratio noch mehr als nur die Mittelstellung des Menschen im Kosmos. Ihre Spitze besteht darin, daß der Mensch als einziges Wesen keine festgelegte Natur hat, sondern sie sich erst durch Freiheit bestimmt. Die besondere Würde des Menschen besteht darin, daß seine Freiheit nicht von einem Wesen abhängig ist, sondern umgekehrt die Freiheit das Wesen bestimmt. Genau diese These Picos, die mit Recht für revolutionär gehalten wird, denn sie stellt die scholastische Lehre auf den Kopf, geht ebenfalls auf die spätantike Philosophie zurück, und um es präziser zuzuspitzen: auf die christliche Philosophie – das ist die These, die es plausibel zu machen gilt. Was mit christlicher Philosophie gemeint ist, kann leicht gesagt werden. Der Begriff der christlichen Philosophie, der seit dem 4. Jahrhundert gebräuchlich ist, bezeichnet jenes Denken, das sich durch Schriftauslegung, religiöse Bräuche und Lehrsätze eine bestimmte eigene Gestalt gegenüber dem Judentum oder dem hellenistischen Denken gegeben hat. Eusebius hat Origenes den ersten der christlichen Philosophen genannt, dem im 4. Jahrhundert so berühmte Figuren wie Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus, später auch Theodorus von Kyrene, auf lateinischer Seite Laktanz oder Augustinus – um nur die wichtigsten zu nennen – an der Seite stehen. Origenes ist nun auch in unserem Zusammenhang eine der zentralen Figuren, die der christlichen Freiheitslehre ein neues Gesicht gegeben haben. Pico hat seine Werke wie die anderer Väter gut gekannt. Den umfangreichsten Teil seiner Bibliothek machten, wie man weiß, die Schriften der Väter aus24. Pico hat sogar einen großen Teil seiner Apologie unter dem Titel »Disputatio de salute Origenis« dem kirchlich Verfemten gewidmet, und man hat mit Recht gemutmaßt, daß die Verteidigung des Origenes in Wirklichkeit eine Selbstverteidigung Picos ist25. In der Tat steht und fällt das Herzstück der philosophischen Lehre Picos mit dem Urteil über den »Führer der christlichen Philosophie«, wie ihn Eusebius schon nannte. »Origenes, der Stählerne«, so heißt es einmal
Ebd.: » … Socraticis furoribus, qui extra mentem ita nos ponant, ut mentem nostram et nos ponant in Deo.« Ebd., 124 : » … et ineffabili demum caritate, … quasi Saraphini ardentes extra nos positi, numine pleni, iam non ipsi nos, sed ille erimus ipse qui fecit nos.« 24 Vgl. Eugenio Garin: Giovanni Pico della Mirandola. Vita e dottrina, Firenze 1937, S. 109. 25 Ebd., S. 141. Zur »Disputatio« und zur Bedeutung des Origenes für Pico vgl. auch das informative Kapitel bei Max Schär: Das Nachleben des Origenes im Zeitalter des Humanismus, Basel, Stuttgart 1979, S. 126–143. 23
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bei Pico, »ist in der Philosophie wie in allen Disziplinen der Hervorragendste«26. Und an anderer Stelle über ihn: »Wo er gut ist, ist niemand besser«. Damit muß Pico auch und besonders die Freiheitslehre des Alexandriners und der ihm Folgenden gemeint haben, denn die ist das philosophisch Epochemachende bei den griechischen Kirchenvätern. Merkwürdig ist, daß der intensiven Picoforschung, die die Bedeutung des Origenes (und der Patristik überhaupt) für Pico längst erkannt hat, dieser Zusammenhang zwischen dem Zentrum der Oratio und der Freiheitsphilosophie der griechischen Kirchenväter bisher verborgen blieb27. So sehen sowohl E. Garin wie auch E. Monnerjahn in Picos Bestimmung des Wesens der menschlichen Freiheit die eigentlich neue und eigenständige Leistung, die über alle traditionellen Begriffe gleich welcher Art hinauszugeht und eine »moderne Schau des Menschen« bietet28. Daß es eine moderne Ansicht vom Menschen ist, die Pico vertritt, soll gar nicht bestritten werden, aber sie ist nicht wirklich neu, sondern ein patristischer Topos, der bis ins 20. Jahrhundert wirkt. Origenes war es, der dem Thema der Freiheit innerhalb der antiken Philosophie einen neuen Standort gegeben hat. Während nämlich die Freiheit in allen vier antiken Philosophenschulen ein Randproblem blieb, ist sie bei Origenes die Angel, um die sich das christliche Denken dreht. Das Problem der Freiheit steht hier erstmals im Zentrum eines Denkens, von wo aus über Gott, den Menschen und die Welt philosophiert wird. Das Neue dieser neuen Freiheitsphilosophie in der Antike ist auch terminologisch sichtbar geworden. Gegenüber den Gnostikern, die alles auf festumrissene Naturen oder Wesen zurückführen, hat Origenes die Welt der Freiheit, d. h. des Willens geltend gemacht. Der eingerichteten Welt der unveränderlichen hypostaseis steht die veränderbare Welt der prohairesis gegenüber. Oft gebraucht Origenes für die hypostasis auch den Begriff des Wesens oder der Natur. Das Wesens- oder Naturmäßige ist das von dem Vernunftwesen schon vorgefundene Sein, das Willensmäßige dagegen ist das, was das Vernunftwesen aus sich selbst macht. Es hat, wie Origenes sagt, die durch seine Freiheit gemachte Natur29. In diesem Sinne kann er auch das, was aufgrund seiner »Konstitution« (kataskeu») ist, wie es ist, von dem unterscheiden, was »aufgrund einer Veränderung und der eigenen Entscheidung so geworden ist und, mit einem Neologismus ausgedrückt, seine Natur geworden
Pico della Mirandola: Disputationes adversus Astrologiam Divinatricem I, ed. E. Garin, Firenze 1946, S. 54. 27 Zur Bedeutung des Origenes und der Patristik für Pico vgl. vor allem Engelbert Monnerjahn: Giovanni Pico della Mirandola. Ein Beitrag zur Philosophischen Theologie des Italienischen Humanismus, Wiesbaden 1960, S. 185–190, wo viele einzelne Parallelen zwischen den beiden Autoren aufgewiesen werden, darunter auch diejenige, die besagt, daß dem Menschen »alle Möglichkeiten offenstehen: er kann Pflanze, Tier und Engel werden« (S. 186). Eugenio Garin hat dieser Abhängigkeit sogar einen eigenen Aufsatz gewidmet: La »Dignitas hominis« e la letteratura patristica, in: La Rinascita I / 4 (Firenze 1938), S. 102–146, ohne jedoch die entscheidende Gemeinsamkeit Picos mit der Patristik wahrzunehmen, nämlich die ontologische Prävalenz der Freiheit vor dem Wesen. 28 Vgl. Eugenio Garin: Dal Medioevo al Rinascimento, Firenze 1950, S. 38 ff., S. 76 ff.; Monnerjahn: Giovanni Pico della Mirandola, a. a. O., S. 173 f. 29 Vgl. Origenes: RomCom VIII 11: PG 14,1194 C. 26
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ist«30. Gemeint ist hier offenkundig die zweite Natur, die ja in der Tat als eine durch den Willen konstituierte Natur gedacht werden muß. Hier ist die These erkennbar, die das Herzstück der Freiheitsphilosophie des Origenes ausmacht und kritisch das gesamte griechische Denken trifft, sofern es einseitig am Wesensbegriff orientiert ist: Die Freiheit ist nicht von einem Wesen abhängig, sondern sie bestimmt das Wesen selbst. J. Daniélou hat mit Recht gesagt: »Pour lui, c’est la liberté qui détermine l’essence, et je n’ai pas besoin de signaler combien cette théorie est moderne«31. Deswegen ist es nicht denkbar, daß die Vernunftwesen als verschiedene erschaffen wurden. Vielmehr hatte alles vernunfthafte ursprünglich »eine Natur«, nämlich die Freiheit selbst. Damit aber hatte es die Ursache für die Einordnung »in diesen oder jenen Rang des Lebens« in sich selbst32. Die Verschiedenheit im Reich der Vernunftwesen beruht daher nicht auf dem Willen des Schöpfers, sondern auf der Freiheit dieser Wesen selbst. Die Ordnung innerhalb der geistigen Welt ist durch die Bewegung des Willens der Vernunftwesen selbst hergestellt, sei es durch »Nachlässigkeit«, sei es durch »sittlichen Fortschritt«. Hier gibt es nichts Verharrendes im Sinne des vorgegebenen Wesenhaften. Denn das Reich des geschaffenen Willens ist das Reich des Veränderlichen und Beweglichen, in dem der Erzengel zum Teufel, der Mensch zum Dämon, aber auch der Teufel zum Engel werden kann. Gleichwohl kann auf diese Weise, d. h. durch die eigene Willensbewegung, ein Zustand erreicht werden, der einer »Natur« oder einem »Wesen« durchaus ähnlich ist33. Origenes hat diese durch Freiheit konstituierte Natur offenbar im Sinne der »zweiten Natur« begriffen, nämlich als ein durch Gewohnheit Verfestigtes34. Doch kann ein solcher Zustand auch wieder verändert werden, sei es durch Reue und Vergebung, sei es durch Laster, so daß »Engel zu Menschen und Dämonen und umgekehrt aus Dämonen Menschen oder Engel werden« können (De princ. I 7,5). Ein solches schrankenloses Reich der Freiheit ist naturtheoretisch, d. h. im Sinne der Position der Manichäer nicht erklärbar. Auch der Leib stellt nicht eine solche Schranke dar. Auch die körperliche Existenz ist Resultat und Ausdruck einer entsprechenden Willensbewegung. Die Wesen haben den Leib, den sie »verdienen« (De princ. III 6,4). So muß auch der Mensch mit seinem Leib als eine Erscheinung der Freiheit angesehen werden. Da aber die Freiheit ihrer formalen Bestimmung nach das Bewußtsein von Gut und Böse ist, kann sie, solange von Freiheit noch gesprochen werden soll, diesen sittlichen Charakter niemals verlieren. Deswegen muß nach Origenes die alte, wörtlich verstandene Lehre von der Seelenwanderung in Tierkörper abgelehnt werden. Platon hat, wo er so zu sprechen scheint, nur Bilder
Origenes: JoCom XX 21, ed. E. Preuschen, GCS X, Leipzig 1903, 353, 23 ff. Vgl. auch C.Cels. III 69, ed. M. Borret, Bd. 2, SC 136, Paris 1968. 31 Jean Daniélou: Origène, Paris 1948, S. 204. 32 Origenes: Princ. III 5,4, ed. H. Görgemanns / H. Karpp, Darmstadt 1976; RomCom VIII 11: PG 14,1191 B / C. 33 Origenes: In Matth. 22,1–14, ed. E. Benz / E. Klostermann, GCS 40, Leipzig 1935, 642,6 f.; 22,15–22 (GCS 40, 659). 34 Origenes: De princ. I 6,3, ed. H. Görgemanns / H. Karpp, Darmstadt 1976, 226. 30
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gebraucht, um zu sagen, daß der Mensch aus Freiheit zu einem tierischen Menschen werden kann. »Es gibt viele Menschen, die keine Menschen sind, sondern Tiere, so daß es deswegen den Menschen Schlange, den Menschen Wolf gibt, der Israelite aber ist ›Mensch Mensch‹«35. Der »Mensch Mensch« ist der wahre Mensch, der göttliche. Es ist kein Zufall, sondern symptomatisch, daß dieser origeneische Begriff des »Menschen Menschen« in der Renaissancezeit als Leitbegriff aufgenommen worden ist36. Die Vertierung des Menschen besagt, daß der Wille die Macht über sich selbst verliert, so daß er im sittlichen Elend versinkt. Denn es ist die Eigenart der Tiere, »aus bloßer Natur« oder »aufgrund der Konstitution« zu handeln (C. Cels. IV 86). Origenes lehnt die wörtlich verstandene Seelenwanderungslehre auch gegenüber Kelsos ab – der in »vielen Dingen platonisieren will« – , weil hier die Vertierung der Seele als eine wesenhafte Veränderung nach Art eines Dinges gedacht und so die Eigenart der Willensbewegung nicht erkannt wird37. Die origeneische Lehre von der Vertierung der Seele erscheint so als eine kritische Uminterpretation der platonischen Theorie, die sich notwendig aus der Freiheitslehre ergibt. Sie hat Schule gemacht. Porphyrios hat sie aufgenommen und an den späteren Neuplatonismus weitergegeben, wo sie freilich nicht kritiklos übernommen wurde38. Es wäre ganz falsch, diese Freiheitstheorie des Origenes als eine einseitige Außenseiterposition abzutun. Vielmehr ist der Grundgedanke im 4. Jahrhundert breit aufgenommen worden. Dem origeneischen Grundgedanken von der das Wesen bestimmenden Freiheit hat auf unnachahmliche Weise Gregor von Nyssa Ausdruck verliehen, wenn er sagt: »Und wir sind gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns selbst als die hervorbringen, die wir sein wollen, und durch unseren Willen uns nach dem Modell bilden, welches wir wollen«39. Man könnte in der Tat meinen – wie das J. Gaith in seiner bedeutenden Interpretation der Freiheitslehre Gregors ausgedrückt hat –, den Sartre der christlichen Antike zu hören. Es entbehrt nicht einer gewissen Kuriosität, wenn E. Garin zur Erläuterung der Picoschen These den Satz wählt »Der Mensch ist Vater seiner selbst«, also fast wörtlich Gregor von Nyssa, die Herkunftswelt Picos, zitiert, ohne doch den strengen historischen Zusammenhang zwischen der Hauptthese der Oratio und der Freiheitslehre der griechischen Kirchenväter zu durchschauen40. Selbst wenn man die Sartresche These in ihrer Radikalität bei Gregor nicht vorweggenommen sehen wollte, müßte man doch immerhin konstatieren, daß hier, im Zusammenhang der christlichen Philosophie, und zwar genauer: der Origenes folgenden Philosophie der griechischen Väter, erstmals das Bewußtsein von der Eigenständigkeit des Willens sogar gegenüber Origenes: Sel.in Ezech. 14,4, ed. W. A. Baehrens, GCS XXXIII, Leipzig 1925, 356. Vgl. etwa Carolus Bovillus: Liber de Sapiente, ed. R. Klibansky, im Anhang zu E. Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 302 und die cap. XXXI und XXXII. 37 Origenes: In Matth. 11,17, GCS XL, 64,20 ff. Vgl. C.Cels. IV 83. 38 Vgl. Heinrich Dörrie: Kontroversen um die Seelenwanderungslehren im kaiserzeitlichen Platonismus, in: Hermes 85 (1957), S. 422 ff. 39 Gregor von Nyssa: De vita Moysis II, GNO VII, I, 34, 11 ff. u. 56, 25 ff.; vgl. auch In Ecclesiasten 6, ed. P. Alexander, GNO V, Leiden 1962, S. 318. 40 Vgl. Eugenio Garin: Der Italienische Humanismus, Bern 1947, S. 124. 35 36
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der Natur oder dem Wesen aufkommt41. Wille bzw. Freiheit, das sind wir eigentlich, so will uns Gregor sagen. Oder, wie G. dal Toso mit interpretatorischer Anschmiegsamkeit an die Texte Gregors das ausdrückt: »La proa…resij decide chi siamo«42. Aber nicht nur bei den Kappadoziern ist der Grundgedanke von der das Wesen bestimmenden Freiheit aufgenommen worden, sondern auch bei antiochenischen Kirchenschriftstellern, wie besonders bei Johannes Chrysostomus. Wie es bei Origenes im Reich der Vernunftwesen ursprünglich keine Verschiedenheit gibt, so ist nach Chrysostomus auch die Seele von einer anderen, insofern sie Seele ist, nicht unterschieden. Erst der Wille bringt die Unterschiedlichkeit ins Seelenreich43. Der Wille, d. h. die Freiheit ist beim Menschen das Entscheidende. Er tritt gewissermaßen an die Stelle der Natur. Mag so der Wolf von Natur aus wild sein und nie zahm werden und die Naturgesetze in ihm unerschütterlich wirksam sein, so ist »das in mir nicht von Natur aus, sondern sowohl wild wie auch zahm werde ich, wenn ich es will. Denn ich bin nicht durch die Natur gebunden, sondern mir ist die Ehre der Freiheit des Willens zuteil geworden«44. Da es der Wille ist oder das Moralische, was den Unterschied ausmacht, kann Chrysostomus auch sagen, daß »wir Engel schaffen können, zwar nicht der Natur nach, aber dem Willen nach«45. Auf diese Weise wird hier erstmals die Priorität der Freiheit vor der Natur bzw. dem Wesen zur Geltung gebracht. Johannes Chrysostomus hat sie auf den Punkt gebracht, indem er sagt, daß die Freiheit das Wichtigere ist gegenüber dem Wesen, denn der Mensch ist mehr Freiheit als Wesen, d. h. Natur46. Natur und Freiheit treten hier erst-
Dies soll betont werden gegenüber Albrecht Dihle, der in seinem Buch Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, im Kapitel über Gregor von Nyssa sagt (S. 134): »Der Wille als eigenständiger Faktor fehlt«. Auch bei Igor Pochoshajew: Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa, Erörterungen des Verhältnisses von Platonismus und Christentum am Gegenstand der menschlichen Seele bei Gregor von Nyssa, Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 183 ff. kommt die philosophiegeschichtliche Bedeutung der Prohairesislehre Gregors nicht zu Bewußtsein, weil die Rolle des Origenes nicht mitbedacht wird. 42 Giampetro dal Toso: La Nozione di ›proairesis‹ in Gregorio di Nissa, Frankfurt/M. 1998, S. 257, vgl. auch S. 124–125. Im übrigen ist dal Tosos eine der eindringlichsten und sorgfältigsten Arbeiten zum Freiheitsbegriff Gregors, die den dynamischen Charakter der Prohairesis herausstellt. 43 Johannes Chrysostomus: Epist. I ad Cor. Hom. XIII 3, PG 61,100; In Chanan. Et in Pharaon. 3, PG 59,660. 44 Johannes Chrysostomus: De Lazaro PG 48, 1042: Ð lÚkoj oÙdšpote dÚnatai genšsqai ¼meroj, fÚsei g¦r œcei tÕ ¥grion. OÙ lÚontai oân oƒ nÒmoi tÁj fÚsewj, oÙd saleÚontai, ¢ll¦ mšnousin ¢k…nhtoi. 'Epˆ ™moà toàto oÙk œni, ¢ll¦ kaˆ ¥grioj g…nomai Ótan boÚlwmai, kaˆ ¼meroj Ótan qšlw: oÙ g¦r fÚsei dšdemai, ¢ll' ™leuqer…v proairšsewj tet…mhmai. 45 Johannes Chrysostomus: In Acta apostolorum, PG 60,238: “Olwj d ¹ ¢ret¾ ¢ggšlouj poie‹: taÚthj d ¹me‹j kÚrioi: ¥ra ¢ggšlouj dun£meqa dhmiourge‹n, k¨n m¾ tÍ fÚsei, ¢ll¦ tÍ proairšsei. 46 Vgl. Johannes Chrysostomus: In epist. ad Colossenses 3, 8, PG 62, 352: TÁj g¦r oÙs…aj ¹ proa…resij kuriwtšra, kaˆ toàto m©llon ¥nqrwpoj, À ™ke‹no. OÙ g¦r ¹ oÙs…a ™mb£llei e„j gšennan, oÙde e„j basile…an e„s£gei, ¢ll' aÙt¾ ¹ proa…resij, kaˆ oÙdšna oÜte filoàmen, oÜte misoàmen Î ¥nqrwpoj, ¢ll' Î toiÒsde ¥nqrwpoj. (Denn die Freiheit ist wichtiger als das Wesen, und der Mensch ist dies mehr als jenes. Denn nicht das Wesen bringt jemanden in die Hölle und auch nicht zur Königsherrschaft, sondern die Freiheit selbst, und niemanden lieben oder hassen wir, insofern er Mensch, sondern insofern er ein solcher Mensch ist.) 41
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mals in einen unüberbrückbaren Gegensatz zueinander. In diesem Sinne ist z. B. auch der Teufel eher die Bezeichnung eines Willens als eines Wesens47. Diese Gegenüberstellung hatte in den allermeisten Fällen eine antimanichäische Stoßrichtung. Denn die Manichäer sind die Theoretiker der festen Naturen, der vorgegebenen »Konstitution« (kataskeu»), der dinghaften Prinzipien. Was aber so im intellektuellen Kampf gegen die Manichäer erstmals errungen wurde, das ist im europäischen Denken immer wieder bis ins 21. Jahrhundert aufgenommen worden. Die Neuzeit verdankt diesen Topos der Vermittlung des Giovanni Pico della Mirandola, dessen Lehre auf der Unterscheidung von Natur und Freiheit beruht48.
3. Schopenhauer und Schelling: Wesen und Wille Die Selbsterschaffung des Menschen ist, wie wir gesehen haben, das Thema der christlichen Metaphysik, in der die Frage nach dem Sein oder Wesen der Frage nach der Freiheit untergeordnet wird, und zwar sowohl bei den Kirchenvätern wie bei Pico della Mirandola. Dieses Thema wird auch in einer neuzeitlichen Metaphysik idealistischer Prägung aufgenommen, nach der der Mensch notwendigerweise als der Schöpfer seiner selbst gedacht werden muß: in der Metaphysik A. Schopenhauers. Schopenhauer sieht seine Metaphysik als das Ende einer Entwicklung, die mit Descartes begann. Die »Revolution der philosophischen Methode ist eben das größte Verdienst des Cartesius«, denn durch Descartes wurde die analytische Methode in die Metaphysik eingeführt, die nichts anderes ist als »Zurückführen des Gegebenen auf ein zugestandenes Prinzip«49. In diesem Sinne ist es das Ziel der Schopenhauerschen Metaphysik, das Selbstbewußtsein und die Vorstellung überhaupt, die Descartes noch glaubte als das Einzige wirklich und unbedingt Gegebene« aufweisen zu können, in ihrer Abhängigkeit vom Willen zum Leben offenbar zu machen. Deswegen ist dieser Wille das wahrhaft »Erste und Unbedingte, die Prämisse aller Prämissen«, das, was sich von selbst versteht, das unmittelbar Erfahrbare, das wahrhaft erste selbstevidente Prinzip50. Das Wesen des Willens wird
Vgl. Johannes Chrysostomus: De Anna, sermo 1, 3, PG 54, 636: OÙc ¡plîj ¹m‹n taàta e‡rhtai, ¢ll' †na m£qVj, Óti proa…resij fÚsewj dunatwtšra, kaˆ aÛth m©llon ™ke…nhj kaˆ uƒoÝj kaˆ patšraj poie‹n e‡wqe. (Nicht schlechthin wird uns dies gesagt, sondern damit du verstehst, daß die Freiheit mächtiger ist als die Natur und diese mehr als jene normalerweise Söhne und Väter hervorbringt.) Zur Bedeutung der Freiheitslehre des Origenes und ihren Folgen vgl. Theo Kobusch: Die philosophische Bedeutung des Kirchenvaters Origenes, in: Theologische Quartalsschrift 165 (1985), S. 94–105; ders.: Origenes, der Initiator der christlichen Philosophie, in: W. Geerlings / H. König (Hg.): Origenes. Vir ecclesiasticus, Bonn 1995, S. 27–44. 47 Didymus: Contra Manichaeos, PG 39, 1097: TÕ g¦r di£boloj Ônoma, oÙk oÙs…an, ¢ll¦ proairesin dhlo‹. 48 Vgl. Cassirer: »Über die Würde des Menschen«, a. a. O., S. 57. 49 Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß [= HN], Bd. II, hg. von A. Hübscher, Frankfurt/M. 1967, S. 522. 50 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [=W] II, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden. Der Text folgt der hist.-krit. Ausg. v. A. Hübscher. Die editorischen Materialien besorg-
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jedoch erst in der Metaphysik der Sitten deutlich erkennbar. Denn die Metaphysik der Sitten geht nach Schopenhauer aus der Untersuchung der »unmittelbaren Manifestation in unserem Innern« hervor51. Im Unterschied sowohl zur Ethik der aristotelischen Tradition, wo sie als praktische Philosophie angesehen wird, als auch zur Kantischen Moralphilosophie, die vom Sollen redet, begreift Schopenhauer seine Untersuchung über den menschlichen Willen als eine Form theoretischer Philosophie. Deswegen nennt er sie auch lieber Metaphysik der Sitten als Ethik52. Als Metaphysik überfliegt sie nicht etwa den Bereich der Erfahrung, sondern ist mit ihr und dem Leben der Menschen aufs engste verbunden. »Welche Metaphysik hienge so genau mit der Moral zusammen wie meine? Ist doch das Leben jedes edeln Menschen nichts anderes als meine Metaphysik in Thaten ausgedrückt!«53. Die Metaphysik, insofern sie das eigentlich Reale der Handlungen in unserem Bewußtsein sucht, ist zugleich auch eine Form der Transzendentalphilosophie. Als solche entdeckt sie auch, daß das Selbstbewußtsein eines Jeden zwar sagt, er könne, was er wolle, fälschlicherweise daraus aber auf die Freiheit des Willens schließt, insofern er ja Entgegengesetztes wollen könne. Wenn man den Dingen jedoch auf den Grund geht, kann man nur sagen, daß man tun kann, was man will, aber wollen kann man immer nur eines. Würde also jemand gefragt, ob er auch anders wollen könnte, als er will, so würde er in Wirklichkeit danach gefragt, ob er wohl ein Anderer sein könnte, als er ist54. Mit einem Wort: Der Mensch tut immer nur, was er will, und tut es doch notwendig. Das liegt aber daran, daß er schon ist was er will: denn aus dem was er ist, folgt notwendig all das, was er jedesmal tut55. Das zeigt, daß die traditionelle Ansicht von der Freiheit in den einzelnen Handlungen falsch ist. Diese unterliegen vielmehr, getreu dem scholastischen Grundsatz operari sequitur esse, einer absoluten Notwendigkeit, die in der Auswirkung des Charakters und der Motive begründet liegt. Andererseits ist da aber auch das Gefühl unserer Verantwortlichkeit, durch das wir uns als Täter unserer Taten wissen. »Da nun aber die Verantwortlichkeit eine Möglichkeit anders gehandelt zu haben, mithin Freiheit, auf irgend eine Weise, voraussetzt; so liegt im Bewußtsein der Verantwortlichkeit mittelbar auch das der Freiheit«56. Beide, das Gefühl der Verantwortlichkeit und die nur so ankündbare Freiheit, können nur im Sein des Menschen liegen. In dem, was wir sind, liegen Schuld und Verdienst, Verantwortung und Freiheit. Nun ist nach Schopenhauer daran zu erinnern – an die alte ontologische Überzeugung nämlich –, daß jedes Seiende immer die Einheit von Essenz und Existenz, von Wesen und Dasein darstellt, so daß weder eine Wesenheit ohne Existenz noch eine Existenz te Angelika Hübscher. Redaktion von Claudia Schmölders, Fritz Senn und Gerd Haffmans, Zürich 1977 [=Werke], Bd. III 421; I, Werke I 217. 51 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena [=P] II, Werke IX 26. 52 Arthur Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen. Aus dem handschriftlichen Nachlaß, hg. u. eingel. v. V. Spierling, Bd. IV: Metaphysik der Sitten, München, Zürich 1985, S. 218 f. 53 Arthur Schopenhauer, HN III 504. Vgl. auch Über den Willen in der Natur, Werke V 337. 54 Arthur Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Werke VI 60. 55 Ebd., Werke VI 138 / 139. 56 Ebd., Werke VI 215.
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ohne Wesen denkbar ist. Das gilt für alle Wesen in der Natur, aber auch für den Menschen und seinen Willen. Die traditionelle Vorstellung von der Willensfreiheit verstößt gegen diesen ontologischen Grundsatz. »Die Willensfreiheit bedeutet, genau betrachtet, eine Existentia ohne Essentia; welches heißt, daß etwas sei und dabei doch Nichts sei, welches wiederum heißt, nicht sei, also ein Widerspruch ist«57. In dieser ontologischen Grundüberzeugung liegt es begründet, daß sich Schopenhauer auf die Deutung des platonischen Er-Mythos durch Porphyrios beziehen kann, in der die Freiheit als ein von einer bestimmten »Konstitution« (kataskeu» ) Abhängiges begriffen wird – eine Lehre, die die Kirchenväter gerade abgelehnt hatten58. Damit ist aber auch der traditionellen Lehre von der von Gott dem Menschen verliehenen Freiheit der Boden entzogen. Denn daß der Schöpfer den Menschen frei geschaffen habe, besagt genau dies, daß er ihm eine existentia ohne essentia verliehen habe. Das aber ist unmöglich. Das verträgt sich ohnehin nicht: Geschaffensein und Freiheit59. Denn an einem Wesen, das, seiner existentia und essentia nach, das Werk eines anderen ist, »läßt sich weder Schuld noch Verdienst denken«60 Wer Freiheit denken will, muß Ursprünglichkeit mitdenken. Ausdrücklich sagt Schopenhauer: »Verantwortlichkeit hat Freiheit, diese aber Ursprünglichkeit zur Bedingung«61. Das alles Handeln des Menschen begleitende Bewußtsein, daß er selbst der Urheber seiner Taten ist, ist der Ausdruck dieser dem Sein und Wesen des Menschen zukommenden Ursprünglichkeit. Das aber ist nichts anderes als sein eigener Wille. Dem Willen kommt somit die Ursprünglichkeit zu, insofern er Ursprung seiner selbst ist. Während traditionelle Philosophie, insofern sie von der Lehre der geschaffenen Freiheit ausging, einen faulen Frieden mit der Theologie schloß, erhebt Schopenhauer den Anspruch, die »einzige« Philosophie zu vertreten, »welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen läßt: denn nur wenn das Wesen des Menschen sein eigener Wille, mithin er, im strengsten Sinne, sein eigenes Werk ist, sind seine Thaten wirklich ganz sein und ihm zuzurechnen«62. Wenn ein anderer Ursprung angenommen wird, fällt alle Schuld auf diesen anderen Ursprung oder Urheber. Es ist also diese Gedankenfolge, die Schopenhauer zur Annahme der Selbsterschaffung des Menschen führt: Aus der Verantwortlichkeit und Imputabilität, die im Gewissensspruch ihren Ausdruck findet, folgt sicher, daß der Wille frei sei, hieraus aber wieder, daß er das Ursprüngliche des Daseins selbst, »sein eigener Schöpfer und sein eigenes Geschöpf«, mithin nicht bloß das Handeln, sondern schon das Dasein und Wesen des Menschen sein eigenes Werk sei63. Hier
Ebd., Werke VI 97; Vgl. auch P I, Werke VII 140. Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik,Werke VI 218–220. 59 Schopenhauer, HN IV 1,124: »Der Begriff der Freiheit ist unzertrennlich von dem der Ursprünglichkeit: daß ein geschaffenes, d. h. von einem anderen gemachtes Wesen frei sei, ist ein Widerspruch«. 60 Schopenhauer: P I, Werke VII 139. 61 Schopenhauer: Über den Willen in der Natur, Werke V 338. 62 Schopenhauer: W II, Werke IV 690. 63 Schopenhauer: HN III 498: »Dann ist entweder jeder seiner Akte ein neuer Schöpfungsakt: oder sein endliches Dasein ist selbst sein Schöpfungsakt, der sich in der Zeit entfaltet und ausbreitet, zwar eine ein für allemal entschiedene Beschaffenheit hat, die aber sein eigenes Werk ist, für die also die Verantwortlichkeit auf ihm selbst haftet. Soll aber ein Wesen für sein Tun verantwortlich, also soll es 57 58
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erkennt Schopenhauer die christliche Lehre von der Erbsünde wieder, die mit dem Brahmanismus und Buddhismus darin übereinstimme, daß es eine schwere Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Dasein selbst gibt. Unter anderem deswegen nennt er seine eigene Philosophie auch »christliche Philosophie«64. Während also die einzelnen Taten keineswegs aus Freiheit vollbracht werden, muß der individuelle Charakter jedes Einzelnen als seine freie Tat angesehen werden. »Er selbst ist ein solcher, weil er, ein für alle Mal, ein Solcher sein will«65. Der Mensch ist auf diese Weise der Schöpfer seiner selbst. Die transzendentale Freiheit des Wesens, von der Schopenhauer öfter sagt, daß sie bis zur Allmacht sich steigere66, steht so mit der empirischen Notwendigkeit der Handlungen im schönsten Einklange. Die Freiheit des Menschen ist damit nicht im ganzen aufgehoben, sondern, wie Schopenhauer sagt, »bloß hinausgerückt« aus dem Bereich der einzelnen Handlungen in eine fernere, nicht leicht erkennbare Region. Und dies ist der Sinn des Malebrancheschen Ausdrucks »La liberté est un mystère«. Die Hauptthese Schopenhauers war allerdings schon wenige Jahre vor seinen ersten öffentlichen Auftritten formuliert worden, und zwar von keinem Geringeren als von Schelling. In seiner 1809 erschienenen Freiheitsschrift heißt es: »Das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigene Tat«. Es handelt sich um eine intelligible, außerzeitliche Tat des in sich bestimmten Wesens, so daß sie notwendig und frei in einem ist. Wenn Fichte sagt, das Ich sei seine eigene Tat, so meint er gerade ein solches »reales Selbstsetzen«, von dem Schelling sagt, daß es ein »Ur- und Grundwollen« ist, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist. Durch diese ewige Tat erstreckt sich das Leben des Menschen bis an den Anfang der Schöpfung. Und umgekehrt gilt: Der Mensch gibt sich durch diese Tat eine bestimmte Gestalt und wird als der, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch dieses ursprüngliche Wollen – wie bei Origenes – sogar Art und Beschaffenheit des Leibes bestimmt wird67. Kurzum: zurechnungsfähig sein, so muß es frei sein. Also schon aus der Verantwortlichkeit und Imputabilität, die unser Gewissen aussagt, folgt sehr strenge, daß der Wille das Ursprüngliche des Daseins selbst ist, sein eigener Schöpfer und sein eigenes Geschöpf.« Vgl. auch P I, Werke VII 77: »…Also aus der Verantwortlichkeit und Imputabilität, die unser Gewissen aussagt, folgt sehr sicher, daß der Wille frei sei; hieraus aber wieder, daß er das Ursprüngliche selbst, mithin nicht bloß das Handeln, sondern schon das Dasein und Wesen des Menschen sein eigenes Werk sei.« 64 Schopenhauer: P II, Werke IX 342; vgl. W II, Werke IV 707. 65 Schopenhauer: P II, Werke IX 247. 66 Vgl. Schopenhauer: W II, Werke III 375. 67 F. W. I. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schellings Werke, hg. v. M. Schröter, Bd. IV, München 1978 (Repr. von 1927), S. 278 f.: »In dem Bewußtsein … kann jene freie Tat, die zur Notwendigkeit wird, freilich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine Tat, von der dem Menschen überall kein Bewußtsein geblieben; indem derjenige, welcher etwa, um eine unrechte Handlung zu entschuldigen, sagt: so bin ich nun einmal, doch sich wohl bewußt ist, daß er durch seine Schuld so ist, so sehr er auch Recht hat, daß es ihm unmöglich gewesen anders zu handeln. … Weil in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das Spätere mitwirkt und alles in einem magischen Schlage zugleich geschieht, so hat der Mensch, der hier entschieden und bestimmt erscheint, in der ersten Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen, und wird als solcher, der er
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auch bei Schelling begegnet uns jene alte Idee von einer das Wesen konstituierenden ursprünglichen Handlung oder Freiheit, die die Patristik in unsere Welt gebracht hat.
4. Sartre und die Folgen: menschliche Existenz und Selbsterschaffung Keine der Theorien über die Selbsterschaffung des Menschen ist indessen so bekannt geworden wie die radikalste Form derselben, die von J. P. Sartre entworfen wurde. In seinem Essay von 1946 L’Existentialisme est un Humanisme hat sie in populärer Weise Ausdruck gefunden. Der Ausdruck »Existentialismus« ist auch schon die Kurzfassung dieser Theorie, denn er deutet auf die gemeinsame Überzeugung hin, daß die Existenz der Essenz vorangehe. Das bedeutet, daß der »Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert« (… et qu’il se définit après). Es gibt keine vorgegebene menschliche Natur, keinen Gott, der sie konzipierte, der Mensch ist allein so, wie er sich will, kurzum, so lautet das erste Prinzip des Existentialismus: Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht (l’homme n’est rien d’autre que ce qu’il se fait) oder auch: Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht. Wenn er aber in solcher Weise als der Schöpfer seiner selbst gedacht werden soll, dann muß er auch für alles verantwortlich sein, was er tut. In diesem Sinne ist der Mensch frei. Sartre hat sich immer gegen den Vorwurf gewehrt, diese Freiheit sei bloße Beliebigkeit. Sie hat den Charakter des Absoluten, insofern sie allgemein verständlich ist, aber sie ist wesentlich endliche Freiheit, weil sie sich nicht selbst erschaffen hat, sondern in die Welt geworfen ist. Wenn Sartre an anderer Stelle des Essays sagt, daß der Mensch sich »mache« und nicht von Anfang an fertig »gemacht« dasei, ist das kein Widerspruch. Die Selbsterschaffung des Menschen im Sinne des Selbstmachens ist die durch Faktizität bedingte und nicht eine unbedingte Selbsterschaffung. Das Selbstmachen aber ist das Wählen der Moral, mit anderen Worten: die Erschaffung der zweiten Natur. Der klassische Satz, der das ausdrückt, heißt: Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein68. Die Freiheit kann die Faktizität nicht aufheben. Daß der Mensch frei ist, bedeutet nicht, daß er z. B. eine angeborene schwache Konstitution (eine »organisation physiologique«) aufheben könnte. Aber indem der Mensch sich in ein Verhältnis setzt zu seiner eigenen Konstitution, »macht« er diese Schwäche und ist für sie verantwortlich. »Ce que dit l’existentialiste, c’est que le lâche se fait lâche«69. Noch immer, wie bei den Kirchenvätern in ihrem Kampf gegen die manichäische Konstitutionstheorie, stehen sich hier Freiheit und vorgegebene Konstitution
von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene Tat sogar die Art und Beschaffenheit seiner Corporisation bestimmt ist«. 68 Jean-Paul Sartre: L’Existentialisme est un humanisme, Paris 1968, S. 37: »Condamné, parce qu’il ne s’est pas créé lui-même, … «, S. 78: »L’homme se fait ; il n’est pas tout fait d’abord, il se fait en choisissant sa morale, … « 69 Ebd., S. 61.
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gegenüber70. Es ist auch kein Zufall, sondern belegt noch einmal die These vom Traditionscharakter der Selbsterschaffungstheorie, daß Sartre, wie schon Schopenhauer, auf den platonischen Er-Mythos (negativ) Bezug nimmt, um den Faktizitätscharakter menschlicher Freiheit deutlich zu machen71. Die anspruchsvolle und ausgearbeitete Theorie hinter diesem populären Vorstoß ist das 1943 erschienene Werk Das Sein und das Nichts. Der Begriff des Nichts ist in diesem Zusammenhang fast synonym mit Freiheit. Im Titel stehen sich somit eigentlich gegenüber »Sein« und »Freiheit«. Der alte Gegensatz zwischen Usia und Prohairesis, den die Kirchenväter ins Spiel gebracht hatten, um gegen eine mächtige Wesensontologie die Sache der Prohairesis zu vertreten, taucht hier, wo es um das Selbstverständnis des Existentialismus geht, wieder auf, allerdings in modifizierter Form. Die wichtigste Modifizierung besteht darin, daß die Freiheit als solche als etwas Nichtendes angesehen wird. Was soll das bedeuten? Es bedeutet, daß das pour-soi aufgrund seiner Freiheit im Unterschied zur Welt der Dinge, zum en-soi, nicht sein kann, was es ist, da ja das en-soi immer »das ist, was es ist«. Die Möglichkeit des Nichtseins gehört auf eigenartige Weise zum Wesen der Freiheit. Das zeigt nicht zuletzt das Phänomen des Fragestellenkönnens. Eine Frage zu stellen bedeutet, in einem Zustand der Unbestimmtheit zu sein. Da ist die Möglichkeit des Negativen und damit auch schon seine Wirklichkeit im Spiel. Negationen und Negativitäten sind immer nur auf uns als Fragende, als Bewußtsein bezogen. Auch der Begriff der »Vernichtung« drückt eine solche Beziehung aus72. Berühmt ist jene Textpassage, in der Sartre den negativen Charakter menschlicher Freiheit an einem Beispiel veranschaulicht: Ich gehe ins Café, wo ich mit Peter verabredet war und sehe sofort, er ist nicht da. Das Café mit seinen Gästen, Stühlen, Spiegeln und den anderen Accessoires ist reine Seinsfülle. Und doch entdecke ich Nichtsein. Natürlich ist es nicht dieses Urteil, das das Negative konstituiert. Vielmehr ist es das Resultat einer Folge von Nichtungen, deren letzte darin besteht, daß meine Erwartung enttäuscht wird. In abstrakter Weise kann ich freilich auch sagen, daß Einstein oder Beethoven oder der aktuelle Papst in diesem Café nicht sind, aber das sind nur – sagt Sartre – relationes rationis. Die enttäuschte Hoffnung aber, Peter zu sehen, ist eine reale Negativität, d. h. eine für mein Bewußtsein. Das Negative ist somit in der Freiheit begründet. Der Mensch ist frei, so heißt es gut hegelisch im Sartreschen Hauptwerk, weil er nicht er selbst, sondern weil er Anwesenheit bei sich selbst ist. Das Sein, das ist, was es ist, kann nicht frei sein. »Die Freiheit ist eben das Nichts, das … die menschliche Realität zwingt, sich zu machen, anstatt zu sein«73. Der klassische Topos der Selbsterschaffung des Menschen spielt schließlich – z. T. noch immer mit der ihm von Anfang an eigenen Stoßrichtung gegen den Essentialismus – auch in der Philosophie der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit eine nicht unVgl. auch die schöne Analyse von Jürgen Hengelbrock: Jean-Paul Sartre. Freiheit als Notwendigkeit. Einführung in das philosophische Werk, Freiburg, München 1989, S. 74 f. 71 Jean-Paul Sartre: L’Être et le Néant, Paris 1943, deutsche Übers. v. J. Streller: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek b. Hamburg 1966, S. 136. 72 Vgl. auch Arthur C. Danto: Sartre, London 1975, deutsch: Jean-Paul Sartre, Göttingen 1986, S. 66 ff. 73 Sartre: Das Sein und das Nichts, a. a. O., S. 561. 70
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wichtige Rolle, vor allem in der Anthropologie. Schon M. Scheler hat die Person, die er als das Zentrum oder Gefüge von geistigen Akten versteht, in die Nähe einer göttlichen causa sui gerückt, so etwa in der Schrift Vorbilder und Führer, wo es heißt: »Ihr Sein ist ein immer neues Sichselbsthervorbringen. In ihr ist mithin Sein, Leben und Werk eines und dasselbe«74. Viel enger mit der hier dargelegten Tradition, besonders mit der Theorie Sartres, ist ein Grundgedanke der Anthropologie H. Plessners verbunden, der mit dem Schlagwort der exzentrischen Position des Menschen angedeutet werden kann. Denn dieser Ausdruck der exzentrischen Positionalität besagt auch, daß der Mensch »sich zu dem, was er schon ist, erst machen muß«75. Später hat Plessner diesen Ausdruck im Sinne einer Verbindung von Freiheitslehre und Rollentheorie verstanden. Mit feinem Doppelsinn sagt Plessner einmal: »Die Freiheit muß eine Rolle spielen können«76. Die soziale Rolle verhindert also nicht das Bei-sich-selbst-sein des Subjekts, sondern sie ist die Form der Verwirklichung der Freiheit. Der Mensch ist ja nicht, wie Plessner mit Hegel sagen kann, von Natur aus frei. Vielmehr ist er »nur, wozu er sich macht und versteht. Als seine Möglichkeit gibt er sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren sucht«77. Hier erkennen wir Sartres These am deutlichsten wieder, daß der Mensch das ist, wozu er sich macht und daß das Wesen das Sekundäre gegenüber der Freiheit ist. Und doch besteht die »Würde« des Menschen nicht in einer reinen Schöpferkraft, vielmehr in einer »gebrochenen Stärke«. Der Mensch ist eine zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform. Er ist etwas »Ursprüngliches« im Sinne des alten Gottesprädikats der Aseität und zugleich etwas Unergründliches, homo absconditus aufgrund der Macht seiner Freiheit, »die alle Fesseln sprengt«78. In der Dunkelheit des Unergründlichen aber liegt, daß der Mensch Geschichte hat. »Er macht sie, und sie macht ihn«79. Der Mensch ist also der Macher seiner selbst, aber er ist auch etwas schon immer Gemachtes. Die Relativierung der Sartreschen These ist auch in anderen Philosophien zu beobachten. So steht das 1989 erschienene Buch Contingency, Irony, and Solidarity, so etwas wie die Magna Charta der postmodernen Philosophie, von Richard Rorty ganz im Zeichen des klassischen Gegensatzes der Selbsterschaffung, der Kontingenz und des liberalen Ironikers auf der einen und des Essentialismus und der Metaphysik auf der anderen Seite. Es ist die erklärte Absicht dieses Buches, die Möglichkeit einer liberalen
Max Scheler: Vorbilder und Führer, in: Gesammelte Werke, Bd. X, hg. v. Maria Scheler, Bern 1957, S. 282. 75 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt/M. 1981, Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, [=GS] IV, S. 382 f.; vgl. auch S. 397. 76 Helmuth Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1985, GS X 239. 77 Ebd., GS X 240. Vgl. auch: Helmuth Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, in: Conditio humana, Frankfurt/M. 1983, GS VIII 204. 78 Helmuth Plessner: Über einige Motive der philosophischen Anthropologie, in: Conditio humana, GS VIII 134. 79 Helmuth Plessner: Homo absconditus, in: Conditio humana, GS VIII 357, 359. 74
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Utopie vorzustellen, einer postmetaphysischen Kultur, in der die Selbsterschaffung des einzelnen, privaten Subjekts mit der Gerechtigkeit zusammen Bestand haben kann. Das Soziale besteht danach in nichts Anderem als in dem Konsens, »allen eine Chance zur Selbsterschaffung – je nach ihren Möglichkeiten zu geben«80. Nicht zuletzt spielt der Topos von der Selbsterschaffung des Menschen auch in der modernen Willensfreiheitsdiskussion eine Rolle. Thomas Nagel hat in seinem bedeutenden Buch The View from Nowhere, in dem er die These von der Irreduzibilität des Inneren, des Subjektiven, vertritt, auf die Dialektik hingewiesen, die einer objektiven Perspektive auf das menschliche Handeln und Wollen immanent ist. Der externe Standpunkt, von dem Th. Nagel sagt, daß er immer das »eigentliche Problem« ist (212), nährt einerseits unsere Hoffnung auf Autonomie und macht sie im selben Atemzug wieder zunichte. Beim Handeln haben wir insofern das Bewußtsein der Autonomie, als wir die Entscheidungen, die wir treffen, als von uns getroffene wissen und darüber hinaus sogar die inneren Bedingungen dieser Entscheidungen selbst bestimmen können, wenn »wir nur weit genug aus uns heraustreten«. Durch die Erweiterung dieser Objektivität scheinen wir zunehmend unser Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Ja, zuletzt könnten wir aus dieser Perspektive uns für unsere eigenen Entscheidungskriterien selbst noch entscheiden, »wodurch wir uns sozusagen aus dem Nichts erschaffen würden«. Doch eben dieser selbe objektive Standpunkt, diese externe Sicht der Dinge macht uns unmißverständlich klar, daß wir selbst auch ein Stück der Welt, ein Produkt der Geschichte, ein Hineingeworfenes sind, kurzum: daß wir endlich und kontingent sind, oder wie Th. Nagel sagt: »In unserem Drang nach Erkenntnis bleiben wir allemal Gefangene, Geschöpfe der Welt, die sich nicht selbst erschaffen«. Jene Objektivität, die uns unser Leben gewissermaßen in unsere eigenen Hände zu legen und die Kontrolle über die Bedingungen unseres Handelns uns anzubieten scheint, sie ist es auch, die uns das »letztliche Vorgegebensein unseres Selbst« offenbart81. Was auf diese Weise fraglich wird, ist die Freiheit im Sinne des Inkompatibilismus. Die letzte Konsequenz dieses Standpunktes besteht nämlich darin, daß ich, wenn Freiheit gedacht werden soll, nicht nur Urheber meiner Taten bin, sondern als Urheber »auch meine eigenen Überzeugungen, letztlich also mich selbst, hervorbringen könnte«. Der Kompatibilist wendet dagegen ein, daß »Selbstschöpfung« eine »inkohärente Vorstellung« sei, weil »der Schöpfer gleichzeitig Geschöpf sein müßte«. Leicht erkennt man denselben Vorwurf der petitio principii wie im Falle der Kritik an der historischen Position der causa sui. »Als Schöpfer müßte er schon vor dem Schöpfungsprozeß existieren, als Geschöpf darf er dies gerade nicht, er müßte vielmehr allererst aus diesem Prozeß hervorgehen«82. Doch muß man darauf hinweisen, daß diese Argumentation zwar im Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, dt.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers. von Chr. Krüger, Frankfurt/M. 1993, S. 145. Zur Beziehung zwischen Ironie und Selbsterschaffung ebd., S. 151 f. Vgl. auch S. 13 f. 81 Vgl. Thomas Nagel: The View from Nowhere, Oxford 1986, dt: Der Blick von Nirgendwo, übers. von M. Gebauer, Frankfurt/M. 1992, S. 195–206. 82 Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004, S. 44. 80
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Hinblick auf die Vorstellung von der göttlichen causa sui greifen mag, daß aber die Idee der endlichen, kontingenten Freiheit als Selbsterschaffung gar nicht in sich widersprüchlich ist. Deswegen gibt es auch eine lange Tradition einer Lehre von der bedingten Selbstverursachung83. Schließlich wird in unseren Tagen der Traum von der biologischen Selbsterschaffung des Menschen geträumt. In diesem Zusammenhang kann besonders die Position des kalifornischen Philosophen Max More erwähnt werden, der sich als Sprecher einer Gruppe hervorgetan hat, die sich die Extropianer nennt. Nicht die Entropie der Geschichte steht uns bevor, wie Fukayama gemeint hatte, sondern das Gegenteil: Jetzt mit den neuen Möglichkeiten der Gentechnik beginne ein neues Zeitalter, das Reich wahrer Freiheit, die Selbststeigerung der Gattung, das endgültige Abwerfen alter europäischer Fesseln, darunter auch die der Religion. Die neuen Biowissenschaften helfen, dies Programm der universalen transhumanen Befreiung des Menschen im nietzscheanischen Sinne durchzuführen: »Wo andere aufgeben, gehen wir weiter. Wo andere sagen, genug ist genug, sagen wir. Nach vorn, nach Oben, nach Außen!«. Max More ist alles andere als eine merkwürdige Eintagsfliege im Betrieb des theoretischen Denkens. Einflußreiche Theoretiker gleichen Schlags verkünden längst das neue Evangelium der Hypermoderne, so Hans Moravec, Leiter des Mobile Robot Laboratory der Carnegie-MellonUniversity, oder auch hierzulande Florian Rötzer oder Peter Weibel (Medienzentrum Karlsruhe) oder der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler u. a., eine Botschaft, nach der die Gentechnik, d. h. der Eingriff in die innerste Natur des Menschen im Dienst der Evolution steht und lediglich eine längst überfällige Befreiung von den Erblasten besonders der europäischen Kultur vollzieht. Dazu gehören nicht nur die alten Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit, sondern auch die Idee einer Person, die in ihrem Kern etwas Unverfügbares habe, ja alles, was den Gedanken des Sozialen in sich birgt oder auch die Konzeption der Politik u. v. a. m. Es gibt keine Praxis mehr, nur noch Poiesis (aristotelisch gesprochen), nur noch Funktionales, das sich aus den naturwissenschaftlichen »Informationen« unmittelbar ergibt, nur noch technische Natur. Das ist denn auch der Schlüsselbegriff für unseren Gang durch die Meinungswelt: Im Zeichen des transhumanen Denkens der Hypermoderne ist aus der altehrwürdigen menschlichen Natur die technische Natur geworden. Der Mensch ist ein Machbares unter anderen. Die menschliche Natur ist auf ein Artifizielles reduziert. In einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« im März 2001 schrieb Th. Asseuer über diese Bewegung: »Nach Jahrtausenden erzwungener Demut könne der Mensch sein biologisches Schicksal in die Hand nehmen und sich nach seinem eigenen Bild erschaffen. Alle abendländische Schwermut habe nun ein Ende; die Gattung darf die innersten Seiten im Buch der Natur nicht nur lesen, sie kann diese Seiten redigieren und umschreiben: neu und besser. Nicht länger müsse sich die Gattung dem Willen des blinden Uhrmachers beugen, sondern darf ihm, sein Werk verbessernd, die Hand führen«. Was gerade nach der EntschlüsseVgl. Theo Kobusch: Bedingte Selbstverursachung. Zu einem Grundmotiv der neuplatonischen Tradition, in: Th. Kobusch / B. Mojsisch / O. F. Summerell (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam, Philadelphia 2002, S. 155–173. 83
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lung des menschlichen Genoms über das Verhältnis der biologischen Natur zu unserer Freiheit philosophisch gesagt werden kann, ist aber dies: Durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist der letzte dunkle Rest der biologischen Natur des Menschen aufgeklärt worden. Die Natur des Menschen hat damit aber notwendig den Charakter der Ersten Natur verloren, die – schon nach Aristoteles – als das dem Menschen Vorgegebene das Prinzip der Bewegung in sich selbst hat. Durch die Entschlüsselung des Genoms ist auch die biologische Natur des Menschen in den Rang der Zweiten Natur erhoben worden. Zweite Natur aber bedeutet nicht, wie man neuerdings lesen kann, daß wir es mit etwas Machbarem zu tun hätten, mit bloßer Technik. Die Zweite Natur meint vielmehr der ursprünglichen Bedeutung nach, die bis weit ins 19. Jh. auch gültig war, die Gewohnheit, das Ethos, also das sittliche Sein. Die menschliche Natur ist auch hinsichtlich der biologischen Seite zur Zweiten Natur geworden, bedeutet also: auch sie ist von nun an der Verantwortung des Menschen anheimgegeben.
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Kobusch, Theo: Bedingte Selbstverursachung. Zu einem Grundmotiv der neuplatonischen Tradition, in: Th. Kobusch / B. Mojsisch / O. F. Summerell (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam, Philadelphia 2002, S. 155–173. Kobusch, Theo: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, im Erscheinen. Kobusch, Theo: Der Tod. Elemente einer Begriffsgeschichte, in: G. Binder / B. Effe (Hg.): Tod und Jenseits im Altertum (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 6), Trier 1991, S. 167–179. Kobusch, Theo: Die philosophische Bedeutung des Kirchenvaters Origenes, in: Theologische Quartalsschrift 165 (1985), S. 94–105. Kobusch, Theo: Freiheit und Tod. Die Tradition der »mors mystica« und ihre Vollendung in Hegels Philosophie, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984), S. 185–203. Kobusch, Theo: Origenes, der Initiator der christlichen Philosophie, in: W. Geerlings / H. König (Hg.): Origenes. Vir ecclesiasticus, Bonn 1995, S. 27–44. Kristeller, Paul Oskar: Eight Philosophers of the Italian Renaissance, Stanford 1964 [dt. Weinheim 1986]. Kristeller, Paul Oskar: Giovanni Pico della Mirandola and His Sources, in: L’Opera e il pensiero di Giovanni Pico della Mirandola nella storia dell’ umanesimo: Convegno internazionale, Vol. I, Relazioni, Florence 1965. Monnerjahn, Engelbert: Giovanni Pico della Mirandola. Ein Beitrag zur Philosophischen Theologie des Italienischen Humanismus, Wiesbaden 1960. Nagel, Thomas: The View from Nowhere, Oxford 1986 [dt: Der Blick von Nirgendwo, übers. von M. Gebauer, Frankfurt/M. 1992]. Pauen, Michael: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004. Pico della Mirandola: Commento, übers., mit einer Einleitung und Anm. hg. v. Th. Bürklin, Hamburg 2002. Pico della Mirandola: Disputationes adversus Astrologiam Divinatricem, ed. E. Garin, Firenze 1946. Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate, ed. E. Garin, Firenze 1942. Plessner, Helmuth: Conditio humana, Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker [GS], Bd. VII, Frankfurt/M. 1983. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, GS, Bd. IV, Frankfurt/M. 1981. Plessner, Helmuth: Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, GS, Bd. X, Frankfurt/ M. 1985. Pochoshajew, Igor: Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa, Erörterungen des Verhältnisses von Platonismus und Christentum am Gegenstand der menschlichen Seele bei Gregor von Nyssa, Frankfurt/M. u. a. 2002. Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, dt.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers. von Chr. Krüger, Frankfurt/M. 1993. Sartre, Jean-Paul: L’Être et le Néant, Paris 1943 [deutsch: Das Sein und das Nichts. Ver-
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KOLLOQUIUM 10 Funktionen und Dimensionen der Einbildungskraft – Zur Entwicklung eines transzendentalphilosophischen Grundbegriffs
Wilhelm Vossenkuhl Einführung: Kreativität und Einbildungskraft Josef Simon Sich ein Bild machen. Zur Entwicklung der Bedeutung der Einbildungskraft in der neueren Philosophie Paul Guyer Is there a transcendental imagination? Tyler Burge Perceptual Objectivity
Einführung: Kreativität und Einbildungskraft Wilhelm Vossenkuhl (München)
Wenn es um Kreativität geht, ist zumindest in historischer Hinsicht die Einbildungskraft als Thema unumgänglich. Und die Einbildungskraft führt geradewegs zu Kant; nicht weil er der erste gewesen wäre, der über sie nachdachte, sondern weil seine Einsichten, kann man dem Projekt der Transzendentalphilosophie überhaupt etwas abgewinnen, nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Dabei hat er in der Ersten Kritik zunächst tastend versucht, sie als eine »blinde, obgleich unentbehrliche Function der Seele« der Struktur des Verstandes anzugliedern. Es macht ihre Funktion nicht wirklich klarer, wenn er beschwörend anfügt, daß »wir überall gar keine Erkenntniß haben würden« ohne sie.1 Denn gleich auf der folgenden Seite erfahren wir, daß die Einbildungskraft »noch keine Erkenntniß« gibt oder anbietet. Diese Spannung versucht er dann aufzulösen, indem er die Einbildungskraft als ein Vorstellungsvermögen darstellt, das eine empirische (reproduktive) und eine apriorische (produktive) Funktion hat.2 In beiden Funktionen synthetisiert sie ungeordnete sinnliche Anschauung – figürlich, wie er sagt – und gibt ihnen erkennbare Gestalten. Die produktive Einbildungskraft nennt er im selben Zusammenhang auch »Spontaneität« und verleiht ihr damit schon einen Freiheitstitel, der in der Dritten Kritik dann endgültig als »freies Spiel«3, quasi auf Augenhöhe mit dem Verstand, konkrete systematische Gestalt annimmt. Erst hier, in der Dritten Kritik, wird das freie Spiel der Einbildungskraft kreativ und liegt allen ästhetischen Urteilen und noch mehr allen genialen Leistungen in den Künsten zugrunde.4 Es wäre nicht nur zu rasch, den Bogen von der Ersten zur Dritten Kritik, aus dem Kontext der Analyse apriorischer begrifflicher Erkenntnis ohne weiteres in den Kontext einer Urteilsform zu spannen, die gerade keinen begrifflich strukturierten Erkenntnischarakter haben soll. Es wäre auch nicht erhellend. Wir würden uns um die Chance bringen, den Unterschied der Funktionen der Einbildungskraft und damit auch die unterschiedlichen Seiten menschlicher Kreativität zu verstehen, die mit Kants Konzept verbunden sind. Aus der Differenz der regelorientierten Funktion der Ersten und der freien Funktionen der Dritten Kritik, so meine ich, gewinnen wir ein interessantes Bild der menschlichen Kreativität. Wenn wir uns Zielsetzungen vergegenwärtigen, die Kant mit der Einbildungskraft verbindet, fällt auf, daß er mit diesem Konzept nicht nur eine einzige Lücke schließen will. Die erste Lücke ist die zwischen Gegenstand und Begriff, die zweite diejenige zwi1 2 3 4
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke (Akademieausgabe) Bd. 3, S. 91. Ebd., § 24, S. 119 f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke Bd. 5, S. 244. Ebd., u. a. S. 319, 321, 329.
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schen der Vorstellung von etwas, was vielleicht als schön beurteilbar ist und dem ästhetischen Urteil mit seinen allgemeinen Ansprüchen. Die Gegenstände können, müssen in beiden Fällen ihrem sachlichen Gehalt nach aber nicht verschieden sein. Es kann sich um ein und dieselbe Sache, zum Beispiel einen Menschen oder einen Hund, handeln. Der Mensch oder der Hund werden nur verschieden beurteilt. Das eine Mal als Objekte der Erkenntnis, das andere Mal ästhetisch. Im ersten Fall müssen sie real, als Sache, zumindest der Möglichkeit nach gegeben sein, im zweiten Fall nicht unbedingt; es genügt die Vorstellung eines Menschen oder eines Hundes, das ein Kunstwerk ganz unabhängig davon vermittelt, ob es davon real jeweils einen geben kann. Als Objekt der Erkenntnis setzt ein Mensch voraus, daß es möglich ist, den Begriff ›Mensch‹ auf sein empirisches Vorkommnis anzuwenden. Wie dies möglich ist, versucht Kant mit dem Schematismus zu erklären. Das Schema sei ein »Produkt der Einbildungskraft«; es verschaffe »einem Begriff sein Bild«.5 Es kann in diesen kurzen Bemerkungen nicht um die noch immer ausstehende befriedigende Klärung dieser Funktion des Schematismus der Ersten Kritik gehen, sondern allein um die Funktion der Einbildungskraft, die darin besteht, einem Begriff einen anschaulichen Gehalt zuzuweisen und damit die Lücke zwischen einem Gegenstand und seinem Begriff zu schließen. Im Fall des ästhetischen Urteils geht es darum, eine Vorstellung von etwas wie einem Menschen oder einem Hund unabhängig von realen Bezügen als schön zu beurteilen. Die Lücke zwischen einer Vorstellung, die allgemein gefällt und dem, was vorgestellt wird, wird dabei geschlossen. Wie diese beiden Lücken zu schließen sind, ist zumindest für jeden rätselhaft, der die Lücken überhaupt sieht und nicht glaubt, daß sie sich von alleine schließen. Im Fall des Erkenntnisurteils können die Begriffe und damit der Verstand die Lücke zu dem, was erkennbar ist, nicht alleine schließen; und aus den Gegenständen möglicher Erkenntnis werden von allein keine begrifflich erfassbaren Gehalte. Im Fall des ästhetischen Urteils gibt es überhaupt nichts zu beurteilen, wenn das, was beurteilt werden kann, nicht irgendwie präsentiert wird. Die Einbildungskraft schließt, zumindest in Kants Denken, beide Lücken. Und obwohl es sich um recht unterschiedliche Lücken handelt, agiert die Einbildungskraft in beiden Fällen kreativ und gleichzeitig rätselhaft. Sie schafft Zusammenhänge, Formen und Gestalten, die überhaupt beurteilbar sind und die ohne die Einbildungskraft nicht zu beurteilen wären. Kant hat in der Dritten Kritik diese übereinstimmende Funktion der Einbildungskraft als wirklich rätselhafte Leistung beschrieben, »die viel zu denken veranlasst, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«6 Es scheint ganz klar zu sein, daß die Einbildungskraft schöpferische, kreative Leistungen erbringt, deren Ergebnisse in Urteilen erfasst werden können, ohne dass klar wäre, worin das, was die Einbildungskraft genau erbringt, eigentlich besteht. Klar ist nur, daß es sich um eine freie, spielerische, durch nichts determinierte Leistung handelt. Dies gilt nicht nur für das ästhetische Urteil, sondern auch für das Erkenntnisurteil. Nur 5 6
Kant: Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 135. Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 314.
Einführung: Kreativität und Einbildungskraft
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daß im letzten Fall der subjektive Charakter der Kreativität keine individuellen Wurzeln hat und damit schwerer zu verstehen ist als beim ästhetischen Urteil. Vielleicht ist dieser Unterschied aber nur ein oberflächlicher und die Kreativität der Einbildungskraft ist in beiden Fällen dieselbe. Dies möge genügen, um die enge Verbindung zwischen Einbildungskraft und Kreativität am historischen Beispiel Kants angedeutet zu haben.
Sich ein Bild machen Zur Entwicklung der Bedeutung der Einbildungskraft in der neueren Philosophie Josef Simon (Bonn)
Es ist ein Grundzug der neueren Philosophie, sich der Bedeutung der Einbildungskraft als eines individuellen Vermögens bewußt zu werden, auch in Zusammenhängen, in denen der Begriff der Einbildungskraft nicht direkt verwendet und nur das Moment eines individuellen Orientierungsvermögens hervorgehoben wird, das »kreativ« über allgemeine Orientierungsrahmen hinausweist. »Ich mache mir von etwas ein Bild«. Das Bild vom Bild erhält dabei eine grundlegende philosophische Bedeutung. Es impliziert die Voraussetzung eines Originals, von dem das Bild ein Bild ist, das ich aber doch immer nur als Bild so habe, wie ich es mir hier und jetzt mache. Ich denke mich als das diesem Machen zugrundeliegende »Subjekt«. Das Bild ist als Produkt meiner selbst gedacht, so daß ich, solange ich im Bild vom Bild denke, nur mich selbst nicht als Produkt meiner Einbildungskraft denken kann. Da das Original, von dem das Bild ein Bild sein soll, selbst nicht in den Blick kommt, kann ich das Bild nicht mit dem Original vergleichen. Ich weiß also nicht, ob es sich um ein gutes bzw. wahres Bild handelt. Das ist offensichtlich der Grund für den »methodischen« Zweifel Descartes’. Sich von etwas ein Bild zu machen, kann sich nach Descartes »eigentlich« nur auf körperliche, also ausgedehnte Dinge beziehen. Wenn ich nun aber, wie Descartes argumentiert, weiß, daß ich bin, solange ich denke (quandiu cogito),1 d. h. solange ich mir zu meiner eigenen Orientierung Bilder mache, und damit auch weiß, daß alle Bilder, die ich mir mache, eben weil ich sie mir mache, »nichts als Träume« sein könnten, erscheint es als töricht, meine Einbildungskraft anstrengen zu wollen, um über das jeweils gemachte Bild hinaus deutlicher zu erkennen, wer ich bin. »Ich erkenne also, daß nichts von dem, was ich mit Hilfe der [meiner] Einbildungskraft erfassen kann, zu der Kenntnis gehört, die ich von mir habe, daß ich vielmehr meinen Geist sehr sorgfältig davon abwenden muß, wenn ich seine Natur recht deutlich begreifen will.«2 Solange ich denke, muß ich denken, daß ich ein »denkendes Wesen« bin, auch wenn alle meine inhaltlichen Gedanken falsch und nur ein Produkt meiner Einbildungskraft sein könnten. Dabei denke ich die Einbildungskraft als mein individuelles und damit auch körperliches Vermögen, und es ist mir bewußt, daß, wenn immer ich mich zu orientieren versuche, ich es immer nur mit Hilfe meiner Einbildungskraft kann, weil ich keine Möglichkeit habe, ihre Bilder mit etwas »außer mir« zu vergleichen. Ein Ausweg besteht nach Descartes nur 1 2
René Descartes: Meditationes, II, 6. Ebd., II, 7.
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darin, daß ich dieses Dilemma über den »Beweis« der Existenz eines allwissenden und allgütigen Wesens zu lösen versuche, das mich in dem, was ich mir einbilde, nicht täuschen will. Damit wird (in den Meditationes de prima philosophia im Gegensatz zu dem Frühwerk Regulae ad directionem ingenii) die (an sich referenzlose) Einbildungskraft mit der Problematik des ontologischen Gottesbeweises zusammengedacht und aus der philosophischen Argumentation verdrängt. Das betrifft auch die an sich plausible Meinung, die körperlichen Dinge könnten deutlicher erkannt werden als die »nur« denkbaren, von denen ich weiß, daß ich mir von ihnen, weil sie nicht als körperlich gedacht sind, kein Bild machen kann. Von daher wird auch verständlich, daß man sich lieber an die imaginierten Dinge als an das nur Denkbare hält,3 obwohl man nicht alle Zustände der körperlichen Dinge (z. B. eines Gegenstandes aus Wachs) mittels der Einbildungskraft vorwegnehmen kann. Was etwas wirklich »ist«, kann deshalb nicht durch die Einbildungskraft, sondern nur durch ein Denken erkannt werden, das sich an das bloße »Wort« hält, ohne sich dabei Bilder zu machen.4 Man bleibt dann zwar »an den Wörtern hängen« und läßt sich »beinahe durch den Sprachgebrauch beirren«, aber man versucht doch erst gar nicht, die Bilder, die man sich im Verstehen der Wörter von sich aus machen kann, als etwas zu verstehen, das mit Dingen außer uns zur »Übereinstimmung« gebracht werden könnte. Dieser Punkt ist für die weiteren Ausführungen über die Funktion der Einbildungskraft festzuhalten. Er betrifft das Problem einer allgemeinen Verbindlichkeit der Wörter und damit auch der Sprache überhaupt, nachdem die Einbildungskraft als ein individuelles Vermögen gedacht ist, das keinen »sensus communis« gewährleisten kann. Diese Kritik der Einbildungskraft ist für den Erkenntnisbegriff der europäischen Philosophie grundlegend geworden. Descartes unterstützt sie selbst aber wiederum durch ein Bild, wenn er sagt, er sehe »vom Fenster aus« Menschen, obwohl er mit seinen Augen nichts als ihre Kleider sehe, »unter denen sich ja Automaten verbergen könnten«. Daß es Menschen seien, erkenne er »einzig und allein durch die [seinem] Denken innewohnende Fähigkeit zu urteilen«, so daß er sagen könne, daß »selbst die Körper nicht eigentlich durch die Sinne oder durch die Einbildungskraft, sondern einzig und allein durch den Verstand« zu erkennen seien.5 Die Einbildungskraft, die er als seine eigene Tätigkeit in seinem Bewußtsein habe, verweise ihn auf das bildlose, sich an den Wörtern orientierende Denken. Das Wahre werde »einzig und allein durch den Verstand« erkannt,6 wenngleich er selbst doch ein Wesen sei, das auch »Einbildung und Empfinden« habe.7 Daß er sich seiner Einbildungskraft als eines individuellen Vermögens bewußt ist, macht es erst möglich, sich als ein Wesen zu denken, das sich täuschen kann und sich täuscht, wenn es denkt, in den Bildern, die es sich macht, die »Wahrheit« denken zu können.
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Ebd., II, 10 f. Ebd., II, 12. Ebd., II, 13. Ebd., II, 16. Ebd., III, 1.
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Wozu »haben« wir dann aber die Einbildungskraft nötig? Die Antwort muß lauten: Weil wir, als endliche Wesen, sie brauchen, um uns von uns aus, zum Zwecke unserer individuellen Orientierung Bilder machen zu können. Das hatte Descartes in den Regulae ad directionem ingenii bereits näher erklärt. Schon hier wurde die Kraft, durch die wir wirklich erkennen, im Unterschied zur Einbildungskraft »rein geistig« genannt.8 Oft seien die zu lösenden Probleme jedoch so komplex, daß wir sie in kleinere Lösungsschritte zerlegen müßten, die dann kein Problem mehr enthielten. Jedes zu lösende Problem muß dazu »auf die wirkliche Ausdehnung von Körpern übertragen und der Einbildungskraft ganz durch nackte [rein geometrische] Figuren vorgelegt werden«, um vom Verstand »weit deutlicher« erfaßt werden zu können, als es ohnedies möglich gewesen wäre.9 Die Teilschritte der Problemlösung müssen dabei möglichst unproblematisch sein. Wer weiß z. B. nicht, was Bewegung ist?10 Die Erkenntnis geht also auch hier schon nicht »ad esse«, sondern »ad melius esse« zum Zweck einer besseren Orientierung gegenüber einer »gegebenen« Begriffsbestimmung der Dinge. Aber gerade bei diesem Zerlegen der Probleme kann man Fehler machen, so daß man sich, statt eine bessere Deutlichkeit zu erlangen, in eine größere Undeutlichkeit verstrickt. Es muß sich jeweils zeigen, ob man die anstehenden Probleme für den Zweck ihrer Lösung »richtig« analysiert, und es zeigt sich dadurch, daß man auf dem eingeschlagenen Wege eine befriedigende Lösung erreicht, und weil nur endliche Wesen überhaupt Probleme haben, für deren Lösung sie die Einbildungskraft benötigen, ist diese Kraft für sie im Grunde dasselbe wie der Verstand: Sie zerlegt auch das Erkenntnisproblem, um es lösen zu können, in problemlose Teilschritte, und zum Zweck der analytischen Unterscheidung benennt sie die zur Lösung dieses Problems erforderlichen Schritte mit verschiedenen Namen: Es ist nach Descartes »dieselbe Kraft, deren Handlung, wenn sie sich zugleich mit der Einbildungskraft dem Gemeinsinn zuwendet, ›Sehen‹, ›Berühren‹ usw. genannt wird«; und die, insofern sie »verschiedene Figuren angenommen hat, ›Sich Erinnern‹ genannt wird«. Wenn sie sich der Einbildungskraft »zuwendet, um neue [Figuren] zu zeichnen«, »heißt« sie »›Sich etwas Einbilden‹ oder ›Begreifen‹«, und sie wird »Verstehen« genannt, »wenn sie schließlich« – nach der Vorarbeit dieser anderen Kräfte – »allein handelt«, ohne weitere Hilfe der Einbildungskraft.11 Diese Benennungen verschiedener »Vermögen« bezeichnen im Grunde dieselbe Kraft. Sie wird nur um des besseren Verständnisses willen in verschiedene, durch ihre Benennung auseinandergehaltene Teile zerlegt. Dieses benennende Auseinanderhalten ist selbst ein Produkt der Einbildungskraft, das gerechtfertigt ist, weil es zum besseren Verständnis des Erkenntnisproblems führt. Das Vermögen, das zur Lösung der Probleme Richtige durch die Lenkung der Einbildungskraft zu treffen, nennt Descartes Ingenium. Aber auch mit den Namen ist es nicht »einfach«. Nach Descartes weiß ich zwar, solange ich denke (quandiu cogito), daß ich bin und daß ich »ein denkendes Wesen« bin,
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René Descartes: Regulae ad directionem ingenii, XII, 10. Ebd., XIV. Quis ignorat quid sit motus? Ebd., XII, 23. Ebd., XII, 10.
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aber ich weiß noch nicht, »was« ich bin. Ich könnte zwar sagen, ich sei »ein Mensch«. »Was« »ein Mensch« ist, läßt sich jedoch nicht definitiv sagen, denn wenn man z. B. sagte, ein Mensch sei ein »animal rationale«, könnte weitergefragt werden, »was« »animal« und »was« »rational« bedeuteten, und so weiter, und man geriete, wie Descartes sagt, »von einer Frage in mehrere und noch schwierigere«, ohne jemals davon ausgehen zu können, daß nicht mehr weiter gefragt wird. Im Leben habe man nicht soviel Zeit (otium), sich mit der Frage nach einer »definitiven« Bedeutung der verwendeten Wörter zu beschäftigen.12 Das Fragen würde, wenn man es nicht individuell abbräche, ins Unendliche (eis apeiron) führen. Es bleibt daher auch wesentlich ungewiß, ob man über die Erklärung der Namen überhaupt zu einem »sensus communis« gelangen kann. Leibniz greift diesen sprach- und begriffskritischen Gedanken wieder auf. Eine Erkenntnis (bzw. ein Begriff) ist nach ihm zunächst »entweder dunkel oder klar«. »Dunkel« ist sie, wenn sie zum Wiedererkennen der dargestellten Sache nicht ausreicht«, und sie ist »klar«, wenn ich sie so habe, daß ich aus ihr die dargestellte Sache wiedererkennen kann. Eine »klare Erkenntnis« ist ihrerseits entweder »verworren« oder »deutlich«. Verworren ist sie, wenn man nicht genügend Kennzeichen aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden, und sie ist deutlich, wenn man sie durch Merkmale hinreichend von anderen Sachen unterscheiden kann. Eine »deutliche Erkenntnis« ist entweder »inadäquat« oder »adäquat«. Wenn die Begriffe, die zur Verdeutlichung eines nicht deutlichen Begriffs gebraucht werden, selbst nicht deutlich sind, ist die Erkenntnis inadäquat, und erst wenn die verdeutlichenden Begriffe selbst deutlich wären, wäre die Erkenntnis adäquat. Dann erst handelte es sich um eine »bis zum Ende durchgeführte Analyse«, und dies erst entspräche dem traditionellen Begriff der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus. Leibniz sagt jedoch, er wisse nicht, »ob die Menschen dafür ein vollkommenes Beispiel geben« könnten, nur »das Wissen von den Zahlen«, also die Mathematik, käme »dem sehr nahe«. Zusätzlich und sozusagen quer zu dieser Einteilung teilt Leibniz alle Erkenntnisse in »symbolische« oder »intuitive« ein. Sie sind symbolisch, wenn man nur mit den Zeichen »für« Begriffe operiert, und sie sind intuitiv, wenn die Bedeutung in unmittelbarer Anschauung erfaßt wird. Wenn aber eine Erkenntnis »zugleich adäquat und intuitiv« wäre, wäre sie »am vollkommensten«. Dann bestimmten sich alle Begriffe gegenseitig, und wir hätten keine Fragen nach ihrer »Bedeutung«. Der Gegensatz zwischen begrifflicher Explikation und fraglosem intuitivem oder ästhetischem Erfassen wäre »definitiv« aufgehoben. Das kommt nach Leibniz für uns Menschen jedoch nicht in Frage. Als endliche Wesen bleiben wir, auch wenn er dieses Wort hier nicht verwendet, auf die Einbildungskraft angewiesen, von der als einem körperlichen Vermögen nicht vorausgesetzt werden kann, daß sie bei allen dieselbe sei, und somit bleiben wir in allen unseren Erkenntnissen der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt. Weil wir an irgendeiner Stelle die Explikationskette abbrechen müssen, bleibt jede menschliche Erkenntnis »blind oder symbolisch«. Bei jeder weiteren Analyse könnten wir immer noch auf einen
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Descartes: Meditationes, II, 5.
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Widerspruch stoßen (fit ut lateat nos contradictio), und damit erwiese sich der Begriff als »unmöglich«.13 Die Leibnizsche Schule hat diesen kritischen Erkenntnisbegriff bis zu Kant hin überliefert. In Lamberts Organon von 1764 geht es um eine »Methodenlehre, welche« – ebenso wie die Methodenlehre in Kants Kritik der reinen Vernunft – »die Bedingungen der Möglichkeit einer Anwendung der Methode der mathematischen Wissenschaften auf die theoretische Philosophie untersucht«.14 Die Forderung nach adäquaten Begriffen erfüllt sich auch nach Lambert in den »wirklichen Sprachen« (d. h. außerhalb der Mathematik) grundsätzlich nicht. Da sie »so philosophisch nicht sind«, kann man nur »das hypothetische in der Bedeutung der Wörter« aufsuchen, und man muß zusehen, »wie die Bedeutung« zweckmäßigerweise »festgesetzt werden könne, weil dieses bey den sogenannten Nominaldefinitionen«, die »nicht ins unendliche können fortgesetzt werden«, »nothwendig wird«. Jede Festsetzung bleibt ein Versuch und ist insofern auch hier ein Werk der Einbildungskraft. Zu diesem sprachkritischen Zweck lassen sich nach Lambert alle »Wörter der Sprache in drey Classen theilen, von welchen die erste gar keine Definitionen fordert, weil man die Sache selbst im Ganzen vorzeigen, und folglich Wort, Begriff und Sache unmittelbar mit einander verbinden kann«. Es handelt sich um Zeichen für »einfache Begriffe«, die nicht durch andere Begriffe umschrieben werden müssen. Auf die Voraussetzung solcher »einfachen« Begriffe als objektiv gültig bleibt jede Analyse angewiesen, wenn sie überhaupt zu einem sinnvollen Ende geführt werden soll. Nach der »Bedeutung« der Zeichen dieser ersten Art kann also sinnvollerweise nicht gefragt werden. Sie haben, so wie sie benötigt werden, keine (von ihnen selbst verschiedene) Bedeutung, die definitiv in anderen Zeichen umschrieben werden könnte. – Eine zweite Klasse von Wörtern macht »die Wörter der ersten metaphorisch«. Statt einer Definition wird für ihr Verständnis ein tertium comparationis gebraucht, dessen Verständnis im jeweiligen Gebrauchszusammenhang außer Frage steht. – Erst eine dritte Klasse umfaßt die Wörter, die erklärt werden müssen. Sie können, wenn es in einer Sprechsituation als nötig erscheint, »definiert werden«, aber nur »so fern man die Wörter der beyden ersten Classen dazu gebrauchen kann«, sie also zur Verfügung hat, oder wenn »man die Wörter der dritten Classe, die auf diese Art definirt sind, selbst wiederum zu Definitionen gebraucht«.15 Der Unterschied zwischen diesen drei Klassen ist selbst nicht definitiv, sondern funktional zu verstehen, d. h. von dem Zweck her, sich verständlich zu machen. Auch die »einfachen« Zeichen der ersten Klasse sind keine an sich »einfachen Begriffe«, sondern in einem bestimmten Sprachgebrauch einfach zu verstehende oder, wie Lambert auch sagt, empfundene Zeichen.16 Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, ed. Gerhardt, IV, S. 422 ff. 14 Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften, hg. v. H. W. Arndt, Hildesheim 1965, 2 Bde., Einleitung des Herausgebers, I, XIV. 15 Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. Vorrede, a. a. O. 16 Ebd., II, 9 f. – Vgl. v. Verf.: Johann Heinrich Lamberts Zeichenkunst als Weg zur Kritik. Überle13
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Das ist der grundlegende Punkt in Lamberts Sprachtheorie. Er möchte diese Unterscheidungen in einer »Theorie der Wortstreite« anwenden. Bloße Wortstreite sollen dadurch vermieden werden, daß man sich dieser verschiedenen Gebrauchsdimension der Sprache bewußt ist und nicht dadurch, daß die »normale« Sprache durch eine »ideale« Sprache mit festgesetzten Bedeutungen der Wörter zu ersetzen versucht wird. Dem Cartesischen Argument, daß wir als endliche Wesen nicht genug Zeit (otium) hätten, um unsere Worterklärungen unbegrenzt weiterzuführen, fügt Lambert das Argument hinzu, daß jede Sprache nur über eine begrenzte Anzahl von Wörtern verfüge: »Jede Sprache beut uns [nur] eine gewisse Anzahl Wörter an, mit deren mannichfaltigen Verbindung wir uns lebenslang beschäfftigen«. Daß die »Anzahl der Wörter«, über die wir dabei verfügen, »ziemlich bestimmt« ist, »setzet unserer Erkenntniß, in Absicht auf ihre Ausdehnung, gewissermaßen Schranken, und giebt derselben eine ihr eigene Form oder Gestalt, welche allerdings in die Wahrheit selbst einen Einfluß hat«.17 Diese »Schranken« können nur durch einen metaphorischen Sprachgebrauch überstiegen werden, der sich wiederum der Einbildungskraft des Sprechers verdankt. Kant löst dieses Problem, indem er unter Erkenntnis die begriffliche Bestimmung »gegebener« Anschauungen versteht. »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.«18 Die Anschauung ist Ausgang und Ziel aller Erkenntnis. Angeschautes ist immer schon unter einem bestimmten Begriff gegeben, der, wenn er dem gegenwärtigen Erkenntnisinteresse nicht mehr genügt, durch einen »besseren« ersetzt werden soll. Von daher stellt sich die Frage, wie denn gedacht werden könne, daß »Gesetze der Erscheinungen in der Natur mit dem Verstande und seiner Form a priori, d. i. seinem Vermögen, das Mannigfaltige überhaupt zu verbinden«, übereinstimmen können. Für Kant ist dies um »nichts befremdlicher«, als »daß die Erscheinungen selbst mit der Form der sinnlichen Anschauung a priori übereinstimmen«, d. h. daß die Erscheinungen räumlich und zeitlich sind.19 Keine dieser beiden Voraussetzungen kann als objektiv wahr erwiesen werden. Beide müssen aber vorausgesetzt werden, wenn Erkenntnis überhaupt als möglich gedacht werden soll. Ohne die Annahme reiner, d. h. nicht empirischer Anschauungsformen ist eine Erkenntnis des Empirischen durch den Verstand nicht denkbar. Sie ist nur denkbar, wenn davon ausgegangen wird, daß es »eine und dieselbe Spontaneität« ist, »welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt«.20 Die Unterscheidung zwischen solchen »Vermögen« wird also, wie schon bei Descartes, letztlich auch bei Kant durch die unterschiedliche Benennung gegeben. Sie wird gungen zum Verhältnis von Kritik und Interpretation, in: M. Beetz / G. Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 49–65. 17 Lambert: Philosophische Schriften, a. a. O. II, 5. 18 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 33. 19 Ebd., B 164. 20 Ebd., B 162 Anm., Hervorhebung v. Verf.
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zu dem besonderen Zweck einer transzendentalphilosophischen Lösung des Erkenntnisproblems gemacht und ist mithin nicht ein Produkt der Erkenntnis, sondern der (individuellen) Einbildungskraft. Verstand und Einbildungskraft werden nicht definitiv, sondern nur zur Lösung des Erkenntnisproblems unterschieden. Die Einbildungskraft wird Urteilskraft genannt, wenn sie in einer für den Verstand bei der Lösung von Problemen zweckmäßigen Weise eingesetzt wird. Ob dies aber der Fall ist, muß sich immer erst zeigen. Anderenfalls bringt die Einbildungskraft »in ihrer gesetzlosen Freiheit« mit all ihrem »Reichtum« »nichts als Unsinn« hervor. Die »Urteilskraft ist hingegen das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen«, der ohne sie ebenfalls nichts vermag.21 Nur im Zusammenspiel beider »Vermögen« läßt sich die Möglichkeit von Erkenntnis darstellen. In der transzendentalen Methodenlehre, auf die die Kritik der reinen Vernunft im ganzen ausgerichtet ist,22 ist demgemäß von Dichtungen der Einbildungskraft unter der »strengen Aufsicht der Vernunft« die Rede. Die Vernunft soll nicht mehr an Dichtung zulassen, als zu einer zureichenden Erklärung der Möglichkeit von Erkenntnissen notwendig ist, die ihrem Begriff nach selbst nicht erdichtet sein sollen. Dabei muß es »erlaubt« sein, »wegen der Wirklichkeit« des Gegenstandes – und d. h. nun: wegen seiner Bedeutung für die Orientierung im Leben unter Bedingungen der Zeit – »zur Meinung seine Zuflucht zu nehmen, die aber, um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden muß«. In dieser Funktion heißt die Meinung »Hypothese«,23 und etwas »als ein hypothetisches Ding zum Behuf möglicher Erscheinungen anzunehmen heißt dichten«.24 Die Kritik der reinen Vernunft ist, von daher verstanden, im ganzen eine vernünftige Dichtung. Sie ist ein Produkt der philosophischen Einbildungskraft ihres Autors, in dem er die transzendentalen Voraussetzungen benennt, unter denen sich die Möglichkeit objektiver Erkenntnis denken läßt. – So ist dann auch der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori zu verstehen: Synthetische Urteile a priori sind möglich, »wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption, auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt« seien »zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«. Eben »darum«, weil wir dies sagen, d. h. es voraussetzen, haben die subjektiven Bedingungen der Erfahrung für uns, die wir es sagen, »objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori«,25 so daß wir von daher die objektive Gültigkeit der Formen unserer Urteile denken können. Dies zu sagen, war aber wiederum ein glücklicher Einfall der Einbildungskraft des Autors im Zusammenhang der Lösung des Erkenntnisproblems durch eine Kritik der reinen
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Kant: Kritik der Urteilskraft, Akademieausgabe (AA) V, 31. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 108. Ebd., B 798. Kant: Opus postumum, AA XXII, 121. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 197. Hervorhebung v. Verf.
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Vernunft. Darüber hinaus hat dieses Sagen oder Dichten keine objektive Bedeutung. Kant bezeichnet es als »Unfug«, die Begriffe, die »in der Kritik d. r. V. selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind«, »auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen«.26 – »Dichtungen« der Einbildungskraft sind, unter kritischem Aspekt, also nur insoweit zugelassen, als sie die Möglichkeit objektiver, nicht erdichteter Erkenntnis darstellen. Dazu sind sie aber auch notwendig, und darin erfüllen sie ihren philosophischen Zweck der Überwindung des Skeptizismus. Die dem Zweck des Verstandes angepaßte Einbildungskraft nennt Kant, wie gesagt, Urteilskraft. Unter dem Namen »Schematismus« soll sie einem Begriff sein Bild verschaffen, d. h. so Ungleichartiges wie Begriff und Sinnlichkeit vermitteln. Das Bild ist das, was ein Subjekt sich beim Vernehmen eines Wortes vorstellt. Dabei geht Kant durchaus von einem von Subjekt zu Subjekt unterschiedlichen Sprachgebrauch aus: »Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Worts mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend.«27 Jedes Subjekt macht sich beim Hören eines Wortes zwar seine eigenen Vorstellungen. Es sucht sie sich aber doch so zu machen, daß es dabei einem »sensus communis« entspricht. Kant nennt »diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffs«, und »das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen« nennt er »Schematismus des reinen Verstandes«. Er ist selbst »ein Produkt der Einbildungskraft«. Aber wenn, wie in einer transzendentalen Reflexion, die Synthesis der Einbildungskraft »keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden«. Als das »Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen«,28 ist es notwendig »vager« als das Bild, das man sich für einen bestimmten Zweck macht. Ohne Einbildungskraft hätte man vom sinnlich Gegebenen keine Begriffe. Man könnte auch sagen: Ohne die Benennung einer schematisierenden Einbildungskraft als eines zwischen Anschauung und Begriff vermittelnden dritten Vermögens kann man nicht denken, wie sich Begriffe auf Anschauungen beziehen können. – Um die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt denken zu können, zerlegt die Einbildungskraft das Erkenntnisvermögen in verschiedene Vermögen, von denen sie selbst eines ist. Erst durch diese Selbstbezüglichkeit der Einbildungskraft ist ein Erkenntnisbegriff gewonnen, der objektive Erkenntnis als möglich darstellt. Das ist aber kein performativer Widerspruch, weil die Einbildungskraft hier als ein individuell vermittelndes und als solches unentbehrliches Vermögen vorausgesetzt wird. Das gilt sowohl für den in Kants Werk erörterten Erkenntnisbegriff als auch für dieses Werk selbst. Es gilt für alle Begriffe. Definitionen gelangen nach Kant niemals »ad esse«, sondern immer nur »ad melius esse«, und es sei deshalb »schön, aber oft sehr schwer«, zu einem Begriff von 26 27 28
Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 208. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 140. Ebd., B 179 f., Hervorhebung v. Verf.
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etwas zu gelangen, der sich als besser erweist als der Begriff, unter dem es zunächst »gegeben« war. Zum Beispiel suchen die Juristen noch immer nach einer »Definition zu ihrem Begriffe vom Recht«.29 Hegel greift diesen gedanklichen Zusammenhang auf, wenn er vom Begriff im allgemeinen sagt, er sei »nichts anderes als Ich«, das sich anderem Ich mit seiner persönlichen, Begriffe möglicherweise anders explizierenden Einbildungskraft als »individuelle Persönlichkeit« gegenüberstellt.30 Die Einbildungskraft, die Hegel, ebenso wie Descartes, auch als »Phantasie« bezeichnet, ist damit als der eigentliche Ort des sich selbst reflektierenden Bewußtseins verstanden: »Die Intelligenz ist in der Phantasie zur Selbstanschauung […] insoweit vollendet, als ihr aus ihr selbst genommener Gehalt bildliche Existenz hat. Dieses Gebilde ihres Selbstanschauens ist subjektiv, das Moment des Seienden fehlt noch. Aber in dessen Einheit des innern Gehalts und des Stoffes ist die Intelligenz ebenso zur identischen Beziehung auf sich als Unmittelbarkeit an sich zurückgekehrt.« Sie macht sich dadurch »selbst zum Sein, zur Sache« und zum Gegenstand ihrer selbst. »In dieser Bestimmung tätig, ist sie sich äußernd, Anschauung«, nicht nur rezipierend, sondern, als »Zeichen machende Phantasie«, auch »produzierend«.31 Die in der Bezeichnung produzierte konkrete Anschauung tritt damit an die Stelle der Kantischen Anschauungsformen a priori. Als »Zeichen machende Phantasie«, d. h. als Versuch, mit anderen im Verstehen der Zeichen übereinzustimmen, verschafft die Einbildungskraft sich die Anschauung, von der nach Kant alles Erkennen ausgehen und auf die es auch »abzwecken« muß, wenn die Möglichkeit objektiven Seins ohne Widerspruch, d. h. überhaupt soll gedacht werden können. Diese für den Verstand unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit »gemachte« Anschauung ist Zeichen. Es ist eine Anschauung, die nur als im Begriff »aufgehobene« und darin »wahrhaftere Gestalt der Anschauung« gedacht ist.32 Als Zeichen ist sie entweder unmittelbar verstanden, ohne Frage nach ihrer Bedeutung, oder sie verweist auf etwas anderes als sie selbst, aber nicht mehr auf etwas anderes »hinter den Zeichen«, sondern auf andere Zeichen, die die gegebenen umschreibend erklären sollen. Es ist nach Hegel »in Namen, daß wir denken«.33 Das Denken findet sein Ziel darin, daß der Inhalt – »so reich« er durch Erklärungen auch »gefaßt werden möge« – »im Namen« wieder »einfach« ist, wenn die erklärenden oder explizierenden Wörter ohne weitere Erklärung verstanden werden. Wenn die Erklärungen immer weiter fortgeführt würden, würden sie unübersichtlich und für die Orientierung unzweckmäßig. Um »bei der Einfachheit der Vorstellungen zu verweilen« oder sie »aus den abstrakteren Momenten, in welche sie analysiert worden« sein mögen, »wieder zusammenzufassen«, bedarf es wiederum eines »einfach« zu verstehenden Zeichens. Es steht für die Zusammenfassung der Komplexität im Interesse der zu bewahrenden Übersicht. Das Denken »resumiert« »den konkreten Inhalt aus der
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Ebd., B 759 Anm. Hegel: Wissenschaft der Logik, ed. Lasson, II, S. 220. Hegel: Enzyklopädie von 1830, § 457. Ebd., § 459. Ebd., § 462.
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Analyse«34 so, wie es für das Verständnis als zweckmäßig erachtet wird. Die einzelne Person »bildet« sich daher mit der Bildung ihrer Sprache gegenüber fremdem Verstehen immer auch selbst. – Dieser Begriff des Verstehens entspricht dem Humboldtschen Sprachverständnis, nach dem die Sprache »notwendig zweien« angehört und »wohl Brücken von einer Individualität zur andren« baut, »den Unterschied selbst« aber eher vergrößert.35 Auch bei Humboldt ist »die Wirksamkeit des Einzelnen« »immer eine abgebrochene«.36 Mit der Gegenläufigkeit von »gelegentlicher« Explikation und Resumtion ist der Erkenntnisprozeß als ein kommunikativer Prozeß verstanden, oder, wie wir nun auch sagen können, imaginiert. Die Sprache ist dabei keineswegs als ein sicheres Kommunikationsmedium begriffen. Es muß sich immer erst zeigen, ob das, was so darzustellen versucht wird, daß man es ohne Frage nach der Bedeutung versteht, anderen hinreichend verständlich ist. Nietzsche brachte diesen Gesichtspunkt vielleicht am besten zur Sprache: »Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann.« Es wird also nicht mehr ein »intersubjektiv« übereinstimmender Sprachgebrauch vorausgesetzt, sondern eine Sprache, die vom Standpunkt des einen im Hinblick auf das mögliche Verständnis des anderen formuliert wird und von diesem von seinem Standpunkt aus verstanden oder auch nicht verstanden werden kann. »Sprechen« ist nach Nietzsche »im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat«.37 Auch noch nach Wittgenstein ist die »Grammatik« keiner »Wirklichkeit Rechenschaft schuldig. Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung«. Sie konstituieren sie »und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich«.38 Die auf diese Weise grammatisch konstituierten Bedeutungen können keiner äußeren Wirklichkeit entsprechen. Ihr interner Zusammenhang muß jeweils so zu gestalten versucht werden, daß er unterschiedlichen Orientierungsbedürfnissen gerecht wird. Auch »Wirklichkeit« ist in diesem Zusammenhang das, was man in einem weltorientierenden Zusammenhang unter dem Wort »Wirklichkeit« versteht. Wenn man wissen will, was »Wirklichkeit« ist, weil man dieses Wort unmittelbar nicht oder nicht hinreichend versteht, muß man, wie bei allen anderen Wörtern auch, fragen, was es im aktuellen, z. B. philosophischen Gebrauch bedeuten soll, und wenn das Wort keiner Erklärung seiner Bedeutung bedarf, hat es auch keine (von ihm selbst verschiedene) Bedeutung. Dann hört man nach Wittgenstein im Hören des Wortes seine Bedeutung, und er fügt hinzu: »Wie seltsam, daß es so etwas gibt!«39 Das entspricht den »empEbd., § 459. Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Akademieausgabe VII, S. 63 bzw. 169. 36 Ebd., S. 32. 37 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869–1874, Kritische Studienausgabe Bd. 7, Berlin, New York, München 1967 ff., S. 831. 38 Vgl. Ludwig Wittgenstein: The Big Typescript, Frankfurt/M.: Verlag Zweitausendeins, S. 165 (Typoskript, S. 233). 39 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 534. 34 35
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fundenen« Zeichen bei Lambert. Daß es »so etwas gibt«, ist aber »gewöhnlich« und zumeist der Fall. Es erscheint deshalb als »seltsam«, wenn man in der Philosophie generell vom Nichtverstehen ausgeht und nicht das Verstehen, sondern die Frage nach einer von den Wörtern verschiedenen Bedeutung für das Gewöhnliche hält. Daß die Relation zwischen Wort und Bedeutung als Relation zwischen Verschiedenem und als »Bild« zu verstehen sei, bestimmte die in der Interpretation der klassischen Texte vorherrschende metaphysische Tradition und auch noch Wittgensteins eigene frühe Philosophie. Später wird Wittgenstein sagen, ein »Bild« habe auch ihn »gefangen« gehalten,40 nämlich das Bild vom Abbilden einer (transzendenten) Wirklichkeit, mit der wir es jedoch nicht zu tun haben. Wir haben es immer nur mit unseren Vorstellungen einer Wirklichkeit zu tun. Aber »wie vergleicht man Vorstellungen«,41 wenn man von den Vorstellungen nur ihre sprachliche Darstellung, d. h. »seine Zeichen« hat?42 Wittgensteins »einfache« Antwort lautet: »Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.«43 Die Bedeutung ist die gelungene Erklärung. Das muß dann auch für die Bedeutung des Wortes »Bedeutung« und auch für die sogenannten »philosophischen Grundbegriffe« gelten. Man kann seine Vorstellungen von der Wirklichkeit nicht mit etwas anderem als mit anderen Vorstellungen vergleichen. Ein unbeschränkt allgemeines materiales Wahrheitskriterium ist schon nach Kant »in sich selbst widersprechend« und insofern »nicht möglich«.44 Es setzte voraus, daß man sein Fürwahrhalten eines Gegenstandes oder Sachverhalts mit einer transzendenten Wirklichkeit vergleichen könnte. Der Mensch muß sich seine Vorstellungen von der Welt frei machen können, wenn er sich als ein endliches Wesen in der Welt zu orientieren versucht. Mit Hilfe seiner individuellen Einbildungskraft muß er sich von sich aus zu orientieren versuchen und dabei auch die andere Orientierung anderer Menschen beachten. Die Kantische Aussage, daß der Mensch frei sei, weil er sich als frei denkt,45 bedeutet auf diesem Hintergrund, daß er sich die Freiheit nimmt, anderen oder sich selbst »Handlungen« entweder zuzurechnen oder sie, statt als zu verantwortende Handlungen, als Teile eines Naturgeschehens zu bestimmen. Diese Alternative bestimmt den praktischen Diskurs. Auch er ist an einer bestimmten Stelle subjektiv abzubrechen, wenn er denn überhaupt einen Sinn haben soll. In der dargestellten Entwicklung rückt mit dem Begriff der Sprache zugleich die Frage ihrer freien individuellen Gestaltung in den Fokus philosophischer Aufmerksamkeit, als Frage nach ihrer Verbindlichkeit gegenüber »fremder Vernunft«,46 die sich von ihrem
Ebd., Nr. 115. Vgl. Tractatus logico-philosophicus, 2.12 ff. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 376. 42 Vgl. ebd., Nr. 504 und The Big Typescript, a. a. O., S. 16 (Typoskript, S. 4): »Wenn man aber sagt: ›Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‹, so sage ich: ›wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‹« 43 Witttgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 560. 44 Kant: Logik, ed. Jäsche, AA IX, 50. 45 Kant: Philosophische Religionslehre nach Pölitz, AA XXVIII, 1067. 46 Zu diesem Begriff vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 849. Dazu v. Verf.: Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York 2003. 40 41
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anderen Ausgangspunkt her in der Welt zu orientieren versucht. Der Mensch »ist« frei, aber nicht, weil er sich als frei erfährt – Freiheit meint keinen Gegenstand möglicher Erfahrung –, sondern weil er sich als frei denkt, und er denkt sich schon dadurch als frei, daß er sich seine Erfahrungen mit Hilfe seiner Einbildungskraft macht. »Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde.«47 Ein solches »Wesen« ist der Mensch. Er ist nicht das, als was er sich gemäß einer »Definition« seines »Wesens« vorstellt. Er »hat« bzw. »nimmt« sich die Freiheit, sich oder andere entweder als frei oder als naturdeterminiert zu denken, und er muß entscheiden, was in der jeweiligen Situation zum gegenseitigen Verständnis das Beste und zu verantworten ist.
Literatur Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830–1835], Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften (Akademieausgabe) Bd. VII, Berlin 1907. Lambert, Johann Heinrich: Philosophische Schriften, 2 Bde., hg. v. H.W. Arndt, Hildesheim 1965. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1869–1874, Kritische Studienausgabe Bd. 7, Berlin, New York, München 1967 ff. Simon, Josef: Johann Heinrich Lamberts Zeichenkunst als Weg zur Kritik. Überlegungen zum Verhältnis von Kritik und Interpretation, in: M. Beetz / G. Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 49–65. Simon, Josef: Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York 2003. Wittgenstein, Ludwig: The Big Typescript, Frankfurt/M.: Verlag Zweitausendeins 2000.
47 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 448. Vgl. auch Kant: Philosophische Religionslehre nach Pölitz, a. a. O., 1068: Der Mensch handelt, wenn er handelt, »als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei«, ferner Kant: Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre, AA VIII, 13: Auch der »entschlossenste Fatalist« muß »jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor und kann sie auch allein hervorbringen. Es ist schwer, den Menschen ganz abzulegen.«
Is there a transcendental imagination? Paul Guyer (Philadelphia PA) Is there a transcendental imagination? Or to put the question I will address more precisely, is there sufficient reason to accept the assertion of the existence of a transcendental imagination within Kant’s theory of the conditions of the possibility of human knowledge? Well, to borrow a phrase, it all depends on what you mean, in this case by each of the terms »imagination« and »transcendental.« So let’s start there. What Kant means by »imagination« seems straightforward. While he sometimes makes it sound mysterious, as when he calls it »a blind though indispensable function of the soul, without which we would have no cognition at all, but of which we are seldom even conscious« (A 78 / B 103),1 his actual definition of the imagination is simply that it is »the faculty for representing an object even without its presence in intuition« (B 151). In this definition, Kant follows a well-established tradition: thus, Wolff defined the imagination as the power to represent things »that are absent,« contrasting it to sensation as the power to represent things »that are present«;2 and Baumgarten defined images (imaginationes) as »representations of things that were once present,« and the imagination (facultas imaginandi seu PHANTASIA) as the power to have such images.3 While Baumgarten’s definition apparently restricts the imagination to the reproduction of perceptions of things previously actually present, Kant’s definition, like Wolff’s, seems more general, ascribing to the imagination all representations of things not currently present, thus, presumably, in addition to things previously perceived, things currently extent but not currently perceived and things that will be but also merely could be perceived in the future. The imagination is the ability to form a representation of anything that is not currently given to intuition for any reason. However, while this definition could make it sound as if the imagination is simply the ability to recall prior representations, project future representations, or fantasize repre1 All citations from the Critique of Pure Reason are from Immanuel Kant: Critique of Pure Reason, edited and translated by Paul Guyer and Allen W. Wood, Cambridge: Cambridge University Press 1998, and are located as customary by the pagination of the first (»A«) and / or second (»B«) editions, supplied in the Cambridge translation. Other citations from Kant will be located by the volume and page number in the »Academy« edition, that is, Kant’s gesammelte Schriften, edited by the Royal Prussian, later German, then Berlin-Brandenburg, Academy of Sciences, Berlin: Georg Reimer, later Walter de Gruyter & Co., 1900–. 2 Christian Wolff: Der vernünftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil, Frankfurt/M: J. B. Andrea and H. Hort 1740, § 71: »Die Empfindungs-Krafft … stellet diejenige Dinge vor, welche gegenwärtig sind; die Einbildungs-Krafft aber diejenige, welche abwesend sind.« Cited from Christian Wolff: Metafisica Tedesca con le Annotazioni alla Metafisica Tedesca, edited by Raffaele Ciafardone, Milan: Bompiani 2003, p. 1002. 3 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica [1739], §§ 558–9; in Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, edited by Hans Rudolf Schweizer, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1983, p. 28.
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sentations that never were or will be actual, and as if all processing of such representations must be left to other faculties of mind, Kant’s usage makes it clear in a way that the definition itself does not that the imagination also includes the power to combine such representations, either with each other only or with actual current representations. Thus Kant speaks of syntheses of the imagination as often as he speaks of the imagination itself, and our question of whether there is such a thing as the transcendental imagination must thus be split into two, namely, whether there is anything that could properly be called transcendental in the power to have representations of that which is not currently present to intuition and whether there is anything that could be called transcendental in the power to combine or synthesize representations of that which is not currently present to intuition, either to each other or to current intuitions. Kant himself clearly assumes affirmative answers to both of these questions, and speaks of a transcendental faculty of imagination as well as of the transcendental synthesis of imagination. For example, in a long note from the beginning of the 1780s that may have been a late sketch for the Transcendental Deduction of the categories in the first edition of the Critique or a first attempt at a revision of it, he says both that »The synthetic unity of apperception in relation to the transcendental faculty of imagination is the pure understanding« and that »The transcendental synthesis of the imagination lies at the basis of all the concepts of our understanding« (Loses Blatt B 12, 23:18).4 Our question thus becomes whether Kant is entitled to speak of both a transcendental faculty of imagination and the transcendental synthesis of imagination. To approach these questions, however, we must next consider what Kant means by »transcendental.« Here things quickly become complicated, because even leaving apart obvious misuses, as when Kant uses »transcendental« to mean »transcendent,« he uses this term not in one sense but in at least three. When he first introduces the term in the Critique he states that »I call all cognition transcendental that is occupied not so much with objects but rather with our mode of cognition of objects insofar as this is to be possible a priori« (A 11 / B 25). This suggests that only that which is or concerns a condition of the possibility of a priori knowledge should be called transcendental; but since at this point in the Introduction to the Critique Kant has already argued that the special problem for philosophy is that of the possibility of synthetic a priori knowledge, this should probably be interpreted to mean that anything properly called transcendental is called such because it is a condition of the possibility of synthetic a priori knowledge. Next, in the Transcendental Aesthetic as rewritten for the second edition of the Critique, Kant states that »I understand by a transcendental exposition the explanation of a concept as a principle from which the possibility of other synthetic a priori cognition can be gained« (B 40). This might not seem very different from the previous definition of »transcendental« except syntactically – that is, it now applies the term »transcendental« to »exposition« rather than to »knowledge,« but seems to mean just that a transcendental exposition is that which shows some knowledge to be tranTranslation from Immanuel Kant: Notes and Fragments, edited by Paul Guyer, translated by Curtis Bowman, Paul Guyer, and Frederick Rauscher, Cambridge: Cambridge University Press 2005, p. 258. 4
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scendental in the sense of being a condition for the possibility of some synthetic a priori cognition. However, Kant’s use of the word »other« in this definition suggests that a transcendental exposition is supposed to show that the condition of some synthetic a priori cognition is itself a synthetic a priori cognition, something not suggested in the first definition. Finally, as if this were not complexity enough, several years prior to publishing the Critique Kant also wrote that »Cognition is called transcendental with regard to its origin, transcendent with regard to the object that cannot be encountered in any experience« (Reflection 4851, 18:10).5 This makes it clear that even though they differ by only two letters, »transcendental« and »transcendent« differ radically in meaning, the former concerning the origin of the knowledge that we do have and the latter designating claims to knowledge that we can never have – even though Kant himself will subsequently sometimes use »transcendental« in the diametrically opposed sense of »transcendent,« above all in the Transcendental Dialectic when he calls the ideas of pure reason »transcendental« instead of »transcendent.«6 But the important point here is that this definition of »transcendental« contains no reference to a priori cognition, whether synthetic a priori cognition or all a priori cognition, so it suggests that anything that is a condition of knowledge at all, not just of a priori or synthetic a priori cognition, may properly be called transcendental. Thus we get three senses of »transcendental,« namely (i) that which is a condition of the possibility of any and all knowledge (R 4851), (ii) that which is a condition of the possibility of synthetic a priori knowledge (A 11 / B 25), and (iii) that which is not merely a condition of the possibility of some synthetic a priori knowledge but which itself also is or contains some other synthetic a priori cognition (B 40). Correspondingly, we get three (pairs of) questions we can ask about both the faculty of imagination and its synthesis or syntheses: (1) Is the faculty of imagination and / or its synthesis transcendental in the sense (i) of being a condition of the possibility of knowledge in general? (2) Is the faculty of imagination and / or its synthesis transcendental in the sense (ii) of being a condition of the possibility of synthetic a priori cognition? and (3) Is the faculty of imagination and / or its synthesis transcendental in the sense of itself adding some synthetic a priori cognition or principles to the other synthetic a priori cognition the possibility of which it explains? One more twist before I propose my responses to these questions: although the term »transcendental« in any of the senses thus far defined is not obviously synonymous with the term »pure,« which Kant defines as that »with which nothing empirical is intermixed« (B 3), Kant nevertheless often procedes as if the expressions »transcendental Kant: Notes and Fragments, p. 195. He tries to explain away this misuse at A 296 / B 352–3 by redefining the distinction between »transcendental« and »transcendent« as that between a use of the principles of pure understanding »that reaches out beyond the limits of experience« and one that actually »takes away these limits, which indeed bids us to overstep them.« There may be some difference between an inadvertent and an intentional transgression of the limits of theoretical cognition, but to use »transcendental« to connote the first of these is still a departure from any of the previously defined or employed senses of »transcendental.« 5 6
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synthesis of the imagination« and »pure synthesis of the imagination« mean the same. Or at least he speaks of a »pure transcendental synthesis« of the imagination without any indication that the two adjectives contribute anything separate to the meaning of the phrase, as when he claims in the first-edition Transcendental Deduction that »a pure transcendental synthesis of« the imagination »would be grounded even prior to all experience on a priori principles« and in turn »grounds even the possibility of all experience« (A 101). So one question we must ask in asking whether there is a transcendental synthesis of the imagination in any of our senses of »transcendental« is whether there is a pure synthesis of the imagination in which »nothing empirical is intermixed« and which yet »grounds even the possibility of all experience.« Sometimes, however, Kant uses the expressions »pure synthesis of the imagination« and »transcendental synthesis of imagination« in a way that shows that he intends them to mean two different syntheses. Thus in Loses Blatt B 12 he writes that: The pure synthesis of the imagination is the ground of the possility of the empirical synthesis in apprehension, thus also of perception. It is possible a priori and produces nothing but shapes. The transcendental synthesis of the imagination pertains solely to the unity of apperception in the synthesis of the manifold in general through the imagination. Through that a concept of the object in general is achieved in accordance with the different kinds of transcendental syntheses. The synthesis happens in time. (23:18)7 This suggests that there is one synthesis of the imagination that is a priori relative to perception, and another that is a priori relative to the unity of apperception, the former being responsible for the shapes and presumably other spatial properties of what is perceived, the latter presumably for the subsumption of what is perceived under the categories – and that at least the latter if not both of these syntheses occur in time. Thus we will have to ask whether Kant has good ground to believe that there is a synthesis of the imagination antecedent to perception, and one antecedent to the conceptualization of perception that is supposed to be the condition for the recognition of the unity of apperception – and whether it is even coherent for him to claim such syntheses and yet suppose that they take place in time, as he must do as long as these syntheses are attributed to the faculty of imagination. Now I can state the positions I want to defend. I will argue, first, that it is obvious that the faculty of imagination and its synthesizing activity are involved in the origin of all knowledge, and these can thus properly be called transcendental in sense (i). Second, I will argue that the faculty of imagination and its synthesizing activity are involved in the origination of synthetic a priori cognition, and can thus be called transcendental in sense (ii), but that no act of pure synthesis of the imagination actually takes place except in the origination of mathematical synthetic a priori cognition, so it is not obvious that there is a pure transcendental synthesis of the imagination that underlies or grounds all cognition or experience, either as a condition of perception or a condition 7
Kant: Notes and Fragments, p. 258.
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of conceptualization. Finally, however, I will argue that the faculty of imagination supplies synthetic a priori principles of its own, and is thus properly called transcendental in sense (iii), only insofar as it ascribed the task of combining the a priori forms of pure intuition and the a priori concepts of the pure understanding in accordance with which it conducts all its syntheses in order to generate the synthetic a priori principles of judgment in what Kant calls »schematism,« but that this task of schematism cannot itself be considered as an actual process of synthesis by the imagination, taking place in real time as all genuine syntheses of the imagination must do by their very definition as reproductions or anticipations of that which is not now perceived. Thus, although the faculty of imagination may be called transcendental in sense (iii), there is no synthesis of the imagination that may be called transcendental in this sense.
I. The faculty of the imagination and the kind of combination of the representations that it affords in syntheses underlie all particular synthetic cognitions, both empirical and a priori, and thus the imagination and its syntheses are transcendental in senses (i) and (ii). But there cannot be a pure synthesis of the imagination in the case of any cognition except mathematical cognition, nor does the imagination itself contribute any synthetic a priori principles to cognition, and is thus transcendental in sense (iii), except in the schematism of the pure concepts of the understanding, which however is not a process of synthesis in time at all. To establish these points, let us consider some of Kant’s own examples of the role of imagination in cognition. Kant’s first significant discussion of the imagination comes in his exposition of the »threefold synthesis…necessarily found in all cognition« in the first-edition version of the Transcendental Deduction. This threefold synthesis is comprised of »the apprehension of the representations, as modifications of the mind in intuition; of the reproduction of them in the imagination; and of their recognition in the concept«(A 97).8 That the imagination should be responsible for the reproduction of intuitions follows directly from the traditional definition of it that Kant accepts, although his own statement of that traditional definition, which I previously quoted, comes only in the second edition of the Critique. But that the role of imagination in the threefold synthesis is that of reproducing previously given representations (or, should this turn out to be part of its work, anticipating ones that have not yet been given) means that the imagination works in time – as we might normally say, setting aside scruples arising from the doctrine of transcendental idealism9 – in real time. Obviously, a synthesis of reproduction can only
8 See also R 5636, where Kant writes »In pure sensibility, the pure power of imagination, and pure apperception lies the ground of the possibility of all empirical cognition a priori and of the synthesis in accordance with concepts, which has objective reality« (18:267; Notes and Fragments, p. 260). 9 I will not go into the details of transcendental idealism here. For a statement of my scruples about transcendental idealism to which I still adhere, see my Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge:
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succeed the apprehension of the data to be synthesized, and cannot precede it (and a synthesis of anticipation could only precede what it anticipates, but would still happen in real time). The idea that there might be a pure synthesis of the imagination in which no empirical data given successively in time is intermixed and which precedes the temporally successive receipt of such data is thus dubious from the outset. The apprehension of data in intuition, or the »synthesis of apprehension in the intuition,« is clearly temporally successive. Kant states that »all of our cognitions are in the end subjected to the formal condition of inner sense, namely time, as that in which they must all be ordered, connected, and brought into relations,« and that a manifold of intuitions or data from intuition could »not be represented as such if the mind did not distinguish the time in the succession of impressions on one another« (A 99). That is, the manifold of data that are to be synthesized into cognition by means of the threefold synthesis is always apprehended successively in time, and the further aspects of the threefold synthesis that must be performed upon this manifold must themselves also take place in time, successive to or alongside of the temporally extended process of apprehension, but not prior to it. This is the case whether the object being cognized is itself either empirical or pure.10 Kant’s example makes this clear for the case of a pure, mathematical object: »if I draw a line in thought, or think of the time from one noon to the next, or even want to represent a certain number to myself, I must necessarily first grasp one of these manifold representations after another in my thoughts« – that is the temporally successive synthesis of apprehension. »But if I were always to lose the preceding representations (the first parts of the line, the preceding parts of time, or the successively represented units) from my thoughts and not reproduce them when I proceed to the following ones, then no whole representation and none of the previously mentioned thoughts, not even the purest and most fundamental representations of space and time, could ever arise. The synthesis of apprehension is therefore inseparably combined with the synthesis of reproduction« (A 102), that is, with the synthesis of imagination. Note that Kant distinguishes between a temporal object such as the time from one noon to the next and a non-temporal object such as a line or a number: his claim is not that all pure objects of cognition are themselves temporal, but rather that our representation of all such objects takes place in time, and must involve a temporally successive apprehension of the parts of the represented object and a reproduction of our representations of such parts that also takes place in time and indeed successively to the original representations of those parts.
Cambridge University Press 1987. See also my Transzendentaler Idealismus und die Grenzen der Vernunft, in: Wolfram Hogrebe (ed.): Grenzen und Grenzüberschreitungen: XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin: Akademie Verlag 2004, pp. 89–103. 10 Herbert James Paton recognized that all synthesis must occur in time, and for that reason be an ongoing process: »We who are given a point, and a continually changing point, on which to base our thinking, are able somehow to construct a universe. So long as we ignore this elementary fact, our philosophies, however valuable, must necessary be incomplete.« Kant’s Metaphysic of Experience, two volumes, London: George Allen & Unwin 1936, I:580.
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For the case of empirical objects, we have to modify Kant’s examples of the threefold synthesis of the representions slightly, because he gives us counterfactual examples of temporally extended manifolds of apprehension that would defeat the possibility of successful reproduction and thus the possibility of cognition: »If cinnabar were now red, now black, now light, now heavy, if a human being were now changed into this animal shape, now that one, if on the longest day the land were covered now with fruits, now with ice and snow, then my empirical imagination would never even get the opportunity to think of heavy cinnabar on the occasion of the representation of the color red« (A 100–1), and so on. To obtain cases of successful cognition of such empirical objects, we must instead suppose that there is a regular rather than irregular temporal succession of observations – but still, of course, a succession of observations and of the subsequent reproduction and processing of those observations. So, for example, we might first apprehend cinnabar as red and heavy, then, after it has undergone certain metallurgical processes, as divided into a silvery and even heavier part (the mercury released from its ore) and, let us suppose, a black and somewhat lighter part (the slag); we might first observe a human being as instantiating a certain shape in one size, then, with the passage of time, instantiating that same shape in another size (larger or smaller depending on whether we have a growing youth or a shrinking old person); we might first observe the land covered with grain and fruit during the long days of summer and then later covered with ice and snow during the short days of winter; and so on. The point is just the obvious one that in all cases of empirical knowledge we apprehend our data over a period of real time, and must then reproduce that data as needed at particular points in real time, subsequent to those original observations although perhaps also simultaneous with additional ones. So the synthesis of reproduction in imagination must take place in time, just as does the synthesis of apprehension in intuition, and indeed at a time subsequent to the apprehension of at least the initial data in the manifold, whether the object being represented is pure or empirical. Because both the synthesis of apprehension and the synthesis of reproduction are necessary conditions for the occurrence of cognition, Kant says that both may be called transcendental: The synthesis of apprehension is therefore inseparably combined with the synthesis of reproduction. And since the former constitutes the transcendental ground of the possibility of all cognition in general (not only of empirical cognition, but also of pure cognition), the reproductive synthesis of the imagination belongs among the transcendental actions of the mind, and with respect to this we will also call this faculty the transcendental faculty of imagination. (A 102) Thus far, all that this means is that the synthesis of reproduction in imagination is part of the origin of any cognition, and is thus transcendental in sense (i). Since reproduction by the imagination is necessary for the cognition of pure mathematical objects such as lines and numbers, however, and our knowledge of such objects is, according to the Transcendental Aesthetic, synthetic a priori, in at least those cases the faculty of imagination and its syntheses are necessary conditions of the possibility of synthetic a priori
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cognition, and thus in at least those cases the faculty and synthesis of imagination can also be called transcendental in sense (ii). But there is at least thus far no basis for a claim that the imagination is transcendental in sense (iii), itself containing any synthetic a priori principle, or for a claim that its synthesis is pure except in the strictly mathematical cases. And even in the latter, where the data to be synthesized are themselves pure, the synthesis of reproduction in imagination still takes place in real time subsequent to the successive moments of representing the manifold, not antecedently to that. Now of course the transcendental faculty and syntheses of the imagination proceed in accordance with certain synthetic a priori principles, whether we are considering the cognition of empirical objects, where the imagination is transcendental in sense (i), or of mathematical objects, where it is transcendental in sense (ii) and pure in the sense conceded above. These synthetic a priori principles come from the pure forms of intuition, as is implicit in what has been said thus far, and from the pure concepts of the understanding, which have not yet been mentioned. First, the pure forms of intuition. Since both the synthesis of apprehension and the synthesis of reproduction take place in time, and according to the Transcendental Aesthetic time has a necessary and universal, thus a priori form that can be given in pure intuition but also structures all empirical intuition of inner states and outer objects, these syntheses, whether yielding cognition of pure objects or of empirical ones, proceed in accordance with the a priori form of the intuition of time. Likewise, the Transcendental Aesthetic has argued that space has an a priori form that can be given in pure intuition but also structures all empirical intuition of outer objects, though not of inner states, and therefore the syntheses of apprehension and reproduction of pure spatial objects, that is, geometrical objects, as well as of empirical outer objects proceed in accordance with the a priori form of the intuition of space. Further, the syntheses of apprehension and reproduction must proceed in a way that is in accordance with the conditions for the application of concepts to the objects that are ultimately represented, and, since the categories of pure understanding are nothing but the general and a priori forms of all particular concepts, whether empirical or pure, in accordance with those categories. This is of course the central contention of the Transcendental Deduction, introduced into the preliminary exposition in the first edition in the form of the »synthesis of recognition in the concept.« Here Kant argues that »all reproduction in the series of representations would be in vain« apart from »consciousness that that which we think is the very same as what we thought a moment before« (A 103), and that this consciousness of sameness is expressed through the use of a concept of the object. Thus, to borrow examples from the »Schematism« chapter, to which of course we will have to return, it is through the use of the concept dog that we recognize that the several intuitions of furriness, four-footedness, and barking that we have successively apprehended and then reproduced are intuitions of a single object, and it is through the use of the concept triangle that we recognize that the several lines and their intersections that we have, whether in observation or construction, successively apprehended and reproduced, constitute a single object. And according to the introductory chapter of the »Analytic of Concepts« that Kant called in the second edi-
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tion of the Critique the »Metaphysical Deduction« of the categories (B 159), all such particular concepts, whether empirical concepts or pure mathematical concepts, must be formed in accordance with the categories, which structure our concepts of objects in the ways that are necessary in order for us to use those concepts in judgments, which are the ultimate vehicle for cognition, given that there are certain ways in which such judgments themselves are necessarily formed. I will not rehearse the details of that argument here, but the basic idea is obvious: since judgments assert predicates of subjects, for example, we must conceive of objects as substances with accidents or properties in order to make judgments about them; and so on. But of course we never simply judge that »Here is a substance with an accident,« but rather »Here is a dog with four feet« or »Here is a triangle with three equal angles,« so the categories are not themselves particular concepts of objects but rather general forms for the concepts of objects, whether empirical (like dog) or pure (like triangle). And if we are to be able to make judgments about and therefore apply the categories, through more particular concepts, to all objects of intuition, whether empirical or pure, then the syntheses of apprehension and imagination must proceed in accordance with these a priori forms of the understanding as well as with the a priori forms of intuition. It is obvious how this is supposed to work in the case of empirical objects: all of the categories can readily be employed in judgments about any empirical object. Because Kant includes »Causality and Dependence« as well as »Community« understood as »reciprocity between agent and patient« on his list of categories (A 80 / B 106), it is not so clear how all the categories can be used in judgments about pure mathematical objects: a triangle as a pure mathematical objects does not stand in causal relations or interactions. But this is a minor problem: Kant has just gotten ahead of himself by listing in his initial table the schematized categories of relation such as causation and interaction, when he should have listed only the unschematized categories such as ground and consequence and community in general at this point in his exposition. We can judge of a triangle, for example, that if it is equilateral than all of its angles are also equal, or of any triangle that it must be either acute, equilateral, or obtuse, so that if it is not, for example, acute or equilateral, then it is obtuse. So we can apply the categories of ground-and-consequence and community properly understood to pure mathematical objects as well as to empirical objects, although in the case of empirical objects the more concrete concepts through which we apply the categories to them will include concepts of action and interaction, while the more concrete concepts through which we apply the categories to mathematical objects will not. But in either case, assuming the success of the arguments of the Metaphysical and Transcendental Deductions, the syntheses of apprehension in intuition and reproduction in imagination will necessarily proceed in ways compatible with the a priori concepts of the understanding as well as with the a priori forms of intuition.
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II. Now everything that was said in the previous section will be obvious even to a firsttime reader of the Critique. I will proceed now to some controversial points. I will argue that in the »Schematism« chapter Kant shows the faculty of imagination to be transcendental in sense (iii), that is, he shows that it itself contributes some synthetic a priori principles as well as merely operating in a way consistent with the a priori principles contributed by the forms of intuition and the pure concepts of the understanding by themselves, but that he does not show there that there is any further transcendental synthesis of the imagination, for the simple reason that, in spite of some of Kant’s language, schematism is not a real-time process of synthesis at all, but something else, more like an interpretation of a concept that obtains in a linguistic community (in this case, the community of the whole human race) than like a synthesis that is performed by any particular individual at any particular time. I will also argue that except in the special case of the representation or construction of mathematical objects in pure intuition, the transcendental synthesis of the imagination that has thus far been conceded cannot be considered a pure synthesis of imagination, but can only be considered an empirical synthesis, occurring in real time, in accordance with the a priori principles of intuition and understanding. First, then, a comment on the schematism. Kant ascribes the schematism of concepts to the faculty of imagination. He prefaces his discussion with this well-known statement, which makes schematism and therefore the imagination sound very mysterious: »The schematism of our understanding with regard to appearances and their mere form is a hidden art in the depths of the human soul, whose true operations we can divine from nature and lay unveiled before our eyes only with difficulty« (A 141 / B 180–1). He then distinguishes three different products, each ascribed to a different aspect or version of the imagination: the image is a product of the empirical faculty of productive imagination, the schema of sensible concepts (such as figures in space) is a product and as it were a monogram of pure a priori imagination, through which and in accordance with which the images first become possible, but which must be connected with the concept…always only by means of the schema that they designate. The schema of a pure concept of the understanding, on the contrary, is something that can never be brought to an image at all, but is rather only the pure synthesis, in accord with a rule of unity according to concepts in general, which the category expresses, and is a transcendental product of the imagination, which concerns the determination of inner sense in general, in accordance with conditions of its form (time) in regard to all representtions, insofar as these are to be connected together a priori in one concept in accord with the unity of apperception. (A 141–2 / B 181) What syntheses of the imagination, understood as temporal processes including the reproduction of prior representations, are actually implied here? Images, no doubt, are products of actual syntheses of the imagination, because they have determinate tempo-
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ral locations and are typically composed of reproductions of representations previously apprehended. For that reason, one might well have expected Kant to have ascribed the production of images to the empirical faculty of reproductive rather than productive imagination, but perhaps he calls the imagination productive here because out of particular representations previously apprehended it can construct an image of a particular object that has not yet been apprehended. Second, Kant says that the schemata »of sensible concepts (such as figures in space) [are] a product and as it were a monogram of pure a priori imagination, through which and in accordance with which images first become possible«. Here the situation is a little more complicated: Kant seems to mean that mathematical objects such as figures can be constructed in pure sensible intuition by acts of pure a priori imagination, and that particular images of objects of empirical sensible intuition are constructed by empirical imagination in accordance with these pure figures functioning as guidelines. Kant’s original illustration of the construction of mathematical images such as lines made it clear that such construction takes place over time, and requires the synthesis of reproduction in imagination, even where the objects are objects of pure intuition, and so it seems that here too there is a genuine synthesis of reproduction in imagination, which takes place in real time but which is pure because it deals only with objects represented in pure intuition. However, even though it is central to Kant’s position on the necessary applicability of mathematics to our experience that the construction of the images of objects in empirical intuition must take place in accordance with the pure forms of intuition and the possibilities for construction that are determined by the pure forms of intuition, it is not obvious that actual acts of the synthesis of the shape or other mathematical properties of empirical objects must be preceded by the construction of those shapes or other mathematical properties in pure intuition, thus that there must be actual pure a priori syntheses, that is, particular syntheses of mathematical objects in pure intuition but in real time. The schemata for the construction of mathematical concepts seem rather to be rules, which are themselves a priori, for the construction of objects or properties in either pure or empirical intuition, and the syntheses conducted in accordance with such rules will be either pure syntheses conducted in accordance with these a priori rules or empirical syntheses conducted in accordance with these a priori rules; but it is not obvious that actual occurrences of the latter always need to be preceded by actual occurrences of the former, indeed that anyone other than mathematicians actually must undergo or undertake pure a priori syntheses at any time at all. Finally, it is even less clear that any actual process of synthesis take place in the schematism of the pure concepts of the understanding, even though Kant explicitly asserts that the schema of a pure concept of the understanding is »the pure synthesis, in accord with a rule of unity according concepts in general, which the category expresses« (A 142 / B 181). To see why this statement is misleading, we need to understand what the schema of a category is. Categories need schemata because they are not homogeneous with intuitions, that is, they are conceptions of objects in purely logical terms, derived from the functions of judgment, that cannot be directly intuited. That an object is a subject for predicates, or that the state of one object is the ground for the state of another
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which is its consequence, is not the sort of thing that can simply be seen or heard. So, Kant argues, »there must be a third thing, which must stand in homogeneity with the category on the one hand and the appearance on the other, and [which] makes possible the application of the former to the latter,« a »mediating representation« which »must be pure…and yet intellectual on the one hand and sensible on the other« (A 138 / B 177). Since all of our representations have temporal properties, but not all of them have spatial representations, and since Kant assumes that the schemata of all of the categories must be applicable to all of our representations, he infers that the schemata of the categories must be temporal structures or relations which can be directly intuited in our representations of objects yet which also allow for the application of the categories to our intuitions. The schema of a category is thus »a transcendental time-determination« that »is homogeneous with the category (which constitutes its unity) insofar as its is universal and rests on a rule a priori« but which is »on the other hand homogeneous with the appearance insofar as time is contained in every empirical representation of the manifold« (A 138–9 / B 177–8). For example, the temporal relation of succession in accordance with a rule is supposed to be something intuitable that can serve as the medium for the application of the purely logical concept of ground and consequence, which is not directly intuitable (A 144 / B 183), or the temporal feature of existence at all times is supposed to be something intuitable that can serve as the medium for the application of the purely logical concept of necessary existence (A 145 / B 184). Let us not worry about the details of Kant’s correlations here, thus about whether succession in accordance with a rule is really directly intuitable or whether existence at all times is intuitable and is either a necessary or sufficient condition for the application of the concept of necessary existence. (It is not actually the schema of necessity that Kant will subsequently use in his account of the conditions for the empirical use of the modal categories in the »Postulates of Empirical Thinking«). And let us just concede Kant’s claim that the temporal schemata and their association with the categories are products of the faculty of the imagination. In that case, we can certainly call the faculty of imagination transcendental, at least in sense (i), since these schemata are clearly involved in the origination of empirical knowledge, and perhaps in sense (ii) as well, since these schemata are subsequently involved in the explanation of (non-mathematical) synthetic a priori cognition, such as that every event has a cause. The point I want to make now is just that the schematism of the pure concepts of the understanding does not involve any actual transcendental syntheses of imagination, understood as acts in time, because these schemata are just rules in accordance with which particular syntheses of empirical intuitions, including the reproduction of intuitions in imagination, can and must be conducted, but are not themselves syntheses. Even if the imagination is somehow the source of the idea of temporal succession in accordance with a rule, no intuitions are actually reproduced or synthesized in the formulation of that idea, although throughout our experience intuitions will be reproduced or synthezied in accordance with it. To be sure, in the formulation of the schema certain concepts are combined – the concept of succession in time is combined with the concept of accordance with a rule – but these concepts are not themselves intuitions, even if the former is a concept of something
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intuitable, and their combination is therefore not a synthesis of intuitions. Thus, the schemata of the pure concepts of the understanding may, if Kant likes, be ascribed to a transcendental faculty of imagination, but this does not imply the existence of any transcendental syntheses of imagination or perhaps to be more precise, any pure syntheses of the imagination. It implies only that the empirical syntheses of the imagination will take place in accordance with certain pure forms, so that the empirical syntheses may be called transcendental in that sense. I can use these comments about the Schematism as a springboard to two further points. The first concerns whether the faculty of imagination can be called transcendental in sense (iii), that is, whether it can be seen as not merely a factor in the origination of synthetic a priori cognition, which would make it transcendental in sense (ii), but also as producing synthetic a priori cognitions of its own from which the possibility of other synthetic a priori cognitions can be gained, or explained – which would make it transcendental in sense (iii) as defined at B 40. There is a way to answer this question the affirmative: if we see the function of the arguments of the »System of all principles of pure understanding« – that is, the Axioms of Intuition, Anticipations of Perception, Analogies of Experience, and Postulates of Empirical Thinking – that follows the Schematism chapter to be that of demonstrating that the a priori conceptions introduced in the Schematism apply necessarily and universally throughout our experience – if we see the function of the second Analogy of Experience, for example, to be that of demonstrating that the schema of succession in accordance with a rule applies to everything we can possibly experience – then we can see the arguments of the System of Principles as being aimed at producing synthetic a priori cognition, namely the cognition that the schemata apply throughout our experience.11 But if we also think of the schemata as themselves synthetic a priori cognitions, because they combine or result from the combination of a priori forms of intuition with a priori concepts – thus, for example, the schema of causality combines the a priori form of intuition succession with the a priori concept in accordance with a rule – then we can think of the faculty of imagination that (allegedly) produces the schemata as producing synthetic a priori cognitions that themselves yield other synthetic a priori cognitions, namely synthetic a priori schemata of the categories that lead to the synthetic a priori principles of judgment, the synthetic a priori principles that the schemata apply throughout our experience. In this way the faculty of imagination could be regarded as transcendental in sense (iii). But this would still not imply that there are pure syntheses of the imagination, except in the special case of the syntheses of mathematical objects in pure intuition, which, however, I argued, need not actually precede empirical syntheses of the representations
11 To be sure, interpreting the intention of the System of Principles in this way means rejecting the stance of Strawson, Bennett, and others that Kant’s arguments should be understood as an extended and perhaps unobvious analysis of the concept of experience. See Peter F. Strawson: The Bounds of Sense, London: Methuen 1966, e.g., pp. 18, 29; and Jonathan Bennett: Analytic Transcendental Arguments, in: Peter Bieri / Rolf-Peter Horstmann / Lorenz Krüger (eds.): Transcendental Arguments and Science: Essays in Epistemology, Dordrecht: Reidel 1979, pp. 45–64.
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of objects in accordance with the pure forms of intuition and the mathematics that these pure forms ground. Let me now make this point more generally, as well as a related point. Back in the original account of threefold synthesis, Kant wrote first, about the synthesis of apprehension in intuition, that This synthesis of apprehension must also be exercised a priori, i. e., in regard to representations that are not empirical. For without it we could have a priori neither the representations of space nor of time, since these can be generated only through the synthesis of the manifold that sensibility in its original receptivity provides. We therefore have a pure synthesis of apprehension (A 99–100), and then, in a parallel passage about the synthesis of reproduction in imagination, that The synthesis of apprehension is therefore inseparably combined with the synthesis of reproduction. And since the former constitutes the transcendental ground of the possibility of all cognition in general (not only of empirical cognition, but also of pure a priori cognition), the reproductive synthesis of the imagination belongs among the transcendental actions of the mind, and with respect to this we will also call this faculty the transcendental faculty of the imagination. (A 102) Commentators have often understood Kant to mean in these passages that a pure synthesis of space and time as unitary wholes, a synthesis involving the imagination, must ground or precede the representation of any objects in space and / or time, thus that a pure synthesis of space and time must ground or precede all empirical syntheses of objects, or syntheses of empirical objects.12 Perhaps Kant did intend that; perhaps that is precisely what he meant in the well-known passage from the second-edition Transcendental Deduction: We have forms of outer as well as inner sensible intuition a priori in the representations of space and time, and the synthesis of the apprehension of the manifold of appearance must always be in agreement with the latter, since it can occur only in accordance with this form. But space and time are represented a priori not merely as forms of sensible intuition, but also as intuitions themselves (which contain a manifold), and thus with the determination of the unity of this manifold in them. Thus even unity of the synthesis of the manifold, outside or within us, hence also a combination with which everything that is to be represented as determined in space or time must agree, is already given a priori, along with (not in) these intuitions, as condition of the synthesis of all apprehension. (B 160–1) The first sentence of this passage clearly states that the synthesis of empirical manifolds for the representation of particular objects – that is, the manifold of appearance – must be in accordance with the pure forms of space and / or time. To reject that would be to reject Kant’s epistemology altogether. The remainder of the passage, however, does 12
Paton asserts this claim repeatedly; see Kant’s Metaphysic of Experience, I:353, 364–5, 372.
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seem to make the further assertion that a pure a priori synthesis of space and time as single and entire wholes is a condition of all apprehension, thus of the apprehension any empirical objects or states of affairs, and that if this pure synthesis does not literally precede empirical syntheses of particular objects in space, it must somehow be independent of and ground the latter – it is, as Kant says, »already given a priori« not »in« but »with« empirical intuitions and their synthesis. And this premise then plays a role in Kant’s strategy for the completion of the Transcendental Deduction, for the remainder of his argument is that the pure synthesis of space and time as intuitions depends upon the categories, which therefore also apply to all particular objects represented in space and time.13 But it is no more plausible that one should first have to represent the whole of space and time in order to represent objects as spatial and temporal and within regions of space and time than it is that one should first have to construct triangles in pure intuition in order to represent particular triangular objects in empirical intuition. The toddler playing with its blocks does not need to have already constructed triangles and squares in pure intuition in order to learn to distinguish between the square blocks and the triangular ones and to call them by their proper names. Nor does the infant learning to assemble its visual, tactile, and kinaesthetic representations into a representation of three-dimensional space, or learning that the space of its crib is enclosed by the larger space of its room which is in turn enclosed by the larger space of its house, need to have already constructed the whole of space in pure intuition in order to comprehend these spatial relations. Likewise, even the adult learning to situate his new house in his new neighborhood and learning the routes between his new neighborhood and his old haunts have to already have constructed the whole of space in pure intuition, or even ever to do so. In these cases, it seems clear that the empirical syntheses of space, involving to be sure the imagination, procede in accordance with the pure form of space, but not that there needs to be any antecedent or even merely concomitant pure a priori synthesis of spatial figures or of space as a whole. And while the reflective child might soon come to realize that every region of space he represents is in fact contained in a larger region, and might even grow into a physicist or cosmologist who earns a living by representing very large regions of space or a philosopher who earns a living by talking about the conceptual foundations of physics and cosmology, it is far from clear that he ever represents the whole of space by means of an a priori synthesis. Indeed, on Kant’s own premises that space and time are infinite and that infinite syntheses can never be completed, even the sophisticated adult cannot represent space and time as wholes, and Henry Allison’s suggestion that there is not »an a priori synthesis or transcendental synthesis that determines the sapce and an empirical one that determines the contours and extent of what is perceived in it. It is rather that these are related as the formal and material aspects of one synthesis. The transcendental synthesis of the imagination is the form of the empirical synthesis of apprehension in the sense that the apprehension or perception of a house [for example] is governed by the conditions of the determination of the space it is perceived to occupy« (Kant’s Transcendental Idealism: An Interpretation and Defense, revised edition, New Haven: Yale University Press 2004), thus states exactly what Kant should have said, but not in fact what he did say. 13
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thus cannot ever complete a pure a priori synthesis of space and time as wholes. What he can do is to conduct pure as well as empirical syntheses of particular shapes or relations in as well as regions of space and time in accordance with the pure forms of intuition, which indeed are what entail that every space and time is contained in a larger one and thus that no synthesis of the whole of space or time can ever be completed. I thus conclude that Kant has no ground for the claim that a pure a priori synthesis of space and time as wholes must precede empirical syntheses in accordance with the pure forms of space and time, and that while pure syntheses of spatial and temporal structures can be conducted for purposes of mathematical research, such syntheses do not have to precede empirical syntheses as just described, nor can they really be thought to precede such syntheses, nor can they ever yield representations of the whole of space and time. We may thus allow that there can be certain pure syntheses of the imagination, but not that such pure syntheses are the conditions of empirical syntheses. There is thus again a transcendental faculty of imagination, but there are transcendental syntheses of the imagination only in special and restricted cases. So much for a transcendental synthesis of space and time, or what Kant called the pure synthesis of the imagination at Loses Blatt B 12. Kant also supposes that there must be a pure synthesis of the imagination underlying the transcendental unity of apperception, which he there called the transcendental synthesis of the imagination. Here too I would argue that there must be syntheses of the imagination that proceed in accordance with the a priori conditions of the possibility of the unity of apperception, but that there is no a priori synthesis of apperception that in any sense precedes these empirical syntheses. Indeed, I have long argued this, so here I will treat this point briefly.14 Although Kant uses the term »apperception« in a variety of senses and contexts, I take the phrase »transcendental unity of consciousness« to refer to one’s consciousness that all of one’s representations belong to a numerically identical self. Kant argues that »We are conscious a priori of the thoroughgoing identity of ourselves with regard to all representations that can ever belong to our cogniton, as a necessary condition of the possibility of all representations« (A 116), and that this a priori consciousness of the identity of ourselves in our multiple representations itself presupposes an a priori synthesis of the manifold of representations. Thus he maintains in the first-edition Transcendental Deduction that »This synthetic unity, however, presupposes a synthesis, or includes it, and if the former is to be necessary a priori then the latter must also be a synthesis a priori« (A 118), and in the second edition that »Synthetic unity of the manifold of intuitions, as given a priori is thus the ground of the identity of apperception itself, which precedes a priori all my determinate thinking« (B 134). Such a synthesis, since it obviously comprehends the manifold of representations given over one’s lifetime, or at least over some extended period of self-consciousness between infancy and senility, must involve the imagination, and there would therefore seem to be an a priori synthesis performed by the imagination, which, as Kant suggests, precedes all particular 14 See Guyer: Kant on Apperception and A Priori Synthesis, in: American Philosophical Quarterly 17 (1980), pp. 205–12.
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empirical syntheses. Kant then attempts to demonstrate, by a variety of stratagems which will not concern us here, that this a priori synthesis involves the categories,15 so that through the transcendental unity of apperception the categories necessarily apply to all of our representations and through them to all of the objects of our experience. My present point is only that there can be no such a priori synthesis. To be sure, I can know (de dicto, so to speak) the truth of the conditional proposition that whatever representations I turn out to be able to ascribe to my numerically-identical self will satisfy whatever the conditions for the unity of apperception turn out to be – perhaps we can know this analytically, as Kant suggests at B 138 – but I cannot know (de re) of any particular representations that I can in fact ascribe them to my numerically-identical self until I actually have them, and there is therefore no need to posit any the occurrence of any synthesis of them until I actually have them. Nor does the idea of performing a synthesis of imagination upon them before I actually have them even make any sense, for a synthesis of imagination involves reproduction, so I cannot perform an a priori synthesis on them that »precedes all my determinate thinking« of them. All I can do is synthesize particular actual – which is to say, except in the special case of mathematical thinking, empirical – intuitions as I receive and reproduce them, which is to say synthesize them in accordance with whatever the a priori conditions for the unity of apperception turn out to be, but not synthesize them a priori. So the unity of apperception may rest upon a synthesis of the imagination that is transcendental in the sense of being a condition of the possibility of the form of cognition that apperception itself represents and that proceeds in accordance with a priori principles, but not upon a synthesis of imagination that is transcendental in the sense of being pure and a priori, that is, having nothing empirical mixed into it and proceeding in some sort of anticipation of the synthesis of actual empirical intuitions. In spite of his own acceptance of Kant’s claim that empirical synthesis presupposes a pure synthesis of the imagination, H. J. Paton thus finally gives the right picture of the theory that Kant could actually defend when he writes: Kant makes perfectly clear what seems to me to be beyond dispute, that the transcendental synthesis of imagination works through the medium of time. It determines sense in accordance with its form, that is to say, in accordance with time. It does so in conformity with the unity of apperception, and therefore in accordance with the categories.16 III. That completes the gist of my argument, but before concluding I want to make two further points, one exegetical and one historical. The exegetical point concerns Kant’s attempt to explain the transcendental imagination itself as a product of the faculty of understanding, which is particularly promi15 16
See Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Part II. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience, I:536.
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nent in the second-edition Transcendental Deduction. Kant begins this version of the deduction by asserting that »all combination, whether we are conscious of it or not, whether it is a combination of the manifold of intuition or of several concepts, and in the first case either of sensible or non-sensible intuition, is an action of the understanding, which we would designate with the general title synthesis« (B 130). He subsequently distinguishes the »synthesis of the manifold of sensible intuition, which is possible and necessary a priori« and which can be called »figurative (synthesis speciosa),« from that synthesis »which would be thought in the mere category in regard to the manifold of an intuition in general,« and which is explicitly called »combination of the understanding (synthesis intellectualis)« (B 151). But he would have done better to call the latter a purely intellectual concept of synthesis, or an abstract, general concept of synthesis: for this »intellectual synthesis« is not a synthesis that we ever actually perform, since we never synthesize a manifold of an intuition in general, but only our specifically sensible, spatial-temporal manifold of intuition. Speaking this way would have avoided any misleading implication that we perform two distinct syntheses, and even more importantly any suggestion that the figurative synthesis is not itself an act of »combination of the understanding.« And avoiding any suggestion as the latter is important, because precisely what Kant wants to conclude is that the figurative synthesis of the imagination is an effect of the understanding, because that is what will secure the objective validity, that is, the universal and necessary applicability of the categories to all intuitions. Thus Kant states that since the figurative synthesis of the imagination »can determine the form of sense a priori in accordance with the unity of apperception, the imagination is to this extent a faculty for determinng the sensibility a priori, and its synthesis of intuitions, in accordance with the categories, must be the transcendental synthesis of the imagination, which is an effect of the understanding on sensibility« (B 152). This gives Kant a very quick argument for the deduction: any manifold of spatial-temporal intuition must undergo figurative synthesis by the imagination, as the opening examples of the first-edition deduction made evident and as the subsumption of all such manifolds under the transcendental unity of apperception confirms; but any synthesis at all is actually performed by the faculty of understanding; the categories are the forms for all syntheses by the understanding; therefore the figurative synthesis of the manifold involves the categories and the categories are necessarily applicable to all spatial-temporal intuitions, quod erat demonstrandum by the deduction (see especially A 89–90 / B 122–3). Now many commentators have sensibly wanted to maintain the distinction between figurative and intellectual synthesis and to avoid the implication that the figurative synthesis of the imagination is simply identical to an act of the understanding. Thus Henry Allison writes that »The basic point is that the imagination has the task of unifying the sensible data in a way that makes possible its subsequent conceptualization, without itself being a mode of conceptualization,«17 and Béatrice Longuenesse has written that it will seem »surprising that the combination of the manifold of intuition should also 17
Allison: Kant’s Transcendental Idealism: An Interpretation and Defense, p. 188.
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be an act of the understanding…unless one remembers that here, the understanding means nothing other than ›the unity of apperception in relation to the understanding‹,« so that »the combination of the sensible manifold is achieved by the imagination, to be sure, but under the rule (or rules) supplied to it by the unity of apperception which again…is none other than the understanding.«18 Now the instinct of both of these commentators here is certainly right: what Kant needs to show in order to accomplish the aim of the Transcendental Deduction is that the synthesis of the manifold by the faculty of imagination must proceed in accordance with the conditions for the possibility of the transcendental unity of apperception, which are in turn supposed to be the objective validity of the categories of the understanding. But what they do not seem to admit is that this point cannot be made by just saying that all that Kant means by calling the figurative synthesis of the imagination an »effect of the understanding« is that this synthesis proceeds in accordance with the rules of the understanding. That’s not all that he means; since he has begun the second-edition deduction by saying that all combination is an action of the understanding, he means that the figurative synthesis is an action of the understanding. What rather needs to be said is that in order to avoid all the advantages of theft over honest toil, Kant needs to drop his initial assertion that all combination is an act of the understanding and along with that the quick argument for the deduction that it allows, and instead demonstrate by an intervening premise, such as the applicability of the transcendental unity of apperception to the syntheses of the imagination or the expressibility of the results of syntheses of the imagination in the form of judgments, that even though the figurative synthesis of the imagination is not itself an act of the understanding it must nevertheless proceed in accordance with the rules of the understanding. Of course, Kant does attempt to prove the objective validity of the categories by the means of such intermediate premises at various points in the two texts of the Transcendental Deduction. But sometimes he cannot seem to resist helping himself to a quicker argument that ultimately causes him more problems than it solves. But just as it was a mistake on Kant’s own part to reduce the imagination to an effect of the understanding for the sake of an all-too-easy version of the Transcendental Deduction, so, I now want to argue, it was equally a mistake on the part of one of Kant’s most notorious readers to reduce the understanding – and the faculty of sensibility as well – to an effect of the imagination. I refer here of course to Martin Heidegger’s famous argument in Kant and the Problem of Metaphysics that the imagination is the root of sensibility and understanding. The gist of Heidegger’s argument is that both the forms of intuition and the understanding are dependent upon the imagination because they represent wholes that can only be projected by the imagination. Thus Heidegger writes that
Béatrice Longuenesse: Kant and the Capacity to Judge: Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason, translated by Charles T. Wolfe, Princeton: Princeton University Press 1998, p. 63. 18
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The rooting of pure intuition in the pure power of imagination becomes fully clear if we ask about the character of what is intuited in pure intuition….What is discerned in pure intuition is a whole which is unified in itself, although it is not empty, and whose parts are always just limitations of itself. But this unified whole must allow itself to be discerned in advance regarding this togetherness of its manifoldness…Pure intuition – originally unifying, i. e., giving unity – must catch sight of the unity,19 and that is the work of imagination. In a parallel passage about the understanding and theoretical reason, Heidegger writes: »Faculty of rules,« however, means: to hold before us in advance the represented unities which give direction to every possible unity which is represented. These unities (notions, or rather categories) which are represented as regulative, however, must not only have learned to play their part based on their proper affinity, but this affinity must itself also be grasped comprehensively in advance in a lasting unity through a still more anticipatory pro-posing of them….As a result, the pure understanding is a pre-forming of the horizon of unity which represents »from out of itself.«…This original »thinking« is pure imagining.20 Of course, Heidegger could also have argued that since the understanding works with material furnished to it by sensibility with its pure forms, then if the latter is dependent upon imagination so is the former. Now in one way there is nothing wrong with what Heidegger says: in fact we often do and always can think of both space and time and the world of categorized objects that fill them as extending beyond the objects of our immediate experience, and to do so we must certainly use the faculty of imagination both in its originally defined sense of the capacity to reproduce prior representations of objects and in the natural extension of this to include the anticipation of objects not yet directly experienced. I would only observe that in recalling objects experienced in the past and in projecting a horizon of objects that might be experienced in the future, the imagination travels along pathways the shape of which is determined by the forms of intuition and understanding: that is to say, what the imagination imagines is times before and after the present, spaces remote in one direction or another from that which is now occupied and observed, causal chains linking the presently observed state of affairs to temporally or spatially remote ones, and so on. The imagination projects horizons and unity within the framework established for it by the fundamental forms of intuition and understanding. So while the work of imagination is clearly essential to any representation of wholeness or horizon, it makes no sense to declare it to be more fundamental than intuition or understanding. The synthesis of the imagination is indispensable to any form of cognition, but it does not itself provide the forms within which it works.
Martin Heidegger: Kant and the Problem of Metaphysics, fifth edition, enlarged, translated by Richard Taft, Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1997, § 28, pp. 99–100. 20 Heidegger: Kant and the Problem of Metaphysics, pp. 105–6. 19
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This brief reflection on Heidegger’s claim should therefore reinforce the general thesis of this paper. By reproducing past representations, as well as projecting future ones, the faculty of imagination plays an essential role in all cognition, of empirical as well as pure objects, and it can be called transcendental in that regard. Since it is involved in the construction of mathematical objects in pure intuition as well as in the application of the synthetic a priori principles of judgment to the physical world, it can be called transcendental in the stronger sense of grounding specifically synthetic a priori cognition. Since the schematism which interprets the purely logical concepts of the understanding in spatial-temporal forms is also ascribed to the imagination, the imagination can even be regarded as transcendental in the further sense of containing its own synthetic a priori principles. But to schematize a concept is not actually to perform a reproductive (or projective) synthesis of any actual representations, so synthesis cannot actually be regarded as a transcendental synthesis of the imagination. Nor does Kant have any good argument that there must be a pure or a priori transcendental synthesis of the imagination in any sense prior to ordinary experience, thus any argument for the existence of pure or a priori synthesis except in the special case of mathematical construction. What he must be able to defend if the heart of his theory of experience is to be preserved is just that all cognition involves syntheses of the imagination in accordance with the pure forms of intuition and conceptual thought, synthesis which is transcendental in that and only that sense.
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Perceptual Objectivity (Abstract) Tyler Burge (Los Angeles) This paper discusses a syndrome of views about the minimal conditions for objective empirical representation of the physical world. I call this syndrome Default Subjectivism. The basic idea of Default Subjectivism is that in order for an individual to represent the physical world empirically in an objective manner, the individual must be able to represent basic conditions that make this objective representation possible. The individual must do the »objectifying« himself. More specifically, according to the view, to represent the physical world in an objective manner, either the individual must be capable of constructing representation of that subject matter out of more basic representations that are in some way subjective or proto-objective; or the individual must be capable of representing general essential features of objectivity. An example of the first form of Default Subjectivism is the whole range of sense-data views. The representation of physical bodies is, according to such views, constructed out of representations of appearances or phenomenological sensa. An example of the second form of Default Subjectivism is the requirement that to represent the physical world, the individual must be capable of representing criteria for reidentification, or a seems / is distinction, or an allocentric spatial framework and an ability to track himself through that framework, or quantification and identity, or principles of causation. The paper discusses and criticizes neo-Kantian (Strawsonian) and Quinean versions of this second form of Default Subjectivism. The paper then sketches a positive alternative. According to this alternative, objective representation of the physical world is a very primitive perceptual capacity, shared by a wide variety of animals, including relatively simple ones. The paper sketches reasons for thinking that perception, so conceived, is a genuine type of objective representation, not simply a sensitivity to physical goings-on for the benefit of the animal. A mark of perception is perceptual constancies. These are capacities of the perceptual system systematically to distinguish between proximal stimulation and distal stimulation. This distinction is not one made by the individual. It is made by the individual’s sub-systems. It is the analog of a capacity, required by Default Subjectivism, to draw a seems / is distinction. The difference is that the individual need not represent any such general distinction. Objectification lies in a combination of the capacities of the individual’s perceptual sub-system with environmental-individual relations which help determine the content of the individual’s perceptual representations. The view of objective representation takes objectivity to be a starting point for representation, not an achievement–particularly not an achievement peculiar to human beings, or dependent on language. This alternative is supported both by a general framework of anti-individualism about perception and by the specifics of empirical perceptual psychology, including developmental psychology and animal psychology.
KOLLOQUIUM 11 Kreativität und Kultur – Der Kreativitätsgedanke im interkulturellen Vergleich
Franz Martin Wimmer Kreativität und Kultur. Einleitende Überlegungen Ram Adhar Mall Zur ›orthaften Ortlosigkeit‹ der philosophischen Rationalität: Eine interkulturelle Orientierung Rolf Elberfeld Kreativität und das Phänomen des »Nichts« Oswald Schwemmer Das Neue als Kulturtendenz
Kreativität und Kultur. Einleitende Überlegungen Franz Martin Wimmer (Wien)
In ihrer Eröffnung der Sektion dieses Kongresses, die sich mit dem Kreativitätsgedanken im interkulturellen Vergleich befaßte, hat Claudia Bickmann ganz zu Recht darauf hingewiesen, daß einem immer wieder Vertrautes begegnet, wenn man sich als EuropäerIn auf die Suche nach gegenwärtiger Philosophie außerhalb des okzidentalen Kulturraums begibt. Da dies so ist, haben wir die Fragestellung dieses Kolloquiums zu präzisieren: Sind rezeptive Kulturen kreativ? Sind philosophische Traditionen kreativ, trotz oder weil sie andere Traditionen rezipieren? Und: Läßt sich für die Philosophie etwas gewinnen aus der Begegnung mit dem »anderen« Denken, etwa auch dann, wenn es so ganz »anders« gar nicht ist? Es begegnet uns Kant in (neu-)konfuzianischen Diskursen in China ebenso wie Heidegger in der Schule von Kyoto. Marx und den Deutschen Idealismus finden wir in der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung, wie uns sprachphilosophische Theorien des okzidentalen 20. Jahrhunderts in arabischer Sprache begegnen. Und daß das Denken der SprecherInnen einer ganzen Sprachfamilie – nämlich der Bantusprachen – sozusagen protoaristotelisch sei, ist in Diskussionen um afrikanische Philosophie eine sehr prominente, wenn auch stets umstrittene These gewesen. In jedem dieser und vergleichbarer Fälle werden wir das Begegnende kaum verstehen können, wenn die eigenen, okzidentalen Traditionen nicht vertraut sind. Sind sie dies aber, so liegt eine erste skeptische Reaktion sehr nahe, nämlich die Frage, ob denn diese offensichtlichen Rezeptionen auch tatsächlich zwei Erfordernissen entsprechen, aufgrund derer wir überhaupt mit Erwartungen an sie heranzugehen bereit wären – dem Erfordernis, daß wir darin authentischem Denken begegnen und dem zweiten, daß bei solchen Übernahmen das Wesentliche erfaßt wurde. Solche Skepsis ist zu erwarten, wenn wir beispielsweise an jemanden denken, der als Inder oder als Chinese bezeichnet werden kann, sich selbst auch so versteht, und der Kant wie Sankara oder Konfuzius als einen seiner Lehrer sieht. Dann kommt nämlich leicht die Frage auf: Ist das denn echtes indisches (oder chinesisches, afrikanisches etc.) Denken, ist es in diesem Sinn überhaupt authentisch? Und zweitens wird in einem solchen Fall nicht selten gefragt: Ist hier denn Kant (oder wer es sei) auch wirklich verstanden worden? Ich will nur anmerken, daß beide Fragen, mit geringer Differenzierung, prompt auch in den Diskussionen des hier einzuleitenden Kolloquiums formuliert worden sind. Da es sich dabei meistens nicht um wirkliche Anfragen handelt, sondern um die Unterstellung, es sei entweder unmöglich oder aber fruchtlos, mit »kulturell anderen« Denktraditionen in ein echtes Gespräch treten zu wollen, lassen sie sich nicht vornehm-höflich umgehen. Darum möchte ich zunächst einmal gelehrten Skeptikern dieser Art, bevor ich ihre
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Fragen ernstzunehmen bereit bin, mit einer gewissen Unhöflichkeit begegnen und behaupten: Es ist kein Zeichen großer Bildung, wenn jemand glaubt, die Geschichte des philosophischen Denkens der Menschheit habe sich nur in den Grenzen und mit den sprachlichen Mitteln oder auf dem weltanschaulichen Hintergrund des Okzidents abgespielt. Es zeugt zweitens ebensowenig von großer Kenntnis, wenn man annimmt, philosophisches Denken hätte sich stets und ausschließlich innerhalb kultureller Kontexte entfaltet und sei auch nur darin zu verstehen. Und drittens halte ich den bei diesem Thema stets erwartbaren Hinweis, daß eine Öffnung philosophischer Diskurse über Kulturgrenzen hinweg eben »noch nicht« möglich sei, solange nicht alle Interpretations- und Quellenfragen (durch die entsprechenden Philologien) geklärt seien, für eine furchtsame Rede oder Ausrede, die nur dazu taugt, notwendige Dialoge ad calendas graecas zu verschieben. Doch haben natürlich solche Fragen auch einen rationalen Kern. Sie zwingen, Probleme zu benennen und an ihrer Lösung zu arbeiten, die mit dem Dilemma der Kulturalität von Philosophie1 ganz im allgemeinen zu tun haben: Wo und in welchen Ausprägungen immer wir Philosophie wahrnehmen, handelt es sich um Unternehmungen, in denen Endgültigkeit angestrebt oder sogar behauptet wird, tatsächlich aber stets Vielheit und Verschiedenheit gegeben ist. Menschen denken nicht »natürlich«, sondern kultürlich. Das gilt für alle Menschen, und bei aller Problematik des Begriffs »Kultur« brauchen wir doch einen solchen Begriff, um die Wirklichkeit menschlicher Existenz-, Denk- und Ausdrucksformen zu beschreiben. Darum aber wollen wir auch wissen, was das jeweils Bestimmende dieser Besonderheiten ist und fragen nach »Authentizität«. Wen aber sollten wir eigentlich entscheiden lassen in der Frage nach der »Authentizität« einer Denkleistung innerhalb einer »anderen« Kultur oder Tradition? Sollen wir uns darin auf Traditionalisten oder auf Modernisten in jener anderen Kultur verlassen oder nicht vielleicht doch der okzidentalen Indologie, der Sinologie oder anderen Fremdkulturwissenschaften das letzte Wort zuerkennen? Ich will dieser Frage ausweichen, denn sie scheint mir ernstlich unbeantwortbar. Es gibt keine homogenen Kulturen und auch keine vollkommen einheitlichen Traditionen. Die Frage nach dem Wesentlichen an einer Kultur oder einer Tradition wird daher zu Recht immer wieder anders beantwortet werden. Es ist beispielsweise nicht einzusehen, warum Traditionalisten einer bestimmten Tradition gegenüber Modernisten derselben Tradition diese auf »authentischere« Weise repräsentieren sollten. Ist die Nachfrage nach der authentischen Tradition aber nicht wirklich beantwortbar, so sollte sie auch nicht ernsthaft gestellt werden. Sie würde letztlich zu einem voreiligen Abbruch von Gesprächen führen, bevor solche überhaupt geführt werden. Denken wir uns eine Situation wie das Kolloquium, dessen Beiträge hier vorliegen und nehmen wir an, es hätten sich bei dieser Gelegenheit philosophierende Menschen aus Afrika, Tibet oder China geäußert. Es ist anzunehmen, daß sie dies mit Mikrofon, ausformuliertem Vortragstext und in deutscher Sprache getan hätten. Vgl. dazu Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, Wien: WUV 2004, S. 32. 1
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Die Nachfrage nach ihrer kulturellen Authentizität hätte sie in ein praktisches Dilemma führen müssen. Damit nämlich wäre wohl verlangt worden, daß sie sich so verhalten (sprachlich, situational etc.), wie ihre Vorfahren sich – unserer Annahme nach – verhalten haben, wenn diese philosophierten. Dann aber hätte wohl niemand im Saal sie verstanden, es wäre eine Situation wie diejenige der europäischen »Völkerschauen« gewesen, eine »Philosophenschau« (wobei selbst darüber wenige im Publikum hätten gewiß sein können). Vielleicht wären sie im verlangten Sinn »authentisch« gewesen, aber um den Preis vollkommenen Unverständnisses. Beim besten Willen hätte auch der Moderator lediglich ein unverstandenes Schauspiel dirigieren können. Da sie aber wahrscheinlich eben »ganz normal« vorgetragen hätten, wären sie wohl auf ihre sinnenfällige Nicht-Authentizität angesprochen worden, und das somit ernstgemeinte Verlangen, authentisch Anderem zu begegnen, wäre schon das Ende der Begegnung gewesen, denn sie hätten diesem Ansinnen genauso wenig entsprechen können, wie irgend jemand aus Europa imstande oder willens gewesen wäre, wie ein Mönch des frühen Mittelalters aufzutreten. Im ersten Fall wären sie daher zwar als echte Afrikaner, Tibeter und Chinesen erschienen, für die Philosophie jedoch gänzlich irrelevant. Im andern Fall hätten sie riskiert, zwar verstanden, aber als uninteressante Imitatoren ebenso ignoriert zu werden. Die Frage nach authentischen Traditionen ist dennoch nie ganz zu umgehen, denn Behauptungen von Seiten jener, die sich auf eine kulturelle Tradition berufen, sind als Teil von Argumentationen stets zu erwarten. Dazu nur zwei Sätze: In keinem Fall ist die bloße Berufung auf eine Tradition ausreichend, um eine Frage der Philosophie zu entscheiden. Und: Jede Tradition ist ernstzunehmen in dem Sinn, daß sie kritischer Prüfung ausgesetzt und weder als »fremd« einfach abgelehnt noch unkritisch bestehen gelassen wird. Der Weg zur Klärung philosophischer Fragen führt über Dialoge oder Polyloge2 und hat daher eigentlich nur eine Voraussetzung – daß Menschen einander als Argumentierende ernstnehmen. Für die Beantwortung der zweiten skeptischen Frage nach der richtigen Rezeption europäischer Philosophie in anderen Regionen sind allem Augenschein nach nicht die Rezipienten selbst zuständig, sondern die europäische Forschung: Sie soll entscheiden, ob Kant im modernen China, Heidegger in Japan und Marx in Lateinamerika richtig verstanden wird. In vielen Fällen wird diese Kompetenz der europäischen Forschung von Nichteuropäern auch durchaus anerkannt. Wir müssen allerdings auch hier eine gewisse Skepsis anmelden, denn diese Forschung ist sich nicht immer vollkommen einig, wie wir aus der Interpretationsgeschichte der europäischen Philosophie sehr wohl wissen. Eine Darstellung etwa der kantischen Philosophie aus marxistischer Sicht unterscheidet sich in durchaus nicht nebensächlichen Punkten von einer, die Kriterien analytischer Philosophie verpflichtet ist, und beide wiederum werden bei Kant andere Stärken und Schwächen herausstreichen als eine neutho-
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Vgl. dazu Wimmer: a. a. O., S. 66 ff.
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mistische Interpretation dies tut.3 Keine von ihnen muß deshalb schon Unrecht haben. Warum sollte Ähnliches nicht auch zu erwarten sein, wenn Kant auf dem Hintergrund etwa des Vedanta oder des Konfuzianismus neu gelesen wird? Das sollte doch eher ein Grund für vorsichtige Neugierde als für vorgängiges Mißtrauen sein.4 Es ist jedoch noch eine andere und wichtigere Warnung anzubringen. In der Geschichte von kreativen Rezeptionsprozessen der Philosophiegeschichte – denken wir etwa an die Aneignung des griechischen Denkens durch Araber, an Japans Aneignung des chinesischen und viel später des westlichen Denkens, oder auch an die spätmittelalterliche Aneignung des griechisch-römischen Denkens in der »Renaissance« – sind immer wieder Stimmen laut geworden, die darin keine echte Aneignung oder gar Weiterführung, sondern ein Verkennen oder bestenfalls ein Imitieren zu bemerken glaubten. Derartige Einschätzungen, wenn sie von außen kommen, verkennen die Tatsache, daß auf Dauer nichts, was aus einer anderen kulturellen Tradition übernommen wird, fremd bleibt, daß vielmehr jede erfolgreiche Übernahme aufgrund eines eigenen Mangels geschieht und zu Neuem führt. Das gilt in der Architektur wie in der Kochkunst, und es gilt auch für die Philosophie. Die bisherigen Überlegungen führen zur allgemeinen Frage: Können Rezeptionsprozesse philosophisch kreativ sein, und wonach sind sie zu beurteilen? Ich will dazu nur kurz einige Thesen formulieren. 1) Es gibt kreative Traditionen. Tradition und Kreativität schließen sich nicht eo ipso aus. Auch kreative Prozesse werden durch Mittel ermöglicht, die (wie z. B. die Sprache) nicht ständig neu erfunden, sondern in Traditionen gegeben sind. Traditionen können allerdings Kreativität behindern, insbesondere dann, wenn sie ein starkes und unhinterfragbares Autoritätsgefüge ausbilden. 2) Kreative Traditionen sind wählerisch. Das besagt zweierlei – erstens, daß sie offen sind für Anderes, bereit sich Neuem zuzuwenden und somit überhaupt wählen zu wollen; und daß sie zweitens diesem Anderen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern nach eigenem Urteil selektieren, was sie brauchen. 3) Kreative Traditionen sind selbstbezogen. Auch damit ist Mehreres gemeint. Einerseits handelt es sich um Traditionen, die
Vgl. ebd., S. 81 f. Jay L. Garfield weist auf diesen Punkt deutlich hin: »… während Sprach- und Kulturbarrieren imstande sind, zu verbergen, was dem anderen bekannt ist – geradeso, wie zeitlicher Abstand etwas zum Mysterium machen kann, was aus der Nähe ganz selbstverständlich ist –, sollte man denken, daß ebenso, wie zeitlicher Abstand auch aufdeckt, was aus der Nähe verborgen ist, kultureller Abstand etwas offensichtlich für einen irgendwie fremden Interpreten macht, was für den in einer Kultur Lebenden verborgen ist. Vielleicht lesen wir so Platon mit größerem Verständnis als Platon selbst es je gekonnt hätte, Tibeter oder Tutsis können Platon … mit größerem Verständnis lesen, als wir es je könnten.« (Jay L. Garfield: Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen hermeneutischer Distanz, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 5 (2000), S. 42–61, S. 47). 3 4
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sich nicht nur reaktiv gegenüber Anderem verhalten, dem sie sich unterlegen fühlen, sondern die ihre eigene Sicht der Dinge mit ihren eigenen Begriffen entwerfen. Andererseits sind kreative Traditionen auch hermeneutisch souverän, sich selbst wie auch dem Denken anderer Traditionen gegenüber. 4) Kreative Traditionen sind polylogfähig oder, wie man auch sagen könnte: sie sind dispositionell polylogisch. Es ist vielleicht nur eine einzige Frage, die wir im Zusammenhang von Kulturalität und Kreativität in der Philosophie zu beantworten haben: Welche (philosophischen) Traditionen sind mehr, welche weniger geeignet, mit anderen (philosophischen) Traditionen kreativ umzugehen? Ich meine, das Merkmal der Polylogfähigkeit könnte darauf eine Anwort geben. Es würde besagen, daß in einer Tradition die Mittel entwickelt sind, mit fremdem Denken so umzugehen, daß darauf ernsthaft eingegangen werden kann ohne Angst vor Selbstaufgabe und auch ohne blinde Hoffnung auf ein ganz Anderes. Literatur Garfield, Jay L.: Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen hermeneutischer Distanz, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 5 (2000), S. 42–61. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, Wien: WUV 2004.
Zur ›orthaften Ortlosigkeit‹ der philosophischen Rationalität: Eine interkulturelle Orientierung Ram Adhar Mall (München/Köln) In dem Verzicht auf die Vormachtstellung des europäischen Wert- und Kategoriensystems gibt sich der europäische Geist erst den Horizont auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte ganz frei. In dem Verzicht auf die Absolutheit der Voraussetzungen, welche diese Freilegung selbst erst möglich machen, werden diese Voraussetzungen zum Siege geführt. Europa siegt, indem es entbindet. Helmuth Plessner
1. Ein Wort zuvor Drei Bemerkungen seien der eigentlichen Behandlung meines Themas vorangestellt: 1. Selbst heute noch hört und liest man in fachphilosophischen und fachtheologischen Kreisen zwei Vorwürfe hinsichtlich der indischen Philosophie und Religion: Der westliche Fachphilosoph meint, die indische Philosophie sei zu religiös und verwechsele Philosophie mit Religion; der christlich-westliche Theologe dagegen ist der Ansicht, indische Religion sei zu philosophisch und verwechsele Religion mit Philosophie. Das Besondere daran ist, daß sie widersprüchlicher Natur sind. Daß hier fast paradigmatisch, aprioristisch und vor allem Vergleich das tertium comparationis in der je eigenen philosophischen und theologischen Tradition mit einem universalistischen Geltungsanspruch dingfest gemacht wird, braucht nicht weiter begründet und erläutert zu werden. Zu Recht wird daher immer wieder die Frage gestellt: Warum haben die vergleichenden Studien wie z. B. die Disziplin der ›komparativen Philosophie‹ uns eher enttäuscht und nicht zu dem erhofften Erfolg einer interkulturellen und interreligiösen Verständigung geführt? Man hat sogar ›vom Anspruch und Elend‹ der vergleichenden Philosophie gesprochen. Es war Mircea Eliade, der von einer ›zweiten mißglückten Renaissance‹ sprach. Er meinte damit, daß die Entdeckung des indischen Geistes am Ende des 19. Jahrhunderts nur von den Indologen, aber nicht von den Fachphilosophen, Fachtheologen, Historikern ernstgenommen wurde.1
1 Mircea Eliade schreibt: »Die ›Entdeckung‹ der Upanishaden und des Buddhismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde als kulturelles Ereignis mit weitreichenden Konsequenzen gefeiert. … Man erwartete eine radikale Erneuerung des westlichen Denkens als Folge der Konfrontation mit der indischen Philosophie. Wie bekannt, trat jedoch dieses Wunder einer ›zweiten Renaissance‹ nicht nur nicht ein, sondern, mit Ausnahme der Mythologisierungswelle, die Max Müller ausgelöst hatte, gab die Ent-
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Trotz vieler Enttäuschungen hinsichtlich der Versprechungen und Hoffnungen der ›vergleichenden Philosophie‹ plädiere ich dennoch für sie im Dienste der Philosophie. Mein Plädoyer gilt jedoch unter fünf Bedingungen: Erstens sollen sich die Philosophen von den engen dogmatischen Kulturalismen und Traditionalismen befreien. Zweitens sollen andere, manchmal radikal andere Möglichkeiten des Philosophierens anerkannt und diskutiert werden. Drittens soll die Entdeckung der Differenzen nicht stiefmütterlich behandelt werden. Viertens ist der Philosoph qua Philosoph, hier besonders der ›vergleichende Philosoph‹, in der Suche nach Wahrheit zutiefst verpflichtet, unabhängig von seiner traditionellen, schulmäßigen Zugehörigkeit und seinen Präferenzen für manche Denk- und Handlungsmuster, die ›orthafte Ortlosigkeit‹ des Philosophierens nicht außer acht zu lassen. Und fünftens soll die Wahrnehmung der Differenzen für das philosophische Geschäft nicht nur als interessant, sondern als ein Reichtum und als fruchtbar empfunden werden. Denn, wer nur Bestätigungen des eigenen Standpunktes sucht, kehrt zurück zu einer zwar komfortablen, aber doch sehr trügerischen Selbstzufriedenheit. Nach Plessner kommt eine solche Wende im philosophischen Denken der ›Verabsolutierung einer bestimmten anthropologischen Möglichkeit‹ gleich. Da interkulturelle philosophische Orientierung sich auch durch die oben genannten Merkmale definiert, stellt sie eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Möglichkeit und Fruchtbarkeit einer ›komparativen Philosophie‹ dar, die dem Ziel einer interkulturellen Kommunikation und Verständigung dient. Indische, asiatische und europäische Philosophien können voneinander lernen, vorausgesetzt, sie entwickeln eine Sensibilität für ihre Differenzen. Es ist eine hegemoniale historische Kontingenz gewesen, daß die europäische Philosophie sich entweder einseitig universalisierte oder die außereuropäischen Philosophien als Philosophien erst gar nicht ernst- und wahrnahm. Die heutige hermeneutische de facto-Situation im weltphilosophischen Diskurs mahnt zur Selbstbescheidung und fordert von uns allen die Kultivierung einer Tugend der ›Verzichtleistung auf den Absolutheitsanspruch‹. 2. Es ist eine allgemeine, nicht unberechtigte Feststellung, daß einige Merkmale einer bestimmten Denktradition in einigen anderen ›fehlen‹. Dies betrifft sowohl die Fragestellungen als auch Lösungsansätze. Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, daß dies auch intrakulturell gilt. Daher scheint die Vorsilbe ›intra…‹ auf die Vorsilbe ›inter…‹ zurückführbar zu sein. Leider gehört es zu den festgefahrenen »Dogmen des Orien-
deckung der indischen Geistigkeit keineswegs den Anstoß für irgendeine bedeutende kulturelle Schöpfung.« Mehrere Gründe werden für den Fehlschlag verantwortlich gemacht wie z. B. die Verdunkelung der Metaphysik und der triumphale Zug der materialistischen und positivistischen Ideologien. Hier schließe ich mich der Ansicht Eliades an. Er schreibt: »Der Bankrott der ›zweiten Renaissance‹ ,…, kann also nicht der ausschließlichen Konzentration der Orientalisten auf die Philologie angelastet werden. Die ›Renaissance‹ trat aus dem einfachen Grund nicht ein, weil es dem Studienfach des Sanskrit und anderer orientalischer Sprachen nicht gelang, über den Kreis der Philologen und Historiker hinauszudringen, während in der italienischen Renaissance Griechisch und das klassische Latein nicht nur von Grammatikern und Humanisten, sondern ebenso von Dichtern, Künstlern, Philosophen, Theologen und Wissenschaftlern studiert wurden.« Mircea Eliade: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Wien 1973, S. 75 f.
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talismus« (Matilal)2, daß das europäisch-westliche Denken dieses ›Fehlen‹ mit einem ›Mangel‹ gleichsetzte und es stellenweise heute noch tut. Wer aber das Fehlen mit einem Mangel gleichsetzt, traktiert die Kategorie der Differenz reduktiv, weil er eine »Unifizierung des Wahren« ab ovo vornimmt und, um es mit Paul Ricœur zu sagen, eine »erste Gewaltsamkeit«, eine »erste Fehltat«3 begeht. Das Vorhandensein und Nichtvorhandensein einiger Merkmale und Unterscheidungen deuten auf die prinzipielle kreative Möglichkeit des autonomen menschlichen Geistes hin und lehren uns, daß diese Unterscheidungen nicht essentialistisch als Philosophie mißdeutet werden dürfen.4 3. Die ›Situierung der philosophischen Rationalität in den interkulturellen weltphilosophischen Kontext‹ bringt es mit sich, daß die Universalität des rationalen philosophischen Denkens die lokalen Differenzen transzendiert, aber diese zugleich auch umfaßt und begreift. Die philosophische Rationalität lebt in und durch diese Differenzen. Nur auf diesem Wege können wir die beiden extremen Positionen eines Relativismus und eines Essentialismus vermeiden. Philosophisch interessant ist (im Sinne der Fragestellung unseres Kongresses nach der Kreativität, besonders nach der Kreativität des menschlichen Geistes im interkulturellphilosophischen Kontext) nicht so sehr die Feststellung des Fehlens mancher Fragestellungen in dieser oder jener Tradition, sondern vielmehr die Begründung dafür. Ferner ist das Fehlen nie vollständig, weil – kontextuelle Variationen zugestanden – ähnliche Fragen gestellt und Antworten gesucht werden. Differenz darf nicht unbedingt als Defizienz ausgelegt werden. Im Geiste der obigen Bemerkungen möchte ich hier auf einige Fragen und Probleme hinweisen, die z. B. im indischen philosophischen Denken nicht oder selten gestellt werden im Gegensatz zum europäisch-westlichen Denken. Sehr kurz möchte ich diesen Sachverhalt unter Heranziehung der folgenden vier Themen im Geiste einer interkulturellen philosophischen Orientierung erläutern: 1. Zur Universalität (Ortlosigkeit) und Partikularität (Orthaftigkeit) der logischen Rationalität, 2. die Frage nach der WillensVgl. Bimal Krishna Matilal: Philosophy, Culture and Religion, in: Mind, Language and World: The Collected Essays of Bimal Krishna Matilal, hg. v. J. Ganeri, Delhi 2002, S. 370ff. In einem Gespräch mit dem indischen Philosophen und Phänomenologen J. N. Mohanty bemerkte einmal Donald Davidson, warum sollte man indische Philosophie studieren, wenn die indischen Philosophen gleiche Antworten auf gleich geartete Fragen gegeben haben wie die westlichen Philosophen? Freilich wäre eine ›vergleichende Philosophie‹ im Sinne eines bloßen Nebeneinanderstellens gleichartiger Positionen ein unfruchtbares Unternehmen. Unsere interkulturelle philosophische Orientierung zielt aber auf neue, kreative Möglichkeiten sowohl im Hinblick auf die philosophischen Fragestellungen als auch auf die Lösungsansätze. Nur so kann eine ›globale Philosophie‹ als ein Menschheitsdiskurs zustandekommen, jenseits der Provinzialismen nationaler, geographischer und geschichtlich-gewordener Kulturen. Der interkulturell verankerte Sinn einer ›orthaft ortlosen‹ Philosophie läßt sich restlos nicht kulturell vereinnahmen. Interkulturalität und Kulturspezifität sind kompatibel. 3 Vgl. Paul Ricœur: Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 152. 4 Der bekannte Phänomenologe und indische Philosoph Mohanty schreibt: »It needs, however, to be emphasized that the talk of ›lacks‹ here must not be construed as defects, but rather as pointing to another possibility, from which we may learn the lesson that none of these distinctions is essential for philosophy.« Jitendra Nath Mohanty: Classical Indian Philosophy, New York, Oxford 2000, S. 151. 2
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freiheit, 3. Zum Thema Religionsphilosophie und 4. die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Geschichtsphilosophie.
2. Logik und der interkulturelle Kontext Oft werden, nicht ganz zu Unrecht, einige Feststellungen z. B. hinsichtlich. der indischen Logik getroffen: Erstens, indische Logik unterscheide nicht klar und deutlich zwischen Logik und Psychologie der Erkenntnis. So begehe sie zweitens den im Westen so bezeichneten Fehler des »Psychologismus«. Drittens wird, ebenfalls nicht ganz zu Unrecht, die indische Logik als eine ›intensionale‹ bezeichnet im Gegensatz zu der in der Regel ›extensionalen‹ Logik des Westens. Damit verbunden wird viertens festgestellt, daß die indische Logik sich nicht habe richtig formalisieren, quantifizieren können. Die indische Theorie des Syllogismus ist ein Beispiel dafür. Vor der Beantwortung dieser Fragen möchte ich grundsätzlich von der Möglichkeit einer logischen Universalität, verbunden mit ihrer Partikularität, ausgehen. Hierfür unterscheide ich zwischen der Logik ›erster‹ und ›zweiter‹ Ordnung. Das Logische qua Logische in seiner Universalität besteht in unserem Versuch, für unsere Erkenntnisse, Werte, Überzeugungen und für die Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit etc. Argumente zu geben, sie argumentativ zu verteidigen oder zu kritisieren oder sogar abzulehnen. Alle philosophischen Traditionen kennen Logik in dieser allgemeingültigen Form. Diese Logik erster Ordnung verbindet uns. Die Logik zweiter Ordnung stellt die unterschiedliche Art und Weise dieser Begründungswege dar. Und diese Unterschiede mögen ihre kulturspezifischen, schulmäßigen und systemabhängigen Merkmale haben. Und sie haben sie in der Tat. Wer Logik zweiter Ordnung in den absoluten Stand setzt und zum paradigmatischen tertium comparationis macht, begeht fast eine Art ›category mistake‹. So weist eine Diskussion der Logik aus interkultureller philosophischer Sicht grundsätzliche Gemeinsamkeiten und erhellende Differenzen aus. Es ist wahr, die indische Logik trennt sich nicht so streng von der Psychologie wie dies bei der Mehrheit der Autoren im Westen der Fall ist (Frege, Russell, Husserl u. a.). Es ist aber nicht wahr, daß die indische Logik eine psychologische Erklärung für eine logische halte oder gar Logik ›psychologisiere‹ oder Psychologie ›logifiziere‹. Es kommt gerade bei einem interkulturellen philosophischen Diskurs über Logik auf die besonderen Argumente an, die das indische Denken dafür gibt. Erkenntnis (Jnana / Prama) hat für das indische Denken zwei Grundfunktionen: Erstens dient sie dem Zweck der Erkenntnisgewinnung (Jnanaprapti) und zweitens dem der Zielrealisierung (Artha- / phalaprapti). Logik als eine Theorie der Schlußfolgerung (Anumana) ist daher ein Teilgebiet der Epistemologie. Als Logik der Erkenntnisgewinnung bleibt die indische Logik in der Nachbarschaft einer Psychologie der Schlußfolgerung. Dies führt aber nicht zu einer Verwechslung der Logik mit der Psychologie, d. h. zu ›Psychologismus‹, weil die indische Logik klarstellt, daß durch das Vermeiden der besonderen Fehlerquellen (Doshas) der psychologische Denkprozeß zu gültigen logischen Schlußfolgerungen führen kann und in der Tat führt.
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Kolloquium 11 · Ram Adhar Mall
Am Beispiel des Verhältnisses von Logik und Psychologie im westlichen und indischen Denken möchte ich diesen Sachverhalt ganz kurz verdeutlichen. Das westliche philosophische Denken – zumindest in seinem ›main-stream‹ – wird hin und her gerissen zwischen den sehr oft unversöhnlichen Ansprüchen der Erfahrung und der Vernunft, ferner auch von dem Dualismus zwischen dem Subjektiven und Objektiven, zwischen dem Universellen und Partikulären, ja zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Das Problem des Psychologismus in der Epistemologie und in der Theorie der Logik im westlichen Denken ist hieraus entstanden. Die Philosophen haben, in der Regel, die Angst vor dem Psychologismus zu überwinden versucht, indem sie ihre logische Theorie von jedem Bezug zu inneren, mentalen Zuständen befreit haben. Dies hatte einen Objektivismus entweder platonischer oder rein physikalistischer Art zur Folge. Demgegenüber waren die indischen mentalen Diskurse stets ein Bestandteil der indischen Epistemologie und der logischen Theorie. Und es gab kein beunruhigendes Problem des Psychologismus. Der Grund hierfür mag darin zu suchen sein, daß der indische Terminus »Manas«, gewöhnlich übersetzt mit Geist (Mind), für ein inneres Sinnesorgan steht und nicht zu verwechseln ist mit einem reinen Subjektivismus. Hierin sieht auch Mohanty den Grund, »why Indian logicians, while they are concerned with inner cognitions, could still develop a very sophisticated logic which was entirely independent of psychology«.5 Am Beispiel der Theorie des Syllogismus in der indischen und westlichen logischen Tradition möchte ich das oben Gesagte ganz kurz erläutern. In der syllogistischen Theorie der Schlußfolgerung geht es bei beiden Traditionen um eine Erkenntnisgewinnung und -begründung, auch wenn der indische Syllogismus im Gegensatz zum aristotelischeuropäischen fünf Sätze kennt und großen Wert auf den Beispielsatz legt. Das bekannte Schulbeispiel aus der indischen Logik (Anumanashastra) lautet: 1. Der Berg ist feurig (Pratijna, d. h. These). 2. Weil er rauchig ist (Hetu, d. h. Grund). 3. Immer wo es Rauch gibt, gibt es Feuer, so z. B. in der Küche (Udaharana, d. h. Beispiel). 4. So ist auch dieser Berg rauchig (Upanaya, d. h. Anwendung der Regel). 5. Daher ist der Berg feurig (Nigamana, d. h. Konklusion). Mohanty spricht von zwei Logiken (logic 1 and logic 2) in seinem Buch, das für eine jede zukünftige Diskussion der indischen und europäischen Philosophie im Weltkontext unentbehrlich ist.6 Die Logik 1 (die europäische) und die Logik 2 (die indische) verdienen ihren Namen zu Recht und lassen sich dem Oberbegriff Logik unterordnen. Dennoch gibt es erhellende Unterschiede. Im Gegensatz zur Logik 1, die eine Klassenlogik ist, den Psychologismus als einen völligen Irrweg betrachtet und entweder zum Formalismus oder Platonismus neigt, ist die Logik 2 eher eine intensionalistische und versucht eine Synthese zwischen Psychologie und Logik. Die Kategorie der Gültigkeit behält in der Logik 2 den Kontakt mit dem kognitiv-disputativen Kontext, 5 Jitendra Nath Mohanty: Explorations in Philosophy – Indian Philosophy, hg. v. B. Gupta, New Delhi 2001, S. 9. 6 Vgl. Jitendra Nath Mohanty: Reason and Tradition in Indian Thought. An Essay on the Nature of Indian Philosophical Thinking, Oxford 1992, Kap. 4; Bimal Krishna Matilal: Logic, Language and Reality, Delhi 1985; Ram Adhar Mall / Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, Bonn 1989.
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während in der Logik 1 sich diese Kategorie formalisiert. Mary Henle hat überzeugend klargemacht, daß man die beiden Sackgassen eines Psychologismus und einer radikalen Trennung der Logik von der Psychologie vermeiden muß.7 Die Rationalität des indischen und die des griechisch-europäischen philosophischen Denkens sind nicht zwei radikal verschiedene Rationalitäten. Sie zeigen Überlappungen mit Differenzen. Die Trennung zwischen der rein theoretischen und rein praktischen Vernunft, die als ein unterscheidendes Merkmal der europäischen Vernunft im Gegensatz zu der mehr praktischen Rationalität des indischen Denkens angesehen wird, ist weniger griechischen als modernen Ursprungs. Die Kantische Kritik des Vernunftbegriffs kennt jedoch beide Seiten. In der Diskussion um eine Philosophie der Logik im weltphilosophischen Kontext wird oft zwischen der extensionalen und intensionalen Logik unterschieden, je nach dem, ob die Kategorie der Klasse oder die der Eigenschaften die zentrale Rolle spielt. Nicht zu Unrecht wird die westliche Logik in der Regel als eine extensionale, d. h. Klassenlogik, und die indische eine intensionale, d. h. eine Logik der Eigenschaften, Abstraktionen genannt. Auch wenn es stimmt, daß es hier grundsätzliche Inkompatibilitäten geben kann, bleibt die Tatsache unbestreitbar, daß es um zwei alternative Denkmodelle des logischen Denkens geht. Freilich kennen die Differenzen und Gemeinsamkeiten unterschiedliche Grade. Eine der bekannten Prämissen des indischen Syllogismus lautet: »Immer wo es Rauch gibt, gibt es dort Feuer«. Extensional logisch ausgedrückt würde dies lauten: »Alle Fälle des Rauches sind Fälle des Feuers«. Es ist wahr, daß der extensionale Charakter in der z. B. Navya-Nyaya Logik nicht ganz abwesend ist, aber der Klassenbegriff spielt nicht die zentrale Rolle. Die indische Logik würde eher sagen: Der Berg besitzt das Ereignis, das Vorkommen des Feuers, anstatt zu sagen: Der Berg ist ein Glied der Klasse der Rauchorte. Der bekannte Logiker, Quine, weist auf eine Verwirrung hin hinsichtlich der modalen Konzepte, wenn konträre Eigenschaften dem gleichen Subjekt zugeschrieben werden sollen. Sein Beispiel ist das eines mathematischen Radfahrers. Es sind folgende Möglichkeiten: 1. Als Mathematiker ist sein Rationalsein eine notwendige Bedingung, aber nicht sein Zweibeinigsein. 2. Als Radfahrer ist das Zweibeinigsein eine notwendige Bedingung, aber nicht unbedingt das Rationalsein. 3. Was, so die Frage Quines, wenn es um eine Person geht, die sowohl ein Mathematiker als auch ein Radfahrer ist? Welche Eigenschaft hat hier den Vorrang, welche ist die eigentlich notwendige?8 Mohanty schlägt folgende Lösung im Geiste der indischen intensionalen Logik vor: Die intensionale Logik würde hier den Begriff des Kontexts, der Intention, der Eigenschaft einführen, um zu entscheiden, durch welche Eigenschaft die Person in erster Linie sich definiert. Es ist wahr, indische Logik hat sich nicht expressis verbis zu einer ausgesprochenen ›Klassenlogik‹ entwickelt, aber die ›extensionalen Elemente‹ sind in ihr nicht ganz Vgl. Mary Henle: On the Relation between Logic and Thinking, in: Psychological Review 69 (1962), S. 366–378. 8 Vgl. W. V. O. Quine: Word and Object, Cambridge 1970, S. 199. 7
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abwesend. Freilich ist und bleibt die indische Logik intensional, insofern als sie auf eine zweckgebundene Erkenntnisgewinnung den Hauptwert legt und eine Sprache der Eigenschaften und der Bedingtheiten gebraucht, anstelle der einer Quantifizierung und Formalisierung. Aber das indische logische Denken hinsichtlich der Bedeutungstheorien ist stets referentiellen und demzufolge auch extensionalen Charakters. Freilich bildet hier das buddhistische logische Denken die einzige Ausnahme, denn hier wird die Bedeutung eines Wortes durch Exklusion, durch Negation (Apoha) bestimmt. Ferner scheut die indische Logik eine totale Formalisierung, weil sie dadurch die empirische Zweckdienlichkeit gefährdet sieht. Denn wer könnte rein formal folgende Schlußfolgerung widerlegen: X ist Y, weil X Z ist (Feuer ist kalt, weil es ein Produkt ist). Daher versucht die indische Logik in der Regel den Boden der Wahrnehmung, der Erfahrung nicht ganz zu verlassen und immer wo sie dies tut, nimmt sie direkt oder indirekt Erfahrungserkenntnisse in Anspruch. Der bekannte buddhistische Logiker, Dignaga, entwickelt in seiner bemerkenswerten Schrift Hetuchakra (Das Rad der Gründe) so eine besondere Erklärung für die universale Relation zwischen z. B. X und Y. Das ›Rauchigsein‹ wird universell begleitet vom ›Feurigsein‹. Ebenso das ›Menschsein‹ mit ›Sterblichsein‹. Indische Logiker sowohl der buddhistischen als auch der Hindu-Tradition wollen die Gründe für diese universelle Relation ausfindig machen. Sollte diese Relation bloß eine rein analytische, total formale, ja sogar axiomatische sein, so hätte man die Feststellung auch umdrehen können. Die Verbindung zwischen Rauch, d. h. dem ›Zeichen‹, dem Grund (Hetu), und dem erschlossenen Feuer (Sadhya) bildet das Jahrhunderte lang heiß debattierte Thema zwischen der buddhistischen und der NyayaSchule der indischen Logik und Erkenntnistheorie. Die universelle Begleitung zwischen Rauch und Feuer, zwischen X und Y, wird terminologisch ›Vyapti‹ genannt. Der Logiker Dignaga ist der Ansicht, daß alle Fälle des X (des Rauches) auch Fälle des Y (des Feuers) sind. Sein bedeutender Schüler, Dharmakirti, geht noch weiter in seiner Analyse dieser Relation und spricht von zwei Arten dieser Verbindung: In einem Falle besitzt Y eine Eigennatur, die auch die Essenz von X ist oder es besteht eine Identität von X mit einem Teilbereich von Y. Dies macht die Relation völlig analytisch. Als Beispiel wird gegeben: ›Dies ist ein Baum, weil er ein ›Simsapbaum‹ ist‹ (›Dies ist ein Pferd, weil es ein Schimmel ist‹). In einem anderen Falle ist die Relation eher eine kausale, denn immer wo Rauch, dort Feuer. Hierbei ist die Relation eine synthetische. Die Frage ist, wie diese synthetische Relation begründen? Denn eine so strenge Trennung zwischen den synthetischen und analytischen Urteilen kennt die indische Logik nicht und ist daher der Möglichkeit der Kantischen synthetischen Urteile apriori gegenüber skeptisch. Die Nyaya-Logiker versuchen hier eine extensionale Definition. Setzen wir voraus, immer wo es Rauch gibt, gibt es Feuer, dann ist die Schlußfolgerung ›Auf dem Berg gibt es Feuer, weil es dort Rauch gibt‹ logisch einwandfrei. Die eher psychologische Begründung der Naiyayikas sieht so aus: Sieht ein Mensch auf dem Berg Rauch, so erinnert er sich an das Gesetz: immer wo Rauch, dort Feuer. Dies hat er schon gelernt, indem er das Beispiel der Küche zu Hilfe nahm, wo Rauch immer mit Feuer Hand in Hand ging. Diese Erinnerung führt ihn dazu, daß er die neuerliche Wahrnehmung des Rauches auf dem Berg notwendigerweise mit Feuer in Verbindung bringt. Diesen Schritt nennt
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die Nyaya-Logik »Paramarsha« (Überlegung). »This psychological sequence«, schreibt Mohanty, »also corresponds to logical sequence. Logic and psychology coincide; or, rather, if the logic appears to be psychological, psychology of reasoning is also logicized. The logical structure represents not how we ought to infer, but how, as a matter of fact, we do infer.«9 Neben der buddhistischen und der Nyaya-Tradition der Logik im indischen philosophischen Denken darf man den großartigen Beitrag der Jain-Logik nicht vergessen. Jaina-Logik unter dem Terminus »Nayavada« (Lehre vom Standpunkt) ist ein rein logischer Versuch, um der Problematik des philosophischen und auch des religiösen Pluralismus methodologisch-argumentativ zu begegnen. Die Totalität der philosophischen Diskurse enthält Positionen, Standpunkte, die, global gesehen, untereinander eher sehr inkonsistent, inkommensurabel und inkompatibel sind, aber lokal gesehen, d. h. systemimmanent betrachtet, können sie völlig konsistent und mit sich selbst widerspruchsfrei sein. Die interkulturelle Orientierung im weltphilosophischen Kontext läßt uns eine solche Diskurssituation hautnah spüren. Auf eine solche Situation kann es eine dreifache Reaktion geben. Der indische Logiker Ganeri spricht vom »doctrinalism«, der als eine theoretische Position einen Ausweg prinzipiell für möglich hält, um die wahre von der falschen Alternative zu unterscheiden. Dies geschieht jedoch oft durch Reduzierung anderer Alternativen zu Sub-Alternativen des eigenen allumfassenden Systems. Die anderen Alternativen werden in einer unangemessenen Weise auf die eigene Alternative verpflichtet, innerhalb dessen dann Raum für Verschiedenheit sein soll. Eine solche Position mag möglich sein, aber der Preis einer solchen schon theoretisch gewaltsamen Uniformierung ist zu hoch. Selten sind wir in einer Situation, in der sich unterschiedliche Standpunkte (Naya) ohne Selbstprivilegierung eines bestimmten Denkmusters miteinander vereinigen lassen.10 Die zweite Reaktion besteht darin, daß es zum Wesen eines Arguments gehört, Gründe für die Behauptung und für die Ablehnung eines Sachverhalts, einer Aussage bereit zu haben. Die pyrrhonischen Skeptiker in der Antike und der indische buddhistische Logiker Nagarjuna neigen einer solchen skeptischen Reaktion zu. Nagarjuna als ein Dekonstruktivist par excellence dekonstruiert nicht nur Texte, Kulturen und Denkmuster, sondern weist eine legitime Anwendbarkeit allen kategorialen und konzeptuellen Denkens zurück. Ein begriffliches System, das Bedingtheiten ablehnt, braucht wiederum ein ähnlich geartetes System, um sich zu legitimieren. Und dieser Prozeß kann endlos weitergehen. Die dritte Reaktion ist die eines verbindlichen Pluralismus, und dies wird von den Jaina-Logikern vertreten. Da die Jaina-Philosophen den Streit der Standpunkte nicht per Vorentscheidung beseitigen wollen, finden sie immer Bedingungen, unter denen eine Behauptung und eine Ablehnung möglich sind. Mohanty: Classical Indian Philosophy, a. a. O., S. 23. Vgl. Jonardon Ganeri: Indian Logic, in: Handbook of the History of Logic, vol. 1: Greek, Indian and Arabic Logic, hg. v. M. Gabbay and J. Woods, New York, London 2004, S. 355 f. Vgl. Werner Loh: Widerlegung der klassischen Aussagenlogik als Förderung einer Logik des Erwägens, in: F. Benseler et al. (Hg.): Alternativer Umgang mit Alternativen, Opladen 1994, S. 241–259. Vgl. Thomas E. Wood: Nagarjunian Disputations: A Philosophical Journey through an Indian Looking-Glass, New Delhi 1994. 9
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Freilich gehen sie von der Überzeugung aus, daß die Rechtfertigung eines Sachverhalts dem Standpunkt immanent ist. In ihrem Versuch, einen jeden einseitigen (ekanta) Dogmatismus zu vermeiden, entwickeln die Jaina-Logiker eine Theorie der Nicht-Einseitigkeit der Standpunkte (Anekantavada). Diese Nichteinseitigkeitslehre führt sie zu ihrer ›siebenwertigen Logik‹ (Saptbhanginaya).11 Hierbei geht es um sieben unterschiedliche semantische Prädikate (Bhangi), die, auf die Wahrheit und Falschheit der Aussagen angewandt, fast eine Art indische Wahrheitstabelle darstellen. Alle Aussagen werden von dem Zusatz: ‹kann-sein› oder ‹unter der Bedingung› oder ‹vernünftigerweise› (syad) begleitet. Die sieben Funktionen sehen so aus: 1. Kann sein, ein Objekt existiert (syad asty eve). Es geht hier um eine Prädikation mit der Funktion der Behauptung. 2. Kann sein, es existiert nicht (syad nasty eva). Hier geht es um die Ablehnung einer Behauptung. 3. Kann sein, es existiert und existiert nicht (syad asty eva syad nasty eva). Diese dritte Prädikation betrifft eine sukzessive Behauptung bzw. Ablehnung. 4. Kann sein, es ist unausdrückbar, d. h. unbehauptbar (syad avaktavyam). Diese vierte Prädikation betrifft die Intention einer simultanen Behauptung und Ablehnung. 5. Kann sein, es existiert und ist nicht ausdrückbar (syad asty eva syad avaktavyam). Diese fünfte Prädikation betrifft die Behauptung und eine simultane Behauptung und Ablehnung. 6. Kann sein, es existiert nicht und ist unaussprechbar (syad nasty eva syad avaktavyam eva). Diese sechste Prädikation betrifft eine Ablehnung und eine simultane Behauptung und Ablehnung. Und 7. Kann sein, es existiert, es existiert nicht und ist unausdrückbar (syad asty eva syad nasty eva syad avaktavyam). Diese siebte Prädikation betrifft eine sukzessive Behauptung und Ablehnung und eine simultane Behauptung und Ablehnung. Der alle diese sieben Aussagen begleitende Zusatz ›kann sein‹ (syad) meint: ›von einem bestimmten Standpunkt‹, ›innerhalb einer bestimmten philosophischen Perspektive‹. Diese Jaina-Logik besagt erstens, es gibt keine bedingungslose Behauptung, Aussage, und zweitens, alle kategorialen Behauptungen sind innerhalb einer philosophischen Perspektive machbar. So gibt es Logiker wie z. B. Bharucha und Kamat, die die Jaina-Logik eine ›para-konsistente Logik‹ nennen, weil sie Widersprüche logisch für möglich, vertretbar und verstehbar hält.12 Der größte Beitrag der Jaina-Logik zum weltphilosophischen Diskurs heute besteht im folgenden: Erstens gibt sie uns ein logisches und erkenntnistheoretisches Fundament eines philosophischen Pluralismus, zweitens lehnt sie auch eine theoretische Selbstverabsolutierung eines bestimmten Standpunkts ab, drittens vermeidet sie so eine jede theoretische und intellektuelle Gewalt unter den Standpunkten und viertens führt sie so auf der ethisch-moralischen Ebene zur Gewaltlosigkeit. Hinzu kommt, daß eine streng binäre Logik, die nur ein ausschließendes Entweder / Oder kennt, ein tertium non datur vertritt und alle Zwischenpositionen bei den beiden Extremen ablehnt oder reduktiv
11 Vgl. Vadideva Suri: Pramana-naya-tattvalokalamkara, hg. v. H. S. Bhattacharya, Bombay 1967, Kap. 4. 12 Vgl. Filita Bharucha / R. V. Kamat: Syadvada – Theory of Jainism in terms of deviant Logic, in: Indian Philosophical Quarterly 9 (1984), S. 181–187; Manuel Bremer: Wahre Widersprüche: Einführung in die parakonsistente Logik, St. Augustin 1998.
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traktiert, die Wege einer möglichen Verständigung unter den Positionen verbaut, die zwar erhellende Unterschiede aufweisen, aber auch Überlappungen zeigen, welche eine Überbrückungsfunktion einnehmen können. Im Hinblick auf die Welt der Empirie geht das indische philosophische Denken vom Primat der Wahrnehmung aus und kennt nicht die strenge westliche Unterscheidung zwischen Erfahrung und Vernunft. Daher erhält die Frage nach einer ›reinen Möglichkeit‹ in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit einen anderen Stellenwert. Die Idee der ›reinen Möglichkeit‹, die der Wirklichkeit vorausgeht, ist im ganzen ein Markenzeichen der westlichen Metaphysik und Logik. Neben der jüdisch-christlichen Idee einer Schöpfung aus dem Nichts scheint auch die Konzeption einer ›linearen Zeit‹ hierbei Pate gestanden zu haben. Die Neigung zu einem rein axiomatischen Denken kann auf einem solchen Boden gedeihen. Auch für Leibniz geht die Möglichkeit der Wirklichkeit voraus. Das indische Denken kennt die Idee einer Schöpfung aus dem Nichts nicht. Und hinsichtlich der Zeit neigt es zu einer im ganzen zirkulären Auffassung. Um genauer zu sein, müßte man hier zwei Formen der Möglichkeit (Yogyata) unterscheiden: eine ›reale‹ und eine ›freie‹. Eine freie Möglichkeit ist eine bloß logische, reine Möglichkeit, und der Gang der Erfahrung scheint hier kaum eine Rolle zu spielen. Auf eine solche freie Möglichkeit muß David Hume bedacht gewesen sein, als er auf die Frage, ob er an die Unsterblichkeit der Seele nach dem Tod glaube, sagte: es ist denkbar, daß ein Stück trockenes Holz, ins Feuer geworfen, nicht brennt. Reale Möglichkeit ist eine von der Erfahrung motivierte, antizipierte. Das indische Denken läßt sich mehr von der zweiten Form der Möglichkeit leiten. Auch hierin könnte der Grund für die skeptische Distanz der indischen Logik gegenüber einer zu extensionalen Logik liegen. Es ist ein grobes Mißverständnis zu meinen, indische Logik leugne den Satz vom Widerspruch und den vom ausgeschlossenen Dritten. Was stimmt, ist folgendes: diese Sätze erhalten einen anderen Sinn, weil es um eine Einstellungsänderung geht. Eine gewisse Nähe zur intuitionistischen und dreiwertigen bzw. mehrwertigen Logik läßt sich nicht leugnen.13
3. Zur Frage nach der Willensfreiheit Die Frage nach der Willensfreiheit bedarf einer Präzisierung. Sie kann erstens bedeuten, daß der menschliche Wille vollkommen frei ist oder daß er nur eine begrenzte Form der Freiheit besitzt. Die Idee der Willensfreiheit begleitet die Geschichte der westlichen Philosophie seit ihren Anfängen, besonders vom Mittelalter an. Diese Idee ist eng Vgl. Franz von Kutschera: Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, Berlin 1985; Eberhard Conze: Der Satz vom Widerspruch, Frankfurt/M. 1976; Jan Lukasiewicz: Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles, Hildesheim 1993. Für Lukasiewicz besitzt der Satz vom Widerspruch keine unbedingte Universalität. Er findet die Argumente von Aristoteles nicht überzeugend. »Die Argumente sind unzureichend, daher bleibt der Satz vom Widerspruch ein unbegründeter Grundsatz, an den wir blind glauben … Der Grundsatz ist nicht universell, weil ihn offenbar Aristoteles selbst auf die substanziellen Seinsweisen beschränkt.« (ebd., S. 124); Gabriele Münnix: Zum Ethos der Pluralität: Multiperspektivität und Postmoderne als Programm, Berlin 2002; Ulrich Blau: Dreiwertige Sprachanalyse und Logik, München 1974. 13
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verbunden mit der Idee der Moralität, der der Verantwortung, der Gottes und der der menschlichen Natur. Für das christlich-philosophische Denken gilt: Erstens, Gott allein ist vollkommen frei, zweitens, die menschliche Willensfreiheit ist eine Gabe Gottes und stellt ein abgeschwächtes Bild der absoluten göttlichen Freiheit dar, denn der Mensch ist ein Abbild Gottes, und drittens, die Freiheit des Willens ist ein fundamentales Postulat der Moralität, weil Moralität der Willensfreiheit bedarf. Und Verantwortung ohne Freiheit ist undenkbar. Bei der Buchstabierung der ersten These durch die Philosophen wurde immer wieder die Frage gestellt: Ist Gott an sich gut, wie kann er dann das Böse wollen? Die Cartesianer stellten die Frage: Ist Gott frei, 2+2=5 zu setzen? Alle diese und ähnliche Fragen machen eines deutlich, die Willensfreiheit, wird sie Gott zugeschrieben, kann nicht das Gleiche bedeuten, als wenn sie den Menschen zugeschrieben wird. Ferner können wir die menschliche Psychologie des Willens nicht ohne weiteres auf Gott ausdehnen. Da diese Fragen der Religionsphilosophie angehören, können wir sie hier übergehen. Die zweite These ist ebenso mit Fragen belastet. Unterschiedliche Theorien werden vorgeschlagen und vertreten. Erstens wird den Menschen eine totale Willensfreiheit abgesprochen, denn nur Gott ist absolut frei. Zweitens macht sich ein Wunsch bemerkbar, die Willensfreiheit in irgend einer Form beizubehalten. Es ist der Determinismus, der neben seiner theologischen Verankerung auch eine psychologische und naturalistischbiologische kennt. Für den psychologischen Determinismus gilt, daß unsere Entscheidungen Funktionen unserer geistigen Zustände sind. Zum naturalistischen Determinismus gehört neben der Psychoanalyse auch die genetische Auslegung der menschlichen Natur. Es gibt aber auch eine Variante des Determinismus, die man den ›kosmischen‹ nennen könnte. Spinoza, Laotze und einige Anschauungen im indischen Denken können dies belegen. Der große Gang der Dinge, der Tao heißt, kennt keine Ausnahme, und Freiheit besteht diesem Gang der Dinge entsprechend im Denken und Handeln. Fast im Geiste der These von Marx scheint die Freiheit hier eine ›Anerkennung der Notwendigkeit‹ darzustellen, wobei dem Tao die größte Tugend der Unparteilichkeit zukommt. Hier stellt sich die Frage, ob wir diese Anerkennung unter Protest und mit Groll oder mit Einsicht in das gleichberechtigte Eingebettetsein im kosmischen Haushalt uns zu eigen machen. In Anbetracht der zentralen Stellung der Frage nach der Willensfreiheit im westlichen philosophischen und theologischen Denken wird nicht selten nach Asien geschaut: Besitzt das indische, das asiatische Denken überhaupt die Konzeption einer Willensfreiheit? Wenn ja, ist diese Konzeption mit der des Westens vergleichbar? Diese Fragen sind sehr komplex und entbehren einer einfachen und direkten Antwort. Es gilt zunächst einmal die Frage zu stellen, ob das asiatische Denken eine Konzeption des Willens kennt, die vergleichbar mit der der westlichen Konzeption wäre. Dem hinduistischen, buddhistischen und chinesischen Denken kann man nicht ohne weiteres eine solche Konzeption zuschreiben. Es gibt folgende Punkte, die im voraus betrachtet werden müssen im Geiste einer interkulturellen Orientierung, die überlappende Gemeinsamkeiten und erhellende Unterschiede kennt und anerkennt. 1. Die Idee der Willensfreiheit ist u. a. in der theologischen Idee der Erbsünde verankert. Im asiatischen Denken macht sich der Gedanke
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der Sünde durch seine Abwesenheit bemerkbar. 2. Rein philosophisch betrachtet, läßt sich das Problem der Willensfreiheit auf die Aristotelische Entdeckung einer Wahlmöglichkeit zurückführen. Auch seine These von einem ›unbewegten Beweger‹ mündet in der christlich-theologischen Konzeption Gottes als der ersten Ursache. Hinduismus und Buddhismus kennen diese beiden Komponenten der Willensfreiheit nicht. Ferner sieht das indische Denken nicht ein, warum es eine logische, theoretische Notwendigkeit sein muß, in unserer Suche nach der einen ›Urkausalität‹ irgendwo aufhören zu müssen. Es mag eine praktische, existentielle Notwendigkeit sein, daß wir mit der Frage nach der ersten Ursache nicht ewig weiter fortfahren können, logisch notwendig ist es nicht. Aus dem Gesagten folgt jedoch nicht, daß das indische Denken den Sachverhalt der Willensfreiheit überhaupt nicht kennt. Was bedacht werden muß, ist die Tatsache, daß das asiatische Denken von einem besonderen Verhältnis des Menschen zur Natur, zum Kosmos, zur ersten Ursache, zu Gott ausgeht. Es war Augustinus, der durch seine Lehren über Zeit und Willensfreiheit den Grundstein für weitere philosophische Diskussionen legte. Das Böse kann und darf nicht in ein Verursachungsverhältnis mit Gott gebracht werden. Nach ihm hat das Böse keine göttliche Wirkursache. Gott sah im voraus, daß nur menschliche Entscheidungen dafür in Frage kommen. So meint Ausgustinus, das göttliche Vorwissen und unsere Willensfreiheit in Einklang bringen zu können. Während aber Augustinus sehr gut die Aristotelische Theorie der Wahlfreiheit rezipiert, schenkt er der Aristotelischen Theorie von der Schwäche des menschlichen Willens keine gebührende Beachtung. Die Schwäche des menschlichen Willens macht sich nach Aristoteles darin bemerkbar, daß wir Menschen das Böse tun im vollen Wissen, daß es böse ist. Dies tun wir, weil wir unseren Leidenschaften und anderen Verblendungen unterliegen. Aristoteles und mehr noch Platon sind der festen Überzeugung, die Vernunft befiehlt uns, aber sie kann uns nicht bewegen, diesen vernünftigen Befehlen zu gehorchen und zu folgen. Fast 2000 Jahre später meint der Moralphilosoph, David Hume, Vernunft sei eine Dienerin der Leidenschaften (Passions). Freilich ist diese Ansicht Humes in dieser ein wenig provokativen Form zurückzuweisen, aber eine totale Trennung der Vernunft vom Gefühlsleben tut einer ganzheitlichen Anthropologie Unrecht. Kant unterscheidet zwar zwischen einem reinen rationalen Willen und einem empirischen Willen, aber eine innere, fast unlösliche Spannung in der menschlichen Natur zwischen Vernunft und Leidenschaft bleibt bestehen. Das indische Denken trennt die Vernunft und die Leidenschaft nicht so streng voneinander. Ob das asiatische Denken durch seine Yoga-Metaphysik, -Psychologie und -Technik eine geeignetere Vermittlungsinstanz sein könnte? Fast existentiell heißt es bei Wittgenstein: »Wie Gott den Menschen beurteilt, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn er dabei wirklich die Stärke der Versuchung und die Schwäche der Natur in Anschlag bringt, wen kann er dann verurteilen? Wenn aber nicht, so ergibt eben die Resultierende dieser beiden Kräfte das Ziel, zu dem er prädestiniert wurde. Er wurde also geschaffen, um entweder durch das Zusammenspiel der Kräfte zu siegen, oder unterzugehen.«14 Was Wittgenstein hier sehr deutlich sagt, betrifft das Verhältnis von Theologie, Theodizee und Sünde. 14
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt / M. 1984, S. 572. Vgl.
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In unserem Zusammenhang gibt es eine weitere Frage nach dem Stellenwert der menschlichen Vernunft in der menschlichen Natur. Gibt es einen äquivalenten Ausdruck für Vernunft im Buddhismus und in der Hindu-Philosophie? Kann Vernunft ›Wissen‹, ›Einsicht‹, ›Intuition‹ (Prajna) heißen? Oder ist Vernunft der ›Intellekt‹, ›der Verstand‹ (Buddhi)? Solche Übersetzungen sind noch zu grob, denn ›Buddhi‹ z. B. ist für das indische Denken nicht bloß ein Wissensorgan, sondern darüber hinaus auch ein Vermögen, das Wissen in die Praxis umzusetzen. Dies deutet auf einen fundamentalen Unterschied zwischen dem indischen und Aristotelischen Denken hin: Das indische Denken unterscheidet nicht zwischen dem Wissen und dem Willen in einer Weise, wie Aristoteles es tut. Daher ist Vorsicht geboten, wenn man von einem ›total freien Willen‹ im indischen Kontext sprechen will. Denn, wie noch zu zeigen sein wird, ist auch der Schöpfergott bei seiner Schöpfung nicht vollkommen frei wegen der Gestaltungskraft der ›Karmas‹. Ferner ist die Rede von der Freiheit im buddhistischen und hinduistischen Kontext nicht so sehr die Freiheit zu wollen, zu wählen und zu handeln, sondern vielmehr die Freiheit von etwas. Das asiatische Diktum ›Freiheit von…‹ setzt voraus, daß es etwas gibt, was uns fesselt, bindet, gefangen hält. Daher sind Termini wie z. B. ›Befreiung‹ (Moksa), ›Erlösung‹ (Nirvana) stets verbunden mit dem Wunsch nach Befreiung von etwas. Es geht um Befreiung vom Leiden, von der Unwissenheit (Avidya). Alle Verblendungen wie z. B. Gier, Haß und dgl. entstehen durch Unwissenheit. Daher besteht die Freiheit im Freisein von Unwissenheit. Das buddhistische 12-gliedrige Lebensrad versinnbildlicht dies. Schließlich konnte die Idee einer vollkommenen Freiheit, wie schon angedeutet, im indischen Denken auch deswegen nicht eine zentrale Stelle einnehmen, weil dort die Konzeption einer theologischen creatio ex nihilo fehlt. Denn der Schöpfergott ist für das Hindu-Denken zwar in seiner Schöpfung frei, aber nicht vollkommen frei, weil er die ›Karmakausalität‹ nicht restlos außer acht lassen kann. So kann das indische Denken ohne weiteres mit einer Konzeption der Willensfreiheit einhergehen, die innerhalb der lang gezogenen Grenzen eine Freiheit der Gestaltung kennt. Die Diskussion um die menschliche Willensfreiheit, Selbstbestimmung, Schuld, Verantwortung hat an Aktualität gewonnen durch die Hirnforschung und durch das neue Menschenbild im Gefolge der modernen neuronal biochemischen Forschungsergebnisse. Nicht so sehr die Idee einer begrenzten Willensfreiheit wird durch das neue Menschenbild zu einem Problem, sondern vielmehr wird ein absolutistischer Freiheitsbegriff, ob theologisch oder philosophisch, durch die neuere Hirnforschung in Frage gestellt. Die heutige Fragestellung ›Hirnforschung und Willensfreiheit‹ zielt eigentlich auf eine ›Dekonstruktion‹ des traditionellen monotheistisch theologischen Hintergrundes. Dennoch scheint die »deterministische Natur physikalischer Gesetze« im Endeffekt die Stelle eines ›von Gott auferlegten unausweichlichen Schicksals‹ einzunehmen.15 So weit so gut, denn diese Worte Libets könnten ebenso für das Tao gelten. Freilich fällt
Ram Adhar Mall: Ludwig Wittgensteins Philosophie interkulturell gelesen, Interkulturelle Bibliothek Bd. 12, Nordhausen 2005. 15 Vgl. Benjamin Libet: Haben wir einen freien Willen?, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt / M. 2004, S. 268.
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hier der Ballast der Theodizeeproblematik weg, denn das Gehirn kann man nicht guten Grundes vor den ›Richterstuhl der menschlichen Vernunft‹ zerren, um von ihm eine Erklärung, eine Rechtfertigung, ja eine Rechenschaft der ›krummen Welt‹ zu erwarten oder zu verlangen. Von einem solchen Wegfall sind streng theistisch orientierte Offenbarungsreligionen eher betroffen als im wesentlichen nur ethisch-moralisch orientierte und mit soteriologischen Zielen verbundene Religionen wie der Buddhismus, Jainismus, Taoismus u. a. Es ist wahr, die neuronalen Veränderungen im Gehirn scheinen in einem Verursachungsverhältnis zum menschlichem Denken, Fühlen und Wollen zu stehen, aber der kausal und experimentell erschlossene unbewußte hirnphysiologische Sachverhalt darf nicht verwechselt werden mit dem unmittelbaren Bewußtsein einer Willensanstrengung, die z. B. am Vollzug der Handlung beteiligt ist. Ich habe mein Unbehagen einem zu strengen Neurodeterminismus gegenüber, weil hier das menschliche Bewußtsein nolens volens völlig naturalisiert wird. Dies hat dann zur Folge, daß eine Naturgeschichte z. B. der Tsunaminaturkatastrophe sich kaum qualitativ von einer des menschlichen Bewußtseins unterscheiden kann. Es geht nicht um die völlige Zurückweisung des Neurodeterminismus, sondern ich wende mich gegen seine Tendenz, sich absolut zu setzen. Selbst die Buddhisten, die von einem Bedingtheitsnexus (Pratitysamutpada) aller Dinge (Dharmas) ausgehen, bestreiten nicht so sehr die Naturkausalität, sondern weisen sprirituell erfahrungsmäßig nach, daß Phänomene wie Haß, Gier und andere Verblendungen zwar von unserem Willen nicht ganz hervorgebracht sein mögen, aber dennoch von ihm kontrollierbar, modifizierbar, überwindbar sind. Denn ohne diese Fähigkeit, die eher als Charakteranlage und -erwerb betrachtet werden kann und soll und unter den Menschen sehr unterschiedlich verteilt zu sein scheint, ist die legitime Frage nach Schuld, Verantwortung, Verhaltensänderung, Lob und Tadel, Strafe und Belohnung nicht zu lösen. Hier ist eine Klärung des Verhältnisses von Willensfreiheit zum Rechtsdenken von zentraler Bedeutung. Oft hat man die indische Karma-Doktrin rein deterministisch verstanden. Die Karma-Kausalität ist verantwortlich sowohl für das Gute als auch für das Böse. Neben der kausalen Erklärung enthält die Karma-Doktrin auch eine moralisch verpflichtende Dimension mit dem Ziel der Verbesserung der Karmas in dem jeweiligen Leben. Das moralisch Böse (Papa) und das Leiden (Duhkha) sind die eigentlichen Beweggründe für eine freiwillige Verbesserung der Karmas. Nicht Gott, sondern unsere Karmas sind die Quelle des Bösen.
4. Zur Religionsphilosophie im weltphilosophischen Kontext Das Kompositum »Religionsphilosophie« ist, recht verstanden, eine philosophische Beschäftigung mit einem Phänomen, das es aus unterschiedlichen Gründen schon vor der Philosophie gab. Philosophie bringt Religion nicht selbst hervor, auch eine ›philosophische Religion‹ nicht, letztere mag eine theologische Religion ersetzen. Es gibt einige Dogmen einer europäisch-christlichen Religionsphilosophie, die im heutigen religionsphilosophischen Weltkontext thematisiert werden müssen. Für einen
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aufgeklärten Religionsphilosophen heute gilt Folgendes: Auch die tiefsitzenden Vorurteile der sogenannten Offenbarungsreligionen den Nichtoffenbarungsreligionen wie dem Hinduismus und Buddhismus gegenüber müssen überwunden werden, bevor die berechtigten Argumente für die Annahme einer bestimmten Religion vorgetragen werden können. Religiöse Toleranz unter den Religionen ist jenseits der diskriminierenden Vorurteile angesiedelt. Es gibt eine Form des Relativismus, die besagt: unterschiedliche Wertsysteme und Religionen widersprechen sich nicht, weil sie stets kulturabhängig sind. Diese Ansicht wird oft in Verbindung gebracht mit den ›liberalen Denkern der Kolonialzeit‹, die die Praktiken und Werte anderer Gesellschaften weder duldeten noch ablehnten mit der Begründung, diese seien zu den westlichen Werten inkommensurabel. Es ist jedoch eine Erfahrungstatsache, daß Kulturen sich stets in einem Kommunikationsprozeß finden, verbunden mit Konflikten. Der indische Dichter-Philosoph und Neohinduist Tagore sprach von einem ›Überschuß im Menschen‹ (Surplus in Man) und meinte damit eine Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken, um so zu einem Selbstverständnis zu gelangen. Alle Menschen aller Kulturen tun dies und gelangen zu unterschiedlichen Selbst- und Gottesbildern. Religionsphilosophie hat immer das Thema Gott im Zentrum. Dies gilt insbesondere für die europäische Philosophie, ob im Sinne einer spekulativen Metaphysik oder einer Theologie. Das Problem der Sünde, des Bösen ist ein zentrales Thema der Religionsphilosophie. Weitere Themen der Religionsphilosophie sind: Das Problem der Gnade, das der Theodizee und das eines persönlichen Schöpfergottes. Auf dem indischen Sub-Kontinent stehen diese Themen entweder nicht im Zentrum oder aber werden anders gestellt und gelöst. Fälschlicherweise hat man das Fehlen solcher Fragestellungen mit der Abwesenheit einer Religionsphilosophie im indischen Denken verwechselt. Das pan-indische Markenzeichen des religiösen Denkens ist die universelle These vom Leiden (Duhkha). Für das indische Denken ist die Leidenserfahrung gekennzeichnet erstens durch die Passivität, die den Leidenden widerfährt, und zweitens durch die Intention, d. h. durch den aktiven Wunsch, sich vom Leiden zu befreien. Die oft in der Regel im Westen vertretene psychologische Ansicht, verbunden mit dem Urteil des Pessimismus, ist zurückzuweisen. Denn eine ernsthafte Reflexion über das Leben in der Welt macht deutlich, daß unsere normalen Erfahrungen letzten Endes den gesuchten bzw. erhofften Sinn vermissen lassen. Daher wird eine andere, höhere Erfahrung postuliert und gesucht, die uns befreit (Nirvana, Moksa u. a.). Die These vom universellen Leiden führt den indischen Geist zu einer anderen Auslegung des Problems der Sünde, des Bösen. Dieses Faktum ist mit der Existenz eines omnipotenten und barmherzigen Gottes kaum vereinbar. Dies führt wiederum, wie noch zu zeigen sein wird, zu einer anderen Auslegung des Theodizeeproblems: Nicht so sehr die Gnade Gottes, sondern vielmehr die Karmas sollen uns vom Leiden befreien. Das Problem der Sünde wurde auch nicht in der westlichen Schärfe im indischen religiösen Denken gestellt, weil der Schöpfer nicht als vollkommen omnipotent gedacht wurde, denn er mußte ja, wie schon erwähnt, die Karmas der Menschen mit berücksichtigen. Da die indische Religiosität von den ba-
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salen Erfahrungen ihren Ausgang nahm, waren die meisten Handlungen symbolischer Natur. Für die Buddhisten und Jainisten ist Gott weder für unser Leid noch für unsere Befreiung verantwortlich. Es ist nur der Mensch, der für beide verantwortlich ist. Diese Gedanken enthalten eine andere Form der Religionsphilosophie. Es besteht ein ambivalentes Verhältnis zwischen Religion, Theologie und Philosophie, dies jedoch im christlich-europäischen Denken mehr als im indischen. Denn den spirituell religiösen Erfahrungen kommt ein Primat vor den Glaubensbekenntnissen zu. Wer eine bestimmte Religion zu der einzig wahren, nicht nur für sich und für die seinen, sondern für alle Menschen, deklariert, kann nicht vermeiden, eine bestimmte Religionsphilosophie absolut zu setzen. In seiner Rektoratsrede stellte der Theologe Adolf von Harnack fest: »Wer diese Religion (das Christentum; R. A. M.) nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt sie alle.«16 Man lese dagegen die Worte des bekannten Indologen, Friedrich Max Müller: »Wer eine Religion kennt, kennt keine.«17 Eine rein philosophische Thematisierung ist den Religionen nicht immer willkommen, weil sie dadurch ihren magistralen Wahrheitsanspruch in Gefahr sehen; Philosophie ihrerseits ist auch nicht gewillt, ihre Denkautonomie der religiösen Autorität zu opfern. Auf den Punkt gebracht, heißt es bei Paul Tillich: » In der Religion tritt der Philosophie ein Objekt entgegen, das sich (…) sträubt, Objekt der Philosophie zu werden.«18 Findet sich Philosophie je zu Gott, so kann sie dies nur von sich aus tun. Die Lehre Buddhas ist eine philosophische, religiöse, spirituelle, aber keine theologische Lehre. Zum Anspruch und Elend der Gottesbeweise gehört, daß gottbeweisende Argumente Gottesglauben voraussetzen. Sehr deutlich heißt es bei Wittgenstein: »Ein Gottesbeweis sollte eigentlich etwas sein, wodurch man sich von der Existenz Gottes überzeugen kann. Aber ich denke mir, daß die Gläubigen, die solche Beweise lieferten, ihren mit ihrem Verstand analysieren und begründen wollten, obgleich sie selbst durch solche Beweise nie zum Glauben gekommen wären.«19 Nicht Philosophie, sondern nur das Leben, wenn überhaupt, kann uns zum Glauben an Gott erziehen. Ironischerweise erzieht uns das Leben ebenso zum Unglauben. Dies hat zur Folge, daß man Atheismus nicht von vornherein negativ besetzen darf. Die indischen vedischen Seher (Rishis) stellten schon damals die Frage: Welchem Gott sollen wir unsere Opfergaben darbieten? Die allumfassende Kategorie des Religiösen ist das ›Heilige‹, ›Sakrale‹, ›Numinose‹, die ›Tanszendenz‹. Die religionsphilosophisch eminent wichtige Frage ist: Wie sich mit dem ›Sakralen‹ verbinden? Zwei Wege bieten sich an: der religiöse und der spirituelle Weg der Erfahrung. Wie verhalten sich diese beiden Formen der Erfahrung zueinander? Geht die religiöse Erfahrung der spirituellen voraus oder verhält es sich umgekehrt? Muß oder kann eine spirituelle Erfahrung religiös sein? 16 17
Adolf von Harnack: Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1906, S. 168. Friedrich Max Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Straßburg 1876,
S. 14. Paul Tillich: Religionsphilosophie, in: M. Dessoir (Hg.): Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin o. J., S. 769. 19 Anthony Kenny (Hg.): Wittgenstein: Ein Reader, Stuttgart 1996, S. 372. 18
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Ist eine spirituelle Religiosität möglich? Kann es eine ›atheistische Religiosität geben? Die Lehre Buddhas wäre ein Kandidat hierfür. Worin besteht die authentische Religiosität‹? Sie kann in der Heiligkeit der Transzendenz als auch in der der Immanenez bestehen. Die Frage lautet: Ist Philosophie qua Philosophie zum Atheismus verurteilt? Ist Religion durch Philosophie in Gefahr? Geht doch nicht die Frage nach der ›Bedeutung des Religiösen‹ der Frage nach der ›Wahrheit des Religiösen‹ voraus? Muß in dem Streit zwischen Religion und Philosophie entschieden werden? Oder gibt es eine Versöhnung? Muß man nicht die hausgemachte Angst vor einer ›Diktatur des Relativismus‹, vor einer Pluralität der Religionen überwinden, um einer interreligiösen Verständigung näherzukommen? Religionsphilosophie als eine philosophische Disziplin behält ihre selbständige Funktion den Religionen gegenüber. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Vernunft und Glaube, Philosophie und Religion schreibt William James: » Ich glaube, wir müssen uns mit der traurigen Wahrheit abfinden, daß der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserlebnisse zu demonstrieren, absolut hoffnungslos ist.«20 Das Fachgebiet Religionsphilosophie kennt zwei Pole in der grundsätzlich überlappenden Sorge aller Religionen, eine höhere Form menschlicher Existenz zu erreichen, frei von allen Leidensformen der mundanen Existenz. Auf der einen Seite des Spektrums gibt es die Religionsphilosophie im Sinne der Offenbarungstheologie, verankert in den Offenbarungsschriften und konzeptualisiert und artikuliert durch den menschlichen Geist. Auf der anderen Seite des Spektrums ist die Religiosität der reinen spirituellen Erfahrung wie z. B. die des Zen-Buddhismus oder die der Advaita-Vedanta-Lehre. Die unendliche Vielfalt der unterschiedlichen Religionen besiedelt den Raum zwischen diesen beiden Polen. So kann eine Religionsphilosophie im heutigen weltphilosophischen Kontext eine Philosophie der Religionen mit oder auch ohne Gott sein. Die oft verwendete Rede von der ›Einheit in der Vielfalt‹ gilt es dahingehend zu korrigieren, daß es um eine eher regulative Einheit einer religiösen Sehnsucht nach einer höheren Erfahrung angesichts der religiösen Vielfalt geht. Die christlich-europäisch orientierte Religionsphilosophie betont die Idee eines theistischen Gottesbezugs und vergißt, daß dieses Muster nicht z. B. für den Buddhismus, Jainismus, die Vedanta-Lehre, den Taoismus u. a. gelten kann. Daher zielt eine interkulturelle religionsphilosophische Orientierung auf eine ›Deprovinzialisierung‹ der traditionellen Religionsphilosophie. Religionsphilosophie, recht verstanden, ist eine rein philosophisch argumentative Behandlung des religiösen Phänomens. Religionsphilosophie qua Religionsphilosophie soll unparteiisch bleiben, unabhängig davon, ob es um eine Offenbarungsreligion geht oder nicht. Die religionsphilosophische Fragestellung im Geiste einer interkulturellen Orientierung kennt zwar kulturelle Verankerungen, aber sie privilegiert nicht unnötig eine bestimmte Religion. Mit Paul Ricoeur sind wir der Ansicht, daß es ein unendliches Reservoir der Welt der Symbole gibt, und ein jeder Religionsphilosoph nimmt seinen Ausgangspunkt von einer bestimmten Welt der Symbole. Demzufolge gibt es legitimerweise eine Palette von religionsphilosophischen An20 William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt/M. 1997, S. 447.
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sätzen, die in dem heutigen religionsphilosophischen Weltkontext ihre je eigene Stimme besitzen. Es ist wahr, die Sanskrit-Doxographien haben keinen besonderen Ausdruck für Religionsphilosophie, obwohl in einigen Werken von »Ishvaravada« (Lehre von Gott) die Rede ist. M. a. W. werden stets die Religion betreffende philosophische Fragen gestellt, sowohl von innen als auch von außen her. Für Religionsphilosophie sind philosophische Fragen von zentraler Bedeutung und nicht so sehr die Religionen, an die diese Fragen gerichtet sind. So weist eine interkulturell orientierte Religionsphilosophie eine ›orthafte Ortlosigkeit‹ auf. Die hinduistische vedische Tradition enthält eine alternative Konzeption der Religionsphilosophie. Diese Tradition ist erstens keine von einem Propheten gestiftete Religion. Ferner ist sie zweitens keine historische Religion, ins Leben gerufen zu einen bestimmten Zeitpunkt. Drittens ist sie auch keine Bücherreligion im engeren Sinne der Offenbarungsreligionen abrahamitischer Abstammung. Diese Religion ist eher eine Sammlung des Wissens (Vid = Wissen) und Intuitionen des Sehers (Rishis). Die eine wahre göttliche Botschaft (Ekam sad) ist niemandes Besitz allein und wird immer wieder von Propheten, Weisen vernommen und den Menschen offenbart. Nicht die Person (apurusheya), sondern der Text behält das Primat, denn auch Gott bedarf der Zeichen, um sich mitteilen zu können. Mit dem Aufkommen z. B. des Buddhismus erlebte der Hinduismus eine Herausforderung. Im Gegensatz zu den Buddhisten, die dutzende von Argumenten gegen die Existenz Gottes vorbrachten, waren die theistisch motivierten Hindu-Philosophen mit den Argumenten für die Existenz Gottes beschäftigt.
5. Das geschichtsphilosophische Denken zwischen Asien und Europa oder zur Problematik der Geschichtsphilosophie Aus dem Buch der großen kosmischen Geschichte ist das Buch der Menschheitsgeschichte höchstens ein kleiner Auszug. Keine kritische Geschichtsschreibung auf der Suche nach Objektivität wird den Charakter der Erzählung ganz beseitigen können. Keine historische Wahrheit besteht nur aus sich selbst; sie hat keine eigene Zunge. Nicht die Geschichten, sondern die Geschichtenerzähler sind ihre Zungen. Diese sind jedoch nicht einheitlich. Wenn die Geschichtsdenker das Scheitern der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme mit ihren religiösen, ideologischen und spekulativ-politischen Botschaften feststellen, dann sprechen sie oft vom Ende der Geschichte. Auch wenn die heutige Rede ›vom Ende der Geschichte‹ nicht etwas unerhört Neues ist, so ist sie doch in dem Sinne einmalig, weil sie kumulativ das Scheitern vieler Geschichtsphilosophien und Anthropologien darstellt: Der Mensch als Ebenbild Gottes, der Mensch als Gestalter der Geschichte, der Mensch als ein vernunftbegabtes Wesen mit der Fähigkeit, seine Leidenschaften zu besiegen usw. Die Rede vom Ende der Geschichte kann auch als die Vollendung der Geschichte begriffen werden. In neuerer Zeit ist Fukuyama ein Vertreter des Endes der Geschichte.
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Da aber das Bedürfnis nach Erklärung, Rechtfertigung, Sinn und Zweck allen Geschehens der menschlichen Gattung angeboren zu sein scheint, wird die geschichtsphilosophische Betrachtung nie ein Ende haben. Selbst die Rede vom Ende der Geschichte ist in höchstem Grade geschichtsphilosophisch besetzt. Philosophische Reflexionen über die Geschichte und auch über die Menschen befassen sich mit der Geschichte einmal als dem Geschehen selbst, ferner mit der Mitteilung und Erklärung dieses Geschehens. Es geht um die Suche nach Gesetzmäßigkeiten in dem Geschehen. Hierbei ist die zentrale Frage: Wer oder was steht hinter dem, was wir Geschichte nennen? Ist dies eine außergeschichtliche Instanz, oder sind es weltgeschichtliche Personen, Völker oder Gruppen? Trägt die Geschichte sich selbst oder wird sie getragen? Das heutige Geschichtsdenken befindet sich im Umbruch: im Übergang von der Moderne zur Postmoderne. Der monistische Einheitsgedanke der Moderne scheint passé zu sein. Es machen sich pluralistische Geschichtsbetrachtungen bemerkbar. Übertreibt die Moderne den Einheitsgedanken und mißdeutet die Einheit als Einheitlichkeit (die eine Vernunft, die eine Geschichte, die eine Kultur, die eine Religion usw.), so neigt die Postmoderne zu einem fast zynisch erscheinenden Anarchismus, in dem das Zustandekommen der Kommunikation zur Glücksache wird. Beides gilt es zu vermeiden. Zum Verlauf der Menschheitsgeschichte gibt es unterschiedliche Modellvorstellungen. Die folgenden drei Modelle sind erwähnenswert: Das Modell des Pfeiles, das des Kreises und das der Spirale. Die lineare Auffassung vom Gang der Geschichte postuliert in der Regel einen Anfangs- und einen Endzustand. Dieser Verlauf kann entweder einen Aufstieg oder einen Abstieg bedeuten. Der Fortschrittsglaube ist naturgemäß progressiv. Die Anfangszustände werden oft als Barbarei, Urzustand ohne Gesetz und Ordnung, als Animismus, Polytheismus u. dgl. bezeichnet. Die Abstiegsmodelle nehmen dagegen einen goldenen, friedlichen, paradiesischen Anfangszustand einer natürlichen Urgesellschaft an. Beide Vorstellungen sind zum größten Teil romantisch und idealisierend. Die lineare Vorstellung – ob im Sinne des Auf- oder Abstiegs – kann auch krumme Phasen aufweisen. Diese sind im linearen Gang vorgesehen. Die Hegelsche »List der Vernunft« soll eine Erklärung dafür sein. In den Puranas der Inder (mythologisch-historische Bücher) ist von einer Großperiode die Rede, die vier Weltalter umfaßt. Am Anfang existierte die goldene Periode der Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Saty-Yuga). Eine Verschlechterung bedeutet das folgende Zeitalter des Guten und Bösen (Treta-Yuga). Die dritte Phase ist zu drei Teilen schlecht und zu einem Teil gut (Dvapara-Yuga). Die Weltperiode, in der wir heute leben, ist das schwarze Zeitalter voller Verfallserscheinungen unterschiedlichster Art (Kali-Yuga). Diese vier Weltperioden wiederholen sich ständig. Dieser Wechsel erinnert an einen zyklischen Verlauf, kann jedoch streckenweise auch linear gedacht werden. Platons Gedanken von dem Großen Jahr oder die geschlossenen Kulturabläufe Spenglers weisen verwandte Züge auf. Entstehen, Bestehen, Vergehen sind die Hauptmerkmale einer kreisförmigen Geschichtsvorstellung. Mit Recht heißt es bei Ricœur: Die Menschheit überdauert Kulturen, die vorübergehen. Es ist daher möglich, gleichzeitig eine zyklische Konzeption geschichtlicher Perioden aufrecht zu erhalten und
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eine lineare Konzeption des Fortschritts; die beiden Auffassungen liegen nicht auf der gleichen Ebene: Die eine ist eher »ethisch«, die andere eher »technisch«.21 Weltphilosophische Diskurse sind heute mehr denn je dazu verpflichtet, andere Möglichkeiten des Philosophierens ernstzunehmen und nicht, wie Plessner mit Recht sagt, ›eine apriorische Anthropologie‹ voranzustellen. Denn damit kommt ›im Enderfolg so oder so eine Verabsolutierung bestimmter menschlicher Möglichkeiten heraus‹.22 Eine andere menschliche Möglichkeit ist eben eine andere, eine alternative Möglichkeit. Diese Möglichkeiten mögen noch so konträr sein, das Verbindende zwischen ihnen ist und bleibt jedoch die methodologische interkulturelle Forderung, sich nicht zu verabsolutieren. Auf die selbst gestellte Frage, warum ist es unmöglich ein Hegelianer zu sein, antwortet Ricoeur: »Ich bin Philosoph und wähle den Sinn; um so schlimmer für den Un-Sinn, der übrig bleibt. Aber weitaus bedenklicher ist, daß ich nicht nur den Un-Sinn draußen gelassen habe, sondern einen ›anderen Sinn‹, eine andere Art, Sinn zu haben. Aus diesem Grunde ist es unmöglich, Hegelianer zu sein; denn die beiden Möglichkeiten haben einen gleichwertigen … Anspruch«.23 Ricœur spricht von einer ›Paradoxie der Geschichte‹ und vertritt die These von multiplen Lesarten der Geschichte. Die intrakulturellen Lesarten sind vielfältig genug, die Palette der Lesarten wird bunter und reicher, stellt man das geschichtsphilosophische Denken in einen weltphilosophischen Kontext. Die westliche Fachphilosophie hat oft bezüglich des asiatischen Denkens das Fehlen eines echten Geschichtsbewußtseins als Mangel angemerkt. Damit verbunden, und dies kann man nicht nur bei Hegel lesen, konnte das asiatische Denken auch keine Geschichtsphilosophie entwickeln. Für dieses Fehlen eines Geschichtsbewußtseins wird die indische Konzeption der Zeit verantwortlich gemacht. Zeit laufe nur zirkulär für das asiatische Denken und mache das Erscheinen des Neuen unmöglich. Es ist zwar richtig, daß das indische philosophische Denken der Kategorie der Zeit nicht die zentrale Stellung einräumt, die ihr in der westlichen Philosophie zuteil geworden ist. Aber dies heißt nicht, daß Zeit für das indische Denken bloß eine Illusion sei. Hinzu kommt, daß ein ausgesprochen geschichtsphilosophisches Denken auch im alten Griechenland fehlt. Die Aussagen: Alles ist in der Zeit und die Aussage: Alles befindet sich in einem Prozeß der Veränderung müssen im Hinblick auf die Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie auseinander gehalten werden. Denn die zweite Aussage folgt nicht ohne weiteres aus der ersten. Zeitlichkeit ist eine notwendige, nicht aber auch eine hinreichende Bedingung für Geschichtsphilosophie. Nach Karl Löwith ist, und dies zu Recht, die mundane Geschichte eine Widerspiegelung der Heilsgeschichte. Gerade diese zweite Bedingung hat die europäische Historiographie unberechtigterweise für allgemeinverbindlich erklärt. Auf die Frage, warum das indische philosophische Denken keine den europäischen philosophischen Entwürfen vergleichbare Geschichtsphilosophie entwickelt hat, lautet die Antwort von von Glasenapp: 21 22 23
Ricœur: a. a. O., S. 98. Vgl. Helmuth Plessner: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt / M. 1979, S. 294. Ricœur: a. a. O., S. 74.
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Eine Geschichtsphilosophie im Sinne von Augustin oder Hegel konnten die Inder schon deswegen nicht ausbilden, weil ihnen ebenso wie den Denkern des klassischen Altertums die vom Christentum dem Abendland vermittelte Vorstellung von einem einmaligen Entwicklungsprozeß, den die Welt zwischen ihrer Schöpfung und ihrer Vollendung durchläuft, fremd ist, denn sie betrachten das Weltgeschehen sub specie aeternitatis als einen sich dauernd fortsetzenden Vorgang, der nie zu einem letzten Ziele führen kann.24 Mit dem Eintritt des Christentums in die europäische Geistesgeschichte und in Anbetracht seiner theologisch verankerten Geschichtsteleologie des Heilsgeschehens entwarf Augustinus eine grandiose Konzeption einer philosophisch verbrämten, aber im wesentlichen christlich-theologisch buchstabierten Geschichtsphilosophie. In Anlehnung an das Christentum, aber im wesentlichen spekulativ-idealistisch und metaphysisch motiviert, legte Hegel eine großartige, aber auch eurozentrische Konzeption einer Geschichtsphilosophie vor. Es war anscheinend Marx vorbehalten, im Gegensatz zu Augustinus und auch zu Hegel eine dialektisch-materialistische Geschichtsphilosophie zu konzipieren. ›Heilsgeschehen‹ mußte Platz machen für ein ›Weltgeschehen‹ im Sinne einer sozusagen reinen ›säkularen Soteriologie‹ mit dem Ziel einer ›klassenlosen Gesellschaft‹. Wer diese geschichtsphilosophischen Entwürfe ausschließlich privilegiert und absolut setzt, was das europäische Denken in der Tat getan hat, verkennt die ungeheure Komplexität der heterogenen Welt. Ferner wird die Interpretationspluralität außer acht gelassen. Daher kommt diese Selbstverabsolutierung des europäischen geschichtsphilosophischen Denkens fast einer politischen und ökonomischen Hegemonie gleich und stellt eigentlich eine ›historische Kontingenz‹ dar. Die westliche Diagnose wird unter dem Druck außerphilosophischer Faktoren z. T. widerwillig angenommen. Zumindest in diesem Punkt ist Huntington redlich genug, wenn er schreibt: »Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (zu der sich nur wenige Angehörige anderer Kulturen bekehrten), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.«25 Viele Kategorien der Moderne und einige auch der Postmoderne sind immer noch solche der westlichen Historiographie der Philosophie. Freilich läßt sich die Globalisierung der europäischen Moderne nicht leugnen. Es ist aber ein Verdienst der Postmoderne, durch ihre Betonung einer ›Philosophie der Differenz‹ den universalistischen Anspruch des europäischen Denkens als eine ›theoretische Gewaltsamkeit‹ in Frage gestellt zu haben. Die Schriften Lyotards, Derridas und auch der Phänomenologen Ricœur and Waldenfels belegen dies. So gibt es eine immanente Kritik der europäischen Geschichtsauffassungen. Burckhardt spricht in seiner Kritik der Hegelschen Art der Geschichtsdeutung von contradictio in adiecto, denn kein Mensch, so Burckhardt, ist in die Weisheit der Geschichte eingeweiht. Ich möchte hier diese innereuropäische Geschichte nicht erzählen.
24 25
Helmuth von Glasenapp: Die Philosophie der Inder, Stuttgart 1974, S. 9 f. Samuel Huntington: Kampf der Kulturen, München 1997, S. 68.
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Es ist ein gutes Zeichen, daß mit der Übernahme der sogenannten ›Hardware‹-Seite der heutigen Globalisierung nicht unbedingt die Übernahme auch der ›Software‹-Seite der europäischen Moderne verbunden ist. Es ist wahr, das asiatische Geschichtsdenken ist eher zurückhaltend, skeptisch und ablehnend einer linear gedachten geschichtsphilosophischen Progression gegenüber. Es ist jedoch nicht zutreffend, daß das asiatische Denken das Geschehen nicht ernstnehme. Indien z. B. kennt eine Geschichtsschreibung. Die ›alten Erzählungen‹ (Puranas) und Erzählungen der menschlichen Heldentaten (Itihasa) belegen dies. Auch das pauschale Urteil, für das indische Denken sei die Zeit eine Illusion und entbehre jeder Realität, trifft nicht zu. Mit der Ausnahme einiger Schulen des Buddhismus und der Advaita-Vedanta Schule gibt es im Hindu-Denken doch Belege dafür, daß die Kategorie der Zeit nicht ganz vernachlässigt wurde. Die eigentlich sehr metaphysisch anmutende Rede von Zeit lautet: ›Zeit kocht alle Dinge‹ (Kalah pacati bhutani). Der eigentliche Weise ist einer, der weiß, worin die Zeit selbst gekocht wird. Schon hier sehen wir die Tendenz des indischen Denkens, der Zeit nicht die zentrale Stellung einzuräumen, die ihr in der modernen westlichen Philosophie zukommt. Auf der anderen Seite wird Zeit in der Vaisheshika-Philosophie als eine allumfassende, ungeteilte Entität angesehen. Es sind nur die Veränderungen, deren Assoziation die Zeit geteilt erscheinen läßt. Auch eine relationale Konzeption der Zeit finden wir in der Samkhya-Philosophie.26 So gibt es im indischen Philosophischen Denken nicht nur Ansätze einer absoluten Größe der Zeit im Sinne Newtons oder eine relationale Konzeption im Sinne Leibnizens oder die Zeit als eine mentale Kategorie im Sinne Kants oder auch Zeit als eine Erscheinung des Absoluten im Sinne des Neo-Hegelianers Bradley. Trotz der stellenweise ausgedehnten Beschäftigung mit der Zeit hat das indische Denken dem Sein und nicht der Zeit das Primat eingeräumt. Einer der Gründe hierfür mag wohl darin liegen, daß fast alle Richtungen des indischen Denkens (mit Ausnahme der materialistischen Schule der Carvakas) das summum bonum (Moksa, Nirvana, Befreiung, Erlösung) als etwas Nicht-Zeitliches, Überzeitliches ansehen. Sie postieren dieses Endziel aller Erkenntnisbemühungen auch jenseits geschichtlicher Veränderungen. Nicht Erkenntnis (Jnana), sondern Schau, Einsicht (Prajna) führen zum Ziel. Die eigentliche Wahrheit ist eine Eigenschaft der Seele, die eher verdeckt wird durch zeitliche und geschichtliche Verblendungen. Hinzu kommt die eher bejahende Haltung zur zyklischen Natur der Zeit. Die Nicht-Linearität der Zeit läßt alle Ereignisse mehr oder minder wiederholbar erscheinen. Selbst die Irreversibilität der Zeit wird zurückgewiesen. Die bekannte ›Vier-Yuga-Lehre‹ (4 Äonen der Zeit) ist ein Beleg hierfür. Alle klassischen Schulen der indischen Philosophie gehen von einer bestimmten Anzahl (von 1–6) an gültigen Erkenntnismitteln aus. Keine der Schulen erwähnt jedoch Zeit als ein unabhängiges Erkenntnismittel. Nach dem oben Gesagten stellt sich die Frage, ob eine solche Behandlung der Zeit überhaupt Raum läßt für eine ernsthafte Beschäftigung mit einer Philosophie der Geschichte. Denn ein bloßer Historiker wird zu einem Geschichtsphilosophen, wenn er Fragen nach dem Sinn, Zweck und Ziel der Geschichte stellt. Ferner schlägt er Wege zur 26
Vgl. Anindita Niyogi Balslev: A Study of Time in Indian Philosophy, Wiesbaden 1983.
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Realisation dieser Ziele vor. Es mag sein, daß die zyklische Zeitauffassung das indische Denken hier geleitet hat. Dies darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, daß das indische Denken keinen Raum hat für das Phänomen des Neuen. Es erschöpft sich in einer toten Wiederholung der gleichen Ereignisse. Dem ist jedoch nicht so. Was die indische Zeitauffassung jedoch zurückweist, ist die Konzeption einer totalen Neuheit der Werte, Ziele. Denn das eigentliche summum bonum versucht der Mensch in unterschiedlichen Epochen zu realisieren. Hierbei kann er Erfolg haben oder aber auch scheitern. Ferner sind die Zeitepochen nicht bloß identische Wiederholungen, denn sie zeigen große inhaltliche Unterschiede. Die zyklische Struktur betrifft eigentlich eher ein allgemeines Muster, das sich wiederholt mit einer realen Möglichkeit des Neuen. In diesem Sinne läßt sich ein wiederholendes Muster in den geschichtlichen Ereignissen aufweisen. Die Kriege, Katastrophen und die verschiedenen Glücksfälle in der Geschichte belegen dies. Hinzu kommt, daß die Individuen, Gruppen, Kulturen etc., die die zyklische Struktur erleben, immer wieder andere Bezugszentren haben. So ist die Lehre von der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ in erster Linie ein formales Muster, das mit Neuheiten der Ereignisse kompatibel ist. Die überzeitliche, überhistorische Kategorie Befreiung wird von den Individuen wie Sokrates, Buddha, Jesus u. a. immer wieder realisiert. Das Erreichen dieses Ziels kann höchstens durch die Hilfe der geschichtlichen und zeitlichen Bedingungen erleichtert werden, hergestellt wird es zeitlich und geschichtlich nicht. Es mag sein, daß die historische und auch zeitliche Dimension der christlichen Offenbarung mit dazu beigetragen hat, daß hier eine konkrete Geschichtsphilosophie entworfen wurde. Für das indische Denken gilt: Was in der Zeit geschieht, ist höchstens der Erfolg oder Mißerfolg in der Verwirklichung der letzten Lebensziele. Spiritualität ist hier keine zeitliche Kategorie. Das indische Denken akzeptiert daher die Geschichte, hier dem griechischen sehr verwandt, als eine Dokumentation der Ereignisse. Da die allumfassende Karma-Lehre im indischen Denken die moralische Ordnung garantiert, scheint das indische Denken kein besonderes Bewußtsein der und für die Geschichte zu entwickeln. So heißt es, sehr zu Recht, bei Mohanty: »There are Indian Heracliteans, but no Indian Hegelians.«27 Das indische Denken postiert die höchsten Ziele des menschlichen Lebens außerhalb der Zeit und Geschichte, denn Nirvana z. B. ist nicht eine zeitliche Kategorie. Und Wiedergeburt ist eine trans-historische Sache. Dies hat zur Folge, daß das Bewußtsein sich nicht durch Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit definiert, mit der weiteren Folge, daß die Bedeutung der Geschichte nicht sehr hoch geschätzt wird. Dies gilt selbst für das buddhistische philosophische Denken, das eine substantialistisch-essentialistische Theorie der Seele leugnet. Nirvana tranzendiert den ›Heraklitischen Fluß‹. Aus dem Gesagten folgt, daß nicht nur im griechischen, sondern noch mehr im indischen Denken der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit nicht die Bedeutung zukommt, die ihnen das europäische Denken zuschreibt, mit der Konsequenz, daß keine Geschichtsphilosophie a là Augustinus, Hegel oder Marx entwickelt werden konnte. Das indische 27 Jitendra Nath Mohanty: Essays on Indian Philosophy. Traditional and Modern, hg. v. P. Balimoria 1993, S. 307.
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Denken spricht von einem Bewußtsein, das alle Phänomene offenbart, sie begleitet und allen Kritiken, Konstruktionen und Theoriebildungen gegenüber immun ist. Es ist das ›Zeuge-Bewußtsein‹ (Saksi-Caitanya). Unsere kurze Ausführung über das indische Denken hinsichtlich der Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Geschichtsphilosophie hat folgendes deutlich gemacht: Die unparteiische, kritische philosophische Reflexion privilegiert nicht eine bestimmte Geschichtskonstruktion, sei diese nun theologisch verankert (Augustinus) oder hegelianisch entworfen als ein völlig rationaler Gang des absoluten Geistes oder dialektischmaterialistisch begründet als eine geschichtlich-gesetzliche Notwendigkeit (Marx). Hier sind sowohl die europäischen als auch die asiatischen Auffassungen als einseitig zurückzuweisen, denn der Geschichte scheint eine Ambiguität innezuwohnen. Paul Ricœur betont daher zu Recht, daß Geschichte weder total sinnlos noch völlig sinnvoll ist. Er spricht von einer »Paradoxie« der Geschichte und schreibt: Diese latente Paradoxie stellt sich folgendermaßen dar: Wir sprechen von der Geschichte, von der Geschichte in der Einzahl, weil wir erwarten, daß ein menschlicher Sinn diese einzige Menschheitsgeschichte eint und vernünftig macht. Diese implizite Herausforderung sucht der rationalistische Philosoph, der eine Geschichte des Bewußtseins schreibt, zu erklären. Aber wir sprechen auch von den Menschen, von den Menschen in der Mehrzahl, … weil wir erwarten, daß die Personen als radikal vielfache Zentren der Menschheit auftauchen. …Während die Lesart von der Geschichte als der Erfüllung des Bewußtseins zu einem Optimismus der Idee hinneigt, führt die Lesart von der Geschichte als dem Aufsprudeln von Bewußtseinszentren eher zu einer tragisch gestimmten Anschauung über die Zwiespältigkeit des Menschen, der immer wieder neu beginnt und immer wieder scheitern kann.28 Während das asiatische, indische Denken uns vor einem zu großen Optimismus bewahren will, denn sehr oft haben die geschichtsphilosophischen Entwürfe sich blamiert, betont das europäische Denken zu sehr die Rolle des Bewußtseins und des Subjekts und vernachlässigt die empirische Kontrolle. Das Bewußtsein und das Bewußtsein von der Geschichte sind nicht koinzident. So weist Bewußtsein zwei miteinander vernetzte Dimensionen auf: eine zeitlich-historische Dimension und eine überzeitlich-überhistorische Dimension. Daß das indische Denken unter Vernachlässigung der zeitlichen Dimension die überzeitliche, überhistorische zu sehr betont und das europäische Denken die zeitliche, historische in den Vorgrund stellt, ist das Fazit unserer Erörterung der geschichtsphilosophischen Problematik. Eine umfassende Geschichtsphilosophie bedarf jedoch beider Dimensionen. Eine solche Konzeption würde sowohl die Zurückweisung einer naturalistischen Verdinglichung des historischen Prozesses als auch die der hegelianischen Konzeption der Geschichte im Sinne einer absolut rationalen Vollendung bedeuten. So ist Geschichte weder ein sinnloser Prozeß der Veränderung noch ist sie total sinnvoll im Sinne einer Bewegung auf ein absolutes Ziel, ob säkular oder sakral verankert. Eine philosophische Reflexion, die hier parteiisch wird, vergißt die essentielle 28
Ricœur: a. a. O., S. 62 f.
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Ambiguität, die unbuchstabierbar bleibt und sich nicht restlos auf den Begriff bringen läßt. Die europäische Historiographie hat, aus unterschiedlichen Gründen, ihre eigene geschichtsphilosophische Perspektive absolut gesetzt und ihr Fehlen in den anderen philosophischen Traditionen fälschlicherweise als Mangel gesehen. Denn es ist ja durchaus möglich, daß unsere Erfahrung der Geschichte nicht nur eine Erfahrung von Diskontinuitäten und Brüchen wie Christi Geburt oder der Französischen Revolution ist. Warum kann das Erscheinen Buddhas nicht auch einen Sinn der Geschichte abgeben im Sinne einer harmonischen, friedvollen Erfahrung der Wiederholungen, Wiedererinnerungen, der Ichlosigkeit und des ›abhängigen Entstehens‹ (Pratitysamutpada) aller ›Dharmas‹? Voraussetzung hierfür ist die Zurückweisung nicht nur der einen Weltgeschichte, sondern auch eine Verzichtleistung auf die Singularisierung der Achse der Weltgeschichte.
6. Resümee Als Fazit bietet sich an: Die größte Gemeinsamkeit unter den Philosophen aller Traditionen besteht eher in den Fragestellungen und nicht so sehr in den Antworten. Der philosophische Irrweg besteht nicht darin, daß man eine bestimmte Antwort privilegiert, sondern darin, daß man andere Antworten nicht als andere Antworten, sondern als keine oder als bloß falsche Antworten begreift. Unsere interkulturelle Rekontextualisierung und Rekonzeptualisierung der philosophischen Rationalität in West und Ost hat folgendes deutlich werden lassen: Das Stellen bzw. Nichtstellen bestimmter Fragen weist auf eine unaufhebbare Kulturkontextualität hin. Grundlegend ist dies eigentlich ein Index für andere, alternative, kreative Möglichkeiten des Philosophierens. Daß aber Fragen gestellt werden und die philosophische Reflexion sich mit Lösungsmöglichkeiten beschäftigt, spricht für die Universalität der philosophischen Rationalität. Es macht jedoch wenig Sinn, und dies im interkulturellen philosophischen Kontext noch weniger als im intrakulturellen, wenn man auf eine ›essentielle Selbigkeit‹ dieser philosophischen Rationalität pocht. Ist philosophische Rationalität etwas Universelles, was sie in der Tat ist, so kann sie nicht in irgend einem bestimmten Adjektiv, ob europäisch, indisch, chinesisch, afrikanisch oder lateinamerikanisch, restlos aufgehen. Sehr zu Recht schreibt Mohanty: …, if philosophy is the highest and purest form of rational inquiry, is it at all permissible to speak of ›European rationality‹? Does not an adjective such as ›European‹ impose a limitation which destroys the very sense of ›rationality‹? If rationality is universal, not limited by geographical regions, historical epochs, or cultural relativities, then philosophy as the purest form of rational inquiry must be, in its very conception, capable of being a universal pursuit of mankind… It is, therefore, possible to speak of an overarching sense of rationality…29
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Mohanty: Reason and Tradition in Indian Thought, a. a. O., S. 7 f.
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Unsere interkulturelle Situierung der Rationalität bringt es mit sich, daß eine jede Theorie der Vernunft sich bescheiden muß, will sie nicht bloß analytisch, transzendentalaprioristisch oder definitorisch sein. In seinem Buch Ideals and Illusions versucht T. A. McCarthy die Reinheit der Vernunft sozial-praktisch zu etablieren, um so eine Transformation der ›reinen Vernunft‹ in eine ›situierte‹ zu vollziehen.30 Im Zusammenhang einer solchen ›Situierung der Vernunft‹ spricht Habermas von der »Aufgabe einer Detranszendentalisierung des erkennenden Subjekts«. Es geht hierbei darum, »ob sich die Spuren einer transzendierenden Vernunft im Sand der Historisierung und Kontextualisierung verlieren oder ob sich eine in historischen Kontexten verkörperte Vernunft die Kraft zu einer Transzendenz von innen bewahrt.«31 Sehr zu Recht bemerkt Habermas, daß es hier eigentlich um den alten Streit zwischen Hume und Kant geht im Hinblick auf die Möglichkeit, ob die Erfahrung mit Vernunft schwanger geht oder ob es sich umgekehrt verhält. 32 Der alte Streit um die Singularität und Pluralität der Vernunft meldet sich wieder in den gegensätzlichen Ansichten von Habermas und Lyotard. Will man die ›Einheit der Vernunft‹ vernehmen, so kann man dies nur ›in der Vielheit der Stimmen‹.33 Für Lyotard dagegen ist die Konzeption einer ›massiven, einzigen Vernunft‹ eine ›Ideologie‹. Vernunft ist stets im Plural. »Es ist das Ungedachte«, heißt es bei Lyotard, »das den großen idealistischen Rationalismus des deutschen 19. Jahrhunderts bestimmt, implizit vorauszusetzen, daß die Rede in allen Fällen die einzige sei. Es handelt sich hier um eine Art Identitarismus, der Hand in Hand geht mit einem Totalitarismus der Vernunft und der, meiner Einschätzung nach, zugleich irrig und gefährlich ist.«34 Während Habermas von ›der einen Vernunft in der Vielfalt der Stimmen‹ ausgeht und diese als gegeben annimmt und sie für die Diskurse als unbedingt notwendig ansieht und dabei den Eindruck erweckt, diese ›eine Vernunft‹ mit der griechisch-europäischen (wenn es so etwas überhaupt gibt), gleichzusetzen, ist Lyotard der Ansicht, daß Thomas A. McCarthy: Ideals and Illusions, Cambridge MA 1991 Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M. 2005, S. 28. 32 Ich neige mehr zu der Position Humes als zu der Kants, wenn Hume schreibt: »The truth is, an unexperienced reasoner could be no reasoner at all, were he absolutely unexperienced.« (David Hume: Enquiries Concerning the Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, Oxford 1902, S. 45) Hierbei lehne ich den regulativen Charakter der Vernunft nicht ab, nur ihre konstitutive Funktion verliert das Primat. Vernunft ist freilich nicht bloß Erfahrung im rein sensualistisch-positivistischen Sinne. Sie ist stets das Ergebnis einer Reflexion über die Erfahrung. Die Universalität dieser Reflexion erhält ihre kontextuelle Färbung durch die Verschiedenartigkeit und Vielfalt der geschichtlich-kulturell gewordenen Erfahrungen. Die eine Vernunft lebt in den philosophischen Traditionen, ob europäisch oder asiatisch, transzendiert diese jedoch auch. Vgl. Ram Adhar Mall: Zur interkulturellen Theorie der Vernunft. Ein Paradigmenwechsel, in: H. F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.): Vernunftbegriffe in der Moderne, Stuttgart 1994, S. 750–774 und Meditationen zum Adjektiv »europäisch« aus interkultureller Sicht, in: W. Blumberger u. a. (Hg.): Der technologische Imperativ, Heinz Hülsmann zum 75. Geburtstag, München, Wien 1992. 33 Jürgen Habermas: Die Einheit der Vernunft in der Vielheit der Stimmen, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1992, S. 155. 34 Jean-François Lyotard in: W. v. Reijen / D. Veerman: Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik, Gespräch mit J. F. Lyotard, in: W. Reese-Schäfer: Lyotard, Hamburg 1995, S. 105. 30
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es die eine Vernunft nicht gibt, und spricht von der Vernunft im Plural. Unsere interkulturell philosophisch orientierte ›orthaft ortlose‹ Rationalität stellt, recht verstanden, eine Vermittlungsinstanz dar zwischen der illegitimen Gleichsetzung der Vernunft mit der ›europäischen‹ (Habermas) und der Pluralisierung der Vernunft, die den Begriff der Vernunft selber aufhebt (Lyotard). In der weitgefächerten Werkstatt des menschlichen Geistes ist die eine ›orthaft ortlose‹ unparteiische Vernunft stets am Werke und sie privilegiert nicht extrem relativistisch eine bestimmte Gestalt der Vernunft, eine bestimmte Stimme der Vernunft; ebensowenig setzt sie irgend eine bestimmte Gestalt der Vernunft absolut. Es mag paradox klingen, aber ein extremer Relativismus und ein exklusivistischer Absolutismus scheinen hier Hand in Hand zu gehen. Die interkulturelle Sicht der Vernunft ist gegen eine solche Liaison und läßt den Geist der philosophischen Rationalität wehen, wo er will. Literatur Balslev, Anindita Niyogi: A Study of Time in Indian Philosophy, Wiesbaden 1983. Bharucha, Filita / Kamat, R. V.: Syadvada – Theory of Jainism in terms of deviant Logic, in: Indian Philosophical Quarterly 9 (1984), S. 181–187. Blau, Ulrich: Dreiwertige Sprachanalyse und Logik, München 1974. Bremer, Manuel: Wahre Widersprüche: Einführung in die parakonsistente Logik, St. Augustin 1998. Conze, Eberhard: Der Satz vom Widerspruch, Frankfurt/M. 1976. Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Wien 1973. Ganeri, Jonardon: Indian Logic, in: Handbook of the History of Logic, vol. 1: Greek, Indian and Arabic Logic, hg. v. M. Gabbay and J. Woods, New York, London 2004. Habermas, Jürgen: Die Einheit der Vernunft in der Vielheit der Stimmen, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1992. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M. 2005. Henle, Mary: On the Relation between Logic and Thinking, in: Psychological Review 69 (1962), S. 366–378. Hume, David: Enquiries Concerning the Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, Oxford 1902. Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen, München 1997. James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt/M. 1997. Kenny, Anthony (Hg.): Wittgenstein: Ein Reader, Stuttgart 1996. Libet, Benjamin: Haben wir einen freien Willen?, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2004. Loh, Werner: Widerlegung der klassischen Aussagenlogik als Förderung einer Logik des Erwägens, in: F. Benseler et al. (Hg.): Alternativer Umgang mit Alternativen, Opladen 1994, S. 241–259. Lukasiewicz, Jan: Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles, Hildesheim 1993.
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Kreativität und das Phänomen des »Nichts« Rolf Elberfeld (Wuppertal / Berlin)
1. Vorbemerkung zur thematischen Eingrenzung Zu Anfang sollen eine Voraussetzung und eine Einschränkung benannt werden, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegen. Die Ausführungen setzen voraus, daß mit dem Wort »Kreativität« etwas philosophisch Bedenkens- und praktisch Erstrebenwertes bezeichnet wird. In der Tat überwiegen meines Erachtens die positiven Aspekte des Begriffs und ich halte das Phänomen, so wie es in Kunst und wissenschaftlicher Forschung inzwischen zum Thema geworden ist, für eine zentrale Herausforderung der gegenwärtigen Philosophie. Es ist für die philosophische Auseinandersetzung allerdings notwendig, das Phänomen und den Begriff erst einmal neu zu gewinnen, um gegen die häufig ideologisch motivierten Verflachungen des Wortes als Modewort in der Werbebranche oder Ferienindustrie anzugehen. Dort entpuppt sich der Wortgebrauch nur allzu häufig als Hülse für leere Versprechungen. Die Einschränkung besteht darin, daß das Phänomen der Kreativität in den folgenden Ausführungen nur im Hinblick auf den Menschen betrachtet werden soll, was jedoch nicht bedeutet, daß es unmöglich sei, es auch auf Naturprozesse zu beziehen. Im einführenden Vortrag zur Tagung sprach Günter Abel von einer »Phänomenologie der Kreativität« und erwähnte dabei in einem Satz, daß die Negativität für das Phänomen der Kreativität eine zentrale Rolle spiele. Er führte diesen Hinweis allerdings nicht weiter aus. Die folgenden Ausführungen knüpfen dort an und fragen nach der Bedeutung und Wirksamkeit des »Nichts«1 in einer gegenwartsbezogenen Analyse des Phänomens der Kreativität. Da dies im Zusammenhang mit einem Blick nach Ostasien geschieht, ist zu hoffen, daß sich durch dieses Vorgehen neue Beschreibungsperspektiven für eine »Phänomenologie der Kreativität« eröffnen lassen.
1 Mit der substantivierten Form wird an dieser Stelle wie auch im Titel des Aufsatzes ein Phänomenfeld benannt, das nicht nur »Negativität« und »Verneinung« umfaßt, sondern auch andere semantische Negationsformen wie »unverständlich«, »vergessen« und »absichtslos«. »Nichts« bezieht sich daher nicht nur auf logische Zusammenhänge, sondern auf das gesamte semantische Feld des »Nichts«, in dem auch konkrete Erfahrungsstrukturen auftauchen, die es zu beschreiben und zu erschließen gilt.
Kreativität und das Phänomen des »Nichts«
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2. Vorbemerkung zum interkulturellen Philosophieren Interkulturelles Philosophieren bezieht über die europäische Wirkungsgeschichte hinaus Ansätze des Denkens und Erfahrens ein, um innovativ und gegenwartsbezogen philosophische Sachfragen zu bearbeiten.2 In der Erweiterung der Perspektive entstehen fruchtbare Reibungen, erstaunliche Übereinstimmungen und überraschende Verschiebungen, die es erlauben, den eigenen Ort des Denkens offen aber zugleich mit aller Präzision im Zusammenhang mit kulturell anders geprägten Denkerfahrungen neu zu bestimmen. Interkulturelles Philosophieren geht dabei in meinem Verständnis weder von einem einheitlichen Ziel der Geschichte für alle Kulturen aus noch von der absoluten Unvergleichbarkeit der Kulturen oder Welten, denn weder Geschichte noch Kulturen lassen sich aus einer vermeintlich unbeteiligten Vogelperspektive rein objektiv betrachten. Das Vorgehen interkulturellen Philosophierens ist dabei in keiner Weise exotisch. Dies bringt der französische Repräsentant interkulturellen Philosophierens François Jullien mit folgenden Worten auf den Punkt: Man weiß, daß die Philosophie in ihren Fragen verwurzelt ist und sogar regelmäßig in ihrer Tradition erstarrt. Um zu versuchen, in der Philosophie wieder neuen Spielraum zu finden, oder anders gesagt, um zu versuchen, wieder eine theoretische Initiative zu ergreifen, habe ich mich entschieden, mich von dem Geburtsland der Philosophie – Griechenland – zu entfernen und einen Umweg über China zu machen: Ein strategischer Umweg mit dem Ziel, die verborgenen Vorentscheidungen der europäischen Vernunft neu zu befragen und bis zu unserem Nicht-Gedachten [Hervorhebung R. E.] zurückzugehen. Die Anfangsentscheidung soll also darin bestehen, durch einen Seitensprung Abstand zu schaffen, und dadurch eine Perspektivierung des Denkens zu ermöglichen. Ein solcher Umweg ist alles andere als exotisch, er ist methodisch.3 Im Sinne dieses methodischen Umwegs, dem es selbst immer um kreative und neue Denkwege geht, soll das Thema Kreativität in einen Fragehorizont gerückt werden, der zwar im Rahmen theologischer Fragen in Europa nicht unbekannt ist,4 aber in Ost2 Vgl. Rolf Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart–Bad Cannstatt 2004. 3 François Jullien: Der Umweg über China. Ein Ortswechsel im Denken, Berlin 2002, S. 171. Vgl. auch: ders.: Eine Dekonstruktion von außen. Von Griechenland nach China, oder: Wie man die festgefügten Vorstellungen der europäischen Vernunft ergründet, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 / 4 (2005), S. 523–539. 4 Der Frage nach der creatio ex nihilo als dem Schöpfungsgedanken der mittelalterlichen Philosophie wurde auf der Tagung ausführlich nachgegangen. Als ein Hinweis dazu, daß diese Thematik bereits sehr früh mit asiatischen Ansätzen in Verbindung gebracht worden ist, sei hier nur auf folgende Studie verwiesen: Minoru Nambara: Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und seine Entsprechungen im Buddhismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 143–277. Es wäre eine lohnende Fragestellung, die immer positiver werdende Bedeutung des Nichts beispielsweise bei Meister Eckhart und Cusanus unter der Perspektive zu betrachten, ob für diese Entwicklung die Einführung der Null, die von den Indern vermittelt über die arabische Welt nach Europa gelangte, eine Bedeutung hat. Zur
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asien seit alters mit dem Denken und konkreten Handeln des Menschen in Verbindung gebracht worden ist.5 Das Phänomen des »Nichts«6 und sein semantisches Feld gehört nicht zu den zentralen Themen der europäischen Philosophie, vielmehr wurde es von bedeutenden Denkern abgewertet.7 Dennoch kann man sehen, daß dieses Phänomen, das Thema oder der Begriff an verschiedenen Stellen eine philosophische Herausforderung bedeutet hat, bei der immer wieder neu zu suchen und zu bestimmen war, in welchem Sinne davon überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Neben der Verhängung von »Denkverboten« für das »Nichts« von Parmenides bis Carnap tauchte es immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen auf. In der kosmologischen Frage, woher die Welt komme, spielten die gegenläufigen Formeln ex nihilo nihil fit und in christlicher Perspektive creatio ex nihilo eine wichtige Rolle. In der Perspektive der Metaphysik waren es die Frage »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« (Leibniz, Schelling) und die Frage nach dem Gegensatz von Sein und Nichts (Platon, Hegel), die erhebliche Denkanstrengungen auslösten. Im Rahmen existentieller Fragestellungen spielte das »Nichts« bei Eckhart, Nietzsche, Heidegger, Sartre und anderen eine zentrale Rolle. Es ist schon jetzt absehbar, daß für die weitere Entfaltung der Frage nach dem »Nichts« in seiner Bedeutung für Denken und Handeln vor allem die Auseinandersetzung mit asiatischen Ansätzen der Philosophie vom Altertum bis in die Gegenwart unabdingbar ist.8
Geschichte der »Null« und ihrer Verbreitung sind in der neueren Diskussion einige Studien erschienen: Robert Kaplan: Die Geschichte der Null, München 2003; John D. Barrow: The Book of Nothing, London 2000; aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu den kulturellen Wirkungen der Einführung der Null in Europa: Brian Rotman: Signifying Nothing. The Semiotics of Zero, Basingstoke 1987. 5 Shin’ichi Hisamatsu: Die Fülle des Nichts, Stuttgart 2003. Hisamatsu entwickelt die Frage nach dem Nichts auf dem Hintergrund des Zen-Buddhismus. James W. Heisig: Philosophers of Nothingness, Honolulu 2001. Heisig behandelt die drei wichtigen Denker der Kyōto-Schule Nishida, Tanabe und Nishitani. 6 Mit der Substantivierung »Nichts« wird sprachlich und philosophisch ein Schritt vollzogen, der die Kritik aufruft, die Carnap und später Tugendhat an dem Übergang vom adverbialen »nichts« zum »hypostasierten« »Nichts« in Heideggers wirksamem Text Was ist Metaphysik? geübt haben. Bei Heideggers phänomenologisch orientiertem Vorgehen handelt es sich hinsichtlich der Rede vom »Nichts« um die sprachliche Erschließung struktureller Momente von Erfahrung und nicht um eine hypostasierte Größe. So soll auch im folgenden Text die Rede vom »Nichts« auf einen Erfahrungszusammenhang verweisen, der für die Erschließung des Phänomens der Kreativität von zentraler Bedeutung ist. Um das Problematische der Substantivierung mit zu benennen und zu kennzeichnen, wird das »Nichts« durchgehend in Anführungszeichen gesetzt. Hinweise für den Umgang mit den Wörtern »Nichts« und »Nicht« finden sich in dem immer noch lesenswerten Band: Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität, München 1975. 7 Bei den wirkungsreichen Philosophen Plotin und Augustinus wurde das Nichts als reine Privation verstanden und vor allem bei Augustinus mit dem Bösen verbunden, so daß es auch noch eine moralische Abwertung erfuhr, die in der europäischen Philosophietradition sehr nachhaltig gewirkt hat. 8 »Die westliche Wissenschaft und Philosophie hat uns zwar an einen Punkt gebracht, wo wir uns – um mit Hilary Putnam zu sprechen – ›glaubhafte »Grundlagen« nicht mehr vorstellen können‹, wies aber keinen Weg, eine direkte Einsicht in die Bodenlosigkeit [Hervorhebung R. E.] unserer Erfahrung zu gewinnen. Philosophen scheinen zu denken, diese Einsicht sei unnötig, weil sich die westliche Philosophie eher um ein rationales Verständnis des Lebens und des Geistes als um die Relevanz einer pragmatischen
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Um die zu Anfang ins Zentrum gerückte interkulturelle Verknüpfung anzugehen, soll im folgenden das Phänomen der Kreativität mit dem Phänomen des »Nichts« und seinem semantischen Feld verbunden werden, wobei ausgehend von der phänomenologisch orientieren Analyse ostasiatische Texte in der Erschließung des Phänomens herangezogen werden. Mit diesem Vorgehen soll die Aufmerksamkeit auf Bereiche des Phänomens Kreativität gelenkt werden, die gewöhnlich in den Kreativitätstheorien weniger Beachtung finden. Die folgenden Ausführungen erheben nicht den anmaßenden Anspruch, das gesamte Phänomen der Kreativität zu analysieren. Vielleicht kann es aber gelingen, bestimmte vorherrschende Fokussierungen so zu verschieben, daß letztlich auch die Beschreibung im Ganzen eine andere werden kann. Kreativität selbst ist als Schlagwort eher jung und als philosophischer Begriff nur bei wenigen eher unkonventionellen Denkern wie Gregory Bateson,9 Heinrich Rombach10 und Kitarō Nishida11 im 20. Jahrhundert entwickelt worden. Die bisherige Entfaltung des Phänomens zeigt immer noch deutliche Spielräume, die meines Erachtens vor allem auch in interkultureller Perspektive weiter entwickelt werden können.
3. Das Auftauchen des »Nichts« in kreativen Prozessen Kreativität ist ein Phänomen der Praxis, das sowohl Denken wie auch Handeln betreffen kann. Kreativität ist die Qualität eines Prozesses und kein Zustand, wobei nicht jeder Prozeß kreativ sein muß. Kreativität kann in sehr verschiedenen Prozessen auftauchen: bei der Herstellung von Dingen, bei der Hervorbringung von Gedanken und Ideen, im Umgang mit dem eigenen Körper, in der Gestaltung zwischenmenschlicher Situationen und in der Selbst- und Welt-Findung vor allem in künstlerischen Prozessen. Es zeichnen sich von Anfang an verschiedene Ebenen der Kreativität ab, die in unterschiedlicher Weise mit dem Vollzug menschlicher Existenz verbunden sind. Im freien Anschluß an Bateson können vier Ebenen der Kreativität unterschieden werden: 1. Es sind neue Fertigkeiten – intellektuelle wie praktische – anzueignen mit klar umrissenen Handlungsmustern.
Methode kümmert, die menschliche Erfahrung zu transformieren.« Francisco J. Varela / Evan Thompson / Eleanor Rosch: Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung, München 1995, S. 296. In dem zitierten Buch wird die Frage nach der »Bodenlosigkeit« menschlicher Erfahrung explizit mit Autoren aus dem alten Indien und modernen Japan auf eine neue Ebene gehoben, die philosophisch noch lange nicht ausgeschritten ist. 9 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/M. 1981. 10 Heinrich Rombach: Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur, Freiburg im Breisgau 1994. 11 Kitarō Nishida: Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, in: Rōsuke Ōhashi (Hg.): Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, Freiburg im Breisgau 1990, S. 119– 137. Zu Nishida insgesamt vgl. Rolf Elberfeld: Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam 1999.
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2. Es sind Aufgaben zu bewältigen – intellektuelle wie praktische –, die eine erhebliche Variation von gewohnten Denk- und Handlungsmustern verlangen. 3. Es sind ganz neue Denk- und Handlungsmuster zu entwerfen. 4. Der Zusammenhang von Ich und Welt selbst steht in Frage, so daß nicht mehr von Anfang an klar ist, wer »Ich« und was »Welt« eigentlich sind.12 Die ersten drei Ebenen implizieren eine direkte Aktivität vom Ich her. In diesem Sinne wird Kreativität gewöhnlich als ein hochgradig aktives Verhalten gedeutet, sei es im Sinne eines Schöpfergottes oder eines Genies.13 Nur die vierte Ebene läßt einen Zusammenhang auftauchen, in dem das Ich nicht eigentlich aktiv sein kann, da es selbst noch nicht als das eigentliche Zentrum der Aktivität aufzutreten vermag. Es ist vor allem diese vierte Ebene, die im Zusammenhang mit dem Phänomen des »Nichts« eine zentrale Rolle spielt. Um in den genannten Zusammenhängen »kreativ« sein zu können, wird in der Forschung übereinstimmend angenommen, daß vorgefertigtes Wissen und Verstehen, starre Gewohnheiten und Haltungen sowie starke Ergebnis- und Erwartungsfixierungen Kreativität verhindern. Kreativität ist demnach immer dann gefordert, wenn sich Wissen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Erwartungen verhärten, so daß letztlich die Freiheit im Handeln und Denken verloren geht, zumeist auf allen genannten Ebenen. Geht man von dem aus, was Kreativität verhindert, so zeigt sich, daß es in kreativen Prozessen um Wissen und Verstehen geht, über das wir nicht verfügen, um Einstellungen und Haltungen, die wir nicht besitzen, und um Ergebnisse, die wir nicht kennen. Das hier hervorzuhebende »nicht« besitzt jedoch einen besonderen Charakter. Es ist kein »noch nicht« im Sinne eines bereits Vorherbestimmten, sondern ein »Nicht«14, das sich als Ganzes entzieht, und somit ist es »nichts« von dem, was ich bisher gedacht oder gewollt habe. Es ist weder vorhersehbar noch berechenbar, denn sonst bezöge es sich nicht auf einen kreativen Prozeß. Ein kreativer Prozeß ist erfüllt, wenn ein »Nicht« sich verwandelt in Neues, bisher nicht Gedachtes und Erwartetes. In diesem Neuen verschwindet vorheriges »Nicht«, obwohl es erst dann wirklich als eine zentrale Voraussetzung des kreativen Prozesses erfahren werden kann z. B. in der Frage: Wie konnte ich nur darauf kommen? oder: Wie konnte das passieren? Blickt man auf das Ergebnis eines als »kreativ« qualifizierten Prozesses, so wird ein vorheriges »Nicht« zum »Neuen« im Vergleich zu dem Alten, das bereits bekannt war. Genau in diesem Augenblick beginnt jedoch ein Prozeß, der in der Aneignung des »Neuen« dieses selbst mehr und mehr zum Alten werden läßt. Das »Neue« wird Bateson: Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation, in: ders.: Ökologie des Geistes, a. a. O., S. 362–398. 13 Beide Figuren sind mit der Vorstellung »allmächtiger« Fähigkeiten verbunden. Das Genie bewältigt mit »Leichtigkeit« die schwierigsten Aufgabenstellungen. 14 Die Substantivierung des »Nicht« bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, daß es sich bei diesem »Nicht« um einen Grundzug des Phänomens der Kreativität handelt, in dem sich die verschiedenen »nicht« zusammenfassen lassen, so daß sie eigens thematisch werden können. Das »Nicht« kann als ein spezieller Zug im Rahmen des Gesamtphänomens des »Nichts« gelten. 12
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seinerseits zum verfügbaren Wissen, zur Gewohnheit und als richtige Vorgehensweise empfunden. In kreativen Prozessen tut sich ein eigentümlicher Zirkel auf. Beginnt der Prozeß, so ist er auf verschiedenen Ebenen von einem »Nicht« durchdrungen, das gemäß bestimmter »Kreativitätstechniken« so schnell wie möglich überwunden werden soll, zugunsten des Neuen als dem eigentlichen Ziel. Mit dem Neuen wird das »Nicht« aufgelöst, so daß es im Ergebnis schnell und leicht als unwichtig für den kreativen Prozeß erscheint. Das Neue kann dann seinerseits ein Festhalten erzeugen mit allen fixierenden Konsequenzen. Es zeigt sich an diesem Zirkel, daß einem weit verbreiteten Verständnis von Kreativität mehr oder weniger unterschwellig ein Entwicklungsschema zugrunde liegt, das vor allem das »Neue« in den Vordergrund hebt. Auch wenn das Neue immer wieder durch Neues ersetzt wird, so ist gerade das Neue das, was häufig in der Frage nach der Kreativität festgehalten wird und eine Hypostasierung erfährt. Das »Nicht« tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund, obwohl es durchgehend konstitutiv für den gesamten Prozeß ist.
4. Vergessen und Absichtslosigkeit als Phänomene des »Nichts« Um der Verdrängung des »Nicht«15 und seines phänomenalen Umfeldes im Rahmen der Frage nach der Kreativität entgegenzuwirken und die allzu starke Fixierung auf das »Neue« zu relativieren, sollen im folgenden anhand von zwei Phänomenen, die auf verschiedene Weise dem gerade exponierten »Nicht« entsprechen, Ansätze aus Ostasien ins Spiel gebracht werden. Beabsichtigt ist dabei nicht, diese Ansätze von Ostasien her »richtig« zu verstehen, sondern sie im Rahmen gegenwärtiger Denkherausforderungen fruchtbar zu machen. Das Zurückgreifen auf ostasiatische Ansätze legt sich aus dem Grunde besonders nahe, weil das Phänomen des »Nichts« in ostasiatischen Deutungsansätzen zum Denken und Handeln eine ungleich höhere Differenziertheit erreicht hat als man dies von europäischen Ansätzen her kennt. Es in den Haupttraditionen Asiens vor allem nicht mit einer schon zu Anfang etablierten Negativbewertung belastet, wie dies in Europa schon früh zu beobachten ist. Geht man also davon aus, daß es in kreativen Prozessen auf allen genannten Ebenen um Wissen und Verstehen geht, über das wir nicht verfügen, um Einstellungen und Haltungen, die wir nicht besitzen und um Ergebnisse, die wir nicht kennen, so ist zunächst in dieser Situation des »Nicht« die zentrale Aufgabe, das aus Gewohnheit Bestehende und Geltende in irgendeiner Weise außer Kraft zu setzen und zu negieren. Es geht darum, das Denken, die Gewohnheiten und den Willen so zu verändern und zu verwandeln, daß Denken, Gewohnheit und Willen nicht das tun lassen, was sie gewohnt sind zu tun und schon seit langer Zeit für das »Richtige« halten. Die Veränderung und 15 Diese Verdrängung ist auch »Nichtsvergessenheit« genannt worden. Ludger Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Frankfurt/M. 2003.
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Verwandlung von Denken, Gewohnheit und Willen findet jedoch nicht ohne weiteres als Intendiertes statt, da das in der Verwandlung auftauchende Neue ja gerade nicht als ein bereits Bestimmtes und Gewohntes gewollt werden kann. Wie kann man sich zu einem »Nicht« »verhalten«, das weder in unserem Denken, in unseren Gewohnheiten noch in unserem Willen eine bestimmte Form angenommen hat und somit in keiner Weise vorauszuberechnen ist? Wie kann man sich in eine Lage versetzen, in der das »Nicht« eine Wirksamkeit entfalten kann, obwohl es sich entzieht als etwas, was nicht in unserer Verfügung steht? Kann es Formen des Verhaltens und Handelns geben, die diesem »Nicht« entsprechen? Offenbar muß das, was aus Gewohnheit gewußt, gedacht, gehandelt und gewollt wird und sich grundsätzlich mit unserem eigenen Ichbild verbunden hat, zunächst zur Ruhe gebracht und außer Kraft gesetzt werden, so daß das Gewohnte nicht immer als erstes unser Denken und Handeln bestimmt. Zwei Beispiele können das Gesagte verdeutlichen: 1. Beispiel: Liest man über Jahre hinweg ausschließlich einen bestimmten Autor, so ist jeder Gedanke und jede sprachliche Äußerung aus Gewohnheit von dem betreffenden Denker durchdrungen. Aus einer solchen sprachlichen Gewohnheit einen Ausweg zu finden, dauert seinerseits sehr lang und ist mit dem verbunden, was wir »Vergessen« nennen, als Voraussetzung für neue und kreative Gedanken. 2. Beispiel: Hat man über Jahre hinweg immer nur auf ein bestimmtes Ziel hin gearbeitet, so sind unser Wille und auch der diesem Willen gehorchende Leib in seiner ganzen Gestalt von dieser fokussierenden Absicht durchdrungen. Um die Wirksamkeit dieser zur Gewohnheit gewordenen Absicht zu verändern, bedarf es der Entwicklung einer »Absichtslosigkeit«, aus der neue und kreative Willensmomente aufsteigen können. Mit den Motiven »Vergessen« und »Absichtslosigkeit« zeigen sich zwei negative Momente als Voraussetzung für das, was hier Kreativität genannt wird. Solange nur einseitig auf das Ergebnis gewartet wird, kann die Bedeutung des Vergessens und der Absichtslosigkeit für ein kreatives Geschehen kaum in den Blick treten. Wie wichtig diese beiden Momente jedoch sind, zeigt die übereinstimmende Ansicht, daß im kreativen Geschehen das nur aus Gewohnheit Getane und jede sinnentleerte Routine hinderlich wirken. Da aber unser ganzes Leben notwendig und in vieler Hinsicht sinnvoll von Gewohnheiten und Routinen aller Art durchdrungen ist, stellt sich verschärft die Frage, wie diese denn eigentlich zu durchbrechen sind. Wenn den Arbeitern, Forschern, Wissenschaftlern, Kindern, Lehrern gesagt wird: »Seid kreativ!«, so ist ihnen nicht geholfen. Denn es stellt sich mit Nachdruck die Frage: Wie können das Gewohnte und die Routinen so negiert werden, daß sich dieses kreativ auswirkt und nicht zu einer Schwächung unseres Handlungsspielraumes führt? Nimmt man diese positive Kraft des Negativen für die Kreativität ernst, so gilt es im Rahmen einer Kultur der Kreativität, die häufig mit bloßer Effektivität verwechselt wird, zugleich eine Kultur des Vergessens und der Absichtslosigkeit zu entwickeln, die als Befreiung und nicht als Schwächung wirkt. Sowohl das Vergessen wie auch die Absichtslosigkeit sind in der europäischen Geistesgeschichte fast ausschließlich negativ
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gedeutet worden. Hierin spiegeln sich die weitverzweigten Ausläufer der Negativbewertung des »Nichts«, die mit Parmenides noch vor dem Anfang der Philosophie bei Platon einen weithin wirksamen Protagonisten gefunden hat. Die immer wieder zu beobachtende Höherbewertung des kreativen Ergebnisses steht deutlich im Zusammenhang mit der einseitigen Aufmerksamkeit auf das, was die Alten »Sein« genannt haben. Auch wenn es in Europa immer wieder Ausnahmen gegeben hat, die dem »Nichts« Beachtung geschenkt haben, so ist dennoch der Hauptstrom von einer anderen Überzeugung getragen. 5. Ein Beispiel aus Europa An dieser Stelle sei ein Beispiel für die positive Aufnahme bestimmter Momente aus dem Phänomenfeld des »Nichts« in Europa angeführt, das zu der genaueren Analyse des »Vergessens« und der »Absichtslosigkeit« im Ausgang von ostasiatischen Ansätzen überleiten soll. Sextus Empiricus beschreibt an einer Stelle ausgehend von einem Beispiel aus der Malerei, wie sich die Seelenruhe im skeptischen Prozeß einstellt: Dem Skeptiker geschah dasselbe, was von dem Maler Apelles erzählt wird. Dieser wollte, so heißt es, beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so mißlungen, daß er aufgab und den Schwamm, in dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaums hervorgebracht. Auch die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen, daß sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden. Da sie das nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber innehielten, folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe wie der Schatten dem Körper.16 Sowohl bei Apelles dem Maler wie auch bei den Skeptikern ist das Aufgeben, bzw. das Innhalten die zentrale Wendung im Geschehen, wodurch das zunächst nicht zu Erreichende wie von selbst eintritt. Beim Skeptiker realisiert sich eine neue Haltung, die weder direkt und positiv gewollt noch denkerisch anhand von philosophischen Aussagen erreicht werden konnte. Erst im Innehalten und Aufgeben geschieht das Aufgegebene im doppelten Sinne des Wortes. Obwohl das »Aufgeben« des Malers und des Skeptikers im Zitat direkt aufeinander bezogen werden, unterscheiden sie sich doch qualitativ in erheblichem Maße. Bei Apelles ist das Aufgeben motiviert durch eine Verzweiflung, die aus erkannter Unfähigkeit resultiert. Im Prozeß verzweifelt der Maler an seinen Fähigkeiten und gerät in einen Zustand, der ihn wahrscheinlich aus Wut den Schwamm gegen die Leinwand schleudern läßt. Es handelt sich somit nicht um ein Aufgeben, das als Haltung entwickelt worden wäre, sondern um ein zufällig eingetretenes Aufgeben. Dennoch geriet der Maler in eine Verfassung, in der er nicht mehr nach gewohnten Mustern handelte. Verzweiflungs16 Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, übers. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt/M. 1993, S. 100.
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prozesse dieser Art sind in verschiedenen Situationen erfahrbar und führen häufig zu kreativen Ergebnissen, da die starke Gefühlskomponente gewohnte Muster außer Kraft zu setzen vermag. Im Vergleich dazu ist das Vorgehen des Skeptikers von anderer Art. Er sucht mit allen Kräften nach der Wahrheit und merkt dabei in einem möglicherweise langen Prozeß, daß die Mittel, die er für die Wahrheitssuche einsetzt, das intendierte Ziel nicht erreichen lassen. Die Suche führt nicht zu einer spontanen Verzweifelung, sondern zu einem Innehalten, durch das die bisherige Sicht sich verwandelt, ohne daß dies eigens durch philosophische Aussagen hätte intendiert werden können. Es ist ein schleichendes Aufgeben, das aber in der Schule der Skeptiker selber zu einem methodischen Aufgeben geworden ist. Genau dies ist der zentrale Unterschied zu Apelles, dem Maler. Der Skeptiker betreibt das Philosophieren als eine Übung, um das »Aufgeben« zu realisieren, ohne daß er dies eigens intendiert und direkt umsetzen könnte. In beiden Fällen wird der sich auf ein bewußtes Ich beziehende Wille unterlaufen, so daß anderes als Gewohntes geschehen kann. Es zeigt sich an den beiden Verhaltensweisen, wie verschieden die Weisen des »Aufgebens« Wirklichkeit gewinnen können. Wendet man die Analyse der beiden Vorgehensweisen auf das Hauptthema an, so kann gesagt werden: Das Kreative als das Aufgegebene geschieht nur im Aufgeben des Gewohnten. Auch Vergessen und Absichtslosigkeit sind Formen des Aufgebens. Wie aber ist es möglich, so aufzugeben, daß dies nicht in resignativer oder nur zufälliger Weise, sondern als produktiver Vollzug und als geübte Haltung geschieht? Man stößt mit dieser Frage auf eine eigentümliche Grenze. Denn selbst wenn man Kreativität in gewohnter Weise definieren und begrifflich klären würde, so helfen uns positive Aussagen und eindeutige Definitionen gerade nicht, um auf der praktischen Ebene zu etwas zu finden, was offen ist und bisher keine feste Gestalt gefunden hat. Denn der kreative Prozeß führt uns immer wieder in die Situation eines »Nicht«, in der positiv Gesetztes und Geltendes zunächst außer Kraft gesetzt werden müssen, damit sich im Handeln überhaupt neue Spielräume öffnen können. Das Phänomen der Kreativität und die Frage nach dem »Nicht« führen uns an die Grenzen eines nur auf Begriffsklärung und Aussagesätze zielendes Philosophierens. Um die Bewegungen zu beleuchten, die aus der aufmerksam gestalteten Situation des »Nicht« aufsteigen können, möchte ich jetzt in freier Weise auf zwei ostasiatische Ansätze zurückgreifen, für die Vergessen und Absichtslosigkeit eine zentrale Rolle gespielt haben. Sie verbinden bestimmte Weisen des Vergessens und der Absichtslosigkeit mit dem, was ich selbst bin, und mit dem Sachverhalt, wie Ich und Welt in ihrem Zusammenhang hervortreten. In diesem Sinne werden sich die Ausführungen jetzt auf die vierte Ebene der Kreativität konzentrieren, auf der das Verhältnis von Ich und Welt selber zur Frage wird. Letztlich ist aber auch auf den anderen Ebenen genau dieses Verhältnis mit im Spiel, auch wenn es gewöhnlich nicht in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt.
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6. Vergessen des Selbst bei Dōgen Die Untersuchungen des Geistes und seiner Wirkweisen sind im Rahmen asiatischer Traditionen nicht nur in sprachlicher Form erschlossen worden, sondern zugleich in praktischen Übungsformen erprobt und erweitert worden. Übungsformen, die auch in der antiken Philosophie nicht unbekannt waren, auch wenn sie zunehmend aus dem maßgeblichen Diskurs der Philosophie verdrängt worden sind.17 Es sind vor allem meditative Praktiken und leibbezogenen Bewegungskünste, in denen sich in Asien eine »Kultur des Vergessens« entwickelt hat. Aus den verschiedenen Vorgehensweisen im Rahmen einer solchen Kultur soll an dieser Stelle nur ein Beispiel herausgegriffen werden, das sich besonders gut eignet, mit dem Thema Kreativität in fruchtbarer Weise verbunden zu werden. Es handelt sich um ein Wort des japanischen Zen-Meisters Dōgen, der im 13. Jahrhundert die Sōtō-Schule des Zen-Buddhismus in Japan begründet hat. Es lautet wie folgt: Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst (jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend Gegebenheiten von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend Gegebenheiten von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz (shinjin) meiner selbst (jiko) sowie Leib und Herz des Anderen (tako) abfallen zu lassen (totsuraku).18 Soll der Buddha-Weg erlernt werden, so bedeutet dies, daß ich mein eigenes Bild von mir, das sich über die Jahre meines Lebens gebildet hat, loslasse und vergesse, um zu einer Ebene vorzustoßen, in der ich selbst als Geschehen immer wieder hervortrete. Gewöhnlich verfestigt sich beim Menschen das Ich-Bild in einer Weise, die für ihn zunehmend undurchsichtiger wird, je länger er im Rahmen bestimmter Vorstellungen und Denkgewohnheiten lebt. Um dieses verfestigte Ich-Bild zu durchbrechen steht für Dōgen das »Vergessen« am Anfang eines Prozesses, der hineinführt in den Bildeakt meiner selbst. Dieser Bildeakt kann mir aber nur dann durchsichtiger werden, wenn ich alle verfestigten Selbstbilder »vergessen« habe. Erst dann wird ein Geschehen erfahrbar,
Vielleicht ist der Blick nach Asien auch für die europäische Philosophie hilfreich, um die eigenen Quellen neu und anders zu verstehen. »Wie bereits erwähnt war ich der komparatistischen Philosophie gegenüber lange feindselig eingestellt, weil ich dachte, daß sie Verwirrung stiften und zu willkürlichen Annäherungen führen könnte. Beim Lesen der Arbeiten meiner Kollegen […] scheint es mir aber heute, daß es wirklich erstaunliche Analogien zwischen den philosophischen Haltungen der Antike und des Orients gibt. Diese Analogien können nicht mit historischen Einflüssen erklärt werden, erlauben aber, all das vielleicht besser zu verstehen, was in den philosophischen Verhaltensweisen, die sich so gegenseitig erhellen, impliziert sein kann. […] Daher habe ich oben einen buddhistischen Text und auch einen vom Buddhismus inspirierten Text von Michel Hulin erwähnt, weil ich annahm, daß sie uns helfen könnten, das Wesen des griechischen Weisen besser zu fassen.« Pierre Hadot: Wege zur Weisheit – oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt/M. 1999, S. 318 f. 18 Diese berühmte Stelle stammt aus dem Text Genjōkōan. Vgl. zu Dōgen insgesamt und für eine Übersetzung des Textes in voller Länge: Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), übersetzt, erläutert u. hg. v. Ryōsuke Ōhashi u. Rolf Elberfeld, Tōkyō, Stuttgart–Bad Cannstatt 2006, S. 36–49. Die zitiert Stelle findet sich auf Seite 39. 17
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in dem ich selbst durch alle Gegebenheiten »von selbst erwiesen werde«. Der Bildeakt meiner selbst wird im Vergessen meiner selbst durchsichtig auf die innere Zusammengehörigkeit mit allen Gegebenheiten. »Ich« gehe nicht hervor als vereinzelte Entität, sondern im Zusammenspiel mit allen Gegebenheiten, die dies auch zeigen und erweisen, wenn ich selbst von mir absehe als dem alleinigen Zentrum meines Hervorgangs. Wenn eigenes und anderes Selbst »abgefallen« sind, zeigt sich das Zusammenspiel aller Momente, aus denen ich selbst und alle Wesen hervortreten. Damit dieses Geschehen Moment meiner Erfahrung wird, ist vorausgesetzt, daß ich zunächst in längeren Übungen alle fest gewordenen Vorstellungen und Interpretationen von mir selbst und den anderen vergesse. Die zitierte Textpassage führt direkt in die Fragen nach einem Geschehen, in dem ich selbst als Moment dieses Geschehens hervorgehe. In diesem Geschehen kann es möglich sein, daß ich selbst erfahre, wie eine Gewohnheit, die sich bereits lange in mir ausgebreitet hat, aktiviert wird, ohne dann aber mich selbst sofort mit dieser Gewohnheit identifizieren zu müssen. Es tritt somit ein Selbstverhältnis auf, das mit dem Hervortreten einer bestimmten Gewohnheit, Vorstellung und Denkhaltung immer zugleich auch das Hervorgehen der Gewohnheiten, Vorstellungen und Denkhaltungen im Gesamtzusammenhang erfährt und realisiert. Für den Kontext bei Dōgen hat es keine eigene Bedeutung, ob in diesem Prozeß etwas Neues im Sinne der Kreativität hervorgeht. Für ihn liegt das ganze Gewicht darauf, immer und bei jeder Gelegenheit das Hervorgehen des eigenen Selbst zu erfahren. Verbindet man den zuvor entwickelten Gedanken des Neuen im Phänomen der Kreativität mit dem »Vergessen« und dem »Hervorgehen des Ich« bei Dōgen, so zeigt sich eine fruchtbare Synergie beider Ansätze. Die Übungen des Durchbrechens der eigenen Selbstbilder und Gewohnheiten lassen sich direkt mit einem kreativen und schöpferischen Prozeß verbinden, in dem ich selbst und mein Selbst-Bild ja immer mit auf dem Spiel stehen. Die Übung des Vergessens bei Dōgen weist in einen Bereich des Phänomens der Kreativität, der noch kaum erschlossen ist.
7. Absichtslosigkeit im Huainanzi Neben den direkten meditativen Praktiken, die zu einer intimen Vertrautheit mit den Hervorgangsprozessen des eigenen Geistes und Leibes führen, hat sich in Ostasien eine Kultur des Handelns entwickelt, deren höchste Qualität das »Nicht-Handeln« (chin. wuwei) ist. Ohne an dieser Stelle in die komplizierten Diskussionen über das genannte Motiv einzutreten,19 möchte ich eine Textpassage aus dem Huainanzi anführen, einem chinesischen Text aus der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.:
Über dieses Motiv in seiner Entwicklung informiert: Günter Wohlfart: Der philosophische Daoismus, Köln 2001. Vgl. insbesondere Kap. 3: Wuwei – Tun ohne Tun. Materialien zu einem daoistischen Ethos ohne Moral. 19
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Was ich Nicht-Handeln (wuwei) nenne, heißt: nicht den Dingen voraus wirken; was ich ›nicht nicht handeln‹ nenne, heißt: ausgehen von dem, was die Dinge wirken. Was ich ›Nicht-Ordnen‹ nenne, heißt: nicht [das] von selbst so zu verändern. Was ich ›nichts nicht ordnen‹ nenne, heißt: ausgehen von dem gegenseitigen Sosein. […] Die Dinge beleuchten und sich nicht täuschen lassen, wie ein Echo resonieren und nicht ermüden; dies nenne ich die himmlische Loslösung.20 Diese Stelle bündelt verschiedene Motive in höchst komprimierter Weise. Nach dem Huainanzi bedeutet Nicht-Handeln, im Handeln den Dingen keine vorgefertigten Konzepte und Pläne überzuwerfen und in diesem Sinne nicht einseitig vom Willen gesteuert den Dingen vorauszugreifen. Da dies aber nicht heißt, bloß passiv zuzuschauen, wird im Nicht-Handeln nichts nicht getan, was es gemäß Situation zu tun gäbe, und zwar in der Form, daß dieses Handeln von dem ausgeht, was in und mit den Dingen wirksam werden kann. Dabei wird vermieden, nur einseitig die eigenen Absichten, die nicht im Zusammenspiel mit den Dingen hervortreten, wirken zu lassen. Parallel zum NichtHandeln spricht der Text vom »Nicht-Ordnen«, das er mit dem zentralen Topos des »von selbst so« verbindet. »Von selbst so« zeigt eine Geschehensqualität an, in der alle beteiligten Momente so in ein Geschehen einbezogen sind, daß die Gesamtordnung nur im Zusammenspiel aller hervorgeht und kein einzelnes Moment die Ordnung beherrscht und verursacht. Somit bedeutet dieses Nicht-Ordnen zugleich, daß nichts nicht geordnet wird, da es ausgeht vom gegenseitigen Sosein aller Momente im Geschehen. Absichtsloses Handeln im Sinne des Nicht-Handelns und Nicht-Ordnens bedeutet: Nicht vorauswirken, sondern von den Dingen ausgehen, nicht das von selbst so verändern, sondern das gegenseitige Sosein wirksam werden lassen. In der Absichtslosigkeit des Nicht-Handelns und Nicht-Ordnens ist ein Nicht wirksam, das mich selbst im Zusammenspiel mit den Dingen offen hält und wie ein »Echo« resonieren läßt und das jeweils in höchst präziser Differenziertheit. Im letzten Satz spricht der Text von der »himmlischen Loslösung«. Das chinesische Zeichen für »Loslösung« (chin. jie) bedeutet zunächst einfach nur »einen Knoten entwirren«. In übertragener Bedeutung meint es aber auch, etwas zu verstehen. »Verstehen« in diesem Bilde besagt dann nicht, die Dinge nach einem vorausgehenden Plan zu verstehen, sondern ein Verstehen, daß im Handeln von besagter Qualität hervorgeht. Dieses Verstehen tritt dann immer wieder auf neue Weise durch die handelnde Verbindung von Welt und Ich hervor. Hier durchdringen sich Verstehen und Handeln auf intimste Weise.
20 Die Übersetzung geht aus von der Fassung in: Eva Kraft: Zum Huai-nan-tzu. Einführung, Übersetzung (Kapitel I und II) und Interpretation, in: Monumenta Serica XVI (1957), S. 227.
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8. Vergessen und Absichtslosigkeit als Gelingensbedingung für Kreativität In der Übersetzung der genannten Motive bei Dōgen und im Huainanzi auf das Phänomen der Kreativität zeigt sich, daß Kreativität als eine im Handeln hervortretende kreative Verbindung von Welt und Ich verstanden werden kann. Damit dies gelingt, ist es unumgänglich, daß ich mich als feste und unbewegliche Identität vergesse und sich mein Wille in ein »absichtsloses« Resonieren mit dem Geschehen verwandelt. Im kreativen Prozeß bin daher nicht »ich« kreativ, vielmehr ist dieses »Ich« selbst Moment in einem Geschehen aus dem es allererst hervorgeht. Das Geschehen kann daher weder einfach als aktiv noch als passiv gekennzeichnet werden. Es handelt sich hier vielmehr um eine Aktionsform, die in grammatischer Terminologie »Medium« genannt wird und zwischen den beiden Aktionsformen »aktiv« und »passiv« steht. Diese Sprachform, die in den großen europäischen Bildungssprachen verlorengegangen ist und die man gewöhnlich nur aus dem Altgriechischen kennt, bietet eine Möglichkeit, um der genannten Geschehensqualität weiter nachzugehen.21 Da das Ich sich zumeist nicht auf ein Geschehen einlassen kann oder will, in dem es selbst auf dem Spiel steht, dienen Gewohnheiten und Geltungsansprüche als Stabilisatoren der eigenen Ichvorstellung. Unbestreitbar sind diese für unser Leben notwendig. Kreativität jedoch kann als Möglichkeit nur dann nachhaltig entwickelt werden – und nicht nur als bloßes Zufallsprodukt entstehen –, wenn sie verbunden wird mit der Übung des Vergessens, der Absichtslosigkeit und des Aufgebens im schöpferischen Sinne. Ohne ein positives Konzept des »Nicht«, des »Nichts« und der »Negation« schlägt ergebnisfixierte Kreativität selbst immer wieder nur in Gewohnheit und Routine um. In der anhaltenden Übung des Vergessens und der Absichtslosigkeit kann es gelingen, uns im eigenen Grunde offen zu halten, ohne einfach zu nichts zu werden. Die anhaltende Übung des Vergessens und der Absichtslosigkeit wird so zum paradoxen Bewegungsimpuls jeder kreativen Tätigkeit, die bei keinem noch so neuen Ergebnis stehenbleibt. Paradox ist dieses Handeln aus dem Grunde, weil es das »Nicht« als sich grundsätzlich Entziehendes in beständiger Wirksamkeit hält. Kreativität ist – so kann zum Abschluß formuliert werden – die beständige Übung des »Nicht« zwischen Ich und Welt als ein Zwischen, aus dem Ich und Welt je aufs neue hervorgehen. Auf diese Weise kann es vielleicht auch gelingen, zu dem »Nicht-Gedachten« in unserer Tradition vorzudringen, das Jullien als den eigentlich methodischen Impuls interkulturellen Philosophierens markiert hat.
Zum Medium als Sprachform vgl. Suzanne Kemmer: The Middle Voice, Amsterdam, Philadelphia 1993. Zur philosophischen Bedeutsamkeit dieser Sprachform vgl. Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, a. a. O., S. 85 ff. 21
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Literatur Barrow, John D.: The Book of Nothing, London 2000. Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/M. 1981. Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), übersetzt, erläutert u. hg. v. Ryōsuke Ōhashi u. Rolf Elberfeld, Tōkyō, Stuttgart–Bad Cannstatt 2006. Elberfeld, Rolf: Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam 1999. Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart–Bad Cannstatt 2004. Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit – oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt/M. 1999. Heisig, James W.: Philosophers of Nothingness, Honolulu 2001. Hisamatsu, Shin’ichi: Die Fülle des Nichts, Stuttgart 2003. Jullien, François: Der Umweg über China. Ein Ortswechsel im Denken, Berlin 2002. Jullien, François: Eine Dekonstruktion von außen. Von Griechenland nach China, oder: Wie man die festgefügten Vorstellungen der europäischen Vernunft ergründet, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 / 4 (2005), S. 523–539. Kaplan, Robert: Die Geschichte der Null, München 2003. Kemmer, Suzanne: The Middle Voice, Amsterdam, Philadelphia 1993. Kraft, Eva: Zum Huai-nan-tzu. Einführung, Übersetzung (Kapitel I und II) und Interpretation, in: Monumenta Serica XVI (1957). Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Frankfurt/M. 2003. Nambara, Minoru: Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und seine Entsprechungen im Buddhismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 143–277. Nishida, Kitarō: Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, in: Rōsuke Ōhashi (Hg.): Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, Freiburg im Breisgau 1990, S. 119–137. Rombach, Heinrich: Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur, Freiburg im Breisgau 1994. Rotman, Brian: Signifying Nothing. The Semiotics of Zero, Basingstoke 1987. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, übers. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt/M. 1993. Varela, Francisco J. / Thompson, Evan / Rosch, Eleanor: Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung, München 1995. Weinrich, Harald (Hg.): Positionen der Negativität, München 1975. Wohlfart, Günter: Der philosophische Daoismus, Köln 2001.
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1 Die These von der »Tragödie der Kultur« (Georg Simmel) Zunächst scheint es in gewissem Sinne paradox, ausgerechnet der Kultur eine Tendenz zum Neuen zuzuschreiben. Heißt Kultur doch eher Tradition als Innovation, eher Bewahrung als Erneuerung. Und tatsächlich scheint es geradezu zum Begriff der Kultur zu gehören, daß sie eine, wie etwa Georg Simmel sagt, »objektive« Realität ist, die ihren immanenten Gesetzlichkeiten, ihrer jeweiligen Sachlogik folgt und dadurch eher einem Mechanismus gleicht als einem schöpferischen Geschehen. Er geht soweit zu behaupten, daß »die immanente Logik der Kulturformungen der Dinge« den Menschen zum »bloße[n] Träger des Zwanges« macht, »mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht und sie wie in der Tangente der Bahn weiterführt, in der sie wieder in die Kulturentwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren würden.« Und er drängt seine Diagnose in die Formel zusammen: »Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur.«1 Wenn gewisse erste Motive des Rechtes, der Kunst, der Sitte geschaffen sind – vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität – so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderungen unserer Individualität, so zentral sie seien, nicht weniger unbekümmert ist, als die physischen Mächte und ihre Gesetze es sind.2 Und Simmel fährt fort: Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren.3 Interessant ist dabei auch der ausdrückliche Bezug auf Marx: Diese eigentümliche Beschaffenheit der Kulturinhalte […] ist das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturpro1 Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 14, Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, hg. v. Rüdiger Kramme u. Ottheim Rammstedt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 385–416, hier S. 411. 2 Ebd., S. 402 f. 3 Ebd., S. 403.
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dukte wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor, oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Subjekten überhaupt und in welchem Maße von Tiefe und Vollständigkeit es aufgenommen und seiner Kulturbedeutung zugeführt wird. Der ›Fetischcharakter‹, den Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte.4 Eben dies ist im allgemeinen auch der Ansatzpunkt einer Kulturkritik, die es sich zur Aufgabe macht, die von den Absichten und Taten, aber auch den Verständnissen und Überzeugungen der Individuen abgelöste Eigendynamik kultureller Faktoren und Entwicklungen auszumachen und zum – von Simmel im übrigen als durchaus nicht hoffnungslos eingeschätzten5 – Widerstand aufzurufen. Es ist diese Konstellation von kultureller Entwicklung und individueller Gestaltung, die ich in einem umgekehrten Sinne lesen und als den Boden für die Entstehung des Neuen, für das Neue als eine Kulturtendenz ausweisen möchte. Beginnen wir noch einmal mit Simmels These. Wir können sie in zwei Teile gliedern. In ihrem ersten Teil wird die grundsätzliche strukturelle Differenz von kultureller und individueller Entwicklungsform festgestellt: Die kulturelle Entwicklung folgt den Gesetzen einer überpersönlichen Sachlogik. Die Entwicklung der bzw. zur Persönlichkeit, wo sie sich denn »den inneren Trieben und Normen« verdankt, gewinnt demgegenüber ihre Richtungsimpulse aus ihrer eigenen individuellen Lebenserfahrung und -bewältigung. Zwischen beiden Entwicklungsformen gibt es keine innere, d. h. aus ihrer jeweiligen immanenten Gliederung folgende, Verknüpfung. In einer sie prägenden kulturellen Umgebung werden die Menschen daher aus den Bahnen zu ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung herausgedrängt und entfremden sich so den Möglichkeiten ihres eigenen Personseins. Der zweite Teil der Simmelschen These ist, wenn man so will, der Marx-Teil. In Simmels eigenen Worten: [D]urch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist. Die Elemente haben sich zusammengetan wie nach einer ihnen selbst, als objektiven Wirklichkeiten, innewohnenden Logik und Formungsintention, mit denen ihre Schöpfer sie nicht geladen haben.6 Ebd., S. 408. Vgl. dazu seine Schlußbemerkung: »Die große Unternehmung des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft, um mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muß diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer gesteigerter Beschleunigung und immer weiterem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.« (Ebd., S. 415 f., Hervorhebungen von mir) 6 Ebd., S. 406. 4 5
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Und mit Bezug auf den Formcharakter von sinntragenden Gebilden im allgemeinen formuliert Simmel: Es ist ein ebenso geheimnisvolles wie unbezweifelbares Faktum, daß an ein materielles Gebilde ein geistiger Sinn, objektiv und für jedes Bewußtsein reproduzierbar, gebunden sein kann, den kein Bewußtsein hineingelegt hat, sondern der an der reinen, eigensten Tatsächlichkeit dieser Form haftet.7 Während Simmel im zweiten Teil seiner These über die Ablösung der dinglichen Sinngebilde von den Intentionen ihrer Schöpfer redet, sobald ein solches Gebilde als »unser Werk dasteht«,8 behauptet er im ersten Teil seiner These eine in ihrer jeweiligen Sinnrichtung unüberbrückbare Differenz von kultureller und individueller Entwicklungsdynamik. 2 Kritik der These: Die individuelle Artikulation in kulturellen Ausdrucksformen In dieser Differenzbehauptung wird die Entwicklungsrichtung der beiden Dynamiken jeweils als gleichartig bestimmt oder sich bestimmend unterstellt. Eben dies erscheint aber als höchst fragwürdig. Denn während wir uns bei der Feststellung einer kulturellen Entwicklungsdynamik auf dinglich und öffentlich präsente Sinn- und Formverhältnisse und auch auf eine entsprechende Rezeption dieser Sinn- und Formverhältnisse berufen können – ohne daß damit sich auch schon Gesetze ergeben würden –, fehlt diese Möglichkeit bei dem Versuch, eine kulturunabhängige Dynamik allein aus »den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit« auszumachen. Denn wenn wir auch, wie die Orientierungsleistungen und das Verhalten von Kleinkindern, aber auch schon von höheren Säugetieren zeigen, vorsprachliche und bei den Tieren auch vorkulturelle Dynamiken feststellen können, geht es bei diesen Dynamiken doch im wesentlichen um biologisch bestimmte und im übrigen oft auch ein individuelles Lernen einschließende Verhaltensformen und jedenfalls noch nicht um eine Persönlichkeitsentwicklung oder gar um deren Normen. Erst dort, wo wir es mit Artikulationsleistungen in irgendeinem symbolischen Medium zu tun haben, können wir überhaupt von einer normativen Entwicklung in welchem Sinn auch immer reden. Innerhalb der Wirkverhältnisse biologischer Faktoren entwickeln sich situativ bedingte und verhaltensbezogene Dynamiken, die gewöhnlich im Ausagieren dieser Dynamiken ihr Ende finden. Sie weisen damit, wie Simmel sagen könnte, den Charakter der reinen Tatsächlichkeit auf und schließen alle normativen Momente, die ja etwas präsentieren, was nicht schon der Fall ist, aus.
Ebd., S. 407. »Sobald unser Werk dasteht, hat es sich nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben, die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält auch in diesem Selbst-Sein – wie von Gnaden des objektiven Geistes – Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden.« (Ebd.) 7 8
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Wo wir in einer doppelten Motivlage von »inneren Trieben und Normen«, wie sie Simmel vorschwebt, in stimmiger Entwicklung zu einer eigenen Persönlichkeit finden wollen, da bedarf es der Artikulation des Entwicklungszieles und immer wieder auch der Abgleichung von Erreichtem und Erstrebten. Eine Artikulation ist aber nicht ein welt- und geschichtsloses Erzeugnis allein aus dem Inneren eines nur in sich selbst entwickelten Bewußtseins heraus. Vielmehr ist sie eine Formbildung, mit der wir uns zu bereits Geformtem verhalten. Weniger abstrakt ausgedrückt: In allem, was wir sagen, verhalten wir uns zu dem, was bereits gesagt worden ist. In allem, was wir tun, verhalten wir uns zu dem, was bereits getan worden ist. Und wir können diesen Zusammenhang auch für unsere Wahrnehmung insgesamt feststellen, für alle sinnesspezifischen Formen von Formbildungsprozessen, die wir zumeist, wie Edmund Husserl sagen würde, in einer »passiven Synthesis« durchlaufen: Was wir sehen, sehen wir durch die Bilder hindurch, die wir in unseren Bildwelten gesehen haben. Was wir hören, hören wir durch die Geräusche, Laute und Töne hindurch, die wir in unseren Geräusch-, Laut- und Tonwelten gehört haben. Mit den entsprechenden Abwandlungen können wir dies für unser Denken und Fühlen, unser Wahrnehmen und Streben, aber auch für unser Formen und Zeigen, unser Handeln und Verhalten insgesamt sagen. Was aber gesagt oder sonst in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht worden und nun als Form des Ausdrucks gegenwärtig geblieben ist, macht das Ensemble der in der Geschichte gesellschaftlich sedimentierten Ausdrucksformen – und in der in ihnen als exemplarische Realisierungen dieser Ausdrucksformen tradierten Werke – aus. Es macht eine Kultur aus. Daß wir uns in unseren Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Ausdrucksleistungen, daß wir uns in unserer ganzen tätigen Existenz zu dem bereits in eine Ausdrucksform Gebrachten und dem in ihr Erhaltenen verhalten, heißt dann, daß unser ganzes geistigen Leben bis in sein Innerstes hinein von unserer Kultur geprägt ist. Und diese Prägung ist kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein »Angebot«, in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks kommen. Erst im Medium unserer kulturellen Umgebung kommen wir zu dem, was Simmel als Persönlichkeit der Kultur entgegenstellt. Diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen läßt eine Gegenüberstellung von zwei selbständigen und in ihrer Entwicklungsform voneinander unabhängigen Bereichen persönlicher und kultureller bzw., wie Simmel sagt, subjektiver und objektiver Artikulationsverhältnisse nicht zu. Denn die kulturellen Artikulationsverhältnisse bestehen aus bereits gegebenen, dinglich realisierten und dadurch öffentlich verfügbaren Ausdrucksformen. Sie bilden ein Formenreich, das zwar genutzt werden kann, damit zugleich aber auch – bei allen Möglichkeiten zur Abweichung – in seinem verständnistragenden Grundbestand übernommen werden muß. Es sind Formen, die wir nicht geschaffen haben, sondern die uns die kulturelle Tradition übermittelt und bereitgestellt hat.
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3 Artikulation und »Andersheit der Form« (Ernst Cassirer) Man kann hier an den zweiten Teil der Simmelschen These anknüpfen: an das von ihm benannte »Faktum«, daß – und hier variiere ich seine Formulierung – mit den dinglich realisierten kulturellen Ausdrucksformen Sinnverhältnisse geschaffen sind, die wir nicht in diese Ausdrucksformen hineingelegt haben. Simmel verschärft diese These dann noch durch den Zusatz, daß ein solcher Sinn »an der reinen, eigensten Tatsächlichkeit dieser Form haftet«. In dieser Schärfe ist die These einseitig. Sie ist zu ergänzen durch den Hinweis, daß jede Artikulation auch ein eigenes gestaltendes Ereignis ist, ein Ereignis der Formbildung, wenn auch einer Formbildung in einem Reich von schon gebildeten Formen. In jeder Artikulation verschränkt sich so kulturell Gestaltetes mit einem persönlichen Gestalten, bereits Geformtes mit einem Prozeß des Formens. Dieses Verhältnis gilt es, näher darzustellen. Liegt in ihm doch der Grund für unsere Kreativität und damit zugleich für die Möglichkeit, das Neue als Kulturtendenz zu erfassen. Mit einem Blick auf den schönen Kleist-Text Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden9 können wir uns vergegenwärtigen, wie im Prozeß des Redens das, was wir sagen, sich entwickelt. Im Reden entsteht, wenn wir nicht Ablesen oder Aufsagen, das, was wir sagen. Dabei ist es nicht immer so, daß das, was wir sagen, auch das ist, was wir am Ende als das erkennen, was wir haben sagen wollen. Nehmen wir aber einmal an, es wäre so, daß wir das, was wir sagen, wie im Falle Mirabeaus in der Kleistschen Schilderung, zugleich das ist, was wir im Reden als das erkennen, was wir sagen wollten, und also auch als das, was wir denken. Selbst in diesem Fall ist es aber auch so, daß das, was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. Es wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Es geht dabei vielfältige Verbindungen mit diesem Übrigen in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten. Das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden, in dem wir unsere Gedanken allmählich verfertigen. Denn die Sprache, in der wir uns ausdrükken, wie jede der symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen, ist in ihren Ausdrucksformen schon da, wenn wir beginnen, uns in ihr zu artikulieren. Was wir sagen ist eingebettet in das, was schon gesagt worden ist.10 Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz
9 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. 2, 6. Aufl., München: Carl Hanser 1977, S. 320 f. 10 Vgl. dazu die schöne Formulierung, die Maurice Merleau-Ponty gefunden hat: »Was wir zu sagen haben, ist das, was wir über das schon Gesagte hinaus gelebt haben – in der kohärenten Verformung der anonymen Sprache.« (Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, aus dem Fran-
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ist eingebettet in die symbolischen Welten, in denen die geistige Existenz anderer ihre Spuren hinterlassen hat. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildendem Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Formbildungsformen gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz ist nicht zu schließen, auch nicht in der gelungenen Artikulation, wie sie uns Kleist vorführt. Und wir können dies noch verdeutlichen, indem wir diese Differenz von einer anderen Seite her in den Blick rücken, nämlich nicht vom Ergebnis einer Artikulationsleistung, sondern von deren Ausgangssituation her. Gerade die Beschreibung einer allmählichen Verfertigung des Gedachten – und damit eben auch des Gesagten – beim Reden zeigt, daß der gelungene Ausdruck ein Zusammentreffen von Verschiedenem ist. Der Redner selbst wird in einem gewissen Sinne vom Gelingen seines Ausdrucks überrascht. Als eigenes Ereignis fassen wir dieses Gelingen nur, weil wir es nicht schon so, wie es denn geworden ist, vorausgesehen haben und voraussehen konnten. Das sprachliche Feld, in dem wir uns bewegt haben, hat uns mit den in ihm abgelagerten Verknüpfungen in eine Verweisungsdynamik hineingezogen, die das benutzte Wort mit weiteren Sinnverbindungen anreichert und Zusammenhänge sichtbar werden läßt, die sich auch aus eigenem Recht im Denken und Reden ausbreiten. Gerade dieses Eigenrecht der Sinnverbindungen, diese – wie Ernst Cassirer sie benennt – »Andersheit der Form«11 und damit die bleibende und jeweils von neuem sich ausweisende Differenz der Form zum individuellen Ausdruckswillen macht den gelungenen Ausdruck zu einem Ereignis, das sich der planenden Verfügung – wenn auch nicht der Vorbereitung – entzieht. Und weil es diese Differenz gibt, diesen Überschuß an Sinn über unsere Vorhersicht hinaus, ist der gelungene Ausdruck selbst dort, wo er – wenn auch nur im nachhinein – in einer von uns als vollkommen zutreffend, in einer Identität von intendierter und artikulierter Äußerung erfahren wird, ein für uns Neues – etwas, auf das wir zwar gerichtet waren, mit dem wir aber nicht gerechnet haben.
4 Der »glückliche Griff« und der Grund der Geschichte (Helmuth Plessner) Und noch aus einer weiteren Sicht zeigt sich diese Differenz, diese »Andersheit der Form« gegenüber dem – um auch hier eine Wendung Ernst Cassirers zu übernehmen – »Werden zur Form«12 im Artikulationsprozeß, aus einer Sicht nämlich auf das Neue als Kulturtendenz.
zösischen von Regula Giuliani mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Bernhard Waldenfels, München: Wilhelm Fink 1984, S. 130 f.) 11 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 13, Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, Hamburg: Felix Meiner 2002, S. 45. 12 Ebd., S. 15. Zum sachlichen Zusammenhang vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 122–125.
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Das Neue, auf das wir gerichtet waren und mit dem wir gleichwohl nicht gerechnet haben, erfassen wir in seinem Auftreten zunächst als Erfüllung dessen, was wir sagen oder überhaupt erreichen wollten, als Gelingen eines Versuchs, der sich erst in seinem Gelingen definiert. Helmuth Plessner sieht in diesem Augenblick des Gelingens einen »glücklichen Griff«, der nicht vorweggenommen werden kann, sondern sich erst in seiner Realisierung ergibt: im Ereignis der »Einheit von Vorgriff und Anpassung«, die »allein echte Erfüllung heißen« darf.13 Der Augenblick des Gelingens ist erfüllt von der Neuheit des Neuen, das vorher nicht Besitz noch Erwartung war. Nachdem er aber eingetreten ist, sinkt er zum wenigstens einmal Gewußten und Gekonnten ab und beginnt damit, seine Neuheit zu verlieren. Denn indem sich das, was gewollt worden ist, in der Realisierung seiner Artikulation zu einer Form vollendet hat, hat es sich aus dem Geschehen der Artikulation, aus dem ständig sich neu abstimmenden Wechsel-Verhältnis von gesuchtem und verfügbarem Ausdruck, herausgelöst und zu einem bestimmten Ausdruck befestigt. Der Prozeß der Artikulation hat sich damit in einer Form befestigt, die als solche ein bleibendes Eigensein besitzt und allein dadurch schon zum Anderen des im Prozeß der Artikulation Gelungenen wird. Weil der »glückliche Griff« Ereignis ist und sich nicht in einem bleibenden Zustand erhalten kann, wird zugleich mit dem gelungenen Ausdruck auch die Diskrepanz zwischen Erreichtem und Erstrebtem erzeugt. Wo es überhaupt darum geht, etwas zum Ausdruck zu bringen, und nicht nur darum, etwas darzustellen, ergibt sich diese Diskrepanz. Sie kann nur dort vermieden werden, wo es um die Eingliederung in ein bereits vorhandenes Wissen und dessen Weiterentwicklung geht. Wiederum mit Helmuth Plessner gesprochen: Die Vorwegnahme der Form, ihre Berechnung ist nur da möglich, wo der Mensch über die Wirklichkeit schon Bescheid weiß und seinen Intentionen die Erfüllungen garantiert sind. Die Form dagegen, von der als dem Abstand zwischen Zielpunkt der Intention und Endpunkt der Realisierung die Rede ist, läßt sich eben deshalb nicht vorwegnehmen, […] sie ergibt sich in der Realisierung. Sie widerfährt dem Inhalt, der nur das während der Realisierung durchgehaltene Ziel des Bestrebens ist. […] Eben deshalb hat es [sc. das Subjekt] ein Recht und die Pflicht, das Gelingen von Neuem zu versuchen. […] Erst am gelungenen Werk, an der realisierten Gebärde und Rede merken wir den Unterschied. Realisiert, bricht es auch schon in das Was und Wie auseinander. Und da das Streben nicht aufhört und nach Realisierung verlangt, kann ihm das Gewordene als Formgewordenes nicht genügen. Der Mensch muß sich erneut an’s Werk machen.14
13 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin, New York: Walter de Gruyter, Sammlung Göschen 1975, S. 336: »Die ursprüngliche Begegnung des Menschen mit der Welt, die nicht zuvor verabredet ist, das Gelingen der Bestrebung im glücklichen Griff, Einheit von Vorgriff und Anpassung, darf allein echte Erfüllung heißen.« 14 Ebd., S. 337 f.
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Und so stellt Plessner am Ende denn fest: »Aus dieser Grundbewegung ergibt sich die Geschichte.«15 Wir können hinzufügen: »ergibt sich das Neue als Kulturtendenz und aus dieser Kulturtendenz zum Neuen die Geschichte.« Die erreichte Form, so kann man es auch sagen, wird zum Anlaß einer Neuformung, einer neuen Formbildung, die die gebildeten und nun zum öffentlichen Kulturbestand gehörigen Formen für eine eigene und persönliche Bildung von Formen nutzt, die nun ihrerseits zum öffentlichen Kulturbestand werden. 5 »forma formata« und »forma formans«: Die Arbeit an der Form (Ernst Cassirer) Für Ernst Cassirer ist dieses Verhältnis von Formbildung und Neuformung bzw., wie er selbst sagt: von forma formans und forma formata, das Grundverhältnis allen geistigen Lebens und damit aller Kulturentwicklung: Nur in […] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form, als gšnesij e„j oÛs…an beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ›natura naturata‹ und der ›natura naturans‹ geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ›forma formans‹ und der ›forma formata‹ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ›forma formans‹, die zur ›forma formata‹ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ›forma formans‹ wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.16 Die reine, eigenste Tatsächlichkeit der Form, von der Georg Simmel spricht, entfaltet so eine Dynamik, die nicht als eine gegenseitige Störung, sondern als eine gegenseitige Steigerung persönlichen und öffentlichen geistigen und kulturellen Lebens wirkt. Ernst Cassirer bringt dieses Verhältnis in die Formulierung: Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.17
Ebd., S. 339. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. v. John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Band 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. v. John Michael Krois unter Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke, Oswald Schwemmer, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 17 f. 17 Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar, Femte Följden Ser. A 7 (1939), Nr. 3, 15 16
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Indem Cassirer auf das Universelle in der Tat der Individuen hinweist, schließt er die kulturelle und die persönliche Seite des geistigen Lebens in der Einheit des menschlichen Handelns, in der – wie man mit Cassirer auch sagen kann – Arbeit an der Form zusammen. Diese Arbeit an der Form ergibt sich dabei als ein generisches Charakteristikum des menschlichen Handelns. Denn im Grunde kann man die gesamte geistige Tätigkeit als Arbeit an der Form beschreiben. In jedem einzelnen Ereignis dieser Arbeit an der Form werden die symbolischen Welten, die unsere Kultur ausmachen, zugleich erneuert und erhalten, erweitert und ineinander verschränkt. Diese symbolischen Welten, die der Mensch sich schafft und in denen er sich artikuliert und seine Form gewinnt, sind in ihrer Mannigfaltigkeit unübersehbar und lassen sich durch nichts einschränken als dadurch, daß sie eben überhaupt einen Prozeß der Symbolisierung zu durchlaufen haben. Den Ausdrucksformen des Menschen, so sie denn überhaupt die Schwelle der Artikulation überwinden, sind keine Grenzen gesetzt. Sie können sich in immer wieder neuen Konfigurationen oder auch nur neuen Bezügen ausbilden. Im Grunde geht es bei jeder Symbolisierung, wie Michael Tomasello18 im Anschluß an Annette Karmiloff-Smith19 in einer anderen Terminologie formuliert, um repräsentationale Neubeschreibungen, mit denen neue Beziehungen entdeckt und hergestellt werden.
6 Das Eigene des Selbstseins und die Andersheit der Form Mit dieser Formulierung sind beide Seiten benannt: einmal die Seite des kulturellen Angebots und zum anderen die Seite der individuellen Übernahme dieses Angebots in der »Neubeschreibung«. Vor allem wird damit auch deutlich, daß wir unser individuelles Ausdrucksleben und damit unsere geistige Biographie durch unsere Beteiligung an der kulturellen Formarbeit entwickeln. Dieser Hinweis auf unsere geistige Biographie rückt eine grundlegende Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit in den Blick. Denn auf der einen Seite entwickelt sich in der individuellen Artikulation das je Eigene des Sagens oder Tuns. Auf der anderen Seite gewinnt ein jeder dieses sein Eigenes nur in dem Formenreich des schon Gesagten und Getanen. Damit steht das Selbstsein im Eigenen des selbst Gesagten und
S. 1–28. Wiederveröffentlicht in: ders.: Erkenntnis, Begriff, Kultur, hg. v. R. A. Bast, Hamburg: Meiner 1993, S. 231–261, hier S. 249 f. 18 Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002, S. 189–232. 19 Annette Karmiloff-Smith: Beyond Modularity: A Developmental Perspective on Cognitive Science, Cambridge MA: MIT Press 1992. Tomasello zitiert (in Übersetzung) Karmiloff-Smith (a. a. O., S. 18) mit einer programmatischen Formulierung: »Der Prozeß der repräsentationalen Neubeschreibung ergibt sich spontan als Teilwirkung des inneren Dranges nach der Herstellung von Beziehungen innerhalb eines Wissensbereichs und zwischen verschiedenen Wissensbereichen.« (Michael Tomasello: a. a. O., S. 227) Wenn man statt von einem inneren Drang von einer immanenten kulturellen Formdynamik spricht und die Neubeschreibungen figurativ versteht, wäre der gleiche Punkt getroffen, um den es hier geht.
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Getanen in einer unaufhebbaren Differenz zu dem Eigenen des von Anderen Gesagten und Getanen und gewinnt in diesem Differenz-Stand seine Identität. Auch wenn dieses bereits Gesagte und Getane – also das Formenreich, das uns überkommen ist und in dem wir uns artikulieren – von uns in eine eigene Form gebracht worden ist, bewahrt es doch seinen Eigenstand. Wir gewinnen unser Selbstsein in der bleibenden Differenz des von Anderen Gegebenen, das wir uns durch unsere eigene Arbeit an der Form zu eigen machen. In unserem Selbstsein, in dem Eigenen unseres Sagens und Tuns verhalten wir uns selbst formend zu der Andersheit der Form. Und nur, wenn wir diese eigene Formung in unsere Artikulation einbringen, gelingt es uns, überhaupt etwas zu sagen und uns damit auch selbst zum Ausdruck zu bringen. Gehen wir davon aus, daß es ein unstillbares Bedürfnis gibt, etwas und damit zugleich auch uns selbst zum Ausdruck zu bringen, dann zeigt sich in dieser Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit der kulturelle Grund für die Artikulationsgeschichte als einen schöpferischen Prozeß. Denn da in jede Artikulation die Andersheit der Form eingeht und damit eine Differenz zum und im Eigenen des selbst Artikulierten bestehen bleibt, bleibt auch eine Innenspannung bestehen, die niemals aufgelöst werden kann und zur neuen Artikulation, zum immer wiederholten Versuch weiter treibt, etwas und sich selbst zum Ausdruck zu bringen.
7 Das Eigene des Selbstseins und die Andersheit der Anderen Diese Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit zeigt sich in ihrem Bezug auf die Andersheit der Form zunächst in ihrem generischen, ihrem sozusagen anonymen Charakter. Wo und in welcher Form überhaupt eine Kultur sich hat entwickeln können, steht der Mensch der Andersheit der Form gegenüber, einer neutralen Andersheit, die als das Andere und nicht auch schon als der Andere oder die Anderen dem jeweiligen Individuum, einem individuellen Selbst, entgegentritt.
7.1 Die Andersheit der Anderen Die Andersheit der Anderen ist eine neue Form der Andersheit, die über die generelle Andersheit der Form hinausreicht. Durch die Arbeit an der Form im Umgang mit den Anderen, mit der Andersheit der Anderen, entsteht ein neues Sinnverhältnis und wird eine andere Form des Neuen erzeugt. Es ist dies eine Form des Neuen, die sich aus dem wechselseitigen Bezug zwischen dem Eigenen des Selbstseins und der Andersheit der Anderen ergibt und dadurch die Tendenz des Neuen zu einer interindividuellen, zu einer sozialen Dynamik macht. Kulturelle und soziale Verhältnisse werden damit im lebensweltlichen Handeln miteinander verschränkt. In der Form der Anderen tritt mir etwas Anderes entgegen als die bloße Andersheit der Form. In ihr treten mir die Anderen in ihrer Andersheit entgegen und schaffen damit eine Differenz, die mich anspricht, die in der körperlichen Realität dieser Ansprache
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mich in ein Verhältnis hineinzieht, das sich außerhalb meiner selbst realisiert, in dem ich nicht mehr nur Subjekt bin, sondern als Partizipant fungiere. Der Ausdruck, an dessen Form wir arbeiten, ist in seiner immanenten Entwicklung Ausdruck zur Welt hin. Er richtet sich an Andere, selbst wo diese, wie etwa bei Schriftstellern, nicht als individuelle Personen – und sei es auch nur in der Vorstellung – präsent sein müssen. Und ebenso verhält es sich in der Gegenrichtung des Ausdrucks: im Ausdruck der Anderen, die sich an mich wenden, die wie ich selbst auch zugleich etwas und sich selbst zum Ausdruck bringen. Die Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit gewinnt in dieser Sicht eine neue Dimension hinzu, nämlich die zwischen dem Eigenen des Selbstsein und der Andersheit des oder der Anderen. Diese Dimension verbleibt nicht in der Anonymität von Strukturen, sondern konkretisiert sich in den Situationen des Umgangs miteinander, in dem sich Personen begegnen und miteinander auseinandersetzen.
7.2 Der Mensch als Zwischensein Der wechselseitige Bezug von Selbst und Anderen charakterisiert den Menschen in einer besonderen Weise als ein Zwischensein. Schon das allgemeine Verhältnis des Selbstseins zur Andersheit der Form zeigt, daß wir den Menschen in seinem artikulierten Weltverhältnis nicht als einen reinen Produzenten, als rein erzeugendes Subjekt verstehen können. Wie darzustellen war, geht in das Eigene des Selbstseins das Andere der schon geformten Form immer mit ein. Der Prozeß, in dem sich das Selbstsein realisiert, ist ein Bezugs-Geschehen zwischen individuellem Artikulationswillen und kulturellem Formbestand. Das Selbst ist daher nicht ein bloß individuelles Innensein, sondern ein aus sich herausgehendes und die Außenformen der Artikulation aufnehmendes Zwischensein: ein Zwischensein, das im Grunde ortlos ist und sich nur in einer ständigen Verschränkung des Verschiedenen und Verweisung auf Anderes sozusagen hin und her bewegt. Die Rede vom Menschen als einem Zwischensein übernehme ich hier von Jens Heise, der darstellt, daß das Verständnis des Menschen als eines Zwischenseins in anderen Kulturen, wie insbesondere in der konfuzianischen und buddhistischen Tradition, von Anfang an den Blick auf den Menschen prägt. So wird etwa im Japanischen das Wort ningen für Mensch durch zwei Schriftzeichen wiedergegeben, eines für Mensch und eines für Zwischen.20 In unserer eigenen europäischen Tradition hingegen müssen wir bereits große Anstrengungen unternehmen, um diese grundlegende Sicht des Menschen als eines Zwischenseins überhaupt in eine sprachliche Form zu bringen. Mit dem Blick auf unsere zwischenmenschlichen Verhältnisse zeigt sich das Zwischensein des Menschen tatsächlich als eine Existenzform, wie Jens Heise formuliert, »zwischen Mensch und Mensch«21 und nicht nur zwischen individuellem ArtikulatiVgl. dazu Jens Heise: Präsentative Symbole. Elemente einer Philosophie der Kulturen – Europa und Japan, Sankt Augustin: Academia Verlag 2003, S. 191–195. 21 Ebd., S. 191. 20
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onswillen und kulturellem Formbestand. Und damit verkörpert sich das Zwischensein in den aktiven und reaktiven Bezugnahmen der Menschen aufeinander.
7.3 Der Mensch im Spiegel der Anderen Die Wirkungen dieser Bezugnahmen reichen tief in unser geistiges Leben hinein. So sehen wir uns immer auch und sogar oft mehr mit den Augen der Anderen als mit unseren eigenen, sehen – in der objektivierenden Einstellung des Beobachtens – die Anderen in vielen Hinsichten besser als uns selbst. Wer wir sind, das zu erkennen, bedarf immer auch des Spiegels der Anderen. Wir selbst werden so in unserem Selbstsein getragen oder auch fallengelassen von den Spiegelungen, die unser Sagen und Tun, unser Gegenwärtigsein oder auch Nichtdabeisein in den Anderen hervorruft. Unser Selbstsein ist so nie nur unsere Sache. Den Blick des Anderen uns gegenüber und der Anderen um uns herum – was übrigens einen großen Unterschied ausmacht – geht ein in unser Selbstsein. Das, was wir als unser Selbstsein ausmachen oder auch nur auszumachen vermeinen, ist so etwas wie ein durchgehaltener Grundakkord im Konzert vieler Stimmen, die auf uns eindringen. Über diesem Grundakkord bauen sich in den Verhältnissen zu Anderen Stimmungsund Meinungswechsel auf, gewinnen und verlieren wir Orientierungen, behaupten und bezweifeln wir die Richtung und die Richtigkeit dessen, was wir als unser Selbstsein der Welt darbieten und uns selbst gegenwärtig halten. Damit baut sich unser Selbstsein als ein Wechselspiel mit Anderen und zugleich als eine in diesem Wechselspiel entstehende Grundbefindlichkeit und Personalstilistik auf, in der Wechselndes und Bleibendes, Eigenes und Fremdes sich ineinander verschränken. In diesem Zwischensein unseres Lebens und Mitlebens gibt es keine endgültige Befestigung, kein endgültiges Verharren oder Bleiben bei dem, was geworden ist, was wir geworden sind. Trotz aller Eremitenträume und Seligkeitshoffnungen und wie stabil wir auch immer unser Selbstsein wahrnehmen und empfinden mögen: Wir sind und bleiben in diesem Selbstsein das schwankende und durchaus nicht ungefährliche »Seil«, das Nietzsche »zwischen Tier und Übermensch« geknüpft sieht22 und das in meiner Übersetzung zwischen dem Eigenen des Selbstseins und der Andersheit der Anderen gespannt ist. Paul Ricœurs Rede vom »Soi-même comme un autre«23 – in der deutschen Buchausgabe übersetzt als »Das Selbst als ein Anderer«24 – überträgt dieses Bild auf die Situation des Menschen zwischen den Menschen: Das, was unser Selbstsein ausmacht,
22 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Zarathustras Vorrede 4, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, 7. Aufl., München: Carl Hanser 1973, S. 281. Vgl. zum Ganzen auch Annemarie Pieper: »Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch«. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem »Zarathustra«, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 63–69. 23 Paul Ricœur: Soi-même comme un autre, Paris: Edition du Seuil 1990. 24 Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, München: Wilhelm Fink 1996.
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ist auf der einen Seite durchwirkt von den Bildern, die die Anderen uns von uns in ihrem Verhalten uns gegenüber zeigen, und ist auf der anderen Seite unsere Haltung gegenüber den Anderen, gleichsam unser Fragen an sie und Antworten auf sie und ihr Verhalten. Am ehesten scheint die bereits benutzte Metapher des Spiegels dieses Verhältnis darstellbar zu machen: Unser Selbstsein entwickelt sich in den Spiegelungen, die wir von den Anderen erfahren. Wir bilden uns zu unserem Selbst in unseren Reaktionen auf diese Spiegelungen, die auf diese als die Andersheit der Anderen in das Eigene unseres Selbstseins eingehen – und in diesem Sinne Ricœurs Reden von dem Selbst als einem Anderen rechtfertigen. 7.4 Die Anderen und das Neue Dieses Andere, die Andersheit der Anderen, ist gegenüber dem Eigenen des Selbst ein Neues. Es ist dies ein ständig auf uns eindringendes Neues, aber keines, das uns zwingt, selbst auf es in einer neuen Weise zu reagieren. Es ist ein Neues im Sinne einer Herausforderung und eines Angebots. Wir können durchaus versuchen, den wechselvollen Auftritten der Anderen und darin des immer wieder Anderen und Neuen durch ein Beharren auf dem Selben zu begegnen und damit in der Verfestigung unserer Selbigkeit zu verbleiben und darin unser Selbstsein zu leben.25 Eine solche Form des Beharrens auf Selbigkeit käme allerdings einer Totenstarre im geistigen Leben gleich und würde unserem Bedürfnis, etwas und damit zugleich auch uns selbst zum Ausdruck zu bringen, nicht entsprechen. Das sich Einlassen auf das Neue, das uns in unseren vielfachen Bezügen auf die Anderen und deren Andersheit entgegentritt, läßt uns auch das immer wieder Neue in uns selbst, in unserem Selbstsein erfahren. Und dieses Selbstsein, das sich auf das Neue einläßt, kann sich durchaus in einer gleichwohl sich durchhaltenden Selbigkeit, nämlich in einer im Wechsel sich bewährenden Selbigkeit der Weiterentwicklungen, in einer Selbigkeit der eigenen Lebensgeschichte ausbilden. Das Neue ergibt sich hier als eine Tendenz, die sich aus dem Willen zum Selbst, zu einem Eigenen des Selbstlebens, zu einer eigenen Geschichte unseres Lebens in dessen sozialer und kultureller Verfassung – also in seinem Bezug auf die Andersheit der Anderen und die Andersheit der Form – entwickelt.
8 Die Andersheit der anderen Kulturen im Selbstsein der eigenen Kultur Noch eine dritte Form von Andersheit mag angeführt werden, in der sich das Neue als Kulturtendenz zeigt. Es ist dies die Andersheit der anderen Kulturen. Auch zwischen den Kulturen, so scheint mir, können wir vom Neuen als einer übergreifenden Kulturtendenz, als einer Tendenz auch zwischen den Kulturen reden.
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Vgl. zu dieser »Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit« ebd., Sechste Abhandlung, S. 173–206.
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8.1 Die innere Vielfalt im Selbstsein einer Kultur Auch hier mag die Dialektik von Selbstsein und Andersheit, von Identität und Differenz die Folie der Darstellung liefern. Die Dialektik von Selbstsein und Andersheit im Verhältnis verschiedener Kulturen zueinander ergibt sich aus einer schärferen und jedenfalls anderen Polarität als sie zwischen den Individuen in einer Kultur besteht. Bieten doch Kulturen als Inbegriff der in der Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen den Rahmen, innerhalb dessen die Individuen sich artikulieren und damit ihr Selbstsein gewinnen und ihre Andersheit sich entwickelt. Dabei ist zu sehen, daß der kulturelle Rahmen für das individuelle Selbstsein durchaus nicht »einfältig« ist. Denn in die meisten Kulturen haben viele und zum Teil gegensätzliche Einflüsse hineingewirkt, und aus ihnen sind viele und zum Teil gegensätzliche Impulse hervorgegangen. Kulturen weisen daher gewöhnlich ein komplexes und innerlich vielfältiges »Selbstsein« auf, das verschiedene und möglicherweise auch gegensätzliche Orientierungen ermöglicht. Gleichwohl ist es so, daß wir nur dann überhaupt von einem kulturellen Zusammenhang, also einer Kultur reden können, wenn diese Vielfalt eine Vielfalt wechselseitig verständlicher, wenn auch damit nicht schon wechselseitig geschätzter oder auch nur gebilligter Ausdrucks- und damit Lebens- und Handlungsformen ist. Trotz aller Spannungen, die damit entstehen und auch zu heftigen Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Individuen, sondern zwischen verschiedenen, nämlich kulturell verschieden positionierten und geprägten, Gruppen führen, verbleiben diese Differenzen in einem umgreifenden kulturellen Verstehenszusammenhang, der Andere zwar zu Gegnern macht, aber eben zu Gegnern, die man versteht oder zu durchschauen glaubt.
8.2 Die Anderen und die Fremden Gegenüber diesem intrakulturellen Verhältnis fehlt dem interkulturellen Verhältnis von Selbstsein und Andersheit, so scheint es zumindest vielfach, ein übergreifender Verstehenszusammenhang. Denn wenn wir nicht mehr über die Andersheit der Anderen im eigenen kulturellen Umfeld reden, sondern über die Andersheit anderer Kulturen, wird uns der Orientierungsrahmen genommen, der uns die Anderen auch in ihrer Andersheit und selbst als Gegner noch verstehen läßt. Aus den Anderen werden Fremde, die in vielen Fällen nicht einmal Gegner, Gegenspieler auf gegensätzlichen Positionen in einem gemeinsamen Spannungsfeld, werden können. Wo die elementare Gemeinsamkeit fehlt, die durch eine gemeinsame Kultur geschaffen und erhalten wird, erscheint uns jemand fremd, dem wir oft – zumindest zunächst – mit einer gewissen Verständnislosigkeit und vielfach auch mit Interesselosigkeit begegnen. Tatsächlich müssen solche Begegnungen nicht die Fremdheit des ersten Augenblicks verfestigen und das Verstehen auch des Fremden ein für allemal vereiteln. Wenn die Unterstellung von Sinn und eine offene Neugier sich zu einem Verstehenwollen miteinander verbinden und dazu eine durch Wissen gestützte Phantasie und genaue Beobachtung
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den Blick für Sinnzusammenhänge auch in der anderen Kultur schärfen,26 dann kann sich auch ein Verstehen des Fremden entwickeln. Auch dieses Fremde der anderen Kultur ist ja ein Ergebnis menschlichen Handelns, ein historisch entstandener Sachverhalt, in dessen Entwicklungslinien die Menschen die geworden sind, die sie nun sind. Und da dies für jede Kultur gilt und damit auch jeder Mensch in einer kulturellen Existenzform sich entwickelt, sind andere Kulturen als menschliche Sinnverhältnisse im Prinzip auch für andere Menschen aus anderen Kulturen in ihrem Sinn zugänglich.
8.3 Möglichkeiten der Instrumentalisierung kultureller Traditionen Natürlich gibt es hier unterschiedliche Grade der Zugänglichkeit. Aber keine Kultur ist zwangsläufig für Andere aus einer anderen Kultur verschlossen. Dies folgt schon aus dem Charakter der Kulturen als historischer Gebilde. Deutlicher zeigt sich dies aber noch in dem bereits dargestellten Verhältnis von Andersheit und Neuem. Eine Tendenz zum Neuen ergibt sich in der Arbeit an der Form – genauer: an der Andersheit der Form – und in der Auseinandersetzung mit der Andersheit der Anderen. Damit finden wir aber schon in unserem Selbstsein Formen unaufgelöster Andersheit, die uns in unbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten hineinführen, in ein ständiges Anderswerdenkönnen. Als Form der Lebensführung mögen diesem Anderswerdenkönnen – schon aus Gründen der eingeschränkten physischen, psychischen und sozialen Realisierbarkeit – durchaus Grenzen gesetzt sein. Für unsere gedankliche Arbeit jedoch gilt weiterhin, daß all das möglich ist, was überhaupt in irgendeiner Weise artikuliert werden kann. Und dies ist jedenfalls das, was de facto artikuliert worden und damit im Prinzip für unser Sinnverstehen zugänglich ist. Die Geschichte zeigt uns, daß ein solches Verstehen des Fremden nicht selbstverständlich gelingt oder auch nur zu erreichen versucht wird. Aber dies erklärt sich nicht nur aus rein kulturellen Differenzen. Wenn es wahr ist, daß das Neue als Kulturtendenz verstanden werden kann, dann sind Kulturen aus sich selbst heraus keine statischen, ein für allemal festgelegten und kanonisierten Gebilde. Die Kanonisierung einer Kultur, die Festschreibung auf wörtliche Befolgung,27 wird gewöhnlich durch nicht rein kulturelle Eingriffe herbeigeführt wie durch die Sanktionierung von Abweichung durch Machtmittel.28
26 Hier läßt sich Alexander von Humboldt anführen, der diese offene Neugier, durch Wissen gestützte Phantasie und genaue Beobachtung auf seiner Reise durch die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents (hg. von Ottmar Ette, 5. Aufl., Frankfurt/M.: Insel 2004), aber auch in seinen anderen Werken auf eindrucksvolle – wenn auch durchaus einem europäischen, von der Kultur des klassischen Griechenlands her entwickelten Verständnis verpflichteten – Weise in ihrer Fruchtbarkeit für das Verständnis anderer Kulturen zeigt. Zu Humboldts selbst erwähnten »Blick mit europäischen Augen« vgl. das Nachwort von Ottmar Ette in: ebd., S. 1583–1588. 27 Zum »Prinzip der Wörtlichkeit« vgl. Oswald Schwemmer: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München: Wilhelm Fink 2005, S. 268 f. 28 Der Einsatz dieser Machtmittel kann allerdings auch durch die Radikalisierung kultureller
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Wir finden solche Praktiken immer wieder in der Geschichte. Die Legitimation durch eine kulturelle Tradition, auf der man in wörtlicher Befolgung besteht, wird in solchen Fällen instrumentalisiert, um die eigenen politischen oder ökonomischen Interessen durch eine kulturelle Umkleidung zu überhöhen und als Bewahrung der gegebenen Ordnung umzudefinieren. Der Rückgriff auf kulturelle Traditionen ist für solche Instrumentalisierungen darum besonders wirksam, weil er ein Rückgriff auf selbstverständlich gewordene Unterstellungen und damit auf Einstellungen und Überzeugungen ist, die von den Menschen selber meist nicht nur nicht problematisiert, sondern auch nicht einmal als problematisierbar thematisiert werden. Beispiele für solche politischen oder ökonomischen Instrumentalisierungen finden wir in der Geschichte, aber auch in unserer gegenwärtigen Situation genug. Dabei ist ein prominentes Beispiel die haßschürende Nutzung einer von Haus aus eher liberalen Kultur wie der des Islams. Vergleicht man etwa die christliche Missionierungsgeschichte mit der Ausbreitung der islamischen Kultur, wird man vielen christlichen Missionierungen eine Unterdrückung und sogar Auslöschung indigener Kulturen attestieren müssen,29 die es so im jeweils zeitgenössischen Islam nicht gegeben hat. Dabei ist allerdings zu sehen, daß die christliche Missionierung vielfach auch mit politischen Interessen, Macht- und Gebietsinteressen verbunden, tatsächlich aber einer der wenigen Fälle war, in denen eine bestimmte Form kultureller Motive zur Unterdrückung und Auslöschung der missionierten Kulturen führte. Die Überzeugung, daß nur der eine wahre Gott und der eine wahre Glaube, wie er durch die Kirche verwaltet wurde, den Menschen das Seelenheil bringen könnte, ließ offensichtlich bei vielen Missionaren keinen Zweifel daran aufkommen, daß man die zu missionierenden, weil ungläubigen Menschen auch gegen ihren Willen bekehren müsse. Daß sich andererseits diese Haltung nicht zwangsläufig aus den religiösen Motiven des Christentums ergab, zeigen Missionen, die – wie bei den Jesuiten in China – die christliche Lehre mit den Traditionen der anderen Kultur zu verbinden versuchten.
Ansprüche, und zwar in deren Steigerung zur Einzigkeit und Ausschließlichkeit, begründet sein. Eine solche Radikalisierung setzt aber eine kulturelle Selbstbeurteilung in einer über die »Logik der Praxis« hinausgehenden begrifflichen Dogmatisierung voraus, die sich eben durch ihre explizite Begründungsform auch zugleich einer ebenso expliziten Kritik aussetzt. Damit erscheint eine rein kulturell fundierte Zwangsläufigkeit einer Entwicklung zum totalen Ausschluß anderer Kulturen ihrerseits ausgeschlossen. 29 Ich denke hier etwa an die gut dokumentierten Missionierungen der Indianer in Südamerika. So haben z. B. die in ihren Dokumentationszentren heute noch als hilfreiche Kulturvermittler präsentierten Salesianer in Patagonien und Feuerland den Indianern die weitere Benutzung ihrer eigenen Sprache als Sünde dargestellt und verboten, sie in europäische (getragene) Kleidung gesteckt und dadurch – da das Immunsystem der Indianer den Krankheitskeimen in den Kleidern nicht gewachsen war – ein Massensterben verursacht. Ich verkenne zugleich nicht, daß es auch immer wieder Ausnahmen – ebenfalls aus dem Geist des Christentums heraus – gegeben hat.
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8.4 Die Wahrnehmung und Achtung der Fremden als Andere Entscheidend für eine Öffnung gegenüber einer anderen Kultur, auch wenn man sie als der eigenen unterlegen ansehen mag, ist die Wahrnehmung und Achtung der Menschen in einer anderen Kultur als andere Menschen: als Menschen wie man selbst, als Andere, die für uns selbst ein Spiegel sein können, in dem sich unser Selbstsein auf neue Weise entwickelt. Bemerkenswert erscheint dabei, daß ein Hindernis für eine solche Wahrnehmung und Achtung die äußere Erscheinung und das äußere Verhalten der Menschen in anderen Kulturen ist: ihr anderes Aussehen, ihre andere oder mangelnde Kleidung, die andere Form ihrer Äußerungen usw. Die entsprechenden Reisebeschreibungen geben hier ein lebhaftes Bild dieser Einschätzung des Äußeren der anderen Menschen. Gerade hier zeigt aber die Geschichte, daß die immer häufigeren Begegnungen zwischen den Kulturen diese Urteile »nach dem ersten Anschein«, wo sie denn überhaupt noch vorzufinden sind, in ihrer Bedeutung marginalisiert hat.
8.5 Die Aufnahme von Elementen anderer Kulturen in der eigenen Kultur Auch wenn es in jeglicher Kultur Elemente der Befestigung im Selben gibt – und dies schon deshalb, weil Kultur Formbildung ist und nicht nur Ereignis, Verstetigung und nicht nur Fließen –, verliert sie dadurch nicht ihre Tendenz zum Neuen. Denn die Andersheit der Form schafft eine Differenz in der Artikulation, in der Formbildung selbst, die auch das Selbstsein einer Kultur durchwirkt und es aus der in sich differenten Struktur dieses Selbstsein heraus für die Andersheit der anderen Kulturen öffnet. Es scheint daher, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, eine geradezu »natürliche« Tendenz von Kulturen zu sein, Elemente anderer Kulturen in sich aufzunehmen. In diesem Prozeß verbleiben diese Elemente allerdings nicht so, wie sie sich in diesen anderen Kultur ausgebildet haben. Vielmehr bedeutet die Aufnahme eines Fremden in das Eigene der Kultur auch dessen Umwandlung zu einem Impuls im Eigenen. Verändern doch schon die anderen Kontexte der eigenen Kultur eine Umwandlung des Fremden in einen Teil des neuen Eigenen. Aneignung heißt hier schöpferische Verformung, heißt produktives Mißverständnis. Das neue Moment aus einer anderen Kultur kann in den neuen Kontexten neue Funktionen übernehmen und – z. B. durch die Umgewichtung seiner Bedeutungsakzente – eine andere Struktur gewinnen. Diese spannungsvolle Einfügung des Anderen im Eigenen ist eine besondere Quelle für die Entstehung des Neuen auch im kulturellen Rahmen der menschlichen Existenzform.
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KOLLOQUIUM 12 Kreativität im Denken Albert Einsteins [Kooperation mit BMBF und MPG im Rahmen des Einstein-Jahres]
Martin Carrier Schöpfung durch begriffliche Verbindung und theoretische Ausarbeitung: Modi der Kreativitätsentfaltung bei Albert Einstein Peter Mittelstaedt Einsteins Kritik an der Quantenmechanik
Schöpfung durch begriffliche Verbindung und theoretische Ausarbeitung: Modi der Kreativitätsentfaltung bei Albert Einstein Martin Carrier (Bielefeld)
1. Mechanismen der Innovation Die Innovationsleistungen Albert Einsteins eignen sich besonders gut für die Identifikation von Bedingungen kreativen Voranschreitens. Zunächst gehörte Einstein ohne Zweifel zu den schöpferisch aktivsten Menschen seit der Morgendämmerung der Kultur. Darüber hinaus hat Einstein seine Neuerungen auf jeweils verschiedenartige Weisen konzipiert. Es ist ja wenig damit gesagt, wenn man Einstein als Genie bezeichnet. Das ist zwar richtig, erklärt aber nichts. Anders als es die deutsche Romantik glaubte, muß menschliche Schöpferkraft kein Mysterium bleiben, eine Gabe, die den Lieblingen der Götter verliehen wird und die das menschliche Verständnis übersteigt. Vielmehr erschließt sich Innovationskraft durchaus der Analyse. Ein hierfür geeignetes Verfahren besteht darin, die kreativen Wege großer Neuerer nachzuvollziehen und auf verallgemeinerungsfähige Schritte zu prüfen. Natürlich zählt es zu den generellen Vorbedingungen von Innovativität, die vorgefundenen Gedankenstrukturen nicht als naturgegeben, zwangsläufig und unveränderlich hinzunehmen, sondern sie als Schöpfungen des menschlichen Geistes und Ergebnis menschlicher Phantasie zu begreifen. Gerade Einstein hat auf diese Vorbedingung hingewiesen (Einstein 1930, S. 113). Wer Neues entdecken will, darf nicht an die Invarianz des Alten glauben. Aber dabei handelt es sich nur um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung; ihre Erfüllung öffnet noch keinen Weg zur kreativen Neuerung. Ich will aus der Untersuchung von Denk- und Vorgehensweisen Einsteins zwei übergreifende Mechanismen schöpferischer Entfaltung entwickeln: die Innovation durch Verknüpfung von zuvor Getrenntem und die Innovation durch Ausloten von Konsequenzen. Der erste Fall bringt eine traditionelle Vorstellung von Innovativität zum Ausdruck: Schaffen heißt Verbinden. »Créer c’est unir« ist eine im frankophonen Raum geläufige Weisheit. Im zweiten Fall liegt die Betonung nicht auf dem Anfangspunkt, sondern auf dem Weg zum Endpunkt. Anders als beim ersten Typ sind die Prämissen häufig nicht überraschend. Vielmehr wird ein dem Inhalt nach eher geläufiger Satz zum Ausgangspunkt einer neuartigen Kette von Schlußfolgerungen gemacht, an deren Ende zuvor Ungeläufiges auftaucht. So spricht Einstein davon, daß die »Entwicklung der Folgerungen … oft ungeahnte Zusammenhänge liefert, welche über das Tatsachengebiet, an dem die Prinzipe gewonnen sind, weit hinausreichen« (Einstein 1914, S. 111). Der wesentliche Schritt besteht hier darin, sich auf einen scheinbar herkömmlichen Grundsatz gleichsam einzulassen und mit Hartnäckigkeit dessen Folgerungspotential auszulo-
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ten. Durch die Verfolgung dieser Konsequenzen treten unter Umständen Bedingungen und Ansprüche hervor, die den Kreis des zuvor Akzeptierten klar überschreiten.1 Einsteins Innovationsleistungen sind nicht zuletzt deshalb für das Studium menschlicher Kreativität besonders geeignet, weil sein Denken Beispiele für beide Mechanismen enthält. Sie kommen gemeinsam bei der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie zum Tragen, der zweite Mechanismus steht bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie im Vordergrund. Das Studium von Einsteins Neuerungen verspricht Einsichten in die Beschaffenheit menschlicher Kreativität generell.
2. Die Konzeption der speziellen Relativitätstheorie und die Tradition der Elektrodynamik Einsteins bahnbrechende Arbeit zur »Elektrodynamik bewegter Körper« aus dem Jahre 1905 stellt zwei Grundsätze an den Anfang, das später so genannte spezielle Relativitätsprinzip und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Das spezielle Relativitätsprinzip sieht vor, daß alle geradlinig-gleichförmig bewegten Beobachter in jedweder physikalischen Hinsicht gleichberechtigt sind. Für mechanische Vorgänge war dies bereits von Galileo Galilei und systematischer von Isaac Newton ausgesprochen worden. Einsteins Erweiterung betraf elektromagnetische Prozesse wie die Lichtausbreitung. Auch solche Prozesse sollten keine Möglichkeit für die Feststellung eröffnen, ob ein Beobachter sich in Ruhe befindet oder eine geradlinig-gleichförmige Bewegung ausführt. Allein Bewegungen relativ zu anderen Körpern oder Beobachtern sind der Erfahrung zugänglich. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit besagt, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts unabhängig von der Geschwindigkeit der Lichtquelle ist. Ob sich eine Lampe bewegt, ist für die Geschwindigkeit des von ihr ausgesendeten Lichts ohne Belang. Dieser Sachverhalt folgt aus der traditionellen Elektrodynamik; es handelt sich nicht um ein neuartiges Postulat. Einsteins These lautet, daß die Beschränkung auf Relativbewegungen dann zur Annahme fester Geschwindigkeitswerte paßt, wenn man Urteile über die Gleichzeitigkeit entfernter Ereignisse jeweils auf den Bewegungszustand eines Beobachters bezieht und damit zuläßt, daß unterschiedlich bewegte Beobachter auch unterschiedliche Urteile über solche Gleichzeitigkeitsbeziehungen abgeben (Einstein 1917, S. 19–20; Einstein 1919, S. 129). Diese so genannte Relativität der Gleichzeitigkeit erlaubt eine harmonische Zusammenführung der beiden Grundsätze und wird ihrerseits auf eine operationale Bestimmung des Gleichzeitigkeitsbegriffs gestützt. Danach wird die Gleichzeitigkeit entfernter Ereignisse durch die Synchronisierung von Uhren mittels der Aussendung von Lichtsignalen bestimmt. Ich werde zunächst diese skizzenhaften Bemerkungen zu Einsteins Vorgehensweise mit etwas mehr Inhalt füllen und im zweiten Schritt die Denkweise von Hendrik LoEs versteht sich, daß beide Modi der Kreativität auch im Tandem auftreten können. Ein unerwartetes Folgerungspotential wächst einem Satz dann durch Verknüpfung mit anderen Sätzen zu. 1
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rentz und Henri Poincaré als den führenden Vertretern des herkömmlichen Theorieansatzes mit dieser Vorgehensweise kontrastieren. Dadurch treten die Weggabelungen klarer hervor, an denen Einstein von den gebahnten Pfaden der Tradition abwich. Im nächsten Abschnitt werde ich diese Einsteinsche Innovationsleistung begrifflich einzugrenzen und inhaltlich zu bestimmen suchen. Anders als es im Rückblick scheinen mag, stellte das spezielle Relativitätsprinzip keineswegs eine naheliegende Verallgemeinerung des auf die Mechanik beschränkten oder Galileischen Relativitätsprinzips dar. Die Elektrodynamik der Zeit schien vielmehr eine Möglichkeit für die Ermittlung absoluter Geschwindigkeiten bereitzustellen. Die Lichtgeschwindigkeit sollte nämlich mit Bezug auf den als ruhend angenommenen Lichtäther eine feste Größe darstellen. Die Folge ist, daß unterschiedlich bewegte Beobachter unterschiedliche Werte der Lichtgeschwindigkeit ermitteln sollten. Ein mechanisches Analogon ist, daß ein mit konstanter Geschwindigkeit geworfener Ball eine je nach Geschwindigkeit des Auffangenden unterschiedliche Auftreffgeschwindigkeit besitzt. Wer dem Ball entgegen eilt, wird härter getroffen. Aus der Messung der Auftreffgeschwindigkeit läßt sich entsprechend die Geschwindigkeit des Fängers ermitteln. Der Vorteil der elektrodynamischen Situation ist, daß die Lichtgeschwindigkeit mit Bezug auf den Äther für beliebig bewegte Lichtquellen übereinstimmt und damit einen festen Referenzwert für Geschwindigkeiten bildet. Dieser Referenzwert ist aus elektromagnetischen Kenngrößen ermittelbar. Folglich sollte man aus der Abweichung des gemessenen Werts von diesem Referenzwert auf den Bewegungszustand des Beobachters schließen können. Es sollte also möglich sein, die Geschwindigkeit eines Beobachters gegen den Äther zu messen, seine »absolute Geschwindigkeit«. Eine Serie von Experimenten, die von Albert Michelson und Edward Morley in den 1880er Jahren ausgeführt worden war, hatte dagegen unter Beweis gestellt, daß eine solche Messung scheitert. Der Meßwert für die Lichtgeschwindigkeit stimmt für verschieden bewegte Beobachter überein. Es ist diese Sachlage, auf die Einstein 1905 mit den beiden genannten Grundsätzen reagiert, dem Relativitätsprinzip und der Annahme der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die »mißlungenen Versuche, eine Bewegung der Erde relativ zum Lichtmedium zu konstatieren, führen zu der Vermutung, daß … für alle Koordinatensysteme, für welche die mechanischen Gleichungen gelten, auch die gleichen elektrodynamischen und optischen Gesetze gelten … Wir wollen diese Vermutung (deren Inhalt im folgenden ›Prinzip der Relativität‹ genannt werden wird) zur Voraussetzung erheben und außerdem die mit ihm nur scheinbar unverträgliche Voraussetzung einführen, daß sich das Licht im leeren Raum stets mit einer bestimmten, vom Bewegungszustande des emittierenden Körpers unabhängigen Geschwindigkeit V fortpflanze« (Einstein 1905, S. 26). Diese beiden Grundsätze zusammen genommen führen auf die neuartige Folgerung der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts nimmt für beliebig bewegte Beobachter den gleichen Wert an. Dann gibt es nämlich keine Geschwindigkeitsdifferenzen, die die Ermittlung der absoluten Bewegung des Beobachters ermöglichen würden. Andererseits klingt diese Invarianzbehauptung widersinnig. Sie hat schließlich zur Folge, daß ein Beobachter, der einem Lichtstrahl mit hoher Geschwindigkeit nacheilt, den gleichen Meßwert von c = 300.000 km / s erhält,
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wie ein Beobachter, der dem Lichtstrahl entgegenrast. Eine solche Behauptung steht im Gegensatz zur üblichen Vorstellungswelt wie auch zu den Prinzipien der klassischen Mechanik. Einsteins Auflösung dieses durch seinen Gedankengang aufgeworfenen Paradoxons besteht in der angedeuteten Relativität der Gleichzeitigkeit, also der begrifflichen Bindung von Urteilen über die Gleichzeitigkeit entfernter Ereignisse an Bewegungszustände von Beobachtern. Was dem einen Beobachter als gleichzeitig gilt, findet für den anderen Beobachter zu verschiedenen Zeiten statt. Dem Anschein nach wird dadurch das Paradoxe aber nur um den Preis des Absurden vermieden. Einstein steht entsprechend vor der Herausforderung, diese Aufgabe der objektiven, beobachterübergreifenden Gleichzeitigkeitsbeziehung plausibel zu machen. Dafür greift er auf die operationale Bestimmung des Gleichzeitigkeitsbegriffs zurück. Die Bedeutung des Begriffs der Gleichzeitigkeit wird über die Möglichkeiten der Ermittlung von Gleichzeitigkeitsbeziehungen bestimmt. Das von Einstein hier in den Mittelpunkt gerückte Verfahren sieht die Synchronisierung von Uhren durch Aussendung von Lichtstrahlen vor (Einstein 1905, S. 27–29).
Figur 1: Synchronisierung von Uhren durch Lichtstrahlen
Wenn man zwei entfernte Uhren an den Orten B und C miteinander synchronisieren will, sendet man vom Mittelpunkt A zwei Lichtsignale aus und stellt bei deren Eintreffen die beiden Uhren auf den gleichen Zahlenwert.
Figur 2: Relativität der Gleichzeitigkeit
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Dieses Verfahren führt bei der Übertragung auf bewegte Uhren zu Eigentümlichkeiten, die ich anhand einer Variation von Einsteins »Paradoxon der Blitze« vorstelle (Einstein 1917, S. 24–25). Stellen Sie sich einen Zug vor, der sich mit hoher Geschwindigkeit gegen den Bahndamm bewegt. An beiden Enden des Zuges ist jeweils eine Uhr angebracht, und die Aufgabe besteht darin, diese beiden Uhren miteinander zu synchronisieren. Zu diesem Zweck plaziert man eine Lampe auf dem Bahndamm, die gerade in dem Augenblick, in welchem sie sich auf gleicher Höhe mit der Zugmitte befindet, einen Lichtblitz aussendet. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Lampe demnach in gleicher Entfernung von beiden Uhren, sodaß das soeben beschriebene Verfahren zur Synchronisierung entfernter Uhren zur Anwendung gebracht wird. Aus dem Blickwinkel der Zugreisenden verläuft die Synchronisierung der Uhren denn auch ohne Probleme, nämlich gerade wie im zuvor geschilderten Fall. Zwar befindet sich die Lampe relativ zum Zug in Bewegung, sie sendet aber zum richtigen Zeitpunkt und vom richtigen Ort aus ihren Lichtblitz ab. Anschließend bewegt sich die Lampe zwar weiter fort, aber diese Bewegung nach der Lichtaussendung ist für die Angemessenheit der Synchronisierung ohne Belang. Hingegen erscheint vom Bahndamm aus gesehen diese Prozedur in wesentlicher Hinsicht fehlerhaft. Aus diesem Blickwinkel hat sich nämlich der Zug während der Laufzeit der Lichtsignale voranbewegt, sodaß der Lichtstrahl eher am hinteren Ende als am vorderen Teil eintrifft. Aufgrund der Eigenbewegung des Zugs ist der Ausgangspunkt der Signale zum Zeitpunkt der Ankunft an den Uhren eben nicht mehr gleich weit von beiden Uhren entfernt. Von der Warte des Bahndamms aus betrachtet, synchronisieren die Reisenden ihre Uhren demnach auf fehlerhafte Weise. Das spezielle Relativitätsprinzip bringt aber die Gleichberechtigung aller geradliniggleichförmig bewegten Beobachter zum Ausdruck und läßt daher kein Urteil des Inhalts zu, die Zugfahrer ermittelten ihre Gleichzeitigkeitsbeziehungen auf unzutreffende Weise. Beide Bestimmungen müssen als adäquat gelten, und da sich die darauf gegründeten Urteile über Gleichzeitigkeitsbeziehungen unterscheiden, bleibt nur der Ausweg, entfernte Gleichzeitigkeit begrifflich an den Bewegungszustand von Beobachtern zu binden. Diese Relativität der Gleichzeitigkeit besagt, daß Gleichzeitigkeitsbeziehungen stets relativ zum Bewegungszustand des Beobachters sind. Unterschiedliche Beobachter geben hier zu Recht unterschiedliche Urteile ab. Damit Einsteins Innovationsleistungen klarer hervortreten, will ich seinen Ansatz mit der am weitesten vorangetriebenen Fassung der herkömmlichen Elektrodynamik kontrastieren. Diese stammt von Lorentz und, ausgehend von dessen Ergebnissen, von Poincaré. Beide fanden auf dieser traditionellen Grundlage wichtige empirische Resultate der speziellen Relativitätstheorie oder nahmen diese zum Teil sogar vorweg. Allerdings wich ihre Interpretation dieser Resultate wesentlich von derjenigen Einsteins ab. Zunächst war es Poincaré, der bereits 1898 die Ermittlung von Gleichzeitigkeitsbeziehungen auf den Austausch von Lichtsignalen stützen wollte (s. u. Abs. 3) und der 1904 erkannte, daß die Anwendung dieses Verfahrens auf bewegte Beobachter zu unterschiedlichen Urteilen über Gleichzeitigkeitsbeziehungen führt. Im selben Jahr arbeitete Poincaré heraus, daß keiner dieser Beobachter seine absolute Geschwindigkeit oder
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seine Bewegung gegen den Äther ermitteln kann. Bei der genannten Festlegung von Gleichzeitigkeitsbeziehungen ergibt sich das so verstandene Relativitätsprinzip als ein Theorem der Elektrodynamik (Carrier 2005, Abs. 3). Dieser Übereinstimmung der Ergebnisse stehen tiefgreifende Unterschiede in deren Deutung gegenüber. Poincaré hielt an der Auffassung der herkömmlichen Elektrodynamik fest, daß der wahre Wert der Lichtgeschwindigkeit allein von dem im Äther ruhenden Beobachter korrekt gemessen wird. Beobachter in Bewegung gegen den Äther haben es der Sache nach mit abweichenden Werten für die Lichtgeschwindigkeit zu tun; diese Unterschiede kommen aber aufgrund von Störungen bei der Ermittlung dieses Wertes nicht zum Tragen. Zwar ergibt sich die richtige Gleichzeitigkeitsbeziehung allein für einen ruhenden Beobachter; aber niemand kann wissen, welcher Beobachter wahrhaft ruht. Bei Poincaré war das Relativitätsprinzip demnach rein epistemisch, also als Erkenntnisgrenze gemeint. In der Natur gibt es durchaus privilegierte Bezugssysteme und absolute Bewegungen. Diese bleiben jedoch dem menschlichen Zugriff verschlossen (Poincaré 1905, S. 188–189; Poincaré 1909, S. 10). Einstein sah das anders. Er betrachtete erstens das Relativitätsprinzip nicht als Theorem wie Poincaré, sondern führte es als Prämisse ein (wie aus Einsteins zuvor zitierter Einführung des Prinzips erkennbar). Es wurde ohne jeden Herleitungsversuch als Postulat an die Spitze der Theorie gestellt. Zweitens wollte Einstein seine Geltung nicht auf die bloße Kenntnis von Bewegungszuständen beschränkt wissen. Die Relativität der Gleichzeitigkeit bindet Gleichzeitigkeitsbeziehungen begrifflich an den Bewegungszustand von Beobachtern und schließt daher jedwede Privilegierung eines solchen Bewegungszustands in der Sache von vornherein aus. Nun wird die Relativität der Gleichzeitigkeit (wie gesagt) zunächst widersinnig scheinen. Eine Definition entfernter Gleichzeitigkeit, die Gleichzeitigkeitsbeziehungen zwischen Ereignissen begrifflich an die jeweiligen Bewegungszustände bindet, wirkt sicher wenig plausibel. Die kontraintuitive Relativität könnte als Einwand gegen Einsteins begriffliche Bestimmung gelten. Man wird daher vielleicht vermuten, daß Einstein stützende Daten zu deren Gunsten anführen konnte, die die Überlegenheit seiner Interpretation gegen Poincarés Festhalten an einer wahren Gleichzeitigkeitsbeziehung verbunden mit der Annahme von Störungen des Meßprozesses begründeten. Aber solche Daten standen Einstein nicht zur Verfügung. Das erste Experiment, das geeignet war, die Überlegenheit der speziellen Relativitätstheorie gegen Poincarés Fassung der herkömmlichen Elektrodynamik auch empirisch zu stützen, war das sog. Kennedy-Thorndike-Experiment, das zuerst 1932 ausgeführt wurde. Aber zu diesem späten Zeitpunkt war die spezielle Relativitätstheorie überhaupt nicht mehr fraglich. Ähnlich wie beim Foucaultschen Pendel, das 1850 die Drehung der Erde endlich unter Beweis stellte, kam auch das scheinbar entscheidende Kennedy-Thorndike-Experiment zu einem Zeitpunkt, als alles bereits entschieden war. Dies führt auf die Frage, aus welchen anderen Gründen denn Einstein auf die operationale Definition der Gleichzeitigkeit setzte – trotz ihrer scheinbar absurden Konsequenzen. Noch wichtiger ist die Frage, warum die wissenschaftliche Gemeinschaft Einstein auf diesem Wege folgte und seine Festlegung so schnell und einmütig akzeptierte.
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3. Operationalismus, die Technologie der Epoche und Einsteins kreativer Sprung Die von Einstein benutzte operationale Definition des Gleichzeitigkeitsbegriffs durch Rückgriff auf die Signalsynchronisierung von Uhren geht (wie erwähnt) auf Poincaré zurück. Poincaré hatte 1898 die Benutzung telegraphischer Signale für die Synchronisierung entfernter Uhren empfohlen, diesen Vorschlag aber nicht als neuartig eingestuft, sondern als »die Definition, die implizit von allen Wissenschaftlern angenommen wird« (Poincaré 1898, S. 11). Peter Galison hat kürzlich den gewaltigen technologischen Hintergrund dieses Urteils ausgeleuchtet. Die Standardisierung von Zeitangaben durch die Synchronisierung von Uhren zählte zu den wichtigen technischen Herausforderungen um die Wende zum 20. Jahrhundert, als Einstein mit dem Problem der Gleichzeitigkeit rang. Der Ausbau des Eisenbahnwesens ebenso wie eine erste Welle der Globalisierung durch die Einrichtung von Kolonien schuf einen Bedarf nach kontinentweit oder weltweit standardisierten Zeitzonen. Tatsächlich wurden geografische Längen durch den Vergleich von Ortszeit und Weltzeit ermittelt, und dafür bediente man sich synchronisierter Uhren. Diese Synchronisierung wurde verbreitet durch den Austausch von Signalen erreicht. Dabei handelte es sich zunächst um elektrische Signale, die entlang von Kabeln gesendet wurden, später um Radiosignale. Poincaré war um die Jahrhundertwende Direktor des Pariser bureau de longitude und daher mit diesen technologischen Entwicklungen bestens vertraut. Das von ihm skizzierte Verfahren der Uhrensynchronisierung stützte sich tatsächlich auf die Praxis der Ingenieure der Zeit (Poincaré 1909, S. 7; Galison 2003, S. 184–186). In seinem grundlegenden Artikel zur Begründung der speziellen Relativitätstheorie führt Einstein ebenfalls dieses Verfahren an und illustriert die Wichtigkeit der Bestimmung entfernter Gleichzeitigkeit durch Rückgriff auf den Zugverkehr (Einstein 1905, S. 27–28). Der technische Hintergrund wird hier deutlich sichtbar. Es ist daher nicht ohne Belang, daß Einstein am Berner Patentamt arbeitete. Die Stadt Bern betrieb in jenen Jahren ein Netzwerk elektrisch synchronisierter Uhren, und eine nicht geringe Zahl von Patentanträgen zur Uhrensynchronisation muß über Einsteins Schreibtisch gewandert sein (Galison 2003, S. 248). An dieser Stelle finden wir daher den Grund für Einsteins scheinbar voreiliges Vertrauen zu seiner operationalen Bestimmung der Gleichzeitigkeit. Es ist die technische Omnipräsenz dieses Verfahrens, die Einstein an der Signalsynchronisierung als Grundlage der entfernten Gleichzeitigkeit festhalten läßt, obwohl sie zu unplausiblen Konsequenzen führt. Es ist die Verankerung der Signalsynchronisierung in der technischen Praxis der Epoche, die Einstein in solchem Maße von der Verläßlichkeit dieser Methode überzeugt sein ließ, daß er auf ihrer Grundlage den Umsturz der vertrauten Begriffe von Raum und Zeit ans Werk setzte. Einstein gründete demnach die spezielle Relativitätstheorie auf eine operationale Analyse der entfernten Gleichzeitigkeit. Er band die Bedeutungsmerkmale dieses Begriffs an die Ergebnisse von Verfahren, die über die Anwendbarkeit des Begriffs entscheiden. »Der Begriff [»gleichzeitig«] existiert für den Physiker erst dann, wenn die
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Möglichkeit gegeben ist, im konkreten Fall herauszufinden, ob der Begriff zutrifft oder nicht. Es bedarf also einer solchen Definition der Gleichzeitigkeit, daß diese Definition die Methode an die Hand gibt, nach welcher im vorliegenden Fall aus Experimenten entschieden werden kann, ob [zwei Ereignisse] gleichzeitig sind oder nicht« (Einstein 1917, S. 21).2 Tatsächlich ist Einsteins Verpflichtung auf eine operationale Semantik einer der Dreh- und Angelpunkte bei der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie. Da die verfügbaren Verfahren zur Synchronisierung von Uhren die Ermittlung von Gleichzeitigkeitsbeziehungen lediglich relativ zu Bezugssystemen erlauben, ist der Begriff der Gleichzeitigkeit nur relativ zu in bestimmter Weise bewegten Beobachtern semantisch festgelegt. Es ist dieser Operationalismus, für den die Technologie der Epoche und Einsteins technische Orientierung Pate steht. Andererseits hatte Poincaré vor dem gleichen technologischen Hintergrund und der gleichen Favorisierung der Signalsynchronisierung diesen Schritt zu einem semantischen Operationalismus gerade nicht getan. Zwar sind auch für Poincaré die wahren Gleichzeitigkeitsbeziehungen nicht in der Erfahrung aufweisbar, gleichwohl behalten diese ihre physikalische Signifikanz (s. o. Abs. 2). Begrifflich gibt es das wahre Maß der Zeit, auch wenn es sich auf niemandes Uhr zeigt. Zwar stimmen Poincaré und Einstein darin überein, daß die Bedeutung von Begriffen durch die zugehörigen Meßverfahren beeinflußt oder bestimmt wird, aber Einstein nimmt diese Festlegung weit ernster als Poincaré. Erst für Einstein scheiden die nicht empirisch ermittelbaren Beziehungen kategorisch aus dem legitimen Bezugsbereich wissenschaftlicher Sprache aus. Für diesen Schritt war (wie gesagt) die technologische Situation der Zeit von entscheidender Wichtigkeit, andererseits kann Einsteins kompromißloser semantischer Operationalismus nicht allein auf seine Ausrichtung an der zeitgenössischen Technologie zurückgeführt werden. In dieser Hinsicht unterschieden sich Poincaré und Einstein jedenfalls vordergründig keineswegs. Das bei Einstein hinzutretende Merkmal besteht in der größeren Distanz zur herkömmlichen Begrifflichkeit. Diese Zurückhaltung stammte aus Einsteins Lektüre erkenntnistheoretischer und wissenschaftsphilosophischer Schriften im Rahmen seines privaten Lesekreises, der »Akademie Olympia«. Einstein selbst führt die Werke Humes, Kirchhoffs, Helmholtz’ und Machs an (Einstein 1949, S. 6). Hinter dem Innovator Einstein steht zum einen der Praktiker Einstein, der Patentanträge prüfte und in späteren Jahren einen Kühlschrank konstruierte, zum anderen der Philosoph Einstein, der sich durch die empiristische Selbstbeschränkung auf die Erfahrung dazu berechtigt sah, in den Grenzen der Meßverfahren die Grenzen des sinnvoll Ausdrückbaren zu sehen. Eine wichtige Quelle von Einsteins Innovativität bei der Konzeption der speziellen Relativitätstheorie besteht in diesem Zusammenbringen der technischen Praxis der Zeitmessung mit der empiristischen Erkenntnistheorie und ihrer Betonung der Erfahrungsgebundenheit wissenschaftlicher Begriffe und Theorien. Technik und Erkenntnistheorie werden zum Nutzen der theoretischen Physik miteinander verbunden. Einsteins 2 Dabei macht Einstein sofort klar, daß er diesen semantischen Ansatz keineswegs auf die Physik beschränken will (Einstein 1917, ebd.).
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Innovativität entfaltet sich hier entsprechend gemäß dem ersten der eingangs genannten Mechanismen: Neues entsteht aus der Verknüpfung von zuvor Getrenntem (s. o. Abs. 1). Die nähere Betrachtung des technischen Hintergrunds der Epoche verdeutlicht dabei, daß Einsteins kreative Neuerung nicht genau in dem Bereich lag, in dem sie häufig vermutet wird, nämlich bei der Gründung der entfernten Gleichzeitigkeit auf signalsynchronisierte Uhren. Dabei handelte es sich vielmehr um eine durchaus gängige Praxis. Auch die Favorisierung operationaler Definitionen und entsprechend die Ausrichtung der wissenschaftlichen Begriffsbildung an den verfügbaren Meßverfahren war bereits von Poincaré eingeleitet worden. Der Unterschied ist jedoch, daß Einstein dabei sehr viel konsequenter verfuhr und alles, was sich nicht in meßbaren Beziehungen niederschlägt, als bedeutungslos verwarf. Poincaré war an dieser Stelle sehr viel zurückhaltender gewesen und hatte am wahren Zeitmaß und an beobachterübergreifenden Gleichzeitigkeitsbeziehungen festgehalten, obwohl er deren empirische Ermittelbarkeit ausschloß (s. o. Abs. 2). Der Grund für das Festhalten an diesen Größen war, daß sie in der wissenschaftlichen Theoriebildung eine Rolle spielen. Einstein war hier radikaler. Wenn es keinen Erfahrungszugriff auf beobachterübergreifende Zeitbeziehungen gibt, dann muß diejenige physikalische Theorie verworfen und modifiziert werden, die solche Größen enthält. Dieser zweite innovative Schritt wurde allein von Einstein getan. Einstein ließ sich auf das Relativitätsprinzip als Prämisse ein, setzte es an die Spitze und gestaltete von dort aus die Elektrodynamik bewegter Körper um. Einstein hat diesen Schritt später durch die Entgegensetzung von »konstruktiver Theorie« und »Prinzipientheorie« beschrieben. Lorentz und Poincaré faßten die Elektrodynamik als konstruktive Theorie auf, als eine Theorie, die das einschlägige Verhalten makroskopischer Körper auf die Wechselwirkungen ihrer geladenen Bestandteile zurückführt. Diese beobachtbaren Eigenschaften sollten sich aus dem Zusammenspiel mikroskopischer Ladungen ergeben, insbesondere von Elektronen. Das Relativitätsprinzip, das Scheitern der empirischen Auszeichnung absoluter Ruhe, sollte sich als Theorem einer solchen Mikrotheorie ergeben. Prinzipientheorien, so Einstein, stützen sich demgegenüber auf empirisch unmittelbar bestätigte allgemeine Eigenschaften der Naturvorgänge. Das Relativitätsprinzip ist von solcher Art; es ist daher als fundamental einzustufen, nicht als derivativ (Einstein 1930). Für die herkömmliche Sichtweise machte es sich Einstein an dieser Stelle zu einfach, weil er bloß postulierte, was doch abzuleiten war. Aber die Kreativitätsleistung, die damit verbunden war, das Relativitätsprinzip an die Spitze zu stellen, bestand gerade darin, es zur Grundlage einer Uminterpretation der Elektrodynamik zu machen. Effekte wie die Lorentz-Kontraktion, die Verkürzung eines bewegten Körpers, waren in traditioneller Deutung durch Kräfte vermittelt. Die Körper wurden durch den Staudruck des Äthers komprimiert, der aus der Bewegung von Körpern durch den Äther entsteht. Einsteins Konzentration auf das Relativitätsprinzip und die operationale Umsetzung wissenschaftlicher Begriffe erlaubte dagegen die Rückführung des Effekts auf unterschiedliche Urteile über die Gleichzeitigkeit von Ereignissen. Schließlich setzt die Messung der Länge eines bewegten Körpers ein Urteil darüber voraus, wo sich seine Endpunkte
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zur gleichen Zeit befinden. Einsteins Umdeutung des Derivativen zum Fundamentalen eröffnete ihm die Möglichkeit, die herkömmliche dynamische Interpretation dieser Effekte durch eine metrogene zu ersetzen. Einsteins Kreativitätsleistungen bei der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie bestanden demnach nicht allein im Einnehmen eines neuen Standpunkts, sondern auch im Ernstnehmen dieses Standpunkts. Beide eingangs genannten Mechanismen schöpferischer Entfaltung sind hier von Belang (s. o. Abs. 1). Die notwendige Ergänzung zum Entwurf einer neuen Idee ist deren Artikulation. Substanzielle Neuerungen werden oft erst dann erreicht, wenn man sich auf den neuen Ausgangspunkt tatsächlich einläßt und ihm zuvor unbekannte Konsequenzen zu entlocken sucht. Soll die Idee fruchtbar werden, muß sie mit Hartnäckigkeit verfolgt werden. Diese Hartnäckigkeit der Ausarbeitung ist das vielleicht glanzlose, aber trotzdem unabdingbare Gegenstück zu den sprühenden Funken der Innovation. Sollen diese nicht folgenlos verglühen, dann müssen sie in ausdauernder Kleinarbeit immer wieder angefacht werden.
4. Die Konzeption der allgemeinen Relativitätstheorie Inhaltlich erwuchs die allgemeine Relativitätstheorie aus der Verallgemeinerung der speziellen, sie besitzt aber sowohl in den Grundgedanken als auch der Zugangsweise nach eine klar eigenständige Prägung. Tatsächlich führte die Erfahrung mit der Formulierung der allgemeinen Theorie zu einer deutlichen methodologischen Umorientierung Einsteins. Die allgemeine Theorie will die Gleichberechtigung von Bezugssystemen, die einen Kernpunkt der speziellen Theorie ausmachte, auf die Beschreibung der Gravitation erweitern. Die Theorie geht unter anderem vom sog. Äquivalenzprinzip aus. Experimentell zeigt sich, daß die träge Masse (die den Widerstand eines Körpers gegen Beschleunigungen ausdrückt) mit der schweren Masse (die die Intensität des von dem Körper erzeugten Gravitationsfelds angibt) numerisch übereinstimmt. Dies äußert sich z. B. in der Tatsache, daß die Bewegung eines Körpers im Schwerefeld nicht von seiner Masse oder chemischen Zusammensetzung abhängt. Alle Körper bewegen sich unter dem Einfluß der Gravitation auf die gleiche Weise. Diese Tatsache erlaubt die sog. Geometrisierung der Gravitation. Danach wird die Gravitation zu einem Teil der Raum-Zeit-Struktur, die deshalb eine räumlich und zeitlich veränderliche Form annehmen muß. Raum und Zeit bilden kein fest gefügtes Behältnis für die wechselnden Ereignisse der Erscheinungswelt, sondern sind selbst dem Einfluß von Materie und Energie unterworfen. Um dieser Veränderlichkeit Rechnung zu tragen, griff Einstein auf sog. nicht-Euklidische Geometrien zurück, die im zweidimensionalen Fall gekrümmte Oberflächen beschreiben, für die Erfassung der RaumZeit-Struktur aber in ihren vierdimensionalen Formen Verwendung finden müssen. In der allgemeinen Relativitätstheorie geben solche geometrischen Größen einerseits Aufschluß über Längen, Zeitdauern und geradestmögliche Bewegungen, andererseits hängen sie von der jeweiligen Massen- und Energieverteilung ab und ermöglichen Aussagen über die Bewegungen frei fallender Körper. Die Vorstellung ist, daß sich die Schwere in
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der Struktur der Raum-Zeit niederschlägt. Die Raum-Zeit ist nicht mehr generell flach, nicht mehr analog zur Euklidischen Ebene gebildet, sondern besitzt eine veränderliche Krümmung, die auf die Materie-Energie-Verteilung zurückgeht und ihrerseits die Bewegung von Materie und Energie bestimmt. Die Raum-Zeit sagt der Materie, wie sie sich zu bewegen hat, und die Materie sagt der Raum-Zeit, wie sie sich zu krümmen hat (Misner, Thorne & Wheeler 1973, S. 5). Als Folge der Geometrisierung der Gravitation gelten nicht allein geradlinig-gleichförmig bewegte Körper als kräftefrei, sondern auch frei fallende Teilchen. Die geometrisierte Schwere ist Teil der Raum-Zeit und spielt folglich eine Ausnahmerolle im Vergleich zu anderen Kräften. Während zum Beispiel elektrische Kräfte Körper aus der geradestmöglichen Bewegung ablenken, gilt dies nicht für die Schwerkraft. Da die Gravitation in die Raum-Zeit-Struktur gleichsam eingebaut ist, führen Teilchen, die allein der Gravitation unterliegen, die geradestmögliche Bewegung aus – die aber wegen der Raum-Zeit-Krümmung unter Umständen nicht in gerader Linie verläuft.
Figur 3: »Wheelers Apfel« (Misner, Thorne & Wheeler 1973, S. 4)
Die geometrisierte Schwere läßt sich mit »Wheelers Apfel« illustrieren, einem auf John Archibald Wheeler zurückgehenden instruktiven Bild. Dargestellt wird die Bewegung frei fallender Teilchen anhand der Reise einer Ameisengesellschaft auf der gekrümmten Oberfläche eines Apfels. Zunächst sind aus einer lokalen oder kleinräumigen Perspektive die Bewegungen der Ameisen so gerade wie nur irgend möglich. Keine Ameise schwenkt kapriziös hin und her, keine geht ein überflüssiges Stück Weg. Analog führen auch frei fallende Teilchen die geradestmöglichen Bewegungen aus, die in kleinräumiger Perspektive aussehen wie Geraden. Betrachtet man hingegen größere Bereiche, so macht sich die Krümmung der Apfeloberfläche bemerkbar. Zwei Ameisen laufen am Punkt P in etwas verschiedene Richtungen los und gehen unbeirrt geradeaus. Ihre Bahnen entfernen sich zunächst voneinander, laufen an unterschiedlichen Seiten des
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Apfelstils vorbei und nähern sich schließlich wieder einander an. Nach dem Vorbild der Newtonschen Theorie würde man dieses Verhalten durch eine fernwirkende Kraft des Apfelstils auf die Ameisen erklären. Nach Einstein hingegen folgt die Ameise einfach der geradestmöglichen Bahn. Die Struktur der Oberfläche an der Stelle, an der sich die Ameise befindet, bestimmt ihren Gang. Kein Einfluß von fernen Objekten, keine Ablenkung von außen tritt auf. Die örtlich vorhandene Geometrie legt die Bewegung fest (Misner, Thorne & Wheeler 1973, S. 3–5).
5. Kreativitätsleistung und methodologische Umorientierung Einsteins Idee einer Geometrisierung der Gravitation war von bestechender Originalität und verblüffender physikalischer Tragweite. Zwar waren schon vor Einstein nicht-Euklidische Strukturen der physikalischen Geometrie in Betracht gezogen worden, aber niemand hatte die Möglichkeit der Erklärung einer physikalischen Wechselwirkung durch deren Integration in die Geometrie der Raum-Zeit in Erwägung gezogen. Tatsächlich stellte sich jedoch auf Einsteins Weg vieles mit Zwangsläufigkeit ein. Das Programm der allgemeinen Relativitätstheorie erwuchs aus dem Bestreben, die in der speziellen Relativitätstheorie enthaltene Gleichberechtigung von Bezugssystemen zu verstärken und in der Gravitationstheorie zur Geltung zu bringen. Diese Forderung der sog. allgemeinen Kovarianz tritt neben das erwähnte Äquivalenzprinzip; zusammen mit unproblematischen Hintergrundbedingungen wie der Energieerhaltung prägen sie die mathematische Gestalt der Theorie stark vor und sind am Ende geeignet, die Beschaffenheit der sog. Feldgleichungen der Gravitation wesentlich festzulegen (Einstein 1949, S. 26; Norton 1987, S. 161). Die zentralen physikalischen Elemente der allgemeinen Relativitätstheorie ergaben sich beinahe unausweichlich aus der konsequenten Verfolgung des selbst durchaus nicht überraschenden Projekts der Verallgemeinerung der speziellen Theorie. Einsteins Kreativitätsleistung bei der Formulierung der allgemeinen Theorie stützt sich entsprechend auf den zweiten der eingangs genannten Mechanismen, nämlich die konsequente Artikulation oder das hartnäckige Ausloten von Grundsätzen, die im Rahmen des zugehörigen Forschungsprogramms durchaus nahelagen (s. o. Abs. 1). Dieser Eindruck der Alternativlosigkeit der mathematischen Konstruktion einer Theorie hat Einstein tiefgreifend geprägt und zu einer Umorientierung in methodologischen Fragen geführt. Es sind nicht komplizierte und entlegene Erfahrungsbefunde, wie sie in hoch entwickelten Experimenten zutage treten, sondern allgemeine Tatsachen und plausible mathematische Zwangsbedingungen, die die Gestalt der Theorie fixieren. Rückblickend erklärt Einstein: Noch etwas anderes habe ich aus der Gravitationstheorie gelernt: Eine noch so umfangreiche Sammlung empirischer Fakten kann nicht zur Aufstellung so verwickelter Gleichungen führen. Eine Theorie kann an der Erfahrung geprüft werden, aber es gibt keinen Weg von der Erfahrung zur Aufstellung einer Theorie. Gleichungen von solcher Kompliziertheit wie die Gleichungen des Gravitationsfeldes können
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nur dadurch gefunden werden, daß eine logisch einfache mathematische Bedingung gefunden wird, welche die Gleichungen völlig oder nahezu determiniert. Hat man aber jene hinreichend starken formalen Bedingungen, so braucht man nur wenig Tatsachenwissen für die Aufstellung der Theorie. (Einstein 1949, S. 33; vgl. Howard 2004) Bei der Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie gewinnt Einstein den Eindruck der Unausweichlichkeit. Der Schöpfer der Theorie verliert jeden Gestaltungsspielraum und sieht sich durch wenige, unkontroverse anfängliche Festlegungen auf das Endresultat verpflichtet. Die zentrale Kreativitätsleistung besteht für Einstein lediglich darin, den angemessenen mathematischen Begriffsapparat zu identifizieren. Ist diese Grundlage richtig gewählt, so führt die Bedingung, die Gleichungen der Theorie sollten von möglichst einfacher Beschaffenheit sein, zum korrekten Ergebnis. Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir … zu dem Vertrauen berechtigt, daß die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar Einfachsten ist. Durch rein mathematische Konstruktion vermögen wir nach meiner Überzeugung diejenigen Begriffe und diejenige gesetzliche Verknüpfung zwischen ihnen zu finden, die den Schlüssel für das Verstehen der Naturerscheinungen liefern. Die brauchbaren mathematischen Begriffe können durch Erfahrung wohl nahegelegt, aber keinesfalls aus ihr abgeleitet werden. Erfahrung bleibt natürlich das einzige Kriterium der Brauchbarkeit einer mathematischen Konstruktion für die Physik. Das eigentlich schöpferische Prinzip liegt aber in der Mathematik. In einem gewissen Sinne halte ich es also für wahr, daß dem reinen Denken das Erfassen des Wirklichen möglich sei, wie es die Alten geträumt haben. (Einstein 1930, 116–117) Der Gegensatz zwischen dem erfahrungs- und praxisorientierten Einstein der frühenZeit und dem zu einem begrenzten Apriorismus neigenden Einstein der späteren Jahre springt ins Auge. Bei der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie hatte das Spektrum der meßbaren Größen die Struktur der Theorie durchaus geprägt. Nach seiner Kehrtwende rückt Einstein hingegen die traditionell mit dem Platonismus verknüpfte erkenntnistheoretische Festlegung auf die konstruktive Rolle der Mathematik für die Naturerkenntnis ins Zentrum. Zwar entscheiden die Tatsachen nachträglich über die Brauchbarkeit der durch den mathematischen Entwurf gewonnenen Theorie, aber für den kreativen, den Fortschritt vorantreibenden Physiker sind Tatsachen im Kern ohne Belang. Einsteins methodologische Umorientierung schlägt sich ganz konsequent in einer Abwendung vom Empirismus und Operationalismus nieder. Im Rückblick vermerkt Einstein, in jungen Jahren habe ihn Machs erkenntnistheoretische Einstellung sehr beeindruckt, jetzt erscheine ihm diese dagegen im wesentlichen unhaltbar (Einstein 1949, S. 8). Kennzeichnender noch ist seine gewandelte Auffassung der Rolle von Meßinstrumenten. Im Operationalismus der frühen Jahre begrenzte die Meßbarkeit von Größen ihre Eignung für die theoretische Beschreibung. In der späteren Zeit rückt Einstein dagegen die Möglichkeit der theoretischen Behandlung des Meßprozesses ins Zentrum.
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Charakteristisch ist die Lichtuhr, die aus zwei Spiegeln festen Abstands gebildet wird, zwischen denen ein Lichtpuls (etwa ein Photon) hin- und herreflektiert wird. Als Zeitmaßstab gilt jeweils die Ankunft des Pulses an einem der Spiegel; man mißt Zeitdauern durch die Anzahl der Rückkehrereignisse des Lichtpulses. Aus der Behandlung dieser Uhr mit den Mitteln der speziellen Relativitätstheorie ergibt sich die von der Theorie vorgesehene Zeitdilatation (Sexl & Schmidt 1979, S. 32–33; Bergia 1999, S. 33). In diesem Ansatz gehen die Meßinstrumente nicht mehr der Theorie voran und umgrenzen deren legitimen begrifflichen Spielraum. Vielmehr legt die Theorie fest, welche Größen auf welche Weise gemessen werden. Einstein besteht nun darauf, daß Meßinstrumente wie Maßstäbe und Uhren keine »irreduziblen Elemente im Begriffsgebäude der Physik« darstellen, daß es sich vielmehr um »zusammengesetzte Gebilde« handelt, »die im Aufbau der theoretischen Physik keine selbständige Rolle spielen dürfen«. Letztlich müssen sich Rolle und Funktion der Meßgeräte aus der »Atomistik« ergeben (Einstein 1921, S. 123), also aus der theoretischen Analyse der in diesen ablaufenden Prozesse. Die operationale Analyse erscheint nun als Mangel bei der Begründung der speziellen Relativitätstheorie. Diese Analyse führt nämlich eine ungerechtfertigte Trennung zwischen den Meßgeräten und dem übrigen Gegenstandsbereich der Theorie ein. »Dies ist in gewissem Sinne inkonsequent; Maßstäbe und Uhren müßten eigentlich als Lösungen der Grundgleichungen (Gegenstände, bestehend aus bewegten atomistischen Gebilden) dargestellt werden, nicht als gewissermaßen theoretisch selbständige Wesen« (Einstein 1949, S. 22). Natürlich ist die Lichtuhr noch ein gutes Stück von einer Deduktion der Funktionsweise der Meßgeräte aus ersten Prinzipien entfernt; gleichwohl geht sie ein gutes Stück in Richtung dieser neuen methodologischen Forderung. Schließlich wird die Funktionsweise der Lichtuhr mit den begrifflichen Mitteln gerade derjenigen Theorie erfaßt, die auch den zugehörigen Resultaten Rechnung trägt.3 Anders gesagt, die spezielle Relativitätstheorie erklärt dann nicht allein die Erfahrungsbefunde, sondern auch die Mittel zu deren Feststellung.
6. Mechanismen der Innovation Im Vorangehenden habe ich plausibel zu machen versucht, daß Einsteins Kreativitätsleistungen bei der Konzeption der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch die beiden eingangs skizzierten Mechanismen der Verknüpfung von zuvor Getrenntem und der konsequenten Artikulation von selbst naheliegenden Grundsätzen beschrieben werden können. Jetzt ist zu zeigen, daß es sich bei diesen Mechanismen um übergreifende Typisierungen menschlicher Innovativität handelt. Die Stützung einer solchen Behauptung verlangt die Identifikation ähnlich gelagerter Fälle von anderer inhaltlicher Beschaffenheit. Ich will daher einige solcher Beispiele anführen. Bei der theoretischen Zusammenführung von zuvor begrifflich Getrenntem handelt es sich um den vielleicht am häufigsten beschrittenen Weg zu kreativen Spitzenlei3
Ich habe diese Fähigkeit als »Einstein-Feigl-Vollständigkeit« bezeichnet (Carrier 1994, S. 21–23).
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stungen. Selten nämlich sind die Gelegenheiten, bei denen zuvor gänzlich Ungeahntes ausgesprochen wird. Zum Beispiel waren die Teile der Copernicanischen Revolution durchaus geläufig, aber ihre Verknüpfung war es nicht. Copernicus ging es wie vielen anderen Astronomen der Epoche um die Auflösung der scheinbaren Ungleichheiten der Planetenbewegung durch eine neue, auch physikalisch adäquate Beschreibung, und er griff dafür auf die aus der Antike überlieferte heliozentrische Anordnung zurück. Die Innovationskraft bei Copernicus liegt gerade in der Verbindung dieser zuvor getrennten Traditionslinien. Kein anderer Astronom hat das damals verbreitete Physikalisierungsprogramm durch die Annahme der Bewegung der Erde umzusetzen versucht, und das macht die Originalität des Copernicus aus (Carrier 2001, S. 88). Ein ähnlich gelagerter Fall ist die von Johannes Kepler begrifflich entworfene und von Isaac Newton physikalisch umgesetzte Vorstellung einer physica coelestis, einer Himmelsphysik, die den Bewegungen der Körper auf der Erde und den Bewegungen der Himmelskörper durch einen einheitlichen Satz von Prinzipien Rechnung trägt. Bei Newton nimmt diese Vereinheitlichung die Form an, daß der Fall des Apfels auf die Erde und der Fall des Mondes um die Erde aus den gleichen Grundsätzen der Mechanik hergeleitet werden kann. Im 19. Jahrhundert kommt ein solches Motiv der Vereinheitlichung bei Charles Darwin zum Tragen. Darwins Konzeption der Selektionstheorie entsprang dem Gedanken, den Mechanismus der Zuchtwahl, mit der der Züchter domestizierte Arten an die menschlichen Vorgaben anzupassen sucht, auch als Grundlage der Evolution der Arten in der freien Natur anzunehmen. Die künstliche Zuchtwahl sollte ebenso wie die natürliche Selektion mit dem Mechanismus der differentiellen Reproduktion operieren und auf diesem Weg den Wandel einer Spezies zustande bringen. Dieser Beispielfall illustriert zudem, daß der Brückenschlag für solche neuartigen Verknüpfungen nicht selten durch Analogien und Metaphern vorbereitet oder ermöglicht wird. Analogien und Metaphern begründen unter Umständen neuartige Gleichartigkeitsbeziehungen, die dann zur Basis einer theoretischen Identifikation werden. Der zweite der angeführten Wege zur Innovation rückt die konsequente Verfolgung eines neuen Gesichtspunkts in den Vordergrund. Einen Parallelfall zu Einsteins Bereitschaft, sich auf die Folgerungen eines neuen Grundsatzes wirklich einzulassen, bildet Antoine Lavoisiers Begründung der modernen Chemie in den 1770er Jahren. Lavoisier war von einem kurz zuvor ermittelten Befund ausgegangen, wonach das sog. Rösten der Metalle ausnahmslos von einer Gewichtszunahme begleitet war. Er schloß daraus, daß eine solche Gewichtszunahme auch bei den vor dem theoretischen Hintergrund der Zeit gleich gelagerten Verbrennungsprozessen eintreten sollte. Diese auf der angegebenen Grundlage naheliegende Vermutung bestätigte Lavoisier bei Phosphor und Schwefel experimentell. Der zentrale nachfolgende Schritt und der Kern der Innovativität Lavoisiers bestand darin, diese Gewichtszunahme als Prämisse zu akzeptieren und konsequenterweise Verbrennung als Absorption eines Stoffes aufzufassen – statt wie zuvor als Emission (Carrier 2006). Diese Konsequenz bei der Weiterverfolgung oder Ausarbeitung neuer Grundsätze kann zum Ursprung von Innovationen wider Willen werden. Ein Beispiel ist Max
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Plancks Rückführung seines Strahlungsgesetzes auf die Quantisierung von Absorption und Emission elektromagnetischer Strahlung. Planck fühlte sich hier gegen die eigene Absicht aus der Logik seines Ansatzes heraus zur Annahme von Konsequenzen gedrängt, die selbst tiefgreifende Folgewirkungen auf das System des Wissens entfalteten. Ähnliches gilt für Niels Bohrs Einführung von Quantenbedingungen für die Elektronenbahnen im Wasserstoffatom, durch die die Stabilität des Rutherfordschen Atommodells sichergestellt werden sollte, die aber ihrerseits im Gegensatz zur herkömmlichen Physik standen. Durch die Verfolgung eines Ansatzes ergeben sich unter Umständen unvorhergesehene Folgelasten, die sich im Rückblick als wesentliche Neuerungen und als Erkenntnisgewinne erweisen. Der Schluß ist, daß Einsteins Innovationen ihrer Struktur nach nicht ohne Parallele in der Wissenschaftsgeschichte sind und daß sich auch Kreativitätsleistungen nach Typen ordnen lassen. Einsteins Schöpferkraft stellt keine singuläre Qualität dar; vielmehr erschließt sie sich durch Analogisierung dem verstehenden Zugriff. Auch für das letztgenannte Element, nämlich Einsteins Eindruck der Unausweichlichkeit der theoretischen Konstruktion, gibt es Parallelfälle in der Wissenschaftsgeschichte, durch die zugleich erkennbar wird, daß sich Intuitionen dieser Art als Fehlgang erweisen können. Die Geometrisierung der Gravitation offenbarte für Einstein eine tiefe Einfachheit und Durchschaubarkeit der betreffenden gesetzmäßigen Zusammenhänge (s. o. Abs. 5). Es ist nur natürlich, daß sich bei einer solchen Theorie, die überdies den Befunden angemessen Rechnung trägt, leicht das Gefühl einstellt, daß die Verhältnisse nicht anders liegen können als von der Theorie vorgesehen. Diese ist gleichsam zu schön, um nicht wahr zu sein. Aber ein solches Gefühl kann sich durchaus als trügerisch erweisen. Ein Beispiel findet sich in Keplers Mysterium cosmographicum (1596), in dem dieser den Bahnabständen der Planeten durch Einschreibung und Umschreibung ihrer Bahnen mit den fünf regulären Platonischen Polyedern (Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder) Rechnung zu tragen suchte.
Figur 4: Keplers Einpassung von Polyedern in Kugelschalen
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Bei jedem dieser Körper stehen die umbeschriebene und die einbeschriebene Kugel in einem festen Größenverhältnis zueinander, und es ging Kepler darum, diese Verhältnisse in den Proportionen der Radien der Planetenbahnen aufzufinden. In der Tat erreichte Kepler mit der in Figur 4 wiedergegebenen Anordnung der Polyeder eine Übereinstimmung mit den Beobachtungsbefunden (Kepler 1596, S. 48–49). Die Einpaßbarkeit der regulären Polyeder erklärt danach sowohl die Anzahl der Planeten als auch die Ausdehnung ihrer Bahnen. Weil es fünf reguläre Polyeder gibt, muß es sechs Planeten geben, und weil die geometrisch bestimmten Kugelschalen die betreffenden Größenverhältnisse besitzen, müssen die relativen Abstände der Planeten wie beobachtet ausfallen. Das System der Platonischen Körper stellt entsprechend den vernünftigen Grund für die Theorie des Copernicus bereit, die dieser selbst sich bloß aus den Erscheinungen zurechtgelegt hatte; es liefert »Gründe, die a priori aus den Ursachen, aus der Idee der Schöpfung hergeleitet sind« (Kepler 1596, S. 49). Gott ist ein großer Geometer, und so enthalten die regulären Polyeder den Schlüssel für die Aufdeckung seiner Absichten bei der Schöpfung des Universums. Nun ist uns heute nur zu deutlich, daß Keplers Schluß auf die Unausweichlichkeit seines Erklärungsansatzes haltlos war und daß die weitergehende Folgerung ihrer Richtigkeit erst recht jeder Grundlage entbehrte. Auch wenn Wissenschaftler das sichere Gefühl haben, dem Bauplan des Universums auf der Spur zu sein, ist die Korrektheit ihrer Gedankenentwürfe dadurch keineswegs verbürgt. Auch die faszinierende Idee der geometrisierten Gravitation ist in ihrer Tragfähigkeit durchaus zweifelhaft. Schließlich ist die allgemeine Relativitätstheorie eine klassische Theorie, die sich gegen die Quantisierung sperrt und mit dem für alle übrigen Wechselwirkungen in der Natur relevanten Ansatz des Austauschs von Feldquanten nicht in Einklang zu bringen ist. Die allgemeine Relativitätstheorie ist, so gesehen, ein Überrest aus der Zeit der klassischen Physik, der schroff in das Quantenzeitalter hineinragt. Wenn man in New York die Fifth Avenue mit ihren himmelwärts aufschießenden Kolossen aus Beton, Stahl und Glas entlang geht, dann steht man auf einmal unversehens vor St. Patrick’s Cathedral, einer traditionell gebauten Kirche, die einen krassen Gegensatz zu ihrer aufragenden architektonischen Umgebung bildet. Genau wie dieses Bauwerk könnte sich auch die allgemeine Relativitätstheorie als Zeugnis eines untergegangenen Zeitalters erweisen, das in schroffem Kontrast zu seiner wissenschaftlichen Umgebung stünde und sich der theoretischen Vereinheitlichung verweigerte. Zu erwarten ist dann eine Quantentheorie der Gravitation, die die Vorstellung der Geometrisierung wieder aufgäbe. Der gewaltigen Kreativitätsleistung Einsteins tut dies ebensowenig Abbruch wie derjenigen Newtons, dessen Ansatz ebenfalls von einer besseren Gravitationstheorie überflügelt wurde, eben derjenigen Einsteins. Und so wie Einstein Newton um Verzeihung bat (Einstein 1949, S. 12), so werden Angehörige späterer Generationen Anlaß haben, Einstein um Verständnis dafür zu bitten, daß sie die Gravitationstheorie einer profunden Modernisierung unterzogen haben. Geistesgeschichtlich bewegen wir uns nicht selten durch Ikonoklasmus voran, nicht allein in den Naturwissenschaften. Indem man Mechanismen der Kreativitätsentfaltung bei Einstein auf die Spur kommt, gewinnt dieser sein menschliches Maß zurück. Man blickt Einstein in seine
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kognitive Werkstatt und erkennt, wie er es gemacht hat. Einsteins menschliches Maß wird auch daran deutlich, daß er einige naheliegende Innovationen verfehlt hat. Gelegentlich ist es ihm überraschenderweise nicht gelungen, den Rahmen des Hergebrachten zu überschreiten. Zum Beispiel hat Einstein die durch die allgemeine Relativitätstheorie nahegelegte Instabilität des Kosmos zunächst nicht erkannt und sie später nur zögernd akzeptiert; auch seine lebenslange Opposition gegen den quantenmechanischen Zufall mit dem zugehörigen Festhalten am Determinismus der überlieferten Physik ist wohlbekannt. Selbst das Genie kocht unter Umständen nur mit Wasser. Aber eine solche Erkenntnis bedeutet keineswegs eine Herabwürdigung Einsteins. Es ist die Identifikation der Wege zur Konzeption des Neuartigen wie auch das Verfehlen solcher Wege, die vertiefte Einsichten in die menschlichen Mechanismen schöpferischer Kraftentfaltung ermöglichen. Wenn man der irrigen Ansicht ist, der innovative Gedanke entspringe spontan und fertig dem Geist des Genies wie Minerva in voller Rüstung der Stirn des Zeus (Duhem 1906, S. 298), wenn man nur an den göttlichen Funken der Inspiration appellieren kann, um der kreativen Eingebung Rechnung zu tragen, dann bleibt menschliche Schöpferkraft ein Rätsel. Das einzige Mittel, um uns in dieser Hinsicht selbst zu begreifen, besteht darin, der menschlichen Innovativität das gleichsam Außermenschliche zu nehmen. Deshalb ist der Blick in die Werkstatt der Denkerin, in ihre kleinen gedanklichen Schritte und ihre größeren gedanklichen Schnitzer vielleicht ernüchternd, vor allem aber erhellend. Literatur Bergia, Silvio: Einstein: Das neue Weltbild der Physik (Spektrum der Wissenschaft Biographie), Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft 1999. Carrier, Martin: The Completeness of Scientific Theories. On the Derivation of Empirical Indicators within a Theoretical Framework: The Case of Physical Geometry, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers (Western Ontario Series in the Philosophy of Science 53) 1994. Carrier, Martin: Nikolaus Kopernikus, München: Beck 2001. Carrier, Martin: The Challenge of Practice: Einstein, Technological Development and Conceptual Innovation, in: Claus Lämmerzahl (Hg.): Special Relativity. Will it Survive the Next 100 Years?, Heidelberg: Springer 2005. Carrier, Martin: Antoine L. Lavoisier und die Chemische Revolution, in: Pierre Leich (Hg.): Leitfossilien naturwissenschaftlichen Denkens, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (im Druck). Duhem, Pierre: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg: Meiner 1978 [1906]. Einstein, Albert: Zur Elektrodynamik bewegter Körper [1905] in: Hendrik A. Lorentz, Albert Einstein & Herbert Minkowski: Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1923. Einstein, Albert: Prinzipien der theoretischen Physik. Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften [1914], in: Einstein 1984, S. 110–113.
Modi der Kreativitätsentfaltung bei Albert Einstein
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Einsteins Kritik an der Quantenmechanik Peter Mittelstaedt (Köln)
Einleitung. Einsteins Beiträge zur Quantenphysik Einstein hat ohne jeden Zweifel ganz wesentliche Beiträge zur Quantentheorie geleistet. Im Jahre 1905, in dem auch seine Arbeit über die Spezielle Relativitätstheorie erschien, publizierte Einstein eine Arbeit1, in der er die Idee entwickelte, daß das bisher durch die Maxwellsche Theorie beschriebene Licht aus diskreten Energiequanten, den Lichtquanten besteht. Für diese Entdeckung und eine weitere Arbeit, in der er seine Ergebnisse mit der Planckschen Strahlungsformel in Zusammenhang gebracht hat2 wurde Einstein 1921 der Nobelpreis verliehen. In den auf seine erste Entdeckung folgenden Jahren hat Einstein das Lichtquantenproblem anscheinend nicht weiter verfolgt. Erst als im Jahre 1924 der junge indische Physiker S. N. Bose ein Manuskript mit dem Titel »Planck’s Law and the Light Hypothesis« an Einstein mit der Bitte um Weiterleitung an eine Zeitschrift sandte, erwachte Einsteins Interesse wieder. Er war von Boses Arbeit sehr beeindruckt, übersetzte sie selbst und reichte sie bei der Zeitschrift für Physik zur Publikation ein.3 Sofort danach schrieb Einstein in etwa zwei Wochen ein eigenes Manuskript zu diesem Thema und sandte es an die Preußische Akademie der Wissenschaften.4 Eine zweite Arbeit folgte kurze Zeit später. In den Arbeiten von Bose und Einstein wurde die Statistik des idealen Quantengases entwickelt, die wir heute Bose-Einstein-Statistik nennen.5 Trotz dieser eigenen, bedeutenden Beiträge zur Theorie der Lichtquanten änderte sich Einsteins Einstellung zur Quantentheorie grundlegend, als 1925 von Heisenberg, Schrödinger, Bohr, u. a. die eigentliche »Quantenmechanik« entwickelt wurde. Von Anfang an stand Einstein dieser neuen Theorie sehr kritisch gegenüber und hat in den folgenden Jahren bis zu seinem Tode 1955 immer wieder wichtige Einwände gegen die Quantenmechanik vorgetragen.
1 Albert Einstein: Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt, in: Annalen der Physik 17 (1905), S. 132–148. 2 Albert Einstein: Zur Theorie der Lichterzeugung und Lichtabsorption, in: Annalen der Physik 20 (1906), S. 199–206. 3 Satyendra Nath Bose: Plancks Gesetz und Lichtquantenhypothese, in: Zeitschrift für Physik 26 (1924), S. 178–181. 4 Albert Einstein: Quantentheorie des einatomigen idealen Gases, in: Sitzungsber. der Preußischen Akademie der Wissenschaften (phys.-math. Klasse) 1924, S. 261–267. 5 Wegen vieler historischer Einzelheiten vgl. John Stachel: Einstein from ›B‹ to ›Z‹, Boston, Basel, Berlin: Birkhäuser 2002; insbesondere S. 427–444 und S. 519–538.
Einsteins Kritik an der Quantenmechanik
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Einsteins kritische Einwände sollen hier genauer untersucht werden. Wir wollen fragen, ob sie zutreffen und wie die Verteidiger der Quantenmechanik darauf reagiert haben. Dabei sollen diese Fragen unter zwei verschiedenen historischen Perspektiven erörtert werden. Einerseits aus dem Blickwinkel der Zeit, in der Einstein seine Kritik formulierte und verteidigte, anderseits aber aus heutiger Sicht. Dieser zweifache Zugriff auf das Problem ist erforderlich, weil nicht nur die Quantenmechanik als Theorie seit 1925 weiterentwickelt wurde, sondern weil insbesondere die Interpretation dieser Theorie in den vergangenen 80 Jahren wesentliche Veränderungen erfahren hat.
1. Erfaßt die Quantenmechanik die Realität? − Das Realitätsprinzip Einstein glaubte, daß die Quantenmechanik die Realität nicht oder nicht angemessen erfaßt. Bei dieser Einschätzung ist Einstein entweder dem vermeintlichen Positivismus der Quantenmechanik zum Opfer gefallen oder einer der oft mißverständlichen Äußerungen von Bohr. So schreibt etwa Heisenberg (1927) »Die Physik soll nur den Zusammenhang der Wahrnehmungen formal beschreiben«6 und Niels Bohr (1928) »Nach der Quantentheorie kommt eben wegen der nicht zu vernachlässigbaren Wechselwirkung mit dem Messmittel bei jeder Beobachtung ein ganz neues unkontrollierbares Element hinzu«.7 In seiner Rezension des Schilpp-Bandes8 über Einstein bemerkte C. F. von Weizsäcker schon 19509: »Einsteins tragischer Irrtum scheint mir darin zu liegen, daß er meint, dies (den Begriff der Wirklichkeit aus der Physik zu entfernen) geschehe in der Quantenmechanik.« Wir werden sehen, daß nicht nur Einstein in diesem Irrtum befangen war. In den Diskussionen zwischen Bohr und Einstein in ersten Jahren nach der Formulierung der Quantenmechanik, in der sogenannten Bohr-Einstein-Debatte, war klar geworden, daß in der Quantenmechanik ein direkter experimenteller Zugriff auf eine physikalische Größe (Observable) in der Regel nicht möglich ist und daß eine Störung des Objektsystems bei einer Messung im allgemeinen unvermeidlich ist.10 Um alle Einwände dieser Art auszuschließen formuliert Einstein einige Jahre später ein Kriterium der Realität, das sogenannte Realitätsprinzip.11
Werner Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik 43 (1927), S. 172–198, hier S. 197. 7 Niels Bohr: Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik in: Die Naturwissenschaften 16 (1928), S. 245–257. 8 Paul Arthur Schilpp (Hg.): Einstein, Philosopher-Scientist, Evanston IL: The Library of Living Philosophers 1949. 9 Carl Friedrich v. Weizsäcker: Zum Weltbild der Physik, 8. Aufl., Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1960 [1943], S. 208. 10 Über die Bohr-Einstein Debatte hat Bohr später in einem Artikel in Schilpp (Hg.): a. a. O, S. 199– 241 berichtet. 11 Albert Einstein / Boris Podolsky / Nathan Rosen: Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality be Considered Complete?, in: Physical Review 47 (1935), S. 777–780. 6
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Wenn man, ohne ein System in irgendeiner Weise zu stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit voraussagen kann, dann gibt es ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht. Allein schon diese Formulierung dieses Kriterium löste unter den Entdeckern der Quantenphysik einen Sturm der Entrüstung aus, bei Pauli, Heisenberg und besonders bei Niels Bohr. Sehen wir uns aber zunächst an, was das Einstein-Kriterium im Kontext der Quantenmechanik ausdrückt. In der Diskussion der dreißiger Jahre ist von vielen Physikern betont worden, daß der Prozeß der Messung eine unkontrollierbare Störung des Objekts zur Folge habe, weshalb exakte Prognosen nicht möglich seien. Ein Meßprozeß verbindet ein Quantensystem S mit einem Meßgerät M durch eine, in einer kurzen Zeitspanne vorhandene, Wechselwirkung U. Diese Wechselwirkung muß zur Messung der betrachteten Observablen A (die im einfachsten Fall diskret und nicht entartet ist) geeignet sein. Um das sicher zu stellen, muß ein zunächst ganz unspezifischer Wechselwirkungsprozeß (der einem Streuprozeß entspricht) einigen Postulaten gehorchen. Hier ist vor allem wichtig das »Kalibrierungspostulat«. Wenn die Präparation ϕ des Systems S bereits ein Eigenzustand der Observablen A mit Eigenwerten Ai und Eigenzuständen ϕAi ist, wenn also ϕ = ϕAn für ein bestimmtes n ist, dann soll der Meßprozess von A mit Sicherheit zu dem Ergebnis An führen. Wenn es sich um eine wiederholbaren Messung handelt, dann bedeutet das, daß das System S sich nach der Messung in dem Zustand ϕAn befindet und den Wert An der Größe A objektiv besitzt. Diese Forderung kann man leicht formal ausdrücken. Wenn Φ der Präparationszustand des Zeigers des Meßgerätes ist und Z eine diskrete, nicht entartete Zeigerobservable, mit Eigenwerten Zi und Eigenzuständen Φi, dann hat die Anwendung eines unitären, zur Messung von A geeigneten Wechselwirkungsoperators UA auf das Tensorprodukt Ψ(S+M) = ϕ⊗Φ der Präparationszustände die Wirkung UA(ϕ⊗Φ) = ϕAn⊗Φn . Dabei liefert der zum Zustand Φn gehörenden Zeiger-Eigenwert Zn über eine geeignete Zeigerfunktion f(Zi) den gesuchten Meßwert An = f(Zn). Wir wollen hier stets voraussetzten, daß es sich um eine wiederholbare Messung handelt, bei der das Objekt nur den für eine Messung unverzichtbaren Einflüssen unterworfen ist, nicht aber anderen Störungen. Für die betrachtete kalibrierende Messung heißt das, daß der Zustand ϕ = ϕAn von S überhaupt nicht verändert wird.
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Fig. 1. Kalibrierende Messung für die Observable A = ΣAiP[ϕAi]
Das Kalibrierungspostulat bezieht sich auf Situationen, in denen das Objektsystem in einem Eigenzustand ϕAn der betrachteten Observablen A präpariert ist. In allen anderen Fällen, in denen die Präparation ϕ des Objekts kein Eigenzustand von A ist, ist der Zustand Ψ’(S+M) = UAΨ(S+M) nach der Wechselwirkung, d. h. nach der sog. Prämessung, eine Superposition von Produktzuständen ϕAi⊗Φi, die es nicht erlaubt, das Ergebnis der Messung, d. h. den Zustand Φn des Zeigers und damit auch den Zeigerwert mit Sicherheit vorauszusagen. Für jede wiederholbare, unitäre Messung, die diesem Kalibrierungspostulat gehorcht, gilt damit der folgende Zusammenhang: Wenn man an einem System S den Wert An einer Observablen A mit Sicherheit voraussagen kann, ohne das System dabei in irgend einer Weise zu ändern, dann muß der Zustand Ψ´nach der Prämessung ein Produktzustand ϕAn ⊗ Φn sein und somit das Objektsystem S den Zustand ϕAn und den Wert An bereits vor der Messung besitzen. Die dem Wert An entsprechende Eigenschaft E(An) liegt also als eine reale Eigenschaft von S vor. Dieser Zusammenhang ist aber bis auf sprachliche Varianten das Einsteinsche Realitätskriterium oder Realitätsprinzip. Es ist ein hinreichendes Kriterium für die objektive Realität einer Eigenschaft E(An), das direkt aus dem Kalibrierungspostulat folgt. Man kann daher sagen, daß das Einstein-Kriterium in der Quantentheorie gilt. Es kennzeichnet diejenigen Situationen, bei denen trotz aller Einschränkungen der Quantenmechanik ein Sprechen über die objektive Realität von Eigenschaften eines System möglich ist. Die Aufregung der Quantenphysiker über das Einsteinsche Realitätskriterium ist schwer zu verstehen. Als Beispiel sei hier die Reaktion von Niels Bohr von 1935 zitiert. Bohr erklärte … that the procedure of measurements has an essential influence on the conditions on which the very definition of the physical quantities in question rests. Since these conditions must be considered as an inherent element of any phenomenon to which the term ›physical reality‹ can be unambiguously applied, the conclusion of the above mentioned authors would not appear to be justified.
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Ähnliche Äußerungen kann man bei vielen Physikern aus den dreißiger Jahren finden. Offensichtlich glaubten wirklich viele, was Einstein befürchtete, daß der Begriff der Realität in der Quantenmechanik nicht mehr vorkommt. Eine sachlich angemessene Reaktion, die in einer Einordnung dieses Kriteriums in die Quantenmechanik bestanden hätte, ist nirgends zu finden. Tatsächlich ist das auch formal erst sehr viel später möglich gewesen, es zeigt aber auch, daß eine sachlich durchaus richtige Feststellung ohne wirkliche Begründung abgelehnt wurde
2. Ist Quantenmechanik eine probabilistische Theorie ? – Gott würfelt nicht! Ein besonderes Ärgernis war für Einstein der vermeintliche probabilistische Charakter der Quantenmechanik. Da Prognosen von einzelnen Ereignissen in der Regel nicht möglich sind, so treten in der Quantenmechanik an die Stelle von Voraussagen für den Ausgang einer einzelnen Messung statistische Aussagen. Die Wahrscheinlichkeiten oder die Erwartungswerte von Meßresultaten lassen sich in bekannter Weise nach den Regeln der Quantenmechanik berechnen. Da im allgemeinen nicht das individuelle Ereignis, sondern nur das Kollektiv sehr vieler Ereignisse durch die Quantenmechanik bestimmt ist, spricht Pauli in diesem Zusammenhang von »statistischer Kausalität« und meint damit die auch in der Quantenmechanik noch vorhandene Gesetzlichkeit großer Kollektive. Einstein beanstandete weniger das Auftreten von Wahrscheinlichkeiten als vielmehr die Tatsache, daß die quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten bestimmten Gesetzen unterliegen. In einem unpublizierten Entwurf einer Stellungnahme zu dem Beitrag von Max Born in dem 1949 von Schilpp herausgegebenen Band Albert Einstein; Philosopher-Scientist schreibt Einstein: This article is a moving hymn to a beloved friend … one who will not believe that God plays dice. In one point, however, Born does me an injustice, namely, when he thinks that I have been untrue to myself in this respect since certain I often availed myself of statistical methods. In truth, I never believed that the foundations of physics could consist of laws of statistical nature.12 In einem Brief 13 von 1942 hat Einstein seine Unzufriedenheit über die statistischen Gesetze der Quantenmechanik noch etwas präzisiert und angedeutet, daß es ihm mehr einleuchten würde, wenn die Welt vollständig chaotisch und gesetzlos wäre. I still do not believe that the Lord God plays dice. If he had wanted to do this, then he would have done it thoroughly and not stopped with a plan for gambling … Then we wouldn’t have to search for laws at all. 12 13
Stachel: a. a. O, S. 390. Brief an F. Reiche (1942); zitiert nach Stachel: a. a. O., S. 390.
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Wir wollen uns ansehen, auf welche Behauptungen der Quantenmechanik diese Einwände zurückzuführen sind und ob sie tatsächlich auf die Quantenmechanik zutreffen. Die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten in der Quantenmechanik und den Verlust eines individuellen Kausalgesetzes hat Pauli, wie erwähnt durch den Ausdruck »statistische Kausalität« beschrieben.14 Damit ist der für die Quantenmechanik wesentliche Sachverhalt gemeint, daß das Ergebnis einer Messung an einem einzelnen Objektsystem zwar vollständig unbestimmt sein kann, daß aber das Verhalten einer großen Zahl von Objekten dennoch durch ein strenges statistisches Gesetz bestimmt ist. In einem Brief an Fierz (26. 09. 1949) schrieb Pauli: Jenes statistische Verhalten der vielen gleichen Einzelsysteme, die keinerlei Kontakt miteinander haben (»fensterlose Monaden«), ohne doch anderseits kausal determiniert zu sein, ist ja in der Quantenmechanik als letzte, nicht weiter reduzierbare Tatsache aufgefasst. Für diese »nicht weiter reduzierbare Tatsache« wird von Pauli folgerichtig auch keine rationale Erklärung angeboten. Statt dessen versucht er, das nicht weiter erklärbare Phänomen durch die Analogie zu der prästabilierten Harmonie der fensterlosen Monaden bei Leibniz verständlich zu machen. Bei einer großen Zahl von Messungen einer nicht objektiv vorliegenden Eigenschaft an gleichartig präparierten Systemen ist das Ergebnis jeder einzelnen Messung vollkommen unbestimmt. Und obwohl die vielen Einzelsysteme keinerlei Kontakt miteinander haben, erfüllen sie gemeinsam ein strenges statistisches Gesetz. Es ist sicher unbefriedigend, diesen Sachverhalt wie Pauli sagt, als eine »nicht weiter reduzierbare Tatsache« aufzufassen. Sehr viel später (1983) hat J. A. Wheeler eine Erklärung für dieses auf den ersten Blick recht merkwürdige Verhalten gesucht und dafür den Ausdruck »law without law« eingeführt.15 Obwohl die einzelnen Systeme keinem erkennbaren Gesetz gehorchen, vermutete Wheeler, daß sich für die Gesamtheit vieler Systeme allein auf Grund der großen Zahl der Einzelsysteme ein strenges statistisches Gesetz herausbildet. Wheeler illustriert seine Vermutung an einem Interferenzexperiment mit Photonen, liefert aber selbst keine Erklärung im Sinne einer theoretisch-physikalischen Herleitung und bemerkt statt dessen, daß der Zusammenhang zwischen den gesetzlosen Individuen und dem durch Gesetze bestimmten Kollektiv durch ein nicht näher bestimmtes »grand regulating principle« hergestellt wird. …you will be left as much in the dark as I am, what the grand regulating principle is that produces the laws. Man kann dieses Dunkel, von dem Wheeler hier spricht, aber durchaus aufhellen und eine befriedigende Erklärung für ein quantenmechanisches »law without law« finden.
Kalervo V. Laurikainen: Beyond the Atom, The Philosophical Thought of Wolfgang Pauli, Berlin, Heidelberg: Springer 1988, S. 31–32. 15 John Archibald Wheeler: On Recognizing Law without Law, in: American Journal of Physics 51 (1983), S. 398–404. 14
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Ich will das kurz erklären und dabei das von Wheeler erwähnte Interferenzexperiment verwenden. Wir betrachten dazu ein Strahlteiler-Experiment in einem Mach-Zehnder Interferometer (Fig. 2). Der Zustand ϕ des einlaufenden Photons wird durch einen halbdurchlässigen Spiegel BS1 in zwei orthogonale Komponenten ϕ(B) und ϕ(¬B) aufgespalten, die den beiden möglichen Bahnen B und ¬B entsprechen. Über zwei voll reflektierende Spiegel M1 und M2 werden die beiden Teilstrahlen dann zu dem zweiten halbdurchlässigen Spiegel BS2 geleitet und dort mit einer auf dem Teilstrahl ¬B eingefügten Phasenverschiebung δ rekombiniert. Es ist daher ϕ = 1/√2(ϕ(B) + eiδ ϕ(¬B)). Man kann nun durch unterschiedliche Positionierung von zwei Detektoren D1 und D2 verschiedene Observable messen.
Fig. 2. Strahlteiler-Experiment in einem Mach-Zehnder Interferometer.
Wenn die beiden Detektoren in den Positionen D1B und D2B sind, dann mißt man, welchen Weg (B oder ¬B) das Photon genommen hat. Wenn die Detektoren sich aber in den Positionen D1A und D2A befinden, dann mißt man ein Interferenz-Muster, d. h. Intensitäten, die von der Phase δ abhängen. In diesem Experiment ist das Objektsystem S im Zustand ϕ präpariert. Es gibt hier zwei inkommensurable, im Präparationszustand ϕ nicht objektive Observable, die Bahn-Observable B mit den Eigenzuständen ϕ(B) und ϕ(¬B) und die Interferenz-Observable A mit den Eigenzuständen ϕ(A1) und ϕ(A2). Die Wahrscheinlichkeiten B in D2B zu registrieren oder ¬B in D1B lauten p(ϕ, B) = p(ϕ, ¬B) = ½. Die Wahrscheinlichkeiten dafür, A1 in D1A zu registrieren bzw. A2 in D2A lauten p(ϕ, A1) = cos2(δ/2), p(ϕ, A2) = sin2(δ/2). Das bedeutet, daß die relative Häufigkeit der Photonen, die den Detektor D1A erreichen, angenähert durch cos2(δ/2) gegeben ist und die relative Häufigkeit, den Detektor D2A zu erreichen, durch sin2(δ/2). Das ist die übliche quantenmechanische Beschreibung
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des erwähnten Experiments. Sie macht davon Gebrauch, daß die berechenbaren Wahrscheinlichkeiten p(ϕ, A1) und p(ϕ, A2) in den relativen Häufigkeiten der Meßresultate reproduziert werden, aber sie erklärt diesen Sachverhalt nicht. Tatsächlich handelt es sich aber bei dieser Behauptung weder um ein Postulat, auf das man eventuell auch verzichten könnte, noch um einen Teil einer möglichen Interpretation, sondern um eine Konsequenz aus einem beweisbaren Satz. Ohne hier ins Detail zu gehen, läßt sich dieser Zusammenhang auch rein begrifflich darstellen. Die quantenmechanische Behauptung besagt, daß die berechenbaren Werte p(ϕ, A1) und p(ϕ, A2) den relativen Häufigkeiten von A1 und A2 nach entsprechenden Messungen der Observablen A entsprechen. Es handelt sich also um eine Aussage über die Zusammensetzung eines Ensembles. Stellen wir uns ein großes Ensemble SN(ϕ) von N gleich präparierten Systemen Sn(ϕ), (n = 1…N), vor und stellen wir uns weiter vor, daß an jedem dieser Systeme eine Messung der Observablen A durchgeführt wird. Das Ergebnis jeder dieser einzelnen Messungen ist vollkommen unbestimmt. – Man sagt auch daß jedes der einzelnen Systeme sich nach der Messung in einem Gemischzustand W der beiden möglichen Eigenzustände von A befindet. – Wir erhalten damit ein neues Ensemble SN(A1, A2) von Systemen Sn(A1) und Sn(A2), die entweder die Eigenschaft A1 oder deren Gegenteil A2 besitzen. (Fig. 3)
Fig. 3. Die A-Messung an einem Ensemble
Um etwas über die relativen Häufigkeiten der Werte A1 und A2 zu erfahren betrachten wir das ganze Ensemble SN(A1, A2) als ein großes quantenmechanisches System mit einem Zustand (W)N und untersuchen eine Observable FNk , (k = 1, 2) dieses Ensembles, deren Eigenwerte die relativen Häufigkeiten von A1 bzw. A2 sind. Diese Observable ist verhältnismäßig leicht zu konstruieren. Man sieht auch leicht, daß der Erwartungswert des Operators FNk in dem Zustand (W)N durch p(ϕ, Ak) gegeben ist. (W)N ist aber kein Eigenzustand des Operators FNk mit dem Eigenwert p(ϕ, Ak). Nach längerer Rechnung stellt man jedoch fest, daß der Zustand (W)N des Ensembles SN(A1, A2) zwar für endliche Werte von N kein Eigenzustand des Operators FNk der relativen Häufigkeit ist, daß aber im Grenzwert unendlich vieler Systeme der Zustand (W)N des Ensembles SN(A1,
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A2) ein Eigenzustand wird und zwar mit dem Eigenwert p(ϕ, A1) bzw. p(ϕ, A2). Damit ist aber die Behauptung der Reproduktion der Wahrscheinlichkeit bewiesen.16 In der Quantenmechanik erkennt man somit den folgenden Zusammenhang: Die Messung einer Größe, die im Präparationszustand eines Systems objektiv unbestimmt ist, liefert ein Messergebnis, das durch kein Gesetz determiniert ist. Daraus folgt aber durch rein formale Überlegungen, daß in einem hinreichend großen Ensemble von gleichartigen Messungen die relativen Häufigkeiten der Meßergebnisse bereits durch die Präparation der Objektsysteme und die gemessene Observable genau bestimmt sind. – Das ist nun aber – kurioserweise – genau das, was sich Einstein gewünscht hat. Er wollte nicht, daß die Physik auf eigenständigen statistischen Gesetzen beruht. Statt dessen war er eher bereit, eine vollständige Gesetzlosigkeit zu akzeptieren. In der Quantenmechanik sind die individuellen Meßwerte keinem Gesetz unterworfen, und die Wahrscheinlichkeitsgesetze ergeben sich daraus allein durch statistische Überlegungen und durch die große Zahl der Objekte. Die Wahrscheinlichkeitsgesetze der Quantenmechanik sind daher keine eigenständigen Gesetze, sondern sie sind die statistische Widerspiegelung der Tatsache, daß die individuellen Systeme durch kein Gesetz bestimmt sind. – Leider konnte niemand Einstein zu der Zeit, als er seine Gedanken äußerte, diese Zusammenhänge so erklären.
3. Ist die Quantenmechanik vollständig? Das EPR–Argument Der dritte, bis heute diskutierte Einwand Einsteins gegen die Quantenmechanik behauptet, daß die Quantenmechanik unvollständig ist. Er wurde zusammen mit Podolsky und Rosen 1935 publiziert und soll hier als EPR-Argument bezeichnet werden.17 Einstein hatte in der Bohr-Einstein-Debatte18 einsehen müssen, daß ein direkter experimenteller Zugriff auf eine bestimmte Observable im allgemeinen nicht möglich ist. Bei zahllosen, von Einstein vorgeschlagenen Gedankenexperimenten konnte Bohr zeigen, daß man die Unschärferelationen nicht umgehen kann. – Einstein ist aber auch der von Heisenberg vertretenen These von der angeblich bei einer Messung auftretenden unvermeidlichen, unkontrollierbaren Störung des Objektsystems gefolgt.19 Beide Gesichtspunkte wurden bei der Formulierung des bereits erwähnten Realitätsprinzips berücksichtigt, das den ersten Argumentationsschritt in der EPR-Arbeit von 1935 darstellt. Das Realitätsprinzip R lautet:
Der formale Beweis dieses hier nur verbal mitgeteilten Statistik-Theorems ist sehr aufwendig. Für alle Einzelheiten vgl. etwa Peter Mittelstaedt: The Interpretation of Quantum Mechanics and the Measuring Process, Cambride: Cambridge University Press 1998, S. 47–52, S. 125–128 und Peter Mittelstaedt / Paul Weingartner: Laws of Nature, Heidelberg: Springer 2005, S. 322–328. 17 Einstein / Podolsky / Rosen: a. a. O. 18 Vgl. hierzu den Beitrag von Niels Bohr in Schilpp (Hg.): a. a. O., S. 199–241. 19 Noch 1952 schreibt Einstein in einem Brief an Besso: … »indeed every measurement signifies an uncontrollable real intervention in the system (Heisenberg)« (zitiert nach Stachel: a. a. O., S. 390). 16
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Wenn man, ohne ein System in irgendeiner Weise zu stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit voraussagen kann, dann gibt es ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht. Das zweite, weniger explizit verwendete Argument ist ein Lokalitätsprinzip, das der Idee eines lokalen, kausal bestimmten relativistischen Feldes entnommen ist. Das Lokalitätsprinzip L kann etwa so formuliert werden: Wenn zwei Systeme nicht miteinander wechselwirken können, dann kann eine Messung an einem System das andere System nicht verändern. Auf der Grundlage des Realitätsprinzips R und des Lokalitätsprinzips L20 wird nun in der EPR-Arbeit versucht zu zeigen, daß die Quantenmechanik unvollständig ist. Das Argument macht Gebrauch von einem, später von Bohm und Aharonov21 vereinfachten Gedankenexperiment. Dazu betrachten wir zwei Spin ½ Teilchen S1 und S2 (z. B. Proton und Neutron), die in einem 1S0- Zustand Ψ(S1+S2) (mit dem Gesamtspin 0) präpariert wurden, aber nicht mehr miteinander wechselwirken. Wenn man bei einer Messung des Spins σ1(n) in Richtung n (mit Eigenzuständen ϕn(1), ϕ-n(1)) an dem System S1 den Wert s1 = + ½ erhält, dann erhält man bei einer darauf folgenden Messung des Spins σ2(n) (mit Eigenzuständen ϕn(2), ϕ-n(2)) in der gleichen Richtung an dem System S2 mit Sicherheit den Wert s2 = − ½. Wenn die Spin-Messung an S2 in einer anderen Richtung n’ ≠ n durchgeführt wird, dann kann man für σ2(n’) das Ergebnis (− ½) nicht mehr mit Sicherheit, sondern nur noch mit der Wahrscheinlichkeit p(n, −n’) = ½ (1 + n⋅n’ ) voraussagen. Um anhand dieses Gedankenexperiments zu zeigen, daß die Quantenmechanik unvollständig ist, beachten wir, daß die beiden vorausgesetzten Prinzipien die Form einer Implikation haben und schreiben entsprechend R = R1→R2 und L = L1→L2. Wenn die beiden Teilsysteme hinreichend weit voneinander entfernt sind, dann können sie nicht mehr miteinander wechselwirken und die Prämisse L1 von L ist erfüllt und damit auch L2. Eine Messung von σ1(n) an S1 kann daher S2 nicht verändern. Da nun weiterhin das Resultat s1 einer σ1(n)-Messung den Wert s2 = −s1 der Observablen σ2(n) bestimmt, so ist die Prämisse R1 von R erfüllt. Also gilt auch R2, d. h. der Wert s2 von σ2(n) kommt dem System S2 in der Präparation Ψ objektiv zu. Da dieses Argument auf die Spin−Obervablen σ1(n) und σ2(n) für jede Richtung n angewandt werden kann, so folgt, daß der Wert s2 von σ2(n) für jede Richtung n am System S2 nach der Präparation des Zustandes Ψ objektiv vorliegt. Einerseits ist also der Wert s2 von σ2(n) in S2 objektiv bestimmt, auch wenn der Beobachter ihn subjektiv nicht kennt. Anderseits aber erlaubt die Quantenmechanik
20 Bezogen auf einen konkreten Fall heißt es bei Einstein / Podolsky / Rosen: a. a. O, S. 779: »since at the time of measurement the two systems no longer interact, no real change can take place in the second system in consequence of anything that may be done to the first system«. 21 David Bohm / Yakir Aharonov: Discussion of experimental proof for the paradox of Einstein, Podolsky and Rosen, in: Physical Review 108 (1959), S. 1070–1076.
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nicht, diesen Wert aus dem Präparationszustand Ψ(S1+S2) des Gesamtsystems S1+S2 zu bestimmen, sondern nur dessen Wahrscheinlichkeit. Also ist die Quantenmechanik nicht vollständig. Das in Fig. 4 dargestellte Argumentationsschema wiederholt dieses Ergebnis.
Fig. 4: Das EPR-Argument für die Unvollständigkeit
Als dieses Ergebnis publiziert wurde, brach unter den Quantenphysikern ein Sturm der Entrüstung los. So schrieb etwa Pauli, der offensichtlich sehr erregt war, an Heisenberg:22 Einstein hat sich wieder einmal zur Quantenmechanik öffentlich geäußert,… bekanntlich ist das jedes Mal eine Katastrophe, wenn das geschieht. Und weiter: Immerhin möchte ich ihm zugestehen, dass ich, wenn mir ein Student in jüngeren Semestern solche Einwände machen würde, diesen für ganz intelligent und hoffnungsvoll halten würde. Und schließlich: Überhaupt spukt bei älteren Herren wie Laue und Einstein die Idee herum, die Quantenmechanik sei zwar richtig, aber unvollständig. Man könnte sie durch in ihr nicht enthaltene Aussagen ergänzen, … Und dann versucht Pauli in diesem Brief Heisenberg zu überreden, eine »pädagogische Erwiderung« zu schreiben: »Vielleicht könntest Du …einmal in autoritativer Weise klarstellen, daß eine solche Ergänzung der Quantenmechanik nicht möglich ist, ohne ihren Inhalt abzuändern.« Obwohl Heisenberg einen Entwurf für eine derartige Publikation geschrieben hat, hat er sie – wohl aus guten Gründen – nie veröffentlicht. Die in den dreißiger Jahren jüngere Generation der Quantenphysiker glaubte sich offenbar − zusammen mit ihrem Übervater Niels Bohr – im Besitz eines fast hermetischen 22 Karl von Meyenn (Hg.): Wolfgang Pauli, Wissenschaftlicher Briefwechsel mit Bohr, Einstein, Heisenberg u. a., Bd. II, Berlin: Springer 1985, S. 402 ff.
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Wissens, das immun war gegen alle Argumente der Generation von Einstein. Die ideologische Geschlossenheit und das Gruppenbewusstsein der jüngeren Quantenphysiker hat viel zu deren Belehrungsresistenz beigetragen. In unzähligen Zuschriften an Einstein und in Publikationen vieler Autoren wurde versucht, das EPR-Argument zu widerlegen und die Quantenmechanik vor dem Makel der Unvollständigkeit zu bewahren. Einstein selbst war belustigt darüber, daß alle Zuschriften, die er sofort nach der Publikation der EPR-Arbeit erhielt, ganz sicher waren, daß seine Argumente falsch seien, daß aber alle verschiedene Gründe dafür angaben.23 Allerdings hatten alle Kritiker – und auch Einstein selbst – ein kleines Detail in der EPR-Argumentation übersehen, das zu einer sachlichen Erledigung der Kontroverse hätte beitragen können. Um das zu sehen, betrachten wir noch einmal den letzten Schritt der Argumentation, der von R2 zur Unvollständigkeit geführt hat. R2 besagt, daß das System S2 für jedes n einen Wert s2 = {+½ , − ½} von σ2(n) objektiv besitzt und zwar mit der Wahrscheinlichkeit ½ . Diese Feststellung ist eine Objektivierungsannahme, die einem Einzelsystem, hier S2, einen Wert von σ2(n) schon vor dessen Messung zuschreibt. Diese Annahme der »Werteobjektivierung« ist aber nicht vereinbar mit der in der Quantenmechanik vorliegenden Situation, daß nämlich einerseits das Resultat der Messung eines einzelnen Systems gänzlich unbestimmt ist, daß sich aber anderseits aus dieser völligen Unbestimmtheit die strengen Gesetze ergeben, die die Statistik solcher Systeme bestimmen. – Das wurde oben genauer gezeigt. – Man muß daher darauf gefaßt sein, daß zusätzliche Annahmen über die Werte von Einzelsystemen zu einer anderen, der Quantenmechanik widersprechenden und daher empirisch falschen Statistik führen. Das ist auch tatsächlich der Fall. In dem vorliegenden, besonders einfachen Fall wird man auf eine statistische Relation (WO) der »Werteobjektivierung« geführt, aus der in wenigen Schritten die sog. Bellschen Ungleichungen (BU) folgen, von denen bekannt ist, daß sie in direktem Widerspruch zu den statistischen Gesetzen der Quantenmechanik stehen. (Fig. 5).24
Fig 5. Das EPR-Argument führt auf einen Widerspruch
23 24
Max Jammer: The Philosophy of Quantum Mechanics, New York: Wiley 1974, S. 187. Eine formale Herleitung dieses Resultats findet sich im Anhang.
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Es ist offensichtlich, daß ohne die Kenntnis der Bellschen Ungleichungen die EPR-Argumentation nicht angemessen widerlegt werden konnte. Die Bellschen Ungleichungen wurden aber erst 1964 entdeckt, also fast 30 Jahre nach der EPR-Arbeit und 10 Jahre nach Einsteins Tod 1955. Bell hatte klar erkannt, daß man die These der Unvollständigkeit der Quantenmechanik nur durch ein »NO-GO-Theorem« für ergänzende, verborgene Parameter widerlegen kann. … additional variable were to restore to the theory causality and locality. In this note that idea will be formulated mathematically and shown to be incompatible with the statistical predictions of quantum mechanics. Der ursprüngliche Bellsche Beweis dieser Vermutung kann heute in der hier vorgetragenen, stark vereinfachten Fassung dargestellt werden. Natürlich muß der durch diese Überlegungen aufgedeckte Widerspruch beseitigt werden. Während in den Jahren nach 1935 besonders das Realitätsprinzip in die Kritik geraten war, wurde nach der Entdeckung der Bellschen Ungleichungen klar, daß das Lokalitätsprinzip aufgegeben werden muß. Dadurch trat nicht nur die fundamentale Nichtlokalität der Quantenmechanik in das allgemeine Bewusstsein der Physiker, sondern diese Nichtlokalität wurde etwa seit 1980 auch durch zahllose, bis heute immer weiter verbesserte Experimente überzeugend bestätigt.25 All das war aber nicht bekannt, als das EPR-Argument 1935 publiziert wurde. Daher konnte zu dieser Zeit auch niemand überzeugende Gegenargumente gegen Einstein vorbringen.26 Die Einwände gegen EPR bestanden daher aus Pauschalargumenten und Vermutungen wie der, daß das Realitätsprinzip in der Quantenmechanik nicht haltbar sei. Einsteins ironische Feststellung, daß die Autoren aller Zuschriften an ihn von der Falschheit des EPR-Arguments überzeugt waren und doch ganz unterschiedliche Gründe dafür angaben, kennzeichnet ganz eindeutig die Beweisnot seiner Widersacher.
Abschließende Bemerkungen Einstein hat in der Zeit von 1925 bis 1955 immer wieder Argumente gegen die Quantenmechanik vorgebracht, weil er den Eindruck hatte, daß diese Theorie keinen ausreichenden Bezug zur Realität hat, daß sie auf Wahrscheinlichkeitsgesetzen beruht und daß sie deshalb unvollständig, wenn auch nicht falsch ist. Diesen Eindruck mußte Einstein Vgl. hierzu: Gregor Weihs / Thomas Jennewein/Christoph Simon / Harald Weinfurter / Anton Zeilinger: Violation of Bell´s Inequality under strict Einstein Locality Conditions in: Physical Review Letters 81 (1998), S. 5039–5043. 26 Man sollte allerdings beachten, daß alles, was zu einer theoretisch-physikalischen Widerlegung des Vorwurfs der Unvollständigkeit der Quantenmechanik im Jahre 1935 erforderlich gewesen wäre, damals im Prinzip schon bereits bekannt war. Ohne die ideologische Fixierung der damaligen Quantenphysiker auf die Kopenhagener Interpretation hätten diese Physiker die Bell’schen Ungleichungen durchaus in den Jahren 1936–37 finden und damit die Unvollständigkeitsbehauptung angemessen widerlegen können. – In der wirklichen Geschichte ist das erst 30 Jahre später geschehen. 25
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aus den Darstellungen der Quantenmechanik im ersten Jahrzehnt nach ihrer Entdekkung gewonnen haben, da diese Darstellungen die Unvermeidbarkeit einer positivistischen Deutung27 der Theorie, sowie die unlösliche Verbindung von Objekt und Subjekt in dem, was Bohr als ein »Phänomen« bezeichnete, als wesentlich für das Verständnis der Quantenmechanik betrachteten. Einsteins Einwände gegen die Quantenmechanik richteten sich daher nicht gegen die Theorie, wie wir sie heuten kennen und verstehen, sondern gegen das in den frühen Jahren der Quantenmechanik durch allerhand Mystifikationen entstandene interpretatorische Phantom. Hier waren Einsteins Einwände durchaus berechtigt. Eine sachliche Zurückweisung dieser Einwände war aber zu der Zeit, als sie vorgebracht wurden, gar nicht möglich, da die für eine solche Zurückweisung erforderlichen formalen Hilfsmittel noch nicht zur Verfügung standen. Diese technischen Defizite wurden jedoch von den Verteidigern der damaligen Quantenphysik gar nicht als solche wahrgenommen, weshalb viele glaubten, Einstein allein mit Pauschalargumenten widerlegen zu können. Die Widerlegungskampagne gegen das EPR-Argument illustriert diese Feststellung sehr deutlich. Das von Einstein formulierte Realitätsprinzip ist in der Quantenmechanik erfüllt, ohne daß Einstein selbst oder seine Widersacher das haben erkennen können. Auch seine Kritik an der Wahrscheinlichkeitsstruktur der Theorie ist irrelevant, da gerade seine Vorstellungen von Chaos und Gesetzlichkeit in der Quantenmechanik verwirklicht sind. Auch das konnte zu Einsteins Lebzeiten noch niemand erkennen. Nur der Vorwurf der Unvollständigkeit ist sachlich falsch, aber eine angemessene Zurückweisung war auch hier erst 30 Jahre nach der Formulierung dieses Einwands möglich.
Literatur Bohm, David / Aharonov, Yakir: Discussion of experimental proof for the paradox of Einstein, Rosen and Podolsky, in: Physical Review 108 (1957), S. 1070–1076. Bohr, Niels: Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik, in: Die Naturwissenschaften 16 (1928), S. 245–257. Bohr, Niels: Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, in: Schilpp (Hg.): Einstein, Philosopher-Scientist, Evanston, Ill.: The Library of Living Philosophers 1949, S. 199–241. Bose, Satyendra Nath: Plancks Gesetz und Lichtquantenhypothese in: Zeitschrift für Physik 26 (1924), S. 178–181. Einstein Albert: Quantentheorie des einatomigen idealen Gases, in: Sitzungsber. der Preußischen Akademie der Wissenschaften (phys.-math. Klasse) 1924, S. 261–267. Einstein, Albert: Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt, in: Annalen der Physik 17 (1905), S. 132–148. 27
100.
Vgl. hierzu Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, München: Piper Verlag 1969, S. 91–
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Kolloquium 12 · Peter Mittelstaedt
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Anhang: Das EPR-Argument führt auf einen Widerspruch Formal kann man dieses Ergebnis auf folgende Weise erhalten: Die Objektivierungsannahme besagt, daß sich das Teilsystem S2 in einem Gemischzustand W2(S2) = ½P[ϕn(2)] + ½P[ϕn(2)] befindet, der eine Ignoranzinterpretation erlaubt, d. h. in einem Gemenge. Das bedeutet, daß die auf S1+S2 bezogene Observable 1⊗σ2 auch in dem Gesamtsystem mit der Präparation Ψ objektiviert werden kann und das System S1+S2 sich in dem Gemischzustand WΨ (S1+S2) = ½ P[ϕn(1) ⊗ϕ-n(2)] + ½ P[ϕ-n(1) ⊗ϕn(2)] befindet. Für eine Berechnung von Erwartungswerten der Observablen des Gesamtsystems sind daher die Zustände Ψ und WΨ äquivalent. Diese Behauptung läßt sich leicht nachprüfen. Für die spezielle Testobservable B(n´, n´´): = σ1(n´) ⊗ σ2(n´´)
Einsteins Kritik an der Quantenmechanik
589
müssen die Erwartungswerte in Bezug auf die Zustände Ψ und WΨ gleich sein. Daraus folgt nach kurzer Rechnung n´· n´´ − (n · n´)( n · n´´ ) = 0
(WO)
als Bedingung für die Werte-Objektivierung (WO) von σ1 und σ2. Abgesehen von einigen speziellen Tripeln (n, n’, n’’) ist diese Gleichung in der Quantenmechanik verletzt. Die EPR-Argumentation führt also nicht auf die Unvollständigkeit der Quantenmechanik, sondern auf einen Widerspruch. Durch elementare Rechnung folgen aus (WO) in wenigen Schritten die Bellschen Ungleichungen n´· (n - n´´)⏐ ≤ n · (n - n´´) ⏐n´ · (n + n´´)⏐≤ n · (n + n´´),
(BU)
die für geeignete Wertetripel ebenfalls der Quantenmechanik widersprechen.
KOLLOQUIUM 13 Das kreative Gehirn – Kreativität als Problem der Hirnforschung
Achim Stephan Einführung Henrik Walter Kann die Neurowissenschaft Kreativität erklären? Hinderk Emrich Kreativität und Gehirnfunktion: Die Bedeutung interner Zensursysteme
Einführung Achim Stephan (Osnabrück)
Ist »Kreativität« ein philosophischer Fachterminus? Fast möchte man geneigt sein, dies zu verneinen, denn in den neueren einschlägigen Lexika sucht man vergebens nach einem Eintrag. Weder das 1994 von Samuel Guttenplan herausgegebene Companion to the Philosophy of Mind, noch die von Jürgen Mittelstraß 1995 / 1996 im Nachdruck erneut herausgegebene vierbändige Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, noch die von Hans Jörg Sandkühler 1999 herausgegebene zweibändige Enzyklopädie Philosophie enthalten Erläuterungen zu diesem Begriff. Das Historische Wörterbuch der Philosophie verzeichnet »Kreativität« als einen reichlich vielschichtigen, uneinheitlich gebrauchten Begriff, der etwa seit den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Psychologie Verwendung finde, um als »Titel für eine hypothetische Gemeinsamkeit von Forschungsgegenständen« zu dienen; Schlüsselbegriffe seien etwa: Begabung, Originalität, Phantasie, Intuition, Inspiration, wissenschaftlich-technisches Erfinden sowie künstlerisches Schaffen. Und doch hat der Begriff »Kreativität« philosophische Brisanz, sogar eine so große, daß sich ein einwöchiger Philosophie-Kongreß von ihm leiten läßt. In der Kognitionswissenschaft, insbesondere in der Künstlichen Intelligenz und in der Neurowissenschaft, ist Kreativität ein Thema, das – wenn man sich darauf einläßt, ihm auf den Grund zu gehen – eine Reihe von philosophischen Fragestellungen aufwirft. In Kolloquium 13 »Das kreative Gehirn – Kreativität als Problem der Hirnforschung« streben wir zu diesem Thema insbesondere einen Brückenschlag zwischen Philosophie und Neurowissenschaft an. Dabei sollten wir uns von Anbeginn darüber Klarheit verschaffen, welche Erklärungen sinnvoller Weise von der Hirnforschung überhaupt erwartet werden können und welche nicht. Margaret Boden hat dazu schon vor einigen Jahren den Weg gewiesen: In ihrem Buch Die Flügel des Geistes. Kreativität und Künstliche Intelligenz (1990, S. 47 ff.) unterscheidet sie zwischen psychischer (oder persönlicher) Kreativität (P-creativity) und historischer Kreativität (H-creativitiy). Psychische Kreativität bezieht sich auf Ideen oder Schaffensprozesse, die »grundlegend neu sind, was den einzelnen betrifft, dessen Geist sie entstammen« (ib.). Historische Kreativität bezieht sich hingegen auf Ideen, die in Bezug auf die gesamte Menschheitsgeschichte genuin neuartig sind. In der Kultur-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte werden üblicherweise nur die historisch erstmaligen Leistungen festgehalten und von den Nachfolgenden als herausragende schöpferische Leistungen gewürdigt oder bewundert. Diesen Phänomenen hatte sich auch die Philosophie schon lange vor der empirischen Kreativitätsforschung zugewandt. Insbesondere ästhetische Theorien versuchten mit Hilfe des Begriffs des »Genies« – oder des »schöpferischen Geistes« – künstlerisches Schaffen angemessen zu deuten.
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Kolloquium 13 · Achim Stephan
Historisch Kreatives läßt sich aufgrund seiner Einmaligkeit jedoch kaum durch empirische Studien so untersuchen, daß die zugrunde liegenden kreativen Prozesse durch einen Rekurs auf die Gehirnvorgänge der zuständigen Wissenschaftler und Künstler erklärt werden könnten. Anders verhält es sich mit P-kreativen Akten. Beschränkt man sich auf Kreativität im psychischen / personalen Sinne, so läßt sich auch ein Paradoxon auflösen, das seit längerem die wissenschaftliche Kreativitätsforschung umgibt: Wie soll es möglich sein, kreative Akte, also Prozesse, in denen genuin Neuartiges geschaffen wird, reduktiv zu erklären? Könnte man diese tatsächlich durch Angabe der entsprechenden Mechanismen auf neuronale Prozesse zurückführen, so ließe sich genuin Neuartiges im Prinzip auch vorhersagen bzw. herbeiführen. Damit verlöre der kreative Akt aber gerade das, was ihn auszeichnet. Sollte es dagegen prinzipiell unmöglich sein, kreative Phänomene wissenschaftlich zu erklären, so wären kreative Akte emergente Phänomene – irreduzible Eigenschaften menschlichen Verhaltens, die sich nicht in einem naturwissenschaftlich orientierten Weltbild unterbringen lassen (zu Fragen der Emergenz vgl. Stephan 2005). Die systematische Untersuchung der personalen Kreativität umgeht dieses Problem, denn studiert werden dann »nur« Leistungen, die für den einzelnen, der sie hervorbringt, neuartig sind: z. B. das Entdekken eines schwierigen mathematischen Beweises, für den das Individuum noch keine Vorlage hat; oder das Entwickeln eines Lösungsvorschlags auf ein philosophisches Probleme einer bestimmten Epoche der Philosophiegeschichte; hier kann es unter individuellen Gesichtspunkten höchst kreativ sein, eine Lösung anzubieten, die z. B. einem Vorschlag Kants entspricht – vorausgesetzt, der Studierende hatte noch keine Kenntnis der Kantischen Philosophie. Wenn jedoch erst einmal Einsicht in die Kreativität des Alltagslebens gewonnen ist, dann – so die Hoffnung – erhalten wir eines Tages vielleicht auch Einblick in die kreativen Prozesse, die einige von uns zu Genies hat werden lassen.
Literatur Boden, Margaret: Die Flügel des Geistes. Kreativität und Künstliche Intelligenz, München: Artemis & Winkler 1990. Matthäus, W.: Art. Kreativität, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Basel, Stuttgart: Schwabe 1976, Sp. 1194–1203. Stephan, Achim: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Paderborn: mentis 2005.
Kann die Neurowissenschaft Kreativität erklären? (Abstract) Henrik Walter (Frankfurt)
In einem bestimmten Sinne: Ja. Da menschliche mentale Zustände fundamental auf neurobiologischen Prozessen beruhen, beruhen auch kreative Vorgänge auf neuronalen Prozessen – und daher kann Kreativität in einem engeren, psychologischen Sinne durch die Neurowissenschaft im Prinzip erklärt werden. In einem anderen Sinne: Nein. Denn das Konzept der Kreativität ist nicht ein rein individualpsychologisches: Vielmehr wird es in der Regel nicht nur über die Art des Hervorbringens von ›X‹ (einer Idee, einer Theorie, eines Kunstwerkes oder eines Produktes) definiert, sondern auch und wesentlich darüber, ob ›X‹ gesellschaftliche Anerkennung erfährt – ein Vorgang, der nicht primär in den Kompetenzbereich der Neurowissenschaften fällt. Im engeren psychologischen Sinne wird Kreativität häufig als Stufenprozeß aufgefaßt, der allerdings nicht streng chronologisch, sondern ineinander verschachtelt, d. h. rekursiv abläuft und in der Regel folgende Stufen umfaßt: Vorbereitung, Inkubation, (plötzliche) Einsicht und Ausarbeitung. Aus neurobiologischer Sicht sind dabei weniger die erste und letzte Stufe von Interesse, sondern vor allem die zweite und dritte: Welche neurobiologischen Erklärungen gibt es dafür, das der Prozeß der Inkubation offenbar unbewußt erfolgt und eine fokussierte, bewußte Beschäftigung mit einem Problem kreative Prozesse häufig behindert? Kann uns die Neurowissenschaft erklären, wie es zu der Einsicht / Problemlösung im kreativen Prozeß kommt? Eine allgemeine neurobiologische Theorie der Kreativität gibt es zwar noch nicht (für erste Ansätze vgl. Heilmann 2003, Dietrich 2004), doch es gibt eine Fülle von Ansatzpunkten. In diesem Vortrag soll auf das wechselseitige Spiel von divergentem und konvergentem Denken fokussiert werden, d. h. auf die Frage, wie es dazu kommt, daß ein ungeordnetes, gelockertes Denken mit einem stark strukturiertem Denken in einem Wechselspiel zu kreativen Ideen führen kann. Dabei wird auf drei Aspekte näher eingegangen: Erstens wird die Rolle von Neurotransmittern wie dem Dopamin näher dargestellt, das im menschlichen Gehirn das allgemeine Signal-Rausch-Verhältnis der Informationsverarbeitung regelt: Ein hoher Dopamintonus führt zu einer engen Informationsverarbeitung, d. h. einzelne Signale erhalten eine besondere Wertigkeit (Salienz) und werden daher besonders stark, im Falle der Schizophrenie wahnhaft, mit Bedeutung aufgeladen (Walter und Spitzer, 2003). Ein niedriger Dopamintonus führt zu einer weiten Informationsverarbeitung, was sich in einer erhöhten Assoziationsfähigkeit niederschlägt. Sie resultiert – bei einem durch Vorwissen gut vorstrukturierten und gesunden Gehirn – im Phänomen des lateralen Denkens, im krankhaften Falle dagegen endet sie in verwirrtem Denken. Dabei spielt es eine wesentliche Rolle, welche Regionen des Gehirns in welchem Ausmaß mit Dopamin unter- oder überversorgt sind. Eine ähnli-
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Kolloquium 13 · Henrik Walter
che Rolle wie Dopamin wird Emotionen zugeschrieben: Positive Emotionen führen zu einem assoziativen Denkstil, negative Emotionen zu einem fokussierten und akkuraten Denkstil. Hier gibt es Ergebnisse aus der kognitiven Neurowissenschaft, die den neuronalen Korrelaten dieser Denkstile auf die Spur kommen (Walter et al. 2003). Da Emotionen stark durch das Verhältnis der Ausschüttung verschiedener Neurotransmitter bestimmt werden, könnte es sich dabei allerdings auch um verschiedene Aspekte sehr ähnlicher neuronaler Vorgänge handeln. Drittens wird auf allgemeine Prinzipien des Konnektionismus näher eingegangen, die verständlich machen, wie es innerhalb stark miteinander verknüpfter neuronaler Netze zu Selbstorganisationsphänomenen kommen kann, wenn allgemeine Systemparameter die Unordnung in einem System erhöhen und es ihm erst dadurch ermöglichen, einen bestimmten, dann stabilen Ordnungszustand einzunehmen. In neuronalen Netzen kann so der Einfluß von Dopamin auf kognitive Verarbeitung modelliert werden. Abschließend wird auf die Frage eingegangen, um was für eine Art von »Erklärung« es sich bei solchen neurowissenschaftlichen Erklärungen handelt. Es sind Paradebeispiele reduktionistischer Erklärungen: Formale Eigenschaften eines psychologischen Prozesses werden auf strukturelle, materialbedingte Eigenschaften eines physischen Substrates zurückgeführt. Diese Erklärung ist umso besser, je präziser (mathematischer) sie formuliert werden kann; im Idealfall so präzise, daß sie modelliert werden kann. Ein großes Problem solcher Erklärungen liegt weniger in der Tatsache, daß sie häufig nur punktuell und exemplarisch sind, sondern vielmehr darin, daß die psychologischen Konzepte selbst so unscharf definiert sind, daß ein exaktes Mapping nicht gelingen kann. Doch ist das vielleicht das Wesen reduktionistischen Erklärungen im mentalen Bereich. Sie bilden auf ontologisch niedrigeren Level bestimmte Prozesse häufig deutlich präziser ab und »verlieren« dabei in einem gewissen Sinne die weite Verwendbarkeit höherstufiger Konzepte. Doch dieser »Verlust« ergibt sich nicht wirklich aus einer höheren Erklärungskraft der höherstufigen Konzepte, sondern vielmehr aus deren unscharfen, kontextabhängigen Verwendungen, die es erlauben, sie mit changierenden Bedeutungen zu besetzen. Literatur Heilmann, Kenneth M.: Creativity and the Brain, New York, Hove: Psychology Press 2003. Dietrich, Arne: The cognitive neuroscience of creativity, in: Psychonomic Bulletin & Review 11 (2004), S. 1011–1026. Walter, Henrik / Spitzer, Manfred.: The cognitive neuroscience of agency, in: A. David / T. Kircher (Hg.): The self in neuroscience and psychiatry, Cambridge University Press 2003, S. 436–444. Walter, Henrik / Kiefer, Manfred / Erk, Susanne: Content, context and cognitive style in mood-memory interactions, in: Trends in Cognitive Sciences 7 (2003), S. 433–434.
Kreativität und Gehirnfunktion: Die Bedeutung interner Zensursysteme Hinderk M. Emrich (Hannover)
1.0 Einleitung Auf einem Philosophen-Kongreß über neurobiologische Vorgänge der Kreativität zu sprechen, bedeutet eine gewisse Herausforderung: ist Kreativität ein dynamischer Aspekt der Konstitution des Geistes per se? Welche Rolle spielt dann die Neurobiologie? Ist nicht von vornhinein die Gehirn-Geist-Debatte einschlägig zu berücksichtigen? Und wenn ja, in welcher Weise? Läßt sich aus neurobiologischen Erfahrungs- und Überzeugungsbeständen überhaupt über Kreativität im Sinne der Philosophie etwas sagen? Lassen Sie mich hierzu vorab eine Argumentationslinie unseres Gastgebers, Herrn Prof. Abel, andeuten, der in einem Manuskript aus 2005 hierzu folgendes ausführt: Subjektive und phänomenale Zustände: Im Hinblick auf die Dinge der Außenwelt und natürliche Stoffe macht es guten Sinn, mit Thomas Nagel und Saul A. Kripke zu unterscheiden zwischen dem, wie uns ein Ding erscheint, und dem, was es seiner objektiven Beschaffenheit nach ist. Bekanntes Beispiel: Ein Kristall erscheint als dicht und homogen; die Physiker dagegen sagen uns, daß es sich dabei um ein MolekülGitter handelt, das überwiegend aus leerem Raum besteht. In Bezug auf mentale Zustände und Prozesse jedoch (wie bei Wünschen, Überzeugungen, Farb- oder Klangempfindungen) läßt sich diese Unterscheidung nicht durchführen. Der subjektive und phänomenale Zustand ›ist seine ganze Natur‹ selbst. Daher kann man nicht sinnvoll sagen, ein Wunsch etwa sei seiner Natur nach nichts anderes als ein bestimmter Zustand des Gehirns, den eine Person lediglich als Wunsch empfinde. Im Blick auf die gegenwärtige ›Philosophy of Mind‹ scheint mir wichtig zu betonen, daß es in einer umfänglichen Philosophie des menschlichen Geistes nicht mehr nur um die Fragen (a) der Reduktion von Bewußtsein und Geist auf Gehirnfunktionen, (b) des Dualismus von Geist und Gehirn, Leib und Seele, Kognition und Gehirn, (c) des materialistischen Monismus und (d) des methodischen Mentalismus zu gehen hat. Entscheidend ist, daß die Dualismen als ganze defekt sind und zurückgelassen werden sollten. Dies hätte entlang der beiden Leitfragen zu erfolgen: »Wie funktioniert der menschliche Geist« (eine Frage, die die Philosophie sträflich der Kognitionswissenschaft überlassen hat) und »Welche Voraussetzungen müssen stets bereits als erfüllt unterstellt werden, sofern wir die Rede von ›menschlichem Geist‹ für sinnvoll halten?« Beide Fragen enthalten einen Kantischen Tonus und Tenor. In ihren Zusammenhang gehört offenkundig auch die wichtige Frage nach dem Verständnis und der Rolle des ›Ich‹-Bewußtseins.
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Kolloquium 13 · Hinderk Emrich
Auf der Linie dieser von Abel beschriebenen Gratwanderung werde ich versuchen, die derzeitigen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Kreativität und Gehirn darzustellen. Überlegungen zu Fragen nach »Kreativität und Gehirn« hängen sehr stark davon ab, welche Metaphern man für die Erklärungen von Hirnfunktionen verwendet, d. h. welche wissenschaftlichen Konzepte man in der Hirnforschung verwendet, denn »das Gehirn als solches« als das wissenschaftliche Ziel1 der Neurobiologie: davon sind wir noch relativ weit entfernt. Vielen Neurobiologen erscheint das Gehirn als eine Art von »Neuro-Computer«, der zentralnervöse Funktionen steuert. Da Computer aber im Wesentlichen Daten-auswertende Maschinen sind und wenig Neues generieren, bleibt Kreativität – und übrigens »Freiheit« – erst einmal unerklärt. Im Gegenzug hierzu gibt es aber eine Reihe von neurobiologischen Orientierungen, die mit der Frage nach Kreativität im ZNS viel anfangen können. So ist z. B. für den Neurobiologen von der Maalsburg das ZNS eine »Suchmaschine«: es ist »auf etwas aus«, ist »intentional«, nämlich auf der Suche nach etwas »Bedeutungshaftem«. Von der Maalsburg bezeichnet das Gehirn als »Signifikanz-Detektor«. Aus dem fast »unendlichen Rauschen« von Sinnesdatenlagen sucht das ZNS ständig signifikante Muster heraus, die für das biologische System »von Bedeutung« sein können.2 Für den Neurobiologen Martin Heisenberg (Würzburg) ist das Gehirn quasi »immer auf dem Sprung«, ist Träger von Spontaneität, die er als »initiale Aktivität« bezeichnet. Gehirnfunktionen reagieren nach diesem Konzept nicht einfach lediglich auf das, »was passiert«, sondern sie konstellieren etwas, sie schaffen eine »Situation«, in der sie initiativ werden. Insofern ist nach Heisenberg das klassische Bild des Verhaltensreflexes und der homöostatischen Regulation für die Steuerung von Verhalten in einer biologisch relevanten Situation falsch, weil das ZNS in diesen Modellen als »zu passiv«, als zu wenig spontan, zu wenig initiativ, zu wenig die Situation »erschaffend« dargestellt wird. Hiermit im Zusammenhang steht eine sehr wichtige Funktion des Gehirns, die vor allem von den Konstruktivisten herausgearbeitet worden ist: die wirklichkeitsschaffende Funktion, die »Konstruktivität von Gehirnen« (Gerhard Roth). Die Wirklichkeits-Hypothesen, die im ZNS generiert werden, stehen im Prozeß der Wahrnehmung mit den Sinnesdatenlagen in einer dynamischen Auseinandersetzung.
1 So wie es der Philosoph Quine für jede exakte Naturwissenschaft einmal definierte, daß sie »Ähnlichkeiten« eliminiert und nur noch die Sache selbst beschreibt: »Im allgemeinen können wir es als ein besonders deutliches Zeichen für die Reife eines Wissenschaftszweiges ansehen, wenn er keinen irreduziblen Begriff der Ähnlichkeit bzw. der Art mehr braucht. Es ist jene letzte Stufe, auf der die tierischen Rudimente gänzlich in der Theorie absorbiert sind.« 2 Ch. von der Maalsburg: persönliche Mitteilung, 1993.
Kreativität und Gehirnfunktion: Die Bedeutung interner Zensursysteme
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Abb. 1: System-theoretisches Schema über die »Passung« zwischen internem »Modell« und »Sinnesdaten« bei der Wahrnehmung
Nach diesen Überzeugungen stehen im Gehirn kreative, wirklichkeitsschaffende Funktionen des ZNS den (Sinnes-)Daten verarbeitenden Funktionen gegenüber. Die konzeptuell strukturierenden und damit auch kreativen Funktionen werden als »top-down« Konzepte bezeichnet (d. h. in der Hierarchie »von oben nach unten« funktionierend), während die (Sinnes-)Daten auswertenden Funktionen als »bottom-up« (Wahrnehmungs-) Funktionen dargestellt werden, d. h. als Funktionen (hierarchisch) »von unten nach oben«. Der Neurobiologe Desimone hat in einem Funktionsschema des Gehirns (Abb. 2) dargestellt, daß top-down Funktionen im Wesentlichen von vorderen Hirnanteilen zu rückwärtigen Hirnanteilen hin prozessieren, während umgekehrt die »bottomup« Funktionen vom Okzipitalhirn aus (d. h. vom Hinterhaupt aus) zum Frontalhirn hin aktiv werden.
Abb. 2: Schema der Richtungen in Top-down-Prozessen und Bottom-up-Prozessen im ZNS (nach Desimone et al., 1995)
Bei der Initiierung von Handlungsoptionen passiert nach Heisenberg etwas Analoges: mögliche Wirklichkeitsoptionen für geplante Handlungen werden gewissermaßen gegeneinander abgewogen und verrechnet, dies im Sinne einer »lottery of proposals«: nur eine erfolgversprechende mögliche Handlung wird auch realisiert; aber zunächst
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Kolloquium 13 · Hinderk Emrich
entsteht die Notwendigkeit der »Kreativität«, d. h. überhaupt der Generierung neuer Handlungsmöglichkeiten. Wie läßt sich nun diese Art von Kreativität erklären? Wieso ist nicht nur alles so, wie es ist? Wo kommen die Alternativen, die Möglichkeiten her? Ein neurobiologisch grundlegendes Prinzip für Kreativität scheint darin zu liegen, daß die »Bildung von Varianten« möglich wird. Bereits Goethe, der sich viel mit dem Thema Kreativität beschäftigt hat, war der Auffassung, daß Kreativität mit der Produktion von Varianten des bereits Gegebenen zu tun hat. So sagt er: »Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie produktiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt.« Mit anderen Worten: die Phantasie hat zu tun mit dem Verwandeln von Erweiterungen von Nachbildungen. Vom neurobiologischen Standpunkt aus scheint Kreativität mit einer Art von »Überschußproduktion« zu tun zu haben oder – wenn man so will – mit dem von Peter Sloterdijk beschriebenen »Luxus«. Wie der Neurobiologe Heiligenberg nämlich zeigt, werden neue Funktionen (beispielsweise beim elektrischen Fisch) evolutionsbiologisch dadurch möglich, daß neuronale Netze (»assemblies«) einfach vervielfacht werden und daß die in diesem Sinne »luxurierenden« assemblies dann in neue Funktionen hineindriften können. Dies scheint auf der semantischen Ebene ebenfalls möglich zu sein: es ist zu vermuten, daß Wirklichkeitsoptionen die suboptimal funktionieren, Anlaß zur Variantenbildung geben, die dann bessere Anpassungsleistungen ermöglichen. Etwas Derartiges ist in Abb. 3 für die wahrnehmungspsychologische Problematik dargestellt, daß primär unerklärte neuronale »Pattern« durch bisherige top-down Konzepte nicht interpretierbar sind, so daß neue »Wirklichkeitshypothesen« generiert werden müssen.
Abb. 3: Schema struktur-dynamischer Komponenten von Wahrnehmung und Denken; die »Passung« (fitting process) als dynamische Interaktion zwischen »System« (das Sinnesdaten repräsentiert) und »Modell« wird als Elementarprozeß der Wahrnehmung und damit als kleinstes Element von Bewußtseinsbildung angesehen. Das sekundäre struktur-dynamische Interagieren von »Meta-Modellen« mit »Modellen« wird als Elementarprozeß des Denkens interpretiert. Bei nicht ausreichender »Passung« kommt es zur reaktiven Konzeptualisierung.
Kreativität und Gehirnfunktion: Die Bedeutung interner Zensursysteme
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Durch die Wirksamkeit des »reaktiven Konzeptualisierungsdrucks« (Emrich) kommt es zur kreativen Bildung neuer Wirklichkeitshypothesen und damit dann zur gelingenden Erkennensleistung. Übersteigerte Kreativität kann in Einzelfällen aber zu psychotischen Ausnahmezuständen und »Nervenzusammenbrüchen« führen, wie man dies von Drogenerfahrungen und schizophrenen Episoden her kennt. Hiergegen hat das Gehirn im Prinzip »Selbstlimitationsprozesse« eingebaut, die auch als »Zensurleistungen« beschrieben werden. Aldous Huxley hat in seinem Buch Die Pforten der Wahrnehmung darüber berichtet, daß bestimmte Drogen wie Meskalin und LSD (auch Cannabinoide) solche Selbstlimitationsprozesse unterdrücken können und dadurch Schizophrenie-ähnliche Psychosen bewirken können. Derartige Vorgänge im Gehirn sind derzeit intensive Forschungsthemen der Neurobiologie. Auch Goethe hatte hierzu bereits eine Überlegung: »Die Phantasie in meinem Sinn ist heute gar zu herrisch, fürwahr, wenn ich das alles bin, so bin ich heute närrisch.« Auch die derzeit besonders aktuelle Forschung auf dem Gebiet der synästhetischen Wahrnehmungen enthält Aspekte, die sich auf kreative Prozesse im Gehirn beziehen lassen. Bei sog. »genuiner Synästhesie« liegt ja eine Hirnfunktion-Besonderheit vor, die dazu führt, daß das menschliche ZNS eine kreative Eigenwirklichkeit regelrecht »erschaffen« kann, die von den Eigenwirklichkeiten anderer Personen und auch anderer Synästhetiker völlig abweicht. Es wird ein »virtueller Wahrnehmungsraum« erzeugt, in dem komplexe Wahrnehmungen der sog. »Syn-Eigenschaften« in dem Sinne entstehen, daß zur Wahrnehmung einer Sinnesqualität (»Qualium«) noch andere Qualia hinzutreten, so daß z. B. zu einem Buchstaben oder einer Zahl eine Farbe oder zum Geschmack oder Geruch eine geometrische Form hinzutritt oder auch zu einem musikalischen Klang eine farbige Oberflächenstruktur. Solche subjektiv äußerst relevanten kreativen Leistungen von Subjekten sind (bei der »genuinen Form«) mit größter Wahrscheinlichkeit rein neurobiologisch zu erklären und können nur in Nebenaspekten auch psychologisch-psychodynamisch verstanden werden. Die Ursachen für die synästhetischen Verknüpfungen sind dabei noch nicht wirklich aufgeklärt; es gibt aber Hinweise darauf, daß hier emotionale Leistungen (»limbische Funktionen«) für die Verknüpfung eine Bedeutung haben: limbische Funktionen haben auch mit der Zuweisung von »Bedeutung« zu tun; und darin liegt auch ein für die Philosophie wohl relevanter Aspekt, daß Kognition nicht darin aufgeht, »kognitiv« im Sinne reiner Verstandesarbeit zu sein: vielmehr sind gefühlshaft wertende Aspekte für die Geistfunktionen und insbesondere für die Kreativität von ausschlaggebender Bedeutung. Aufgrund der bisher dargestellten Beobachtungen ist davon auszugehen, daß wir bei der Konstitution des Mentalen im ZNS nicht nur von zwei Komponenten »Top-down« und »Bottom-up« auszugehen haben, sondern von 3 Komponenten: es tritt nämlich noch die interne Zensur, »internal censorship«, hinzu (Abb. 4). Diese enthält eine wirklichkeitsüberarbeitende Funktion und funktioniert nach der Regel, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.
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Kolloquium 13 · Hinderk Emrich
Komponenten der Wahrnehmung – Sinnesdaten (von außen nch innen) – Auswertungsstrategien (von innen nach außen) (Weltmodell) – Bewertungsregeln (Zensur) bei Unklarheiten Abb. 4: Schema des 3-Komponenten Modell der Wahrnehmung.
Hieran knüpfen sich nun zwei Fragen: a) Wie funktioniert diese Selbstlimitation, die ja letztlich Kreativität hemmt? b) Wie können wir diese Zensurprozesse beobachten? Zur ersten Frage läßt sich sagen, daß nach der in Abb. 2 von Desimone dargestellten Konzeption die Zensur in der Temporallappen-Region lokalisiert sein könnte.
Abb. 5: ZNS-Schema der Temporal-Region (Amygdala, Hippocampus)
Die Funktionsweise dieser Zensur wurde von den Autoren Gray und Rawlins als »Comparator-System« beschrieben. Diese Funktionen werden auf den Temporallappen (Hippocampus) bezogen (Abb. 5) und sind schematisch stets ein Vergleich zwischen »Erwartung« und »Sinnesdaten«-»Realität« (Abb. 6).
Abb. 6: Darstellung des »hippocampalen Comparator« Systems nach Gray und Rawlins, wobei jeweils Abgleiche zwischen Außendaten und gespeicherten Innendaten durchgeführt werden.
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Die andere Frage, die nach der Beobachtbarkeit von Zensur, läßt sich durch sog. »Illusionsforschung« beantworten. Diese steht ja in einer ehrenvollen philosophischen Tradition: von Plato über Descartes bis hin zu Husserl und Wittgenstein. Visuelle Illusionen zeigen erst einmal besonders eindrucksvoll die Darstellung der Wahrnehmungshypothesen, d. h. der Top-down-Komponenten.
Abb. 7: Einfache visuelle Illusion, innerhalb derer ein helles Dreieck in scheinbar darunterliegenden Strukturen aufzuliegen scheint, wobei die Dreieckskanten virtuell sind und durch interne Konzeptualisierung erzeugt werden.
2.0 Möglichkeitsschaffende Fiktionen, psychedelische Zustände, Kreativität und Psychose Martin Heidegger hat in seinen berühmten Nietzsche-Vorlesungen auf einen Zusammenhang hingewiesen, der Nietzsche in Verbindung mit Schopenhauer bringt, und zwar im Hinblick auf die Kreativität in der Kunst. So sagt Martin Heidegger: Schopenhauer deutet das Wesen der Kunst als ›Quietiv des Lebens‹, als solches, was das Leben in seiner Erbärmlichkeit und seinen Leiden beruhigt, was den Willen, dessen Drang eben das Elend des Daseins erwirkt, aushängt. Nietzsche kehrt um und sagt: die Kunst ist das ›Stimulans‹ des Lebens, solches, was das Leben aufreizt und steigert. ›Das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt…‹. […] ›Stimulans‹ ist die offensichtliche Umkehrung von ›Quietiv‹.3 Das Verhältnis zwischen ästhetischer Wahrnehmung, Kunst und Genie hat mit dieser Ambiguität zwischen »Quietiv« und »Stimulans« zu tun. Ist die Kreativität der Kunst ein »Beruhigungsmittel« – ein »Opium fürs Volk«, wie Karl Marx die Religion einmal nannte – oder ist die Kreativität der Kunst ein Moment, das den Menschen über sich selbst erhebt, das Leben und zum Leben hin stimuliert? Sicherlich kann Kunst in beiderlei Hinsicht wirken und verwendet werden, denn das künstlerische Schaffen steht in gewissem Sinne in einer polaren Gegenposition zum Leben und kann damit sowohl Lebendigkeit zudecken, sie beruhigen, als auch zur Steigerung, zur Intensivierung von Leben führen. Goethe spricht von »Polarität und Steigerung« und es stellt sich die 3
Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. I, Pfullingen 1961, S. 38.
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Kolloquium 13 · Hinderk Emrich
Frage, inwieweit eine Kunst, die in erster Linie beruhigende Wirkung hat, nicht eher in den Bereich des Kitsches, der Halbkunst, oder der Alltagsmusik gehört, wie wir sie am Flughafen und in den Restaurants erleben. Mit der Frage nach Ästhetik, Kunst und Genie ist ein Bereich unseres geistig-seelischen Lebens angesprochen, der neurobiologisch nur verstanden werden kann, wenn man eine Hirntheorie der Kreativität entwickelt, d. h. plausibel macht, inwieweit menschliche Gehirne in der Lage sind, neue Wirklichkeiten zu »erfinden«, d. h. Realität nicht nur »abzubilden«, sondern neu und je anders zu »konstruieren«. Diese Grundeigenschaft der »Konstruktivität von Gehirnen« (Gerhard Roth) wurde in den letzten Jahren mit verschiedenen Methoden der neurobiologischen Grundlagenforschung eingehend erforscht, und im folgenden werden hierzu eine Reihe klinischer und neuropsychologischer Untersuchungen dargestellt.
3.0 Zum Begriff des Ästhetischen Der Begriff des Ästhetischen kann in zweierlei Weise gefaßt werden; einmal so, daß er die Wirklichkeit des »Schönen« bezeichnet, etwa in dem Sinne wie die Idealvorstellung der europäischen Klassik, beispielsweise bei Friedrich Schiller, die Einheit des Schönen, Wahren und Guten beschworen hat. Hiermit korrespondiert ein neurophysiologischer Ansatz, der die Frage stellt nach den neurobiologischen Grundlagen harmonischer, in sich stimmiger Wahrnehmungserlebnisse. Hier geht es um die Neurobiologie des »goldenen Schnittes«, von Symmetrien, von – zeitlich gesehen – bestimmten Rhythmen, Klangharmonien, etc. Die Neurobiologie des Schönen stellt einen eigenständigen Bereich dar, der hier lediglich erwähnt werden kann und über den beispielsweise die Münchner Neuropsychologen Ingo Rentschler und Ernst Pöppel gearbeitet haben. Der andere Begriff des Ästhetischen bezieht sich auf das Phänomen der Wahrnehmung schlechthin. Er bedeutet Wahrnehmungsbezug in einem radikalen Sinne, wie dies beispielsweise bei dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard in seinem Werk Entweder-Oder dargestellt ist. Kierkegaard stellt hier den »ästhetischen« Charakter dem »ethischen« Charakter gegenüber und beschreibt das Phänomen, daß Menschen sich ganz auf ihre Wahrnehmungen und das damit verbundene Wohlbefinden konzentrieren. Kierkegaard würde sagen, bei der »ästhetischen Wahl« bleibt der Betroffene in seinen puren Empfindungen stecken und kommt nicht zu dem Phänomen der »Selbsttranszendenz«, die für geistig-seelische, künstlerische und ethische Prozesse beim Menschen charakteristisch ist. Ein Beispiel Kierkegaards ist nicht nur der negative Held Nero, der Kaiser Roms, der halb Rom niederbrennt wegen eines Nervenkitzels, »um den Brand Trojas zu sehen«4, sondern auch eine Form des narzißtischen Psychologismus, eine heute sehr verbreitete Lebensform, bei der der ganze Lebensinhalt darin besteht, die eignen Befindlichkeiten zu thematisieren und zu regulieren. So schreibt Kierkegaard über den ästhetischen Charakter: »Du schwebst beständig über dir selbst, und mag jeder Schritt 4
Søren Kierkegaard: Entweder-Oder, München 1993, S. 739.
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auch noch so entscheidend sein, so behältst du in dir dennoch eine Interpretationsmöglichkeit, die mit einem Wort alles verändern kann. Und nun dazu das ganze Inkarnat der Stimmung. Dein Auge funkelt, oder besser, es strahlt gleichsam auf einmal hundert spähende Augen aus …«5 An dieser Stelle ist eindeutig erkennbar, worin die enorme Wirkung künstlerischer Prozesse liegt: sie kann – man denke an die Wirkung der »Katharsis« in der griechischen Tragödie – den Menschen dazu bringen, aus der eben beschriebenen rein »ästhetischen Wahl« sich zu befreien und in diesem Sinne, wie Kierkegaard sagt, sich der »Realität des Wählens« zu stellen. So sagt er an einer Stelle: »Wenn ein Mensch wählt, so verleiht das seinem Wesen eine Feierlichkeit, eine stille Würde, die sich nie ganz verliert.« Das »Stimulans« für das Leben bei Nietzsche wäre in diesem Sinne gerade darin zu sehen, den Menschen aus dem Gefangensein in puren ästhetischen Wahrnehmungsprozessen herauszutreiben in die Realität des Wählens, und damit in die Realität der Freiheit. (vgl. Kierkegaards Hauptwerk Der Begriff Angst). Benignis Film Das Leben ist schön ist ein extremes Beispiel für die Verwandlung des Lebens durch die Kunst. Wie kann man sich nun dieses »Transzendieren«, diesen Prozeß des Selbstüberstiegs des eigenen Horizonts vorstellen? Ich möchte dies zuerst an einer Abbildung erläutern, die aus der Meteorologie des Flammarion stammt, wo der Mensch aus der einen Weltwirklichkeit förmlich herausgesprengt wird in eine völlig andere. Wie können derartige subjektive Wirklichkeiten überwunden, erweitert, verlassen werden? In dem Holzschnitt aus Flammarions Meteorologie ist ein Mensch dargestellt, der sein eigenes Weltbild sprengt, es verläßt, die vertraute Umgebung durchlöchert und selbst durch die entstandene Öffnung hinaustritt. (Abb. 8)
Abb. 8: Holzschnitt aus der populären Meteorologie von Camille Flammarion (L’a hmosphere, 1888) in der ein Mensch sein eigenes Weltbild sprengt. 5
Ebd., S. 532.
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In diesem Sinne ist die Aufgabe des künstlerischen Prozesses eine der Befreiung, einer Befreiung aus inneren Käfigen. Auf die damit gestellte Frage, worauf zielt nun eigentlich das Projekt künstlerischer Wirklichkeitsvermittelung ab, was ist ihr Sinn? könnte man somit sagen: es geht – selbstpsychologisch formuliert – um die mediale Vermittlung von Bewußtsein mit ungeklärten, anarchischen, durch innere Zensur z. T. bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten inneren seelischen Anteilen in uns, eben den Kräften des »unbekannten Selbst«. Eine solche Form der Selbstbegegnung und der Selbstbefreiung hat aus psychoanalytischer Sicht immer auch zu tun mit Traumerfahrung, mit Traumarbeit. Der Traum ist nicht nur die nach Freud »via regia«, der Königsweg der Psychoanalyse zum Auffinden der inneren seelischen Wahrheit, der Traum ist Entfesselung des Selbst, Ort absoluter Intimität im internen, im inneren Dialog. Allerdings ist der Traum, den wir zu fassen kriegen, über den wir reden können, durch primäre und sekundäre Zensurmechanismen bereits überformt. Er kann dabei aber eine verschlüsselte Botschaft des Unbewußten an das Bewußtsein enthalten. In einer wunderschönen Filmszene in dem Film Spellbound: Ich kämpfe um Dich hat Alfred Hitchcock eine solche Ver- und Entschlüsselung, ironisch fein gegen die und mit der Psychoanalyse argumentierend, vorgeführt. Sie zeigt Ingrid Bergman und Gregory Peck in den Hauptrollen. An der Dekoration dieses Filmes ist das Besondere, daß Salvadore Dali derjenige ist, der diese Traumszene gestaltet hat. Zwei Arten von Zensur sind in diesem Film dargestellt: einmal die Traumzensur mit ihren primären und sekundären Mechanismen; zum andern die Verdrängung der Wahrheit im Leben: die Wirklichkeitszensur, kurz die Verdrängung einer schuldhaften Beteiligung am Skiunfall des befreundeten Arztes. Die Entschlüsselung der Traumbotschaft mit Hilfe der geliebten Ärztin und ihres Lehranalytikers durch Durchbrechung der Traumzensur führt auch zur Aufklärung über das eigene Leben und zur Verdrängungs-Reduktion im Wachbewußtsein im Sinne eines subtilen Rekonstruktionsprozesses, der durchaus ein medialer Prozeß ist, aber eben im Medium von Traumbild und Traumsprache, d. h. in medialer Sprache im Sinne der Psychoanalyse. Die dabei wirksam werdende »Zensur« ist eine psychoanalytische »Instanz«. Die Frage an die Kognitionspsychologie, an die Wahrnehmungspsychologie und an die Neurobiologie der Gegenwart lautet jedoch: wie funktioniert eine solche innere Instanz, was heißt denn eigentlich – bewußtseins-psychologisch gesprochen – Zensur? Nach den Vorstellungen der Neurowissenschaften gibt es eine wirklichkeitsüberarbeitende, realitätsglättende Funktion in uns, ausgeübt durch Wahrnehmung-kontrollierende Systeme im Sinne einer Plausibilitätskontrolle, im Sinne des »Was nicht sein darf, das nicht sein kann«, und es wird vermutet, daß dies auf internen interaktiven Prozessen beruht, d. h. was vom System für real angenommen wird, wird gewissermaßen interaktiv »ausgehandelt« und zwar von Moment zu Moment, von Situation zu Situation immer wieder neu, wie das Umkippen eines Necker-Würfels (Abb. 9).
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Abb. 9: Neckerscher Doppelwürfel, der in einer Vielzahl von Varianten wahrgenommen werden kann (aus H. M. Emrich: Psychiatrische Anthropologie, München 1990).
Abbildung 10 zeigt, wie bereits in früheren Jahrhunderten der Einheitlichkeit des Bewußtseins mißtraut wurde, indem man sich vorgestellt hat, daß über mentale Bilder in uns selbst entschieden wird durch eine Art Gremienentscheid verschiedener Herren, die darüber diskutieren, welche die »visuelle Wahrheit« ist (was dann durch Abstimmung entschieden wird).
Abb. 10: Darstellung der »Augen des Geistes« (vergleiche »Illusionen-Illusionen«) in dem das optische Erinnerungszentrum mit dem Sehzentrum konfrontiert wird durch eine »Herrenrunde in der Alchemiekuppel des Hirns«: Entscheidung der »visuellen Wahrheit« durch Abstimmung.
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Es kommt zu einer wahrheitsfähigen Aussage oder aber zu einer illusionären Verkennung. Die Untersuchung dieser Zensurmechanismen ist die Domäne der Illusionsforschung. Illusionsforschung bietet uns neurobiologisch, wahrnehmungspsychologisch, die Chance, interne Zensurmechanismen zu entschlüsseln. Ein Ausschnitt aus dieser Art von Illusionsforschung soll im folgenden dargestellt werden. Dabei stellt sich die Frage: Wie sieht nach heutigen Vorstellungen diese Wechselwirkung aus? Realitätskonstruktion bedeutet im Grunde auch eine philosophische Frage, eine Frage, über die jahrhundertelang immer wieder kontrovers diskutiert wurde; in Abb. 11 dargestellt in Form des sog. »naiven Realismus«, der davon ausgeht: Wirklichkeit ist nichts anderes als real angenommene Außenrealität, bei der der Wahrnehmungsprozeß nichts weiter zu tun hat, als im Sinne von Mikrophon und Kamera und Auswertesystem diese so genau wie möglich abzubilden.
Abb. 11: a) Darstellung des »naiven Realismus« in dem Wirklichkeit lediglich Abbildung und Datenauswertung repräsentiert; b) Konzeption von Wahrnehmung auf Grund vorgängiger Konzeptualisierung.
Tatsächlich liegt jedoch jeder Wahrnehmung der »Blick«, die Konzeptualisierung, die Idee, ein »Weltmodell« zugrunde – das alles noch gesteuert durch selektive Aufmerksamkeit. Abb. 4 zeigt die drei Komponenten der Wahrnehmung: einmal die sensualistische Seite, die sich ganz auf eingehende Sinnesdaten verläßt, was in der angloamerikanischen (sensualistischen) Schule philosophisch eine große Rolle gespielt hat, ferner die »konstruktivistische« Komponente, die heute in aller Munde ist bis hin zum radikalen Konstruktivismus, bei dem das gesamte Wissens-System nur von der Konzeptualisierung her aufgefaßt wird, und schließlich eine zwischen beiden vermittelnde Instanz, eine Korrektur-, eine Zensur-, und Kontroll-Komponente, die biologisch schon deshalb sinnvoll ist, weil es ja Ambiguitäten in der Wahrnehmung gibt.
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Abb. 12: Darstellung der »3-Komponenten Hypothese« durch Überlagerung von »Konzeptualisierung«, »Sinnesdaten« und »Zensur«.
Zur Frage, inwieweit Kreativität nun gerade mit Zensurmechanismen und deren Überwindung zu tun hat – unter Einbezug der verschiedenen wahrnehmungspsychologischen Mechanismen und der Offerten, die moderne Technologie uns machen kann – im Sinne von »Bewußtseinserweiterung«: hierzu ein Gedicht von Goethe: »Die Phantasie in meinem Sinn ist diesmal gar zu herrisch: Fürwahr wenn ich das alles bin, so bin ich heute närrisch.« Im Klartext gesprochen: Wenn meine Zensurmechanismen geschwächt sind, dann ist genau dies eine Situation, die auch bedeuten kann, vielleicht ein bißchen verrückt zu sein, mit Sicherheit aber eben auch kreativer. Vom wahrnehmungspsychologischen Ansatz her (Konzeptualisierung – sensorischer Eingang – Zensur), gibt es zwei Möglichkeiten, künstliche Realitäten zu erzeugen: einmal die künstliche Realität in Form der Halluzinose. Dabei geht es um die Radikalisierung der Konzeptualisierung, Konzeptualisierung ohne Außendaten. Ohne daß dem äußerlich etwas entspricht, kann etwas in uns so dominant werden, daß wir es für die Wirklichkeit halten (Halluzinose). Die umgekehrte Situation ist die von Cyberspace, die Situation, daß Menschen in ein Umfeld gebracht werden, in dem neuartige Sinnesdaten auftauchen, die unerwartet sind, die z. T. unplausibel sind, die mit der bisherigen Realitätserwartung und Realitätserfahrung im Widerspruch stehen, d. h. es werden neue Welten erobert, und diese neuen Welten sind nun in einem sehr komplizierten Brechungszustand zu den internen Vorerwartungen. Dies bedeutet, das was sich konkret im neurobiologischen System und im Bewußtsein abspielt, ist eine Gefährdung bisheriger Erfahrung. Von der Selbstpsychologie (– und von der Neopsychoanalyse her gesprochen –) könnte man nun formulieren, daß das, worum es hier geht, eine neue Form der Selbstbegegnung ist, eine neue Form der Konfrontation mit unentdeckten Anteilen in uns selbst. Die moderne Selbstpsychologie geht ja davon aus, daß das Selbst die gesamte Wirklichkeit repräsentiert: es gibt nichts in der Welt, was nicht auch in uns selbst vorkommt. Die Form, in der etwas intern repräsentiert werden kann, scheint immer in irgendeiner Weise kategorial zu sein, es gibt immer irgendwelche System-Beschreibungsformen, die letztlich mit dieser Kategorialität kohärent sind. Nun gibt es das Außenstehende einmal in der Außenwirklichkeit, aber es gibt von der Selbstpsychologie her dieses Außenstehende als das Unbekannte in uns selbst, und die Intentionalität, d. h.
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das Streben des Systems auf etwas Innovatives, auf etwas Neues und damit auch die Intentionalität des Blicks führt zu einer Art von Kategorialisierung und letztlich zur Introjektion; d. h. der explorative Wahrnehmungsprozeß, in den wir immer hineingestellt sind, immer hineingezogen sind, dieser Prozeß ist letztlich ein Prozeß der Aneignung; er ist ein Prozeß der Aneignung, Unvertrautes hineinziehend in die Domäne des vertrauten Selbst. Dieser Prozeß aber ist nun ein solcher, der immer den Bestand des bisherigen gefährdet, und von der Selbstpsychologie her kann kaum gesagt werden, die eigentliche, die entscheidende, die größte Gefahr, die es für das Subjekt gibt, ist die Gefährdung von Identität, der Zusammenbruch von Identität, und deswegen wird dieser Prozeß der Kategorialisierung und der Introjektion von Unvertrautem, Unbekanntem so häufig vermieden. »Zensur« bedeutet in diesem Sinne auch ein Konservativ-Bleiben im Hinblick auf unentdeckte Domänen in uns selbst. Und deswegen ist die Botschaft der Wahrnehmungspsychologie an Sie als Künstler, als Medialen-Forscher und als Medialen-Praktiker eine doppelte, weil sie Ihnen nämlich gewissermaßen sagt: Auf der einen Seite steht das Achten, das Respektieren der notwendigen internen Tendenz in uns, Identität stabil zu halten; den Zerfall kohärenter Einheitlichkeit des Ich, diesen drohenden Zerfall zu verhindern; auf der anderen Seite aber, den Mut zu haben zum inneren und äußeren Neuen. Die Gefährdungen, die damit verbunden sind, hat Heinz Kohut6 in seinem bedeutenden selbstpsychologischen Werk Narzißmus beschrieben, wo er gezeigt hat, daß es nicht nur die Freud’sche horizontale Verdrängungsschranke gibt – das Unterdrücken gewissermaßen »nach unten« –, sondern, wenn die Bedrohung der Kohärenz des Ich zu groß wird, Abspaltungsphänomene im Sinne der vertikalen Spaltung, was bedeutet, daß das Ich dann aus mehreren, nur teilweise vermittelten, Anteilen besteht, wie wir sie bei den schweren, heute modernen und wahrscheinlich auch häufiger gewordenen Borderline-Persönlichkeitsstörungen sehen. Ein Cartoon in dieser Richtung zeigt zum Schluß (Abb. 13) diese Problematik, den Psychiater im Dialog mit seinem Borderline-Patienten: »Haben Sie schon etwas über multiple Persönlichkeiten gehört?«.
Abb. 13: Die Arzt-Patientenbeziehung in der »Borderline-Situation«. 6
Heinz Kohut: Narzißmus, Frankfurt/M. 1979, S. 215.
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Literatur Desimone, R. / Miller, E. K. / Chelazzi, L. / Lueschow, A.: Multiple Memory Systems in the Visual Cortex, in: M. Gazzaniga (Hg.): The cognitive Neurosciences, Cambridge MA: MIT Press 1995, S. 475–486. Emrich, Hinderk M.: Psychiatrische Anthropologie, München 1990. Heisenberg, Martin: Über Universalien der Wahrnehmung und ihre genetischen Grundlagen, in: Mannheimer Forum 1989, München: Piper 1989. Heidegger, Martin: Nietzsche, Bd. I, Pfullingen 1961. Huxley, Aldous: Die Pforten der Wahrnehmung, 11. Aufl., München 1984. Kierkegaard, Søren: Entweder-Oder, München 1993. Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst, Stuttgart 1992. Kohut, Heinz: Narzißmus, Frankfurt/M. 1979. Kripke, Saul A.: Identity and Necessity, in: M. K. Munitz (Hg.): Identity and Individuation, New York 1971, S. 135–164. Nagel, Thomas: What is it like to be a bat?, in: ders.: Mortal Questions, Cambridge 1983, S. 165–180. Quine, Willard Van Oman: Natürliche Arten, in: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1971. Roth, Gerhard: Das konstruktive Gehirn: Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis, in: S. J. Schmidt (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt/M. 1992.
KOLLOQUIUM 14 Kreative Universen – Das Neue in Naturphilosophie und Kosmologie
Brigitte Falkenburg Einführung Gerhard Börner Physikalische Kosmologie heute Pierre Kerszberg Scientific Cosmology and the Philosophy of Nature Henning Genz Lokalität in der Kosmologie
Einführung Brigitte Falkenburg (Dortmund) Das Nachdenken über die Entstehung und Beschaffenheit des Kosmos ist so alt wie die Menschheit. Ist die Welt erschaffen worden oder war sie schon immer da? Ist das Weltganze in Raum und Zeit unendlich oder nicht? Welchen Standort haben wir Menschen darin, d. h. wo befinden wir uns im Universum und was folgt daraus für unser Selbstverständnis? Nach Kant sind dies Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gern seine ganze Wissenschaft dahin gäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen1.
1. Kosmologie In der Tat ist die Astronomie die älteste Wissenschaft, und die Philosophie begann bei den Vorsokratikern mit Reflexionen über den Urstoff und Urgrund der Welt. Allerdings hatte von alters her jeder Naturphilosoph eine andere Antwort auf die genannten kantischen Fragen. In der Antike konkurrierten mehrere naturphilosophische Weltbilder, bis sich schließlich die aristotelische Vorstellung eines geschlossenen Kosmos durchsetzte. In der Renaissance wurde sie durch das Bild eines unendlichen Universums abgelöst. Später machten es die Newtonsche Mechanik und Gravitationstheorie erstmals möglich, die philosophischen Spekulationen über den Weltbau auf ein empirisch überprüfbares physikalisches Fundament zu stellen. Dabei ist die physikalische Kosmologie eine recht junge Disziplin. Kant hat sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit seiner vorkritischen Naturgeschichte und Theorie des Himmels begründet, aber in der Kritik der reinen Vernunft bald darauf als ein vergebliches Unternehmen dementiert, welches unser Erkenntnisvermögen in die kosmologische Antinomie verwickelt. Als sich die Physik weitgehend von naturphilosophischen Vorgaben löste, kam aber die Kosmologie anders als andere Teildisziplinen der Physik nicht so recht voran. Wirkliche Fortschritte kann sie erst verbuchen, seitdem es mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie eine tragfähige theoretische Grundlage gibt, die es gestattet, empirisch überprüfbare Modelle des Universums herzuleiten. Kosmologie heißt Lehre des Kosmos. Ihr Gegenstand ist die Welt im Ganzen, das Universum. Mit Kreativität hat die Kosmologie in zwei Hinsichten zu tun. Einerseits imaginiert sie einen Blick von außen auf die Welt im Ganzen. Dieser Blick von außen ist zugleich metaphysisch und handwerklich. Er beruht auf einer God’s Eye View 1
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga: Hartknoch 1781/87, A 463 / B 491.
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im Sinne von Putnam, d. h. er fingiert eine Außenperspektive und versetzt uns in den Standpunkt des göttlichen Werkmeisters, der auf sein Werk blickt. Dies wiederum provoziert Fragen. Wer hat die Welt hergestellt, gemacht, erschaffen? Oder hat sie keinen Schöpfer, ist ewig oder aus sich selbst heraus entstanden? Natürlich beruhen solche Fragen auf anthropomorphen Vorstellungen. Dies nimmt ihnen aber – wie Kant wußte – nichts von ihrer Dringlichkeit. Andererseits lehrt die Geschichte der Kosmologie von den frühesten naturphilosophischen Spekulationen bis hin zu den neuesten innerphysikalischen Entwicklungen zugleich, daß bislang keine der Antworten Bestand hatte. Das kosmologische Weltbild unterliegt heute wieder einmal einem rapiden und drastischen Wandel. Die Kosmologie ist also eine ziemlich kreative Disziplin. Sie lehrt immer wieder etwas Neues über die bekannten Teile des Universums, über die Möglichkeiten einer Extrapolation von diesen Teilen auf das Weltganze und vielleicht auch über Grenzen der Naturerkenntnis. 2. Weltbild im Wandel Kreativ waren die Menschen aller Zeiten nicht nur in der Erfindung von Ursprungsmythen, Weltbildern und naturphilosophischen Spekulationen, sondern auch in der Darstellung der jeweiligen Weltmodelle. Jede künstlerische Darstellung des kosmologischen Weltbilds fingiert die oben erwähnte Außenperspektive auf die Welt. Für das geschlossene und geozentrische Weltbild der Antike, das bis zur Kopernikanischen Revolution vorherrschend war, wird dies wunderschön in Raffaels Astronomie von 1509 demonstriert.2 Raffael stellt den Kosmos als transparente blaue Kristallsphäre dar, auf die von außen weißliches Licht fällt und auf der die Fixsterne golden glänzen, eingebettet in Konturen von Sternbildern, die nicht von einem irdischen Beobachterstandpunkt aus konstruiert sind. Die Weltkugel schwebt vor einem goldenen, mosaikartig unterteilten Hintergrund. Aus dem Zentrum schimmert die Erde als dunkle feste Kugel durch die Fixsternsphäre hindurch, umgeben von Linien, die nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Armillarsphäre die Ekliptik und die Großkreise des Himmelsgewölbes andeuten. Darüber beugt sich im grünen Kleid mit hochgekrempelten Ärmeln die Muse Urania, den einen Arm kraftvoll erhoben, die Handfläche des anderen Arms auf der Weltkugel liegend und von einem dünnen, in sich verschlungenen, schleierartigen Gürtel umweht – überaus irdisch wirkend, eine stark bewegte Bewegerin, die der Fixsternsphäre unaufhörlichen Schwung verleiht. Diese allegorische Darstellung der Astronomie findet sich im Vatikan, in der linken oberen Ecke über der Schule von Athen, dem berühmten Bild, auf dem die Philosophen, Mathematiker und Astronomen der Antike in getrennten Gruppen miteinander diskutieren. Raffaels Stanza della Segnatura stellt nicht nur den kosmologischen
Vgl. zum Folgenden die Interpretation des Freskos in: Samual Y. Edgerton: The Heritage of Giotto’s Geometry: Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution, 1991. Seitenangaben nach der deutschen Übersetzung: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension: Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution, München: Fink 2004, hier: S. 188 ff. 2
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Blick von außen auf die Welt dar. Zugleich deutet sie auch schon den bevorstehenden Wandel im Weltbild an. An der Wand gegenüber der Schule von Athen befindet sich die Disputa. Hier debattieren die Kirchenväter unter einem Wolkenkranz, auf dem die Gestalten des von Gott beherrschten Empyreums unter einer goldenen Kuppel sitzen. Die zentralperspektivische Bildkonstruktion vereinheitlicht den irdischen und den überoder außerirdischen Raum durch die Beziehung der Bildlinien auf einen Fluchtpunkt, der in Augenhöhe des Betrachters liegt. In dieser Geometrisierung des Himmelsraums kündigt sich nach Auffassung des Kunsthistorikers Edgerton das neuzeitliche einheitliche Weltbild an; wie später bei Newton wird der Raum als allumfassend, einheitlich und absolut betrachtet.3 Kopernikus versetzte die Sonne anstelle der Erde ins Zentrum des Kosmos. Er behielt aber die Vorstellung einer endlichen Welt noch bei, die durch die Fixsternsphäre abgeschlossen wird. Die neuzeitliche Vorstellung eines unendlichen Universums findet sich erst bei Kepler, Galilei und Descartes. Das einheitliche Weltbild der neuzeitlichen Physik beruhte ausgehend von Galileis Atomismus und der Cartesischen Naturphilosophie auf mechanistischen Grundlagen. Newtons Mechanik begründete eine Gravitationstheorie, mit der sich Galileis Fallgesetz und die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen vereinheitlichen ließen. Eine Zeichnung in den Principia veranschaulicht dies durch eine Folge von Wurfparabeln, die in eine Kreisbahn münden; sie stellen eine Reihe immer weiter reichender Wurfprozesse von einem hohen Berg dar, die schließlich in das übergehen, was wir heute eine Satellitenbahn nennen.4 Auf den Grundlagen der Newtonschen Mechanik entwarf Kant seine vorkritische Kosmogonie in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755. Den Newtonschen Äther und das mechanistische Weltbild griff noch Maxwell auf, als er 1890 – also kurz vor der nächsten wissenschaftlichen Revolution des Weltbilds – seine Theorie der elektromagnetischen Wellen auf ein mechanisches Modell des Äthers gründete, welches stark an ein System von Kugellagern erinnert.
3. Perspektiven Vom vernunftkritischen Standpunkt aus wollte Kant seine vorkritische Entstehungsgeschichte des Sonnensystems und des Weltbaus später nicht mehr nachdrucken lassen. Der Grund lag in den darin enthaltenen Spekulationen, die vom physiko-theologischen Gottesbeweis bis zur phantasievollen Beschreibung der Bewohner ferner Welten reichten. In einer Reflexion zur Metaphysik, die der Entstehung der Kritik der reinen Vernunft vorausging, schrieb er:
Edgerton: a. a. O., S. 197 ff., insbesondere auch S. 210. Isaac Newton: Principia Mathematica Philosophiae Naturalis, 1687, deutsche Übersetzung: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. v. J. Ph. Wolfers, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 515. 3 4
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Die Welt ist das absolute ganze möglicher Erfahrung. Wir können uns ein absolutes Weltganze ganz wohl denken, nur nicht in Raum und Zeit. Das absolutganze in der Erscheinung ist ein Wiederspruch.5 Die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins lehrt jedoch heute, daß man ein raumzeitliches Weltganzes sehr wohl widerspruchsfrei denken kann: in einem vierdimensionalen, nicht-euklidischen Raum. Dennoch bleibt mit Kant festzuhalten, daß alle empirisch begründete Erkenntnis – und zu ihr zählt die Physik – perspektivisch ist und bleibt. Wir erforschen die Welt von innen. Darum können wir die Gesamtstruktur des physikalischen Universums nur von unserem Beobachterstandpunkt aus extrapolieren, aus der Erkenntnis immer entfernterer kosmischer Objekte und ihrer Dynamik, soweit sich diese Objekte (Sterne, Galaxien, kosmische Strahlung) und die Gesetze, denen sie unterliegen, auf der Basis bewährten physikalischen Hintergrundwissens eindeutig rekonstruieren lassen. Aber auch der Blick von außen auf die geschlossene geozentrische Welt, den Raphaels Astronomie so schön und anschaulich fingiert, ist in jeder Hinsicht perspektivisch. Dies beginnt beim perspektivisch verkürzten Oberkörper der vorgebeugten Urania und endet bei der Farbgebung der kristallinen Himmelssphäre, die durch die Verteilung von hellem Licht und dunklem Schatten eine Wölbung der Himmelssphäre und ein Licht suggeriert, welches noch von außerhalb des Empyreums zu kommen scheint, also außer-außerirdisch wirkt. Der Gottesaugenstandpunkt kann nur versinnbildlicht werden, indem er die Betrachter von Raphaels Fresko zusammen mit dem Kosmos und dem außerirdischen Himmelsraum in das Innere eines gemeinsamen Raums versetzt, der Bild und Betrachter umfaßt. Perspektivisch ist auch die physikalische Erkenntnis, auf der unser gegenwärtiges naturwissenschaftliches Weltbild beruht. Fernrohre, Radioteleskope, Riesenteleskope auf hohen Bergen wie dem Mauna Kea in Hawaii und Weltraum-Teleskope wie Hubble ermöglichen den Blick in immer größere Weiten des Universums. Dabei eröffnen sie wegen des endlichen Werts der Lichtgeschwindigkeit zugleich den Blick in eine immer tiefere Vergangenheit des Universums; denn je weiter ein Objekt entfernt ist, desto älter ist das Licht, welches sich von diesem Objekt bis hin zu uns ausgebreitet hat und es uns sichtbar macht. Galilei konnte mit seinem Fernrohr die Venusphasen und die Jupitermonde beobachten, die nur Lichtminuten von uns entfernt sind. Das Hubble-Weltraumteleskop macht in vielen Details die Beschaffenheit der Mars-Oberfläche sichtbar. Der heutigen Astrophysik stehen Aufnahmen von Sternen, Supernovae, Galaxien und interstellaren Nebeln aus vielen Wellenlängenbereichen zur Verfügung. Sie sind nicht nur viele Lichtjahre von uns entfernt, sondern zum Teil auch für menschliche Augen unsichtbar (soweit sie z. B. elektromagnetische Wellen im Radiobereich aussenden) und in Falschfarben dargestellt. Soweit der Blick ins Große, der immer ein Blick in die Vergangenheit und damit die Geschichte des Universums ist. Er vermißt nach heuImmanuel Kant: Reflexionen zur Metaphysik, in: Akademie-Ausgabe Bd. 17, Berlin, Leipzig 1926, R 4525, S. 582. 5
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tiger Erkenntnis nur einen winzigen Ausschnitt der physischen Welt – so, wie auf der Erdoberfläche der Blick bis zum Horizont nur einen kleinen Bruchteil des gesamten Erdumfangs erfaßt. Ins Mikroskopische gerichtet ist der »Blick« mit Elektronenmikroskopen, RasterTunnel-Mikroskopen sowie Teilchenbeschleunigern und Teilchendetektoren wie der Nebel-, Blasen- oder Funkenkammer. Er macht eine subatomare »Welt« zugänglich, die den fremdartigen, nicht-klassischen Gesetzen verschiedener Quantentheorien unterliegt. Genauer gesagt: Solche Meßgeräte haben einen Zugriff auf Weltausschnitte unterschiedlicher subatomarer Größenordnungen, je nach ihrer räumlichen Meßgenauigkeit oder Ortsauflösung. Die besten Elektronenmikroskope können heute atomare Ladungsstrukturen auf Kristallen »sichtbar« machen bzw. abbilden. Teilchenbeschleuniger und –detektoren wiederum zeichnen die Spuren subatomarer Teilchen auf, aus denen man dann auf den subatomaren Materieaufbau bzw. seine Ladungsstruktur zurückschließen kann. Dabei ist die heutige physikalische Erkenntnis fragmentiert. Aus den empirischen Befunden und theoretischen Grundlagen der physikalischen Kosmologie und der Teilchenphysik läßt sich heute kein einheitliches Weltbild mehr konstruieren. In anderen Worten gesagt: Es läßt sich heute keine alles umfassende Außenperspektive auf die Welt mehr fingieren. Die gegenwärtige Physik beruht auf zwei Standardmodellen. Das kosmologische Standardmodell nimmt auf der Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie an, daß das Universum einen Anfang in der Zeit hatte, den Urknall oder big bang, sich seitdem ausdehnt und heute beschleunigt expandiert. Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf eichinvarianten Quantenfeldtheorien, welche die Symmetriestrukturen und Wechselwirkungen etlicher Arten von Elementarteilchen und ihre Symmetrien beschreiben. Nach welchen Naturgesetzen Mikro- und Makrokosmos miteinander zusammenhängen, ist das größte Rätsel der gegenwärtigen Physik. Daß es sich um einheitliche Naturgesetze handelt, wird jedoch weiterhin unterstellt. Die theoretischen Physiker suchen nach einer umfassenden Theorie der Quantengravitation, haben es dabei aber mit grundlegenden begrifflichen Problemen zu tun. Daneben wurde die Astroteilchenphysik als neue physikalische Disziplin begründet, die sich zwischen Kosmologie und Teilchenphysik angesiedelt hat. Sie untersucht Teilchen aus dem Weltall; sie fahndet mit Teilchendetektoren nach kosmischen Strahlen aus außergalaktischen Quellen und erhofft sich dabei neue Auskunft über die physikalischen Gesetze, die für die Verbindung von Mikro- und Makrokosmos gelten. Die Einheit der Naturgesetze wird hier offenbar weiterhin als ein regulatives Prinzip im kantischen Sinne unterstellt. Die Kolloquiumsbeiträge beleuchten einige Facetten dieser äußerst komplexen Thematik aus recht unterschiedlichen Blickwinkeln. Gerhard Börner (München) gibt einen Überblick über den heutigen Stand der physikalischen Kosmologie. Pierre Kerszberg (Toulouse) entfaltet Reflexionen zum Verhältnis von philosophischer und physikalischer Kosmologie aus phänomenologischer Sicht. Henning Genz (Karlsruhe) schließlich schlägt die Brücke zu den Theorien der Teilchenphysik, indem er sich mit der Frage der Lokalität in der Kosmologie befaßt.
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Literatur Edgerton, Samual Y.: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension: Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution [1991], München: Fink 2004. Newton, Isaac: Mathematische Prinzipien der Naturlehre [1687], hg. v. J. Ph. Wolfers, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Riga: Hartknoch 1781 / 87. Kant, Immanuel: Reflexionen zur Metaphysik, in: Akademie-Ausgabe Bd. 17, Berlin, Leipzig 1926, S. 227–745.
Physikalische Kosmologie heute Gerhard Börner (Garching)
Einleitung Die Kosmologie versucht Aussagen über die Welt als Ganzes zu gewinnen, die physikalische Kosmologie will die »ganze Welt« als physikalisches System beschreiben. Natürlich könnte man dieses Eine, Ganze – das »Universum« – als die Summe aller möglichen Beobachtungen und Erfahrungen postulieren. Aber diese Definition verlöre etwas Wesentliches aus dem Blick, nämlich die Frage, ob es globale Eigenschaften gibt, die der Vorstellung eines »Kosmos« entsprechen. Die Geschichte der Kosmologie ist geprägt von der Suche nach solchen Ideen. Viele »Prinzipien«, welchen Gott und die Natur gehorchen sollten, sind aufgestellt und verteidigt worden – vom Mittelalter bis zur Neuzeit und oft gegen eindeutig dagegensprechende Evidenz. Heutzutage gilt allen ernstzunehmenden Naturforschern die empirische Wissenschaft als die einzige, die sichere Erkenntnis über die Welt bringen kann und in diesem Sinne ist die physikalische Kosmologie durch die folgenden Fragen bestimmt: Falls astronomische Beobachtungen zu immer größeren Entfernungen hin ausgedehnt werden, gibt es dann Eigenschaften, die sich nicht ändern, selbst wenn der beobachtete Bereich immer mehr ausgeweitet wird? Und, falls dies zutrifft, können Gesetze formuliert werden, die diese Eigenschaften miteinander und mit wohlbekannten physikalischen Vorstellungen verknüpfen? Durch reines Nachdenken könnte man auf verschiedene mögliche Ansätze kommen: Es könnte sein, daß man überhaupt kein Anzeichen einer globalen Ordnung findet. Mit wachsender Entfernung würde man immer wieder neue und unterschiedliche Strukturen entdecken. Das Konzept eines Universums würde nicht passen und die Idee eines Chaos wäre angemessener als die Idee eines Kosmos. Die entsprechende Wissenschaft sollte dann besser »Chaologie« genannt werden. Ein anderer Extremfall wäre ebenfalls möglich: Eine gewisse Ordnung könnte in größeren Entfernungen immer deutlicher hervortreten. Dies könnte die monotone Symmetrie eines Kristalls sein, wo das Ganze nicht mehr Information enthält als einzelne Teile davon. Es könnte auch die wohlgeformte Komplexität eines Organisums sein, wie ihn das Leben auf der Erde hervorbringt. Doch man hat keine Wechselwirkung zwischen kosmischen Strukturen entdeckt, die es erlauben würde, Objekte von ähnlicher Komplexität wie ein DNA Molekül zu bilden. Astrophysikalische Objekte sind bei aller Vielfalt der Erscheinungen relativ einfache Dinge, wenn man sie mit der Komplexität biochemischer Strukturen vergleicht. In den folgenden Abschnitten werden die astronomischen Beobachtungen vorgestellt,
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aus denen man folgern kann, daß es in unserer kosmischen Umgebung ein gewisses Maß an Ordnung gibt, viel weniger als in einem Kristall, aber offenbar doch ausreichend, um einen Kosmos zu definieren. Bevor diese Details besprochen werden, ist es vielleicht ganz anregend und erhellend zu überlegen, daß ganz alltägliche Erfahrungen auf eine fundamentale Eigenschaft des Universums hinweisen. Einfach die Tatsache, daß wir hier sind und leben, zeigt, daß die Welt im Ganzen nicht immer dieselbe gewesen sein kann. Zwei grundlegende empirische Fakten führen mit einer minimalen Zugabe an Theorie zu dieser Schlußfolgerung: Die erste Erfahrung ist die Existenz einer weitreichenden anziehenden Kraft, der Schwerkraft, zwischen jeder Art von Materie. In der Tat würde die Gravitation alles kollabieren lassen – falls ihre unerbittliche Anziehung genügend lange Zeit wirken könnte. Da keine entsprechende repulsive Kraft bekannt ist, die diese universelle attraktive Schwerkraft ausbalancieren könnte, muß man mit der Zeit globale Veränderungen erwarten. Die zweite, vielleicht noch grundlegendere Erfahrung wird häufig als »Dunkelheit des Nachthimmels« bezeichnet, ist aber eigentlich noch weitreichender. In einer Welt, die immer die gleiche globale Struktur besitzt, würden im Laufe der Zeit alle lokalen Formen ausgebügelt, durch das Streben nach dem »thermischen Gleichgewicht«. So wäre z. B. der Nachthimmel so hell wie die Oberfläche der Sterne, falls die Sterne ewig bestehen würden. Falls man die Idee eines unveränderlichen Zustands des Universums retten will, muß man Senken erfinden, durch die ebensoviel Strahlung verschwindet, wie an anderer Stelle entsteht. Diese beiden Erfahrungen zeigen unmißverständlich, daß das Universum nicht sich stets gleich bleiben kann. Dies sollte eigentlich keine Überraschung sein, denn wir sehen und verstehen immer besser den phantastischen Fluß der Evolution in der Welt. Die alte Idee eines ewigen »Absoluten« entsprach der Erfahrung, daß viele Dinge sich während der Lebenszeit eines Menschen nicht wesentlich veränderten. Aber heutzutage passen nicht nur die biologischen, sondern auch die astronomischen Erfahrungen viel besser zu einem Entwicklungsbild, in dem das Absolute nur in den grundlegenden Gesetzen besteht, während die möglichen Strukturen in einem Prozeß der Evolution verwirklicht werden, in dem wir gerade die jüngste Stufe darstellen. Im folgenden soll der neueste Stand der kosmologisch relevanten astronomischen Beobachtungen sowie ihre Einbettung in einfache kosmologische Modelle geschildert werden. Im Jahre 1964 entdeckten zwei Wissenschaftler der Bell Laboratories, Arno Penzias und Robert Wilson, bei der Eichung einer Antenne eher zufällig ein Strahlungssignal im Mikrowellenbereich. Diese Strahlung bei 7,15 cm Wellenlänge schien kosmischen Ursprung zu sein, denn sie zeigte nicht die für Einzelquellen typischen zeitlichen Veränderungen. Die beiden Forscher erhielten später den Physik-Nobelpreis, denn es wurde bald klar, daß ihre Entdeckung von großer Tragweite für unser Wissen vom Kosmos war. Weitere Messungen zeigten, daß die Strahlung mit Wellenlängen zwischen 1 mm und 10 cm aus allen Richtungen nahezu in gleicher Stärke eintrifft und in ihrer spektra-
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len Verteilung dem Gesetz folgt, das Max Planck 1900 für die Strahlung eines Körpers im Wärmegleichgewicht mit seiner Umgebung gefunden hatte. Dieser kosmische Mikrowellenhintergrund oder kurz »CMB« (vom englischen »Cosmic Microwave Background«), wie er genannt wurde, läßt sich also einfach durch eine Temperaturangabe kennzeichnen. Der im November 1989 gestartete NASA-Satellit COBE (COsmic Background Explorer) hat das Spektrum des CMB zwei Jahre lang vermessen und die Temperatur sehr genau bestimmt zu T = 2,728 ± 0,002 Kelvin. Im Rahmen der Meßgenauigkeit wurden keine Abweichungen von einem idealen Schwarzkörperspektrum gefunden. Dies ist sozusagen die gegenwärtige Temperatur des Universums. Die Messung des CMB gewinnt besondere Bedeutung, wenn wir sie zusammen mit einer früheren kosmologischen Erkenntnis sehen. In den 1920er-Jahren fand der amerikanische Astronom Edwin Hubble, daß die in Galaxien beobachteten und auf der Erde gemessenen Spektren nicht übereinstimmen. Stattdessen sind die Spektrallinien fast jeder Galaxie (außer einiger sehr nahen) zu größeren Wellenlängen verschoben. Die beobachtete Wellenlänge λb hängt dabei mit der emittierten Wellenlänge λe zusammen über: λb = λe (1+z). Die Rotverschiebung z ist umso größer, je weiter die Galaxie entfernt ist. Die Erklärung durch den Doppler-Effekt führt zu dem Schluß, daß sich die Galaxien von uns wegbewegen. Was jetzt auseinanderfliegt, war früher näher beisammen. Auch die Strahlung des CMB war zu früheren Zeiten dichter und heißer. Es könnte eine Zeit gegeben haben, in der das Universum so heiß und dicht war, daß die Atome in Kerne und Elektronen aufgelöst waren, eine Zeit, in der die Streuung von Photonen an freien Elektronen das thermische Gleichgewicht zwischen Strahlung und Materie aufrechterhielt. Dies hätte eine Steigerung der Temperatur auf etwas über 3000 K erfordert. In dieser Phase bestand die Materie aus einem ziemlich gleichförmigen, heißen Plasma. Bei fortschreitender Abkühlung als Folge der Expansion waren dann bei weniger als 3000 K nicht mehr genügend viele energiereiche Photonen vorhanden, um Wasserstoff ionisiert zu halten. Atome bildeten sich und banden Elektronen, so daß die Strahlung von der Materie entkoppelte und von diesem Zeitpunkt an das Universum ungehindert durchdringen konnte. Diese frühe Phase in der Geschichte des Kosmos beobachten die Astronomen, wenn sie den CMB vermessen. Natürlich hat sich die Temperatur durch die weitere Expansion seit der Entkoppelung auf den Wert von 2,7 K verringert. Diese Interpretation des CMB und der allgemeinen Expansion klingt sehr plausibel, doch müssen wir uns darüber im Klaren sein, daß solche Schlussfolgerungen nicht direkt aus den Beobachtungen folgen. Ohne ein kosmologisches Modell lassen sich die Beobachtungen nicht interpretieren. Die Kosmologie ist eben eine ganz besondere Wissenschaft, die das Universum als Ganzes zum Forschungsgegenstand hat. Definitionsgemäß befaßt sie sich mit einem Objekt und einem einzigartigen Ereignis. Jeder Physiker wäre unglücklich, müßte er seine Theorien auf ein einziges unwiederholbares
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Experiment aufbauen. Schwierig ist die Situation natürlich auch deswegen, weil wir, die Beobachter, mitten in diesem Objekt »Universum« nur einen räumlich und zeitlich begrenzten Ausschnitt wahrnehmen, von dem wir zwar annehmen, aber nicht wissen können, ob er für das Ganze – wenn es das überhaupt gibt – repräsentativ ist. Der Kosmologe muß also Theorien voraussetzen, um damit und mit Hilfe der Beobachtungen und Meßergebnisse ein Modell des Kosmos zu entwerfen. Mit Hilfe dieses Modells lassen sich die Beobachtungen deuten und neue Beobachtungen und Tests des Modells vorschlagen. Die kosmologischen Modelle Das hier skizzierte heiße Urknallmodell ist zum Standardmodell der Kosmologie geworden. Seine mathematische Darstellung findet es in einfachen Lösungen der Einsteinschen Gravitationstheorie, die hervorragend zu den vielen, teilweise recht präzisen Beobachtungen passen. In diesen sogenannten Friedmann-Lemâitre-Modellen (FL-Modelle; nach Friedmann (1922) und Lemâitre (1927), die als erste diese Lösungen aus Einsteins Gravitationstheorie abgeleitet haben) wird die Expansion als das Auseinanderfließen einer idealisierten, gleichmäßig verteilten Materie aufgefaßt, die durch homogene Dichte ρ(t) und Druck p(t) beschrieben wird. Die Flüssigkeitsteilchen, die man sich in diesem Bild als repräsentativ für die Galaxien denken kann, schwimmen in der sich ausdehnenden kosmischen Materie; ihr Abstand vergrößert sich mit der Zeit, proportional zu einer Funktion der Zeit, dem sogenannten Expansionsfaktor R(t). Die Expansion kann ohne Ende immer weiter gehen, oder sie erreicht ein Maximum und kehrt sich danach um
Abb. 1
in eine Kontraktion (Abb. 1). Die Rate der Expansion zum jetzigen Zeitpunkt t0 ist die »Hubble-Konstante« dR | t=t ; H0 = –1 ––– 0 R dt (allgemein werden physikalische Größen zum heutigen Zeitpunkt mit dem Index 0 gekennzeichnet). Die Lichtausbreitung in den FL-Modellen erfolgt so, daß das zum
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Zeitpunkt te ausgesandte Signal beim Empfänger zur Zeit t0 eine Rotverschiebung z erfahren hat, mit R0 1 + z = –––– . R(te) (1+z) ist dabei das Verhältnis zwischen empfangener und ausgesandter Wellenlänge. Entscheidend für das Verhalten des Expansionsfaktors R(t) ist die Energiedichte von Materie, Strahlung und anderen eventuell vorhandenen Komponenten. Diese verschiedenen Dichten charakterisieren wir als dimensionslose Zahlen Ω. Dabei wird die Dichte ρ durch einen Ausdruck ρc dividiert 3H2 ρc = ––––0 . 8πG
ρc hat die Dimension einer Dichte (G ist die Newtonsche Gravitationskonstante), und wird auch als »Kritische Dichte« bezeichnet. Ω ≡ ρ/ρc. Zur Gesamtdichte tragen nicht nur die vorhandenen Massen bei, sondern auch jede andere Form von Energie. Insgesamt lassen sich diese verschiedenen Komponenten aufaddieren, wobei jede Komponente als Bruchteil der kritischen Dichte angegeben wird. Neben der normalen baryonischen Materie ΩB muß es, wie verschiedene Beobachtungen zeigen auch einen beträchtlichen Anteil nichtbaryonischer, nichtleuchtender Materie geben (ΩCDM), sowie eine Energiedichte, die praktisch konstant ist (ΩΛ). Zu einer festen Zeit t beschreiben die FL-Modelle einen dreidimensionalen Raum mit konstanter Gaußscher Krümmung K / R2, wobei es nur drei unterschiedliche Raumtypen K = 0, ± 1 gibt. Zur jetzigen Epoche gilt K / R 02 = H 02 (Ω-1). Ω = 1 bedeutet also, daß die Raumkrümmung gleich Null ist. Für nicht zu weit entfernte Galaxien, oder entsprechend für kleine z, kann die Expansion als »Fluchtbewegung« der Galaxien interpretiert werden. Für Rotverschiebungen z größer als eins muß dagegen das volle kosmologische Modell betrachtet werden. Ausgehend vom jetzigen Zustand läßt sich mit Hilfe dieser FL-Modelle die Geschichte des Kosmos theoretisch rekonstruieren. Es werden natürlich wegen der Homogenität der Modelle nur zeitliche Veränderungen erfaßt, und schon aus diesem Grund können die FL-Modelle nur angenähert gültig sein. Aus den Lösungen der FL-Gleichungen läßt sich entnehmen (siehe Abb. 1), daß R(t) vor einer endlichen Zeit gleich Null war. Bei Annäherung an diesen Zeitpunkt, beim Rückgang in die Vergangenheit, wachsen Dichte und Ausdehnungsrate über alle Grenzen. Man kann deshalb die Entwicklung nicht weiter theoretisch zurückverfolgen, weil die Begriffe und Gesetze der Theorie ihren Sinn verlieren. Diese Anfangssingularität kennzeichnet den Anfang der Welt – alles, was wir jetzt beobachten, ist vor etwa 14 Milliarden Jahren in einer Urexplosion entstanden, die von unendlicher Dichte, Temperatur und unendlich großem Anfangsschwung war. Kurz nach dem Urknall können wir versuchen, die Welt mit der uns bekannten Physik zu beschreiben und die zeitliche Abfolge verschiedener physikalisch verschiedener Phasen darzustellen. Zur quantitativen Festlegung eines bestimmten kosmologischen Standardmodells benötigt man außer der
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Hubble-Konstanten H0 noch zwei Parameter. Geeignet sind etwa der Dichteparameter Ω0 und das Weltalter t0. Diese drei, zumindest im Prinzip, beobachtbaren Parameter legen das Weltmodell (einschließlich des Werts von ΩΛ ) eindeutig fest.
Die Ausdehnung des Weltalls Um die kosmische Expansion zu messen, braucht man im Prinzip – gemäß der Hubbleschen Beziehung cz = H0d – nur die Entfernung d und die Rotverschiebung z einer Galaxie genau zu bestimmen. Tatsächlich aber gibt es im Detail eine Menge Schwierigkeiten: Präzise Entfernungen kennen die Astronomen nur von relativ nahen Galaxien und diese haben Eigenbewegungen – aufgrund lokaler Schwerefelder –, die sich der kosmischen Expansionsbewegung überlagern. Die Andromeda-Galaxie in 2 Millionen Lichtjahren Entfernung weist sogar eine Blauverschiebung auf, d. h. sie kommt auf uns zu. Man erwartete, daß die Situation sich entscheidend verbessern würde, wenn durch neue Teleskope, speziell durch das Weltraumteleskop »Hubble«, die klassische Entfernungsbestimmung durch die variablen Cepheidensterne bis auf 20 Mpc (1 Mpc, d. h. 1 Megaparsec entspricht etwa 3.26 Millionen Lichtjahren) ausgedehnt werden könnte. Dies ist die Entfernung zum Zentrum des Virgohaufens der Galaxien. In den Randbereichen dieses großen Systems aus Tausenden von Galaxien befindet sich auch unsere Milchstraße. Leider hat sich nun herausgestellt, daß der Virgohaufen ein relativ komplex strukturiertes Gebilde ist, dessen Massenschwerpunkt entsprechend schwierig zu bestimmen ist. Dies führt schließlich zu einem ausgedehnten Wertebereich für die Hubble-Konstante H0 von H0 = 80 ± 22, in den Einheiten, in denen Astronomen gerne diese Größe angehen, nämlich als Geschwindigkeit (in Kilometern pro Sekunde) pro Megaparsec. Eine neue Methode, die wesentlich größere Entfernungen erreichen kann, macht sich die riesige Leuchtkraft bestimmter Typen von Sternexplosionen zunutze, der Supernovae vom Typ Ia. Im Spektrum dieser explodierenden Sterne findet man keine Linien des Wasserstoffs, nur Hinweise auf höhere Elemente wie Helium und Kohlenstoff. Der Stern, der seine Existenz auf diese Weise beendet, hat wahrscheinlich schon eine lange Entwicklungszeit hinter sich. Sein Wasserstoffvorrat ist verbraucht und er besteht im Wesentlichen aus Kohlenstoff und Sauerstoff. Vermutlich handelt es sich um einen Weißen Zwerg, d. h. einen kompakten Stern mit dem Radius der Erde und der Masse der Sonne. Die Leuchtkraft dieser Supernovae steigt rasch an, erreicht innerhalb weniger Tage ein Maximum und fällt dann wieder ab. In der Explosion wird radioaktives Nikkel (56Ni) erzeugt, dessen Zerfall über Kobalt (56Co) in Eisen (56Fe) die Energie für die Leuchterscheinung liefert. Die optische Leuchtkraft der Supernova Ia sollte – nach der Theorie – aus der Thermalisierung der Gamma-Photonen und Positronen stammen, die in der Zerfallsreihe entstehen. SN Ia sind sehr hell und können bis zu großen Distanzen weit jenseits von Virgo beobachtet werden. Sie sind auch als Standardkerzen gut
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geeignet, obwohl sie durchaus nicht eine einheitliche Leuchtkraft im Maximum haben. Eine gewisse Variationsbreite ist auch zu erwarten, denn die Leuchtkraft hängt von der Menge des entstandenen 56Ni ab und diese kann variieren, je nach den genauen Bedingungen im Stern bei einer Explosion. Es gibt aber eine sehr hilfreiche weitere Eigenschaft: Wie sich in den Beobachtungen zeigte, ist die Form der Supernova-Lichtkurve, speziell der Abfall der Helligkeit, eng korreliert mit der Leuchtkraft im Maximum. Die schnell anfallenden Supernovae leuchten schwächer und die langsamen sind im allgemeinen heller im Maximum. Man kann diese Beziehung empirisch quantitativ festlegen und dadurch eine genauere Festlegung der Leuchtkraft im Maximum erreichen. Damit werden die SN Ia zu einem präzisen Indikator für kosmische Entfernungen. In den letzten Jahren ist es gelungen, Typ Ia Supernovae systematisch bis zu sehr großen Entfernungen aufzuspüren und den raschen Anstieg ihrer Helligkeit, wie auch den typischen Abfall nach dem Maximum zu vermessen. Dies erforderte die Zusammenarbeit vieler Beobachtungsstationen weltweit, damit jede Supernova sofort nach ihrer Entdeckung mit einem großen Teleskop genau bobachtet werden kann. 44
MLCS
∆(m-M) (mag)
m-M (mag)
42 40 38
ΩM=0.24, ΩΛ=0.76
36
ΩM=0.20, ΩΛ=0.00
34
ΩM=1.00, ΩΛ=0.00
0.5
0.0
-0.5
0.01
0.10 z Abb. 2
1.00
Abb. 2 zeigt das Hubble Diagramm für eine große Zahl von Typ Ia Supernovae. Die gute Übereinstimmung der Daten für die Objekte unterhalb von z = 0.1 mit der linearen Hubble Beziehung erlaubt die Bestimmung der Hubble Konstanten zu H0 = 70 ± 10.
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Die Fehler sind im wesentlichen noch auf die Unsicherheiten der Eichung mittels einiger weniger Supernovae zurückzuführen, für die auch Entfernungsbestimmungen durch Cepheidensterne vorliegen. Die astronomischen Einheiten, in denen H0 angegeben wird, entsprechen einer inversen Zeit. 1 / H0 ist also eine charakteristische Expansionszeit, die sich hieraus zu 14 Milliarden Jahren mit einer Unsicherheit von etwa 10 % ergibt.
Beschleunigte Expansion Die Daten in Abb. 2 für Supernovae mit z größer als 0.5 weichen von der linearen Hubble Beziehung ab. Hier kommt das kosmologische Modell insgesamt zum Tragen, in dem die Beziehung zwischen Rotverschiebung z und Entfernung d eine nichtlineare Funktion ist, die auch von den Massen- und Energiedichten Ωm , ΩΛ, usw. abhängt. Bei hohen Rotverschiebungen scheinen die Supernovae sich in größeren Entfernungen zu befinden, als nach der Hubble-Beziehung zu erwarten wäre. Dies bedeutet, daß sich die Entfernung zwischen diesen Objekten und unserer Position schneller vergrößert hat, als es der Bewegung mit gleichmäßiger Geschwindigkeit entspräche. Die Ausdehnung des Kosmos verläuft beschleunigt, im Gegensatz zur langsamen Abbremsung, die man erwarten würde, wenn allein die verschiedenen, bewegten materiellen Objekte sich gegenseitig mit der Schwerkraft anziehen würden. Die Größe ΩΛ kann im kosmologischen Modell eine Beschleunigung der Expansion bewirken, falls 2ΩΛ - Ωm > 0. Die beste Anpassung an die Daten wird erreicht, wenn wir Ωm = 0.3 und ΩΛ= 0.7 wählen. Dabei sind jeweils die Werte zum jetzigen Zeitpunkt t0 gemeint. Mit diesen Messungen ist die Existenz einer zusätzlichen, dominierenden Komponente des kosmischen Substrats sehr wahrscheinlich geworden. Diese Energiedichte verdünnt sich nicht im expandierenden Kosmos, wie die Materiedichte ρ umgekehrt proportional zum Volumen, sondern sie bleibt konstant. Wir haben Λ als konstante Größe eingeführt, aber auch eine langsame zeitliche Veränderung – wie sie etwa die Energie eines skalaren Feldes aufweisen könnte – wäre möglich. Bereits Albert Einstein hatte eine Konstante Λ in seine Feldgleichungen eingeführt, um ein statisches Universum als Lösung zu erhalten. Nach der Herleitung der expandierenden Lösungen durch Alexander Friedmann und den entsprechenden Beobachtungen wollte er die »Kosmologische Konstante« aus den Gleichungen verbannen und nannte sie »meine größte Eselei«. Leider sind die Beobachtungen der SN Ia noch nicht so hundertprozentig hieb- und stichfest, wie sie die Kosmologen gerne hätten. Die Messungen bestimmen die Differenz (ΩΛ – Ωm) sehr präzise und auch der Schluß auf ein positives ΩΛ kann mit relativ hoher statistischer Signifikanz erfolgen. Um ein bestimmtes (Ωm , ΩΛ) Modell herauszulesen, müssen die Daten aber noch wesentlich genauer werden. Die lokale Eichung muß verbessert werden, die Frage, ob die fernen SNe wirklich genau das gleiche physikalische Verhalten zeigen, wie die nahen, diese Frage, die viele Einzelaspekte wie Entwicklungs-
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effekte, spezielle Rötungseffekte durch Staub etc. hat, muß beantwortet werden. Deshalb sind auch die Projekte zur Registrierung der SNIa weiter im Gang. Sie beschäftigen eine wachsende Zahl von Astronomen, die hoffen durch die gesteigerte Präzision der Messungen mehr über die Natur der »Dunklen Energie« – wie diese Größe gerne genannt wird – herauszufinden. Die Kosmologen müssen sich glücklicherweise nicht nur auf diese Messungen stützen, sondern sie haben ein zweites, reiches Feld an kosmischen Daten abzuernten – die Beobachtungen des CMB.
Die kosmische Hintergrundstrahlung – CMB Bei Annäherung an den Urknall wächst auch die Temperatur des CMB an. In der Frühzeit des Universums waren im Strahlungsfeld genügend viele energiereiche Photonen vorhanden, um alle Wasserstoffatome im ionisierten Zustand zu halten. Dies war noch der Fall, als die mittlere Strahlungstemperatur 3000 Kelvin betrug. Zu dieser Zeit, etwa 400000 Jahre nach dem Urknall (entsprechend einer Rotverschiebung von z = 1100 – d. h. zu der Zeit betrug der mittlere Abstand zweier Galaxien, die sich mit der kosmischen Expansion bewegten, nur 1 / 1100 des heutigen), entstanden in der kosmischen Materie erste Strukturen. Bei Temperaturen unterhalb von 3000 K begannen die Elektronen, sich mit den Atomkernen zu Wasserstoff und Helium zu verbinden. In dieser Epoche der sogenannten Rekombination wurde das Universum durchsichtig, die Strahlung konnte sich ungehindert ausbreiten. Diese kosmische Epoche beobachten die Astronomen, wenn sie das Strahlungsfeld des CMB analysieren. Die Temperatur der Strahlung ist von damals 3000 K auf heute 2.73 K abgesunken, durch die Expansion um den Faktor 1100, doch die Form des Planck-Spektrums blieb erhalten.
Akustische Schwingungen im frühen Universum Aus dem CMB läßt sich aber noch mehr herauslesen. Vor der Rekombinationszeit hatten sich in der dunklen Materie schon erste, schwach ausgeprägte Massenkonzentrationen gebildet. Das eng verkoppelte Plasma aus Photonen und Baryonen folgte diesen Kondensationen, doch dem Wunsch der Baryonen nach Zusammenballung stand der Druck der Photonen entgegen, durch den diese Plasmawolken wieder auseinandergetrieben wurden. Im Widerstreit der Kräfte begannen sie zu schwingen – ganz analog zu Schallwellen. Die größte schwingende Plasmawolke war gerade bis zur Rekombinationszeit einmal von einer Schallwelle durchlaufen worden. Noch größere Wolken konnten noch keinen Gegendruck aufbauen, sondern folgten einfach der Schwerkraft und zogen sich langsam zusammen. Kleinere Wolken oszillierten mit höherer Frequenz. Alle Schwingungen waren in Phase, perfekt synchronisiert durch den Urknall. Bei der Kontraktion und Verdichtung wurde das Photonengas heißer, bei der Verdünnung, beim Auseinanderlaufen, kühlte es sich ab.
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Zur Rekombinationszeit verließen die Photonen die Plasmawolken und finden sich nun mit leicht unterschiedlichen Temperaturen in den Detektoren der Astronomen wieder. Die Temperaturschwankungen sollten sich als heißere und kühlere Bereiche im CMB zeigen. Tatsächlich haben schon 1992 Messungen mit dem NASA-Satelliten COBE zu Himmelskarten des CMB geführt, auf denen Schwankungen in Form kalter und weniger kalter Flecken mit relativen Amplituden von ∆T / T ≅ 10-5 erschienen. Die Instrumente von COBE hatten eine geringe Auflösung, der Satellit war zu »kurzsichtig«, um kleine Strukturen zu erkennen; die Winkelausdehnung mußte mindestens sieben Grad betragen, damit ein Bereich als Meßpunkt identifiziert werden konnte. Beim Blick auf die Erde wäre ganz Bayern gerade nur ein Messpunkt für COBE. Die Intensitätsschwankungen, die man als Keime für die Entstehung von Galaxienhaufen und Galaxien erwartet, zeigen sich erst auf Skalen von deutlich unter einem Grad. Vor kurzem wurde der amerikanische Satellit WMAP gestartet, der eine Karte des gesamten Mikrowellenhimmels mit einer Winkelauflösung von etwa 15 Bogenminuten im Wellenlängenbereich zwischen 3 mm und 1,5 cm aufnimmt. Resultate des ersten Beobachtungsjahres wurden schon veröffentlicht. Abb. 3 zeigt eine Himmelskarte des WMAP Satelliten. Die Multipolanalyse der gemittelten quadratischen Temperaturschwankungen (Abb. 4) zeigt eine Abfolge von wohldefinierten Maxima. Die genaue Analyse erlaubt eine sehr präzise Festlegung der kosmischen Parameter.
Abb. 3
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Abb. 4
Beobachtungen und kosmische Parameter Dabei finden die Wissenschaftler für die Gesamtdichte Ωtot = 1.02 ± 0.002. Das entspricht einem Modell mit kritischer Dichte, einem euklidischen dreidimensionalen Raum. Für die baryonische Dichte ergab sich ΩBh2 = 0.0224 ± 0.009; für die Dichte der Dunklen Materie ΩCDMh2 = 0.135 ± 0.009.
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Es bleibt eine Lücke in der Bilanz ΩΛ ≡ Ωtot - ΩB - ΩCDM ⯝ 0.7, (Hier ist h = H0/100 ⯝ 0.7.) die »Dunkle Energie«, der dominierende Beitrag zur kosmischen Materie und Energie (Abb. 5).
Abb. 5
Wie kann man die Beschleunigung der kosmischen Expansion und die Lücke in der Dichtebilanz von Ω = 0.7 erklären? Es geht ohne große Änderungen, wenn einfach in den Gleichungen eine kosmologische Konstante ΩΛ = 0.7 eingeführt wird. Dies gleicht die Bilanz aus, zu Ωtot = 1, und ergibt eine Beschleunigung der kosmischen Expansion zur gegenwärtigen Epoche t0. Allerdings stellt sich dann die Frage nach der Natur dieser Größe. Die Beobachtungen machen darüber gegenwärtig noch keine Aussagen. Obwohl nach Einstein Materie (multipliziert mit c2) gleich Energie ist, verhalten sich Materie und Dunkle Energie völlig verschieden bei der Expansion. Die Materiedichte ρm fällt ab wie R-3, während die einer kosmologischen Konstanten entsprechende Energiedichte ρΛ konstant bleibt (allgemein bleibt ρ konstant für eine Zustandsgleichung p = - ρ. Physikalisch gesehen wirkt die Dunkle Energie wie eine Spannung, die bei Volumenvergrößerung Arbeit leistet, also zu einem Energiegewinn führt. Eine ad hoc eingeführte Konstante erscheint vielen Kosmologen als unzureichend. Eine Größe, die nur auf andere Systeme wirkt, aber selbst keinen Einwirkungen unterliegt, widerspricht irgendwie auch dem Geist der Einsteinschen Theorie. Ein Ansatz, den viele Kosmologen verfolgen, besteht darin, diese Größe als Feldenergie zu betrachten. Ein homogenes, d. h. räumlich konstantes, skalares Feld etwa hat eine Energiedichte, die für die Beschleunigung der Expansion sorgen könnte. Die Bewegungsgleichung für
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das Feld muß nur mit geeigneten Parametern eingerichtet werden, um zum jetzigen Zeitpunkt einen Energieterm von der richtigen Größenordnung zu garantieren. Für mathematisch Interessierte: Die Energiedichte eines Feldes ϕ: 1 2 ρϕ ≡ ϕ + V(ϕ). 2 V(ϕ) ist die potentielle Energie und 12 ϕ 2 die kinetische Energie dieses Feldes. Mit Hilfe des Energie-Impulstensors läßt sich formal ein zugehöriger Druck definieren 1 Pϕ ≡ ϕ 2 – V(ϕ). 2 Falls das Feld zeitlich nur wenig variiert, ϕ 2