Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle: Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition 9783110647969, 9783110644852

This study identifies the problems and questions that emerge in the publication of lecture manuscripts, transcripts, and

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German Pages 192 Year 2019

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Inhaltsverzeichnis
Zur Einleitung. Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre
Die Grotius-Vorlesung von Christian Wolff aus der Sammlung Emanuel von Graffenried
Notbehelf oder Edition? Die Ausgabe von Kants Vorlesung über Physische Geographie durch Friedrich Theodor Rink (1802)
„Damit was entzückte, als man es hörte, wenigstens erträglich sei, wenn man es liest.“ Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich
„Unsere Aufgabe ist uns die Gegenstände anzueignen“. Zur Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik
Die Nachschrift zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie (1800/01). Ein Fallbeispiel für die textkritische Auswertung von Vorlesungsnachschriften
Aus der Werkstatt eines Philosophen. Schellings Vorlesungen über Philosophie der Kunst
Schopenhauers Versuche als Dozent. Zur Edition der Vorlesung von 1820
Also sprach Nietzsche. Zur Edition der Vorlesung „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“ (Sommersemester 1871)
Windelbands Sendaier Manuskripte vor der Edition
Edition von Vortragsnachschriften innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe
Zum Detektieren und zum Nachweis von Textstellen fremder Provenienz am Beispiel von Vorlesungsnotizen Max Webers. Editorische Miszelle
Nicolai Hartmann – Circelprotokolle 1920–1950. Ein Werkstattbericht
Autorschaft, Authentizität und Editionspraxis bei Seminarprotokollen. Viele Fragen und einige Antworten
Bibliographie zur Edition von Kollegheften, Kollegnachschriften und Protokollen
Anschriften der Autorinnen und Autoren
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Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle: Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition
 9783110647969, 9783110644852

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B E I H E F T E

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Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 35 44 Band

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Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition Herausgegeben von Jörn Bohr

De Gruyter

ISBN 978-3-11-064485-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064796-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064494-4 ISSN 0939-5946 Library of Congress Control Number: 2019939771 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Jörn Bohr Zur Einleitung. Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre .................. 1 Holger Glinka / Frank Grunert Die Grotius-Vorlesung von Christian Wolff aus der Sammlung Emanuel von Graffenried ............................................................................................. 7 Werner Stark Notbehelf oder Edition? Die Ausgabe von Kants Vorlesung über Physische Geographie durch Friedrich Theodor Rink (1802) ........................... 21 Holden Kelm „Damit was entzückte, als man es hörte, wenigstens erträglich sei, wenn man es liest.“ Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich ........................................................................................... 37 Annette Sell „Unsere Aufgabe ist uns die Gegenstände anzueignen“. Zur Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik ........................................................... 57 Johannes Korngiebel Die Nachschrift zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie (1800/01). Ein Fallbeispiel für die textkritische Auswertung von Vorlesungsnachschriften ............................................ 63 Christoph Binkelmann Aus der Werkstatt eines Philosophen. Schellings Vorlesungen über Philosophie der Kunst ........................................................................................ 83 Daniel Elon Schopenhauers Versuche als Dozent. Zur Edition der Vorlesung von 1820 ............. 97 Francisco Arenas-Dolz Also sprach Nietzsche. Zur Edition der Vorlesung „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“ (Sommersemester 1871) ......................... 107 Jörn Bohr Windelbands Sendaier Manuskripte vor der Edition ............................................... 123 Andrea Leubin / Monika Philippi Edition von Vortragsnachschriften innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe ................................................................................ 139

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Inhaltsverzeichnis

Sophia Krebs / Ulrich Rummel Zum Detektieren und zum Nachweis von Textstellen fremder Provenienz am Beispiel von Vorlesungsnotizen Max Webers. Editorische Miszelle ................................................................................................. 149 Thomas Kessel Nicolai Hartmann – Circelprotokolle 1920–1950. Ein Werkstattbericht ................. 155 Dirk Braunstein Autorschaft, Authentizität und Editionspraxis bei Seminarprotokollen. Viele Fragen und einige Antworten ......................................................................... 167 Bibliographie zur Edition von Kollegheften, Kollegnachschriften und Protokollen ....................................................................... 179 Anschriften der Autorinnen und Autoren ................................................................. 185

Jörn Bohr

Zur Einleitung Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre

Gerade weil es sich bei den folgenden Einzelstudien im Kern um die Ergebnisse einer Tagung handelt, die Gerald Hartung und der Herausgeber im Februar 2018 unter dem Dach der Bergischen Universität Wuppertal für die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen in der Deutschen Gesellschaft für Philosophie veranstalten durften,1 scheint es angebracht, diese Ergebnisse in einem erweiterten Rahmen zu präsentieren, der weniger den Forschungsstand als vielmehr die gegenwärtigen Forschungsfragen philosophischer Edition deutlich macht. Die Frage der Edition von vorbereitenden Texten und Entwürfen für Vorlesungen, von Nachschriften und Protokollen ist in vielen Editionsvorhaben virulent geworden. Zum einen, weil einige größere Editionen nach den Werken zu den Notizen und Entwürfen übergehen, zum anderen, weil manches philosophische ‚Werk‘ überhaupt nur in Form von Notizen und Berichten Dritter überliefert ist. Es gibt einen beobachtbaren editionswissenschaftlichen Trend im Bereich der Editionen von Philosophie von der Werkedition eines Autors hin zu seiner Wirkungsedition. Den damit verbundenen spezifischen Problemen und Fragen in editorischer, hermeneutischer wie in philosophischer Hinsicht widmen sich die nachfolgenden Beiträge. Wenn diese auf Philosophie und philosophische Autoren beschränkt sind, so gibt es dafür neben der äußerlichen Gruppierung um die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen herum auch einen inneren Anlaß.2 Edition hat es im Feld der Philosophie immer mit dem Anspruch zu tun, selbst philosophisch relevant sein zu sollen, was die spezifischen Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre noch um die Schwierigkeit potenziert, nicht nur philologisch, sondern auch philosophisch redlich und sachgerecht sein zu müssen. Interpretation als historisch- und philosophisch-kritische Entscheidung an den überlieferten Texten, zuerst, was davon bzw. daran philosophisch sei, sonach, was original, was späterer Zutat entstammt usw., führt direkt in das Kerngeschäft grundsätzlich jeder, aber in einem gewissen Sinne vor allem der philosophischen Edition hinein.3 Das ist zugleich das Philosophische an einer philosophischen Edition, wenn anders das kein sprachlicher Lapsus für ‚Edition von Philosophie bzw. von philosophischen Texten‘ sein soll: In jeder –––––––— 1 Vgl. den Bericht in editio 32 (2018), S. 211–215. 2 Angelegt wird hier ein pragmatischer Philosophie- bzw. Philosophenbegriff: Philosoph ist, wer als Philosoph angesehen wird bzw. zum Professor für Philosophie berufen worden ist. 3 Vgl. Jörn Bohr: Aufführungstexte der Philosophie: Vortrag und Vorlesung. Versuch über die Philosophie der philosophischen Editionen. In: editio 32 (2018), S. 39–52.

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Emendation, Konjektur und jedem historisch-systematischen Kommentar eines philosophischen Textes, die oftmals erst den Text herstellen helfen, liegt ein Akt der prinzipiell überprüfbaren Interpretation zugrunde, der philosophisch in dem Sinne ist, dass er die Kontexte philosophischer Texte zum Zwecke ihres Verständnisses liefert. Obgleich jede originäre Philosophie keine Textwissenschaft sein will, ist jedes Philosophieren im Zeitalter der Philosophiegeschichte auf Texte angewiesen. Was aber, wenn es den Text im strengen Sinne (noch) gar nicht gibt?4 Das bedeutet zuletzt eine Sonderstellung der philosophischen Edition gegenüber andern fachlich interessierten Editionen – von Literatur, von Musik – nur insofern, als auch diese ihren eigenen fachlichen Kriterien genügen müssen. Das Prinzip ist folglich ein Gemeinsames. Um es aber hier im Besonderen für die Edition von Philosophie zu sagen: streng genommen gibt es ausschließlich Probleme bei der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre, und zwar nicht nur editorische, sondern v. a. hermeneutische. Es gibt nur Probleme; worin insofern eine Beruhigung liegen mag, als dass die wenigsten dieser Probleme aus den Sachen selbst hervorgehen, sondern von Editoren selbst geschaffene Probleme sind. Der Grad der Beruhigung, den diese Einsicht vermitteln könnte, sei einmal dahingestellt. Es gibt 1. sachliche Probleme als bloße Schwierigkeiten, z. B. Zustand und Lesbarkeit der Originale usw. Diesen Schwierigkeiten kann in der Regel abgeholfen werden. Die Methoden sind erprobt – nicht zuletzt für den Fall, dass etwas beim besten Willen nicht zu lesen ist –, weshalb es um diese Methoden hier einmal nicht gehen soll.5 An 2. Stelle stehen hermeneutische Probleme, die sich Editoren in der editorischen Tätigkeit selbst schaffen, als Hindernisse, die paradoxerweise oft genug nicht als solche bemerkt werden, weil sie der editorischen Praxis inhärent sind: wenn die Beteiligten eben nicht ausschließlich philologisch-technisch arbeiten, sondern darüber hinaus auch interpretierende Fachwissenschaftler sind. Fachwissenschaftlich gebildete und orientierte Editoren interpretieren als solche oft bereits dort, wo es zunächst nur um eine Beschreibung ginge. Das ist kein Fehler solange, wie es transparent bleibt. Diese Einsicht lässt indes zunächst völlig offen, wie diese Transparenz erreicht werden könnte. Das schafft 3. für den Gegenstand der philosophischen Edition spezifische und in dieser Hinsicht ‚echte‘ Probleme: hier kann nur mittels Reflexion über das eigene Tun Abhilfe geschaffen werden. Einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Das ist Gegenstand und Thema des vorliegenden Bandes. Die Edition von Textzeugen des Mündlichen erzeugt und Editoren erzeugen in ihrem methodisch geleiteten Tun am Gegenstand spezifische Probleme. Da wäre zunächst die Gefahr eines gewissen Positivismus zu nennen, der gegenüber der Dignität der überlieferten Texte dazu –––––––— 4 Vgl. Wolfgang Kluxen: Der Geist lebt vom Buchstaben. Über Texte und Texteditionen als Träger geschichtlicher Kontinuität der Philosophie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), Heft 3, S. 7–19. 5 Vgl. dafür z. B. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997.

Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre

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neigen kann, die Befunde nicht mehr daraufhin zu befragen, was uns in ihnen wirklich vorliegt, also die Frage nicht zu stellen: Werden Vorlesungen überhaupt, und wenn ja: wie mittels bzw. in Nachschriften wiedergegeben? Was wird überhaupt protokolliert, wenn protokolliert wird? In welchem Verhältnis stehen vorbereitende Notizen zum tatsächlichen Lehrvortrag? Man könnte vielleicht behaupten: „Vorlesungseditionen“, obwohl in der Welt, gibt es gar nicht. Sie sind ein Ding der Unmöglichkeit, so lange und sofern sie nicht verstanden werden als Editionen von Materialien oder Texten bzw. Kontexten zu einer Vorlesung oder einem Vortrag. Man könnte aber auch sagen: so, wie jedes Lehrbuch im Prinzip bereits die Edition einer zugrunde gelegten Vorlesung darstellt,6 so ist erst recht eine Nachschrift bereits eine Form von Edition, d. h.: eine Form der Zurichtung eines zugrunde gelegten Textes auf eine bestimmte Überlieferungsabsicht hin. Soweit wird man in praxi vielleicht nicht gehen wollen. Aber für eine Theorie der Edition von Kollegheften, Kollegmitschriften und Protokollen sind diese Fragen von Bedeutung, zumal für eine zugrunde zulegende Hermeneutik des Umgangs mit Editionen von solchermaßen überlieferten Zeugen der Gattung Vorlesung bzw. Mit- und Nachschrift. Dieser Umgang muss gelernt und sollte gelehrt werden, nicht zuletzt in der universitären Lehre der beteiligten Disziplinen, um die allfällige Kluft zwischen der unkritischen Benutzung wohlfeiler Leseausgaben zuungunsten wissenschaftlicher Editionen, wenn schon nicht zu schließen, so doch wenigstens den Adressaten von Editionen bewusst zu machen. So wie sich die kritischen Editionsverfahren bewusst sind des entscheidenden Gradunterschieds in der ‚Autorisation‘ von gedruckten, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Werken und im Unterschied dazu der von nachgelassenen Schriften und Manuskripten, deren Gründe der Nichtveröffentlichung im Allgemeinen nur vermutet werden können und deren Edition im Einzelfall ernste hermeneutische Fragen aufwirft, so ist auch das Verhältnis von Manuskripten für Vorlesungen zu Nachschriften ein höchst problematisches. Die virulente Frage nach dem Zusammenhang von philosophischem oder wissenschaftlichem Argument und Textbasis gewinnt hier ganz besondere Bedeutung. Nicht zuletzt im Hinblick auf die spätere Interpretation des Edierten: Es handelt sich nämlich um ein Verhältnis mit mehreren, mindestens aber zwei Unbekannten, die diese Form von Editionen noch hypothetischer zu machen drohen, als jede Edition ihrem Charakter nach bereits ist. Wie ist das Verhältnis vom Manuskript für die Vorlesung zum möglicherweise tatsächlich vorgetragenen Wortlaut editorisch zu bestimmen? Inwiefern wird die Rede des Vortragenden in den Nachschriften protokolliert, mehr oder weniger zusammenfassend oder nach eigenem Verständnis wiedergegeben? Was ist das überhaupt für eine Form der Wiedergabe, wenn man davon ausgeht, dass auch Vorlesungen eine Form von Veröffentlichung sind – gewissermaßen in actu? Wie bei jeder anderen Rede, so hat ja –––––––— 6 Vgl. Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte. Oder: erprobte Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben sowohl der Academischen als der höheren Gymnasialvorlesungen. Bonn 1826 (http://www.deutschestextarchiv.de/fischer_collegienhefte_1826), S. 40 u. 52. In seinem Kompendium führt Fischer eine bemerkenswerte Systematisierung einer gängigen Praxis vor.

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auch der im Dienst der Wissenschaft Vortragende keine Gewalt darüber, wie seine Rede in das Verstehen seiner Hörer übergeht. Bedenkt man, welche zusätzlichen hermeneutischen Probleme für die editorische Kritik sich auftun, wenn es von einer Vorlesung eine ganze Reihe von mitunter sehr unterschiedlichen ‚Mit‘- oder Nachschriften gibt (denn auch das ergibt einen hermeneutischen Unterschied), die einem jeweils ganz anderen Interesse folgen könnten (Wissen entnehmen, Rede protokollieren, Zusammenfassung liefern etc.), so rufen diese Fragen nach einem Austausch der mit der Edition von Manuskripten zu Vorlesungen und ihren Nachschriften befassten Kolleginnen und Kollegen. Die für die Entscheidung für eine Edition dieser Textgattungen maßgebenden Fragen stellen sich folglich erneut: Wird mit einer Vorlesung eine bestimmte Erkenntnisform geboten bzw. vorgetragen, die durch das Mitschreiben im Kontext der Entstehung dokumentiert wird? Sind Nachschriften reine Rezeptionsdokumente? Oder ist die Vorlesung gerade keine Erkenntnisform, sondern nur eine Reproduktion von bereits Gewusstem, sodass Mit- oder Nachschriften bloße Reproduktionen von Reproduktionen sind? Kurz: Was ist eigentlich besser, oder das kleinere Übel, wenn man die Wahl hätte: soll man eher die Manuskripte zu einer Vorlesung oder eher die Nachschriften edieren? Und vor allem: wie soll man das machen? Die Schritte in Richtung transparenter Hybrid-Editionen bedeuten nach wie vor die Eroberung von Neuland, da sich Normierungen angesichts der Überlieferungslage der zu edierenden Manuskriptarten nicht durchführen lassen. An der editorischen Arbeit an Manuskripten für eine Vorlesung und Manuskripten nach einer Vorlesung lassen sich die kontingenten Bedingungen jeder Edition besonders prägnant ablesen. Ihre Einzelfallentscheidungen haben Mustercharakter oft lediglich für ihren gewählten Gegenstand, was die mögliche Übertragbarkeit auf ähnlich gelagerte Fälle zwar nicht ausschließt, jedoch erschwert. Ein Wort zur dabei verwendeten Terminologie: Der Ausdruck ‚Kolleghefte‘ soll für den vorliegenden Band Manuskripte für das Halten einer Vorlesung bezeichnen, synonym zum etablierten Ausdruck ‚Vorlesungsmanuskripte‘, jedoch für den bezeichneten Sachverhalt u. U. treffender.7 ‚Kollegnachschriften‘ seien dementsprechend Texte, die von Hörern einer Vorlesung zu dieser Vorlesung verfasst wurden, womit nichts über die Form und den Zeitpunkt der Abfassung präjudiziert ist. ‚Protokolle‘ sind als eine, besonderen Redaktionsschritten unterworfene Form von ‚Nachschriften‘ im Seminarzusammenhang zu verstehen. Die Tauglichkeit der gewählten Ausdrücke

–––––––— 7 Darüber hinaus ist im Wort Kolleg Universitätsgeschichte aufgehoben, vgl. Friedrich Kluge/Alfred Götze: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 16. Aufl. Berlin 1953, S. 402 (Lemma Kolleg): „Die Vorlesung an mittelalterlichen Hochschulen heißt lectio, weil in ihr stets ein autor classicus gelesen und erläutert wurde. Im 16. Jh. kommen neuartige Privatvorlesungen auf, die (als Vorläufer unserer Seminare) collegium ‚Zusammenkunft‘ heißen. – Zum Sprachgebrauch Hefte für Lehrunterlagen der Professoren vgl. z. B. Wilhelm Windelband an Karl Dilthey vom 3. August 1878: „Lieber Carlo, Wie ich höre, geht Euer Göttinger Semester mit bekanntem hofräthlichem Eifer erst in den nächsten Wochen zu Ende, während wir schon gestern den glücklichen Strich unter unsre Hefte gemacht haben.“

Probleme der Edition von Textzeugen mündlicher Lehre

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muss sich in den einzelnen Beiträgen erweisen – eine Normierung wird nicht angestrebt. Im vorliegenden Band sind stellvertretend, angeordnet nach dem Geburtsjahr ihrer Protagonisten – und freilich längst nicht repräsentativ! – für das achtzehnte bis zwanzigste Jahrhundert versammelt: Frank Grunert und Holger Glinka, die den Band eröffnen, indem sie am Beispiel der Edition einer Nachschrift der Grotius-Vorlesung von Christian Wolff zeigen, dass (nicht nur, aber diese besonders) professionell hergestellte Nachschriften auf eine besondere wissenssoziologische Situation hinweisen: Mit der zunehmenden Emanzipation der Vorlesungen von kanonischen Lehrbüchern hat die Vorlesung selbst Lehrbuchcharakter entwickelt, der den Zugzwang ihrer Hörer noch verstärkt, sich des von Professoren gesprochenen Wortes schriftlich zu vergewissern. Der Handel mit Nachschriften hat hier seinen Grund sowohl wie die Überlieferung besonders elaborierter Manuskripte in den Nachlässen adeliger und vermögender Häuser. Werner Stark, der die problematische Funktion von Nachschriften als vermeintlicher Stütze für weitgehend ungeschriebene Werke am Beispiel von Kants Physischer Geographie in der Ausgabe Rink herausstellt, teilt spezifische Erfahrungen mit den älteren Editionen von Nachschriften Kantischer Vorlesungen in Königsberg mit. Holden Kelm rekonstruiert im historischen Vergleich, wie unterschiedliche Editionsstandards und v. a. Absichten ihren Autor gerade in der Rekonstruktion seiner Lehre jeweils neu konstitutieren, sodass ein editorisch manifestes theologisches Interesse an Schleiermacher zunehmend von einem philosophischen abgelöst wird – Schleiermacher also entweder als Theologe oder als Philosoph ediert wird. Annette Sell spürt anhand der Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik der Frage nach Hegels möglicherweise eigenen Überlieferungsabsichten seines in Bewegung vorgetragenen Werkes nach. Dabei zeigt sie, wie Hegels philosophische Methode der Aneignung auf die editorische Praxis übertragen werden kann. Johannes Korngiebel nimmt eine Nachschrift zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie von 1800/01 zum Anlaß, die Leistungsfähigkeit einer textkritischen Auswertung von Vorlesungsnachschriften für die Edition exemplarisch darzustellen. Christoph Binkelmann teilt aus der Werkstatt Schellings die editorischen Herausforderungen mit, die dessen Vorlesungen über Philosophie der Kunst bedeuten. Daniel Elon beleuchtet Schopenhauers Versuche als Dozent, wie sie sich in den Manuskripten zu dessen Vorlesung von 1820 darstellen. Francisco Arenas-Dolz nimmt Nietzsche als Universitätslehrer ernst und vertieft anhand der Edition der Vorlesung „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“ die Reflexionen über das Verhältnis von Vorlesungen und den sie begleitenden Textarten. Windelbands vor wenigen Jahren in Sendai (Japan) wiederaufgefundene Manuskripte zur Vorbereitung von Lehrveranstaltungen und Publikationsvorhaben sind Gegenstand von Jörn Bohrs Beitrag. Andrea Leubin und Monika Philippi gewähren einen Einblick in die Edition von Vortragsnachschriften innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Max Webers Manuskripte für Vorlesungen dienen Sophia Krebs und Ulrich Rummel als Fallbeispiel für das Ermitteln und Belegen von Krypto-Zitaten und Paraphrasen, einem Hauptgegenstand editorischen Kommentierens. Mit Thomas Kessels Beitrag zu Nicolai Hartmanns Circelprotokollen wird das zwanzigste Jahr-

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hundert in den Blick genommen, als in den Seminaren und Kolloquien die Form und Praxis des Protokolls Einzug hielt. Dirk Braunstein liefert eingehende Reflexionen über den möglichen Sinn der Begriffe ‚Autorschaft‘ und ‚Authentizität‘ für die Edition solcher Seminarprotokolle. – Beigefügt ist eine Bibliographie zum Thema Edition von Kollegheften, Kollegnachschriften und Protokollen. Damit möchte dieser Band, für dessen Aufnahme in die Reihe „Beihefte zu editio“ der Herausgeber dankbar ist, bei allen zu verantwortenden Lücken einen Überblick über das derzeitige Arbeiten im Bereich der Edition von Zeugen philosophischer Rede geben. Abstract Beyond philosophical editions, this volume discusses problems and research questions that arise in the edition of manuscripts for lectures, lecture notes and seminar minutes. The focus is on methodological solutions, which are exemplified by the presentation of editions of texts from eighteenth to twentieth century. This volume thus forms a compendium from which further research on scholarly editing can be proceeded.

Holger Glinka / Frank Grunert

Die Grotius-Vorlesung von Christian Wolff aus der Sammlung Emanuel von Graffenried

Die Funde bedeutender Manuskripte sind ausgesprochen selten. Wenn dennoch eine Handschrift auftaucht, die auf einem vermeintlich gut erforschten Gelände nicht nur aufschlussreiche neue Informationen, sondern auch noch neue Perspektiven bietet, dann verdankt sich dies entweder einer gezielten und intensiven Suche oder dem puren Zufall. Zu beidem gehört Glück. Der Fund einer Nachschrift der Grotius-Vorlesung von Christian Wolff verdankt sich dem Glück einer Freundschaft, nämlich zwischen dem Historiker Béla Kapossy (Lausanne) und einem der Eigentümer der Handschrift, André von Graffenried, der Kapossy unlängst auf eine Reihe von Manuskripten aufmerksam gemacht hat, die zum Bestand der bereits im Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz beschriebenen Bibliothek auf Schloss Burgistein gehören.1 Darunter eben auch jenes von einer von Christian Wolff sowohl in Marburg als auch in Halle mehrfach gehaltenen Vorlesung über das 1625 in Paris zum ersten Mal erschienene und in der Folge Epoche machende Buch De iure belli ac pacis des Niederländers Hugo Grotius. Béla Kapossy hat einen Teil des Manuskripts den Mitgliedern des Netzwerkes „Natural Law 1625–1850. An International Research Network“2 auf einer Tagung in Lausanne im Herbst 2015 vorgestellt, und allen anwesenden Naturrechtsexperten war sogleich klar, dass es sich um eine eminent bedeutsame Quelle handelt, die sowohl für die Forschungen zu Grotius, Wolff und selbstverständlich zum Naturrecht im achtzehnten Jahrhundert von unschätzbarem Wert ist. Eine Edition, so lautete die übereinstimmende Auffassung aller damals Beteiligten, ist dringend geboten. Bei dem Manuskript handelt es sich um eine Vorlesungsnachschrift, die offensichtlich von professioneller Hand in gut lesbarer Reinschrift ausgeführt wurde und sich auf eine Vorlesung bezieht, die Wolff in der Zeit von Juni 1739 bis Mai 1740 in Marburg gehalten hat. Das Manuskript besteht aus 8 Bänden und umfasst 5474 Seiten, jeder Band ist eigens datiert. Soweit absehbar, folgte die Vorlesung dem Auf–––––––— 1 Peter Bichsel: Schlossbibliothek Burgistein. In: Handbuch der Historischen Buchbestände in der Schweiz. Répertoire des Fonds imprimés anciens de Suisse. Repertorio di Fondi antichi a Stampa della Svizzera. Herausgegeben von der Zentralbibliothek Zürich. Bearbeitet von Urs B. Leu, Hanspeter Marti und Jean-Luc Rouiller. Hildesheim, Zürich, New York 2011, S. 269–271. Mit wenigen Änderungen wiederabgedruckt in: André von Graffenried (Hg.): Schloss Burgistein. Hinten im Gürbetal und mitten in Europa. Eine Dokumentation. Bern/Burgistein 2018, S. 200–207. Die in der Bibliothek aufbewahrten Handschriften werden von Bichsel nicht erwähnt. 2 Siehe demnächst: Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel: Natural Law 1625–1850. An International Research Network. In: Aufklärung 30 (2018).

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Holger Glinka / Frank Grunert

bau von De iure belli ac pacis genau und geht dabei auf nahezu jeden einzelnen Paragraphen der drei Bücher des zugrundeliegenden Werkes ein. Inzwischen ist die Vorlesungsnachschrift in einer knappen Research Note beschrieben worden.3 Die Edition wird im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Kooperation mit dem Netzwerk „Natural Law 1625–1850“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und der Universität Lausanne vorbereitet.

1. Emanuel von Graffenried als Student von Christian Wolff Die Vorlesungsnachschrift ist Bestandteil einer Sammlung, die Emanuel IV. von Graffenried (1726–1787) offenbar während seiner Studien in Halle und in Marburg aufgebaut hat.4 Von Graffenried war der vermögende Spross einer der seit dem Mittelalter tonangebenden patrizischen Familien in Bern, die als Mitglieder des Großen und des Kleinen Rates ebenso hervorgetreten waren wie als Schultheiße, Venner (das sind Bürgermeister einzelner Berner Quartiere) und Säckelmeister. Die Familie – ursprünglich Gerber und Kaufleute – ist im Laufe der Zeit zu erheblichem Wohlstand gekommen und hat es dabei seit dem späten Mittelalter verstanden, „stets die richtigen Antworten auf die Fragen [zu] finden, die die Zeitläufe stellen“5, wie es Charles von Graffenried in einem Buch zur Geschichte seiner Familie formuliert. Zu dieser politischen und ökonomischen Weitsicht gehörte offenbar auch die Einsicht, dass politische Ämter vor allem dann sinnvoll auszufüllen sind, wenn der Amtsinhaber eine Ausbildung genossen hatte, die dem Amt angemessen war. Und so wurde der 1726 geborene Emanuel von Graffenried im Herbst 1746 von Bern nach Halle geschickt, um dort das Studium der Jurisprudenz aufzunehmen. Hier blieb er knapp zwei Jahre und zog im Spätsommer 1748 weiter nach Marburg, wo er seine Studien fortsetzte. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz wurde von Graffenried Mitglied des Großen Rates in Bern, Assessor am Stadtgericht und an der deutschen Appellationskammer, 1780 wurde er Präsident der Helvetischen Gesellschaft und 1786 Präsident der Ökonomischen Gesellschaft des Kantons Bern, zu deren Mitbegründern er 1759 gehört hatte. Sein „aufgeklärtes“ Interesse an landwirtschaftlichen Verbesserungen wird durch agrar-ökonomische Versuche sowie durch entsprechende Publikationen belegt, etwa durch die 1756 verfasste und im Druck erschienene Oeconomische Beschreibung der Herrschaft Burgistein.6 Nicht nur als Herr von Burgistein, sondern auch als Obervogt von Schenkenberg und als Mitglied der Landesökonomiekommission konn–––––––— 3 Frank Grunert, Béla Kapossy: Christian Wolff’s Lectures on Grotius’s De Iure Belli ac Pacis from 1739–1740. In: Grotiana 38 (2017), S. 229–233. 4 Vgl. Béla Kapossy: Der Bücherschatz des Emanuel IV. von Graffenried (1726–1787). In: von Graffenried 2018 (Anm. 1), S. 208–217. 5 Hans Braun: Geschichte der Familie von Graffenried. Notabeln, Patrizier, Bürger. Mit einem Vorwort und herausgegeben von Charles von Graffenried. Bern [2012], S. 9. 6 Emanuel von Graffenried: Oeconomische Beschreibung der Herrschaft Burgistein. In: Der Schweitzerischen Gesellschaft in Bern Sammlungen von landwirthschaftlichen Dingen. 2. Tl., 2. Stück, 1761. Wiederabgedruckt in: von Graffenried 2018 (Anm. 1), S. 248–258.

Die Grotius-Vorlesung von Christian Wolff

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te er seine Vorstellungen zur Verbesserung der Landwirtschaft mehr oder weniger direkt umsetzen. Sieht man sich den Werdegang des 1787 verstorbenen Emanuel von Graffenried an, könnte man nicht ganz zu Unrecht meinen, dass hier ein an „Aufklärung“ interessierter Patriziersohn aus Bern in Halle „Aufklärung“ gelernt hat, um diese in Bern und Umgebung praktisch umzusetzen. Womit sich von Graffenried in Halle und danach in Marburg beschäftigt hat, können wir bisher nur in Umrissen aus der von ihm aufgebauten und auf Schloss Burgistein beherbergten Bibliothek erschließen. Nach der von Peter Bichsel vorgelegten Beschreibung der Schlossbibliothek Burgistein umfasst die Sammlung insgesamt 2369 Titel mit einem Schwerpunkt im achtzehnten Jahrhundert. Es handelt sich „um eine vorwiegend juristisch-staatswissenschaftliche wie auch land- und hauswirtschaftliche Fachbibliothek des 18. Jahrhunderts“.7 Die Sammlung dokumentiert ein fachliches Interesse, das über die Aufgaben des Inhabers im juristischen und politischen Tagesgeschäft weit hinausgeht. Dazu gehört nicht zuletzt eine Sammlung von 1575 vornehmlich juristischen Dissertationen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sich über alle juristischen Teildisziplinen erstreckt. Sie sind zum größten Teil an bzw. im Umfeld derjenigen Universitäten erschienen, an denen von Graffenried immatrikuliert war. Sammlungen dieser Art fungierten als eine wachsende und sich stets aktualisierende Fachenzyklopädie in den Bibliotheken von Professoren. Ihr Aufbau setzte nicht nur ein spezifisches akademisches Interesse voraus, sondern auch viel Zeit und ausgezeichnete Verbindungen innerhalb der Gelehrtenrepublik. Weil Emanuel von Graffenried weder als junger Mann noch in den späteren Jahren diese Voraussetzungen erfüllte, darf man wohl annehmen, dass er die Dissertationen als eine geschlossene Sammlung aus einem Nachlass erworben hatte. Die genaueren Umstände seines Büchererwerbs – der bemerkenswerten Dissertationensammlung ebenso wie der Erwerb der Handschriften – bedürfen noch der weiteren Erforschung. Sie wird nicht zuletzt durch den Umstand erschwert, dass sich im Familienarchiv wenig Material erhalten hat, das sich auf Emanuel IV. von Graffenried bezieht. Einer familieninternen Legende zufolge soll die Schwiegertochter des von Graffenried den größten Teil seines persönlichen handschriftlichen Nachlasses dem Feuer übergeben haben. Dass die Bibliothek als Sammlung eines Berner Patriziers und Eigentümers einer eigenen Herrschaft schon für sich einer weiteren wissenschaftlichen Analyse wert ist, steht freilich außer Frage. Der Bestand selbst lässt bereits bemerkenswerte Aufschlüsse zu. Blickt man nämlich auf und in die Bücher, dann fällt sogleich von Graffenrieds starkes Interesse an der Philosophie Christian Wolffs auf. Er hatte schlichtweg alles angeschafft, was von Wolff in dieser Zeit auf dem Markt zu haben war. Da es sich in der Regel um Ausgaben aus den vierziger Jahren handelt, darf man annehmen, dass von Graffenried die Bücher in Halle erworben hat. Christian Wolff war seit 1740 wieder in Halle, und von Graffenried zählte ganz sicher zu seinen Zuhörern, denn er hielt die von ihm erworbenen Bücher nicht zu Dekorationszwecken vor, sondern ar–––––––— 7 Bichsel 2011 (Anm. 1), S. 270.

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beitete intensiv mit ihnen – zumindest lassen dies die zahlreichen Lese- und Gebrauchsspuren erkennen, die in den Büchern zu finden sind. Dass diese Rezeptionszeugnisse tatsächlich von Emanuel von Graffenried stammen, ist zwar in hohem Maße wahrscheinlich, doch muss dies mit Hilfe von Handschriftenvergleichen erst noch bestätigt werden. Unterstellt man einmal die Urheberschaft Emanuel von Graffenrieds, dann ist überraschend, dass er sich nicht nur mit den Werken Wolffs befasst hat, die sich in sachlicher Nähe zu seinem Studienfach befinden, wie das Naturrecht oder die Deutsche Politik, sondern auch mit der Logik, der Ontologie oder der Theologia naturalis. Freilich wurden die Bücher unterschiedlich intensiv durchgearbeitet; wir finden Lesezeichen, manchmal sogar in Form einer Spielkarte, einfache Anstreichungen, aber auch Kommentare und regelrechte Lernhilfen. Die Logik von Wolff scheint eine besondere Herausforderung gewesen zu sein, denn hier hat Emanuel von Graffenried ganze Schemata angefertigt, um sich mit den Termini und ihren Ableitungen vertraut zu machen. Die Intensität, mit der von Graffenried sich mit der Wolffschen Logik befasst hat, und vor allem die damit verbundenen, im Buch selbst aufbewahrten Textzeugen, lassen vermuten, dass er sich bei seiner WolffLektüre nicht nur auf die Erträge seines Selbststudiums hat verlassen müssen, vielmehr scheint er sich im Rahmen eines regelrechten Arbeitskreises mit Wolff auseinandergesetzt zu haben. Dass von Graffenrieds Interesse an der Philosophie Christian Wolffs nicht dem Zufall einer aus anderen Rücksichten erfolgten Studienplatzwahl geschuldet war, darf aus der Tatsache geschlossen werden, dass Wolff, wie Béla Kapossy hat zeigen können,8 in von Graffenrieds Berner Umfeld zu den intensiv diskutierten Autoren gehörte: Johann Friedrich Stapfer hatte Wolff in Marburg kennen gelernt, Johann Rudolf Brunner hatte bei Wolff studiert, und Friedrich von Sinner absolvierte ebenso wie Samuel König während Wolffs Marburger Zeit dort ein Studium der Rechte. Angesichts der Bedeutung, die Wolff in Marburg zu dieser Zeit hatte, darf man wohl voraussetzen, dass sie die Vorlesungen Wolffs besuchten. Insofern kann man sich einigermaßen sicher sein, dass Emanuel von Graffenried wegen Wolff nach Halle kam, und er sollte Halle auch wegen Wolff, bzw. der Anwendung seiner Philosophie auf die Jurisprudenz, wieder verlassen und sein Studium in Marburg fortsetzen. Dies lassen weitere Manuskripte erkennen, die sich in der Bibliothek von Schloss Burgistein befinden. Emanuel von Graffenried war nämlich nicht nur an gedruckten Büchern interessiert, er sammelte auch Handschriften, die sich auf seine juristischen und seine naturwissenschaftlichen Interessen bezogen. Es handelt sich dabei vornehmlich um Mitoder Nachschriften von Vorlesungen, die Christian Wolff, Daniel Nettelbladt, Johann Ulrich von Cramer und Gottfried Mascow gehalten haben. Abgesehen von den Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P., um die es im Folgenden ausführlicher gehen wird, lassen sich von Wolff noch ein Collegium ad Physicam Dogmaticam9 sowie ein ebenfalls von Wolff stammendes Collegium Anatomico Physicum de Generatione –––––––— 8 Béla Kapossy: Der Bücherschatz des Emanuel IV. von Graffenried (1726–1787). In: von Graffenried 2018 (Anm. 1), S. 216. 9 Tom. I–IV [V], insgesamt 3787 Seiten.

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animalium Hominumque10 in der Bibliothek finden. Von dem in Halle lehrenden Wolff-Schüler Daniel Nettelbladt liegen das Sistema Elementare universae Jurisprudentiae naturalis usui sistematis Jurisprudentiae positivae accomodata11 und das Systema pandectale12 in handschriftlicher Form vor. Von dem Marburger Rechtsprofessor Johann Ulrich von Cramer besaß von Graffenried drei Manuskripte zum Ius publicum: die Praelectiones publicae in historiam juris civili, das vierbändige Systema juris civili und die Praelectiones Juris publici mit Datum vom April 1740. Das zweibändige Manuskript zu einer Vorlesung des Leipziger Juristen Gottfried Mascow ist ebenfalls dem öffentlichen Recht gewidmet: Discursus Juris publici. Abgesehen von diesen juristischen Werken finden sich noch Handschriften, die die Justiz und die Politik Berns betreffen sowie zwei noch nicht identifizierte naturwissenschaftliche Manuskripte, und zwar eine Vorbereitung zur Mineralogia Metallurgica und die Dictata ad Linnaeum. Die Qualität dieser gut lesbaren Manuskripte lässt darauf schließen, dass es sich um professionell hergestellte Handschriften handelt. Weil mit begehrten Vorlesungsnachschriften ein lebhafter Handel getrieben wurde, ist denkbar, dass Emanuel von Graffenried entweder bei einem entsprechenden Angebot zugegriffen oder sie sogar selbst in Auftrag gegeben hat. Nicht ausgeschlossen ist, dass es sich – etwa im Fall der Grotius-Vorlesung, die mit großer Sorgfalt hergestellt wurde – um Abschriften von Nachschriften oder gar von Diktaten handelt. Die Nachschriften der Vorlesungen von Nettelbladt und Cramer lassen erkennen, dass der angehende Jurist von Graffenried an Wolffs Philosophie deswegen interessiert war, weil er darin (wie andere seiner Zeitgenossen auch) eine für die Jurisprudenz brauchbare Methode sah. Das führte ihn offenbar zu Johann Ulrich von Cramer. Dieser war in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts Juraprofessor in Marburg, ging später nach Bayern und wurde schließlich Assessor am Reichsgericht in Wetzlar. Während des Aufenthalts von Emanuel von Graffenried in Marburg lebte Cramer dort, war aber nicht mehr als Professor tätig. Weil er sich insbesondere mit der Anwendung der Wolffschen Philosophie auf die Jurisprudenz befasst hat (ein entsprechendes Werk findet sich auch auf Burgistein13), war Cramer für Emanuel von Graffenried außerordentlich attraktiv. Cramer war zudem der juristische Lehrer von Nettelbladt. Da mit Blick auf die vorhandenen, Nettelbladt betreffenden Handschriften davon ausgegangen werden kann, dass von Graffenried bei Nettelbladt in Halle studiert hat, ist es durchaus wahrscheinlich, dass Nettelbladt seinen Studenten in Halle an seinen Lehrer in Marburg verwiesen hat, der vermutlich während seines zweiten Marburger Aufenthaltes Privatissima für ein interessiertes und zahlungswilliges Publikum veranstaltet hat. Dieser letzte Punkt müsste noch eruiert werden. Plausibel ist jedenfalls die Annahme, dass von Graffenried auf –––––––— 10 11 12 13

Einbändig, unpaginiert, ca. 250 Seiten. Einbändig, mit dem Datum: Halle 11. Maji 1746, 318 Seiten. Einbändig, 187 Seiten. Johann Ulrich Cramer: Usus philosophiae wolfianae in jure. 13 Tle. in 1 Bd. Marburg 1742.

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Anraten Nettelbladts nach Marburg ging, um sich von von Cramer in der Anwendung der Philosophie Wolffs auf das öffentliche Recht unterrichten zu lassen. Daniel Nettelbladt kommt wahrscheinlich überhaupt eine Schlüsselfunktion zu. Er war Jurist, so dass von Graffenried als Jurastudent wohl in erster Linie mit ihm zu tun hatte. Als Schüler Wolffs, der diesem von Marburg nach Halle gefolgt war und zeitweilig in dessen Haus wohnte, könnte es Nettelbladt gewesen sein, der von Graffenrieds Wolff-Studien anleitete. Auf ein besonderes Verhältnis zwischen Emanuel von Graffenried und Daniel Nettelbladt lässt auf jeden Fall das Naturrechtsmanuskript schließen, das in der Bibliothek von Schloss Burgistein aufbewahrt wird. Es handelt es sich dabei um eine frühe Fassung von Nettelbladts eigenem Naturrecht, das er auf Bitten von „Cavalieren“ 1745/46 niedergeschrieben hatte.14 Da Nettelbladt selbst behauptet, diese ursprüngliche Ausarbeitung ohne weitere Korrekturen in den Druck gegeben zu haben15, müsste es sich nach Lage der Dinge um das 1749 in Halle erschienene Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis usui systematis iurisprudentiae positivae handeln, das von Graffenried im Übrigen auch zu seinen Beständen zählte. Ein Vergleich des gedruckten Buches mit der Burgisteiner Handschrift von 1746 hat allerdings ergeben, dass beide trotz der Übereinstimmungen von Titel und Thema nicht identisch sind. Es muss sich also um eine bisher unbekannte Vorstufe zu Nettelbladts Naturrecht von 1749 handeln, über dessen Existenz Nettelbladt selbst interessanterweise nichts mitzuteilen gewillt ist. Angesichts dieses so prononcierten Interesses an Christian Wolff, dessen Philosophie und ihren juristischen Anwendungsmöglichkeiten, scheint von Graffenried die Nach- bzw. Reinschrift von Wolffs Grotius-Vorlesung wohl vornehmlich aus der Wolff-Perspektive geschätzt zu haben. Obwohl von Graffenried selbstverständlich weitere einschlägige Werke zum Naturrecht besaß (etwa Pufendorfs Naturrecht in deutscher Übersetzung16 oder eine Anleitung zu dessen berühmtem naturrechtlichen Lehrbuch De officio hominis et civis17), findet sich auf Burgistein keine der damals ebenso zahlreichen wie verbreiteten Ausgaben von Grotius’ De iure belli ac pacis, wohl aber – und damit war ihm der Text dann doch zugänglich – der große Grotius–––––––— 14 In einer autobiographischen Skizze berichtet Nettelbladt, „von in Halle studierenden Cavalieren“ gebeten worden zu sein, „die Theile der Rechtsgelahrheit, in ein System zu bringen“ und „von allen Theilen die ersten Begriffe“ in einem „Collegium privatissimum“ zu lesen. Nettelbladt befasste sich zunächst mit der „Ausfertigung eines Systematis elementaris iurisprudentiae positivae universae“ und schloss dann „mit gleicher Eilfertigkeit“ ein „Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis“ an. Vgl. Daniel Nettelbladt in: Christoph Weidlich: Zuverlässige Nachrichten von denen jetztlebenden Rechtsgelehrten. Dritter Theil. Halle 1759, S. 432f. Siehe auch: Bernhard Martin Scherl: Einleitung in Daniel Nettelbladt „Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis“. In: Daniel Nettelbladt: Systema elementare universae Jurisprudentiae naturalis in usum praelectionum academicarum adornatum. Bd. 1. Mit einer Einleitung herausgegeben von Bernhard Martin Scherl. Reprint: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente. Bd. 39,1. Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. XI–XIV. 15 Nettelbladt 1759 (Anm. 14), S. 433. Ihm folgt auch Scherl, vgl. Scherl 1997 (Anm. 14), S. XIIIf. 16 Samuel von Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völckerrecht. Bände 1 und 2. Franckfurt am Mayn 1711. 17 J. Rudolf Waldkirch: Annotata atque exempla illustrantia in Samuelis de Pufendorf libros duos de officio hominis et civis. Basel 1740.

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Kommentar von Heinrich Coccejus.18 Wenn Emanuel von Graffenried Wolffs Grotius-Vorlesung tatsächlich bloß oder auch nur vornehmlich als Beitrag zur WolffDiskussion rezipiert haben sollte, dann dürfte er damit recht getan haben. Christian Wolff selbst hat ganz offensichtlich die Vorlesung zur Vorbereitung seines eigenen Naturrechts gehalten. Wie nah die beiden Texte aufeinander zu beziehen sind, lässt sich, ganz abgesehen von inhaltlichen Fragen, durch den quasi institutionellen Umstand belegen, dass Wolff nach seiner Rückkehr nach Halle ab dem Sommersemester 1743 immer im Wechsel über sein eigenes Naturrecht und über Grotius gelesen hat.19 Weil Wolff nach dem Erscheinen von Band 8 seines Naturrechts (1748) keine Grotius-Vorlesung mehr angeboten hat, sondern nur noch über sein eigenes Naturrecht las, liegt die Vermutung nahe, dass er jedesmal sukzessive über diejenigen Teile seines eigenen Naturrechts las, die er gerade mit der Hilfe seiner Auseinandersetzung mit Grotius fertiggestellt hatte, ansonsten aber immer wieder auf seine Grotius-Vorlesung zurückgriff. Mit dem Abschluss von Wolffs Naturrecht war dies nicht mehr nötig. Dass Wolff in den verbleibenden sechs Jahren nie wieder über Grotius las, war sicher auch als ein Signal für die Naturrechtsdiskussion gemeint: Grotius war durch Wolff nunmehr vollständig überwunden.

2. Grotius’ Bedeutung für Wolff Überblickt man die Rezeption von Grotius’ De iure belli ac pacis im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, dann wird deutlich, dass der Text nicht einfach nur ausgelegt wurde, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Er wurde vielmehr so gut wie immer als eine Vorlage für eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Naturrecht herangezogen, die nicht selten darauf zielte, auf tatsächlicher oder nur vermeintlicher grotianischer Basis ein eigenes Naturrecht vorzulegen.20 Grotius’ bahnbrechendes Meisterwerk war der für lange Zeit verbindliche Referenztext, von dem man das Material und die Anregungen zu seiner Überwindung bezog. Christian Wolff macht hierbei keine Ausnahme. Wolffs Interesse an Grotius ist bereits früh belegt, was wegen der allgemein akzeptierten Bedeutung des Niederländers kaum verwunderlich ist. Weil Wolff die Anlage seines Gesamtwerkes von vornherein planvoll betrieb, darf man unterstellen, dass auch die Ausarbeitung eines eigenen Naturrechts in der Auseinandersetzung mit der prominenten Vorlage von langer Hand vorbereitet worden ist. –––––––— 18 Henricus Coccejus: Grotius illustratus seu commentarii ad Hugonis Grotii de jure belli ac pacis libros tres. Breslau 1744. 19 Vgl. die Liste von Wolffs Lehrveranstaltungen als Anhang zu: Dirk Effertz: Menschenrechte und Staatstheorie. Wolffs zweiter Aufenthalt in Halle (1740–1754). Halle an der Saale 2014, S. 50–56. Sowie: Codex Lectionum Annuarum in Regia FRIDERICIANA Halensi habitarum ab Academiae Inauguratione MDCXCIV. usque ad annum praesentem, magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caesar. Iur. et Academiae Halens. Ministro [und weitere]. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, UB 3885c, 2. 20 Vgl. Frank Grunert: Von der Morgenröte zum hellen Tag. Zur Rezeption von Hugo Grotius’ „De iure belli ac pacis“ in der deutschen Frühaufklärung. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 25 (2003), S. 204–221.

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Wenn man die von Wolff 1734 besorgte Edition von De iure belli ac pacis21 als Anfangspunkt von Wolffs Erarbeitung eines eigenständigen Naturrechts und den 1748 erfolgten Abschluss seines achtbändigen Jus naturae als Endpunkt nimmt (wobei sein 1749 erschienenes Jus gentium noch hinzugerechnet werden muss), dann stellen die Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. ein wichtiges Verbindungsglied dar. Deren diskursives Gewicht kann insofern nicht überschätzt werden, als es der einzige bisher bekannt gewordene Text ist, der Wolffs sachhaltige Auseinandersetzung mit Grotius abbildet. Denn Wolffs Grotius-Ausgabe enthält sich im Unterschied zu der Vielzahl der damals gängigen Ausgaben (abgesehen von einer Praefatio) jeglichen Kommentars, um auf diese Weise unbelastet ein neues Kapitel der Grotius-Rezeption aufzuschlagen, und sein Jus naturae weist zwar zahlreiche Grotius-Bezüge auf, doch haben diese nur Referenzcharakter und stellen lediglich das Resultat einer Auseinandersetzung dar, die nur noch indirekt erschlossen werden kann. Die in der Bibliothek von Schloss Burgistein gefundenen Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. bieten nun die bisher nicht gegebene Möglichkeit, sowohl Wolffs GrotiusInterpretation als auch die Genese seines eigenen Naturrechts materialiter und theoretisch, d. h. rechts- und philosophiehistorisch, nachzuvollziehen. Die Praelectiones gewähren damit einen Einblick in Wolffs Denkwerkstatt, und dies hinsichtlich eines Gegenstandes, der für das gesamte achtzehnte Jahrhundert von eminenter Bedeutung war. Wie aus der Vorrede zu der Edition und aus einer Vorlesungsankündigung aus dem Jahre 1735 hervorgeht, hatte Wolff offenbar vor, die bekannten und nehrfach kritisierten theoretischen und systematischen Schwächen von Grotius’ Naturrecht zu beheben, indem er Grotius’ Lehrsätze „auf bestimmte Begriffe“ bringt und ihr so „tüchtige Definitionen und genau bestimmte Sätze“ verschafft. Dabei war es Wolffs vorgebliches Ziel, dem grotianischen Naturrecht zu einer soliden wissenschaftlichen Grundlage zu verhelfen, denn, so hält Wolff fest, es sei viel daran gelegen, „daß eine Theorie von so großer Wichtigkeit mit völliger Gewissheit gefaßt und begriffen werde“. Und weil Grotius’ Lehren nicht nur „von allen und jeden gebilliget worden“ seien, sondern auch mit Wolffs „Weltweisheit gar genau überein kommen“, sieht er sich in der Pflicht, den konstatierten „Mangel des Verfassers zu ersetzen, und aus meinen Gründen der Weltweisheit ihm das nöthige Licht zu geben“.22 Die Notwendigkeit einer, nach wolffschen Begriffen, wissenschaftlichen Begründung des Naturrechts dürfte der humanistisch gebildete Grotius vor Descartes, Hobbes und Leibniz noch gar nicht eingesehen haben.23 Wolffs Unternehmen lief denn auch auf –––––––— 21 Hugonis Grotii/ De jure belli ac pacis/ Libri tres,/ In Quibus/ Jus Naturæ et gentium,/ item/ Juris publici præcipua/ Explicantur./ Editio nova/ Cum annotatis auctoris,/ Ex postrema ejus ante/ Oritum cura,/ Et/ Præfatione/ Christiani Wolffii./ Marburgi cattorum,/ Apud Phil. Casimir. Müllerum./ M DCC XXXIV. 22 Christian Wolff: Von den Privat-Vorlesungen über des Grotii Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, in: Ders.: Des weyland Reichs-Freiherrn von Wolff übrige theils noch gefundene Kleine Schriften. Halle 1755. Reprint: Christian Wolff: Gesammelte Werke, 1. Abt. Deutsche Schriften. Bd. 22, § 6, S. 698. 23 Was ihm Wolff übrigens ohne weiteres zugesteht, denn „die Lehrart, mit welcher Wissenschaften vorgetragen werden müssen […], ist ihm noch unbekandt gewesen, und deren vor meiner Zeit sich noch keiner im Vortrage der Wissenschaften bedienet“. Ebd., § 2, S. 697.

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ein methodisch eigenständiges Naturrecht hinaus, das sich in der Kritik an Pufendorf und Thomasius wichtiger grotianischer Einsichten bediente. Die Vorstellung von der perseitas boni et mali, die von der Vernunft direkt als Übereinstimmung oder NichtÜbereinstimmung einer Handlung mit der vernünftigen Natur selbst erkannt werden kann, und zwar ohne Mitwirkung des göttlichen Willens, hatte Wolff – angeblich – direkt von Grotius bezogen und gegen Pufendorfs Auffassung, die Bindungswirkung des Naturrecht beruhe ausschließlich auf dem Willen Gottes, ins Feld geführt. Bei Grotius und bei Wolff bleibt das Naturrecht auch dann gültig, wenn man die Existenz Gottes bestreiten würde. Diese Auffassung ist Gegenstand des berühmten „etiamsidaremus“-Satzes,24 den Wolff als Argument bereits in den erstmals 1720 erschienenen Vernünfftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen anführt, ohne ihn allerdings ausdrücklich Grotius zuzuordnen. In seiner Philosophia practica universalis des Jahres 1738, im unmittelbaren zeitlichen Umfeld seiner Grotius-Vorlesung also, nimmt er dann aber wieder explizit Bezug auf Grotius und lobt dessen Definition der „Lex naturalis“ als ein Gesetz, das die Vernunft im Wesen und der Natur der Dinge erkenne.25 Im Kontext einer von Wolff angestrebten deutlichen „Enttheonomisierung“26 des Naturrechts spielt dieses Argument eine wichtige Rolle. Dass es ihm genau um eine solche Enttheonomisierung geht, wird in der Vorlesung auch durch seine kritische Haltung belegt, die er im reformierten Marburg gegenüber lutherisch gefärbten Rechtfertigungen eines vorgeblichen Rechts zum Krieg wiederholt artikuliert.27

3. Formaler Charakter und thematische Grundlinien der Vorlesung Nach dem Bisherigen ist klar, dass sich die sachliche Auseinandersetzung mit Grotius’ De iure belli ac pacis in Wolffs Vorlesung nicht in einem kritischen Referat der bisherigen Kommentarliteratur zum Thema erschöpfen kann. Wolff stellt bar jedweder Polemik und angesichts der historischen Bedeutung des zu behandelnden Autors die grotianischen Thesen mit dem gebotenen Ernst und einem beeindruckenden Problembewusstsein zunächst vor, um sie in einem zweiten Schritt – häufig in Form direkter Ansprache an sein Publikum – insbesondere in den deutsch gehaltenen Passagen durchaus allgemeinverständlich und nicht selten unter Zuhilfenahme von Beispielen näher zu erörtern. Dieses Vorgehen verleiht dem Vortrag eine große, Wolff im Allgemeinen gar nicht zugetraute Lebendigkeit. Bemerkenswert ist, dass Wolff der Vorlage in Gänze, und zwar in der Regel Paragraph für Paragraph darstellend und kommentierend, folgt, nur selten lässt er einen für sachlich unergiebig gehaltenen –––––––— 24 „Et haec quidem quae jam diximus, locum aliquem haberent, etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana.“ Grotius: De iure belli ac pacis. Prol. 11. Hervorhebungen von den Verfassern. 25 Vgl. Christian Wolff: Philosophia practica universalis, pars prior. 1738. In: Gesammelte Werke. 2. Abt. 10, § 135. 26 Vgl. Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung. 2. Aufl. Hamburg 2012. 27 Vgl. Christiani Wolffii Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. Tom. I, § 4 u. ö.

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Abschnitt aus.28 Weil die 61 Paragraphen der Prolegomena theoretisch besonders ergiebig sind und daher seit je einen herausragenden Gegenstand des Interesses bilden, ist nachvollziehbar, dass Wolff ihnen breiten Raum gibt. Dass aber für Wolffs Erörterung der im Original kaum mehr als 20 Druckseiten umfassenden Prolegomena nicht weniger als 260 Manuskriptseiten der Nachschrift überliefert sind, ist dann doch wieder verblüffend. Zu dem bisher Gesagten passt, dass Wolff einschlägige Literatur zum Thema in concreto kaum je zu Rate zu ziehen scheint; zumindest werden Werktitel in der Vorlesungsnachschrift explizit nur selten genannt. Dies schließt natürlich nicht aus, dass aktuelle oder auch dem historischen Kanon verpflichtete Positionen mit einbezogen und diskutiert wurden. Abgesehen von den Hinweisen auf die erwartbaren Exponenten der Naturrechtsdiskussion werden auch Bezüge zu Thomas von Aquin, Gabriel Vásquez und sogar Spinoza hergestellt.29 Kritisch äußert Wolff sich mehrfach zu methodisch für unwissenschaftlich gehaltenen, gleichwohl verbreiteten Positionen, die schließlich die Philosophie im Allgemeinen und das Naturrecht im Besonderen in Misskredit bringen; hierbei sind sowohl Pufendorf als auch Thomasius seine expliziten Gegner: Daher confundirte Er [Pufendorf] Notionem Legis civilis cum notione legis naturalis und meÿnte: Die Obligationes müsten alle a superiore herkommen und könne sine superiore keine Obligatio und kein Ius concipirt werden; Worinnen Er sich aber betrogen hat, wie zu seiner Zeit erhellen wird. Deßwegen hat Er das Ius naturae et Gentium nicht verbeßert, sondern vielmehr verschlimmert. Und, obgleich nach diesem und sonderlich durch die Auctorität der Thomasii Seine Principia in Gang gekommen auf Teutschen Universitäten, von welchen Er doch nachdem vor Seinem Ende Selbst wieder abgegangen, weil Er nicht defendiren wolte, was alle defendirten, sondern allezeit was besonders haben wolte, ist doch nicht zuleugnen: Daß das Studium juris Naturae dadurch über die maaßen superficient worden und fast nullius Usus. Denn seiet dem Pufendorf Sein Büchlein geschrieben de Officio hominis et civis, und darüber auf Universitäten gelesen worden, auch die wenigsten Professores, die über den Grotium haben lesen, oder zum Theil auch commentiren wollen, ihn verstanden haben, ist der Zustand des Iuris Naturae sehr schlecht worden und ist es gegangen, wie in der Philosophin.30

Vor diesem Hintergrund spricht sich Wolff auch entschieden gegen die Beliebigkeit der an den deutschen Universitäten neuerdings etablierten eklektischen Philosophie aus und warnt zugleich vor einer missverstandenen „libertas philosophandi“, die dazu führe, dass auf den Kathedern permanent neue Behauptungen verkündet würden, was am Ende nur dem Wissenschaftscharakter der Philosophie und des Naturrechts abträglich wäre.31

–––––––— 28 29 30 31

Wolff übergeht z. B. § 4 der Prolegomena, der beinahe ausschließlich aus einem Terenz-Zitat besteht. Vgl. Christiani Wolffii Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. Tom. III, p. 89–101. Christiani Wolffii Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. Tom. I, Praef., p. 5. Manchmal kommt Wolff auf Aktuelles zu sprechen, das sich seinerzeit an den Marburger oder Göttinger Universität zugetragen hatte.

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So legt Wolff in seiner Grotius-Interpretation denn auch auf die philosophische Systematizität des Gegenstands besonderen Wert, wobei zugleich sein ausgewogener Umgang mit Grotius’ historischem Verfahren auffällig ist. Soweit es ihm sinnvoll erscheint, wirbt er bei seinen Zuhörern ausdrücklich für Grotius’ weitgehende Beachtung antiker Autoren (so z. B. mit Blick auf Carneades, Thukydides, Cicero, Demosthenes etc.). Gleichwohl unterscheidet sich Grotius’ humanistisch geschulter Umgang mit der gelehrten Tradition grundlegend von Wolffs wissenschaftlichem Interesse an einer ontologischen Begründung des Naturrechts. Der nicht von ungefähr von Wolff konstatierte methodologische und systematische Mangel des grotianischen Naturrechts lässt sich, nach Wolffs auch in den Praelectiones ausdrücklich artikulierter Auffassung, mit den geeigneten theoretischen Mitteln ohne Weiteres kompensieren. Dem im Prinzip schon richtigen Material müsse nur die angemessene theoretische Form gegeben werden: Deßwegen, wenn einer des Methodi mächtig ist und kommt über den Grotium, wird Er finden: Daß die Lehren, die Er vorträget, wann man wenige Hypotheses außnimt, die zu seiner Zeit sollen notirt werden, sich wohl zusammen schicken, so daß sie sich in ein Systema methodo demonstrativa wohl bringen laßen.32

Und dies ist nicht zuletzt deswegen möglich, weil, wie Wolff anerkennend einräumt, Grotius „das Fundamentum Iuris Naturae et Gentium, welches Er in diesem Werke [De iure belli ac pacis] abhandelt, gar wohl eingesehen“ habe. Auch wenn Wolff die angestrebte vollständige Systematisierung des Naturrechts im Rahmen der Vorlesung nicht in jeder Hinsicht gelingt, befasst er sich doch ausführlich mit allen von Grotius thematisierten Rechtsgebieten.33 Bei deren Erörterung überprüft Wolff zunächst die Logizität der historisch überlieferten „Propositiones“, um schließlich zu allgemeinverständlichen Definitionen zu gelangen. Ziel ist am Ende ein rational organisiertes vollständiges System des Naturrechts, das Wolff nach eigenem Dafürhalten dann in seinem Jus naturae vorlegt.

4. Beschreibung des Manuskripts Das Manuskript umfasst insgesamt 5474 Seiten, die sich auf acht pergamentgebundene Quart-Bände verteilen. Die gesamte Handschrift ist in einem sehr guten Erhaltungszustand. Das Papier ist kaum fleckig, die Schriftzüge sind mit dunkler Tinte aufgesetzt worden. Der Text ist durchgängig gut leserlich. Das Manuskript ist auf Lateinisch und Deutsch abgefasst; selten finden sich altgriechische philosophische Grundbegriffe. Die deutschen und die lateinischen Passagen sind jeweils durch unterschiedliche Schrifttypen voneinander abgesetzt: Deutsche Textpartien sind in deutscher Kurrentschrift, die lateinischen Teile dagegen in einer Mischung aus einer an die Schwabacher angelehnten Schrift –––––––— 32 Vgl Christiani Wolffii Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. Tom. I, p. 8–9. 33 Vgl. Grotius: De iure belli ac pacis libri tres, Proleg., § 15 u. ö. Insbesondere die Behandlung des Strafrechts hält Wolff hier für wichtig.

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und Fraktur abgefasst. Der Übergang der beiden Bereiche gestaltet sich fließend, d. h. die Teile sind nicht, wie dies oftmals der Fall ist, durch Absätze oder Leerzeilen voneinander getrennt. Aus dem Lateinischen stammende eingedeutschte Worte, wie z. B. „enunciiret“ und „defendiren“, weisen beide Schrifttypen auf. Korrekturen im Vorlesungstext, z. B. nachträgliche Ergänzungen, finden sich fast keine. Inhaltliche Betonungen im Fließtext sind durch (selten: gestrichelte) Unterstreichungen einzelner Wörter oder Wortreihen kenntlich gemacht. Die linke Manuskriptseite bietet links, die rechte Manuskriptseite rechts einen knapp die Hälfte einnehmenden freigelassenen Rand für Anmerkungen oder Ergänzungen, der allerdings nirgends genutzt worden ist. Jeweils links bzw. rechts oben finden sich arabische Paginierungsziffern. In allen acht Manuskriptbänden folgen vor und nach den Titelblättern sowie jeweils im Anschluss an den Text unpaginierte Leerseiten. In den Kopfzeilen sind über einem mit Lineal gezogenen, sich über den Text, nicht aber über den Korrekturrand erstreckenden Abtrennungsstrich entsprechende Kolumnentitel eingetragen, z. B. „Praefatio“, „Prolegomena“ oder „Lib. I Cap. 1“ usw. Angesichts der aufgewendeten Sorgfalt kann es sich bei dem Manuskript nur um eine nachträglich, vermutlich professionell angefertigte Reinschrift handeln. Weil es keine Anzeichen von Flüchtigkeit gibt, ist es sicher keine unmittelbar im Kolleg niedergeschriebene studentische Mitschrift. Handschriftenvergleiche haben ergeben, dass mehrere Nachschreiber am Werk gewesen sind; gleichwohl bleiben sie namentlich ungenannt, was durchaus den damaligen Gepflogenheiten entspricht. Das Manuskript liegt in vollständiger Überlieferung vor. Die einzelnen Bände sind datiert und in der Reihenfolge I bis VIII lückenlos erhalten; fehlende Seiten sind nicht zu verzeichnen, die Paginierung verläuft durchgängig. Auf den Seiten, die den großzügig notierten Titelblättern der Bände jeweils folgen, findet sich stets der jeweilige Abklatsch, also ist auch hier nichts nachträglich entfernt worden. Ein weiteres Indiz für die Vollständigkeit des Manuskripts ist darin zu sehen, dass die Vorlesung Wolffs Interpretation von De iure belli ac pacis lückenlos dokumentiert.

5. Zu der geplanten Edition Die bisher auf Schloss Burgistein verwahrten Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. aus der Sammlung von Emanuel von Graffenried sollen nach Möglichkeit vollständig und den Prinzipien einer historisch-kritischen Edition entsprechend ediert werden. Weil inzwischen eine weitere Mitschrift einer von Wolff gehaltenen Vorlesung zu Grotius’ De jure belli ac pacis ausfindig gemacht werden konnte – sie lagert in der Bibliothek der polnischen Akademie der Wissenschaften in Danzig – wird erst nach einem derzeit noch ausstehenden Vergleich beider Handschriften über den genauen editorischen Umgang mit den Manuskripten zu entscheiden sein. Die ungewöhnliche Sorgfalt, mit der die aus Burgistein stammende Handschrift ausgeführt wurde, lässt eine qualitativ höherwertige Nachschrift zunächst nicht erwarten, Bedeutung und damit editorische Konsequenzen dürften aber mögliche textliche und inhaltliche Differenzen haben.

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Die beabsichtigte Edition wird dem Prinzip historisch-kritischer Textherstellung verpflichtet sein: Die sprachliche Gestalt der Quellen in Schreibung und Interpunktion bleibt erhalten und sämtliche editorische Eingriffe in den Text werden dokumentiert. Im Manuskript sind die lateinischen und deutschen Textbereiche typographisch voneinander abgesetzt. Es empfiehlt sich, diesem Formprinzip editorisch Rechnung zu tragen und zwei Schrifttypen zu verwenden. Da diese Darstellungsdifferenz nur selten einzelne Wörter oder Sätze, sondern überwiegend größere Textabschnitte betrifft, entsteht kein unruhiges Schriftbild. Die Auszeichnung der lateinischen Schrift durch eine besondere Antiqua-Schrift ist auch deshalb sinnvoll, weil die unterschiedlichen Nachschreiber einheitlich verfahren sind. Als Bestandteil des Editorischen Berichts sollen sich die Anmerkungen auf Nachweise der im Text vorkommenden Zitate und, soweit erforderlich, Bezugnahmen auf andere Schriften – insbesondere auf Werke Wolffs – sowie auf Verweise innerhalb des Textes beziehen. Die Anmerkungen sind nicht in einem interpretierenden Sinne als Kommentar zu verstehen. Aus den Schriften, auf die sich Wolff explizit oder implizit bezieht, soll dann ausführlich zitiert werden, wenn diese Schriften heute nur schwer zugänglich sind. Bei Zitaten soll der originale Lautstand der zugrunde gelegten Ausgabe beibehalten werden. Soweit möglich werden die betreffenden Stellen zusätzlich nach Band und Seite der heute gebräuchlichen Gesamtausgaben nachgewiesen.34 Die Edition soll mit Hilfe eines geeigneten Textverarbeitungsprogramms durchgeführt werden, das die digitale Aufbereitung der Daten und eine Online-Präsentation gewährleistet, die neben der Printversion entstehen wird. Bereits während der Transkriptionsarbeit soll die Grundlage für ein Gesamtregister gelegt werden. Abstract A 5474-page manuscript entitled Praelectiones in H. Grotii Opus de J. B. et P. has been found in the library of Castle Burgistein in the Swiss canton of Bern. The manuscript contains a fluent and coherent text based on notes from a course of lectures that Christian Wolff (1679–1754) gave on De iure belli ac pacis, the seminal work by Hugo Grotius first published in Paris in 1625. Wolff first gave his lectures in Marburg in 1739/40 and was to repeat them several times from 1740 onwards after his return to Halle. The manuscript belongs to a wider collection of books established by Emanuel IV. von Graffenried (1726–1787) when he was a student attending Wolff’s lectures at the University of Halle. As a prospective lawyer, von Graffenried was interested in the application of the Wolffian philosophy to jurisprudence. Wolff’s former student Daniel Nettelbladt (1719–1791) probably played an important mediating role in stirring Graffenried’s interest in Wolff. The lectures offer an unprecedented opportunity –––––––— 34 Diese Leitlinien orientieren sich an einigen editorischen Prinzipien der ‚zweiten Abteilung‘ der Akademie-Ausgabe der Schriften Hegels. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik. Hg. v. Annette Sell. Nachschriften zu den Kollegien 1801/02, 1817, 1823, 1824, 1825 und 1826. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 23,1. Hamburg 2013, S. V–VIII.

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to understand both Wolff’s Grotius interpretation and the genesis of his own theory of natural law. Wolff apparently intended to remedy the well-known and often criticized theoretical and systematic weaknesses of Grotius’s natural law, with the aim of presenting his own rationally organized complete system of natural law. An edition of the lectures is being prepared at the Interdisciplinary Center for European Enlightenment Studies in the Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in cooperation with the network Natural Law 1625–1850 at the Max Weber Centre at the University of Erfurt and with the University of Lausanne.

Werner Stark

Notbehelf oder Edition? Die Ausgabe von Kants Vorlesung über Physische Geographie durch Friedrich Theodor Rink (1802)1

Die bisherige Wahrnehmung von Immanuel Kant’s Physischer Geographie ist nicht allein durch die Rinksche „auf Verlangen des Verfassers“ erstellte Ausgabe (Königsberg: Göbbels und Unzer 1802; Abb. 1, s. S. 28) geprägt, sondern ebenso durch die mehrfachen, an prominenter Stelle veröffentlichten Versuche verschiedener Bearbeiter, dem Text zu mehr Plausibilität und innerer Stringenz zu verhelfen. Bis zum Jahr 1923 haben vier Bearbeiter (Friedrich Wilhelm Schubert 1839, Gustav Hartenstein 1839 und 1868, Julius Hermann von Kirchmann 1877 und Paul Gedan 1905 und 1908/ 1923) nicht weniger als sechs verschiedene Fassungen hergestellt. Allen gemeinsam ist, dass sie sich im Rahmen herkömmlicher Textemendationen bewegen.2 Da zu keinem der drei von Rink zwischen 1802 und 1804 aus dem Kantischen Nachlass herausgebrachten Bände3 die Original-Handschriften erhalten bzw. bekannt geworden waren, schien kein anderer Zugang möglich. Durch Erich Adickes’ Untersuchungen zu Kants physischer Geographie (Tübingen 1911) und die sachlich unmittelbar anschließende Studie Ein neu aufgefundenes Kollegheft nach Kants Vorlesung über physische Geographie (Tübingen 1913) war jedoch eine andere Lage geschaffen: Die von Rink benutzten, seither verschollenen Manuskripte können durch andere handschriftliche Überlieferungen ersetzt werden. Die Rinksche Ausgabe der „Physischen Geographie“ kombiniert zwei verschiedenartige Texte: Teile eines frühen, von Kant (1757/59) abgefassten, von Adickes so genannten „Diktattextes“ folgen auf die Anfangspassagen eines studentischen Manuskriptes, das eine in der Mitte der 1770er Jahre gehaltene Vorlesung wiedergibt. Diese, vor 100 Jahren ungeahnt neue Einsicht in den kompilatorischen Charakter der Rink-Edition kam zu spät, um für den seit 1908 im Text ausgedruckt vorliegenden Bd. IX der Akademie-Ausgabe noch sachlich angemessen berücksichtigt zu werden.4 –––––––— 1 Die gegenwärtige Arbeit geht letztlich auf ein von der Fritz Thyssen Stiftung in den Jahren 2003 bis 2007 gefördertes Vorhaben zurück: „Erneute Untersuchungen zu Kant’s physischer Geographie“. 2 Im Kern: Verbesserung einzelner Textstellen nach Kontext und sachlicher Plausibilität. – Für eine Liste der Editionen vgl. http://kant.bbaw.de/base.htm/geo_edit.htm. 3 Physische Geographie (1802) / Pädagogik (1803) / Über die […] Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804). 4 Noch 1910 war die Kant-Kommission der Berliner Akademie der Wissenschaften uneinsichtig, wie der Herausgeber Gedan notiert hat (Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und deren Folgeorganisationen], Berlin 1900ff. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle Ak und einer römischen Ziffer für den Band, danach Seitenangabe – hier: IX:514): „da man an der Meinung festhalten zu müssen glaubte, Rinks Ausgabe habe authentischen Charakter.“

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Abb. 1: Titelblatt der Ausgabe Rink

Die nachfolgenden Bemühungen in der Kant-Forschung haben diese Schwäche vor allem deswegen nicht kompensieren können, weil – im Zuge der 1923 erfolgten Einstellung der Abteilung 4 Vorlesungen der Kant-Ausgabe – keinerlei auf die Erfassung und Erschließung der handschriftlichen Quellen zielende Arbeiten durchgeführt worden sind. Die von Adickes (1911) und dem Königsberger Indologen Helmuth von Glasenapp (Kant und die Religionen des Ostens. Kitzingen/Main 1954) im Rahmen ihrer Arbeiten publizierten Teil-Ergebnisse sind nicht in der erforderlichen Weise rezipiert worden.5 Erst mit dem Abschluss der Arbeiten an Bd. XXV der Ak, Vorlesungen über Anthropologie (1996/97), konnte die Lücke Zug um Zug geschlossen –––––––— 5 Wie insbesondere die Übersetzung von Ronald L. Bolin: Immanuel Kant’s Physical Geography translated and annotated. Indiana University, Bloomington 1968, die Untersuchung von Joseph A. May Kant’s concept of geography and its relation to recent geographical thought. Toronto 1970 und die französische Übersetzung: Immanuel Kant / Michèle Cohen-Halimi; Max Marcuzzi, Valérie Seroussi (Traduction): Géographie / Physische Geographie. Paris 1999 belegen. – Erst die jüngste Übersetzung ins Englische von Olaf Reinhardt: Immanuel Kant. Physical Geography (1802), in: Immanuel Kant. Natural Science, edited by Eric Watkins. Cambridge 2012, S. 434–679 u. 722–750, nimmt in Einleitung und Anmerkungen Bezug auf die Ergebnisse der Forschungen von Erich Adickes.

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werden.6 Durch das vollständig elektronisch erschlossene Text-Korpus der erhaltenen handschriftlichen Überlieferungen7 ist eine vergleichende Analyse auch des Rinkschen Textes von 1802 relativ einfach möglich; denn dieser liegt – in Gestalt der Gedan-Edition des Jahres 1923 – in elektronischer Form vor.8 Auf dieser Grundlage sind sichere Rückschlüsse auf die von Rink durchgeführten Veränderungen – en detail und en gros – möglich, ohne dazu auf weiterhin als verschollen bzw. verloren geltende handschriftliche Originale zurückgreifen zu müssen. Mit anderen Worten: Ein kritischer Blick auf den gesamten Text der Edition ist möglich, ohne dazu auf diejenigen Auskünfte angewiesen zu sein, die die Herausgeber Rink bzw. Gedan im Rahmen von „Vorrede“ und begleitenden „Anmerkungen“ beigegeben haben.

1. Kritisches Nachwort zur Rink-Ausgabe Die von Rink für seine Ausgabe zugrunde gelegten Handschriften sind verschollen. Gleichwohl lassen sich die Ausgangssituation (Problemlage) und die wichtigsten Etappen seines letztlich misslingenden Versuchs nachzeichnen, ein der Kantischen Vorlesung über Physische Geographie angemessenes Buch zu publizieren. Auf diese Weise kann für den heutigen Interessenten einsichtig werden, woran und weshalb die Rink-Ausgabe gescheitert ist. Rink verfügte über keine besonderen Kompetenzen in Sachen „Physische Geographie“, als er die in den Jahren 1799/1800 in Kants Haus aufgefundenen Materialien zur Edition übernahm.9 Zwei weitere, für den Erfolg wenigstens hinderliche allgemeine Faktoren kommen hinzu: 1. Die vollständige Veränderung der Lebensumstände, die mit dem Berufs- und Ortswechsel nach Danzig im September 1801 verbunden ist. 2. Eine sich über viele Monate (Mai 1801 bis Januar 1803) hinziehende, ärgerliche „Preßfehde“ mit dem in der Sache konkurrierenden Verleger Vollmer.10 Mehr noch: Aus der Gesamtmenge der inzwischen verfügbaren historischen Informationen lassen sich weitere, spezielle Faktoren ableiten, die es im

–––––––— 6 Den organisatorischen Rahmen bot ab 1982 das „Marburger Kant-Archiv“; von Mai 1987 bis Ende 2001 verbunden mit der von Reinhard Brandt (Philipps-Universität Marburg) geleiteten Arbeitsstelle „Kant-Ausgabe“ der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Die Aufgabenstellung der ab 2002 in Potsdam angesiedelten Arbeitsstelle „Kant-Ausgabe“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften beinhaltet keine archivalischen Recherchen. 7 http://kant.bbaw.de/base.htm/index.htm 8 http://www.korpora.org/kant. – Die reinen Textdaten sind seit 1990 allgemein verfügbar. 9 Ak IX: 155,15–20: „Kant hatte öffentlich gesagt, seine Hefte der physischen Geographie seien verloren gegangen. Dasselbe hatte er ehedeß gegen mich und Andere seiner Freunde geäußert. Vor etwa zwei Jahren aber übertrug er Hrn. Dr. Jäsche und mir die Revision und Anordnung seiner beträchtlich angewachsenen Papiere und Handschriften. Bei dieser Arbeit fanden sich nun, gegen Kants eigne Vermuthung, fast dreifache, zu verschiedenen Zeiten von ihm ausgearbeitete Hefte dieser physischen Geographie vor, aus denen diese Ausgabe hervorgegangen ist.“ 10 Werner Stark: „Kant’s Physische Geographie“ und die „Kritik der Unvernunft“. Aufklärung über zwei obskure Ausgaben aus Vollmers Verlag. In: Dirk Sangmeister, Martin Mulsow (Hg): Subversive Literatur Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806). Göttingen 2014, S. 381–394.

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Nachhinein als geradezu „unmöglich“ erscheinen lassen, dass Rink ausgehend von den ihm übereigneten Manuskripten eine befriedigende Publikation gelingen konnte.

2. Die Ausgangslage Den Schlüssel zum Verständnis der vertrackten Lage, in die Rink mit den übernommenen Handschriften der Physischen Geographie geraten war, liefert seine, wohl zu Beginn des Jahres 1803 veröffentlichte, Actenmässige Ablehnung der Vollmerschen Insinuationen.11 Zum Zweck der Absicherung der „Rechtmäßigkeit“, d. h. der rechtlichen Übertragung der Ausgabe an ihn, hat Rink sich an die nach seiner Meinung zuständige akademische Gerichtsbarkeit, folglich an den Senat der Universität Königsberg gewendet, um die Ansprüche des Verlegers Vollmer zurückweisen zu können. Auf S. 17f. der Schrift ist festgehalten (das Zeichen | signalisiert Zeilenwechsel): Müde dieser Nekkereyen entschloss ich mich nun, zu thun, was ich längst hätte thun können, und fasste den Vorsazz, Vollmer’s Anschlägen, so gut es sich der begrenzten Zeit wegen thun liess, zu begegnen. Ich sendete nähmlich: | 1) Kant’s eigne Handschrift der physischen Geographie, | 2) zwey andre mir von Kant übergebene Handschriften desselben Werkes, mit seinen eigenhändigen Randanmerkungen versehen, und | 3) endlich ein von Kant eigenhändig unterzeichnetes Schreiben an mich,12 aus dem seine Genehmigung meiner Ausgabe augenscheinlich erhellet, an die academischen Gerichte zu Königsberg mit dem Ansuchen ein, eine gerichtliche Recognition der Handschrift anzustellen, und mir darüber eine Vidimation in Form Rechtens auszustellen.

Für die Edition der Physischen Geographie hat Rink demnach kein einheitliches, in sich geschlossenes Manuskript übernommen. Es werden zwei Arten von Handschriften unterschieden; allerdings ohne dass diesen bestimmte Teile oder gar Seiten der gedruckten Ausgabe zugeordnet sind. Über Vollständigkeit, Umfang oder innere Gliederung der benutzten Manuskripte herrscht Schweigen. Unter Berücksichtigung des in Bd. XXVI.1 (2009) der Ak in seiner Entstehung vollständig aufgeklärten, frühen Kantischen Konzeptes zur Vorlesung kommt ein gravierend nachteiliger Faktor hinzu: Rink weiß weder wann, noch wie „Kant’s eigne Handschrift der physischen Geographie“ zustande gekommen ist. –––––––— 11 Das einzige derzeit nachgewiesene Exemplar befindet sich in der LHB Darmstadt: 33/8489. Digitalisat: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/33-8489 12 Das Original ist nicht bekannt geworden; ein kurzer Auszug unter dem Datum des 11. Mai 1802 nach Rink 1803 Actenmässige Ablehnung, in Ak XII: 341,04–07 (Br. 893); vgl. Ak XIII: 532. Dazu passend eine Notiz im ersten Konvolut des Opus postumum (Ak XXI: 143,18f.): „Brief an Herrn Prof. Rink in Danzig in Ansehung der physischen Geographie und der Zahl der Exemplare die er mir geben wird.“ Ähnlich (Ak XXI: 149,05f.: „NB die 10 Exemplare von der physischen Geographie vollständig zu liefern.“ Ein Jahr zuvor, Ende Mai 1801, hatte Kant eigenhändig festgehalten (Kant-Autograph der Ungarischen Nationalbibliothek, Analekta 2855; nach W. Stark: Eine Spur von Kants handschriftlichem Nachlaß: Wasianski, in: Reinhard Brandt, Werner Stark (Hg): Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen. Hamburg 1987 (Kant-Forschungen Bd. 1), S. 218): „Meine physische Geographie will aus meinen Heften H Rink bearbeiten.“ Nicht klar scheint die Absicht einer weiteren, 1802 nachgetragenen Notiz (Ak XXI: 147,13f.): „Alle Hefte des [lies: dem] Herrn Prof. Rinck die ich selbst geschrieben aus der phys. Geographie zu redigiren.“

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Ausweislich des Rink nicht zugänglichen „Manuskript Holstein“ steht fest, dass das ursprüngliche, von Kant in den allerersten Jahren seiner Dozentur ausgearbeitete Konzept zu weit überwiegenden Teilen aus literarischen Exzerpten besteht. Die Handschrift ist in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit: Sie ist keine (studentische) Nachschrift einer gehaltenen Vorlesung, sondern eine von mehreren Händen gefertigte Abschrift von Kants eigenem Konzept zur Vorlesung. Es zeigt kurze, häufig aktualisierende Marginalien von Kants Hand. Vermutlich hat Kant selbst die Handschrift im oder nach dem Winter 1772/73 zum Abschluss einer Privatvorlesung dem noch sehr jugendlichen Adligen, Friedrich Heinrich von Holstein (1757–1816), übereignet.13 Wie aus der für das Konzept herangezogenen Literatur hervorgeht, ist der Text in den Jahren zwischen 1757 bis 1759 abgefasst worden. Es liegt also beinahe ein halbes Jahrhundert zwischen der Entstehung und dem Rinkschen Editionsvorhaben. „Um 1800“ hätte nur Kant selbst den Herausgeber von diesem Sachverhalt in Kenntnis setzen können. Rink durfte zwar ohne weiteres mit Fug und Recht annehmen, dass der Urheber ihn zur Ausgabe autorisiert habe und dass die übernommenen Handschriften hinreichend sein würden, um die gestellte Aufgabe zu lösen. Rückblickend kann zudem festgestellt werden, dass er zumindest in Teilen über sachliche Defizite der ihm vorliegenden Darstellung informiert war, für die er das warnende Beispiel der Konkurrenzausgabe Vollmers nur zu deutlich vor Augen hatte, wie er am 1. Juni 1801 an seinen in Hamburg lebenden Korrespondenten Charles de Villers schrieb: „da ich izt alle meine Zeit auf Kant’s physische Geographie verwenden muss, indem der Buchhändler Vollmer sich erdreustet hat, sie bereits nach Collegienheften abdrukken zu lassen und herauszugeben. Die ächte, mir von Kant übertragene Ausgabe muss demnach spätestens zur Ostermesse 1802 erscheinen.“14 In Danzig angekommen, ließ Rink in Nr. 203 des Intelligenzblattes der Allgemeinen Literatur-Zeitung unter dem Datum des 24. Oktober 1801 eine primär gegen Vollmer gerichtete Erklärung veröffentlichen; darin heißt es: „Schließlich bemerk ich nur noch, daß ich bei meinen vielen Geschäften, und meiner neuerdings veränderten Lage, mit vieler Bereitwilligkeit, die fernere Bearbeitung der physischen Geographie einem andern geschickten Mann, wenn Kant dazu einstimmt, übergeben werde, da ich mich dieser Bemühung, […] nur aus Verehrung für Kant unterziehe, der […], sein eigenes Werk bald möglichst [der Vollmer-Ausgabe] entgegengesetzt zu sehen wünscht.“15 Es darf also mit Gründen angenommen werden, dass Rink gegen Ende des Jahres 1801 seine anfängliche Absicht fallen lässt, den sachlichen Gehalt der Kantischen Vorlesung zu aktualisieren, und dass er zu einem eher konservativen Verfahren übergeht. Dieser Wandel geht augenscheinlich einher mit einem Wechsel der Text-Grundlage; denn der erste Teil seiner Ausgabe folgt – wie wir seit Erich Adickes Untersuchungen (1911) und dem neu aufgefundenen Kollegheft (1913) wissen – dem Text –––––––— 13 Ak, XXVI.1, S. xxxiii-xxxix. 14 Hans Vaihinger: Briefe aus dem Kantkreise. In: Altpreußische Monatsschrift 17 (1880), S. 286–299. 15 S. 1647; zitiert nach Kant/Vollmer (Hg.): Physische Geographie, Bd. 2.1 (1802), S. 20.

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einer studentischen Nachschrift, die auf eine in der Mitte der 1770er Jahre gehaltene Vorlesung zurückgeht. Beginnend mit dem Abschnitt über „Geschichte der Quellen und Brunnen“ und dem zweiten Teil des Ganzen hat Rink de facto auf den Text des Konzeptes aus den Jahren 1757/59 zurückgegriffen;16 freilich ohne zu wissen, wann und mit welcher Zielsetzung Kant diesen Grundtext zu seiner Vorlesung abgefasst hatte. Rink ahnt nicht, dass der überwiegende Teil der „Naturgeschichte“ und der „Länderkunde“ (d. h. sein zweiter Band) nahezu vollständig durch Exzerpte aus gedruckter Literatur der 1730er bis 1750er Jahre konstituiert worden war. Mit seinem „gemischten Verfahren“ sucht sich Rink von den Zwängen zu befreien, in die er mit der Übernahme der Edition geraten war: Kant gegenüber steht er in der Pflicht. Der konkurrierende Verleger Vollmer setzt ihn durch öffentliche Anschuldigungen und den Fortschritt seiner Ausgabe unter Zeit- und Legitimationsdruck. Das neue Amt und eigene literarische Ambitionen fordern Rink zusätzlich. Im Nachhinein lässt sich kaum feststellen, wie Rink zu der Einsicht gekommen ist, dass ihm eine angemessene Überarbeitung nicht möglich ist. Dass er in der Sache resigniert hat, geht aus einer Bemerkung in seiner Actenmässigen Ablehnung hervor (S. 34f.): Zudem ist der Herausgeber der in gewisser Weise nur zum Theil bearbeiteten Handschriften eines Andern, in der peinlichen Lage, sich, nach dem Urtheile Einiger, der Freyheiten zu viele, oder zu wenige, nach der Meynung Anderer, genommen zu haben. Bald will man, er hätte das Werk in seiner ganzen Eigenthümlichkeit geben, bald wieder er hätte es ganz umschmelzen, und seinen Inhalt aufs neue verarbeiten sollen. Zwischen diesen, im Widerstreite mit sich stehenden Anforderungen, bahne sich ein Anderer die Mittelstrasse zum Ziele! ich mag sie ferner nicht suchen […].

Die ersten sachkundigen Reaktionen auf das fertige Werk haben Rink erneut vor Augen geführt, dass seine Ausgabe ein ungelöstes Problem in sich trägt. Johann Tobias Mayer notiert in den Göttingischen gelehrten Anzeigen vom 25. September 1802 zum ersten Band (S. 1530): „Vielmehr bemerkt man selbst Manches, was auch schon zu der Zeit, als diese Hefte verfaßt wurden, richtiger und bestimmter hätte gesagt werden können.“ Und zum zweiten (S. 1532): „Diesem zweiten Theile hat der Herausgeber keine Anmerkungen beygefügt, und doch wäre hier gerade am meisten zu verbessern gewesen, wenn anders dieser Theil nicht lieber ganz hätte ungedruckt bleiben können. Wir müßten sehr Vieles auszeichnen, wenn wir nur die vorzüglichsten Stellen anführen wollten, die einer Berichtigung bedürfen, und ohne diese der Lectüre mehr schaden als nützen.“ Noch deutlicher äußert sich ein Unbekannter im Rahmen einer eingehenden, sorgfältig analysierenden Besprechung beider Ausgaben (Vollmer und Rink) in den Allgemeinen geographischen Ephemeriden (Weimar 1803, S. 75f.): „In dem, was in in beiden Werken Chemisch ist, herrscht eine solche Unkunde, und in dem was –––––––— 16 Ms Holstein, p. 39 / Ak IX: 273,21 (§ 53) / Rink-Ausgabe (1802), Bd. 1, S. 244 (§ 53). Der Band endet mit der S. 312. Rink hat die Übergangsstelle nicht gekennzeichnet; innere Gründe, die einen Wechsel an dieser Systemstelle motivieren oder begründen sind nicht erkennbar. Demnach dürften äußere Gründe in Anschlag zu bringen sein: Der Ortswechsel nach Danzig?

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naturgeschichtlich ist, eine solche Unwissenheit, dass man sich fast 30 Jahre zurückgesetzt fühlt. Rink hätte die Naturgeschichte oder N[atur-]Beschreibung des Thier- Pflanzen- und Mineralreichs auf diese Art gar nicht abdrucken lassen, oder sie doch wenigstens einigermassen berichtigen sollen.“ Mit anderen Worten: Für einen kundigen Zeitgenossen stand fest, dass das von Rink präsentierte Werk Immanuel Kant’s Physische Geographie in der Sache überholt, weil veraltet, war. Der erstmals 1802 veröffentlichte Text enthält drei nach Herkunft und Chronologie trennbare Textschichten: 1. Teile des frühen, 1757/59 von Kant abgefassten Konzeptes zur Vorlesung, d. h. Teile des von Erich Adickes so genannten „Diktattextes“; 2. Teile einer studentischen Nachschrift der Vorlesung aus dem Sommer 1775; 3. Zahlreiche Zutaten und aktualisierende Veränderungen des Herausgebers Rinks selbst (1800 bis allenfalls 1802), insbesondere im ersten Band. Es scheint ratsam, im Folgenden die Biographie von Friedrich Theodor Rink zu umreißen, um in erster Näherung Kenntnisse über die Umstände seiner problematischen Kant-Ausgaben zu gewinnen. Zugleich kann für eine der wichtigsten Stationen in der Überlieferung des Kantischen Nachlasses als solchen mehr Klarheit gewonnen werden.

3. Biographischer Abriss Friedrich Theodor Rink wird in Schlawe (Pommern, südwestlich Stolp) am 8. April 1770 geboren als jüngerer von zwei Söhnen des dortigen Pfarrers, Johannes Gottlieb Rink (geb. 1732).17 Die Mutter, Gotthilf Christina Rink (1744–1770), eine Tochter des Königsberger Theologieprofessors Joachim Justus Rau (1713–1745), stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Nach dem bald folgenden Tod des Vaters (1773) wird Friedrich Theodor in die Familie seiner Großmutter mütterlicherseits in Königsberg aufgenommen. Bis zur Immatrikulation18 an der Albertus-Universität (1. April 1786) wird er im Collegium Fridericianum erzogen. Über die Großmutter besteht eine enge Beziehung zu dem zeitweilig an der Albertina lehrenden Theologen Johann August (von) Starck (1741–1816). Kurz: Herkunft und Umgebung des Heranwachsenden sind eindeutig bestimmt durch den Pietismus Königsberger Prägung. Überaus rasch absolviert Rink eine akademische Lehrzeit in Königsberg; bereits drei Jahre nach der Immatrikulation disputiert er am 16. April 1789 unter dem Vorsitz des Orientalisten Johann Gottfried Hasse (1759–1806) in der Philosophischen Fakultät pro receptione über den alttestamentlichen Propheten Hosea. Den dazu nötigen

–––––––— 17 Vgl. Werner Stark: Immanuel Kant „Ueber Pädagogik“. Eine Vorlesung wie jede andere? In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 18 (2012), S. 147–168. Weiteres unter http:// kant.bbaw.de/ base.htm/ ph_f_rin.htm. 18 Georg Erler, Erich Joachim (Hg.): Die Matrikel [und die Promotionsverzeichnisse] der AlbertusUniversität zu Königsberg i. Pr. 3 Bde. Leipzig 1910–17: „Rinck Frdr. Theodor., Slava-Pomer., theol. cult.“

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Magistergrad hat die Königsberger Universität ihm schon im März verliehen.19 Obwohl detaillierte Zeugnisse über seinen Studiengang derzeit nicht bekannt sind, steht anhand der gedruckten Disputationen der Philosophischen Fakultät und weiterer Quellen fest, dass Rink die anfängliche Absicht, sich der Theologie zu widmen, also Pfarrer oder Schullehrer zu werden, sehr bald fallen ließ, um sich ganz der orientalischen Philologie zuzuwenden. Außerdem wird er Mitglied der seit 1743 in Königsberg bestehenden „Königlich Deutschen Gesellschaft“. Im Juni 1789 hat Rink, wie aus einem zeitgenössischen Reisebericht hervorgeht, in Danzig eine Postkutsche bestiegen und diese nach einigen Tagen in Stargard mit dem Ziel Stettin verlassen.20 Anlass der Reise war, zur Fortführung seiner orientalischen Studien auf eigene Kosten für ein Jahr in Leyden zu studieren. Er trifft dort u. a. mit David Ruhnken (1723–1798) auf einen früheren Mitschüler von Immanuel Kant.21 Im direkten Anschluss an den auswärtigen Studienaufenthalt wendet er sich nach Süden, wobei er bis Mannheim gelangt. Im Winter 1791/92 kehrt Rink dann schließlich nach Königsberg zurück. Seit Sommer 1792 bietet er in drei aufeinander folgenden Semestern als Privatdozent Kollegien an, die der griechischen und römischen Antike oder den orientalischen Sprachen gewidmet sind. In Königsberg macht Rink mit einem eigenen deutschsprachigen Einladungsprogramm auf sich aufmerksam. Die für den nächsten Sommer 1793 angekündigten Vorlesungen werden jedoch kaum stattgefunden haben, denn am 26. Mai des Jahres ist Rink auf Nogallen in Kurland. Bis zu seiner erneuten Rückkehr nach Königsberg verbringt Rink seine Zeit nordwestlich von Riga, im heutigen Nogale in Lettland (Latvia), als „Gesellschafter“, d. h. wohl als Privaterzieher. Dort lernt er auch seine künftige Ehefrau kennen, Julia Louise Gertrude von Brunnow (1768–1816). Ab dem Sommersemester 1795 zeigt Rink erneut in Königsberg Lehrveranstaltungen an;22 diesmal jedoch als Professor. Gleichzeitig mit drei weiteren Privatdozenten wird er am 25. November 1794 zum außerordentlichen Professor an der Philosophischen Fakultät berufen. Bedingt durch das preußische „Religionsedict“ von 1788 ziehen sich die mit der Ernennung verbundenen Formalitäten bis zum 25. März 1795 hin.23 Nach vier Jahren Lehrtätigkeit als ao. Prof. der Philosophischen Fakultät erwirbt Rink im Oktober 1799 auch den theologischen Doktorgrad in Königsberg, verfasst –––––––— 19 Preußische Monatsschrift 2 (1789), S. 205: „Die Philosophische Fakultät ertheilte im März zween Candidaten, den Herren Fried. Theod. Rink, aus Pommern, und Jer. Benj. Richter aus Schlesien, die Magisterwürde.“ 20 Nikolaj Michailowitsch Karamsin, Briefe eines reisenden Russen, 1. Bändchen (Leipzig 1799), S. 88, 92–93, 102f. Allerdings schreibt Karamsin (S. 92) wohl irrtümlich, sein kurzzeitig mitreisender Magister Rink wolle „nach Italien“ gehen, „um die Denkmähler des Alterthums zu sehen“. – Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Vladimir Bilenkin (North Carolina State University). 21 Zur Beziehung zwischen Kant und Ruhnken vgl. die Ak XIII: 499 wiedergegebene Passage eines Schreibens aus Leiden (15.9.1798). Vgl. auch: Elfriede Hulshoff Pol: Studia Ruhnkeniana. Enige hoffstukken over leben en werk van David Ruhnkenius (1723–1798). Leiden 1953. 22 Michael Oberhausen, Riccardo Pozzo (Hg.): Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804). Mit einer Einleitung und Registern. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. 23 Gedruckter Revers (Olsztyn, Archiwum Państwowe: 1646/323, p. 313); ebenda unter XXVIII/1, 356, S. 53 auch eine Stellungnahme des Dekans der Philosophischen Fakultät, Immanuel Kant; vgl. den unten wiedergegebenen Wortlaut.

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erneut eine lateinische Dissertation und avanciert zum ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät. Im Frühjahr 1801 erreicht ihn eine zunächst private Anfrage für den Antritt eines Lehr- und Pfarramtes in Danzig; den offiziellen Ruf erhält er im August desselben Jahres. Spätestens Anfang des Monats September geht er (vermutlich schon mit Familie, Ehefrau und zwei oder drei Kindern) nach Danzig. Mit diesem Entschluss, der im Frühjahr 1801 erfolgt sein muss, ist zugleich eine bewusste Abkehr von Königsberg verbunden. Vermuten darf man also, dass seine Hoffnungen auf eine Universitätskarriere sich bereits aufgelöst hatten. Rink setzt in Danzig, wenn auch quantitativ deutlich gemindert, seine Publikationstätigkeit auf seinen verschiedenen Interessensgebieten fort; darunter eben die drei Editionen auf der Grundlage der von Kant übernommenen Handschriften und mit der Jahreszahl 1805 auch eine Biographie des verstorbenen Königsberger Philosophen. Rund ein Jahr später als Rink (1802) reisen Rinks Freund Gottlob Benjamin Jäsche (1762–1842) und Karl Morgenstern (1770–1852) – im Abstand von einigen Monaten – als neu berufene Professoren von Danzig nach Norden an die neu konstitutierte Universität in Dorpat (Tartu). Ganz offensichtlich hat Rink zuvor einen erheblichen Teil der auf ihn gekommenen Kantischen Manuskripte Jäsche überlassen.24 Die Unterlagen zur Physischen Geographie können freilich nicht darunter gewesen sein, denn diese hat Rink nach dem Erscheinen seiner Ausgabe, wie ausgeführt, im Sommer 1802 an die Königsberger Universität gesandt, in der Absicht, dadurch den „Rechtsstreit“ mit dem Verleger Vollmer erfolgreich beenden zu können. Der auch nach damaligen Verhältnissen noch relativ junge Gymnasialrektor Rink ist aber bereits seit geraumer Zeit gravierend erkrankt, als die Danziger Anzeigen und dienliche Nachrichten in Nr. 35 vom Mittwoch, den 1. Mai 1811, S. 483 schließlich seinen Tod melden. Für die Überlieferung von möglicherweise auf Kant zurückgehenden Unterlagen ist Rinks nachgelassene Büchersammlung von besonderem Interesse. Ein in der Tübinger Universitätsbibliothek erhaltenes Exemplar des Versteigerungskataloges (Verzeichniß der hinterlassenen Bibliothek des wohlseligen Herrn F. T. Rink, der Philosophie u. Theol. Doktors, des Danziger Gymnasii Rektors, der S. Trinitatis-Kirche Pastors, der Theologie, der griech. u. der morgenländischen Sprachen Professors, welche 1811, den 23. Septbr. durch öffentlichen Ausruf, in der Holzgasse Nro. 26 verkauft wird. Danzig. 91 S.25) führte in der zweiten Hälfte des Jahres 2000 zur Auffindung des im Verzeichniß unter „4 Nr. 355 – Al. Gottl. Baumgarten metaphys. Halae, 750, 8. in 4. m. v. handschr. Anm. hLdbd.“ kurz beschriebenen Buches in der Danziger Akademie-Bibliothek. Es handelt sich dabei um ein vollständig erhaltenes, mit Quartblättern durchschossenes Exemplar der dritten Auflage von Baumgartens Metaphysica (Halle 1750). Die eingeschriebenen –––––––— 24 Vgl. insbesondere W. Stark: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants. Berlin 1993, S. 27 bzw. die unten zitierte Passage des Briefes von Rink an Villers (20. Febr. 1803): „gegeben“ – nicht ‚geschickt‘ oder ‚übersandt‘. – Zum Verbleib der auf Jäsche zurückgehenden Überlieferung vgl. zuletzt Leonid N. Stololovitch: On the fate of Kant Collection at Tartu University, in: Kantovski Sbornik. Selected Articles 2008–2009, (Kaliningrad), S. 75–88. 25 Signatur: Ke XXIV 732. Diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Markner (vormals Halle/S.).

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Notate stammen von Kants Hand.26 Weitere direkt auf Kant zurückgehende Drucke oder Handschriften aus Rinks Besitz haben sich nicht ermitteln lassen. Allerdings findet sich im Verzeichniß unter den Büchern in Quarto bei Nr. 315 der Eintrag: „I. Kants Vorlesungen über die natürliche Theologie, Mspt. Ppbd.“ Damit wird die Provenienz des erstmals 1817 anonym und erneut 1830, unter Nennung des Herausgebers Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1832) herausgegebenen Buches Immanuel Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre abgesichert und zugleich geklärt, dass dieser Titel ganz auf Pölitz zurückgeht.27 Beide Vorworte von Pölitz nehmen Bezug auf die Überlieferung: Was das Manuscript betrifft, das diesen Vorlesungen zum Grunde liegt; so gehörte es einem vormaligen geachteten und nun verstorbenen Collegen Kants zu Königsberg, aus dessen Nachlasse es der Herausgeber rechtmäßig durch Kauf erwarb. Es war vollständig, und bedurfte in der Revision fast nur der Nachhülfe in der Interpunction, und in denjenigen Nachlässigkeiten, welche bei dem wörtlichen Nachschreiben akademischer Vorträge nicht ganz vermieden werden können. (1817) Daß aber die erste Auflage dieser „Vorlesungen“ nach dreizehn Jahren sich vergriffen hatte, und eine zweite nöthig ward, galt mir als der erfreuliche Beleg, daß Kants unsterbliche Verdienste um die Philosophie noch immer gehörig gewürdigt und anerkannt werden. Ich stand daher auch nicht länger an, mich, nach dem Verlangen mehrerer Recensenten der ersten Auflage dieser Schrift, als den Herausgeber derselben zu nennen, deren Manuscript ich aus der Bücherversteigerung des zu Danzig verstorbenen D. Rink, noch während der Zeit meines Lehramtes zu Wittenberg, durch Kauf an mich gebracht hatte. Bekanntlich war Rink früher Kants College zu Königsberg, und gab noch, bei Lebzeiten des Greises, dessen aphoristische Lehrvorträge über die Pädagogik heraus. Rink folgte dem großen Denker (27. April 1811) frühzeitig im Tode nach; außerdem wären diese Vorlesungen wahrscheinlich von ihm selbst herausgegeben worden, weil sie entschieden einen höhern innern Werth behaupten, als die Aphorismen über die Pädagogik. (1830)

Obwohl Archivalien oder andere Quellen, die näher über die Rinksche Bücherversteigerung informieren könnten, nicht vorliegen, lassen sich ausgehend von den Angaben des gedruckten Verzeichnisses einige nicht triviale Aussagen zum möglichen Verbleib der von Rink um 1800 übernommenen Kantischen Materialien ableiten. Das Verzeichnis enthält keine eigene Rubrik für Manuskripte; die Bücher sind bloß nach Format aufgelistet. Für die bei Rink nach Jäsches Abreise (Frühjahr 1802) verbliebenen Kant-Materialien ergibt sich, dass diese entweder stillschweigend oder unerkannt zu den Büchern genommen oder separat etwa mit Rinks eigener Korrespondenz aufbewahrt worden sind. Über derartige Unterlagen liegen keinerlei zeitnahe oder spätere –––––––— 26 Vgl. Kantiana ohne Kiste. Überraschender Fund in Danzig. In: Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe. Mittwoch, 20.12.2000, S. 34; Dariusz Pakalski, Werner Stark: Kant w bibliotece [Kant in der Bibliothek]. In: 30 dni [30 Tage], Nr. 1/2 (27/28), S. 8–10 (Gdańsk/Gdynia Sopot Pomorze 2001); Werner Stark: Kant und Baumgarten: Exemplare der „Metaphysica“. Ein nachfragender Bericht. In: editio 17 (2014), S. 96–111. 27 Zu folgern ist auch, dass die von Pölitz herausgegebenen oder durch ihn überlieferten Nachschriften anderer Vorlesungen (Metaphysik/Logik) nicht auf Rink zurückgehen.

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Informationen vor, bis im Herbst 1878 der später so genannte „Duisburgsche Nachlaß“ in relativer Nähe zur Stadt Danzig bekannt geworden ist.28 Anhaltspunkte für die Fortexistenz weiterer Handschriften unter Nachfahren des Friedrich Theodor Rink wurden nicht ermittelt.

4. Wie kam Rink an Kants Papiere? Die Entstehung der Rinkschen Ausgabe von Kant’s Physischer Geographie ist innerlich verknüpft mit der Frage, weshalb Kant überhaupt einen Teil seiner handschriftlichen Materialien Jäsche und Rink übergeben hat.29 Die Tatsache, dass dies an beide gleichsam als Kollektivsubjekt geschah, ist im Frühjahr 1800 von diesen allgemein bekannt gemacht geworden.30 Übergabe und Auftrag sind freilich vor dem Hintergrund der biographisch-chronologischen Umstände rätselhaft: Jäsche kommt erst 1799 nach Königsberg. Rink hat ab 1789 Königsberg mehrfach für ausgedehnte Zeiträume verlassen. Im Vergleich der verschiedenen Entwürfe, die Kant für sein schließlich auf den 27. Februar 1798 datiertes Testament hinterlassen hat, fällt auf, dass weder Jäsche noch Rink darin genannt sind – weder in den früheren Fassungen vom Beginn der 1790er Jahre noch in den späteren.31 In den Entwürfen sind – anders als in der endgültigen Fassung – Verfügungen im Blick auf „literarische Papiere“ oder „Manuscripte“ enthalten. Kant nennt als Adressaten zwei ihm seit Jahren (als Student, Privatdozent und Professor) bekannte Mitglieder der Philosophischen Fakultät: Johann Friedrich Gensichen (1759–1807) und Karl Ludwig Poerschke (1752–1812). Namentlich erwähnt wird Rink allerdings auf einem losen Blatt, das in Kant’s gesammelten Schriften unter der Überschrift „Bestimmungen über sein Begräbnis“ und der hinzugesetzten Jahreszahl „1799“ veröffentlicht worden ist.32 Bei diesen chronologischen Umständen darf also angenommen werden, dass Kant nach dem Februar 1798, vielleicht im Frühjahr 1799 umdisponiert hat.33 Jäsche und Rink erhalten jedenfalls einen Teil der Handschriften zur Benutzung für herauszugebende Lehrbücher nach Kantischen Prinzipien. An Disziplinen werden öffentlich – im Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion von Johann Georg Hamann genannt Magnus in Norden, und einige Aufsätze die kantische Philosophie betreffend. Nebst einem Fragment einer älteren Metakritik (Königsberg 1800; Reprint: Brüssel 1968) – genannt (S. xixf.): Metaphysik, Logik, natürliche Theologie und physische Geographie. Einige Anzeichen sprechen für Rink als –––––––— 28 Vgl. Stark 1993 (Anm. 24), S. 25f.; vgl. die Auflistung der 18 Einzelstücke ebenda, S. 302. 29 Historisch-archivalische Recherchen der folgenden Art sind zuvor von keinem Editor angestellt worden. Einen frühen Stand entsprechender, spekulativer Vermutungen repräsentieren die S 8–11 und 26f. von Benno Erdmanns Einleitung „Zur Geschichte des Textes“ zu seiner Ausgabe der Reflexionen Kants zur Anthropologie (1882). 30 Vgl. Stark 1993 (Anm. 24), S. 22ff. bzw. Ak XIII: 526ff. 31 Abdruck in Ak XII: 382ff., vgl. Ak XIII: 552ff. 32 Ak XII: 391,10. Der Apparat in Bd. XIII enthält keinen Hinweis auf Gründe für die vorgenommene Datierung. Das Blatt selbst ist seit 1945 verschollen. 33 Vgl. Stark 1993 (Anm. 24), S. 22f.

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treibenden Faktor des neuen Arrangements. Ob und inwieweit Rink bereits während seiner Studentenzeit mit Kant in – als einer erster Phase – eine engere Beziehung getreten ist, läßt sich den bekannt gewordenen Quellen nicht direkt entnehmen. Für die kurze zweite Phase einer Beziehung zu Kant zu Beginn der 1790er Jahre bietet die 1804 veröffentlichte Schrift Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund von Reinhold Bernhard Jachmann zumindest eine indirekte Bestätigung. In seinem 13. Brief hält der bis April/Mai 1794 in engem Kontakt mit Kant in Königsberg lebende Jachmann auch die Namen der regelmäßigen Tischgäste des Kantischen Haushaltes für die Nachwelt fest: Bis 1794, solange ich in Königsberg lebte, waren der Geheime Rat v. Hippel, Kriminalrat Jensch, Regierungsrat Vigilantius, Doktor Hagen, Kriegsrat Scheffner, Doktor Rink, Professor Kraus, Professor Pörschke, Professor Gensichen, Bancodirektor Ruffmann, OberStadtinspektor Brahl, Pfarrer Sommer, Kandidat Ehrenboth, Kaufmann Johann Conrad Jacobi, Kaufmann Motherby und mein Bruder [Johann Benjamin Jachmann], seine gewöhnlichen Gäste, von denen einige in der Woche regelmäßig ein- bis zweimal eingeladen wurden.34

Die Tatsache, dass Rink als „Doktor“ betitelt wird, enthält möglicherweise einen Anhaltspunkt zur Datierung. Zum Doktor – seu Magister philosophiae, wie es vollständig heißen müßte – promoviert wird Rink im März 1789; den theologischen Doktorgrad erwirbt er im Herbst 1799 gleichfalls in Königsberg. Aus dem Beginn der dritten, im gegenwärtigen Zusammenhang vordringlich interessierenden, die zweite Hälfte der 1790er Jahre überschreitenden Phase hat sich unter den erhaltenen Archivalien der Königsberger Universität glücklicherweise auch ein auf Kant selbst zurückgehendes Dokument gefunden: Rector Academiae Magnifice | Senatores amplissimi | In Hinsicht auf das uns mitgetheilte allerhöchste Rescript betreffend das Gesuch des Magisters Rinck als außerordentlicher Professor der orientalischen Sprachen bey der hiesigen Universität angesetzt zu werden, verfehlen wir nicht, unser pflichtmäßiges Gutachten hiemit abzustatten. | Obgleich gerade im orientalischen Fache ein Professor extraordinarius, vollends neben einem so gelehrten und Thätigen Lehrer als wir an unserm ordinario [Hasse] haben am wenigsten scheint subsistiren zu können, da sich diesem Fache verhältnißmäßig so wenige wiedmen, und selbst der ordinarius bey aller seiner Thätigkeit davon allein nicht bestehen kann; so haben wir doch, da dies die Sache der Supplicanten bleibt, gegen sein Gesuch selbst, zu mal unter den im allerhöchsten Rescript ausgedrükten Bedingungen nichts einzuwenden; vielmehr finden wir uns bewogen, bey dieser Gelegenheit zu erklären; daß wir die Auszeichnung geschikter und fleißiger Privatdocenten, durch Beylegung des Characters als außerordentlicher Professoren, für ein sehr zwekmäßiges Mittel halten, theils ihren Muth und Eifer zu beleben, theils unter der studirenden Jugend gute Köpfe zu dem Entschlusse auf zu muntern, sich zu künftigen academischen Lehrern zu bilden: ein Entschluß, der, wenn er auch in der Folge gegen einen andern aufgegeben wird, nicht fehlen kann, mittlerweile gute Früchte zu bringen. Eben deswegen aber erachten wir es für unsere Pflicht, bey dieser Veranlassung vorzustellen, daß unsere Fa-

–––––––— 34 R. B. Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund. In: Felix Groß (Hg.): Imanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen (Berlin 1912). Reprint: Darmstadt 1980, S. 182.

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cultät dermalen drey Privatlehrer, nemlich die Magistres Wlochatius Poerschke und Gensichen hat, die weit länger als Rinck, der etwa nur ein Jahr sich hier als Privatlehrer aufgehalten, der Universität genützt, und von denen die beyden letztern nicht nur ihre Geschicklichkeit, jeder in seinem Fache, durch schriftliche Proben dem Publico eben so wohl als Rinck bewährt, sondern auch bey ihrem Lehrgeschäfte, zumal der ältere [Poerschke] von diesen beyden, sich wahrlich keines geringen Beyfalls zu erfreuen gehabt haben. So fern die Bescheidenheit dieser Männer, sich bisher nicht selbst um die Auszeichnung, die Rinck für sich erbittet, beworben zu haben, wohl kein Grund ist, sie demselben minder würdig zu finden, und so fern wenn dieser Vorzug dem Rinck allein zu Theil würde, die Art von Hintansetzung, welche ihnen dann zu widerfahren schiene, sie doch muthlos machen müßte; so dünkt es uns um so mehr der Billigkeit gemäs zu seyn, Ew Magnificenz und E. ampl. Senatum zu bitten, die Kenntniß von dieser Lage der Umstände, an die allerhöchste Behörde, deren weisem Ermessen wir übrigens die ganze Sache anheim stellen, gefälligst gelangen zu lassen. | Mit Ehrerbiethung und Hochschätzung verharren wir | Ew Magnificenz und E. ampl. Senatus ganz ergebenst | Königsberg d 27 Oct. 1794 | Decan und Professoren der philosophischen Facultät | I Kant35

Obwohl dies Votum nicht allein auf Kant zurückgeführt werden darf, denn es drückt die Meinung der Fakultät aus, sind zumindest zwei Schlüsse erlaubt: 1. Eine besondere Nähe zu oder gar ein besonderes Wohlwollen für den antragstellenden Rink ist nicht erkennbar. 2. In Anbetracht der Tatsache, dass Extraordinariate an der Philosophischen Fakultät seit Beginn der 1750er Jahre nicht mehr üblich waren, wird man über den Anlass der Anfrage hinaus nach einer besonderen Absicht in dem ungewöhnlichen Vorschlag von vier zeitgleichen Extraordinariaten fragen dürfen. Ordnet man die seit 1784 nur noch sieben ordentlichen Professoren der Philosophischen Fakultät in der Abfolge ihrer Geburtsjahre, dann ergibt sich die folgende Reihe: Kant (1724), Reusch (1735), Schultz (1739), Mangelsdorf (1748), Kraus (1753), Hasse (1759) und schließlich Wald (1762). Kant ist mit Abstand der Älteste; zum Zeitpunkt des Gutachtens steht er im 71. Lebensjahr und wäre nach modernen Begriffen längst Emeritus. Reusch (Physik) und Schultz (Mathematik) nähern sich deutlich ihrem 60. Lebensjahr. Wenn man zusätzlich den nicht allein in Königsberg üblichen Weg einer primär lokalen Findung von nachfolgenden Professoren in den Blick nimmt – was durch das Schreiben selbst belegt wird –, dann darf man es ohne weiteres als Versuch der Fakultät – wenn nicht gar primär des Dekans Kant – lesen, die abzusehenden Neubesetzungen von ordentlichen Lehrstühlen vorgreifend regeln zu wollen. Der Umstand, dass Senat und Preußische Regierung diesem Vorschlag mit der Ernennung der vier Vorgeschlagenen im Winter 1794/95 gefolgt sind, wird in dieser Hinsicht als Zustimmung zu werten sein. Im Blick auf die Geburtsdaten der vier Kandidaten und ihre durch Publikationen und Lehrangebot bekannt gemachte inhaltliche Ausrichtung ergibt sich weiter, dass für die mit Kant besetzte Professur für „Logik und Metaphysik“ in erster Linie an den 1752 geborenen Karl Ludwig Poerschke zu denken ist. Der 1759 geborene Johann Friedrich Gensichen ist der Sache nach eher in der Nachfolge zum Mathematiker und –––––––— 35 Olsztyn, AP: XXVIII/1, Nr. 356, S. 53 nicht eigenhändig. Aufgefunden im Zuge des DFG-Projektes ‚Kants Amtstätigkeit‘ (1991–94).

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Kant-Interpreten Johann Schultz oder zu dem seit 1772 als Physiker amtierenden Carl Daniel Reusch zu sehen. Der 1744 geborene August Wilhelm Wlochatius wird hingegen aus der Kantischen Perspektive nicht als ein möglicher Nachfolger in Frage gekommen sein, denn er steht der Crusianischen Richtung nahe, über die in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre durch den Minister von Zedlitz für Königsberg ein Lehrverbot erteilt worden ist. Der deutlich jüngere, 1770 geborene Rink hat m. E. bloß einen Anlass geliefert für die im Gutachten vom 27. Oktober 1794 zum Ausdruck kommende konkrete Personalplanung der Königsberger Universität. Auch die Vorlesungsankündigungen jener Jahre lassen sich lesen unter der Perspektive einer möglichen Nachfolge der ordentlichen Professur für theoretische Philosophie. Rink kündigt einmalig für den Winter 1797/98 an zu lesen über „Geographiam Asiae, Africae, Americae et regionum australium“ und steht damit durchaus in der Nachfolge der Kantischen Vorlesung, die seit Beginn der 1770er Jahre Europa ebenfalls ausgenommen hat. Wie dem aber auch immer sei, Tatsache ist, dass Kant irgendwann vor dem 9. Februar 1800, dem Datum der Vorrede des Mancherley, sich entschlossen haben muss, zwei für publikationsreif erachtete Manuskripte und weitere umfangreiche Unterlagen, die auf eine Jahrzehnte währende Vorlesungstätigkeit zurückgehen, an Rink und – wohl vermittelt durch diesen – auch an Jäsche zu übereignen. Wann genau und unter welchen Umständen dieser Entschluss zustande gekommen ist, bleibt grundsätzlich offen. Allerdings bestätigt die eruierte Personalplanung eine Aussage des mit Rink konkurrierenden Verlegers Gottfried Vollmer (1768–1815).36 In Bd. 2,1 (1802, S. 25) von dessen Ausgabe der Physischen Geographie heißt es: „Als ich an Kant schrieb, im Jahre 1797, gehörte Herr Rinck noch nicht zu seinen Vertrauten, nicht zu denen, mit denen er irgend etwas überlegte.“37 Vielleicht hat Vollmer auch einige Seiten später das Richtige getroffen, wenn er einflicht (S. 43): „Ueberdem weiß ganz Königsberg, und ich kann mich in dieser Absicht auf alle unterrichteten Männer daselbst berufen, daß Herr Rinck Kanten lange um die Papiere angelegen, und nur durch vieles Bitten sie ihm endlich, man weiß noch nicht unter welchem Vorwande, abgedrungen hat, und daß dabei gar nicht vom Druck derselben die Rede war; und dergleichen mehr.“ Dazu passt, dass im Blick auf Rink keine sachliche, durch Studieninteressen motivierte „Schülerschaft“ als tragendes Charakteristikum seiner Beziehung zu Kant festzustellen ist. Demnach dürften eher private Umstände eine Rolle gespielt haben. Tatsächlich kann dem akademischen Lehrer von Rink, dem bereits genannten Orientalisten Johann Gottfried Hasse, eine vermittelnde Rolle zugefallen sein. Falls Kant nämlich in die mit Brief vom 18. Juni 1789 erbetene Mitbenutzung seines Hörsaales eingewilligt hat,38 dann könnte erwartet werden, dass –––––––— 36 Zur Vollmerschen Ausgabe der Physischen Geographie vgl. Stark 2014 (Anm. 24). 37 Die S. 1–58 sind mit „Actenmässige Geschichte meiner Ausgabe von Kants physischer Geograph[ie]“ überschrieben. Scheffner hat diese Seiten schon am 22. Juni 1802 gelesen; wie aus Arthur Warda & Carl Diesch (Hg.): Briefe von und an Johann Georg Scheffner. 5 Bde. München/Leipzig 1918–38; Bd. 2, S. 405 hervorgeht. Vgl. auch den auf die „Actenmässige Geschichte“ reagierenden Brief von Rink an Kant, datiert auf „Danzig d: 13. July 1802“ (Ak XII: 343f.). 38 Ak XI: 65f. (Nr. 368).

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Hasse bei Gelegenheit seinen herausragenden Schüler bei Kant eingeführt hat. Obwohl keine Zeugnisse über die anzunehmende Antwort vorliegen, neige ich zur positiven Variante, zumal auf diese Weise ein zwangloser Beginn gesetzt wird für die zweifellos in späteren Jahren bestehende Vertrautheit Rinks mit Kant. Vielleicht hat auch eine absehbar international ausgerichtete Tätigkeit des gleichwohl jungen, jedoch schon weit gereisten und fleißigen Gelehrten Friedrich Theodor Rink, Kant dazu veranlasst, seine „abgelegten Papiere“ in dessen Obhut zu geben. Abseits aller Spekulation seien aber zuletzt noch einige derjenigen Belege kurz vorgestellt, wonach Kant daran gelegen war, dass seine Physische Geographie im Druck erscheint und dass er diese einem öffentlichen Streit entzogen wissen wollte. In dieser Hinsicht ist das wichtigste und allgemein bekannte Zeugnis in den ersten Zeilen von Rinks Brief an Kant vom 13. Juli 1802 zu sehen: Verehrungswürdigster Herr Professor! | Ew: Wohlgebohrnen verlangen die mir vor 8 Tagen zugesendete Erklärung in Betreff des Buchhändler Vollmer zurük, weil Sie die Tage Ihres ehrwürdigen Alters nicht durch persönliche Streitigkeiten beunruhigt wißen wollen. Ihr Verlangen, und Ihre Ruhe sind mir zu heilig, als daß ich nicht eilen sollte, Ihrem Befehle gemäß das Original Ihrer Erklärung, Ihnen wieder zuzustellen. Aber nun erlauben Sie mir auch dies zu bemerken: Haben Sie mir nicht die Herausgabe Ihrer physischen Geographie würklich übertragen, und die Erscheinung derselben zu dieser Jubilatemesse gewißermaßen zur Pflicht gemacht?39

In etwa dieselbe Zeit dürfte eine Aussage fallen, die Rinks früherer akademischer Mentor, Johann Gottfried Hasse, in seinen 1804 publizierten Letzten Äußerungen Kants festgehalten hat: „Wurde der Herausgabe seiner physischen Geographie bey Vollmer gedacht, so wurde er fast wüthend, und sagte, es sey alles Lug und Trug, versicherte auch, er habe seine ächten Papiere dem Herrn D. Rink in Danzig übergeben.“40 Schließlich finden sich einschlägige Memorialnotate auf den losen Blättern des Konvolutes L des Kant-Nachlasses aus der früheren Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek und auf verschiedenen Blättern des ersten Konvoluts des sogenannten Opus postumum. Kant ist sichtlich interessiert am Erscheinen ‚seiner‘ Physischen Geographie. Er war jedoch in keiner Weise in den Prozess der Herstellung oder gar in die Korrektur des Drucks einbezogen. Die im Sommer 1802 erschienene Ausgabe ist mit all ihren Korruptelen allein das Werk von Friedrich Theodor Rink.

–––––––— 39 Ak XII, S. 343. 40 Zitiert nach Artur Buchenau, Gerhard Lehmann (Hg.): Der alte Kant. Hasse’s Schrift: Letzte Äußerungen Kants […]. Berlin 1925, S. 31.

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Abstract Since its publication in 1802, Friedrich Theodor Rink’s edition of Kant’s Physical Geography has been regarded as a genuine text of Kant’s in spite of its problematic composition. The original manuscripts are lost. Nevertheless, it is possible to trace the historical circumstances and the most important stages of Rink’s attempt to publish a book appropriate to the Kantian Lecture on Physical Geography and to answer the question why the Rinkian issue failed.

Holden Kelm

„Damit was entzückte, als man es hörte, wenigstens erträglich sei, wenn man es liest“ Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich

Nach seinen frühromantischen Ausflügen in die Literaturkritik und die Poesie widmete sich Friedrich Schleiermacher ab 1804 als zunächst außerordentlicher Professor für Theologie und Philosophie an der Hallenser Universität ausführlich seinen wissenschaftlichen Plänen. Er begann Kollegien zur philosophischen und christlichen Ethik sowie zur Hermeneutik, theologischen Enzyklopädie, Geschichte der Philosophie u. a. auszuarbeiten, fing im Wintersemester 1804/05 mit seiner Lehrtätigkeit an und zog schon bald interessierte Hörer und Schüler an seine Seite. Nachdem napoleonische Truppen 1806 in Halle einmarschiert waren, die Zukunft der preußischen Universität immer ungewisser wurde und die Gründung der Berliner Universität immer greifbarer war, kehrte Schleiermacher Ende 1807 in seine Wahlheimatstadt Berlin zurück, wo er bereits von 1796 bis 1802 u. a. als Prediger an der Charité tätig gewesen war.1 An der 1810 eröffneten Universität erhielt er einen Lehrstuhl für Theologie und konnte als Mitglied der Philosophischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften (ab 1810) auch Vorlesungen an der philosophischen Fakultät halten, was er bis in sein Todesjahr 1834 hinein ausgiebig tat. In seiner 25-jährigen Berliner Lehrtätigkeit hielt Schleiermacher in jedem Semester mindestens zwei, häufig auch drei Vorlesungen, darunter je eine philosophische (nur wenige musste er ausfallen lassen).2 Ein chronologischer Überblick dieser von ihm angefangenen und durchgeführten Kollegien führt das Spektrum seiner philosophischen Lehre vor Augen: Philosophische Sittenlehre/Ethik (ab 1804/05), Hermeneutik und Kritik (ab 1805), Geschichte der griechischen Philosophie (ab 1807), Lehre vom Staat (ab 1808/09), Geschichte der christlichen Philosophie (ab 1810), Dialektik (ab 1811), Pädagogik (ab 1813), Psychologie (ab 1818) und Ästhetik (ab 1819). Wie wir heute durch die Quellenforschungen zu den beiden umfassenden Vorlesungseditionen Schleiermachers in den Sämmtlichen Werken und der Kritischen Gesamtausgabe wissen, benutzte Schleiermacher für seine Vorlesungen zumeist Kollegbzw. Notizhefte und mitunter auch nur einzelne Zettel, welche häufig skizzenhaft beschrieben sind und als erste Ausführungen eines Gedankengangs, als Gedächtnis-

–––––––— 1 Vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. 2. Aufl. Göttingen 2002, S. 74–79. 2 Vgl. Andreas Arndt, Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen. Berlin/New York 1992 (Schleiermacher-Archiv Bd. 11), S. 295–299.

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stützen oder auch als Revisionen des Vorgetragenen angelegt waren.3 Für ein Kolleg, das er zum ersten Mal hielt, sammelte Schleiermacher in der Regel vorbereitend Gedanken, Exzerpte und Skizzen in einem Notizheft, auf dessen Grundlage er eine knapp formulierte Abhandlung ausarbeitete, die seinem mündlichen Vortrag die grundlegende Richtung gab, so auch im Fall der Ästhetikvorlesungen, die er 1819, 1825 und 1832/33 hielt. Der weitere Gang der schriftlichen Vor- und Nachbereitung eines Kollegs (und dessen Wiederholungen in späteren Jahren) unterscheidet sich dann bei den verschiedenen Disziplinen. Folgt man der von Christian Fischer in Ueber Collegien und Collegienhefte (1826) vorgeschlagenen Typologie des akademischen Vortrags in den „freien“, den „nach Heften“ und den „gemischten“, dann muss Schleiermachers Vortrag wohl zu den „freien“ gerechnet werden.4 Auch in Rücksicht auf neuere typologische Unterscheidungen, etwa in „Kompendiumvorlesung“, bei der der Lehrstoff nach einem öffentlich zugänglichen Text weitgehend durchgängig diktiert wird, und „Manuskriptvorlesung“, bei der ein privat bleibendes Manuskript die Grundlage einer relativ freien Themenentfaltung ist, ist Schleiermachers Vortragspraxis überwiegend zu der freieren Manuskriptvorlesung zu rechnen.5 Mit euphorischen Worten berichtet der später als Pädagoge berühmt gewordene Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (1790–1866) von dieser Vorlesungspraxis Schleiermachers. Die von ihm selbst erlebte Lehrmethode Schleiermachers bezeichnet Diesterweg dabei mit Verweis auf Sokrates als eine „dialektische“ und „entwickelnde“, welche eine „unausgesetzt geistige Anstrengung“ vom Redner verlange, dem Hörer dadurch aber „die Durchdringung des Gegenstandes“ erleichtere, weil das Werden des Gegenstands vor Augen geführt werde.6 Weiter führt Diesterweg aus: Sobald Schleiermacher nach Ablauf des ‚akademischen Viertels‘, das seinen Zuhörern oft recht langsam verfloß [...], mit jugendlich raschen Schritten das Katheder bestiegen, sich auf den Lehrstuhl niedergelassen und eine kleine zusammengedrehte Papierrolle entfaltet oder ein beschriebenes Papierstreifchen oder auch gar nichts herausgenommen hatte, begann er mit leiser Stimme seine Rede.7

–––––––— 3 Vgl. Ludwig Jonas: Vorwort des Herausgebers. In: Reden und Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften. Berlin 1835 (Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt, 3. Bd), S. VI–VII. 4 Vgl. Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte. Oder erprobte Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben sowohl der academischen als der höheren GymnasialVorlesungen. Bonn 1826, S. 3. An dieser Stelle sei den Veranstaltern der Wuppertaler Tagung „Kolleghefte und Kollegnachschriften“ noch einmal herzlich dafür gedankt, diese Publikation den Teilnehmenden vorab zur Verfügung gestellt zu haben. 5 Diese Einteilung schlägt Walter Jaeschke insbesondere in Hinblick auf das Hegelsche Werk vor. Vgl. Walter Jaeschke: Gesprochenes und durch schriftliche Überlieferung gebrochenes Wort. Zur Methodik der Vorlesungsedition. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 157–168, hier: 159–161. 6 Vgl. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg: Ueber die Lehrmethode Schleiermacher’s. Ein Vortrag in der pädagogischen Gesellschaft zu Berlin den 14. Juni 1834. Berlin 1834, S. 11. 7 Ebd., S. 12.

Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich

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Auch Karl Gutzkow (1811–1878), der später als Journalist und Schriftsteller bekannt wurde, bestätigt die Ansicht von Schleiermachers Vortragspraxis als einer freien und dialektisch verfahrenden; er hörte gelegentlich Schleiermachers spätere Berliner Vorlesungen und berichtet in seinen Lebenserinnerungen auch von der Schwierigkeit, eine vollständige Kollegnachschrift anzufertigen: Wenn ich nicht auch Philosophie bei ihm hörte, so geschah es um deswillen, weil Schleiermacher hier im Hintertreffen stand gegen Hegel, der damals die hohe See befuhr und der Mann des Tages war. Aber es ging mir mit Schleiermacher in einem Semester wie im andern. Aus der ersten Vorlesung brachte ich mehrere vollgeschriebene Seiten mit, von der zweiten schon eine Seite weniger, von der dritten kaum noch eine Seite. Nach der fünften oder sechsten Vorlesung hörte ich nachzuschreiben ganz auf und hörte nur noch.8

Schleiermachers rhetorisch versierter Vortrag machte das Mitschreiben offenbar zu einem schwierigen Unterfangen. Es ist daher anzunehmen, dass es nur wenigen Studenten (aus höheren Semestern) gelang, ein ganzes Kollegium (weitgehend) vollständig nachzuschreiben. Lücken im Text einiger überlieferter Nachschriften bezeugen diese Annahme. Mit der Bestimmung einer „entwickelnden“ und „dialektischen“ Lehrmethode bei Schleiermacher weitgehend übereinstimmend, schildert auch Adolf Trendelenburg (1811–1878) in einem Brief an seinen Vater die Vortragspraxis Schleiermachers. Wohl aufgrund gewisser Vorurteile gegenüber Hegel besuchte Trendelenburg im Sommersemester 1825 Schleiermachers Ästhetik-Kolleg, das dieser fünf Mal wöchentlich am frühen Morgen von 6–7 Uhr abhielt: Es ist fesselnd, wie Schleiermacher in der Aufbauung einer philosophischen Wissenschaft sucht und findet und uns selbst mitsuchen und mitfinden lässt. Der Weg ist schwer, weil Geist dazu gehört und strenge Consequenz. In den philosophischen Vorträgen pflegt man sonst das Gefundene mit seinen Beweisen, oft wie vom Dreifuss herunter, zu geben; aber die Frage: wie kam man zu diesem Ziel? bleibt unbeantwortet. Schleiermacher lehrt selbst den Weg gehen und in dieser Hinsicht, weniger in Rücksicht der Ergebnisse, die spärlicher zum Vorschein kommen, eben weil sie gefunden werden sollen, hörte ich nie etwas Aehnliches. Ich wüsste nicht, wo ich mehr lernen könnte für die Gedankenentwickelung in mir und in anderen.9

Die Überlieferung der Kolleghefte Schleiermachers und der Kollegnachschriften stellt sich trotz der Schwierigkeiten des Mitschreibens allgemein so dar, dass ein starkes Übergewicht auf Seiten der Nachschriften vorliegt, was jedoch nicht heißt, dass für jedes Kolleg hinreichend viele Nachschriften überliefert sind. Im Gegenteil, vor allem von den früheren Vorlesungen an der Hallenser und Berliner Universität fehlen diese mitunter gänzlich.10 Als ein Produkt, das den mündlichen Vortrag eines Dozenten –––––––— 8 Karl Gutzkow: Unter dem schwarzen Bären. Erlebtes 1811–1848. Berlin 1971, S. 240–241. 9 Zit. nach: Ernst Bratuschek: Adolf Trendelenburg. Berlin 1873, S. 45. 10 Die Recherche nach Nachlässen wird dadurch erschwert, dass die Quästur-Listen für den hier fraglichen Zeitraum im Universitäts-Archiv der Berliner Humboldt-Universität vernichtet wurden. Vgl. Die

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wiedergibt, aber auch die individuellen Fähigkeiten des Hörers bzw. Mit- und Nachschreibers sowie ferner graduell auch die sozialen und akustischen Verhältnisse im Vorlesungssaal widerspiegelt, sind Nachschriften eine problematische Textgattung, man könnte fast sagen eine ‚Zwittergattung‘, weil ihre Autorschaft ohne den Vortrag des Dozenten nicht denkbar ist. Weil Hören und Schreiben bereits Vermittlungsprozesse darstellen, die einen Medienwechsel vom gesprochenen zum geschriebenen Wort in sich schließen und aufgrund der individuellen Fähigkeiten und Einstellungen der Nachschreibenden verschieden ausfallen, können daraus resultierende Nachschriften (insbesondere im Fall des freien entwickelnden Manuskriptvortrags) in der Regel keine identische Reproduktion des Vortrags enthalten. Nicht nur die regel- oder unregelmäßige Teilnahme an den Kollegien, sondern auch der Bildungshintergrund der Hörenden, ihre bewusste oder unbewusste Selektion bestimmter Namen, Begriffe oder Themen, trägt dazu bei, dass die wissenschaftliche Qualität von Nachschriften mitunter deutlich differiert, weshalb selbstverständlich auch bei Kollegnachschriften von später berühmt gewordenen Nachschreibern eine Text- und Quellenkritik notwendig ist.11 Dabei ist die Selektion von Nachschriften, die für ein Kolleg mehrfach vorliegen, in ihrer Schwierigkeit nicht zu unterschätzen. Wissenschaftshistorisch führt die Problematik der Edition von Schleiermachers Vorlesungen somit in die Zeit des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts, in der die Philosophie bereits als universitäre Disziplin etabliert war, die Kompendiumvorlesung die philosophische Vortragspraxis prägte und das Anfertigen, Abschreiben und Verbreiten von Nachschriften bereits zur Universitätskultur gehörte. Warum es trotz der geschilderten Problematik nötig ist, die Nachschriften von Schleiermachers Kollegien zu edieren, soll an dieser Stelle noch einmal verdeutlicht werden: 1. Aus Schleiermachers Hand sind oftmals nur sehr knapp und grundrissartig formulierte Kolleghefte erhalten, manchmal auch nur wenige, mitunter schwer entzifferbare Notizzettel. Die Hefte, die er als Grundlage der meist über mehrere Jahrgänge stattfindenden Kollegien anlegte, disponierte er manchmal um, erweiterte sie durch Marginalien und veröffentlichte sie nie selbst. Die Nachschriften dieser Kollegien stellen oftmals eine unerlässliche Verständnishilfe dar, weil sie das von Schleiermacher selbst Verfasste ergänzen und ausführen; sie enthalten häufig über die argumentativen Hauptstränge hinausgehende Hinweise auf historische Kontexte, Werke und Autoren, die nicht zuletzt für die sachliche Erschließung wichtig sind. –––––––— Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834. Nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten. Hg. von Wolfgang Virmond. Berlin 2011, S. XIII. 11 Warum es plausibel ist, trotz dieser Problematik von ‚Vorlesungsedition‘ und nicht von ‚Nachschriftenedition‘ zu sprechen, sofern es für den Editor darum geht, den Wortlaut einer Vorlesung eines Dozenten möglichst getreu zu rekonstruieren, anstatt einen fiktiven Text aus verschiedenen Nachschriften zu konstruieren, hat Walter Jaeschke dargelegt. Als zentrale Kriterien für den wissenschaftlichen Wert einer Nachschrift gibt Jaeschke neben ihrer inhaltlichen Relevanz in Bezug auf das Werk eines Autors an: Vollständigkeit, Ausführlichkeit und Zuverlässigkeit bzw. authentische Überlieferung. Vgl. Jaeschke 1991 (Anm. 5), S. 157–168, hier: 159–161.

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2. In den Fällen, wo eine Nachschrift das einzige Zeugnis eines Kollegs ist, für das Schleiermachers Heft nicht hinreichend ausführlich ist, weil es abbricht, diesem Kolleg zeitlich sehr weit voraus liegt oder verschollen ist, ergibt sich ihre Bedeutung schon aus dieser Zeugnisfunktion. Insbesondere aber dann, wenn sie einen Teil des Gesamtwerks Schleiermachers wissenschaftlich zu erschließen erlaubt, der sonst unbekannt bliebe, ist ihre Edition unverzichtbar. Wenn für dieses Kolleg zwei oder mehrere Nachschriften überliefert sind, läge der Vorteil darüber hinaus darin, dass die Quellenkritik es erlaubt, diese Nachschriften genauer auf Vollständigkeit, Ausführlichkeit und Authentizität zu überprüfen. 3. Eine Vorlesungsedition, die ein in verschiedenen Semestern gehaltenes Kolleg beinhaltet, für das neben dem zugrundeliegenden Kollegheft Schleiermachers für jeden Vorlesungsjahrgang mindestens zwei Nachschriften vorliegen, stellt für die Forschung eine variantenreiche und entwicklungsgeschichtlich relevante Textbasis dar, die die Edition einer einzelnen Kollegnachschrift nicht leisten kann. Mögliche Veränderungen in dem Gesamtverlauf eines Kollegs können nur so dokumentiert und dadurch Einsichten in die Denk- und Werkgeschichte Schleiermachers gewonnen werden, wobei sich die Editionsarbeit eng mit der biographischen und ideengeschichtlichen Forschung verschränkt. Für die Vorlesungsedition der Kritischen Gesamtausgabe (deren erster Band 1998 erschien) tritt neben die Schwierigkeit der Textgattung ‚Kollegnachschrift‘ auch die Problematik, dass Schleiermachers Vorlesungen bereits nach seinem Tod im Rahmen der Sämmtlichen Werke (ab 1835) bearbeitet und publiziert wurden. Es handelt sich dabei um Veröffentlichungen aus dem wissenschaftlichen Nachlass, die teilweise eine hohe Wirksamkeit bei den fachlichen Rezipienten erzielt hatten und damit die kanonische Stellung insbesondere von Schleiermachers dogmatischen Werken bekräftigten.12 Daher steht die aktuelle, noch nicht abgeschlossene Vorlesungsedition vor der Aufgabe, die in den Sämmtlichen Werken (und zum Teil auch in später neu aufgelegten oder nachgedruckten Ausgaben) veröffentlichten Manuskripte und Nachschriften neu zu erschließen und die vollzogenen editorischen Richtlinien und Entscheidungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Ausgehend von dieser Problematik möchte ich im Folgenden zunächst die Erstedition von Schleiermachers Vorlesungen in den Sämmtlichen Werken (SW) vorstellen und am Beispiel der Vorlesungsedition der Ästhetik von 1842 kritisch erläutern. Daraufhin möchte ich die Vorlesungsedition im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe (2. Abteilung) erörtern und darlegen, wie darin den Problemen, die in den editorischen Regeln und der Disposition der Sämmtlichen Werke gründen, begegnet wird. Ausführen möchte ich dies anhand der in Bearbeitung befindlichen Edition von Schleiermachers Ästhetikvorlesungen, die als Hybridedition erscheinen wird. Abschließend soll am Beispiel der Leittextregelung skizziert werden, welche Bedeutung der digitalen Edition in Hinblick auf die analoge Buchedition zukommen kann. –––––––— 12 Vgl. Andreas Arndt: Schleiermacher edieren. In: editio 30 (2016), S. 157–167, hier: 157.

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1. Die Vorlesungsedition im Rahmen der Sämmtlichen Werke Den ungedruckten Teil seines wissenschaftliches Nachlasses hat Schleiermacher kurz vor seinem Ableben seinem vertrauten Schüler Ludwig Jonas (1797–1859) übergeben, der bis an sein Lebensende Schleiermachers Nachlass verwaltete und u.a. die Vorlesungen über Christliche Sittenlehre und Dialektik herausgab. Die erste Vorlesungsedition Schleiermachers fußt auf diesem Nachlass und erschien unter dem Titel Sämmtliche Werke von 1834 bis 1864 beim Verlagshaus Reimer. Circa vier Monate nach Schleiermachers Tod kündigte sein Freund und Verleger Georg Reimer diese Edition als eine „möglichst vollständige Ausgabe seiner Werke“ an, die „alles enthalten sollte, was in gedruckten sowohl als handschriftlichen Arbeiten hinterblieben ist, und nun, in geordneter Folge, binnen einem Zeitraum von 3–4 Jahren erscheinen soll“.13 In der Ankündigung heißt es weiter, diese Werkausgabe solle Schleiermacher „ein Ehrendenkmal setzen“ und den „Segen, welcher von ihm ausging, über kommende Geschlechter [...] verbreiten, und so sein Andenken [...] verewigen.“14 Die Ankündigung enthält neben einer Auflistung der geplanten Werke auch die grundlegenden Abteilungen der Ausgabe: 1. Theologie, 2. Predigten, 3. Philosophie. Aus dieser Ankündigung wird ersichtlich, dass es bei den Sämmtlichen Werken nicht nur um die wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses Schleiermachers ging, sondern auch darum, eine bestimmte Wirkung zu entfalten – ein ehrenvolles Andenken an Schleiermacher, das über etwaige Zweifel erhaben ist.15 An der Einteilung fällt zudem auf, dass die zahlreichen Briefe, Übersetzungen insbesondere Platons sowie ferner auch die Tageskalender und Jugendschriften unberücksichtigt blieben. Insofern spiegelt die Einteilung neben den amtlichen Tätigkeiten Schleiermachers (Theologieprofessor, Prediger, Akademiemitglied) auch die von den Initiatoren gewünschte Perspektive auf Schleiermacher wider: Er sollte der Nachwelt in erster Linie als evangelischer Theologe und tiefsinniger Prediger und weniger als „pantheistischer“ Philosoph oder provokativer Frühromantiker in Erinnerung bleiben.16 In der Ankündigung von Reimer, die zugleich zur Subskription auffordert, wird unter den vorläufig genannten Herausgebern wie Heinrich Ritter oder Alexander Schweizer auch Karl Lachmann aufgelistet, den Schleiermacher als Kollegen an der Berliner Universität und als Mitglied der Griechischen Gesellschaft, einer gelegentlichen Zusammenkunft befreundeter Altertumsforscher, kannte. Lachmann sollte laut Editionsplan, den Jonas in der ersten Ausgabe der Akademie-Abhandlungen (SW III/3) von 1835 konkretisiert hat, Schleiermachers „Schriften des Lukas“ herausgeben, –––––––— 13 Nachgewiesen und zitiert in: Hans-Joachim Birkner: Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt (1989). In: Hans-Joachim Birkner: Schleiermacher-Studien. Eingeleitet u. hg. von Hermann Fischer. Berlin/New York 1996, S. 309–335, hier: 309. 14 Vgl. ebd., S. 328. 15 Inwiefern diese Zweckrichtung bei Gesamtausgaben im neunzehnten Jahrhundert üblich war, zeigt der Beitrag von Winfried Woesler: Neugermanistische Editionsleistungen des neunzehnten Jahrhunderts. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003, S. 123–142, hier: 137. 16 Vgl. Arndt 2016 (Anm. 12), S. 157.

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er ist jedoch nie zur Erfüllung dieser Aufgabe gekommen.17 Neben den neutestamentlich-exegetischen Vorlesungen blieben auch andere ursprünglich geplante Werke ungedruckt, die gut 30 Jahre benötigenden Sämmtlichen Werke (also letztlich gute 26 Jahre mehr als im Ankündigungstext) brachten es insgesamt auf 31 Bände, darunter in der 3. Abteilung alle eingangs erwähnten philosophischen Kollegien, außer dem über Hermeneutik und Kritik, das in die 1. Abteilung aufgenommen und als „Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament“ 1838 von Friedrich Lücke herausgegeben wurde. Die Unverbindlichkeit der editorischen Richtlinien in den Sämmtlichen Werken Die Richtlinien der Vorlesungseditionen der Sämmtlichen Werke finden sich exemplarisch in der Einleitung der von Jonas edierten Christlichen Sitte von 1843. Darin gibt Jonas zunächst Rechenschaft über das von ihm verwendete Textkorpus: Schleiermacher hatte diese Vorlesung am häufigsten vorgetragen, insgesamt dreizehn Mal, und dementsprechend hat er seine Notizen bzw. Kolleghefte mehrmals umgearbeitet, neu angefangen und mit zahlreichen Ergänzungen versehen. Weil dieses komplexe Material nur sehr umständlich in eine lesbare Abhandlung umzuwandeln war, entschied sich Jonas dazu, neben den Manuskripten Schleiermachers in ihren verschiedenen (zeitlichen) Bearbeitungsstufen und Zusammensetzungen, ein Kolleg aufgrund mehrfach überlieferter Nachschriften komplett wiederzugeben. Er entschied sich für das Kolleg 1822/23 und beschreibt die Regel der Nachschriftenselektion wie folgt: Sobald etwas von Schleiermachers Hand vorhanden ist, was mehr ist als eine bloße Notiz, dann gilt diejenige Nachschrift als die geeignetste, die sich am leichtesten und am sichersten auf das eigenhändig Verfasste zurückführen lässt.18 Für die Edition kompilierte er fünf ihm zur Verfügung stehende Nachschriften zu einem Text und ergänzte einige Varianten aus anderen Semestern, jedoch ohne das Verfahren der Kompilation im Band zu dokumentieren. Als Regel für die editorische Bearbeitung der Vorlesung stellt Jonas vielmehr nur eine allgemeine Richtlinie auf: So nothwendig es ist das von Schleiermacher’s Hand geschriebene als das eigentlich authentische so genau als möglich wiederzugeben: so nothwendig ist es, in der sei es ausführlichen sei es excerpirenden Mitheilung der Collegienhefte [lies: Nachschriften, H. K.] mit großer Freiheit zu Werke zu gehen, damit was entzückte, als man es hörte, wenigstens erträglich sei, wenn man es liest.19

In Bezug auf die Handschriften Schleiermachers ist diese Richtlinie aus heutiger Sicht durchaus konsequent (wenngleich unbestimmt bleibt, wie etwa mit Streichungen, Überschreibungen oder späteren Einfügungen umgegangen wird), in Bezug auf die Nachschriften ist sie allerdings überaus fragwürdig. Jonas begründet die unkritische –––––––— 17 Vgl. Birkner 1996 (Anm. 13), S. 311. 18 Vgl. Ludwig Jonas: Vorwort des Herausgebers. In: Friedrich Schleiermachers Sämmtliche Werke, 1. Abteilung. Zur Theologie, 12. Band. Die christliche Sitte. Berlin 1843, S. XIV. 19 Vgl. ebd., XV.

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Behandlung der Nachschriften dadurch, dass der Hörer wiederholte und redundante Elemente in der Rede weit eher toleriere als der Leser im Text, der durch diese Elemente vielmehr den Sinnzusammenhang verliere und irritiert werde. Es geht Jonas somit um einen reduktiven Eingriff in den Nachschriftentext, damit die inhaltlichen Schwerpunkte des Textes – in gewünschter Annäherung an den Wortlaut Schleiermachers – deutlich an den Tag treten. Für die Umsetzung dieser Richtlinie seien von Seiten des Editors „Selbstverleugnung“ und „völlige Hingabe“ an das Objekt nötig, so dass der Inhalt durch seine Beschneidung „nichts Wesentliches“ verliere und ihm auch nichts „Fremdes“ hinzugefügt werde.20 Was hier als editorisches Ethos eines Vorrangs des Objekts gegenüber dem subjektiven Fürwahrhalten auftritt, ist in der Tat aber der Ausschluss einer verbindlichen Richtlinie: Jonas stellt es letztlich jedem einzelnen Bandherausgeber frei, nach eigenem Augenmaß zu entscheiden, was er an einer Kollegnachschrift für wesentlich und unwesentlich hält und wie er dementsprechend das Textmaterial zu kürzen gedenkt. Typisch für die Vorlesungsedition der Sämmtlichen Werke ist zudem ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, das meist über die vorhandenen Textzeugen hinausgehend die inhaltlichen Leitlinien des Kollegs gerafft darlegt und für den Leser eine differenzierte Orientierungshilfe darstellte. Auf Sachkommentare und Register wurde weitestgehend verzichtet. Die Vorlesungsedition der Ästhetik von 1842 als Beispiel einer unzulänglich restriktiven Textauswahl Zu welcher Art von Vorlesungsedition diese von keinem Herausgeberkreis oder ähnlichen Organen koordinierte Editionspraxis geführt hat, zeigt sich vielleicht am eindrücklichsten an der Edition der Vorlesungen über Ästhetik von Karl Lommatzsch aus dem Jahr 1842.21 Ihm lag mit dem wohl noch vollständigen Kollegheft von 1819, vorbereitenden Notizen und den Marginalien von 1832/33 eine ganze Reihe von Manuskripten Schleiermachers vor. Allerdings entschied sich Lommatzsch dennoch da– für, allein das letzte Kolleg von 1832/33 und dieses fast ausschließlich aufgrund von überlieferten Nachschriften zu edieren. Damit verletzte er nicht nur Jonas’ Richtlinie der Priorisierung der Manuskripte Schleiermachers (auch wenn er einige Auszüge aus dem Grundheft 1819 in Fußnoten wiedergibt), sondern es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass Lommatzsch das Kolleg aufgrund eines Vergleichs der Nach- mit den Handschriften und ihrer inhaltlichen Entsprechung ausgewählt hätte. Vielmehr scheint er das Kriterium der reifsten Ausfertigung angelegt und damit die frühesten Textzeugen als überwundene Stufen der letzten überlieferten Darstellung betrachtet zu haben. Auch der reduktiven Richtlinie von Jonas hat Lommatzsch nicht entsprochen, im Gegenteil: Der aus drei Nachschriften kompilierte Text seiner Edition ist sogar um–––––––— 20 Vgl. ebd., XV. 21 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften. Hg. von Karl Lommatzsch. Berlin 1842 (Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt., 7. Bd.).

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ständlicher und variantenreicher geschrieben als die ausführliche Nachschrift von Alexander Schweizer, die offenbar als Leittext diente. Freilich konnte Lommatzsch 1842 die Richtlinien von Jonas in ihrer gedruckten Form von 1843 noch nicht kennen. Dass er aber nicht einmal das Naheliegende vornimmt, nämlich seiner Nachschriftedition Schleiermachers Marginalien von 1832/33 zugrunde zu legen, zeugt davon, dass er sich vorab überhaupt nicht mit der spezifischen Problematik einer Vorlesungsedition auseinandergesetzt hat und mögliche Folgen seiner Edition nicht antizipierte. Dass die Ästhetik Schleiermachers im Rahmen einer Gesamtausgabe publiziert wurde, kam ihrer langfristigen Verfügbarkeit sicher zugute, ließ aber auch eine Neuausgabe für längere Zeit als unnötig erschienen. Als Bestandteil der 3. Abteilung „Zur Philosophie“ wurde sie den theologischen Schriften und auch den Predigten nachgeordnet, was ihre Sichtbarkeit im philosophischen Feld zusätzlich trübte. Diese Edition war somit lange Zeit das einzige verfügbare Zeugnis von Schleiermachers Ästhetik. Es verwundert angesichts ihrer intransparenten Textgestalt und ihrer relativ späten Veröffentlichung kaum, dass sie im philosophisch-ästhetischen Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts nur selten Beachtung fand. Sie bot mitunter vielmehr Anlass zu polemischer Kritik. So behandelt etwa Eduard von Hartmann in seinem Werk Die deutsche Aesthetik seit Kant (1886) Schleiermachers Ästhetik in der Lommatzsch-Edition zusammen mit Hegels Ästhetik unter der Rubrik „konkreter Idealismus“; er konnte sich dabei nicht enthalten, erstere als einen „formlosen Gedankenbrei, in welchem vieles Triviale, noch mehr Halbwahres und Schiefes und einige gute Bemerkungen durcheinander gerührt sind“, zu bezeichnen.22 Diese Polemik hat ihre Wirkung im philosophischen Diskurs wohl nicht verfehlt, obwohl Hartmann weder die Editionsbedingungen berücksichtigt noch etwa Schleiermachers Akademiereden von 1831–1833 über den „Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben“. Erst im zwanzigsten Jahrhundert folgten zwei weitere Ausgaben der Ästhetik Schleiermachers: eine wissenschaftliche 1931 und eine darauf basierende Studienausgabe 1984.23

2. Die Vorlesungsedition der Kritischen Schleiermacher Gesamtausgabe Nach dem ersten gescheiterten Anlauf, eine neue Gesamtausgabe zum 100. Todesjahr Schleiermachers 1934 auf den Weg zu bringen, gelang es erst nach längeren institutionellen und verlegerischen Bemühungen in den 1960er und 70er Jahren die Kritische Gesamtausgabe (KGA) ins Leben zu rufen. Sie wird seit 1975 an der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle bearbeitet (von 1984 bis 2017 als Vorhaben an der Göttinger Akademie der Wissenschaften) sowie seit 1979 an der Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle (seit 1994 im Rahmen eines Akademienvorhabens an der Berlin–––––––— 22 Vgl. Eduard von Hartmann: Die deutsche Aesthetik seit Kant. In: Eduard von Hartmann’s Ausgewählte Werke. Zweite Ausgabe. Bd. III. Aesthetik. Erster historisch-kritischer Theil. Leipzig 1886, S. 156–157. 23 Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften. Hg. von Rudolf Odebrecht, Berlin 1931; Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984.

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Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). Zur vorbereitenden Kommission, die später zum ersten Herausgeberkreis wurde, gehörten die systematischen Theologen Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling und Hermann Fischer sowie der Philosoph Heinz Kimmerle, hinzu trat ab 1979 der Kirchenhistoriker Kurt-Victor Selge.24 Trotz ihrer Anbindung an die Akademien handelt es sich bei der KGA um keine klassische Akademie-Ausgabe wie etwa im Fall der Kant- oder Leibniz-Ausgabe, sie gründet vielmehr auf einem Vertrag zwischen dem Herausgeberkreis und dem Verlag (de Gruyter, vormals Reimer). Es war von vornherein vorgesehen, einzelne Bände, die nicht in den Akademienvorhaben bearbeitet werden, für anderweitige Bearbeitungsverhältnisse freizugeben, etwa für Sonderforschungsbereiche oder Privatinitiativen, die dann auch hervortraten und durch verschiedene öffentliche Institutionen gefördert wurden bzw. werden.25 Die Einteilung der Kritischen Gesamtausgabe umfasst nunmehr fünf Abteilungen: 1. Schriften und Entwürfe, 2. Vorlesungen, 3. Predigten, 4. Übersetzungen, 5. Briefwechsel und biographische Dokumente. Ersichtlich wird daraus, dass die Gliederung der Sämmtlichen Werke aufgrund der amtlichen Tätigkeiten Schleiermachers in seiner Berliner Zeit durch eine Einteilung ersetzt wurde, die den verschiedenen Gattungen der überlieferten Dokumente Rechnung trägt. Dabei wurden in jeder Abteilung den evtl. zu Lebzeiten gedruckten Schriften die Dokumente aus dem Nachlass bei- bzw. zugeordnet. Für die ersten beiden Abteilungen hat diese Einteilung zur Folge, dass die Disziplinen vermischt auftreten: Theologische und philosophische Schriften werden in der ersten Abteilung, philosophische und theologische Vorlesungen in der zweiten Abteilung, jeweils in chronologischer Reihenfolge herausgegeben. Mit der bereits abgeschlossenen ersten Abteilung sind auch alle überlieferten Jugendschriften und mit der vierten und fünften Abteilung erstmals die Übersetzungen und Briefwechsel in historisch-kritischer Edition zugänglich bzw. in Angriff genommen worden. Freilich birgt auch diese Einteilung Schwierigkeiten der Zuordnung, etwa bei amtlichen Briefwechseln, in denen Schleiermacher nur ein Rundschreiben gegengezeichnet hat und am Einzelfall geklärt werden muss, ob dieser in die fünfte Abteilung aufgenommen wird oder nicht. Die historisch-kritische Vorlesungsedition hebt sich von ihrer Vorgängerin primär dadurch ab, dass sie das Ziel verfolgt, die Manuskripte und Nachschriften aus Schleiermachers wissenschaftlichem Nachlass aktuellen Editionsstandards entsprechend neu zu erschließen, zu bearbeiten und in zuverlässiger und transparenter Form zur Verfügung zu stellen. Die Editionsrichtlinien für die Vorlesungseditionen der Kritischen Gesamtausgabe, die im 8. Band der zweiten Abteilung grundlegend dargelegt werden, unterscheiden sich von denen der Sämmtlichen Werke zum Teil erheblich.26 Die wichtigsten Unterschiede zeigen sich an den folgenden Punkten: –––––––— 24 Vgl. Birkner 1996 (Anm. 13), S. 319–321. 25 Vgl. Arndt 2016 (Anm. 12), S. 158. 26 Vgl. Editorische Grundsätze für die II. Abteilung (Vorlesungen). In: Vorlesungen über die Lehre vom Staat. KGA II/8. Hg. von Walter Jaeschke. Berlin 1998, S. IX–XVI.

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1. Generell gilt, dass die Manuskripte Schleiermachers Priorität gegenüber den Nachschriften haben und alle in ihrer erkennbar letzten Textgestalt ediert und in chronologischer Reihenfolge herausgegeben werden. Dazu tritt ein textkritischer Apparat, in dem alle erkennbaren Ausarbeitungsstufen des Textes wiedergegeben werden, d. h. Streichungen, Überschreibungen, Einfügungen, Randbemerkungen etc. 2. Kollegnachschriften folgen als zweiter Teil und werden ebenfalls chronologisch, möglichst vollständig und in der erkennbar letzten Textgestalt wiedergegeben. Die Darstellung der Textgenese wird weitgehend vernachlässigt und die aufgelösten Abbreviaturen werden durch Kursivsatz gekennzeichnet. Der Regel, dass der Text der Nachschriften gewissen Kriterien der Erträglichkeit zu dienen habe und redundante Elemente oder Passagen getilgt werden sollten, wie in den Sämmtlichen Werken nahegelegt, wird somit nicht gefolgt. 3. Bezüglich der Auswahl der Nachschriften gilt die restriktive Regel, dass nur diejenigen ediert werden sollen, die zum Verständnis der Manuskripte Schleiermachers unerlässlich sind bzw. mögliche Entwicklungen der Konzeption dokumentieren. Wenn mehrere Nachschriften eines Vorlesungsjahrgangs vorhanden sind, wird ein Leittext ermittelt und vollständig ediert, während die zeitlich parallelen Nachschriften in den Variantenapparat aufgenommen werden, wenn sie wichtige inhaltliche Ergänzungen enthalten. 4. Sowohl die Manuskripte Schleiermachers als auch die Nachschriften werden durch einen Sachkommentar umfassend erschlossen. Zudem verfügen alle Vorlesungsbände über Register für Namen, Orte, Werke und gegebenenfalls Bibelstellen sowie über eine ausführliche Bibliographie. 5. Oftmals tritt das Problem auf, dass die Erstherausgeber über eine reichere Quellenbasis verfügten als die Herausgeber der KGA – nicht selten verliert sich die Spur einer Nachschrift gänzlich, nachdem sie für eine Edition in den Sämmtlichen Werken herangezogen wurde. Für die Fälle, in denen als verschollen geltende Nachschriften allein in der Erstedition überliefert sind und diese den unter 3. genannten Kriterien entsprechen, werden sie als Sekundärüberlieferung im Anhang wieder abgedruckt.

Die historisch-kritische Hybrid-Edition der Ästhetikvorlesungen Schleiermachers Seit 2012 wird die Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle im Rahmen des Akademienvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ betrieben.27 Neben dem Briefwechsel Schleiermachers und seinen Tageskalendern werden hier seine Vorlesungen über philosophische Ethik, über Praktische Theologie sowie seit 2016 (als Drittmittelprojekt bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft) auch über Ästhetik (basierend auf Vorarbeiten von Wolfgang Virmond –––––––— 27 Vgl. http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/index.xql (21.9.2018).

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durch den Verfasser) herausgegeben.28 Geplant ist, der Forschung alle edierten Texte aus den drei Bereichen auf der Projektwebsite in zitierfähiger Form als open access zur Verfügung zu stellen. Eine Besonderheit dieses Editionsprojekts liegt in der Ausrichtung auf eine hybride Lösung, die auf einer digitalen Basis fußt: In allen Bereichen werden die Transkriptionen inkl. der textkritischen Anmerkungen, Kommentare etc. von vornherein in TEI-XML-konformer Form verfasst, in einer Projektdatenbank gespeichert und auf einer internen Projektwebsite dargestellt. Die vorstrukturierten Dateien können dann ohne größeren Aufwand von Seiten des Verlags in eine Druckausgabe der Kritischen Gesamtausgabe überführt werden, was für den Briefwechsel und die Vorlesungen vorgesehen ist, bevor sie – nach Ablauf der Sperrfrist von derzeit drei Jahren – als digitale Edition auch auf der externen Projektwebsite freigeschaltet werden können. Die Publikation der Tageskalender Schleiermachers erfolgt hingegen zunächst nur auf der Projektwebsite und ist daher an keine Sperrfrist gebunden. Hergestellt werden die einzelnen Dokumente mittels der digitalen Arbeitsumgebung „ediarum“, die entsprechend den Anfordernissen der SchleiermacherEdition angepasst wurde und laufend weiterentwickelt wird.29 Die einzelnen Texte werden dabei mit einem speziellen Editionsprogramm konstituiert, das über umfangreiche Funktionen der Textaufbereitung und -auszeichnung, der Kommentierung und Registrierung verfügt und aufgrund der editorischen Richtlinien der KGA spezifiziert worden ist. Indem bei der Textkonstitution Personennamen, Orte, Werke und gegebenenfalls auch Bibelstellen ausgezeichnet werden können, wird die spätere digitale Erschließbarkeit durch Such- oder Text-Mining-Funktionen gewährleistet. Zurzeit wird daran gearbeitet, die Konformität aller Projektdateien mit dem DTABasisformat des Deutschen Textarchivs herzustellen und damit die Nachnutzbarkeit und nachhaltige Maschinenlesbarkeit aller Projektdateien zu erreichen.30 Für den Leser bietet die digitale Edition in ihrer Ausführung als dynamische Website im Unterschied zum analogen Buch eine Auswahl verschiedener Leseansichten: Von einem „kritischen Text“ mit Textapparat und Sachkommentar kann auf einen vereinfachten „Lesetext“ umgeschaltet werden. Zudem können alle Texte der drei Projektbereiche (Briefe, Tageskalender, Vorlesungen) sowie die Register der Orte, Namen, Werke und Bibelstellen durch eine übergreifende Suchfunktion erschlossen werden. Die Suchfunktion bietet auch verschiedene Einschränkungsmöglichkeiten wie die Recherche in Überschriften oder in Sachanmerkungen, oder auch die Suche nach Einträgen zu bestimmten Daten (bei den Tageskalendern und Briefen). Eine Recherche nach „Plato“ in den Vorlesungen kann so durch eine Suche in den Briefen und Tageskalendern erweitert werden, wodurch schnell Briefstellen identifiziert –––––––— 28 Von Schleiermachers Ästhetikkolleg 1832/33 in der Nachschrift von Alexander Schweizer ist bereits eine vereinfachte digitale Edition verfügbar: Vgl. https:// schleiermacher-in-berlin. bbaw.de/ vorlesungen/ index.xql? vorlesung=aesthetik (25.9.2018). 29 Vgl. http://www.bbaw.de/telota/software/ediarum (21.9.2018). 30 Vgl. http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ (21.9.2018).

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werden können, in denen Schleiermacher sich mit Briefpartnern wie etwa August Boekh über seine und Friedrich Schlegels Pläne zur Platon-Übersetzung austauscht, oder auch Tagebucheinträge, in denen Schleiermacher die Fortschritte seiner PlatonÜbersetzung festhält. Für den Sachkommentar ergeben sich durch diese Suchfunktionen oftmals wertvolle Anhaltspunkte. Die in Bearbeitung befindliche Ausgabe der Ästhetikvorlesungen wird den editorischen Richtlinien der Kritischen Gesamtausgabe entsprechend zunächst alle überlieferten Manuskripte Schleiermachers bieten, darunter ein vorbereitendes Notizheft, ein fragmentarisches Kollegheft, das insbesondere den Kollegien von 1819 und 1825 zugrunde lag und ausführliche Marginalien zum Kolleg 1832/33 enthält sowie ferner vorbereitende Notizen zu den Akademiereden über den Begriff der Kunst (1831–1833). Als zweiter Teil wird zu jedem Kolleg eine Nachschrift (gegebenenfalls mit Variantenapparat) herausgegeben. Ein spezielles Problem birgt die Edition des Kolleghefts Schleiermachers, das er wohl im Frühjahr 1819 angefangen hatte. Es enthält einen auf 91 Quart-Seiten dicht geschriebenen Text, der auch die einzelnen Kollegstunden angibt, aber mitten im zweiten Teil, im Abschnitt über die Skulptur, aus bislang unbekannten Gründen abbricht. Hier ist die Edition einer Vorlesungsnachschrift aus doppeltem Grund nötig: Zunächst ist Schleiermachers Text für sich nur schwer verständlich, war er doch lediglich die Vorlage für den mündlichen Vortrag, in dem er seine Konzeption frei entwickelte. Zudem fehlen aufgrund des Abbruchs die Erläuterungen zur Skulptur teilweise, die zur Malerei und zur Poesie aber gänzlich. Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass die einzige erhaltene Nachschrift dieses Kollegs eine Sekundärüberlieferung ist, die Odebrecht in seiner Ausgabe der Ästhetik von 1931 wiedergibt: die Nachschrift von Friedrich Bluhme, die inzwischen als Kriegsverlust gilt.31 Rudolf Odebrecht hatte sich in seiner Ästhetik-Edition entschieden, diese Nachschrift ergänzend in den laufenden Text des Kolleghefts von 1819, allerdings in kleinerem Schriftgrad, einzufügen. Dafür musste er den Text des Kolleghefts und den der Nachschrift in einzelne Abschnitte fragmentieren, so dass heute nicht mehr eindeutig ersichtlich ist, inwieweit die wiedergegebenen Abschnitte der Nachschrift zusammenhängen und ob Wörter, Sätze, Abschnitte oder ganze Seiten fehlen. Obwohl Odebrecht die Nachschrift offenbar halbwegs ausführlich wiedergibt (zu jeder Vorlesungsstunde sind zumindest einige Passagen vorhanden), reicht der Teil über die einzelnen Künste auch hier nur bis zur Behandlung der Skulptur. Nach dem Abbruch des Kolleghefts setzt Odebrecht eine anonyme Nachschrift von 1825 ein, die er für ein Autograph Schleiermachers von 1825 hielt; infolgedessen gibt er die Nachschrift Bluhmes nur noch vereinzelt in Fußnoten wieder.32 Die editorische Aufgabe besteht also darin, die Ausschnitte der Nachschrift nacheinander und möglichst in einer Weise wiederzugeben, dass für den Leser deutlich wird: erstens, dass sie möglicher–––––––— 31 Vgl. Odebrecht 1931 (Anm. 23), S. XXXI–XXXII. 32 Vgl. Rezension von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32) (hg. v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984). In: New Athenaeum/Neues Athenaeum 2 (1991), S. 190–196.

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weise nicht zusammenhängen (durch Auslassungszeichen), und zweitens, auf welche Vorlesungsstunde des Grundhefts sie sich beziehen (durch interne Verlinkung). Schleiermachers Ästhetik-Kolleg 1825 sind im Kollegheft von 1819 nur sehr wenige Marginalien sicher zuzuordnen. Bisher sind drei Nachschriften überliefert: eine fragmentarische anonyme (die Odebrecht als Autograph Schleiermachers edierte), eine vollständige vom Prediger Ernst Moritz Heinrich Bindemann sowie neuerdings eine offenbar weitere vollständige des eingangs zitierten Friedrich Trendelenburg. Weil Schleiermacher das Kolleg 1825 offenbar nahezu unverändert abgehalten hat, ergibt sich durch die Edition einer der beiden vollständigen Nachschriften der Vorteil, dass Schleiermachers Kollegheft in verständnisfördernder Weise ergänzt werden kann, d. h. alle einzelnen Künste (Mimik, Musik, Architektur, Skulptur, Malerei, Poesie) werden dargelegt und die sekundäre Überlieferung von 1819 wird in einen überprüfbaren inhaltlichen Zusammenhang gestellt. Welche der beiden Nachschriften von 1825 in den Druckband aufgenommen wird, ist noch nicht endgültig entschieden, weil die Nachschrift Trendelenburg erst kürzlich aufgefunden wurde und noch nicht vollständig transkribiert ist. Dem Kolleg von 1832/33 können umfangreiche, aber sehr knapp formulierte Marginalien im Kollegheft Schleiermachers eindeutig zugeordnet werden, die eine konzeptionelle Umstellung anzeigen; sie werden daher als eigener Teil präsentiert. In diesen Ergänzungen spiegelt sich u. a. die Bestimmung des Selbstbewusstseins wider, die Schleiermacher in seiner Glaubenslehre von 1821/22 vorgenommen hat; außerdem lässt sich eine stärkere ethische Fundierung der Kunstproduktion erkennen (etwa wird der Begriff des „Kunsttriebs“ nicht mehr als allgemeiner Grund der individuellen Kunstproduktion verwendet, sondern der Begriff des „Gesamtbewusstseins“). Für das Kolleg 1832/33 liegen insgesamt drei Nachschriften vor, von denen allerdings nur die von Alexander Schweizer vollständig und ausführlich nachgeschrieben ist. Die geplante Ausgabe wird damit die bisher umfassendste Edition darstellen, in der nicht nur alle überlieferten Handschriften Schleiermachers zur Ästhetik, sondern auch alle verfügbaren Nachschriften in historisch-kritischer Edition veröffentlicht bzw. nachgewiesen werden, darunter auch bisher unveröffentlichtes Material.33

3. Ausblick: Analoge oder digitale Vorlesungsedition? Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es für eine historisch-kritische Vorlesungsedition wie der Schleiermachers, die in analoger Form begonnen wurde und bereits weit fortgeschritten ist, eine Herausforderung darstellt, die editorischen Richtlinien, die neben philologischen und konzeptionellen Gesichtspunkten auch aufgrund der Beschaffenheit, der Möglichkeiten und der Anforderungen der analogen Buchedi–––––––— 33 Ausgenommen sind Schleiermachers Akademiereden über den Begriff der Kunst, die bereits im Rahmen der ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe ediert wurden. Vgl. Schleiermacher: Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben. 1.–3. Abhandlung. In: Akademievorträge. KGA I/11. Hg. von Martin Rössler, Berlin/New York 2002, S. 725–742 u. 770–793.

Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich

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tion formuliert wurden, in das ‚digitale Paradigma‘ zu überführen.34 Die in der technischen Disposition der digitalen Edition liegenden Potenziale sind bekanntlich: 1. die erweiterte Zugänglichkeit der edierten Texte resp. Werke, sofern sie ohne Zugangsbedingungen online angeboten werden können (open access), 2. die erweiterte Erschließbarkeit der edierten Texte (auch gänzlich unterschiedlicher Textsorten), sofern sie durch Volltextsuche oder aufgrund von Metadaten durchsucht und analysiert werden können, 3. die vereinfachte Darstellbarkeit einer Vielzahl von Text- oder auch Bildzeugnissen in ihrer originären überlieferten Gestalt (etwa in Form von digitalisierten Faksimiles), 4. die nachträgliche Korrigierbarkeit etwa von Fehllesungen oder die Ergänzung fehlender Sachkommentare. Vor diesem Hintergrund möchte ich den folgenden, nicht ganz seltenen Fall bedenken, dass bei der Mehrfachüberlieferung von Nachschriften eines Kollegs die eigenhändigen Textzeugen des Dozenten nicht hinreichend ausführlich sind (oder gänzlich fehlen) und die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Nachschrift nicht einfach getroffen werden kann, weil der Vergleich durch eher quantitative Kriterien wie Vollständigkeit, Umfang oder Lesbarkeit nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Hier greift in bewährter Weise die Leittextregelung, die voraussetzt, dass qualitativ ‚bessere‘ von qualitativ ‚schlechteren‘ Nachschriften durch Quellenkritik unterschieden werden können. Für die Auswahl einer Nachschrift für die Edition wäre in diesem Fall somit ein inhaltlicher Vergleich der ähnlichen Nachschriften und damit ein interpretatives Verfahren erforderlich, was besondere Fachkenntnisse verlangt und in der Regel sehr zeitaufwendig ist. Daraus resultiert zunächst die Frage, warum die ähnlichen (sich möglicherweise ergänzenden) Nachschriften nicht zusammen veröffentlicht werden können und daran anschließend die Frage, was mit den ausgesonderten und eventuell für den Variantenapparat verwendeten Nachschriften geschieht, nachdem die Edition vollendet ist? Immerhin können auch die ausgesonderten Nachschriften ein individuelles Zeugnis eines Kollegs darstellen und wichtige Hinweise enthalten, die von den Edierenden aufgrund einer fachspezifischen Perspektive vielleicht nicht wahrgenommen werden. Ein Vorteil der Hybridedition liegt nun darin, dass sie auf der einen Seite eine Vorlesungsedition nach bewährten Qualitätskriterien in Buchform präsentieren, zugleich aber auf der digitalen Seite die Transkriptionen der im Buch nicht enthaltenen, evtl. mehrfach überlieferten Nachschriften ergänzend anbieten kann. Mit dieser erweiterten hybriden Vorlesungsedition könnte dem Problem der Nachschriftenselektion tendenziell begegnet und die Variationsbreite der Überlieferung adäquater abgebildet werden als in einer rein analogen Edition. Die Quellenbasis in dieser Weise auszuweiten, würde auch dem Selbstverständnis historisch-kritischen –––––––— 34 Vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. 3 Bde. Norderstedt 2013 (Bd. 2), S. 148.

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Edierens als geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung nahe kommen, könnte einen bestehenden Kanon von Werken tendenziell erweitern und eventuell auch der möglichen Kritik begegnen, die heute etwa in Bezug auf die Sämmtlichen Werke Schleiermachers geübt wird: Dass die Selektion einzelner Textzeugen eine bestimmte Interpretationsrichtung oder Priorisierung eines Werkes oder Werkteils intendiert. Allerdings sind auch die Herausgebenden einer derartigen Hybridedition der Selektion und der damit einhergehenden Quellenkritik nicht enthoben. Schon der Überlieferungsstand stellt eine Herausforderung dar, mit der umgegangen werden muss (Kriegsverluste, Vernichtung von Manuskripten usw.), ist es doch in einigen Hinsichten kontingent, dass über bestimmte Nachschriften verfügt werden kann und über andere nicht. Zudem müssen einzelne Nachschriften, auch wenn sie verdorben oder nahezu unlesbar sind, einer Quellenkritik unterzogen werden, bevor sie als Zeugnis eines einzelnen Kollegs gelten können. Die kritische und tendenziell interpretative Vorarbeit des Editors ist in dieser Hinsicht unhintergehbar und erfordert einen Balanceakt zwischen quantitativer und qualitativer Kritik, für dessen Resultat es wünschenswert wäre, dass die Regeln der Textzeugenauswahl auch in Hinblick auf die Grenzen dessen, was als das Werk des Autors angesehen wird, den Lesern in transparenter Weise mitgeteilt wird. Es ist inzwischen technisch möglich, dass verschiedene digitale (Vorlesungs-) Editionen über eine digitale Schnittstelle miteinander vernetzt und folglich gruppiert erschlossen werden können.35 Diese Vernetzung, die nicht lediglich dem Interesse an Textminingverfahren und Big Data entgegen käme, böte auch neue Möglichkeiten der Erschließung von Nachschriften, ist es doch keine Seltenheit, dass ein Hörer bei verschiedenen Dozenten unterschiedliche Vorlesungen über mehrere Semester mitschrieb.36 Es wäre damit einfacher Nachschriften desselben Nachschreibers zu identifizieren und miteinander zu vergleichen, um ihre Authentizität oder ihre Detailtreue zu überprüfen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass im Rahmen dieser Recherchemöglichkeiten bislang unbeachtete Quellen auftauchen. Vernetzte Editionen wären zudem als umfangreiches historisches Textkorpus für die ideengeschichtliche Forschung relevant, so etwa für die Konstellationsforschung, die Begriffsgeschichte oder die historische Diskursanalyse, indem sie eine inhaltliche Untersuchung von Sachzusammenhängen erlauben, die über die Grenzen eines Autors, Werks oder einer Disziplin hinausgehen.

–––––––— 35 Im Projekt „CorrespSearch“ ist bereits die digitale Vernetzung der Verzeichnisse von Briefeditionen in Angriff genommen worden. Vgl. https://correspsearch.net/index.xql?l=de (21.9.2018). 36 So etwa Sigismund Stern (1812–1867), der u.a. bei Hegel 1831/32 Geschichte der Philosophie, bei Schleiermacher 1832/33 Ästhetik und 1833/34 Psychologie, bei Henrich Steffens 1832 physische Geographie und 1832/33 Anthropologie mitschrieb.

Die Vorlesungseditionen Schleiermachers im historischen Vergleich

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Abstract The aim of this article is to present a historical comparison of the scholarly editions of Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher’s (1768–1834) lectures, esp. Sämmtliche Werke (1834–1864) and Kritische Gesamtausgabe (since 1980), with a focus on his lectures on Aesthetics. The article answers the following questions: 1. How can Schleiermacher’s lecture practice, method or style be characterized? How did he use notes or notebooks? 2. What difficulties arise when examining the scholarly edition of Schleiermacher’s lectures, considering the distinction between the spoken (lecture) and the written word (transcript)? 3. What kind of rules and/or guidelines are necessary for this kind of ‚lecture-edition’ (Vorlesungsedition) in the Sämmtliche Werke versus the Kritische Gesamtausgabe, and how do they differ? 4. What is the potential of the digital scholarly edition, with regards to the challenges involved in the historical critique of sources?

Annette Sell

„Unsere Aufgabe ist uns die Gegenstände anzueignen“ Zur Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik

Hegels Diktum, dass wir uns die Gegenstände aneignen müssen (Gesammelte Werke (GW) 23,2, 439), richtet sich an die Wissenschaft, d. h. an die Philosophie, die nach ihren Gegenständen fragen muss. Unmittelbar ergibt sich als Antwort auf diese Frage, dass die Wahrheit der Gegenstand der Philosophie sei. Mit diesen Gedanken eröffnet Hegel seine Vorlesungen über „Logik und Metaphysik“. In einem „Vorbegriff“ stellt er zunächst die Aufgabe und die Verfahrensweise der Logik, und das heißt für ihn die Tätigkeit des Denkens dar. Dabei hat es die Wahrheit mit zwei Dingen zu tun: mit den Gegenständen und mit der Tätigkeit des Geistes. Nun muss sich der Geist die Gegenstände zu eigen machen. Dieses Aneignen vollzieht sich im sinnlichen Auffassen des Gegebenen und im geistigen Durchdringen desselben. Diese Reflexionen über das Denken und Anschauen führen Hegel zur Charakterisierung seiner Logik als der „Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstracten Elemente des Denkens“.1 Das Aneignen eines Gegenstandes im Denken wird in der Logik vollzogen. Und die Aneignung ist unsere Aufgabe. Dieser philosophische Gedankengang lässt sich auf die editorische Praxis insofern übertragen, als dass wir uns die Gegenstände, die in Form von Manuskripten erscheinen, auch auf zweifache Weise aneignen müssen. Die sinnliche und geistige Aneignung erfolgt durch das Sichten, Lesen und Transkribieren der Handschrift. Die Kolleghefte zu Hegels Logik sind bzw. waren mein Gegenstand, der sich mir zumeist in Form eines Scans und dann in Form des Originals darbot und den ich mir aneignete. Die Materialität des Kollegheftes ist der Gegenstand der Editorin, den sie anschaut und im editorischen Bericht in seiner Beschaffenheit beschreibt.2 Die Transkription der Handschrift des jeweiligen Nachschreibers ist ein Akt der sinnlichen, aber vornehmlich der geistigen Aneignung. Jeder Buchstabe wird in seiner Eigenheit betrachtet und vor dem Hintergrund der Kenntnis der Hegelschen Logik und der Beachtung der orthographischen und grammatikalischen Bestimmungen transkribiert und zu einem sinnvollen Text gestaltet, wobei die Eigenartigkeit der jeweiligen Nachschrift bewahrt werden soll. Eingriffe in den Text werden lediglich bei Sinnentstellung und offensichtlichen Fehlern vorgenommen und als Apparatnotiz –––––––— 1 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Gesammelte Werke Bd. 20. Unter Mitarbeit v. Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992, S. 61. 2 Zur Bedeutung der Materialität für die Edition vgl. Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. v. Martin Schubert. Berlin/New York 2010 (Beihefte zu editio Bd. 32). In 35 Beiträgen zeigt der Band, wie die materiale Beschaffenheit der zu edierenden Produkte auf unterschiedliche Weise erforscht wird.

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vermerkt.3 So wird der Gegenstand des Kollegheftes durch die editorische Tätigkeit angeeignet und schließlich veröffentlicht. Im Fall der Nachschriften zu den Hegelschen Logikvorlesungen sind sämtliche vorhandenen Kolleghefte in den Gesammelten Werken als Bände 23,1 bis 23,3 publiziert. Nicht auszuschließen ist, dass noch weitere Nachschriften in Archiven, Bibliotheken oder Nachlässen existieren. Sollten also noch andere Kolleghefte aufgefunden werden, so könnten diese in einem Supplementband oder als Digitalisat aufbereitet werden.

1. Die Kolleghefte der Vorlesungsnachschriften zur Logik als editorischer und philosophischer Gegenstand Ich möchte in einem ersten Schritt meine Gegenstände, das heißt die Vorlesungsnachschriften zur Logik, im Einzelnen vorstellen und in einem zweiten Schritt den Nutzen und die Probleme der Edition diskutieren. Die Wissenschaft der Logik ist nicht nur der erste Teil des Hegelschen enzyklopädischen Systems, sondern auch das systematische Kernstück seines gesamten philosophischen Denkens. Hegel hat sich mit keiner Disziplin so intensiv auseinandergesetzt wie mit seiner Logik. Das bekunden die Veröffentlichung seiner Wissenschaft der Logik von 1812 und 1816 und schließlich die zweite Auflage der Seinslogik von 1832. Daneben ist die Logik ein wesentlicher Bestandteil der Enzyklopädie, die in drei Auflagen 1817, 1827 und 1830 erschienen ist und als Grundlage für Hegels Vorlesungen diente. Häufig wird dieser eigentliche Zweck der Hegelschen Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse in der Hegel-Rezeption nicht ausreichend wahrgenommen; deswegen sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei der Enzyklopädie um einen Leitfaden für die Heidelberger und Berliner Vorlesungen handelt.4 Über keine andere Disziplin las Hegel häufiger an der Universität als über die Logik. Einen Großteil der Vorlesungen hielt er in Berlin, wo er von 1819 bis 1831 tätig war. Aber auch in Jena und Heidelberg hat Hegel bereits über die Logik gelesen. Hier kündigte Hegel neun Mal die Vorlesung „logicam et metaphysicam“ und ein Mal im Sommersemester 1806 „logicam“ an.5 Für die Jenaer Zeit ist lediglich die Vorlesung vom Wintersemester 1801/02 durch ein Manuskript für eine Vorlesung belegt. Dieses kurze Manuskript, über das bereits Karl Rosenkranz berichtet, ist im Band 5

–––––––— 3 Die Editionsprinzipien der Gesammelten Werke sind im ersten Band zusammengefasst. Hegel: Frühe Schriften I. Gesammelte Werke Bd. 1. Hg. von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler. Düsseldorf 1989, S. 419–437. Die Editionsprinzipien für die Vorlesungsnachschriften werden im „Vorwort“ des ersten Bandes der sogenannten zweiten Abteilung (ab Band GW 23,1) von Walter Jaeschke formuliert. Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1801/02, 1817, 1823, 1824, 1825 und 1826. Gesammelte Werke Bd. 23,1. Hg. v. Annette Sell. Hamburg 2013, S. V– VIII. 4 Hegel 1992 (Anm. 1), S. 27. 5 Vgl. Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801–1807). Hg. v. Heinz Kimmerle. In: HegelStudien 4 (1967), S. 21–99, bes. 53–56; Klaus Düsing: Hegels Vorlesungen an der Universität Jena. Manuskripte, Nachschriften und Zeugnisse. In: Hegel-Studien 26 (1991), S. 15–24.

Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik

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der Gesammelten Werke abgedruckt.6 Die Vorlesung ist zudem durch die Nachschrift von Ignaz Paul Vital Troxler, die im Band GW 23,1 und in der Edition von Klaus Düsing vorliegt, wiedergegeben.7 Zu dieser Vorlesung hat sich eine Zuhörerliste erhalten, die elf Hörer angibt. Die Vorlesung musste aber abgebrochen werden, da die Zuhörer ausblieben.8 Die Nachschrift von Troxler, der noch in der Vorlesung mit einem Mitstudenten ausharrte, gibt den Inhalt der Vorlesung zusammenfassend wieder.9 Nach der Jenaer Zeit entwickelt Hegel in Bamberg und dann in Nürnberg seine Logik weiter, und er publizierte schließlich die Wissenschaft der Logik, wobei der erste Band mit der Lehre vom Sein 1812, die Lehre vom Wesen 1813 und die Lehre vom Begriff 1816 erschienen sind.10 Nach der Tätigkeit am Nürnberger Gymnasium trat Hegel eine Professur an der Universität Heidelberg an und kündigte dort zwischen dem Wintersemester 1816/17 und dem Sommersemester 1818 einmal die Logik im Sommersemester 1817 unter dem Titel „Logik und Metaphysik“ an. Dabei sollte die Vorlesung „nach Anleitung seiner demnächst erscheinenden Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Heidelberg bei A. Oswald), 6 Stunden wöchentlich von 11–12 Uhr abgehalten werden.“11 Von dieser Vorlesung sind ein Notizblatt aus Hegels eigener Hand sowie die Nachschrift von Franz Anton Good erhalten.12 Die Vorlesung ist in Gesammelte Werke Band 23,1 sowie als Voredition von Karen Gloy in Vorlesungen Band 11 ediert.13 Diese Vorlesung ist wie in der Ankündigung angegeben vor dem Hintergrund der ersten Auflage der Enzyklopädie entstanden. Die Ausgabe der Enzyklopädie war

–––––––— 6 Hegel: Schriften und Entwürfe 1799–1808. Gesammelte Werke Bd. 5. Unter Mitarbeit v. Theodor Ebert hg. v. Manfred Baum u. Kurt Rainer Meist. Verfasser des Anhangs Kurt Rainer Meist. Hamburg 1998, S. 267–275. Der Verfasser des Anhangs zeigt, dass das Manuskript „Dass die Philosophie“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine einleitende Partie der Vorlesung zu „Logik und Metaphysik“ darstellt. Vgl. ebd., S. 659f. 7 Vgl. Hegel 2013 (Anm. 3), S. 1–12 und Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P. V. Troxler. Hg. v. Klaus Düsing. Köln 1988, S. 63–77. Vgl. auch Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Berlin 1844, S. 189ff. Zur Ankündigung der Vorlesungen vgl. ebd., S. 160f. 8 Vgl. die Hörerliste: Kimmerle 1967 (Anm. 5), S. 59. 9 Zu den inhaltlichen Aspekten der Nachschrift vgl. Düsing 1991 (Anm. 5), S. 16ff. 10 Wissenschaft der Logik. Von D. Ge. Wilh. Friedr. Hegel, Professor und Rector am Königl. Bayerischen Gymnasium zu Nürnberg. Erster Band. Die objective Logik. Nürnberg, bey Johann Leonhard Schrag 1812. Dass., Erster Band. Die objective Logik. Zweytes Buch. Die Lehre vom Wesen. Nürnberg, bey Johann Leonhard Schrag 1813. Dass., Zweiter Band. Die subjective Logik oder Lehre vom Begriff. Nürnberg, bey Johann Leonhard Schrag 1816. 11 Briefe von und an Hegel Bd. 4,1. Hg. v. Friedhelm Nicolin. Hamburg 1977, S. 111; vgl. auch S. 327f. 12 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Gesammelte Werke Bd. 13. Unter Mitarbeit v. Hans-Christian Lucas u. Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Klaus Grotsch. Hamburg 2001, S. 545f. Vgl. Klaus Düsing/Heinz Kimmerle: Ein Blatt aus Hegels Heidelberger Zeit. Aus der Einleitung der Logik-Vorlesung von 1817. In: Hegel-Studien 6 (1971), S. 39–51. 13 Hegel 2013 (Anm. 3), S. 13–154, sowie Hegel: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von F. A. Good. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 11. Hg. v. Karen Gloy, unter Mitarbeit v. Manuel Bachmann, Reinhard Heckmann u. Rainer Lambrecht. Hamburg 1992, S. 11.

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zu Beginn der Vorlesung, d. h. am 28./30. April,14 noch nicht erschienen. Es kann dabei angenommen werden, dass den Studenten Druckbogen der Encyklopädie vorlagen.15 Was den Inhalt der Vorlesung betrifft, so kommentiert Hegel nicht ausschließlich die Paragraphen des Kompendiums, sondern geht – wie in den anderen Vorlesungen auch – inhaltlich über dieses hinaus und weicht sogar häufig von der Enzyklopädie ab. Dass vor allem der „Vorbegriff“ einen größeren Umfang als in der gedruckten Enzyklopädie einnimmt, ist nicht nur in Bezug auf diese Vorlesung aus dem Sommersemester 1817, sondern auch hinsichtlich der Berliner Vorlesungen festzustellen, wie unten noch zu zeigen sein wird. Nach seiner Berufung an die Berliner Universität im Jahre 1818 hält Hegel vom Sommersemester 1819 bis zu seinem Tod 1831 Vorlesungen über die Logik. Somit fällt der Großteil von Hegels Vorlesungstätigkeit in die Berliner Zeit. Hegel kündigt in jedem Sommersemester eine Vorlesung über „Logik und Metaphysik“ an. Den Vorlesungsankündigungen ist zu entnehmen, dass alle Vorlesungen (bis auf die vierstündigen Vorlesungen des Sommersemesters 1822 und 1830) fünfstündig gehalten wurden. Die Hörerzahlen bewegten sich zwischen 56 und 138 Hörern. Man sieht an diesen Zahlen schon die Beliebtheit, die Hegels Vorlesungen unter den Studenten hatte. Es musste jedenfalls keine Vorlesung mehr wegen des Mangels an Zuhörern, wie noch in Jena, ausfallen. Die früheste erhaltene Logik-Nachschrift der Berliner Zeit ist die Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho, die als Fragment vorliegt und ausschließlich den „Vorbegriff“ umfasst.16 Die Paragraphenzählung entspricht der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817. Für das folgende Sommersemester 1824 liegt eine Nachschrift des Schweizers Jules Correvon vor, die wiederum einen ausführlichen „Vorbegriff“ und lückenhaft die drei Lehren der Logik enthält.17 Die Vorlesungsnachschrift von von Kehler konnte durch die Datumsangaben im Manuskript auf das Sommersemester 1825 datiert werden.18 Sie setzt im Vorbegriff ein und folgt ebenfalls allen drei Lehren der Logik. Eine anonym verfasste Nachschrift ist auf das Sommersemester 1826 zu datieren.19 Sie enthält einen Teil des „Vorbegriffs“. Mit der Nachschrift von Karol Libelt aus dem Sommersemester 1828 liegt die erste Nachschrift vor, die vor dem Hintergrund der Enzyclopädie von 1827 entstanden ist und den „Vorbegriff“ sowie die drei Lehren der Logik umfasst.20 Das im Titel meines Beitrags angegebene Zitat stammt aus dieser Nachschrift von Libelt. Der „Vorbegriff“ ist hier bereits explizit in die „drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ unterteilt.21 Das gilt ebenso für die Nachschrift von Hippolyte Rolin aus dem –––––––— 14 Zur kontroversen Diskussion um die Datierung dieser Vorlesung vgl. Hegel/Gloy 1992 (Anm. 13), S. XXV und Hegel 2001 (Anm. 12), S. 628, Anm. 46, sowie S. 630. 15 Hegel 2001 (Anm. 12), S. 629f. 16 Hegel 2013 (Anm. 3), S. 155–209. 17 Ebd., S. 211–307. 18 Ebd., S. 309–410. 19 Ebd., S. 411–433. 20 Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1828, 1829 und 1831. Gesammelte Werke Bd. 23,2. Hg. v. Annette Sell. Hamburg 2015, S. 437–509. 21 Inhalt und Bedeutung dieser „drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ werden weiter unten erklärt.

Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik

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Sommersemester 1829, die sich auch auf die Enzyclopädie von 1827 bezieht.22 Dem selben Sommersemester 1829 lassen sich auch ein Notizblatt bzw. zwei Notizblätter aus Hegels eigener Hand mit großer Wahrscheinlichkeit zuordnen.23 Diese Notizen beziehen sich ausschließlich auf die einleitenden Passagen zur Logik bzw. auf den „Vorbegriff“. Die dritte Auflage der Enzyclopädie von 1830 ist durch die Nachschrift von Karl Hegel vom Sommersemester 1831 belegt.24 Hierbei handelt es sich um eine sehr ausführliche Nachschrift zur Logik, die zudem Hegels letzte Logikvorlesung dokumentiert. Auch zu dieser Vorlesung liegt ein Notizblatt aus Hegels eigener Hand vor.25 Nicht nur dadurch, dass es sich hierbei um Hegels letzte Vorlesung vor seinem Tod handelt, ist sie besonders hervorzuheben, sondern die Nachschrift wurde außerdem von seinem damals 18jährigen Sohn Karl angefertigt. Hegel hat den Text auch selbst anschauen können und lobte die Verständigkeit seines Sohnes. Das ist die einzige Logik-Nachschrift, die sich im Besitz des Hegel-Archivs in Bochum befindet und mit welcher ich als Editorin dieser Nachschriften arbeiten konnte, ohne für die Manuskriptbeschreibung in eine Bibliothek nach Berlin, Krakau, Gent, Lausanne und Luzern reisen zu müssen, wo sich die anderen Nachschriften der Logik befinden.26 Dass der „Vorbegriff“ in allen vorhandenen Nachschriften – wie oben schon angedeutet – einen großen Umfang einnimmt, ist unter anderem dadurch zu erklären, dass Hegel die Disziplin der Logik den Studenten didaktisch zu vermitteln suchte, wobei der „Vorbegriff“ hierfür besonders geeignet war. Hegel sagt, dass ein derartiger „Vorbegriff“ nötig sei, um zu zeigen, dass sich Gegenstände, die man in der Vorstellung hat und die man für „ganz concret hält“, erst in der „Logik ihre wahrhafte Erledigung erhalten.“27 Hier ist also wieder der Aneignungsprozess der Gegenstände in der Logik und durch die Logik angesprochen. Dieser „Vorbegriff“ besteht nun aus allgemeinen Hinweisen zur Tätigkeit des Denkens und des Nachdenkens und schließlich aus den oben bereits genannten „drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“. Hegel sagt in einem Brief vom 15. August 1826 an Daub, dass diese Stellungen einem zeitgemäßen Interesse entsprechen sollen.28 Leopold von Henning, der Herausgeber der Logik innerhalb der Freundesvereinsausgabe, spricht in seinem Vorwort von einem „Interesse der Popularisirung“, das Hegel im Hinblick auf den

–––––––— 22 Hegel 2015 (Anm. 20), S. 511–648. 23 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Gesammelte Werke Bd. 19. Hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Hans-Christian Lucas. Hamburg 1989, S. 419–428. Sowohl die Datumsangaben dieser Notizblätter als auch wörtliche Übereinstimmungen mit der Nachschrift von Hippolyte Rolin lassen darauf schließen, dass Hegel diese Notizblätter für seine Vorlesung vom Sommersemester 1829 benutzt hat. 24 Hegel 2015 (Anm. 20), S. 649–808. 25 Hegel 1989 (Anm. 23), S. 432ff. 26 Vgl. hierzu die Manuskriptbeschreibungen im Editorischen Bericht des dritten Bandes der Logiknachschriften. Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik. Sekundäre Überlieferung und Anhang. Gesammelte Werke Bd. 23,3. Hg. v. Annette Sell, Anm. u. Verzeichnisse v. Walter Jaeschke. Hamburg 2017, S. 973–1028. 27 Hegel 1992 (Anm. 1), S. 69. 28 Briefe von und an Hegel Bd. 3 1823–1831. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1954, S. 126.

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„Vorbegriff“ hatte.29 Dabei stellt auch er fest, dass Hegel in seinen Vorlesungen über die Logik, „ohne Zweifel planmäßig, die spätern Abschnitte immer viel kürzer zu behandeln pflegte, als die früheren“.30 Dementsprechend bezieht sich auch ein Großteil der Erläuterungen in den Vorlesungen bzw. der Zusätze auf den „Vorbegriff“. Mit den historischen Figuren der alten Metaphysik als erste Stellung, der kritischen Philosophie und dem Empirismus als zweite Stellung sowie dem unmittelbaren Wissen als dritte Stellung, hinter der sich das Denken Jacobis verbirgt, führt Hegel zu seiner Logik hin. Diese drei Auffassungen stellt Hegel unter den Titel „der drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“. Dabei illustriert Hegel an diesen philosophiehistorischen Positionen das Verhältnis zur Objektivität. Wo die alte Metaphysik noch einen unmittelbaren, unbefangenen Zugang zur Objektivität hatte und Subjekt und Objekt noch ungetrennt waren, werden beide Bereiche im Empirismus und in der kritischen Philosophie Kants getrennt. Eine unüberbrückbare Kluft entsteht zwischen Subjektivität und Objektivität. Erst bei Jacobi wird diese Kluft im unmittelbaren Wissen wieder geschlossen. Vor dem Hintergrund dieser Positionen kann mit der Logik begonnen werden und schließlich auch die Unzulänglichkeit eines unmittelbaren Wissens erwiesen werden. Das Denken oder in diesem Falle die Studierenden sind nun vorbereitet, mit der Logik und das heißt mit dem Sein zu beginnen.31

2. Die Kolleghefte der Vorlesungsnachschriften zur Logik. Ihr Nutzen und ihre Problematik Ich möchte nun in einem zweiten Schritt nach der Aufgabe sowie nach den Problemen bei der Edition der Kolleghefte fragen. Wird der philosophische Nutzen dieser Vorlesungsnachschriften, die als Kolleghefte überliefert sind, geprüft, so lassen sich neben der Tatsache, dass es sich um bedeutende historische Dokumente zur Wirksamkeit eines herausragenden Denkers handelt, folgende Beobachtungen anführen: Die oben herausgestellte immense Bedeutung des „Vorgriffs“ gibt eine interessante Sicht auf die Hegelsche Logik frei, die eben nicht nur aus dem triadischen Gerüst von Seins-, Wesens- und Begriffslogik besteht, sondern auf die Hegel – wie oben gezeigt – didaktisch hinführen musste. Ohne die Edition der Kolleghefte wäre diese Bedeutung des „Vorbegriffs“ überhaupt nicht zu erkennen. Einen eigenen neuen Interpretationsansatz habe ich 2016 in einem Vortrag beim Kongress der Internationalen HegelGesellschaft in Bochum zu entwickeln versucht. Unter dem Titel Der Mensch im Vorbegriff habe ich gezeigt, welche systematische Bedeutung der Mensch bzw. der –––––––— 29 Hegel’s Werke. Sechster Band. Hegel’s Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Theil. Die Logik. Hg. v. Leopold von Henning. Berlin 1840, S. VI. 30 Ebd., S. VII. 31 Zur Interpretation der einzelnen Stellungen des Gedankens zur Objektivität sowie zur systematischen Bestimmung dieses Hegelschen Textes vergleiche folgenden Band: Hegel: Der „Vorbegriff“ zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopädie von 1830. Interpretationen und Quellen Bd. 2. Hg. v. Alfred Denker, Annette Sell u. Holger Zaborowski. Freiburg 2010.

Edition der Vorlesungsnachschriften zu Hegels Logik

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Begriff des Menschen im „Vorbegriff“ hat.32 Der Mensch wird im Vorbegriff als denkender, handelnder, fühlender und natürlicher dargestellt, so dass es nicht übertrieben scheint, von anthropologischen Momenten im Hinblick auf die Logik zu sprechen. „Der Mensch im ,Vorbegriff‘ ist der Durchgang zum Denken der Logik“ lautet meine These. Es lassen sich mit den drei Bänden der Vorlesungsnachschriften sicherlich noch viele andere neuartige Thesen zu Hegels Wissenschaft der Logik entwickeln. Die Wirkungsgeschichte der Hegelschen Logik kann sich anhand der Vorlesungsnachschriften nun neu entfalten. Fragt man nach den Problemen, die sich mit der Edition der Kolleghefte stellen, so ist sicherlich das Problem der Authentizität zu nennen.33 Da aus Hegels eigener Hand, bis auf die oben erwähnten Notizzettel keine umfassenden Manuskripte für Vorlesungen erhalten sind, ist den Nachschriften eine besondere Bedeutung zuzusprechen. Vornehmliches Ziel der Edition ist es, die Hegelsche Vorlesung und nicht die Gedanken eines Nachschreibers zu edieren. Inwiefern ist in den Vorlesungsnachschriften aber die Hegelsche Logik authentisch wiedergegeben? Oder handelt es sich hier eher um die Interpretation des jeweiligen Nachschreibers? Der Begriff Nachschrift ist eine Art Oberbegriff oder auch Kunstbegriff, der dahingehend modifiziert werden kann, dass quellenkritisch geprüft wird, ob eine Mitschrift oder eine häusliche Reinschrift vorliegt. Letztere, also die Reinschrift, liegt in den meisten Fällen vor. Ich konnte aber bei einer mir vorliegenden Nachschrift mit großer Sicherheit feststellen, dass es sich um eine Mitschrift handelt. Die Vorlesung von von Kehler aus dem Sommersemester 1825 zeigt eine schnelle und bisweilen unsaubere, flüchtige Handschrift. Zudem weisen sehr viele Abkürzungen sowie das gesamte Schriftbild auf eine unmittelbare Mitschrift hin. Zumeist wurde aber das in der Vorlesung Mitgeschriebene später überarbeitet, wobei nicht nur die eigene Mitschrift, sondern auch Mitschriften von Mitstudenten für die Reinschrift verwendet wurden. Dass die Studenten „voneinander abgeschrieben“ haben, zeigt sich durch deckungsgleiche Textpassagen der Nachschriften eines Jahrgangs von verschiedenen Nachschreibern. Gibt es von einem Kolleg also mehrere Nachschriften, so muss nach Übereinstimmungen und nach Abweichungen gesucht werden. Außerdem wird ein sogenannter Leittext ermittelt, dem in einem Variantenapparat die Abweichungen zugeordnet werden. Der Leittext wird anhand von Kriterien der Qualität der Nachschrift vom Editor bzw. von der Editorin ermittelt. Die Qualität bezieht sich auf Vollständigkeit und sprachliche und gedankliche Beschaffenheit. Im Hinblick auf die Vorlesungsnachschriften zur Logik stellt sich dieses Problem aber nicht, da zu jedem Kolleg jeweils nur eine Nachschrift existiert. So kann die Authentizität auch nicht durch einen Textvergleich geprüft werden. Doch zeigen sich sämtliche in GW 23,1/2 publizierten Nachschriften als qualitativ hochwertige Zeugnisse, die die Hegelsche enzyklopädische Logik wiedergeben. Die Nachschreiber, deren Biographien im –––––––— 32 Annette Sell: Der Mensch im Vorbegriff. In: Hegel-Jahrbuch (2018), S. 150–154. 33 Vgl. Annette Sell: Das Problem der Authentizität der Vorlesungsnachschriften zu Logik und Metaphysik. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Hg. v. Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio Bd. 21), S. 257–264.

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Editorischen Bericht kurz dargestellt werden, haben verlässlich und verständig die Hegelsche Vorlesung in ihren Kollegheften niedergeschrieben. Zu diesem Urteil komme ich nach inhaltlicher Prüfung der gedanklichen Plausibilität sowie der Angemessenheit in Bezug auf die Paragraphen des Kompendiums der Enzyklopädie, die als Grundlage für die Vorlesungen diente. Dass hierbei kein hundertprozentiger Nachweis der Authentizität der Hegelschen Vorlesung über die Nachschriften gelingen kann, steht außer Frage. Doch jenseits dieses philologischen Problems steht ebenfalls die philosophische Bedeutung dieser Vorlesungsnachschriften, die zu sämtlichen Disziplinen vorliegen und in nicht allzu ferner Zeit (hoffentlich) vollständig ediert sein werden, außer Frage. Vor allem die Disziplinen, die nicht in einem systematischen Werk ausgearbeitet sind, fußen ausschließlich auf den Vorlesungsnachschriften: das sind die Ästhetik, die Naturphilosophie, die Philosophie der Weltgeschichte, die Religionsphilosophie und die Geschichte der Philosophie. Hegels Ruhm und seine Wirkung sind also besonders auf seine Vorlesungen, die er von 1816 bis 1818 in Heidelberg und von 1818 bis zu seinem Tode 1831 in Berlin gehalten hat, zurückzuführen. Sein enzyklopädisches System entwickelte sich in Vorlesungen. Dieser Tatsache wird in der Hegel-Forschung noch nicht gebührend Rechnung getragen. Die häufig schematische und starre Darstellung des Hegelschen Systems basiert in erster Linie auf der Lesart der gedruckten Enzyklopädie. In den Vorlesungen begegnet ein lebendiger, suchender Hegel, dem es auch um didaktische Vermittlung seiner Gedanken geht. Trotz der genannten Probleme der Kolleghefte sind sie also eine unverzichtbare Quelle für das Verständnis der Hegelschen Philosophie. Um den Gedanken vom Beginn meines Beitrags bzw. das Zitat aus der Nachschrift von Karol Libelt wieder aufzunehmen, gilt es in mannigfacher Weise, uns die Gegenstände anzueignen. Ist das Kollegheft der Gegenstand, so eigne ich ihn mir als Editorin durch Transkription und quellenkritische Bearbeitung an, damit er in einem Band publiziert werden und dann von einer Leserschaft als philosophischer Text angeeignet und das heißt verstanden werden bzw. neuerlich philosophisch angeeignet werden kann. Im Fall der Logiknachschriften liegen nun drei Bände vor, so dass sich die Wirkungsgeschichte der Logik weiter entfalten kann. Abstract Hegel says that we have to acquire the objects. In philosophy, we acquire objects by thinking. The method of such appropriation is developed in Hegel’s Science of Logic. Now, this philosophical thought can also be transferred to the editorial practice. We acquire objects that appear in the form of manuscripts or college booklets, sensual and spiritual. We read, transcribe and describe the handwriting. The college booklets on Hegel’s lectures on logic, which were made by the students, are my subject. Ten college booklets on Hegelian logic have been preserved. They form the subject of the edition of the Hegelian Collected Works volume 23.1 to 3. This edition of the lecture manuscripts shows new aspects of Hegel’s Science of Logic and thus opens up a new interpretation of this important philosophical work.

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Die Nachschrift zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie (1800/01) Ein Fallbeispiel für die textkritische Auswertung von Vorlesungsnachschriften Die Nachschrift zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie vom Wintersemester 1800/01 stellt in textkritischer Hinsicht einen besonders schwierigen Fall dar. Nicht nur handelt es sich um die einzige bekannte Nachschrift zu dieser Vorlesung, auch andere Textzeugen, etwa zusammenhängende Vorlesungsmanuskripte Schlegels, liegen nicht vor und können entsprechend nicht zum Vergleich herangezogen werden. Hinzu kommt, dass das Manuskript der Nachschrift, das 1927 von dem Prager Germanisten und Romantikexperten Josef Körner entdeckt wurde, heute als verschollen gilt.1 Der Text, dessen anonymer Autor sich bislang nicht ermitteln ließ, liegt daher einzig in der Edition vor, die Körner 1935 publizierte.2 Trotz dieser Schwierigkeiten, die Textgrundlage angemessen einschätzen zu können, ist die Transcendentalphilosophie-Vorlesung Schlegels von herausragender Bedeutung. Sie ist nicht nur die überhaupt erste Vorlesung, die Schlegel gehalten hat, sie stellt auch den ersten und einzigen Versuch dar, sein der Absicht nach unsystematisches Denken der Frühzeit systematisch zusammenzufassen. Insofern ist die Vorlesung einzigartig innerhalb des Schlegelschen Frühwerks und beansprucht selbst im großen Rahmen der frühromantischen Bewegung eine Sonderstellung. Hinzu kommt, dass die Transcendentalphilosophie-Vorlesung inhaltlich eine Scharnierstellung zwischen Schlegels Früh- und Spätwerk einnimmt. In ihr resümiert er sein frühes Denken, kommt aber auch zu neuen Überzeugungen, die für die weitere Denkentwicklung wichtig werden. Als solche ist Schlegels Vorlesung schließlich als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie zu be-

–––––––— 1 Zur Fundgeschichte des Manuskripts vgl. Friedrich Schlegel: Neue philosophische Schriften. Erstmals in Druck gelegt, erläutert und mit einer Einleitung in Fr. Schlegels philosophischen Entwicklungsgang versehen v. Josef Körner. Mit einer Faksimilereproduktion von Schlegels Habilitationsgesuch an die Universität Jena. Frankfurt/M. 1935, S. 47ff. (im Folgenden als NPS zitiert). Die Angabe Jean-Jacques Anstetts, der zufolge Körner das Manuskript nach der Publikation an die Universitäts-Bibliothek Bonn gegeben habe, ist falsch (vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u. a. Paderborn u. a. 1958ff. Im Folgenden als KFSA zitiert: KFSA 12, XXI). 2 Auch die beiden Folgeeditionen der Nachschrift (KFSA 12, 1–105 und: Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie. Eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von Michael Elsässer. Hamburg 1991) sowie deren französische Teilübersetzung (Symphilosophie. F. Schlegel à Iéna, avec la traduction de la Philosophie transcendantale (Introduction – Philosophie de la philosophie). Hg. von Denis Thouard. Paris 2002, S. 169–192) greifen auf die Edition Körners zurück bzw. drucken den Text – in Ermangelung der Handschrift – nach.

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trachten.3 Schlegel verhandelt in ihr die grundlegenden Problemstellungen der nachkantischen Debatten und entwickelt, in ständiger Auseinandersetzung mit Kant, Fichte, Platon und Spinoza eine Position, die in auffallender Nähe zu Schelling steht und auch den jungen Hegel, der ein Hörer Schlegels war, beeinflusst. Obwohl die Nachschrift also in mehrfacher Hinsicht von Interesse ist, haben die schwierige textkritische Ausgangslage und der mitunter kryptische Text dazu geführt, ihren Wert in der Forschung gemeinhin herabzusetzen. Manfred Frank etwa spricht von „einer schlechten studentischen Nachschrift“,4 Bernd Auerochs hält sie für „des öfteren unzuverlässig“5 und selbst Ernst Behler, der sich mehrfach um die Kontextualisierung der Vorlesung bemüht hat,6 bewertet sie als „arg verstümmelt“, „miserab[el]“ und „dürre“.7 Dabei bleibt allerdings zu beachten, dass keines dieser negativen Urteile näher begründet bzw. wissenschaftlich fundiert worden ist. Eine ausführliche textkritische Untersuchung der Nachschrift fehlt 85 Jahre nach ihrer Erstpublikation ebenso wie eine eingehende Kommentierung des Textes.8 Dieser Umstand hat der Popularität des Textes jedoch keinen Abbruch getan. Zahlreiche Autoren, auch die genannten, ziehen den Text der Nachschrift heran – nicht selten ohne darauf zu verweisen, dass es sich dabei keineswegs um einen von Schlegel selbst bearbeiteten und autorisierten Text handelt. Ein verlässliches Urteil über die tatsächliche Bedeutung der Nachschrift steht also nach wie vor aus. Im Folgenden soll ihr Wert daher so genau wie möglich bestimmt werden. Leitend sind dabei vor allem die zentralen Fragen der Textkritik. Abgesehen von dem Interesse, das der Beitrag in Bezug auf die speziellen Fragestellungen der Schlegel-Forschung verfolgt, geht es zudem auch um das generelle Problem, inwieweit sich Inhalt und Kontext einer Vorlesung anhand erhaltener Mit- bzw. Nachschriften überhaupt rekonstruieren lassen.

–––––––— 3 Vgl. Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012, S. 237–244. 4 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989, S. 293. Ähnlich ders.: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt/M. 1997, S. 873. 5 Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 387, Anm. 75. 6 Vgl. Ernst Behler: Friedrich Schlegels Vorlesungen über Transcendentalphilosophie 1800–1801. In: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799– 1807). Hg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1993, S. 52–71. 7 Ernst Behler: Der Stand der Friedrich Schlegel Forschung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1 (1957), S. 253–289, hier: 257; sowie ders.: Friedrich Schlegel und Hegel. In: HegelStudien 2 (1963), S. 203–250, hier: 238 u. 240. 8 Michael Elsässer bemühte sich zwar um eine ausführliche Kommentierung der Nachschrift, konnte die Arbeit daran aber nicht mehr beenden. Die Edition der Nachschrift, die Werner Beierwaltes schließlich auf der Grundlage von Elsässers Vorarbeiten herausgab, enthält in textkritischer Hinsicht nichts Neues (vgl. Anm. 2).

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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1. Charakterisierung der Nachschrift In der Regel wird mit der Beschäftigung mit Mit- bzw. Nachschriften der Wunsch verbunden, die konkrete Vorlesungssituation, die der Nachschrift zugrunde liegt, soweit als möglich zu rekonstruieren. Das Interesse richtet sich also meist weniger auf die Nachschrift selbst als vielmehr auf das, was der Redner tatsächlich vortrug, oder, wie Walter Jaeschke es nennt, den „ideale[n] Text“.9 Zugleich ist klar, dass sich dieser ‚ideale Text‘, der sich keineswegs bloß auf sprachliche Mitteilungen beschränkt, sondern auch die vielfältigen Ebenen nonverbaler (Mimik und Gestik) bzw. vokaler (Tempo, Tonfall, Lautstärke, Rhythmik und Pausen) Kommunikation mit einbezieht, in seiner konkreten Verfasstheit niemals restlos rekonstruieren lassen wird. Denn nicht nur sind der Fixierung einer vielschichtigen Kommunikationssituation von vornherein Grenzen gesetzt; die Nachschrift ist auch als das Ergebnis eines mehrstufigen Vermittlung-, Übersetzungs- und Interpretationsprozesses zu verstehen, das nur noch bedingt mit dem zu tun hat, was eigentlich dokumentiert werden soll.10 Insofern kommt der schreibenden Instanz eine Schlüsselstellung zu. Sie ist es, die durch ihre spezifischen Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten – bewusst oder unbewusst – dasjenige auswählt, fixiert und damit interpretiert, was später als schriftliche Ausformulierung der ursprünglichen Rede des Vortragenden gelten soll.11 Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Autor der Nachschrift, seinen Befähigungen und Intentionen sowie seinem sozialen, ökonomischen und geistigen Hintergrund ist daher, falls möglich, unerlässlich. Darüber hinaus sollten, Hinweise zum Schreibprozess und dem Realkontext der Vorlesung gesammelt werden. Dabei sind die äußeren Bedingungen des Vortrags genauso wichtig wie der Grad der Nachbearbeitung des Manuskripts. Allgemein lässt sich festhalten, dass der Grad der Authentizität einer Mitschrift in genau jenem Maße sinkt, wie sie bearbeitet, d. h. ausformuliert, korrigiert und ergänzt wird. Folglich lässt sich die Vorlesungsmitschrift, die als direkte Verschriftlichung des Gehörten verstanden werden kann, von der mehr oder weniger bearbeiteten Vorlesungsnachschrift unterscheiden.12 Um ein Manuskript in Bezug auf die genannten Punkte zu charakterisieren, sieht sich die Textkritik – abgesehen von –––––––— 9 Walter Jaeschke: Gesprochenes und durch schriftliche Überlieferung gebrochenes Wort. Zur Methodik der Vorlesungsedition. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 157–168, hier: 161. 10 Entsprechend sind Mit- bzw. Nachschriften in den allermeisten Fällen nicht durch den Vortragenden autorisiert, d. h. der Redner hat sie selbst nicht hergestellt, geprüft oder für gut befunden. Ausnahmefälle bestätigen allerdings auch in diesem Falle die Regel. So hat beispielsweise Hegel Nachschriften seiner Studenten zur Grundlage späterer Wiederholungen der Vorlesungen genutzt (vgl. Matthias Janssen: „Ueber Collegien und Collegienhefte.“ Anmerkungen zur Textsorte Vorlesungsmitschrift. In: Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke, Elke Senne (Hg.): Schrift – Text – Edition. Tübingen: Niemeyer 2003 (Beihefte zu editio Bd. 19), S. 53–63, hier: 58). 11 Aus diesen spezifischen Interessen des Hörers entstehen die vielfältigen Formen der Mit- bzw. Nachschriften, die um 1800 üblich waren. Vgl. dazu die differenzierte Typologie in: Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte. Oder erprobte Anleitung zum zweckmäßigsten Hören und Nachschreiben sowohl der Academischen als der höheren Gymnasial-Vorlesungen. Bonn 1826. 12 Vgl. Jaeschke 1991 (Anm. 9), S. 162f.

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Hinweisen aus anderen Quellen – vor allem auf das Manuskript selbst verwiesen. Eine intensive Untersuchung der Handschrift, deren Provenienz und etwaiger Besonderheiten ist unumgänglich. Wie bereits zu Beginn dieses Beitrags angedeutet wurde, sind die Voraussetzungen für eine textkritische Untersuchung im Falle der Nachschrift zu Schlegels Transcendentalphilosophie-Vorlesung denkbar ungünstig. Sowohl die Urheberschaft wie auch die Provenienz und der Verbleib des Manuskripts liegen im Dunkeln. Hinzu kommt, dass keine weiteren Mitschriften bekannt sind und sich nur in einem sehr geringen Maße schriftliche Aufzeichnungen Schlegels erhalten haben, die dem Kontext der Vorlesung zuzuordnen sind.13 Um den Charakter der Nachschrift zu bestimmen, ist man daher beinahe ausschließlich auf das Manuskript selbst bzw. – in Ermangelung der Handschrift – auf Körners Edition von 1935 angewiesen.14 Unzweifelhaft sind zunächst die Datierung und Zuordnung der Nachschrift. Sie dokumentiert, wie eine Notiz auf dem Titel der Handschrift deutlich macht, die „Vorlesungen des HE. Dr: Fr. Schlegel“, die am „27 Octobr“ 1800 in Jena begannen (NPS, 293). Sicher scheint zudem, dass es sich bei dem Manuskript um eine Rein- bzw. Nachschrift handelt. Darauf verweist – Körner zufolge – „außer Zweifel“ die „kalligraphische Skriptur“ und die saubere, planmäßige Anlage der Handschrift (NPS, 48). Dennoch muss das nicht bedeuten, dass die ursprüngliche Mitschrift des Vortrags erheblich verändert oder bearbeitet wurde. Abgesehen von gelegentlich vorkommenden Marginalien, die auf einen ca. 4 cm breiten Rand der Handschrift eingetragen wurden und eventuell spätere Ergänzungen darstellen, gibt es keine Hinweise auf größere nachträgliche Eingriffe (vgl. NPS, 49). Trotz der im Ganzen sauberen Ausfertigung enthält die Nachschrift sogar verschiedene Hör-, Verständnis- und Schreibfehler, die ebenfalls darauf hinweisen könnten, dass sie nicht nachträglich korrigiert bzw. bearbeitet wurde (vgl. NPS, 48).15 Diese Fehler und die z. T. abenteuerlichen „Vergehen gegen die Rechtschreibung“ haben Körner zu der Annahme veranlasst, dass der Schreiber der Nachschrift nicht mit dem Hörer der Vorlesung identisch sei. Er vermutet einen fachfremden, mit dem Gegenstand der Vorlesung wenig vertrauten Schreiber, der die Reinschrift auf Grundlage der originalen Mitschrift des Hörers anfertigte und dabei wahrscheinlich „nicht verstand, was er zu Papier brachte“ (NPS, 48).16 Zwischen dem Vortrag Schlegels und der Entstehung der Nachschrift liegen –––––––— 13 Die „Manuskripte zu den Jenaischen Vorlesungen über Idealismus“, die Behler auf Grundlage des Briefwechsels zwischen Dorothea Veit und Windischmann vermutete (Behler 1957 (Anm. 7), S. 259), sind vermutlich mit Schlegels Notizheften identisch. Auch das von Schlegel geplante Kompendium ist nicht erschienen. 14 Der Realkontext der Schlegelschen Vorlesung wurde – soweit er sich rekonstruieren lässt – dargestellt in: Johannes Korngiebel: Die Vorlesung als Medium der Kritik. Zu Friedrich Schlegels Jenaer Transcendentalphilosophie (1800/01). In: Athenäum 26 (2016), S. 87–120. 15 So stand etwa „Erdgesetze“ statt „Erbgesetze“ (KFSA 12, 47). Ähnliches gilt für die Stelle, an der „Gespräche über die Religion“ (KFSA 12, 64) genannt werden, wobei zweifellos an Schleiermachers Reden gedacht ist, sowie Kants „Grundlehre der Metaphysik der Sitten“ (KFSA 12, 72), die freilich Grundlegung heißen muss. 16 Dass um 1800 durchaus Diener oder Studenten zum Kopieren größerer Texte herangezogen wurden, geht u. a. aus einem Brief Dorothea Veits hervor, in dem sie unter dem Datum des 4. Juli 1800 an Friedrich Schleiermacher schreibt: „Den Florentin sollen Sie auch haben, es ist schwer einen Abschreiber zu

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also wohl mindestens zwei ‚Transformationsprozesse‘: Der erste betrifft die Überführung des mündlichen Vortrags in die Mitschrift und wurde von dem unbekannten Hörer vorgenommen, der zweite besteht in der Übertragung der Mitschrift in die Nachschrift und ging vermutlich kaum mit inhaltlichen Änderungen einher.17 Das lenkt den Blick auf den generellen Charakter der Nachschrift. Sie ist in fünf Teile geliedert: eine ausführliche Einleitung, einen Übergangsabschnitt mit dem Titel Nähere Entwicklung des Systems, zwei systematische Haupteile, Theorie der Welt und Theorie des Menschen, sowie einen abschließenden Abschnitt über die Philosophie der Philosophie. Neben dem unterschiedlichen Umfang dieser Abschnitte fallen vor allem die verschiedenen Qualitäten der mitgeschriebenen Texte ins Auge. Während in einigen Abschnitten die Hauptgedanken der jeweiligen Vorlesungssitzung lediglich stichwortartig zusammengefasst werden, geben andere den Gedankengang in aller Ausführlichkeit und offenbar wörtlich wieder. Entsprechend enthält die Nachschrift mehrere lange, grammatikalisch zuweilen äußerst komplexe Passagen, wie sie für summarische Vorlesungsmitschriften, die sich eher auf die Hauptaussagen der Rede beschränken, untypisch sind. So ist kaum vorstellbar, dass der Hörer der Mitschrift die folgenden Sätze selbstständig formulierte, um den Gedankengang von Schlegels Vortrag zusammenfassend festzuhalten: Wir philosophiren – dies ist ein Faktum. Wir fangen also an; wir beginnen mit etwas. Es ist dies ein Streben nach einem Wissen von ganz eigner Art, ein Wissen, das sich auf den ganzen Menschen beziehen soll. Also nicht allein auf das Handeln des Menschen; denn das Handeln ist gleichsam nur ein Pol des Menschen – sondern auch auf das Wissen des Menschen. Es wird dies also ein Wissen des Wissens seyn müßen.18

Viel wahrscheinlicher ist, dass solche und ähnliche Passagen eine mehr oder weniger wörtliche Wiedergabe dessen darstellen, was Schlegel tatsächlich vortrug. Darauf deuten auch die gelegentlichen Wiederholungen, die sich in der Nachschrift finden. Sie sind ebenfalls untypisch für eine zusammenfassende Nachschrift und hätten im Rahmen einer späteren Redaktion ausgesondert werden können. Da dies nicht geschehen ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Hörer bzw. Schreiber der Nachschrift ein großes Interesse daran hatte, Schlegels Vortrag zumindest über weite Strecken so genau wie möglich zu fixieren. An dieser Stelle bietet sich auch ein Vergleich mit anderen Vorlesungsmitschriften der Zeit an. Dazu empfehlen sich die beiden Nachschriften, die der Jenaer Student Ignaz Paul Vital Troxler19 von Vorlesungen Hegels und Schellings anfertigte.20 Diese –––––––— finden, ich habe zwar einen recht guten, der kann aber nur schreiben wenn er etwa zwischen den Collegien eine Stunde frey hat, es geht also langsam“ (KFSA 25, 133). 17 Ein dritter Transformationsprozess besteht in der Textkonstitution, die Körner vornahm. Die Eingriffe und Emendationen, die dabei erfolgten (teilweise nachgewiesen in: NPS, 48), lassen sich heute genauso wenig identifizieren wie die prinzipiell möglichen Fehler, die Körner bei der Entzifferung der Handschrift unterlaufen sein mögen. 18 KFSA 12, 3. 19 Troxler hielt sich seit Ende Oktober 1800 zum Studium in Jena auf und absolvierte ein beträchtliches Vorlesungspensum, bei dem er „die meisten“ der damaligen „Götter und Helden“ hörte (zitiert nach: Daniel Furrer: Ignaz Paul Vital Troxler. Der Mann mit Eigenschaften (1780–1866). Zürich 2010, S. 69f.).

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Texte liegen nicht nur zeitlich nahe beieinander – Troxlers Nachschrift zu Schelling bezieht sich vermutlich auf dessen Vorlesung vom Sommersemester 1801, die Nachschrift zu Hegel auf das Kolleg Über Logik und Metaphysik vom Wintersemester 1801/02 –,21 sondern sie gehören auch in das gleiche Fach und beschäftigen sich auf ähnliche Weise mit verwandten Themen und Fragestellungen.22 Zumindest im Falle Hegels ist zudem die spezifische Situation des Dozenten vergleichbar: Wie Schlegel hatte Hegel sich gerade habilitiert und lehrte erstmals als Privatdozent. Die Nachschriften beziehen sich folglich auf die jeweils ersten Vorlesungen zweier Akademiker, für die das Dozieren eine neue, bisher unbekannte Aufgabe darstellte. Vergleicht man die Nachschrift zur Transcendentalphilosophie mit den Texten Troxlers, so ist zunächst festzuhalten, dass es sich auch bei diesen um „relativ saubere zusammenfassende Ausarbeitungen“ handelt, die „nach der Stunde aufgezeichnet“ wurden.23 Zwar weisen Troxlers Nachschriften – anders als diejenige zur Transcendentalphilosophie – teilweise Einteilungen nach Stunden auf,24 alle drei Texte dürften aber mehr oder weniger nachbearbeitet worden sein und müssen daher als Nachschrift gelten. Deutliche Unterschiede ergeben sich hingegen in Bezug auf den Umfang. Umfasste das Manuskript zur Transcendentalphilosophie 264 Seiten, so sind es im Falle der Schelling-Nachschrift Troxlers lediglich 48, im Falle Hegels sogar nur 16. Zwar dürfte dieser Unterschied in erster Linie auf die geringere Anzahl der Vorlesungssitzungen Schellings und Hegels zurückzuführen sein,25 bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass die Nachschrift zur Transcendentalphilosophie ausführlicher mitgeschrieben ist und sich eher am Wortlaut des Dozierenden zu orientieren scheint. Ausführliche wörtliche Wendungen kommen bei Troxler kaum vor, während man allzu summarische Notizen der Art „Noch einiges über seine Methode“, „noch einige Bemerkungen über Philosophieren et cet.“ bzw. „noch einige dialektische Bemerkungen“ in der Nachschrift zur Transcendentalphilosophie vergebens sucht.26 Zumindest im Vergleich mit den Texten Troxlers erscheint die Schlegel-Nachschrift also deutlich ausführlicher und weniger nachbearbeitet. Ihrem Autor ging es offenbar nicht so sehr um die zusammenfassende Fixierung zentraler Aussagen, er versuchte vielmehr, den mitunter verworrenen Gedankengang des Vortragenden nachzuzeichnen und nahm dafür auch Wiederholungen und Umwege in Kauf. Obwohl die Struktur der Nachschrift also mitunter schwerer zu durchdringen

–––––––— 20 Vgl. Klaus Düsing (Hg.): Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P. V. Troxler. Köln 1988, sowie ders.: Hegels Vorlesungen an der Universität Jena. Manuskripte, Nachschriften, Zeugnisse. In: Hegel-Studien 26 (1991), S. 15–24. 21 Vgl. Düsing 1988 (Anm. 20), S. 10ff. 22 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der zweite Teil der Schelling-Nachschrift grundsätzlich anders angelegt ist. Es handelt sich dabei um mündliche Erläuterungen, die Schelling zu den einzelnen Paragraphen seiner Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 gab (vgl. ebd., S. 20f.). 23 Ebd., S. 19 bzw. 14. 24 Das gilt zumindest für den Beginn der Nachschrift zu Schelling: vgl. ebd., S. 27ff. 25 Vgl. ebd., S. 12f. 26 Ebd., S. 31, 42 u. 70.

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ist, dürfte sie den zugrunde liegenden Vortrag deutlich getreuer wiedergeben und insofern authentischer sein als die Nachschriften Troxlers.27 Auf der anderen Seite darf diese Feststellung aber nicht dazu verleiten, in der Nachschrift zur Transcendentalphilosophie eine vollständige Dokumentation dessen zu vermuten, was Schlegel mündlich vortrug. Denn tatsächlich lassen sich auf verschiedene Art und Weise Lücken und Fehlstellen nachweisen. Schon Körner bemerkte, dass sich im Vergleich mit anderen Zeugnissen Differenzen zwischen Schlegels Vortrag und der Nachschrift ergeben (vgl. NPS, 49f.). So beziehe sich Schelling in einem Brief an Fichte auf Inhalte aus Schlegels Vorlesung, die nicht vollständig durch die Nachschrift bestätigt werden könnten.28 Ähnliches gilt für Jakob Friedrich Fries, der als Hörer an Schlegels erster Vorlesung teilnahm und darüber in einem Brief an einen unbekannten Freund schrieb: Jetzt liest auch Friedrich Schlegel Transzendentalphilosophie und hat nicht übel angefangen, die gesunde Vernunft zu ohrfeigen; gestern war er albern genug zu sagen, der Satz des Widerspruchs und des unzureichenden Grundes wären durchaus nicht von allgemeiner Gültigkeit, sie sind nur praktisch, gelten nur in einer gewissen Sphäre; die Philosophie besteht in nichts als einer unendlichen Reihe von Widersprüchen, und das glauben dann eine Menge hiesiger Studenten mit größter Leichtigkeit, als ob sie sich wirklich etwas dabei denken könnten.29

Auch dieser Bericht lässt sich lediglich sinngemäß auf die Nachschrift applizieren.30 Dennoch sind diese Beispiele nur bedingt geeignet, um auf vermeintliche Lücken der Nachschrift zu schließen. Denn die referierten Differenzen scheinen eher durch die summarische und teilweise tendenziöse Berichterstattung verursacht zu sein, die Schelling und Fries, wenn es um Schlegel ging, gleichermaßen pflegten. Auch in diesem Sinne darf die Nachschrift also wohl einen höheren Grad an Authentizität für sich beanspruchen als die zeitgenössischen Berichte nahelegen. Aber noch auf eine andere Art und Weise, die nicht von Körner berücksichtigt wurde, lassen sich Lücken innerhalb der Nachschrift identifizieren. So gibt es eine Reihe von Verweisen, die auf Sachverhalte rekurrieren, die man in der Nachschrift vergebens sucht. Ein Beispiel für eine solche Stelle bietet die Einleitung, in der mit –––––––— 27 Vgl. ebd., S. 19. 28 Vgl. Schellings Brief vom 31. Oktober 1800: „Aus dem Satz: daß Sie [Fichte, J. K.] allein unter allen Neuern die synthetische Methode besitzen, ward nun [in Schlegels Vorlesung, J. K.] der, die synthetische Methode seie bis jetzt kaum versucht, und er (Friedrich Schlegel) werde sie zuerst vollkommen ausführen – in demselben Zusammenhang erklärte er aber, ein System zu wollen wäre Unsinn“ (Hartwig Mayer/Hermann Patsch (Hg.): Friedrich Schlegel im Spiegel seiner Zeitgenossen. Gesammelt und kommentiert von Hans Eichner. 4 Bde. Würzburg 2012, Bd. 1, A449). Vgl. dazu die Nachschrift, in der es heißt: „Es ist hier etwa nicht die Rede von der Einheit eines Systems; denn diese ist nicht absolut. Sobald etwas System ist, so ist es nicht absolut“ (KFSA 12, 5). 29 Mayer/Patsch 2012 (Anm. 28), Bd. 1, A446a. 30 In ihr heißt es: „Die Logik, als Organon zur Wahrheit, bietet uns den Satz des Wiederspruches, und des zureichenden Grundes dar. Wir gewinnen zwar damit nichts für das Materielle der Wahrheit; aber wir müssen uns doch derselben bedienen bey Aussprechen, Ausdruck dessen, was wir durch Philosophiren finden. Aber die Quelle der Wahrheit liegt für uns weit höher, als in diesen Sätzen; indem die Skepsis auch diese Sätze in Anspruch nimmt. Auch für die Form können uns diese Sätze nicht Gnüge leisten, wir müssen etwas höheres suchen“ (KFSA 12, 3).

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den Worten „Ferner fanden wir als Elemente der Methode: Analysis Synthesis Abstrakzion“ (KFSA 12, 19) auf die Ableitung dieser für das Gesamtprojekt zentralen Begriffe verwiesen wird. Die Ableitung selbst ist in der Nachschrift allerdings nicht dokumentiert. Ein ähnliches Beispiel ergibt sich in Bezug auf die Übersicht der „wichtigsten Theile der Einleitung“, die sich als Rückblick im Abschnitt Nähere Entwicklung des Systems findet (KFSA 12, 35). Hier werden acht Lehren aufgelistet, die nur bedingt mit einzelnen Abschnitten der Nachschrift korrespondieren. Abgesehen von diesen einzelnen Lücken lassen sich auch umfangreichere Fehlstellen ausmachen. Ein interessantes Beispiel gibt in dieser Hinsicht wiederum die Einleitung, an deren Ende Schlegel – laut Nachschrift – einen Überblick „Von den Schriften des Spinoza und Fichte“ in Aussicht stellte (KFSA 12, 30f.). Im unmittelbar anschließenden Abschnitt folgen jedoch lediglich Bemerkungen zu Spinoza, während Ausführungen zu Fichte fehlen. Ähnliches gilt für die Theorie der Welt, den zweiten systematischen Abschnitt von Schlegels System, der – im Vergleich zu seinem Gegenstück, der äußerst umfangreichen Theorie des Menschen – verhältnismäßig kurz ausfällt. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass Schlegels Erläuterungen zu diesem Abschnitt weit ausführlicher waren als die Nachschrift suggeriert. Diesen Schluss legen auch einige einzelne Textlücken nahe: So enthält die „Übersicht der Theorie der Welt“ Begriffe, z. B. die der „Assimilazion“ und „Masse“, deren Einführungen in dem entsprechenden Abschnitt nicht nachweisbar sind (KFSA 12, 40f.). Weit schwerer als die Identifizierung dieser Lücken und Fehlstellen fällt ein Urteil über deren Gründe. Streng genommen lässt sich nicht entscheiden, ob sie auf die mangelnde Strukturierung von Schlegels Vorträgen zurückgehen oder durch den Verfasser der Nachschrift verursacht sind. Vermutlich kommen beide Varianten in Betracht. Vorstellbar wäre beispielsweise, dass Schlegel sich während des Semesters nicht immer der gleichen Terminologie bediente, wodurch begriffliche Verschiebungen innerhalb der Nachschrift erklärt werden könnten. Dass ganze Abschnitte von Schlegels Ausführungen fehlen, dürfte hingegen eher auf die persönlichen Interessen oder Nachlässigkeiten des Hörers zurückzuführen sein, der das Kolleg freilich auch nicht durchgängig besucht haben muss. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang die allgemeine Feststellung, dass Mängel der Nachschrift nicht notwendig auch Mängel der Vorlesung sein müssen. Damit wird der Blick auf die generelle Frage nach Umfang und Vollständigkeit der Nachschrift gelenkt. Denn nicht erst der Nachweis einzelner Lücken und Fehlstellen macht deutlich, dass die Nachschrift nicht die Gesamtheit von Schlegels Vorträgen repräsentieren kann. Dieser Eindruck ergibt sich schon aus dem bloßen Umfang des Manuskripts. Bereits Körner hatte festgehalten, dass die 264-seitige Handschrift, von der jede Seite „durchschnittlich 250 Silben“ umfasst, einen „verhältnismäßig geringe[n] Umfang“ aufweist – jedenfalls wenn man bedenkt, dass „Schlegel ein Semester lang täglich las“ (NPS, 49). Tatsächlich lässt sich dieser Befund durch eine genauere Untersuchung zum Umfang der Nachschrift präzisieren: Schlegel hielt seine Vorlesung vom 27. Oktober 1800 bis zum 24. März des Folgejahres und wurde dabei

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Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

lediglich durch die Wochenenden und Weihnachtsferien, die vermutlich am 17. Dezember begannen und bis Anfang Januar reichten, unterbrochen.31 Entsprechend las er etwa 19 Wochen Montag bis Freitag täglich ab 17 Uhr je eine Stunde und kam somit auf insgesamt ca. 95 Sitzungen.32 Der Text der Nachschrift enthält auf den ersten Blick keine Gliederung, auf die sich diese zeitliche Einteilung der Vorlesung beziehen ließe; die einzelnen Sitzungen sind nicht als solche kenntlich gemacht oder gar datiert. Auffallend ist allerdings, dass die Nachschrift durchgehend durch Zwischenüberschriften und einigermaßen regelmäßig platzierte Spiegelstriche unterteilt ist. Auf diese Weise ergeben sich ca. 80, relativ gleichmäßig verteilte Abschnitte, die den Text mehr oder weniger sinnvoll gliedern. Geht man – mit gebotener Vorsicht – davon aus, dass diese Abschnitte zumindest annäherungsweise die Einteilung der einzelnen Stunden wiedergeben, so ergibt sich daraus ein interessanter Befund für die Frage nach Umfang und Vollständigkeit der Nachschrift. Denn in diesem Falle wären 80 der insgesamt 95 Sitzungen (ca. 84%) dokumentiert und nur ca. 15 Stunden (also etwa drei Wochen der Vorlesungszeit) hätten sich nicht in der Nachschrift niedergeschlagen. Die Nachschrift selbst legt nahe, den größten Teil dieser nicht oder nur unvollständig dokumentierten Abschnitte im Bereich der Theorie der Welt zu vermuten. Dafür sprechen nicht nur einige der bereits referierten Beispiele für Lücken und Fehlstellen, auch ein Überblick über den jeweiligen Anteil der einzelnen Abschnitte am Gesamtumfang der Nachschrift deutet in diese Richtung: Einteilung der Nachschrift

Umfang in Seiten

Verhältnis zum Gesamtumfang

Anzahl der Abschnitte

Verhältnis zur Gesamtanzahl

Einleitung

ca. 71

27%

ca. 20

25%

Nähere Entwicklung

ca. 12

5%

ca. 3

4%

Theorie der Welt

ca. 19

7%

ca. 5

6%

Theorie des Menschen

ca. 125

47%

ca. 36

45%

Philosophie der Philosophie

ca. 37

14%

ca. 16

20%

–––––––— 31 Zum Beginn der Weihnachtsferien vgl. Schlegels Brief vom 15. Dezember 1800 an August Wilhelm Schlegel, in dem es heißt: „Morgen lese ich Gott sey Dank zum letztenmale.“ (KFSA 25, 212). Vgl. ferner: Annalen der deutschen Universitäten. Hg. von Karl Wilhelm Justi und Friedrich Samuel Mursinna. Marburg 1798, S. 342. 32 Vgl. dazu: Ulrich Joost: Vorlesungsmanuskript und Vorlesungsnachschrift als editorisches Problem, und etwas von Lichtenbergs Vorlesungen. In: Cardanus 1 (2000), S. 33–70, hier: 34.

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Die vorangestellte Übersicht belegt ein auffallendes Missverhältnis zwischen den beiden systematischen Hauptteilen des Systems: der Theorie der Welt und der Theorie des Menschen. Nimmt Letztere beinahe die Hälfte des Gesamtumfangs der Nachschrift ein, fällt Erstere mit 18 Manuskriptseiten überraschend kurz aus. Insofern liegt der Schluss nahe, dass – während die anderen Teile der Vorlesung, abgesehen von einzelnen Lücken und Fehlstellen, mehr oder weniger vollständig in der Nachschrift dokumentiert sind – der Nachschreiber große Teile von Schlegels Ausführungen zur Theorie der Welt (insgesamt wohl etwa zwei Drittel dieses Teils) nicht mitschrieb. Dieses Ergebnis muss selbstverständlich auch für die inhaltliche Auswertung der Vorlesung berücksichtigt werden. Noch in einer anderen Hinsicht erlaubt diese Übersicht interessante Rückschlüsse. Denn die Einteilung der Abschnitte der Nachschrift lässt sich auch auf den zeitlichen Ablauf der Vorlesung beziehen. Demnach dürfte Schlegel mit der Einleitung seiner Vorlesung etwa vier Wochen, vom Beginn der Vorlesung am 27. Oktober bis kurz vor Ende November 1800, beschäftigt gewesen sein. Daran schlossen sich zwei oder drei Sitzungen an, in denen Schlegel einen Überblick zur Näheren Entwicklung des Systems gab. Die restlichen drei Wochen, von Ende November bis zum Beginn der Weihnachtsferien am 17. Dezember, waren daraufhin vermutlich der Theorie der Welt vorbehalten, die der Nachschreiber allem Anschein nach nicht vollständig festhielt. Im neuen Jahr muss Schlegel dann mit seiner umfangreichen Theorie des Menschen begonnen haben, mit der er sich beinahe zwei Monate bis Ende Februar befasste und die entsprechend den längsten Teil der Nachschrift bildet. Daran schloss sich schließlich der dritte Teil – die Philosophie der Philosophie – an, der von Anfang März bis zum Ende der Vorlesungszeit am 24. März 1801 reichte. Auch diese Ergebnisse ermöglichen wiederum die Klärung weiterführender Sachverhalte. So lässt sich beispielsweise bestimmen, was genau Hegel von Schlegels Vorlesung noch hörte, als er Ende Januar 1801 nach Jena kam und – mitten im Laufe des Semesters – damit begann, Schlegels Vorlesung zu besuchen. Er kann nur noch das letzte Drittel von Schlegels Ausführungen direkt vor Ort verfolgt haben und muss während der Theorie der Menschen dazu gestoßen sein, in der Schlegel Probleme der praktischen Philosophie diskutierte – eine für das Hegelsche Romantik-Verständnis sicher nicht unerhebliche Erfahrung.33

–––––––— 33 Vgl. dazu ausführlicher: Johannes Korngiebel: Schlegel und Hegel in Jena. Zur philosophischen Konstellation zwischen Januar und November 1801. In: Idealismus und Romantik in Jena. Figuren und Konzepte zwischen 1794 und 1807. Hg. von Michael Forster, Johannes Korngiebel und Klaus Vieweg. Paderborn 2018, S. 181–209.

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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2. Die Frage der Authentizität Wie die Nachschrift der Transcendentalphilosophie-Vorlesung Schlegels zuvor noch nirgends näher charakterisiert wurde, so ist auch die Frage nach ihrer Authentizität noch immer weitgehend ungeklärt.34 Unter Authentizität wird in diesem Zusammenhang der Grad der Übereinstimmung verstanden, der zwischen dem geschriebenen Wortlaut der Nachschrift und der gesprochenen Rede des zugrundeliegenden Vortrags besteht.35 Allerdings ist mit dieser Definition sogleich ein grundlegendes Problem verbunden: Denn der tatsächliche Wortlaut des mündlichen Vortrags, der bereits zuvor genannte ‚ideale Text‘, der auf Grundlage der Nachschrift allererst rekonstruiert werden soll, kann freilich nicht den Prüfstein für deren Authentizität abgeben. Um den Grad der Authentizität einer Nachschrift zu bestimmen, ist man folglich in jedem Falle auf weitere Quellen angewiesen, die den ‚idealen Text‘ ebenfalls dokumentieren oder zumindest thematisch mit dessen Inhalten in Verbindung stehen. Im Falle der Schlegel-Nachschrift kommen damit verschiedene Texte in den Blick, die hinsichtlich ihres Vergleichswertes allerdings starke Differenzen aufweisen. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Berichte, die Schelling und Fries zu Schlegels Vorlesung gaben, nur bedingt dazu geeignet sind, die Authentizität der Nachschrift zu belegen. Vielversprechender scheint in dieser Hinsicht der erst 1984 publizierte Bericht Stephan August Winkelmanns, der als Vertrauter Schlegels den „Inhalt seines Kollegiums“ folgendermaßen wiedergibt: alles Wissen sei unendlich: die Philosophie immer nur Approximation, kein System, sondern nur ein Zustand, dessen Faktoren die Skepsis und der Enthusiasmus sey; Harmonie, Liebe, Schönheit und Freude die Aufgabe des Universums – diese Harmonie aufzufinden Aufgabe der Phil[osophie].36

Zwar lassen sich all jene Aussagen auf spezifische Stellen der Nachschrift beziehen,37 dennoch fasst Winkelmann damit lediglich thesenartig zusammen, was Schlegel in den ersten Stunden seiner Vorlesung detailliert entwickelte. Auch dieser Bericht ist folglich bestenfalls dazu geeignet, Einzelstellen zu belegen, die Authentizität größerer Abschnitte oder gar der ganzen Nachschrift lässt sich damit nicht erweisen. –––––––— 34 Einzig Körner hat sich im Rahmen seiner Edition näher mit dieser Frage auseinandergesetzt. Seine Argumente werden im Folgenden berücksichtigt (vgl. NPS, 45ff.). 35 Vgl. Annette Sell: Das Problem der Authentizität von Nachschriften zu Hegels Vorlesungen über ‚Logik und Metaphysik‘. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Hg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio Bd. 21), S. 257–264, bes. 257f. sowie: Gunter Martens: Probeartikel Authentizität. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem ‚Wörterbuch der Editionsphilologie‘. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio Bd. 36), S. 193– 194. Zu unterscheiden ist der Begriff der Authentizität von dem der Autorisation, der nach dem Urheber der Mit- bzw. Nachschrift fragt (vgl. ebd., S. 194). 36 Ingeborg Schnack (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Carl von Savigny und Stephan August Winkelmann (1800–1804) mit Dokumenten und Briefen aus dem Freundeskreis. Marburg 1984, S. 104f., vgl. auch den Kommentar, S. 310f. 37 Vgl. KFSA 12, 3ff.

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Johannes Korngiebel

Weit geeigneter scheinen in diesem Zusammenhang zwei Quellen, auf die wiederum schon Körner verwies (NPS, 46f.). Dabei handelt es sich um eine 1829 unter dem Titel Ueber die Hegelsche Lehre oder: absolutes Wissen und moderner Pantheismus bei Christian Ernst Kollmann in Leipzig erschienene Schrift, deren anonymer Autor sich vor allem mit Hegels Wissenschaft der Logik auseinandersetzte und versuchte, deren philosophiehistorische Wurzeln aufzudecken.38 In diesem Zusammenhang kam er auch auf Schlegel zu sprechen, den er als „Lehrer Hegels“ bezeichnete, weil er in seinen Jenaer Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie sehr viel Gewicht auf die Methode [gelegt habe]; er construirte Begriffe, blieb aber damals in seinen Vorlesungen im Wesentlichen dabei stehen, die Philosophie sey ein Experiment, philosophieren sey ein experimentiren. Dadurch war nun seinen Schülern Veranlaßung gegeben, auf dem Wege des Experimentirens Begriffe aneinander zu halten, und zu versuchen, sie zu verknüpfen, oder in eine Reihe zu bringen.39

Hegel reagierte gereizt. In einer ausführlichen, aber wenig wohlwollenden Rezension des Buches schrieb er: „Andere Allotria (z. B. die geschichtliche Notiz, daß Friedrich von Schlegel ein Lehrer Hegels gewesen […]) übergehen wir“.40 Damit hätte die Kontroverse ein Ende nehmen können, aber der Anonymus veröffentlichte zwei Jahre später, im Todesjahr Hegels, ein weiteres Buch mit dem Titel Über die Wissenschaft der Idee, in dem er seine Thesen verteidigte und noch einmal auf Hegels Beziehung zu Schlegel zu sprechen kam. Den Hintergrund seiner diesbezüglichen Kenntnisse beschrieb er dabei wie folgt: Einst äußerte ich gegen einen durchaus glaubwürdigen Mann, daß das Eigenthümliche der Hegelschen Philosophie in der Art und Weise bestehe, wie die Begriffe negativ umschlagen sollten. Derselbe eröffnete mir, daß schon Friedrich von Schlegel in seinen 1800 in Jena gehaltenen Vorlesungen über Transcendentalphilosophie es versucht habe, Begriffe auf ähnliche Weise aus andern hervorkommen zu lassen; er wisse ganz bestimmt als Augenzeuge, daß Hegel jenen Vorlesungen beigewohnt habe. Dieser Mann, der die Hegelsche Philosophie nicht näher kannte, und in dessen Glaubwürdigkeit kein Zweifel zu setzen ist, theilte mir dasjenige mit, was er von dem Inhalt jener Vorlesungen aufgezeichnet hatte.41

–––––––— 38 Die Identität des Autors konnte bis heute nicht geklärt werden. Auf welcher Grundlage Johann Eduard Erdmann in seinem Grundriss der Geschichte der Philosophie, 2. Band: Philosophie der Neuzeit. Berlin 1866, § 332, S. 622 einen gewissen „Hülsemann“ als Verfasser angibt, bleibt unklar. Jedenfalls ist über diesen nichts weiter bekannt. Vgl. Behler 1963 (Anm. 7), S. 235f. 39 Anonymus: Ueber die Hegelsche Lehre oder: absolutes Wissen und moderner Pantheismus. Leipzig 1829, S. 152f., ähnlich auch S. 160f. 40 Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1970, hier: Bd. 11, S. 434. 41 Anonymus: Über die Wissenschaft der Idee. Erste Abtheilung. Die neueste Identitätsphilosophie und Atheismus und oder über immanente Polemik. Breslau 1831, S. XXVII.

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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Diesem Bericht fügte der unbekannte Autor eine längere Passage an, in der er ausführlich aus den ihm mitgeteilten Notizen zu Schlegels Vorlesung zitierte. Der besondere Wert dieser Zitate besteht darin, dass sie – abgesehen von minimalen Abweichungen – mit dem Text der uns vorliegenden Nachschrift übereinstimmen:42 Ein Wissen von dem Ursprünglichen oder Primitiven giebt uns Principien. Ein Wissen der Totalität giebt Ideen, ein Princip ist also ein Wissen des Ursprünglichen. Eine Idee ist ein Wissen des Ganzen.43 Der gemeinschaftliche Mittelpunct aller Pricipien und Ideen wird etwas seyn müssen, was Princip aller Ideen und Idee aller Principien wäre. Um dieses zu finden, müssen wir abstrahiren von Allem, was nicht absolut ist. Dieses thun wir aber nicht etwa bloß dadurch, daß wir das, was nicht absolut ist, wegdenken. Wir müssen das constituiren, was dem entgegengesetzt ist, von dem wir abstrahiren sollen. Wir müssen also das Unendliche schlechthin setzen.44 Wenn wir aber das Unendliche schlechthin setzen, und dadurch alles aufheben, was ihm entgegen gesetzt ist, – so bleibt uns noch immer etwas, nämlich das abstrahirende oder das setzende. Es bleibt also außer dem Unendlichen noch das Bewußtseyn des Unendlichen. So ist das Bewußtseyn gleichsam ein Phänomen bei dem Unendlichen.45 das [!] Bewußtseyn ist eine Geschichte, die die Rückkehr des Bestimmten ins Unbestimmte enthält oder die verschiedenen Epochen ausmacht.46 Der Schein des Endlichen soll vernichtet werden, und um das zu thun, muß alles Wissen in einen revolutionären Zustand gesetzt werden.47

Körner hat diese Übereinstimmungen als einen „erwünschte[n], wenn auch nicht eigentlich nötige[n] äußere[n] Beweis“ der „Authentizität“ der Nachschrift betrachtet (NPS, 47). Und tatsächlich scheinen die Entsprechungen nur auf zwei Weisen erklärbar: Entweder haben dem Anonymus Aufzeichnungen vorgelegen, die sich erstaunlich genau mit der Nachschrift decken, die uns überliefert ist. Oder der unbekannte Verfasser hat mit exakt jener Nachschrift gearbeitet, die später von Körner entdeckt und ediert worden ist. Während der erste Fall für einen überaus hohen Grad an Authentizität zumindest von Teilen der Nachschrift sprechen würde, liefe deren Nachweis im zweiten Szenario gänzlich ins Leere, weil der vermeintliche Vergleichstext dann mit dem zu prüfenden identisch wäre. Dieses Problem hat Körner nicht gesehen und stattdessen allgemein auf die „innere Übereinstimmung“ der Nachschrift „mit allem, was wir sonst von Schlegels Philosophie jener Jahre“ wissen, verwiesen (NPS, 47). Stützen konnte er sich dabei auf die vorläufige Sammlung von Konkordanzen, die er seiner Edition beifügte. Sie verweist auf zahlreiche Entsprechungen der Nachschrift mit den Inhalten von Schlegels Wer–––––––— 42 43 44 45 46 47

Die folgenden Zitate: ebd., S. XXVIIff. Entspricht KFSA 12, 4. Entspricht KFSA 12, 5. Entspricht KFSA 12, 5 Entspricht KFSA 12, 11. Entspricht KFSA 12, 11.

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ken. So hält Körner etwa in Bezug auf die Formulierung der Nachschrift: „Die Philosophie ist unendlich“ (KFSA 12, 9) fest: „‚Daß die Philosophie unendlich ist und nie vollendet werden kann‘, behauptet schon der Brief ‚Über die Philosophie‘“ (NPS, 295). Und bezüglich der Stelle „Das Unendliche besteht also aus dem Unbestimmten und Bestimmten“ (KFSA 12, 26), verweist Körner auf die Lucinde, in der es heißt: „Das Universum selbst ist nur ein Spielwerk des Bestimmten und des Unbestimmten“ (NPS, 298). Zwar ließen sich auf diese Weise viele der Grundgedanken der Vorlesung belegen, genau genommen blieben aber auch diese Nachweise lediglich punktuell und meist eher sinngemäß. Außerdem müsste in Betracht gezogen werden, dass der Nachschreiber die mündlichen Äußerungen Schlegels durch solche aus den gedruckten Werken ergänzt haben könnte, sodass auch diese Entsprechungen nur wenig über den Grad der Authentizität der Nachschrift aussagen würden. Trotz aller Bemühungen hat Körner einen wirklichen Nachweis der Authentizität der Nachschrift also streng genommen nicht oder nur in einem sehr eingeschränktem Maße erbringen können. Deutlich vorteilhafter scheint demgegenüber die heutige Ausgangslage. Denn unter den zahlreichen, zu Schlegels Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Texten, die uns heute vorliegen, kommen einige durchaus für einen Vergleich mit der Nachschrift in Frage. Unter ihnen sind Schlegels umfangreiche Notizhefte, vor allem die sogenannten Philosophischen Lehrjahre, von besonderem Interesse. In diesem ca. 7500 Notizen umfassenden Textkorpus finden sich vier Sammlungen, deren Titel unmissverständlich auf die Transcendentalphilosophie-Vorlesung verweisen: Im Winter 1800–1801 während der Vorlesungen (KFSA 18, 177–193) Epoche der Vorlesungen über Idealismus 1800–1801 (KFSA 18, 363–385) Zum Idealismus (KFSA 18, 400–411) N[ota]B[ene] Aus der Zeit d〈er〉 Vorlesung 1800–1801 (KFSA 18, 412–422) Die 729 Notate dieser Hefte, die immerhin beinahe 60 Druckseiten ausmachen,48 stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Schlegels Kolleg. Das belegen neben den Titeln auch die Inhalte der Notizen, die den Themen der Vorlesung entsprechen.49 Umso erstaunlicher ist es, dass noch nirgends auf die zahlreichen Parallelstellen verwiesen wurde, die sich zwischen den Heften und der Nachschrift ergeben.50 Diese können nach dem Grad ihrer Übereinstimmung in verschiedene Kategorien eingeteilt –––––––— 48 Dabei ist zu beachten, dass trotz der Menge der überlieferten Notizen, das Erhaltene nur einen Bruchteil des einst Vorhandenen ausmacht. Als Schlegel starb, sollen 65 Hefte mit Notizen zu philosophischen Themen vorgelegen haben, von denen heute nur noch 12 bekannt sind (vgl. KFSA 18, XLVI). Es scheint also durchaus wahrscheinlich, dass sich unter den verschollenen Notizen auch solche befanden, die im Zusammenhang mit der Jenaer Transcendentalphilosophie-Vorlesung standen. 49 Dabei kommt dem letzten der genannten Hefte eine besondere Bedeutung zu. In ihm finden sich nämlich außergewöhnlich viele Übereinstimmungen, die zuweilen sogar mit dem in der Nachschrift dokumentierten chronologischen Ablauf der Vorlesung übereinstimmen. 50 Weder im Rahmen der Kritischen Friedrich Schlegel Ausgabe noch in der Edition von Elsässer finden sich Verweise auf diese Notizen. Lediglich in dem der Edition der Notizhefte beigegebenen Kommentar wird allgemein darauf verwiesen, dass sich „zahlreiche Parallelen“ zu dem „Text der Vorlesungsnachschrift“ finden (KFSA 19, 464 zu Anm. 1089).

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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werden: Das Spektrum reicht dabei von indirekten Bezügen und der ähnlichen Verwendung von Schlüsselbegriffen über sinngemäße Formulierungen und die Variation von Kerngedanken bis hin zu beinahe exakten und schließlich sogar wörtlichen Übereinstimmungen. Die folgende Gegenüberstellung enthält einige Beispiele dieser verschiedenartigen Entsprechungen, wobei links der Wortlaut der Notizhefte und rechts die korrespondierenden Stellen der Nachschrift abgedruckt sind: Wir müssen suchen die Idee aller Principien und das Principium aller Ideen; und das ist es. (KFSA 18, 412, 1094)

Dieser gemeinschaftliche Mittelpunkt, den wir suchen, wird etwas seyn müssen, was Prinzip aller Ideen, und Idee aller Prinzipien wäre. (KFSA 12, 5)

Die Einbildung d〈es〉 Endlichen soll vernichtet und bis dieses geschehen, alles Wissen in polemischen Zustand erklärt werden. (KFSA 18, 413, 1107)

Der Schein des Endlichen soll vernichtet werden; und um das zu thun, muß alles Wissen in einen revoluzionären Zustand gesetzt werden. (KFSA 12, 11)

Begriff d〈er〉 Experimentalφσ〈philosophie〉. (KFSA 18, 416, 1142)

Man würde besser sagen, wenn man die Philosophie Experimental- oder Central Philosophie nannte, weil da zugleich Rücksicht auf die Methode genommen ist […]. (KFSA 12, 21)

Die Bestimmung des Menschen ist, sich selbst zur Rückkehr ins Unbestimmte zu bestimmen. (KFSA 18, 417, 1161)

Die Bestimmung des Menschen könnte man demnach auch so ausdrücken: Der Mensch soll sich ins Unbestimmte und zum Unbestimmten bestimmen. (KFSA 12, 20)

Methode ist Geist, System ist Buchstabe. (KFSA 18, 418, 1171)

Wie unterscheidet sich Methode von dem System? Die Methode ist der Geist, und das System der Buchstabe. (KFSA 12, 18)

Das Unendliche ist eine potenzirte Eins; das Bewußtsein eine nie zu vollendende Null. (KFSA 18, 418, 1173)

Das Bewußtseyn ist gleichsam + a—a… eine werdende und verschwindende Null. Das Unendliche ist eine gränzenlos potenzirte 1, nach allen Seiten. (KFSA 12, 25)

In einer vollendeten φσ 〈Philosophie〉 müssen alle Begriffe transcendent und alle Sätze identisch sein. (KFSA 18, 420, 1199)

Die Philosophie ist vollendet, wenn alle Begriffe transcendent, und alle Sätze identisch sind. (Dies ist aber nur das Ideal der Philosophie, das nie erreichbar ist.) (KFSA 12, 28)

Die Reihe dieser Beispiele ließe sich noch erheblich erweitern. Insgesamt könnten auf diese Weise etwa 200 Einzelstellen aus den Heften angeführt werden, die mit dem Wortlaut der Nachschrift im Zusammenhang stehen. Ein derart umfassender Nachweis würde allerdings ein Vielfaches an Raum einnehmen und muss einer detaillierten

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Konkordanz bzw. einer ausführlichen Kommentierung der Nachschrift vorbehalten bleiben. Für den vorliegenden Beitrag ist es hingegen nicht notwendig, alle Parallelstellen aufzuzeigen. Schon die angeführten Beispiele zeigen, dass der hohe Grad der Authentizität der Nachschrift durch einen Vergleich mit den von Schlegel autorisierten Notizheften erwiesen werden kann. Darüber hinaus erlaubt der Vergleich der Nachschrift mit den Notizen auch Rückschlüsse auf deren bis heute kaum erforschten Entstehungszusammenhang.51 Wahrscheinlich schrieb Schlegel die Notizen der Hefte im Rahmen der Vorbereitung seiner Vorlesungstätigkeit nieder, also zwischen Sommer 1800 und Winter 1800/01. Danach wird er zur Ausarbeitung der einzelnen Sitzungen aus ihnen exzerpiert und sie somit zur Grundlage seiner mündlichen Ausführungen gemacht haben. In diese Richtung deutet auch, was Dorothea Veit über die Praxis von Schlegels Lehrvortrag mitteilt. An August Wilhelm Schlegel schreibt sie am 28. Oktober 1800, einen Tag nach dem Beginn des Kollegs: Friedrich „improvisirt“ seine Vorlesungen „dur〈ch〉aus, und nimmt nichts mit auf’s Kateder als ein Quartblättchen mit + = φ ∩ und solcherley Krakelfüße, wie Sie sie schon aus seinen Heften kennen“ (KFSA 25, 194). Obwohl er seine Vorlesungen überwiegend frei hielt,52 nutzte Schlegel also nachweislich eigene Notizen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach aus seinen Heften exzerpierte. Zumindest Teile der Schlegelschen Notizhefte dürfen daher wohl als Vorstufen seiner mündlichen Lehrvorträge und somit mittelbar auch als Vorstufen der Nachschrift betrachtet werden. Dafür spricht auch der Umstand, dass die Notizen oft dichter und komprimierter abgefasst sind als die Formulierungen der Nachschrift. Sie enthalten in nuce, was in der Nachschrift weiter expliziert wird.53 Für das Verständnis und die Interpretation der Nachschrift bilden sie daher eine besonders wertvolle und unverzichtbare Quelle. Das wird auch dadurch deutlich, dass die Notizhefte Gedanken und Überlegungen enthalten, durch die die Nachschrift sinnvoll ergänzt werden kann. So findet sich beispielsweise mit der Notiz „Genie ist Instinkt d〈er〉 Liebe und Freiheit d〈es〉 Verstandes.“ (KFSA 18, 421, 1221) eine Definition des Genie-Begriffs, der in der Vorlesung zwar mehrfach benutzt, nicht aber näher bestimmt wird. Und auch der offenbar unvollständig mitgeschriebene Abschnitt zu den „Schriften des Spinoza und Fichte“ (KFSA 12, 30f.) lässt sich durch die Hefte ergänzen. In ihnen finden sich –––––––— 51 Vgl. Martina Eicheldinger: Philosophische Lehrjahre. In: Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Johannes Endres. Stuttgart 2017, S. 157–162; Christian Benne: Friedrich Schlegels unveröffentlichte Sätze. In: Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Hg. von Christian Benne und Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 2011 (Schlegel-Studien 2), S. 15–39; sowie: Nikolaus Wegmann: Philologie – etwas mit Medien? Eine Aktualisierung. In: Friedrich Schlegel und die Philologie. Hg. von Ulrich Breuer, Remigius Bunia und Armin Erlinghagen. Paderborn u. a. 2013 (Schlegel-Studien 7), S. 221–235. 52 Vgl. Friedrich Schlegels Brief vom 23. Januar 1801 an Friedrich Schleiermacher, in dem es heißt: „Ich rede fast ganz frey, anders kann ich nicht“ (KFSA 25, 223). 53 Das zeigt z. B. die Notiz KFSA 18, 418, 1166, die eine kurze Zusammenfassung der gesamten ‚Geschichte des Bewusstseins‘ umfasst, deren Beschreibung in der Nachschrift mehrere Seiten einnimmt (vgl. KFSA 12, 11ff.)

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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nämlich nicht nur Notizen, die die Aussagen zu Spinoza stützen,54 sie enthalten auch zahlreiche Stellen zu Fichte, die Schlegel zur Grundlage seiner entsprechenden Ausführungen in der Vorlesung gemacht haben könnte. Demnach hätte er Fichtes Philosophie charakterisiert, indem er sinngemäß festhielt: „Der Buchstabe von Fichte ist das Setzen, er hat d〈ie〉 Form d〈er〉 Selbständigkeit auf das reine Ich übertragen“ (KFSA 18, 417, 1152) bzw.: „Alle Ichheit, Freiheit, Thätigkeit, Wechselwirkung und Wechselbestimmung ist F〈ichte〉s Buchstabe, aber ein classischer Buchstabe“ (KFSA 18, 417, 1156). Und vielleicht gehört auch die Notiz, dass Fichte nichts „als Einleitungen, Anwendungen, Darstellungen und Entwicklungen“ geschrieben habe, noch in diesen Zusammenhang (KFSA 18, 422, 1229). Kann die Nachschrift dergestalt durch die Notizhefte ergänzt werden, finden sich in ihnen andererseits auch Stellen, die den Aussagen der Nachschrift widersprechen. Heißt es in den Heften beispielsweise, „es giebt keine andre Wss〈Wissenschaft〉 als φσ〈Philosophie〉“ (KFSA 18, 409, 1066), so steht dies im Gegensatz zu der Feststellung der Nachschrift: „alle Wissenschaft ist NaturWissenschaft“ (KFSA 12, 16). Allerdings sind diese Fälle inhaltlicher Widersprüche äußerst selten und wohl eher durch den experimentellen Charakter der Hefte zu erklären.55 In den allermeisten Fällen bieten die Notizen willkommene Hilfen zum besseren Verständnis der Nachschrift. Sie können in dieser Hinsicht nicht nur als mittelbare Vorstufen, sondern auch als wertvolle Varianten, Erläuterungen und Ergänzungen verstanden werden und müssen als solche in jede ernst zu nehmende Interpretation der Nachschrift einbezogen werden.

3. Spuren des Mündlichen und seltene Unmittelbarkeit Das Vorangegangene hat exemplarisch gezeigt, dass der hohe Grad der Authentizität der Nachschrift durch den Vergleich mit Schlegels Notizheften erwiesen werden kann. Damit können die negativen Urteile über den Wert der Nachschrift, die zu Beginn dieses Beitrags referiert wurden, als unhaltbar zurückgewiesen werden. Die textkritische Untersuchung belegt, dass die vergleichsweise umfangreiche Nachschrift, von einigen Lücken und Fehlstellen abgesehen, eine über weite Strecken ausführliche, mitunter sogar wörtliche und nachträglich kaum überarbeitete Dokumentation dessen darstellt, was Schlegel im Rahmen seiner Vorlesungen mündlich vorgetragen hat. Zwar darf dieses Ergebnis nicht zu der Annahme verleiten, jedem Satz der Nachschrift komme der Status einer durch Schlegel autorisierten Aussage zu;56 andererseits bildet dieser erstmals erbrachte Befund aber die notwendige Voraussetzung für eine –––––––— 54 Vgl. z. B. KFSA 18, 418, 1164. 55 In den Heften plante, schematisierte, skizzierte und konstruierte Schlegel. Sie bilden folglich seinen experimentellen Denk- und Arbeitsprozess ab. Entsprechend tragen die Notate zuweilen den Charakter vorläufiger Erwägungen, revidieren und widersprechen sich gegenseitig und werden nicht selten nachträglich widerrufen. 56 Im Rahmen einer Gesamtinterpretation der Nachschrift wird man daher jeweils im Einzelfall auf die Übereinstimmungen zwischen Nachschrift und Notizen verweisen müssen, um auf diese Weise den spezifischen Grad der Authentizität von Einzelaussagen genauer zu bestimmen.

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wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Schlegels Transcendentalphilosophie-Vorlesung. Darüber hinaus ist die Nachschrift noch in einer anderen Hinsicht von unschätzbarem Wert. Denn sie ist überhaupt der einzige Text, der einen mündlichen Vortrag des frühen Schlegel ausführlich und teilweise wörtlich fixiert. Laut Konrad Paul Liessmann eignet der Vorlesung der Geist „des lebendigen Denkens und der gesprochenen Sprache“.57 Im Kolleg soll, so hat Schlegel auch seine eigene Lehrtätigkeit verstanden, nicht Philosophie gelehrt, sondern Philosophieren vorgeführt werden.58 Das muss auch Auswirkungen auf die Mit- bzw. Nachschriften haben. Von ihnen kann nicht erwartet werden, was ein mehrfach für den Druck überarbeiteter Text leistet. Sie werden also für gewöhnlich weniger planvoll und systematisch erscheinen als ein redigiertes und schließlich autorisiertes Manuskript. Auf der anderen Seite besteht der Reiz dieses Mediums aber gerade in jener seltenen Unmittelbarkeit, die einen mehr oder weniger direkten Zugang zum Sprecher ermöglicht. Wenn auch die Stimme, die Sprechweise, die Gestik und Mimik des Vortragenden in der Nachschrift nicht zum Ausdruck kommen kann, so ist man dem Redner – vor allem auf Grund der vielfältigen Spuren des Mündlichen – in gewisser Weise dennoch näher als in jedem der von ihm autorisierten Texte. Indem der Rezipient einer Nachschrift in die Rolle des einstigen Hörers schlüpft, tritt ihm der Vortragende in seiner Individualität gleichsam direkt vor Augen. Dieses Phänomen lässt sich auch anhand der Nachschrift zu Schlegels Transcendentalphilosophie-Vorlesung beobachten. In ihr finden sich kaum ausgefeilte, nachbearbeitete Sätze, wie sie für Texte typisch sind, die für den Druck bearbeitet wurden; die Nachschrift erscheint vielmehr als Dokumentation eines lebendigen, teilweise sprunghaften und mitunter improvisierten Vortrags. Allerdings muss diese Lebendigkeit nicht notwendig als Mangel gelten; sie kann – ganz im Gegenteil – auch als Ausdruck von Schlegels adressatengebundenem Vortragsstil verstanden werden. Tatsächlich weist einiges darauf hin, dass Schlegel Wert darauf legte, sein Publikum in den Gang seiner Gedanken einzubeziehen. Das belegen neben dem auffallend häufigen Gebrauch generalisierter Personalpronomina („wir“, „uns“, „man“ usw.) vor allem die vielen rhetorischen Fragen, die vermutlich dazu dienten, die nächsten gedanklichen Schlüsse dem Hörer selbst zu überlassen. Dazu gehört auch der rhetorisch aufgeladene und im hohen Maße performative Redestil Schlegels, der mit Satzanfängen wie „Denken wir uns […]“, „Aber, könnte man wohl einwenden […]“ und „Hierauf antworten wir so […]“ (KFSA 12, 7 und 9) deutliche Spuren des mündlichen Vortrags aufweist. Insofern zeichnet sich Schlegels Sprache durch einen expressiven, nicht selten sogar appellativen Zug aus, der durch gelegentliche Interjektionen („ja“, „nein“, „in einem Nu“ usw.), Anakoluthe und Verzögerungslaute

–––––––— 57 Konrad Paul Liessmann: Über Nutzen und Nachteil des Vorlesens – Eine Vorlesung über die Vorlesung. Mit einem Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Wien 1994, S. 45. 58 Dieser Anspruch bildet das Ergebnis einer um 1800 sich vollziehenden Wandlung, in deren Rahmen sich die Vorlesung von einem verhältnismäßig starren Medium hin zu einer offenen, mitunter sogar dialogischen Lehrform entwickelte (vgl. Korngiebel 2016 [Anm. 14], S. 90ff.).

Die Nachschrift zu Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie

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noch verstärkt wird.59 Darüber hinaus belegt die Nachschrift den häufigen Einsatz von Metaphern, Beispielen und Schemata, die das in der Vorlesung Präsentierte veranschaulichen bzw. dessen Verständnis erleichtern sollten. Auch das macht deutlich, dass Schlegel durchaus darum bemüht war, sein Publikum nicht aus den Augen zu verlieren und stattdessen mit ihm in wechselseitigen Austausch zu treten. Deshalb ärgerte er sich einerseits über die „Dummheit“ seiner Hörer, war auf der anderen Seite aber erfreut, wenn er die „kleinen Funken“ des Erkenntnisfortschritts beobachten konnte (KFSA 25, 223). Auch in diesem Sinne bezeugen die Abweichungen vom linearen Vortrag also Schlegels Bemühen um einen angemessenen didaktischen Aufbau seiner Vorlesung. So jedenfalls müssen der schon früh geplante und immer wieder kommunizierte Gesamtaufbau der Vorlesung sowie die didaktisch motivierten Wiederholungen, Zusammenfassungen, Rück- und Ausblicke verstanden werden, die sich innerhalb der Nachschrift finden. Den gleichen Zweck verfolgten wohl die Selbsteinwände, Warnungen vor Fehlschlüssen und die internen Verweise auf bereits Gesagtes oder noch zu Thematisierendes, die Schlegel in seinen Vortrag einbaute. Und vielleicht stellen die zentralen Sätze und Begriffe, die in der Nachschrift durch Unterstreichungen hervorgehoben sind, Merksätze dar, die Schlegel, den Lehrgewohnheiten seiner Zeit folgend, seinen Hörern diktierte.60 All jene sprachlichen Besonderheiten können als Spuren des Mündlichen gedeutet werden, die sich in der Nachschrift erhalten haben. Zwar ist es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, die Spezifika dieser Mündlichkeit in Gänze darzustellen und mit der Sprache zu vergleichen, die durch Schlegels gedruckte Werke belegt ist; dennoch dürften schon die angeführten Beispiele genügen, um den besonderen Wert anzudeuten, der dieser Nachschrift zukommt. In ihr sind wir Schlegel in gewisser Weise tatsächlich näher als in jedem seiner gedruckten Texte. Dass dies auch Konsequenzen für den Inhalt haben muss, zeigen die vielen kritischen und mitunter äußerst provokativen Äußerungen Schlegels, von denen die Nachschrift zeugt.61 Im schwer zu fixierenden Medium des Mündlichen, so scheint es, konnte Schlegel Bemerkungen platzieren, die unmöglich hätten gedruckt werden können. Damit avanciert die Vorlesung zu einem Medium der Kritik, in dem auch das noch thematisiert werden kann, was andernorts Sanktionen ausgesetzt wäre.62 Durch diese seltene Unmittelbarkeit wird folglich noch einmal bestätigt, was schon zu Beginn dieses Beitrags angedeutet wurde: Die Nachschrift zu Schlegels Jenaer Transcendentalphilosophie-Vorlesung ist in mehr als einer Hinsicht von ganz –––––––— 59 Einen Teil dieser konservierten Mündlichkeit hat Körner aus der Nachschrift verbannt, indem er zum „Zwecke besserer Lesbarkeit“ die „Interpunktion reicher und freier“ gestaltete und im Text „leichte[ ] Änderungen“ vornahm, die in NPS, 48 dokumentiert sind. 60 Das könnte z. B. für die Aphorismen und Axiome gelten (KFSA 12, 4f. und 8f.) sowie für die verschiedenen Resultate, die Schlegel am Ende einiger Abschnitte seiner Vorlesung zusammenfasste. 61 Diese reichen von der wegwerfenden Behandlung etablierter Größen wie Reinhold, Maimon oder Platner (vgl. KFSA 12, 95) über das Argumentieren gegen die so genannte „gewöhnliche Ansicht“ (ebd., 43 und 79) bis hin zu kalkulierten Provokationen, wie etwa die Polemik gegen den „KirchenGlauben“ oder das Bekenntnis zu den Idealen der Französischen Revolution: „Freyheit – Gleichheit – Gemeinschaft“ (ebd. 75f. und 84). 62 Vgl. dazu ausführlicher: Korngiebel 2016 (Anm. 14), S. 109ff.

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besonderem Interesse. Darüber hinaus kann sie als Beispiel dafür dienen, dass die textkritische Analyse von Vorlesungsnachschriften selbst unter widrigen Umständen gerechtfertigt und lohnend ist. Abstract The article deals with the only surviving transcript of Friedrich Schlegel’s Jena Lecture on Transcendental Philosophy, a critical analysis of which has never been undertaken and proves to be particularly difficult. Although neither the authorship nor the provenance and fate of the manuscript have been clarified, the article outlines ways and means of working out a scientifically sound judgement on the actual value of the transcript. In a first step, the transcript is analyzed by drawing conclusions about the degree of later revision. In addition, gaps and missing parts are identified which allow reliable conclusions to be drawn about the completeness and chronology of the lecture. Finally, the central question of the authenticity of the transcript is posed, the high degree of which is proven by comparison with Schlegel’s notebooks. This makes it possible to fundamentally revise the negative judgments about the transcript that have become established in Schlegel research. In addition, the special value of the transcript is shown by referring to the traces of the original oral presentation and the unusual immediacy preserved in it. Thus the article not only makes an important contribution to Schlegel research, it also shows exemplarily how a wealth of information about the underlying lecture event can be taken from lecture transcripts – even under adverse circumstances.

Christoph Binkelmann

Aus der Werkstatt eines Philosophen Schellings Vorlesungen über Philosophie der Kunst

Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten die Vorlesungstätigkeiten zahlreicher Vertreter der klassischen deutschen Philosophie wie Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher in Form von historisch-kritischen Editionen ins Licht der Öffentlichkeit getreten sind, rückt nun seit geraumer Zeit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in den Fokus. In den letzten Jahren hat die historisch-kritische Beschäftigung mit frühem Nachlass und Nachschriften des Leonberger Philosophen im Rahmen der Akademie-Ausgabe an Fahrt aufgenommen.1 Dabei besitzt die Edition von Manuskripten zu Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften im Falle Schellings aufgrund biographischer und überlieferungstechnischer Konstellationen eine besondere Dringlichkeit: Der Leonberger Philosoph hat in der gesamten zweiten Hälfte seines Lebens keine größeren Schriften mehr publiziert; von 1812 bis zum seinem Tod 1854, also über 40 Jahre hinweg, hat er seine Philosophie nur über Vorlesungen der meist studentischen Öffentlichkeit vermittelt.2 Zu diesen Vorlesungen existiert eine große Menge an Nachschriften, die zum (geringen) Teil in Form von Studienausgaben ediert sind,3 daneben verfügen wir –––––––— 1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen, Siegbert Peetz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. [Im Folgenden: AA]. Neben den theologischen Jugendschriften Schellings, die an der Universität Wien von Prof. Christian Danz und Mitarbeitern ediert wurden (AA II,1–5), u .a. mit Vorlesungsnachschriften des Studenten Schelling, sind nun mit den Bänden II,8 (Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810) und II,6 (Philosophie der Kunst von 1802–1805) eigene Vorlesungen Schellings aus der frühen und mittleren Phase seines Wirkens erschienen; in nächster Zeit werden mit Bd. II,10 die Erlanger Vorträge aus dem Jahr 1821 in vier Textversionen folgen. 2 In diesem Zeitraum hat er 1820/21 (Erlangen) und dann ununterbrochen von 1827 bis 1845 (München, ab 1841 Berlin) gelesen. 3 Darunter in der Chronologie der gehaltenen Vorlesungen: Horst Fuhrmans (Hg.): Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Bonn 1969; Siegbert Peetz (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Frankfurt/M. 1998; Mirko Koktanek: Schellings Erste Münchner Vorlesung „System der Weltalter“. Interpretation der unveröffentlichten Nachschrift aus dem Besitz von Horst Fuhrmans [Auszüge aus dem WS 1827/28]. (Diss.) München 1959; Gerbrand Decker (Hg.): Die Rückwendung zum Mythos [Auszüge wohl aus der Zeit 1828–31]. München/Berlin 1930; Walter E. Ehrhardt (Hg.): F. W. J. Schelling. Einleitung in die Philosophie [SS 1830]. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989; ders. (Hg.): Urfassung der Philosophie der Offenbarung [WS 1831/32–SS 1832]. Hamburg 1992; Horst Fuhrmans (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vor– lesungen WS 1832/33 und SS 1833. Turin 1972; Luigi Pareyson, Maurizio Pagano (Hg.): La Philosophie de la mythologie de Schelling. D’après Charles Secrétan (Munich 1835-36) et Henri-Frédéric Amiel (Berlin 1845–46). Mursia 1991; Mirko Koktanek (Hg.): Schellings Seinslehre und Kierkegaard. Mit Erstausgabe der Nachschriften zweier Schellingvorlesungen von G. M. Mittermair und Sören Kierkegaard [WS 1837/38 u. 1841/42]. München 1962; Klaus Vieweg, Christian Danz (Hg.): Friedrich

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nur über zwei Manuskripte von Schellings eigener Hand, die beide bislang noch nicht veröffentlicht worden sind.4 Die populärste Quelle bis heute stellen indes die Veröffentlichungen einiger Vorlesungen von Schellings Sohn Karl Friedrich August Schelling in den Sämmtlichen Werken (SW) dar, die zum großen Teil aus inzwischen nicht mehr vorhandenen Manuskripten Schellings hervorgegangen sind. Insbesondere Schellings sogenannte Spätphilosophie wird noch in der heutigen Forschung vorwiegend im Ausgang von Texten der SW rezipiert.5 Aus einigen Andeutungen und Hinweisen in den Vorworten dieser Ausgabe sowie aus Briefen und Notizen weiß man, dass der Sohn – etwa im Falle der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung – teilweise sogar massiv in die ihm zur Verfügung stehenden Manuskripte eingegriffen hat, indem er Manuskripte aus unterschiedlichen Semestern vermischte, sie mit Ausführungen aus Notiz- oder Tagebüchern Schellings ergänzte, Nachschriften hinzuzog und in den Text integrierte sowie Abkürzungen stillschweigend und leider auch häufig falsch auflöste. Zudem widersetzte sich der Sohn – ob willentlich oder nicht – einigen testamentarischen Anweisungen des Vaters. Da die ursprünglichen Manuskripte in den meisten Fällen nicht mehr vorliegen, ist es schwer bis unmöglich, die Authentizität der veröffentlichten Texte, d. h. ihre Nähe zum Original, zu überprüfen.6 Doch was wäre eigentlich das Original im Falle von Vorlesungen? Es scheint zunächst naheliegend, das gesprochene oder das geschriebene Wort, d. h. Schellings tatsächliche Äußerungen in den Vorlesungen oder das zugrundeliegende Manuskript, zu nennen. Indes ist zu vermuten, dass meist ein großer Unterschied zwischen beiden besteht. Bereits im Falle einer einmalig gehaltenen Vorlesungssequenz, wie der Erlanger Vorträge, die Schelling nur im Wintersemester 1820/21 hielt, hat sich erwiesen, dass beide stark voneinander abwichen.7 Wenn Schelling aber die Vorlesungen über mehrere Jahre hindurch (etwa 20 Jahre wie in der Spätphilosophie) gehalten hat, dürfte die Differenz noch beträchtlicher sein, sofern man annimmt, dass das Manuskript mehrfach verwendet und möglicherweise durchgehend modifiziert wurde. Die vorhandenen Nachschriften könnten demgegenüber zwar bei der Rekonstruktion des gesprochenen Wortes helfen, aber wie nahe dieses selbst am Manuskript orientiert war, lässt sich wiederum meist nicht ausmachen. Zudem ist der –––––––—

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Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Mythologie in drei Vorlesungsnachschriften 1837/1842. München 1996; Andreas Roser, Holger Schulten (Hg.): F. W. J. Schelling. Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesungen 1841. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; Manfred Frank (Hg.): F. W. J. Schelling. Philosophie der Offenbarung 1841/42. Frankfurt/M. 1977. Nämlich die Manuskripte zu den Erlanger Vorträgen von 1821, deren historisch-kritische Edition in Bälde erscheinen wird (vgl. Anm. 1), sowie zum System der Weltalter von 1827/28. Folgende Vorlesungen von Schelling sind in SW veröffentlicht worden: Philosophie der Kunst (1805), Propädeutik und System der gesammten Philosophie (1804–06), Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), Erlanger Vorträge (1821), Zur Geschichte der neueren Philosophie, Darstellung des philosophischen Empirismus, Philosophie der Mythologie (mit historisch-kritischer und philosophischer Einleitung), Philosophie der Offenbarung (ebenfalls mit Einleitung) (1828–45) sowie mehrere kleinere Vorträge. Vgl. ausführlich Anna-Lena Müller-Bergen: Karl Friedrich August Schelling und ‚die Feder des seligen Vaters‘. Editionsgeschichte und Systemarchitektur der zweiten Abteilung von F. W. J. Schellings Sämmtlichen Werken. In: editio 21 (2007), S. 110–132. Vgl. AA II,10.

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Verdacht angebracht, dass auch die Nachschriften keine bloße Wiedergabe des gesprochenen Wortes der Vorlesungen bieten, sondern andere mögliche Einflussquellen (wie andere Nachschriften, Austausch mit anderen Studenten, eigene Zusammenfassungen etc.) besitzen. Ein Vergleich von Schellings Vorlesungen in Gestalt der SW-Texte mit Nachschriften hat in den meisten Fällen damit zu rechnen, dass weder das gesprochene noch das geschriebene Wort zuverlässig zu rekonstruieren ist. Das eigentliche Ziel einer historisch-kritischen Edition kann daher neben einer möglichen Identifizierung und Datierung von Textpassagen aus SW oder von Nachschriften nur in der Darstellung der intertextuellen Relationalität, und somit der Vernetzung zwischen den Überlieferungsträgern, bestehen, indem man aufzeigt, welche Passagen der unterschiedlichen Texte miteinander in einem thematischen und inhaltlichen Bezug stehen, um dem Leser auf diese Weise die Möglichkeit eines genaueren Vergleichs zu gewähren. Dabei könnte man aus der Not, keine festen Referenzen rekonstruieren zu können, eine Tugend machen: Denn feststehende Texte, so vor allem der jahrhundertlang wirkmächtige Text der SW, aber auch die für sich stehenden Nachschriften der Studienausgaben erwecken in der Forschung gerne den Eindruck eines monolithischen Denkens. Dient ein Text als einzige Referenz, könnte man verleitet sein, darin die Darstellung einer einheitlichen Lehre zu vermuten. Für die Spätphilosophie ist erwiesen, dass sowohl der Sohn Schellings als auch dieser selbst kurz vor seinem Tod von der Absicht getrieben waren, die Spätphilosophie, die es zu Lebzeiten Schellings nie zur Publikation geschafft hatte, zumindest postum in einem geschlossenen System, als Ganzes, zu präsentieren.8 Wie sehr hingegen Schellings Denken Schwankungen und Wandel ausgesetzt war, wie wenig Ansatzpunkte letztlich zur Rekonstruktion des Systems – selbst in der Gestalt einer ungeschriebenen Lehre – übrig bleiben, erschließt sich rasch einer historisch-kritischen Auseinandersetzung mit seiner Vorlesungstätigkeit und deren zahlreichen Überlieferungsträgern (z.B. im Falle der gleich zu erörternden Philosophie der Kunst). Dies hat zumindest den Vorteil, dass Schellings Philosophie, wie es ja bereits der berühmte Titel einer Schrift von Xavier Tilliette suggerierte,9 eine solche ‚im Werden‘ sei. Dabei sind auch teleologische Vorstellungen in diesem Prozess zu verabschieden, als laufe die gesamte Philosophie Schellings auf ein großes Ziel, die Lehre hinaus. Vielmehr sollte das Werden eher im Sinne einer stets neu einsetzenden Performanz des Denkens aufgefasst werden, wozu auch Schellings Bevorzugung des Mediums „Vorlesung“ passt, das sich nicht in die monolithische Gestalt eines gedruckten Werkes fügen lässt. Das Aufweisen der intertextuellen Relationalität unter den Überlieferungstexten folgt daher dem Credo einer ‚critique génétique‘, wie sie Almuth Grésillon beschreibt:

–––––––— 8 Vgl. Müller-Bergen 2007 (Anm. 6), S. 111. 9 Xavier Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir. Paris 1970.

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Dieser neue Horizont setzt neue Prioritäten: die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigen gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varietur, des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äußerung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten.10

Der letzte Punkt scheint eine Paradoxie zu erzeugen: Wie lässt sich in einer historisch-kritischen Edition die ‚festgefrorene Form des Gedruckten‘ zugunsten einer Dynamik sprengen, wenn doch das Resultat ebenso in eine Form überführt werden muss? Die dabei in den letzten Jahrzehnten, insbesondere des vergangenen Jahrhunderts befolgte historisch-kritische Idee, in der Edition von Nachlass (Manuskripten) und Nachschriften das nahezu unbearbeitete Rohmaterial der Texte gemäß des Vollständigkeitsprinzips darzubieten – freilich im Hinblick auf Vermeidung übergroßer Redundanz11 – ist aufgrund der zwei größten weltbewegenden Prinzipien, Geld und Liebe, in der heutigen Zeit weiter zu beschränken. Die beiden schwerwiegenden Einwände – wer bezahlt das denn noch? wer liest das denn noch? – machen es nötig, sowohl die Quantität der Texte durch gezielte Auswahl zu verringern als auch die Darstellungsweise dieser Texte dem Leser, der weder Zeit noch Interesse hat, das Rohmaterial der Texte eigenständig zu formieren, näher zu bringen.12 Ohne sich allzu sehr in das von der historisch-kritischen Beschäftigung gefürchtete Fahrwasser der Interpretation zu begeben, bietet sich dafür die eben angedeutete Formierung durch Darstellung der intertextuellen Vernetzung oder Relationalität an. Für eine derartige Präsentationsweise ist zudem der Übergang von einer analogen zur digitalen Edition nicht nur hilfreich, sondern dringend geboten. Nur in der digitalen Aufbereitung von Texten kann eine komplexe Relationalität anschaulich und handhabbar gemacht sowie die Idee einer ‚critique génétique‘ umgesetzt werden, die gefrorene Form des Gedruckten zu verflüssigen.

1. Schellings Philosophie der Kunst: Vorlesungen und Überlieferung Die Edition von Schellings Spätphilosophie ist in der Forschung ein Desiderat, dessen Realisierung in editionstechnischer, philologischer und informationstechnischer Hinsicht profunder Vorbereitungen, Sondierungen und Tests bedarf. Eine wesentliche –––––––— 10 Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ‚critique génétique‘. Bern u. a. 1999, S. 15. 11 Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Vollständigkeitsprinzip und Redundanz. Überlegungen am Beispiel der Edition der Nachschriften von Diltheys systematischen Vorlesungen. In: editio 3 (1989), S. 18–27. 12 Eine notwendige Maßnahme zur Reduktion und Konzentration von Texten scheint mir die bereits vor vielen Jahren von Walter Jaeschke vorgeschlagene Zusammenlegung von Nachlass- und Nachschriftenreihe zu sein, der sich auch die Schelling-Edition angeschlossen hat. Vgl. Walter Jaeschke: Manuskript und Nachschrift. Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Tübingen 1991, S. 82–89.

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Annäherung ermöglicht dabei die Beschäftigung mit Schellings früher Vorlesungstätigkeit. Denn was in der Spätphilosophie im Großen geschieht, kann schon in einer früheren Phase Schellings gleichsam im Kleinen modelliert werden, nämlich Wandel und Kontinuität einer philosophischen Auffassung sowie deren begleitende Auswirkungen in den Überlieferungstexten. Dabei ist die Komplexität in der Frühphase vor allem aufgrund zeitlicher, aber auch inhaltlicher Komponenten viel geringer und damit leichter zu durchdringen. Im Falle der Philosophie der Kunst handelt es sich um eine Zeitspanne von ca. drei Jahren, in denen Schelling Vorlesungen in dieser Form und zu diesem Thema hielt.13 Hier haben wir gewissermaßen eine künstliche Laborsituation, aus der Hypothesen über die Entwicklung der Spätphilosophie, dem Leben in freier Wildbahn, gewonnen werden können. Ein wichtiger Schritt in der Vorbereitung der Edition besteht sicherlich darin, das Setting von Vorlesungen zu hinterfragen und zu erforschen.14 Zu den Vorlesungen über Philosophie der Kunst weiß man anhand von Vorlesungsverzeichnissen und brieflichen Äußerungen, dass der weitere Zeitraum, innerhalb dessen Schelling diese Vorlesungen hielt, stark begrenzt ist: Zum Wintersemester 1798/99 ging der erst 23jährige Philosoph, der bereits durch einige im Geiste der Transzendentalphilosophie verfasste Schriften auf sich aufmerksam gemacht, aber mehr noch durch seine Naturphilosophie das Interesse der Fachwelt, insbesondere Goethes, erweckt hatte, an die Universität Jena und übernahm dort eine außerordentliche Professur für Philosophie. Die Anziehungskraft sowohl des Weimarer als auch des Jenenser Intellektuellenkreises – also von Klassik (Goethe, Schiller, Herder, Wieland) und Frühromantik (Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Novalis) – hat nachweislich einen großen Einfluss auf Themenwahl und Inhalt von Schellings Vorlesungen ausgeübt: Aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls von Schiller und des Wechsels von A. W. Schlegel nach Berlin sah sich Schelling als berufener Nachfolger in Sachen Ästhetik und bot ab dem Wintersemester 1799/1800 Vorlesungen dazu an. Selbst nach seinem Wechsel an die Universität in Würzburg Ende 1803 setzte er diese Tätigkeit fort und trug die Vorlesungen vom Sommersemester 1804 bis zum Sommersemester 1805 (insgesamt dreimal) vor. Dabei schwankte sowohl die wöchentliche Frequenz der gehaltenen Stunden (meist aber viermal wöchentlich) als auch die periodische Wiederholung (mindestens aber jedes Jahr). Diese relative –––––––— 13 Das sogenannte Identitätssystem, das Schelling zwischen 1801 und 1810 vertrat, weist sich sowohl strukturell-formal als auch inhaltlich als ‚Vernunftwissenschaft‘ aus, während in der Spätphilosophie die Bedeutung von Geschichtlichkeit und Erfahrung die klaren Strukturen der Vernunft sprengt, um von einer negativen (vernunftbestimmten) zu einer positiven (geschichtlichen) Philosophie überzuleiten. Dies erschwerte nicht nur Schelling selbst die Arbeit daran, sondern auch dem Rezipienten und insbesondere dem Editor. 14 Vgl. Ulrich Joost: Vorlesungsmanuskript und Vorlesungsnachschrift als editorisches Problem, und etwas von Lichtenbergs Vorlesungen. In: Robert Seidel (Hg.): Wissen und Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung. Heidelberg 2000, S. 33–70. Ausführlich und mit Nachweisen ist das Setting von Schellings Vorlesungen dargestellt im Editorischen Bericht zur Philosophie der Kunst in: Christoph Binkelmann, Daniel Unger (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst und weitere Schriften (1796–1805). Bd. II 6,1. Stuttgart-Bad Cannstatt 2018, S. 13–91.

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Dichte der Wiederaufnahme zusammen mit der sonstigen regen Lehrtätigkeit macht zumindest plausibel, dass Schelling die Vorlesungen nicht jedesmal radikal überarbeiten konnte, sondern auf vieles Vorliegende zurückgriff – meistens fehlte ihm selbst in den Semesterferien die Zeit einer grundlegenden Bearbeitung. Bekannt ist das große Interesse und damit verbunden: die hohe Besucherzahl dieser Veranstaltungen. Zudem sprach sich damals schon herum, dass die einflussreiche, aber leider auch schwer verständliche Philosophie des Leonbergers vor allem durch seine Ästhetikvorlesungen zugänglicher, gleichsam „plastischer“ wurde. Da sich Schelling über Kunst bislang – und auch in der Folge – nur peripher und in kleineren Schriften äußerte, war zudem die Nachfrage in Bezug auf Nachschriften dieser Vorlesungen wohl sehr groß. Prominente Intellektuelle wie Friedrich Schlegel und Georg Friedrich Creuzer besaßen Nachschriften davon; einige wie der Heidelberger Privatdozent Johann Josua Stutzmann übernahmen sogar in ihren eigenen Publikationen Passagen dieser Vorlesungen aus Nachschriften, ohne sie zu kennzeichnen. Nicht zuletzt deshalb, sondern auch generell um der Zirkulation von Nachschriften entgegenzuwirken, plante Schelling noch 1807 die Veröffentlichung seiner Vorlesungen, allerdings kam es nicht dazu. Dokumentiert sind diese Vorlesungen daher allein in Form von zwei Überlieferungstypen: Das über ein Jahrhundert der Öffentlichkeit einzig zugängliche und bekannte Dokument hat Schellings Sohn Karl Friedrich August 1859 (also fünf Jahre nach dem Tod Schellings) publiziert. Dabei handelt es sich um eine Veröffentlichung auf der Grundlage von Schellings eigenem Manuskript, das jedoch nicht mehr vorliegt. Auf der anderen Seite haben sich in den letzten Jahren insgesamt neun Nachschriften auffinden lassen. Die Nachschriften decken den Vorlesungszeitraum von 1802 bis 1805 ab; stammen mithin aus Jena und Würzburg. Der Übersichtlichkeit halber seien sie hier angeführt: Jenaer Vorlesungsnachschriften: 1) Schelling’s vorlesungen über die ästhetick (Jena, im winter 1802), nachgeschrieben von Johann Friedrich Heinrich Schlosser, 107 S. Jena Wintersemester 1802/03.15 2) Schelling’s Aesthetick, nachgeschrieben von Henry Crabb Robinson, zwei Hefte: 31 S., 24 S. Jena Wintersemester 1802/03.16

–––––––— 15 Manuskript in der Martinus-Bibliothek Mainz (Sign.: Hs 293). 16 Manuskript im Nachlass Crabb Robinson der Dr. Williams’ Library in London (Sign.: Bundle 1, I, 20, 21). Diese Nachschrift wurde bereits mehrfach veröffentlicht von Ernst Behler: Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson. In: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), S. 133–183; Walter Jaeschke: Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Bd. 1.1. Hamburg 1995, S. 301–327, sowie von James Vigus in Henry Crabb Robinson: Essays on Kant, Schelling, and German Aesthetics. London 2010, S. 67–111.

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Würzburger Vorlesungsnachschriften: 3) Philosophie der Kunst von Schelling, anonym (Fundort: Cambridge), ca. 402 S. Jena und „Würzburg“ (1802–05).17 4) Schellings Aesthetik, anonym (Fundort: Würzburg), 1804/05; das Konvolut enthält: Schellings Aesthetik, Fragment, Ms. S. 1–21 (Doppelseiten); Aesthetik. Philosophie der Kunst, Fragment, Ms. S. 25–88 (Doppelseiten).18 5) Sätze aus den Vorlesungen über Aesthetik oder Philosophie der Kunst, nachgeschrieben von Dietrich Georg Kieser (Abschrift durch Cramer), 395 S. „Würzburg 1804“ (Sommersemester 1804).19 6) Vorlesungen über Philosophie der Kunst. – von Schelling, nachgeschrieben von Johann Peter Pauls, 357 S. „Würzburg Sommer- u. Wintersemester 1804–5“ („Geendigt Mülh. a/Rh. d. 2. April. 1806.“).20 7) Schellings Aesthetick – oder Philosophie der Kunst, anonym (Fundort: Salzburg), 330 S. Würzburg „1804–1805“.21 8) Philosophie der Kunst vorgetragen und bearbeitet von Schelling, nachgeschrieben von Hermann von Hoevell, 401 S. Würzburg „1806“.22 9) Aphorismen aus der Wissenschaft der Kunst, von Professor Schelling. 1806, nachgeschrieben von Franz Xaver Kohler, 511 S. Würzburg. Eine Datierung der Nachschriften erfolgt entweder aus der expliziten Angabe des Semesters, gestützt von der biographischen Recherche zu den Verfassern (falls diese ebenso angegeben sind). Falls beides nicht vorhanden ist: aus einem Vergleich mit den datierbaren Nachschriften sowie aus einer philosophischen Untersuchung der verwendeten Terminologie. Aus der Jenaer Zeit gibt es zwei Nachschriften vom Wintersemester 1802/03; die Nachschreiber sind Johann Friedrich Heinrich Schlosser, ein Neffe Goethes, und Henry Crabb Robinson, ein englischer Jurist und Schriftgelehrter. Aus Briefen geht hervor, dass beide die Veranstaltung Schellings besucht und nach kurzer Zeit sogar eine enge Beziehung in Spaziergängen und gemeinsamem Mittagstisch eingegangen sind. Ein genauer Vergleich beider Nachschriften ergibt, dass sie im Wortlaut nahezu identisch sind, was damit zusammenhängen könnte, dass der insgesamt recht kurze Text „zum Theil von Schelling selbst dictirt“ war, wie es Schlosser in späteren Jahren vermerkte. Trotzdem spricht vieles dafür, dass Robinson von Schlosser abgeschrieben hat.23 Ferner eindeutig datierbar sind die Nachschriften von Dietrich Georg Kieser aus dem Sommersemester 1804 und von Johann Peter Pauls aus Sommer- und Wintersemester 1804/05. Auch hier gibt es eine gewisse Nähe im Wortlaut und in den per–––––––— 17 18 19 20 21 22 23

Manuskript in der Cambridge University Library (Sign.: Add 4751). Manuskript in der Universitätsbibliothek Würzburg (Sign.: Mchq 308). Manuskript in der Universitätsbibliothek Tartu (Dorpat) (Sign.: NL Giese, Mrg. 238). Manuskript in Frankfurt, Freies Deutsches Hochstift (Sign.: Hs.-B/41). Manuskript im Erzstift St. Peter in Salzburg (Sign.: Cod. b IV 23). Manuskript in der BSB München (Sign.: Cgm 9406). Zu den Gründen vgl. AA II,6,1. S. 42–44.

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sönlichen Beziehungen; allerdings erschwert die Tatsache, dass Pauls wohl Mitschriften aus zwei Semestern in eine Reinschrift umsetzte, die genaue Identifizierung. Die anderen Nachschriften lassen sich nicht eindeutig datieren, zwei stammen von namentlich erwähnten Hörern Schellings, Hermann Hoevell und Franz Kohler, die restlichen drei sind anonym und werden nach ihren Fundorten Würzburg, Salzburg und Cambridge benannt. Ein Abgleich mit den datierbaren Nachschriften ergibt allerdings, dass sie wohl aus späteren Semestern stammen (Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1805). Von allen namentlich genannten Verfassern ist – wie gesagt – im Falle der datierbaren Nachschriften (Schlosser/Robinson, Kieser/Pauls) bewiesen, dass die Schreiber eine enge Beziehung zueinander hatten und dies Ausdruck findet in der großen Ähnlichkeit (bis hin zu einer Identität) des Wortlauts. Auch im Falle der nicht zeitlich zuzuordnenden Nachschriften ist dies belegt (Hoevell/Kohler). Allerdings konnte dort durch Abgleich mit den Immatrikulationslisten festgestellt werden, dass beide nicht selbst Schellings Vorlesungen über Kunst (sondern nur andere Vorlesungen Schellings) besucht haben konnten, da sie sich erst im Wintersemester 1805/06 immatrikuliert hatten – zu einer Zeit also, als Schelling nicht mehr diese Vorlesungen hielt. Dies führt nun zu einer wichtigen Beobachtung: Viele Nachschriften, selbst von Studenten Schellings, entstanden nicht durch Bearbeitung eigener Vorlesungsnotizen, sondern sind Abschriften von damals kursierenden Nachschriften. Dabei ist natürlich nicht zu belegen, ob die zugrunde gelegten Nachschriften die Vorlesungen wiedergeben oder eigene Zusammenfassungen darstellen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die von Siegbert Peetz aufgefundene Nachschrift (Cambridge), die eindeutig eine Kompilation mehrerer Semesterversionen darstellt: Sie enthält zu einzelnen Paragraphen drei Versionen aus drei verschiedenen Semestern. Hier liegt der Verdacht nahe, dass der Abschreiber drei unterschiedliche Nachschriften vor sich hatte und diese rein summarisch zusammenfügte. Auch im Falle von Hoevell und Kohler ist es (z. B. aufgrund von Wiederholungen oder ungewohnten Kapitelbezeichnungen) zumindest wahrscheinlich, dass die zusammengestellten Kapitel und Teile so nicht vorgetragen worden sind. Wenn schon nicht die Abschriften ein zuverlässiges Bild der Vorlesungen geben, könnte man dies zumindest von den aus eigenen Mitschriften verfassten Reinschriften der Studenten Schellings erwarten. Allerdings wird diese Erwartung durch briefliche Hinweise getrübt. Äußerungen einiger Würzburger Studenten Schellings kann man entnehmen, dass dieser während seines Vortrags eine Mitschrift nicht duldete: „Wie gern hätte ich bisweilen die Bleyfeder herausgezogen, um so herrliche Ideen festzuhalten! Aber niemand schrieb.“24 Genauer äußert sich Ignaz Denzinger zu Beginn einer Würzburger Nachschrift von Schellings Vorlesungen uiber Philosophie. Danach habe es im Anschluss an die Vorlesungen eine Zusammenkunft einiger Hörer gegeben: –––––––— 24 Karl Philipp Kayser: In Xavier Tilliette (Hg.): Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Bd. 1. Turin 1974, S. 150.

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Mehre[re] Zuhörer schrieben nieder, was sie beym freyen Vortrag gemerket hatten, verglichen das Niedergeschriebene um Lücken auszufüllen, anders zu berichtigen, dem folgte die letzte Redaction. [Georg Michael] Klein war dabey besonders thätig. […] Seltener Fleiß, den ich jedem Verfasser wünsche.25

Möglicherweise sind aus diesen Zusammenkünften einige „vorbildliche“ Nachschriften entstanden von Hörern, die besonders verständig bzw. gedächtnisstark waren, indem sie bei der Supervision durch einen Schelling nahestehenden Schüler – hier Georg Michael Klein, der nachweislich der intimste Kenner von Schellings Philosophie in jener Zeit war – ausgezeichnet oder gar mitverfasst wurden. Auch Schelling selbst hat in mehreren anderen Fällen diese Durchsicht übernommen und damit Texte autorisiert, wie etwa bei den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810). In der Nachschrift von Hoevell heißt es im Titel: „Philosophie der Kunst vorgetragen und bearbeitet von Schelling“, was möglicherweise auf Schellings Rolle als Supervisor der Nachschrift schließen lässt. Zudem erklärt sich aus den Treffen der Hörer nach der Veranstaltung die große Dichte an Familienähnlichkeiten zwischen Nachschriften. Wie sehr die Nachschriften das gesprochene Wort wiedergeben, ist letztlich nicht zu ermitteln, allerdings wirft die Entstehungsgeschichte der Nachschriften große Zweifel hinsichtlich einer getreuen Wiedergabe auf. Es ist anzunehmen, dass die ersten gemeinsamen Niederschriften zeitnah nach den Vorlesungsstunden stattfanden und vom Wortlaut des Vortrags zumindest nicht zu weit abwichen. Daher ist der Zusatz in einer Nachschrift „Nach dessen [Schellings] mündlichem Vortrage zusammengefaßt“ so zu deuten, dass die Zusammenfassungen von den Studenten vorgenommen worden sind – ob sie mehr aus dem Verständnis oder der Erinnerung resultierten, ist dabei nicht zu entscheiden. Im speziellen Falle der Vorlesungen über Philosophie der Kunst besitzen wir glücklicherweise (oder nicht) einen Text, der auf Schellings Manuskript zurückgeht, nämlich die postume Sohnes-Edition. Da das Manuskript nicht mehr vorliegt, lässt sich allerdings auf diesem direkten Wege nicht vergleichen und feststellen, wie authentisch die Veröffentlichung ist. Zum Zustand des Manuskripts haben wir lediglich die Aussagen des Sohnes (im Vorwort der Ausgabe), wonach einige Seiten im Manuskript später in Würzburg hinzugekommen, einige noch aus der Jenaer Zeit stammten; es handelte sich wohl um ineinandergelegte Blätter unterschiedlichster zeitlicher Provenienz. Außerdem hat der Sohn einiges ausgelassen, das in anderen Schriften Schellings veröffentlicht oder Schelling von anderen Autoren schlichtweg übernommen hatte; die letztere Rücksicht erfolgte wohl, um Plagiatsvorwürfe zu umgehen. Zudem ist zu vermuten (aufgrund von den erhaltenen Manuskripten zu anderen Vorlesungen), dass Schelling im Manuskript Wörter und Sätze nicht permanent ausformulierte, sondern häufig abkürzte, was der Sohn dann stillschweigend und einige Male sogar falsch auflöste, eventuell auch durch einige Formulierungen ergänzte.26 –––––––— 25 Manuskript in der Universitätsbibliothek Würzburg (Sign.: Mchq 307). 26 Z. B. wird aus „unm.“: „unmittelbar“ statt: „unmöglich“ (AA II,6,1. S. 150).

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In diesem speziellen Falle ist es annähernd möglich, Schellings Manuskript, das dem Sohn zur Grundlage diente, zu rekonstruieren. Hilfreich dafür ist, dass Schelling nicht mehrere Manuskripte in dieser Zeitspanne benutzte, sondern nur ein einziges, allerdings ständig anwachsendes. Die Hinweise des Sohnes und weitere Vermutungen kann man mittels Herstellen einer intextuellen Relationalität zwischen SW-Text und den Nachschriften – unter dem Vorbehalt, dass beide Textsorten nicht hundertprozentig zuverlässig sind – erhärten. Die von Schellings Sohn ausgelassenen Stellen können so – auch wenn sie nicht explizit dort angegeben werden – identifiziert und fehlerhafte Auflösungen korrigiert werden. Mittels einer etwaigen Rekonstruktion des Manuskripts lassen sich auch Rückschlüsse auf dessen Verhältnis zum gesprochenen Wort ziehen. Zunächst einmal ist aufgrund des Umfangs des Manuskripts zu vermuten, dass es Schelling in dieser Form in keinem Semester als ganzes vorgetragen hat – dafür fehlte schon allein die Zeit. Das Manuskript scheint vielmehr die ständig wachsende Summe (als ein Aggregat und keineswegs ein organisches Produkt, wie es Schelling-Forscher aufgrund philosophischer Vorlieben gerne sähen) aus Schellings Bearbeitungen darzustellen: In einigen Semestern wird er mehr auf dieses oder jenes Thema eingegangen sein, hier oder dort noch Veränderungen oder Ausarbeitungen vorgenommen und dafür anderes weggelassen haben. Das Urbild (Manuskript) und mehr noch der SW-Text sind daher mit Vorsicht zu genießen, da sie reich sind an Inkonsistenzen, Widersprüchlichkeiten und miteinander inkompatiblen Terminologien. In dieser Form wurden die Vorlesungen wohl nie vorgetragen. Nicht nur aufgrund der Summierungsthese, sondern auch im Vergleich mit den Nachschriften kann man vermuten, dass zentrale Partien aus den letzten Vorlesungen Schellings vom Sommersemester 1805 stammen, dass das Manuskript folglich als ganzes Grundlage dieser letzten Vorlesungen war. Wie der Sohn im Vorwort berichtet, zeigt sich an der Beschaffenheit des Manuskripts, dass vor allem der erste Teil (der allgemeine Teil) bis zuletzt kontinuierlich verändert worden war, während spätere Teile (der besondere Teil) relativ konstant geblieben sind. Anhand einer philosophisch-systematischen Untersuchung lässt sich dies zum einen bestätigen, zum anderen lässt sich begründen, warum Schelling mehr Gewicht und Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Teil legte. So schreibt er in der Einleitung: Der Zusatz Kunst in ‚Philosophie der Kunst‘ beschränkt blos den allgemeinen Begriff der Philosophie, aber hebt ihn nicht auf. Unsere Wissenschaft soll Philosophie seyn. Dies ist das Wesentliche; daß sie eben Philosophie seyn soll in Beziehung auf Kunst, ist das Zufällige unseres Begriffs. Nun kann aber weder überhaupt das Accidentelle eines Begriffs das Wesentliche desselben verändern, noch kann Philosophie insbesondere als Philosophie der Kunst etwas anderes seyn, als sie an sich und absolut betrachtet ist. Philosophie ist schlechthin und wesentlich eins; sie kann nicht getheilt werden; was also überhaupt Philosophie ist, ist es ganz und ungetheilt.27

–––––––— 27 AA II,6,1. S. 111.

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Schellings Konzeption einer Identitätsphilosophie sah es vor, die Philosophie als Vernunftwissenschaft an die höchste Stelle zu setzen, aus deren allgemeinen Ausführungen die besonderen Disziplinen – Naturphilosophie, Geist- und Kunstphilosophie – deduktiv folgen. Diese Vorstellung findet sich auch in den Vorlesungen über Kunst wieder: Es gibt einen allgemeinen Teil, in welchem Schelling die Grundlagen seiner Philosophie mit Verortung der Kunst darin vornimmt, ihm folgt ein besonderer Teil, der die einzelnen Kunstgattungen (bildende Kunst: Musik, Malerei, Plastik; redende Kunst: Epos, Lyrik, Drama) im Gefüge des Systems behandelt. Das Übergewicht der Philosophie macht sich nicht zuletzt darin bemerkbar, dass der allgemeine Teil dem größten Wandel ausgesetzt ist, während der besondere Teil eher die Gestalt einer zunehmenden Materialsammlung annimmt. Die Informationen zu den einzelnen Kunstgattungen hat Schelling nachweislich von anderen Autoren (A. W. Schlegel, Johann Georg Sulzer, Johann Joachim Winckelmann, Rousseau, Goethe, Schiller u. a.) übernommen und manchmal gewaltvoll in sein System integriert. Der Sohn verweist darauf, dass die Paragraphen des allgemeinen Teils aus einer späten Version stammen, die sich durch Vergleich mit den Nachschriften und des Gebrauchs der Terminologie in anderen Schriften Schellings auf die späteste Version (Sommersemester 1805) datieren lässt. Der besondere Teil unterliegt dagegen nur einer Zunahme an Ausführungen: Was im vom Sohn überarbeiteten Manuskript (also Sommersemester 1805) 190 Seiten einnimmt (im Vergleich zu 90 Seiten allgemeiner Teil), hat zu Beginn in einer Nachschrift (vom Wintersemester 1802/03) nur 30 Seiten (im Vergleich zu 30 Seiten allgemeiner Teil). Die größten Aufschlüsse zur Datierungsfrage ergibt eine Untersuchung über den terminologischen Wandel in Schellings Philosophie von 1802 bis 1805, die anhand der veröffentlichten Schriften aus dieser Zeitspanne vorgenommen werden kann. Ergänzt durch briefliche Äußerungen ergeben diese, dass sich Schelling in dieser Zeit vorrangig mit den philosophischen Grundlagenfragen, eben dem allgemeinen Teil, auseinandergesetzt hat und insbesondere damit, durch welche Begriffe er eine Darstellung des Absoluten bzw. der absoluten Identität zu geben vermag. In der frühesten überlieferten Version (aus dem Wintersemester 1802/03) hantiert er dazu mit dem Begriffspaar Wesen-Form, ab 1805 dann mit der Begrifflichkeit der Affirmation (Affirmierendes-Affirmiertes). Für die Zeit dazwischen lässt sich eine prädikationstheoretische Ausarbeitung der Begriffe feststellen, die unmittelbar Eingang in die Vorlesungsnachschriften (z. B. von Pauls) findet. Zentral und für die Forschung von hohem Interesse ist dabei der Übergang von einer schematischmethodischen Dreiteilung hin zu einer Vierteilung, die sich aber nicht konsequent auf das gesamte Manuskript auswirkt. Im Gegenteil wird häufig deutlich, dass einige Teile des Manuskripts noch früheren Schematisierungen entsprechen und damit nicht zu der ‚neuen‘ Terminologie und Struktur passen. Verbunden mit dem Wandel in der Terminologie ist auch ein Wandel im Verhältnis von Philosophie und Kunst, der zeigt, wie der Jenaer Schelling noch – im Geiste und regionalen Einfluss der Frühromantik – eine Gleichstellung von Philosophie und Kunst konzipierte (oder gar eine Höherstellung der Kunst), die in seiner Würzburger Zeit mehr einer Priorisierung der Philosophie, also insbesondere des eigenen Identitätssystems, weicht.

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2. Historisch-kritische Edition der Philosophie der Kunst und Ausblick auf die Spätphilosophie In der historisch-kritischen Edition von Schellings Philosophie der Kunst wurde zunächst versucht, einen Eindruck des der SW-Version zugrundeliegenden Manuskripts zu geben und damit einen mit erklärenden Anmerkungen versehenen Leittext, der allerdings aus eben angeführten Gründen weit von einem ‚idealen‘ Text entfernt ist, zu konstituieren. Dafür wurden die von Schellings Sohn ausgelassenen Textpassagen – teils durch eigene Texte Schellings (z. B. die 14. Vorlesung aus den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium), teils durch Nachschriften (mit Ausführungen über die Geschichte der Ästhetik und über Prosodie und Metrik) – in den SWText reintegriert oder – falls aus Nachschriften – als Beilagen hinzugefügt.28 Einzelne Zitate aus den Nachschriften wurden in den erklärenden Anmerkungen angeführt, wenn sie einen substantiellen Beitrag zum Verständnis der betreffenden Stellen bieten oder etwas über Schellings Quellen verraten.29 Da der SW-Text aus dem spätesten Bearbeitungsstand des Manuskripts hervorgegangen ist (also zum Sommersemester 1805), wurde auch die früheste Nachschrift, nämlich die Jenaer Version Schlossers, gänzlich abgedruckt und dem SWText in einer Seitenkonkordanz gegenübergestellt.30 Der Wandel der Vorlesungen zwischen 1802 und 1805 wird in den erklärenden Anmerkungen durch Anführen anderer Textversionen aus den Nachschriften, ausführlich aber im Editorischen Bericht geschildert.31 Auf diese Weise soll verdeutlicht werden, wie sehr Schellings Philosophie der Kunst eine solche ‚im Werden‘ ist, die auch in ihrer spätesten Version, dem Manuskript bzw. dem SW-Text, kein Telos erreicht, als vielmehr einen weiteren Anlauf nimmt – freilich ein wenig unbeholfen, da sie in Form von früher verfassten Blättern den akkumulierten Ballast der vergangenen Jahre mit sich trägt. Durch Aufweis der intertextuellen Relationalität kann so etwas wie eine Genese im Denken Schellings über die Philosophie der Kunst dargestellt werden. Dadurch lässt sich zumindest auch eine mögliche Antwort auf die anfangs geäußerte Frage über das Original von Vorlesungstexten geben: Dieses ist weder das gesprochene noch das geschriebene Wort als vielmehr das sich darin vollziehende Denken. Dessen genetischer Vollzug wird eben nicht durch bloße Edition und Aneinanderreihung der vorliegenden Texte sichtbar, sondern indem diese miteinander in Beziehung gesetzt werden. Für die Spätphilosophie wird diese Aufgabe noch dringlicher. Bereits die Beschäftigung mit den frühen Vorlesungen über Philosophie der Kunst haben ergeben, dass die editorisch-philologische Arbeit dabei innig mit der philosophischen Forschung einherzugehen hat. Der Wandel von Begrifflichkeiten und Konzeptionen wie auch der Fokus von Schellings Bearbeitungen erschließen sich nur vor dem Hintergrund der philosophischen Intentionen des Autors. Auch Medium und –––––––— 28 AA II,6,1. S. 97–104; AA II,6,2. S. 541–555. 29 Häufig werden im Gegensatz zum SW-Text in Nachschriften Quellen genannt oder auch Zitate als solche gekennzeichnet. 30 AA II,6,2. S. 413–468; 788f. 31 AA II,6,1. S. 42–46.

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Ausdrucksweise können daraus erhellt werden: Schelling hat sich wie bereits erwähnt zeit seines Lebens mehr durch Vorlesungen als durch philosophische Schriften geäußert, in den letzten vierzig Jahren seines Lebens fast ausschließlich. Wenn man nach Gründen dafür sucht, kann man zum einen äußere annehmen wie eine psychische Schreibblockade, zu große Belastung durch andere Aufgaben, familiäre Konstellationen, Krankheiten usw. Doch mehr Gewicht dürften die internen (philosophischen) Gründe haben. Danach geht es Schelling in seinem gesamten Denken um die Darstellung des Absoluten. Dieses ist aber durch unser diskursives, in diskreten Begriffen und Sätzen voranschreitendes Denken nur bedingt einzufangen. Mehr noch: Die Diskretheit und Analytizität dieses Denkens steht sogar konträr zur lebendigsynthetischen Dynamik des Gegenstandes. Ferner kann der Gegenstand nicht objektiv, d. h. durch einen Blick von außen verstanden werden, vielmehr verlangt er das Sich-einlassen, den Mitvollzug oder die Performanz der Dynamik. Dies ist ein Grund, weshalb Schelling das Mitteilungsmedium der Vorlesungen präferierte, da diese gerade nicht eine Abgeschlossenheit und Objektivität (eines Systems) vorgaukeln, welche den Gegenstand verfehlten; und zudem die Hörer dahin führen können, sich versuchend und im eigenen Denken auf den Gegenstand einzulassen. Die Fixierung auf einzelne Sätze steht dem genauso im Weg, wie die Verbreitung von Nachschriften, die suggerieren, Schellings Philosophie auf den Punkt zu bringen. Dies mag im übrigen der Hauptgrund gewesen sein, weshalb Schelling seinen Studenten verbot mitzuschreiben, da es vom Selbstdenken ablenkte und zudem den Eindruck erweckte, man könnte des Absoluten in festen Sätzen habhaft werden. Vielmehr muss jeder die Gedankenbewegung (und Ausformulierung) selbst übernehmen. Die Vorlesungen sollten daher den Einblick in die Gedankenwerkstatt eines Philosophen bieten, der mit sich und seiner Sprache ringt, Neueinsätze vornimmt und Holzwege verwirft. Bei höherer Komplexität wie in Schellings Spätphilosophie empfiehlt es sich, die intertextuelle Relationalität durch digitale Techniken zur Darstellung zu bringen. Die (mehrdimensionale) Nebeneinanderstellung paralleler, also relationaler Textpassagen der verschiedenen Überlieferungstexte sowie graphische Hilfsmittel wie Schemata und Diagramme können dabei helfen, die Fülle an Texten in geeigneter Form dem Leser darzubieten, um im Ausgang von einem Leittext – in der Regel sind dies die SW-Texte – dessen Genese und performative Dynamik aufzuzeigen. Neigt der Druck noch zur „gefrorenen Form“, kann die digitale Darstellung die liquide Alternative dazu liefern. Auf diese Weise vermag es die historisch-kritische Edition von heute, einen Einblick in die Werkstatt eines Philosophen zu vermitteln.

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Abstract Lecture courses provide a basis for gaining insight into a philosopher’s factory of thought. In most cases, the historical-critical edition and its readers have to cope with numerous text sources, above all lecture notes. Instead of simply publishing the complete notes, the historical-critical edition has to focus on the relationship between these texts in order to liquidate the “frozen form of printed texts” and lead into the dynamics of text production and thinking. This paper shows how the recently published edition of Schelling’s lecture courses on philosophy of art pursues this idea of a ‘critique génétique’.

Daniel Elon

Schopenhauers Versuche als Dozent Zur Edition der Vorlesung von 1820

Arthur Schopenhauers scharfe, entschiedene Polemik gegen die „Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren“, allen voran gegen seinen Zeitgenossen Hegel, ist weithin bekannt.1 Wie kaum ein Zweiter in der Philosophiegeschichte steht Schopenhauer scheinbar für eine dezidiert außer- und gegenakademische Form des Philosophierens. In seinen Parerga von 1851 beispielsweise schreibt Schopenhauer hierzu: Inzwischen bleiben die solchermaaßen beschränkten Universitätsphilosophen bei der Sache ganz wohlgemuth; weil ihr eigentlicher Ernst darin liegt, mit Ehren ein redliches Auskommen für sich, nebst Weib und Kind, zu erwerben, auch ein gewisses Ansehn vor den Leuten zu genießen […]. Daher gehört es denn auch zu den seltensten Fällen, daß ein wirklicher Philosoph zugleich ein Docent der Philosophie gewesen wäre.2

Dabei vertritt Schopenhauer diese Haltung keineswegs von Anfang an: Mit seiner Vorlesung über Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste versucht er sich im Sommersemester 1820 als Dozent an der Berliner Universität, nachdem er zuvor, im selben Jahr, die venia legendi erhalten hatte.3 Sechsmal wöchentlich hält er dort die Vorlesung mit dem oben genannten Titel – und hat im Vorfeld in enormer Überschätzung seiner Popularität veranlasst, dass seine eigene Vorlesung zeitgleich mit derjenigen Hegels, Logik und Metaphysik, stattfinden soll. Diese Vermessenheit kann als einer der Gründe gelten, wieso Schopenhauers akademische Karriere scheiterte: Die Vorlesung im Sommersemester 1820 stieß auf äußerst geringes Interesse – vermutet wird eine Zuhörerschaft von etwa fünf Studenten –, und obwohl Schopenhauer, mit Unterbrechungen, bis zum Wintersemester 1831/32 weiterhin Vorlesungen in Berlin ankündigte, blieb diejenige von 1820 die einzige, die tatsächlich gehalten wurde. Kuno Fischer spricht diesbezüglich von einem „augenfälligen und selbstverschuldeten Fiasko“.4 –––––––— 1 Arthur Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 1. 3. Aufl. Wiesbaden 1972, S. 51. 2 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Erster Band. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 5. 3. Aufl. Wiesbaden 1972, S. 151. 3 Zu Schopenhauers Lehrtätigkeit allgemein vgl. Arthur Hübscher: Schopenhauer als Hochschullehrer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 39 (1958), S. 172–175. 4 Kuno Fischer: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [1893]. 4. Aufl. Heidelberg 1934, S. 61. Vgl. Thomas Regehly: Die Berliner Vorlesungen: Schopenhauer als Dozent. In: Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Daniel Schubbe u. Matthias Koßler. 2. Aufl. Stuttgart 2018, S. 169– 179, hier S. 178.

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Diese Ausgangslage erklärt eine Besonderheit in Bezug auf Schopenhauers Vorlesung, die das Editionsprojekt derselben wesentlich von anderen Vorlesungseditionen, beispielsweise von der laufenden Herausgabe der Vorlesungen Hegels in den Gesammelten Werken, unterscheidet: Bislang sind keine studentischen Mitschriften bekannt. Grundlage der Edition ist einzig und allein Schopenhauers Manuskript zur Vorlesung. Dieses aus insgesamt 1840 losen Bogen und Seiten bestehende Manuskript, das gegenwärtig in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt wird, bietet jedoch für sich gesehen eine zuverlässige Basis für eine angemessene Edition. Im Folgenden soll zum Ersten dargestellt werden, aus welchen Gründen Schopenhauers Vorlesung als wichtiges Element seines Gesamtwerkes anzusehen ist; zum Zweiten, wieso die bisherige Editionslage nicht zufriedenstellend ist; zum Dritten, welchen Leitlinien das aktuell laufende Projekt der Studienausgabe verpflichtet ist; zum Vierten, wie sich dieses Projekt intern gliedert; zum Fünften schließlich, wie sich die Studienausgabe, die im Zeitraum um 2020, dem zweihundertsten Jubiläum der Vorlesung, komplett vorliegen soll, zum zukünftigen Projekt einer Gesamtausgabe verhalten wird.

1. Die Bedeutung der Vorlesung für Schopenhauers Gesamtwerk5 Unmittelbar vor seiner Lehrtätigkeit in Berlin, nämlich 1818/19, erschien die Erstauflage des ersten Bandes von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (im Folgenden WWV).6 Der aus vier Büchern bestehende Band, der in der Zweitauflage von 1844 durch einen umfangreicheren, erläuternden zweiten Band ergänzt wurde, war zum Zeitpunkt des Ersterscheinens zwar kein großer Erfolg, gehört inzwischen jedoch zweifellos zu den Klassikern der deutschen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. Durch die Publikation seines frühen magnum opus sieht Schopenhauer den „Hauptzweck“ seines Lebens bereits als „völlig erreicht“ an, so in einem Brief an Martin Lichtenstein vom 13. Dezember 1819.7 Dennoch hegt er den Wunsch, seine schriftlich ausgearbeitete Philosophie im Rahmen akademischer Lehrtätigkeit an einer öffentlichen Universität allgemein zugänglich zu machen, wie er in einem Brief an Johann Friedrich Blumenbach von Anfang Dezember 1819 darstellt:

–––––––— 5 Zu diesem Abschnitt vgl. die hier als Orientierung dienende Darstellung von Daniel Schubbe: Einleitung. In: Arthur Schopenhauer: Vorlesung über Die gesamte Philosophie. 3. Teil: Metaphysik des Schönen. Hg. v. Daniel Schubbe unter Mitarbeit von Judith Werntgen-Schmidt u. Daniel Elon. Hamburg 2018 (Philosophische Bibliothek. 703), S. IX–XXV, hier S. IX–XI. 6 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung: vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Leipzig 1819. 7 Schopenhauer: Gesammelte Briefe. Hg. v. Arthur Hübscher. 2. Aufl. Bonn 1987, S. 46.

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Nachdem nun besagtermaaßen die Lehrjahre und auch die Wanderjahre vorüber sind, glaube ich mir nunmehr den Doktorgrad auch selber bestätigen zu dürfen und fange an zu meinen, daß jetzt wohl Einer und der Andre Manches von mir möchte lernen können. Daher ist jetzt mein Plan mich auf einer Universität zu habilitiren, um denen die es etwa hören möchten, spekulative Philosophie nach meiner Weise vorzutragen. Meine Absicht schwankt zwischen Göttingen, Berlin und Heidelberg. Jedoch neigen meine Wünsche sich am meisten nach Göttingen […].8

Schopenhauers Absicht, durch seine Philosophie „persönlich wirksam zu werden“,9 mag die primäre Motivation seiner Lehrtätigkeit gewesen sein: Die Situation, sein Hauptwerk bereits veröffentlicht zu haben, sein Denken bislang jedoch noch nicht im intersubjektiven Rahmen des akademischen Diskurses besprochen haben zu können, kann gewissermaßen als temporäre existenzielle Lücke in Schopenhauers Leben verstanden werden, der durch die universitäre Dozentur und damit durch eine neu zu kreierende „bürgerliche Existenz“10 Abhilfe geschaffen werden sollte. Darüber hinaus waren jedoch auch finanzielle Gründe nicht gänzlich irrelevant: Denn obwohl Schopenhauer durch seine Erbschaft wirtschaftlich im Wesentlichen abgesichert war, führte der Konkurs eines Danziger Handelshauses zu gewissen finanziellen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten. Diese finanzielle Lücke sollte durch seine Lehrtätigkeit geschlossen werden, auch wenn er seinen Unmut darüber äußerte, dass er sich gezwungen sah, ‚mit seinem Wissen Handel zu treiben‘.11 Die Vorlesung von 1820 selbst orientiert sich stark am Aufbau und über weite Strecken auch am Wortlaut der zuvor erschienenen WWV.12 So ist auch die Vorlesung in vier Hauptteile gegliedert, die jedoch andere Titel tragen als die vier Bücher der WWV. Die Vorlesungskapitel lauten: 1) „Theorie des Vorstellens, Denkens und Erkennens“; 2) „Metaphysik der Natur“; 3) „Metaphysik des Schönen“ und schließlich 4) „Metaphysik der Sitten“. In der Vorlesung versucht Schopenhauer mithin, den organischen Aufbau seines Hauptwerkes zu reproduzieren: Dort ist jeder Teil nur unter Berücksichtigung der anderen Teile zu verstehen; die Gesamtheit des Systems soll in letzter Instanz allein ‚einen einzigen Gedanken‘ zum Ausdruck bringen.13 Aufgrund dieser organischen Systematik sieht Schopenhauer es für seine Leser

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Schopenhauer 1987 (Anm. 7), S. 43. Schopenhauer 1987 (Anm. 7), S. 46. Ebd. Vgl. Schopenhauer 1987 (Anm. 7), S. 61. Vgl. hierzu weiterführend Salomon Levi: Das Verhältnis der „Vorlesungen“ Schopenhauers (hg. v. P. Deussen Band IX und X) zu der „Welt als Wille und Vorstellung“ (Erste Auflage). Ladenburg 1922. 13 Schopenhauer 1819 (Anm. 6), S. V. Bereits 1817 formuliert Schopenhauer diesen Gedanken folgendermaßen: „die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens“ (Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 1: Frühe Manuskripte (1804–1818). Frankfurt/M. 1966, S. 462). Zur Problematik des ‚einen Gedankens‘ und dieser Formulierung vgl. Jens Lemanski u. Daniel Schubbe: Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der „Welt als Wille und Vorstellung“. In: Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Daniel Schubbe u. Matthias Koßler. 2. Aufl. Stuttgart 2018, S. 43–51.

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als unabdingbar an, die WWV zweimal zu lesen, um zu einem hinreichenden Verständnis des Buches gelangen zu können.14 Indem sich Schopenhauer 1820 in der Situation sieht, dieses System der WWV in Form einer Vorlesung zu vermitteln, wird er zugleich mit besonderen didaktischen Herausforderungen konfrontiert. Und hier zeigt sich nun, inwieweit sich die Vorlesung bedeutend von der WWV unterscheidet und als eigenständiges Opus einen definitiven Platz in Schopenhauers Gesamtwerk verdient: Zum einen ist die Vorlesung in derjenigen Form, die durch das Manuskript allein vorliegt, umfangreicher als die WWV in ihrer Erstauflage. Es werden zahlreiche Aspekte seiner Philosophie zur Sprache gebracht und expliziert, die im Hauptwerk nicht entsprechend zur Geltung kommen. Zudem gibt es neben weiterführenden Erläuterungen der vertretenen Positionen auch signifikante strukturelle Abwandlungen.15 Zum anderen weist der Vorlesungstext aufgrund seiner direkten, persönlichen Orientierung in Richtung der Hörer der Vorlesung ein beeindruckendes Maß an Lebhaftigkeit des Vortrags sowie an Facettenreichtum der sprachlichen Darstellungsformen auf. Es kann daher durchaus konstatiert werden, dass die Vorlesung eine inhaltlich vertiefte sowie erweiterte und didaktisch umsichtig aufbereitete Variante der WWV mit eigenständiger philosophischer Charakteristik darstellt.16 Gerade für den gegenwärtigen Lehrbetrieb ist die Vorlesung somit in besonderem Maße geeignet, sich eingehend mit der Philosophie Schopenhauers zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Dass es für eine zuverlässige wissenschaftliche Arbeit mit dem Text einer neuen Edition bedarf, soll im folgenden Kapitel näher begründet werden.

2. Zur bisherigen Editionslage Die erste vollständige, textkritische Edition von Schopenhauers Vorlesung wurde 1913 von Franz Mockrauer vorgelegt und erschien in den Bänden IX und X17 der Ausgabe Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, geleitet von Paul Deussen, dem Gründer und ersten Präsidenten der seitdem international wichtigen SchopenhauerGesellschaft. Diese Ausgabe der Vorlesung galt bisher als Standard innerhalb der Schopenhauer-Forschung und diente auch Volker Spierling als Grundlage für seine Ausgabe, die 1984–86 erschien.18 Spierling verzichtet auf eine erneute Transkription von Schopenhauers Manuskript und verweist, ebenso wie zuvor Arthur Hübscher,19 der die Sämtlichen Werke20 und den Handschriftlichen Nachlaß herausgab,21 auf die –––––––— 14 Vgl. Schopenhauer 1819 (Anm. 6), S. VI f. 15 Das vierte Buch des ersten Bandes der WWV endet mit dem Wort „Nichts“, vgl. Schopenhauer 1819 (Anm. 6), S. 590. Dies z. B. verhält sich in der Vorlesung anders. 16 Zur eigentümlichen Charakteristik der Vorlesung vgl. vertiefend Regehly 2018 (Anm. 4), S. 170 f.; Schubbe 2018 (Anm. 5), S. XII–XV. 17 Arthur Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen. In: Arthur Schopenhauers sämtliche Werke. Hg. v. Paul Deussen. Bde. IX u. X. München 1913. 18 Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen. Hg. v. Volker Spierling. 4 Bde. München 1984–1986. 19 Vgl. Arthur Hübscher: Vorwort des Herausgebers. In: Schopenhauer 1966 (Anm. 14), S. VII–XVI, hier S. XII. 20 Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. 7 Bde. 3. Aufl. Wiesbaden 1972.

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vermeintliche Zuverlässigkeit der Transkription Mockrauers.22 Bei genauerer kritischer Inspektion zeigt sich jedoch, dass diese vermutete Zuverlässigkeit faktisch nicht vorliegt: Neben Transkriptionsfehlern, uneinheitlichen Auflösungen von Abkürzungen und ungekennzeichneten Eingriffen in den Text zeigen sich zudem Uneinheitlichkeiten in Bezug auf die Deklaration von Zusätzen und Streichungen. Aufgrund dieser problematischen Ausgangslage erscheint eine erneute, komplett eigenständige Transkription des Manuskripts als unumgänglich, um eine wissenschaftlich belastbare und zuverlässige aktuelle Edition des Textes vorlegen zu können. Die daraus für die gegenwärtige Studienausgabe folgenden Leit- und Richtlinien dieses Transkriptionsprozesses werden im Folgenden besprochen.

3. Leitlinien der Edition Schopenhauer, der seine eigene Philosophie stets mit enorm großem Selbstvertrauen beurteilte und bewertete, machte diese Selbstsicherheit auch für die sprachliche Form seiner Schriften geltend. Bezeichnend hierfür ist eine Passage aus seinem späten handschriftlichen Nachlass: Erfüllt mit Indignation über die schändliche Verstümmelung der deutschen Sprache, welche, durch die Hände mehrerer Tausende schlechter Schriftsteller und urtheilsloser Menschen, seit einer Reihe von Jahren, mit eben so viel Eifer wie Unverstand, methodisch und con amore, betrieben wird, sehe ich mich zu folgender Erklärung genöthigt: Meinen Fluch über Jeden, der, bei künftigen Drucken meiner Werke, irgend etwas daran wissentlich ändert, sei es eine Periode, oder auch nur ein Wort, eine Silbe, ein Buchstabe, ein Interpunktionszeichen.23

Für seine zu Lebzeiten publizierten Werke gibt Schopenhauer, in seiner berüchtigten polemischen Schärfe, somit bereits eindeutige Editionsrichtlinien vor. Diese Vorgabe bezieht sich jedoch lediglich auf diejenigen Schriften, die Schopenhauer selbst zum Druck als Buch freigegeben hat und die demnach bestimmte formale Kriterien erfüllen, die bei Neuausgaben als Orientierung dienen können. Mit dem aus losen Blättern bestehenden Manuskript zur Vorlesung liegt nun ein grundlegend andersartiger Fall vor, weshalb die Herausgabe dieses Textes mit besonderen Herausforderungen verbunden ist und das explizite Verbot Schopenhauers, auch nur „irgend etwas“ (s. o.) an seinen Schriften zu verändern, hier in dieser Stärke keine Gültigkeit besitzen kann: schließlich war das Manuskript keineswegs für Druck und Veröffentlichung gedacht, sondern diente ursprünglich allein als Basis für den mündlichen Vortrag. Dies zeigt sich insbesondere am äußerst häufigen, jedoch bisweilen uneinheitlichen Gebrauch von Abkürzungen und Verweisen auf inhaltlich verwandte Textstellen, z. B. aus –––––––— 21 Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß. Hg. v. Arthur Hübscher. 5 Bde. Frankfurt/M. 1966–1975 (unveränderter Neudr. München 1985). 22 Vgl. Volker Spierling: Zur Neuausgabe. In: Schopenhauer 1984–1986 (Anm. 19), Bd. 2, S. 11–17, hier S. 11. 23 Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 4,II: Letzte Manuskripte, Gracians Handorakel. Frankfurt/M. 1975, S. 33 (Hervorhebung im Original).

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Schopenhauers mit Anmerkungen versehenem Handexemplar der Erstauflage der WWV und aus verschiedenen privaten Manuskriptbüchern. Auch die Schreibung beispielsweise von Eigennamen ist oftmals auffallend uneinheitlich. Insgesamt befindet sich das Manuskript damit jedoch in einem guten Zustand. Viele der Manuskriptseiten sind problemlos transkribierbar. In vielen anderen Fällen liegen auf einem einzigen Blatt allerdings diverse Streichungen, Ergänzungen, ineinander verschachtelte Einfügungen und Korrekturen, teilweise in verschiedener Schriftfarbe, vor, sodass eine effektive Übersicht über die eigentliche Gestalt des Vortrags oft mit Schwierigkeiten einhergeht. Auch hat Schopenhauer im Laufe der Jahre häufiger zwecks verschiedenartiger Modifikationen erneut in das Manuskript eingegriffen. So finden sich beispielsweise diverse Verweise auf Literatur, die erst deutlich nach 1820 erschienen ist. Das Manuskript weist in seiner letztgültigen Form somit eine komplexe, bewegte Entstehungsgeschichte auf. Primäre Richtlinie der hier vorgestellten Studienausgabe ist das Vorhaben, den Text des Manuskripts in seinem letzten Bearbeitungsstand, ohne historische Aufarbeitung der Textgenese, so effektiv wie möglich wiederzugeben. Das heißt im vorliegenden Spezialfall, einen insgesamt adäquaten Kompromiss zu finden zwischen guter Lesbarkeit einerseits und Beibehaltung des individuellen Manuskriptcharakters andererseits. Eigentümlichkeiten in Orthographie, Interpunktion und Hervorhebung werden daher ebenso beibehalten wie uneinheitliche Schreibweisen z. B. von Eigennamen. Abkürzungen feststehender Termini (beispielsweise ‚Ding an sich‘; ‚Subjekt des Erkennens‘; ‚Wille zum Leben‘) und im Schreibprozess weggefallene Wortendungen werden nach klar festgelegten und erläuterten Regeln aufgelöst, um eine flüssige Lesbarkeit ohne inhaltliche Manipulationen gewährleisten zu können. Die in einigen Fällen aufgrund des Manuskriptcharakters unvermeidbaren Unklarheiten und darauf reagierende Konjekturen werden entsprechend im textkritischen Apparat vermerkt. Auch bei offensichtlichen Schreibfehlern wird die originale Schreibweise im Apparat angegeben, sodass es zu keinen stillschweigenden Emendationen kommt. Im Vergleich zur inzwischen über ein Jahrhundert alten Transkription Mockrauers lässt sich auf Basis der möglichst exakten neuen Transkription, unter konsequenter Befolgung der genannten Leitlinien, ein deutlicher Fortschritt hinsichtlich der nun vorliegenden Textgestalt verzeichnen. Denn auch wenn das Manuskript, wie bereits erwähnt und als eine der zentralen Herausforderungen des Editionsprojekts benannt, von Schopenhauer nicht zum Druck vorgesehen war, so hat es sich im Transkriptionsprozess doch als durchaus möglich erwiesen, den Text des Manuskripts in angemessen präziser Form verfügbar zu machen. Bezüglich dieses Prozesses kann eine Äußerung Schopenhauers an den Setzer des Brockhaus-Verlages in Erinnerung gerufen werden: Mein lieber Setzer! Wir verhalten uns zu einander wie Leib und Seele, müssen daher, wie diese, einander unterstützen, auf daß ein Werk zu Stande komme, daran der Herr (Brockhaus) Wohlgefallen habe. – Ich habe hierzu das Meinige gethan und stets, bei jeder Zeile, jedem Wort, ja jedem Buchstaben, an Sie gedacht, ob Sie nämlich es auch würden lesen können. Jetzt thun Sie das Ihre. […] Betrachten Sie genau meine Rechtschreibung und In-

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terpunktion: und denken Sie nie, Sie verständen es besser; ich bin die Seele, Sie der Leib […] und überall sei das Letzte was Sie denken oder annehmen dieses, daß ich eine Nachlässigkeit begangen hätte.24

Dass es – zumindest im privaten Manuskript zur Vorlesung, daher in einem, wie gesagt, anderen Kontext als im Zusammenhang der Interaktion mit Setzer und Verleger – jedoch durchaus zu Nachlässigkeiten Schopenhauers gekommen ist, zeigt sich vor allem in den Zitationen der Werke anderer Autoren, die nicht selten diverse Fehler aufweisen. Eben hierhin besteht eine weitere Herausforderung der Edition, zugleich zeigt sich hier allerdings auch der enorme inhaltliche Reichtum der Vorlesung: Schopenhauer greift im Laufe seines Vortrags durchgehend auf einen beeindruckenden Fundus an Schriften aus Weltliteratur und Philosophiegeschichte zurück, was die Lebhaftigkeit, den Farbreichtum und die Weite des geistigen Horizonts der Vorlesung auf ein bemerkenswertes Maß anhebt. An dieser Stelle sei eine kurze, bloß exemplarische Aufreihung einiger weniger der zitierten Autoren angeführt, die zugleich wie eine äußerst abwechslungsreiche Reise durch die westliche Geistesgeschichte anmutet: Homer, Hesiod, Platon, Vitruv, Cicero, Vergil, Seneca, Plotin, Augustinus, Dante, Petrarca, Luther, Francis Bacon, Shakespeare, Kepler, Jakob Böhme, Calderón, Spinoza, Malebranche, Racine, Voltaire, Kant, Goethe, Schiller, Byron; dazu religiöse Schriften aus Christentum, Judentum und Brahmanismus sowie zeitgenössische naturwissenschaftliche Publikationen aus den verschiedensten Fachbereichen. Bezüglich dieser enormen Fülle an Literaturverweisen im Manuskript wurde, sofern möglich, auf Schopenhauers eigene, sich im Schopenhauer-Archiv in Frankfurt am Main befindliche Ausgaben zurückgegriffen, um im Anmerkungsapparat die genauen, bibliographisch vollständigen Belegstellen, falls nötig Übersetzungen sowie den zitierten Text im oft davon abweichenden Original wiederzugeben. Auf diese Weise bietet die Vorlesungsedition zugleich einen instruktiven Einblick in die literatur- und philosophiegeschichtliche Reichweite des Netzwerks intertextueller Referenzialität von akademischer Autorschaft im frühen neunzehnten Jahrhundert.

4. Gliederung und voraussichtlicher Zeitplan des Projekts Die Studienausgabe zur Vorlesung über Die gesamte Philosophie gliedert sich, der Struktur der Vorlesung entsprechend, in vier Bände. Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Beitrags befindet sich die Studienausgabe in der Kernphase des editorischen Arbeitsprozesses. Der Anfang des Projekts wurde mit Band 4, Metaphysik der Sitten, gemacht, der bereits 2017 erschienen ist. Aktuell, 2018/19, sollen die Bände 3, Metaphysik des Schönen, sowie 2, Metaphysik der Natur, erscheinen. Der Abschluss der Ausgabe mit dem deutlich umfangreicheren Band 1 ist für den Zeitraum 2019/20, dem zweihundertjährigen Jubiläum der Vorlesung, vorgesehen. Dieser Band wird neben dem ersten, epistemologischen Teil der Vorlesung, Theorie des Vorstellens, Denkens und Erkennens, auch drei Anhänge, den Anfang der „Dianoio–––––––— 24 Schopenhauer 1987 (Anm. 7), S. 203.

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logie“ (1821), die Probevorlesung „Über die vier verschiedenen Arten der Ursachen“ (1820) sowie die „Feierliche Lobrede auf die Philosophie“ (1820) enthalten.

5. Studienausgabe und historisch-kritische Gesamtausgabe: Aktueller Stand und weiterführende Planung Aufgrund des wachsenden Interesses an der Philosophie Schopenhauers, sowohl im akademischen Rahmen als auch außerhalb desselben, erschien es als sinnvoller Schritt, zunächst eine leicht verfügbare und hinsichtlich der Textgestalt gut zugängliche Studienausgabe der Vorlesung auf Grundlage des finalen Manuskriptzustandes zu erarbeiten. Wie bereits konstatiert, eignet sich dieser Teil von Schopenhauers Gesamtwerk aufgrund seiner didaktischen Ausrichtung in besonderer Weise für universitäre Lehrveranstaltungen zu Schopenhauer sowie für die individuelle Lektüre, um einen Zugang zum Denken Schopenhauers zu gewinnen. Zugleich bietet das Editionsprojekt erstmalig seit der längst vergriffenen Ausgabe Deussen/Mockrauer von 1913 eine wissenschaftlich belastbare Ausgabe des Vorlesungstextes, die außerdem den Ansprüchen an eine Studienausgabe – gute Zugänglichkeit des möglichst originalgetreu wiedergegebenen Textes; entsprechende Einleitungen, Belege und Verweise; kostengünstige Verfügbarkeit – Genüge leisten soll. Auch über den Teilaspekt der Vorlesung hinausgehend ist die Editionslage zum Werk Schopenhauers bisher insgesamt problematisch: Anders als im Fall vieler anderer Autoren der Zeit liegt noch immer keine eindeutige Referenzausgabe vor. Stattdessen gibt es eine Vielzahl verschiedener Ausgaben (Deussen, Hübscher, Löhneysen, Lütkehaus etc.), die sich deutlich in Bezug auf Qualität, Zielsetzung und Verfügbarkeit unterscheiden. Besonders die Editionslage von Schopenhauers Nachlass ist noch unbefriedigend: Bisherige Nachlassausgaben sind größtenteils vergriffen, außerdem wurde ein Teil des Nachlasses bislang noch nicht veröffentlicht. Mit den Ausgaben Ernst Zieglers ist hier innerhalb der letzten Jahre bereits einiges aufgearbeitet worden, wenn auch nicht im Rahmen einer kritischen Edition.25 Eine historisch-kritische Gesamtausgabe, sowohl als primäre Referenz für die globale Forschungstätigkeit zu Schopenhauers Philosophie wie auch als Textbasis für zukünftige Übersetzungsprojekte, stellt daher nach wie vor ein Desiderat dar. Ihre Erarbeitung hat bereits begonnen und ist in den folgenden Jahren weiterführend zu strukturieren. Die aktuelle Publikation der vier Bände der Studienausgabe zur Vorlesung stellt hierzu einen wichtigen frühen Schritt dar, durch den zugleich, wie –––––––— 25 Vgl. Schopenhauer: Senilia. Gedanken im Alter. Hg. v. Franco Volpi u. Ernst Ziegler. 2. Aufl. Darmstadt 2011; Arthur Schopenhauer: Spicilegia. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. v. Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop u. Manfred Wagner. München 2015; Arthur Schopenhauer: Pandectae. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. v. Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop u. Manfred Wagner. München 2016; Arthur Schopenhauer. Cogitata. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. v. Ernst Ziegler unter Mitarbeit v. Anke Brumloop, Clemens Müller u. Manfred Wagner. Würzburg 2017; Arthur Schopenhauer. Cholerabuch. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. v. Ernst Ziegler. Würzburg 2017.

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dargestellt, die ersten Ergebnisse der Editionsarbeit für Forschung, Lehre und Privatinteresse zugänglich gemacht werden können. Abstract Arthur Schopenhauer’s Vorlesung über Die gesamte Philosophie (Berlin, 1820) was the first and also the only lecture he held at a university. The lecture was scarcely visited and turned out to be a big failure, mainly because it took place at the same time as Georg W. F. Hegel’s lecture Logik und Metaphysik, as Schopenhauer had determined by himself in a state of overestimation of his own popularity. Ever since, Schopenhauer has often expressed his contempt for academic philosophy. Nonetheless, the Vorlesung has to be considered as an essential part of Schopenhauer’s philosophy as a whole: the lecture shows a strong link to Schopenhauer’s magnum opus, Die Welt als Wille und Vorstellung, first published in 1818/19. However, the Vorlesung is an original and independent work and can be understood as a didactically modified version of Die Welt als Wille und Vorstellung. It is therefore fundamentally relevant for the research of the philosophy of Schopenhauer, especially in the context of academic education. In this article, the current edition of the Vorlesung shall be introduced and described, since the few former editions are not appropriate for scholarly activity in a satisfying way.

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Also sprach Nietzsche Zur Edition der Vorlesung „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“ (Sommersemester 1871)

Friedrich Nietzsche als Lehrer am Pädagogium und als Professor an der Universität Basel 1869–1879 ist ein unentdecktes Land. Der Weg, der uns direkt in dieses Land führt, sind die Unterrichts- und Vorlesungsmit- und -nachschriften seiner Schüler und Studenten.1 Die Zeit zwischen 1770 und 1870 war die große Epoche der akademischen Vorlesungen, welche den wichtigsten Modus der Wissensvermittlung im Bereich der Universität darstellten. Wie wurden die Wissensnetze im neunzehnten Jahrhundert gesponnen? Welches waren die in diesen Netzen benutzten Kommunikationsformen, um das Wissen zu übertragen? Wer waren die Intellektuellen in diesem Kontext, und was war ihre Funktion? Wie funktionierten die Beziehungen der akademischen, literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Kreise? Zwischen den privaten Dialogen in den Freundeskreisen auf der einen und den institutionellen Diskursen der akademischen Veranstaltungen auf der anderen Seite bestand eine ganze Reihe von Übertragungsformen des Wissens im literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich, die sowohl mündliche als auch schriftliche Modi annehmen konnten, wie wir sie zum Beispiel in Vereinen, Lesezirkeln usw. beobachten können. Zu der Diversität und Komplexität dieser Formen sind auch noch die Übertragungsformen hinzuzuzählen, die dem akademischen Bereich eigen waren und die auf die Geburt der Universität zurückgehen.2 Vorlesungen verdanken wir eine ganze Reihe ‚großer Bücher‘: Bei Kants Anthropologie und Metaphysik, Hegels Ästhetik und Boeckhs Encyklopädie, Droysens Historik und Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen handelt es sich sämtlich um Vorlesungen, die von ihren Autoren seinerzeit nur mündlich vorgetragen, nicht aber schriftlich publiziert wurden. Neben den Vorlesungen existierten zeitgleich –––––––— 1 In den Blick gerückt habe ich diese Dokumente, die in der Nietzsche-Forschung bislang unberücksichtigt waren, im Zuge eines Humboldt-Forschungsstipendiums an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg zwischen 2015 und 2017. Nach Durchführung einer detaillierten Untersuchung der Verwaltungsdokumente des Pädagogiums und der Universität Basel (Erziehungsakten, Semester- und Jahresberichte, etc.), die im Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt werden, wurde eine komplette Liste der Schüler und Studenten Nietzsches angefertigt, welche als Ausgangspunkt für die Untersuchung diente. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind in verschiedenen Archiven und Bibliotheken etwa zwanzig Nachschriften ausfindig gemacht worden. In einigen Fällen weichen diese Nachschriften bedeutend von den Manuskripten Nietzsches für die jeweiligen Vorlesungen ab. In anderen Fällen, wie etwa bei einigen Seminarübungen, sind die Manuskripte nicht erhalten, und somit sind die Nachschriften der Studenten das einzige Zeugnis, um seine Lehrtätigkeit näher zu beleuchten. Diese Entdeckungen können die textlichen Grundlagen der philologischen Schriften Nietzsches revidieren. 2 Vgl. Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Hg. v. Anne Baillot. Berlin 2011.

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andere Formen der Wissensvermittlung, wie die Seminare und Übungen. Mit ihren Mit- und Nachschriften haben uns die Studenten einen Beitrag hinterlassen, den man nicht unterschätzen darf.3 In Archiven und Bibliotheken werden zahlreiche Kollegienhefte von unterschiedlicher Qualität aufbewahrt, manche aus wenigen Seiten bestehend, andere aus hunderten, sorgfältig eingebunden, mit denen die Studenten sich für die Abschlussprüfungen vorbereiteten und die uns heute dazu dienen, das ganze Studium zu rekonstruieren. In einem Brief vom 6. April 1867 an seinen Freund Carl von Gersdorff hielt Nietzsche diese Form der Vorbereitung auf die Prüfungen für sehr lehrreich für die Studenten: „Wie nützlich, ja wie erhebend muß es sein etwa in einem Semester alle Disciplinen seiner Wissenschaft an sich vorüber marschiren zu lassen und somit wirklich einmal eine Gesammtanschauung über dieselbe zu bekommen. Ist es nicht ebenso, als ob ein Offizier, stets nur gewöhnt seine Compagnie einzuexercieren, plötzlich in einer Schlacht zum Begriffe dessen kommt, was seine kleinen Bemühungen für große Früchte zeitigen können“ (BVN-1867,540).4 Es ist notwendig, zwischen Mit- und Nachschrift zu unterscheiden. Die Mitschrift erfolgt während des Lehrvortrags. Sie gibt in aller Regel nicht den vollständigen Text der Vorlesung wieder. Ein solches Diktat, das den genauen Wortlaut festhält, war im neunzehnten Jahrhundert verpönt, weil es einer lediglich passiven Rezeption Vorschub leistete, weil es die Hörsäle zu „Heftmanufakturen“ degradiert hätte. Vorlesungen galten als anspruchsvolle Lehrveranstaltungen. Sie verlangten vom Hörer eine entwickelte Verstandesfähigkeit und eine gesteigerte Willenskraft, um dem Gedankengang des Vortragenden auf seinen oft verschlungenen Wegen folgen zu können und nicht durch momentane Unaufmerksamkeit den Faden der Deduktion zu verlieren. Von der nahezu simultan und eher mechanisch erfolgenden Mitschrift zu unterscheiden ist die nachträglich angefertigte Nachschrift. Entweder auf der Grundlage der eigenen Notizen (der Mitschrift) oder aus dem Gedächtnis verfassten die Studenten einen vollständig ausformulierten Text, zu dessen Fertigstellung manchmal auch die erwähnte Literatur heranzogen wurde.5 Der Grad der Komplexität dieser Mit- und Nachschriften hing sowohl vom Inhalt, vom Stil und von der Geschwindigkeit ab, die der Dozent beim mündlichen Vortrag anwandte, als auch von der Kapazität der Studenten und ihrer Beherrschung von –––––––— 3 Vgl. Hans-Jürgen Apel: Die Vorlesung. Einführung in eine akademische Lehrform. Köln 1999; Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre im historischen Vergleich. Hg. v. Gabriele Lingelbach. München 2006; Vorlesung. Hg. v. Arno Dusini u. Lydia Miklautsch. Göttingen 2007; Christiane Hackel: Philologische Fachenzyklopädien. Zu Charakter und Funktion eines wenig beachteten Genres. In: August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftskultur. Hg. v. Christiane Hackel u. Sabine Seifert. Berlin 2013, S. 243–272. 4 Ich zitiere nach Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Nietzsche Source. Paris 2009ff., www.nietzschesource.org/eKGWB. Durch Eingabe der Internetadresse zusammen mit der im Text angegebenen Sigle lassen sich die Stellen, auf die Bezug genommen wird, direkt abrufen, z. B. www.nietzschesource.org/eKGWB/BVN-1867,540. 5 Vgl. Holger Dainart: Mitschrift, Nachschrift, Referat, Korreferat. Über studentisches Schreiben im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 40 (2015), S. 306–328.

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Hilfstechniken, wie z. B. der Stenographie. Im Falle von Vorlesungen über klar definierte Fachbereiche, wie etwa die Klassische Philologie, erwies sich die Wissensvermittlung im Allgemeinen als viel einfacher als im Falle von Vorlesungen aus abstrakteren Bereichen wie der Philosophie. Es ist jedoch notwendig, in jedem Fall zu untersuchen, wie die Studenten in ihren Vorlesungsnachschriften den Vortrag des Lehrers gestalteten, um die Produktivität des Verständnisses zu bewerten.6 Zu fragen wäre nach Methoden zur Erstellung von Vermerken zum Zweck der Organisation der Information, Systeme zur Neuschreibung des bereits Gesagten, bei denen der Student den aktiven und produktiven Moment akzentuiert, Schaffensprozesse, Auswahl oder Interaktion von Schemata oder „Frames“. Die Erstellung einer gelungenen Vorlesungsnachschrift erforderte nicht nur die Beherrschung einer soliden Technik, sondern auch das Erlernen der Aufmerksamkeitsentwicklung, die Kenntnis der Argumentationsformen, die Interpretation der Gesten, der Blicke des Lehrers in Kontakt mit der Zuhörerschaft, da die Lehre ein performativer mimetischer Akt ist und all diese Aspekte die Grundlage für die Konstruktion des Wissens darstellen. Im Gegensatz zur mittelalterlichen lectio bestand im neunzehnten Jahrhundert und aufgrund der Humboldtschen Reform besonders in Deutschland die Aufgabe des Lehrers während der Vorlesung nicht mehr darin, vorzulesen und seine Aufzeichnungen zu diktieren, als ob das Wichtigste eine nackte Beschreibung der Tatsachen wäre. Es reichte nicht, das Darzustellende gründlich zu beherrschen, wenn man dieses nicht gleichzeitig in einem bestimmten Kontext auszudrücken wusste. Die Produktionsformen des Wissens spiegeln sich wider in diesen Mit- und Nachschriften als teils öffentliche textuelle Formen, als Zeugnisse eines mündlich dargestellten Wissens, die als wichtige materielle Quellen angesehen werden müssen, um die Verbreitung von Ideen in den Bildungsinstituten des neunzehnten Jahrhunderts zu kennen.7 Die Verbreitung von ins Reine gebrachter Kopien der Vorlesungsnachschriften auf Grundlage der im Unterricht angefertigten Aufzeichnungen war üblich. Bei der Vervielfältigung der Abschriften und bei den Absatzorten stellt sich bezüglich dieser Textform eine Frage auf besonders zugespitzte Weise: die Frage der Autorschaft. Denn es trägt in diesem Fall nicht nur der Dozent zur Textentstehung bei, sondern ebenso der mitschreibende Student, möglicherweise auch dessen Kommilitonen, bei denen dieser die ihm fehlenden Passagen abschreiben konnte. Es entstanden Synergieeffekte durch Gemeinschaftsproduktionen, Zirkulationen und die Weiterentwicklung von Texten und Ideen.

–––––––— 6 Vgl. Hans-Jürgen Apel: „Das Abenteuer auf dem Katheder“. Zur Vorlesung als rhetorische Lehrform. In: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 61–79. 7 Vgl. Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. v. Martin Kintzinger u. Sita Steckel. Basel 2015.

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1. Probleme der philologischen Nachlassverwaltung im Fall Nietzsche Das Ansehen Nietzsches als Fachmann der Antike ist ambivalent.8 Einige Autoren haben seine Sichtweise und sein Potenzial gelobt, während andere sie als Dilettantismus gebrandmarkt haben.9 Trotzdem haben sich nur wenige Forscher mit Nietzsches wissenschaftlichen Arbeiten zur Antike beschäftigt, da man seinen philologischen Studien fehlende Originalität vorwarf und sie lediglich als eine Vorbereitungsphase für sein philosophisches Denken im reifen Alter ansah. Eine noch geringere Anzahl an Forschern hat sich dafür interessiert, seine philologischen Werke und philologischen Aufzeichnungen aus genetischer Sicht zu studieren, nicht nur, um zufriedenstellende Antworten zu geben auf die editorischen Probleme, die die Texte aufwerfen, sondern auch und besonders, um die kreativen Prozesse innerhalb seiner Lehrtätigkeit zu bewerten und zu untersuchen, wie diese sich in den Manuskripten zur Vorlesung widerspiegeln. Die Vorlesungen Nietzsches sind kein Thema zweiten Ranges. Sie sind eng verbunden mit seinen philologischen Werken und Aufzeichnungen, und sie sind grundlegend, um ein tieferes Verständnis seines Lebens und Wirkens als Professor der Klassischen Philologie am Pädagogium und an der Universität Basel zu erlangen.10 Die Manuskripte für die Vorlesung Nietzsches sind eine Kompilation von Aufzeichnungen diversen Ursprungs, von denen viele Zitate anderer Autoren sind, teils wörtlich, teils in Paraphrase, mit oder ohne Anführungszeichen, mit oder ohne Nennung des Autors, mit oder ohne Angabe der Quelle, vermischt mit anderen Aufzeichnungen und persönlichen Kommentaren. Im Bewusstsein, dass es seine Aufgabe als Universitätsprofessor wäre, seine Studenten auf den neuesten Stand der philolo–––––––— 8 Vgl. Nietzsche and Antiquity: His Reaction and Responses to the Classical Tradition. Ed. by Paul Bishop. Rochester 2004; Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart, Weimar 1995; Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier: Philolog und Kulturfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland. Stuttgart, Weimar 1999; Ernst Howald: Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie. Gotha 1920; Nietzsche as a Scholar of Antiquity. Ed. by Anthony K. Jensen and Helmut Heit. London 2014; Joachim Latacz: Fruchtbares Ärgernis: Nietzsches „Geburt der Tragödie“ und die gräzistische Tragödienforschung. In: Nietzsche und die Schweiz. Hg. v. David Marc Hoffmann. Zürich 1994, S. 30–45; Theodor Lindken: Die Antike in Nietzsches Denken. Eine Bibliographie. Trier 2006; Enrico Müller: Die Griechen im Denken Nietzsches. Berlin, New York 2005; Studies in Nietzsche and the Classical Tradition. Ed. by James C. O’Flaherty, Timothy F. Sellner and Robert M. Helm. Chapel Hill 1979; Karl Schlechta: Der junge Nietzsche und das klassische Altertum. Mainz 1948; Dale Wilkerson: Nietzsche and the Greeks. London 2006. 9 Als Philologiestudent in Schulpforta (1858–1864), Bonn (1864–1865) und Leipzig (1865–1869) studierte er unter Otto Jahn und Friedrich Ritschl. Aufgrund seiner philologischen Veröffentlichungen verlieh ihm die Universität Leipzig ohne Examen oder Dissertation als Auszeichnung für die Qualität seiner Untersuchungen den Doktortitel, und im Alter von 24 Jahren, im Frühling 1869, wurde er zum auβerordentlichen Professor für Philologie an der Universität Basel ernannt. Noch im gleichen Jahr wurde er zum ordentlichen Professor erhoben. Ein Jahrzehnt lang, bis zum Mai 1879, hielt er sowohl an der Universität als auch am Pädagogium Einführungskurse unter anderem zum Studium der Klassischen Philologie, Philosophie, Epik, Lyrik, griechischen Tragödie, griechischen Religion, griechischen Metrik und Rhythmik, griechischen und römischen Rhetorik, lateinischen Grammatik und Epigraphik. Vgl. Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. 3 Bde. München/Wien 1978/79. 10 Vgl. Francisco Arenas-Dolz: Was ist eine Vorlesung bei Nietzsche? Oder: Wie stellt Nietzsche den Text seiner Vorlesungen zusammen? Am Beispiel der Einleitung in die Tragödie des Sophocles (SS 1870). In: Nietzsche-Studien 41 (2012), S. 192–307.

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gischen Wissenschaft seiner Zeit zu versetzen, bereitete Nietzsche seine Vorlesungen auf Grundlage des Studiums von Fachpublikationen vor.11 Da einige seiner Vorlesungen mehrere Male stattfanden, ist es möglich, in einigen Manuskripten für die Vorlesung verschiedene Schreibschichten mit Aufzeichnungen aus verschiedenen Epochen auszumachen. Ebenfalls lassen sich mit anderem vermischte Aufzeichnungen für Vorlesungen in nicht gänzlich für diese Vorlesungen bestimmten Heften oder auf in Mappen aufbewahrten einzelnen Blättern auffinden. Zweifelsohne kann der Vergleich des Manuskriptes zur Vorlesung und der Nachschriften der Studenten ein neues Licht auf Nietzsches Vorlesungen und Textgestaltung werfen und es uns darüber hinaus ermöglichen, die Interpretationsmethoden, die seine Studenten im Verstehensprozess des von Nietzsche gehaltenen Vortrags entwickelten, zu rekonstruieren. Alles in allem ist das sich in Nietzsches Denken verfestigende Verhältnis zwischen Philosophie und Philologie komplex und hilft uns, den Sinn der philosophischen Praxis zu überdenken.12 Auf gewisse Weise ist die Philosophie für Nietzsche nichts anderes als die durch andere Mittel fortgeführte Philologie, die „Kunst des richtigen Lesens“, gemäß der mit Nachdruck im Nietzsche-Korpus verwendeten Formel ein „Gewissen hinter dem Gewissen“, welche die Gewohnheit der Langsamkeit und die Meditation in der Lektüre vorschreibt. Diese Kunst bedarf der Subtilität, des Verständnisses, der Vorsicht.13 Nietzsche gehört dem goldenen Zeitalter der Klassischen Philologie an. Die Mehrheit der Texte der Antike, die materiell weiterlebten, ist in dieser Epoche herausgegeben worden. Nietzsche war ein brillanter Schüler der strengsten Philologie, die existierte, nämlich derjenigen aus Schulpforta, und er lehrte zehn Jahre lang Klassische Philologie in Basel. Für Nietzsche sind die Texte, die ein klassischer Philologe studiert, nicht einfach etwas Vorgegebenes, sondern etwas Übermitteltes. Das Verständnis eines Textes aus der Vergangenheit vollzieht sich über die kritische Bewertung seiner Übermittlung, weshalb die Forschung eine genealogische und perspektivistische Sichtweise einnehmen muss.14 Die verschiedenen Editionen des philologischen Nachlasses Nietzsches haben versucht, Lösungen für diese Probleme anzubieten. Es ist wichtig, sie zu kennen, um –––––––— 11 Vgl. Francisco Arenas-Dolz: Nietzsche amicus sed. Reconstrucción de las fuentes e interpretación de las lecciones de Nietzsche sobre los diálogos platónicos. In: Teorie e pratiche della verità in Nietzsche. A cura di Pietro Gori e Paolo Stellino. Pisa 2011, S. 25–44. 12 Vgl. ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche. Hg. v. Tilman Borsche, Federico Gerratana u. Aldo Venturelli. Berlin, New York 1994; Nietzsche und die antike Philosophie. Hg. v. Daniel W. Conway u. Rudolph Rehn. Trier 1992; Antike und Romantik bei Nietzsche. Hg. v. Volker Gerhardt u. Renate Reschke. Berlin 2004; Karl Joël: Nietzsche und die Romantik. Jena, Leipzig 1905; „Jedes Wort ist ein Vorurteil“. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Hg. v. Manfred Riedel. Köln 1999; Iris Därmann: Nietzsches Ästhetik des Schaffens im Zeichen von Schwangerschaft und ‚Erfindlichkeit‘. In: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 127–132. 13 Vgl. „L’art de bien lire“. Nietzsche et la Philologie. Dirigé par Jean-François Balaudé et Patrick Wotling. Paris 2012; Christian Benne: Nietzsche und die historisch-kritische Philologie. Berlin, New York 2005 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 49); James I. Porter: Nietzsche and the Philology of the Future. Stanford 2000. 14 Vgl. Éric Blondel: Nietzsche, le corps et la culture. La philosophie comme généalogie philologique. Paris 2006.

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bislang noch offene Probleme anzugehen und solide Grundlagen für einen künftigen kritischen Text der Vorlesungen Nietzsches zu schaffen, so solide wie möglich, qualitativ besser als die vorhergehenden. Unter der Aufsicht von Elisabeth Förster-Nietzsche veröffentlichte das NietzscheArchiv mehrere editorisch problematische Ausgaben. Besondere Erwähnung verdient hier die zwischen 1894 und 1913 zuerst in Leipzig von C. G. Naumann und später im Alfred Kröner Verlag veröffentlichte Großoktav-Ausgabe (GA), die 19 Bände umfasste, zu denen 1926 noch ein letzter Indexband hinzukam.15 Diese Ausgabe bedeutete aufgrund der Aufnahme der Transkription und Herausgabe der Anmerkungen Nietzsches einen beträchtlichen finanziellen und intellektuellen Kraftakt. Nietzsches Philologica wurden das erste Mal zwischen 1910 und 1913 in den Bändern 17–19 der GA veröffentlicht. Verantwortlich für die Ausgabe waren Ernst Holzer, Otto Crusius und Wilhelm Nestle.16 Crusius und Nestle, Herausgeber der Bände 18 bzw. 19, nahmen sich der von Holzer festgelegten Kriterien an, modernisierten den Text und beseitigten sich wiederholende oder nur wenig originelle Passagen.17 Im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (GSA) werden einige der handschriftlichen Transkriptionen für diese Ausgabe aufbewahrt. Nach dem Ersten Weltkrieg bestand die Hauptaufgabe des Nietzsche-Archivs in der Veröffentlichung der Historisch-kritischen Gesamtausgabe (BAW/BAB).18 Die Verminderung der Aktivposten der Stiftung aufgrund der Inflation verhinderte die Durchführung dieses Planes. Als im Jahre 1930 die Schutzfrist für die Werke Nietzsches ablief, gründete sich Anfang 1931 der Wissenschaftliche Ausschuss der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Friedrich Nietzsches, bestehend aus Carl August Emge, Walter Jesinghaus, Richard Oehler und Oswald Spengler. Zu diesen gesellte sich im Dezember 1933 der klassische Philologe Walter F. Otto. Im September und Dezember 1935 zogen sich Spengler und Emge aus dem Ausschuss zurück, und es kamen Martin Heidegger und Hans Heyse hinzu. Heidegger verließ ihn im Dezember 1942. Die Herausgabe der Werke führten junge Wissenschaftler durch, allen voran Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und Carl Koch, während sich Wilhelm Hoppe um die Korrespondenz kümmerte. Das Wirken des NietzscheArchivs wurde sowohl von der Reichskanzlei als auch von der Hohen Schule der NSDAP und ab 1941 vom Propagandaministerium unterstützt. Diese Unterstützung hatte jedoch keinen Einfluss auf den wissenschaftlichen Charakter der zwischen 1933 und 1942 in München vom Verlag C. H. Beck veröffentlichten fünf Werk- und vier Korrespondenzausgaben. In dieser Ausgabe wurden die philologischen Schriften aus –––––––— 15 Vgl. Nietzsche: Werke (Großoktav-Ausgabe). Hg. von versch. Herausgebern unter der allg. Aufsicht v. Elisabeth Förster-Nietzsche. 1. Aufl., 15 Bde. Leipzig 1894–1904; 2. Aufl. 20 Bde. Leipzig 1899–1926. 16 Vgl. Ernst Holzer: Wie soll man Nietzsches Nachlaß herausgeben? In: Süddeutsche Monatshefte 4 (1907), S. 483–495; August Horneffer: Nietzsches Nachlaß. In: Süddeutsche Monatshefte 4 (1907), S. 647–650. 17 Vgl. Ernst Holzer: Vorlesungen von Friedrich Nietzsche. In: Süddeutsche Monatshefte 4 (1907), S. 94– 118. 18 Vgl. Nietzsche: Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke. Hg. v. Joachim Mette u. a. 5 Bde. München 1934–1940; Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe: Briefe. Hg. v. Wilhelm Hoppe u. Karl Schlechta. 4 Bde. München 1938–1942.

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den Jahren seiner Ausbildung in Pforta, Bonn und Leipzig in den Bänden 3 und 4 der Werke veröffentlicht, während diejenigen aus Basel, allerdings nur die aus dem Jahr 1869, in Band 5 veröffentlicht wurden. Die Herausgeber wandten die von Emge im 1934 veröffentlichten „Vorwort zur Gesamtausgabe“ festgelegten Grundsätze für die Textgestaltung an.19 In mehreren Berichten des Wissenschaftlichen Ausschusses wird zum ersten Mal der Nutzen der studentischen Nachschriften anerkannt: Diese Nachschriften umfassen die mündliche Lehre Nietzsches und können dazu dienen, dessen Manuskripte zur Vorlesung, die in nennenswertem Umfang bloße Skizzen und Kompilationen von Zitaten und Hilfsmaterialien für die mündliche Darlegung im Hörsaal darstellen, besser zu erschliessen.20 Die Kritische Gesamtausgabe der Werke (KGW) Nietzsches,21 herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,22 versammelt in der ersten Abteilung und unter Verantwortung Johann Figls die philologischen Aufzeichnungen Nietzsches aus seiner Ausbildungszeit in Schulpforta (1858–1864), in Bonn (1864–1865) und Leipzig (1865–1869), während in der zweiten Abteilung unter Verantwortung Fritz Bornmanns und Mario Carpitellas die philologischen Werke und die Aufzeichnungen für die Vorlesungen in Basel zusammengebracht werden.23 Die in KGW II veröffent–––––––— 19 Diese herausgeberischen Grundsätze besagten: 1. Die Rechtschreibung und Zeichensetzung erscheinen so wie in den Handschriften, und lediglich die offensichtlichen Rechtschreibfehler werden korrigiert, die im Nachbericht angegeben werden. 2. Die Abkürzungen werden mit spitzen Klammern 〈 〉 und die Streichungen Nietzsches mit eckigen Klammern [ ] dargestellt. 3. Die unterstrichenen Wörter der Handschrift mit Leerzeichen zwischen den Buchstaben und die Wörter aus anderen Sprachen werden kursiv geschrieben. 4. Die Anmerkungen des Herausgebers in der Fußzeile erscheinen kursiv. 5. An den Außenrändern werden Signatur und Seitenzahl der Handschrift und im Textkorpus der Seitenwechsel der Handschrift mit einem hochgestellten Apostroph (') angegeben. 6. Jeder Band enthält einen Nachbericht, und 7. ein Register der wichtigsten Orte und Namen. In den 1937 beziehungsweise 1940 veröffentlichten Bänden 4 und 5 wurden einige Veränderungen eingeführt: Zum Beispiel verzichtete man auf die spitzen Klammern zur Darstellung der Abkürzungen. Vgl. BAW 1, S. VII–XV. 20 Es gab eine große Debatte unter den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Ausschusses darüber, wie diese studentischen Nachschriften zu veröffentlichen seien (in zwei Spalten, in der gleichen Schriftgröße wie das Manuskript Nietzsches, als Anhang). Letztendlich wurde die Nachschrift, die ein Student von der Vorlesung über die griechischen Lyriker angefertigt hatte, im Anschluss an der Handschrift Nietzsches und in kleineren Buchstaben (BAW 5, S. 369–426) veröffentlicht. Aufgrund der Unterbrechung der Edition durch den Zweiten Weltkrieg war dies die einzige Vorlesung Nietzsches und die einzige studentische Nachschrift, die in der BAW veröffentlicht wurden. 21 Vgl. Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe: Werke. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin, New York 1967ff. 22 Vgl. Mazzino Montinari: Nietzsche lesen. Berlin, New York 1982; Vgl. auch Giuliano Campioni: „Die Kunst, gut zu lesen“: Mazzino Montinari und das Handwerk des Philologen. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. XV–LXXIV; ders.: Leggere Nietzsche. Alle origini dell’edizione critica Colli-Montinari. Con lettere e testi inediti. Pisa 1992. 23 Obwohl es sich um ein und dieselbe Ausgabe handelt, sind die in KGW I, veröffentlicht zwischen 1995 und 2003, angewandten herausgeberischen Grundsätze andere als die der bereits vorher zwischen 1982 und 1995 herausgegebenen KGW II. In KGW I kommen Grundsätze zur Anwendung, die denen der BAW sehr ähnlich sind, zum Beispiel eckige Klammern [ ] zur Darstellung der Streichungen Nietzsches und spitze Klammern 〈 〉 zur Auflösung der schwer verständlichen Abkürzungen und aller Namen und älterer Werke, aber nicht bei gebräuchlichen Abkürzungen. Die fehlenden griechischen Akzente und Aspirationszeichen wurden nicht ergänzt, aber falsche Akzentsetzungen wurden korrigiert. Jedoch gilt in KGW II, die paradoxerweise vor KGW I veröffentlicht wurde, der Grundsatz einer möglichst konservativen Transkription, die im Gegensatz zu der von der GA angewandten starken Standardisierung steht. Durch die Abwendung von dieser Standardisierung der GA beschränken sich die Interventionen im Text

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lichten Bände besitzen keinen kritischen Apparat, Quellenapparat, Kommentar oder Index. Es bestehen schwerwiegende Diskrepanzen zwischen dieser Ausgabe und den vorhergehenden, und nur eine erneute Lektüre der Handschriften kann offenbaren, ob es sich um Fehler Nietzsches oder Transkriptionsfehler handelt. Die Einführung von Fußnoten zur Eingliederung von Zusätzen Nietzsches in seinem Manuskript für die Vorlesung ist arbiträr, und jede kritische Ausgabe müsste sie in den Text eingliedern und die verschiedenen Schreibschichten identifizieren. Es überrascht, dass die Herausgeber der KGW II nicht die Möglichkeit genutzt haben, in der Forschung einen Schritt weiter zu gehen, indem sie neue Nachschriften von Studenten ausfindig gemacht hätten, da dies eine grundlegende vorausgehende Phase bei der kritischen Ausgabe darstellt.24 In KGW II 2 werden drei studentische Nachschriften als Anhang hinzugefügt, die allerdings keine Neuentdeckung darstellen, da sie bereits von den Herausgebern der BAW ausfindig gemacht worden waren. Eine neue Ausgabe der philologischen Schriften Nietzsches müsste mit der allgemeinen Zielsetzung einer aus philologischer und historischer Sicht korrekten Lektüre der Handschriften beginnen, die eine Vorbedingung für die gesamte philosophische Interpretation darstellt. Das Vorhaben der lückenlosen Wiederherstellung des Textes der Vorlesungen Nietzsches ist aufgrund der Fülle der Handschriften, Entwürfe, Vorbereitungsdokumente und erhaltenen losen Blätter, sowie der Vielfältigkeit der Lesungen, Zitate und vom Autor nicht offengelegten Quellen, ein philologisch und herausgeberisch heikles Unterfangen.25 Aus diesem Grund ist heute eine Rückkehr der Nietzsche-Forschung zur Philologie als deskriptivem Fundament absolut notwendig. Die Philologie ist ein unerlässliches Werkzeug, ein Mittel zur Analyse der Textgestaltungsprozesse unter Berücksichtigung und systematischem Vergleich der verschiedenen Autographe und mehrerer Ausgaben. Auch wenn das von der Klassischen Philologie des neunzehnten Jahrhunderts ererbte und von dem Großteil der Herausgeber Nietzsches benutzte Modell der kritischen Ausgabe für die Lösung bestimmter textueller Probleme wichtig war, haben sich diese Ausgaben mehr auf Details konzentriert, auf kleinere Berichtigungen, die in den Nachberichten Hunderte von Seiten einnehmen, obwohl ihre Bedeutung für die Interpretation des Werkes gering oder nichtig ist. In anderen Fällen und durch den Einfluss des modernen Textualismus sind diplomatische Ausgaben vorangetrieben worden, die, geleitet von einer extremen Textreferenz, eine typographische Wiedergabe der Handschrift versuchen, getragen von einer neuen Art von Idealismus, der

–––––––— auf vier Aspekte – Zeichensetzung, Abkürzungen, Fehler und Zitate älterer und moderner Autoren – nur in Fällen eines fehlenden Textverständnisses, wobei vermieden wurde, die Abkürzungen aufzulösen oder die falschen griechischen Akzente und Aspirationszeichen zu korrigieren. Auch wenn die Herausgeber versprechen, über all dies im kritischen Apparat zu informieren, so macht dessen Fehlen ihre Ausgabe zu einer eher diplomatischen als kritischen Ausgabe. 24 Vgl. James I. Porter: „Rare Impressions.“ Nietzsches Philologica: A Review of the Colli-Montinari Edition. In: International Journal of the Classical Tradition 6 (2000), S. 409–430. 25 Vgl. Hans Joachim Mette: Nietzsches handschriftlicher Nachlass. Weimar 1932.

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gefährlicherweise auf eine ‚anachronistische‘ exegetische Annäherungsweise an den Text setzt.26 Die Aufgabe kann sich nicht allein darauf beschränken, einen aufwendig zu erstellenden Apparat von Varianten zu konstruieren oder eine diplomatische Transkription anzubieten, in welcher der Herausgeber keine Verbindlichkeit eingeht, auch wenn das Entziffern der Handschriften noch so schwierig sein mag. Beide bisherigen Nietzsche-Ausgaben haben gemeinsam, dass sie schwer zu lesen sind. Vor der vorzeitigen Festlegung auf einen Apparat ist in jedem Fall gut abzuwägen, was dieser bezüglich des usus scribendi oder der Intentionalität des Autors aufzuklären fähig ist. Um Nietzsche zu verstehen, ist es notwendig, zu wissen, was er seinen Studenten tatsächlich vermittelte, das heißt, wie er seine Aufzeichnungen umwandelte in einen kraftvollen und in sich kohärenten Diskurs, unter Berücksichtigung der Wesensart seiner Zuhörerschaft. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, einen feststehenden Text zu veröffentlichen. Es existieren lediglich die materiellen Spuren, die der Schaffensprozess in den Handschriften, Entwürfen, Vorbereitungspapieren und erhaltenen losen Blättern hinterlassen hat, doch sind diese Spuren nur in seltenen Fällen eindeutig, sondern vielmehr unvollständig. Außerdem können die großen Ungewissheiten darüber, was Nietzsche in seinen Vorlesungen tatsächlich lehrte, nur durch Bezugnahme auf die Nachschriften seiner Studenten beseitigt werden. Eine kritische Ausgabe all dieser Materialien kann nur mit textgenetischen Kriterien erstellt werden.27 Unser Interesse an den Vorlesungen Nietzsches hat uns dazu gebracht, philologische Werkzeuge wie die genetische Kritik in Anspruch zu nehmen, um eine neue Ausgabe in Angriff zu nehmen. Es ist eben der genetische Ansatz, der den ‚endgültigen‘ Text entmystifiziert hat, indem er traditionelle philologische Kriterien, wie die Linearität oder die Festlegung des Textes, welcher als stabiles und geschlossenes System wahrgenommen wurde, ad acta gelegt hat. Das Objekt der kritischen Genetik ist nicht die Analyse finiter Formen, sondern der Formen in Bewegung, die in vielen Fällen sogar unvollendet bleiben. Auf der anderen Seite bietet eine digitale Ausgabe neue Möglichkeiten, den Leser näher an die textuellen Schaf–––––––— 26 Vgl. Karl Pestalozzi: Vorwort. In: KGW IX 1, S. V–IX. Vgl. auch Hubert Thüring: Tertium datum: Der ‚Nachlass‘ zwischen Leben und Werk: zur Neuausgabe der handschriftlichen Dokumente des „späten Nietzsche“, http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/thuering.html. Die diplomatische Transkription ist nicht notwendigerweise die verlässlichste Art der Wiedergabe, und ein Herausgeber hat die Pflicht, risikoreiche Entscheidungen zu wagen und darauf zu vertrauen, dass eben diese Zusatzinstrumente, die die digitale Ausgabe dem interessierten Leser bietet, arbiträre Verfälschungen verhindert. 27 Vgl. Wolfram Groddeck: ‚Vorstufe‘ und ‚Fragment‘. Zur Problematik einer traditionellen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Hg. v. Martin Stern unter Mitarbeit v. Beatrice Grob, Wolfram Groddeck u. Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio Bd. 1), S. 165–175. Vgl. auch HyperNietzsche. Modèle d’un hypertexte savant sur Internet pour la recherche en sciences humaines. Questions philosophiques, problèmes juridiques, outils informatiques. Sous la direction de Paolo D’Iorio. Paris 2000; Paolo D’Iorio: Principles of HyperNietzsche. In: Diogenes 49 (2002), S. 58–72; Ders.: The Digital Critical Edition of the Works and Letters of Nietzsche. In: Journal of Nietzsche Studies 40 (2010), S. 70–80; Ders.: Qu’estce qu’une édition génétique numérique? In: Genesis 30 (2010), S. 49–53; Ders.: Die Schreib- und Gedankengänge des Wanderers. Eine digitale genetische Nietzsche-Edition. In: editio 31 (2017), S. 191– 204.

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fensprozesse heranzubringen. Des Weiteren stellt die unentgeltliche Nutzung eine weitläufige Verbreitung der Ergebnisse sicher. Viele digitale Ausgaben bieten lediglich Lagerungsmodule von Daten, bloße Banken von Handschriften. Doch die Herausforderung besteht nicht darin, zu erhalten und zu speichern, sondern es geht darum, den Leser an die verschiedenen Ebenen des Schreibens heranzuführen und graphisch alle Phasen des Schreibprozesses angemessen datiert und kontextualisiert darzustellen.28 Für eine kritisch-genetische Edition der Vorlesungen Nietzsches und der Nachschriften seiner Studenten verfügen wir über einen wertvollen Nachlass. Jedoch stehen wir aufgrund der Vielzahl dieser Dokumente und der Tatsache, dass es keine Endversion für die Druckerei, kein perfektes und abgeschlossenes Original gibt, vor einer enormen Herausforderung. Die Hefte der Studenten Nietzsches, über welche die Herausgeber und Gelehrten so oft spekuliert haben, existieren tatsächlich.29 Worin liegt die Bedeutung der Nachschriften der Studenten und vor allem ihr philologischer Nutzen? Die Nachschriften helfen uns, die von Nietzsche in seinen Manuskripten zu Vorlesungen angewandten textuellen Schaffensprozesse besser zu verstehen. Sie ermöglichen es uns, das langsame Aufkommen neuer Ideen zu einem Thema oder zu einem bestimmten in seinen Vorlesungen bestehenden Problem zu erfassen. Sie helfen uns, das gedankliche Schwanken, die falschen Fährten, nicht geklärten Alternativen, Kritzeleien, Entwürfe, die ins Nirgendwo führenden Wege und die sich auf kein textuelles Segment beziehenden Anmerkungen zu interpretieren. Sie offenbaren uns letztendlich ein Denken, das immer in Bewegung bleibt. Hinsichtlich der Vorlesungen Nietzsches könnten wir gemäß dem Modell der genetischen Kritik die folgenden textuellen Kategorien differenzieren: Der Lehrplan (Urtext), die Anmerkungen Nietzsches in seinen Heften (Voraustext), die Manuskripte zur Vorlesung des Autors (Vortext) und die Nachschriften der Studenten (Nachtext).30 Wir könnten zugeben, dass jede dieser Kategorien eine jeweils andere Art von Text bestimmt. Wo aber bleibt der Text? Da seine Vorlesungen mündlich abgehalten wurden, ist es in der konkreten Interaktion Nietzsches mit seinen Schülern und Studenten, wo der Text entsteht. Wir könnten sogar behaupten, dass die ersten Herausgeber der Vorlesungen Nietzsches seine eigenen Schüler und Studenten waren. Der Text befindet sich nicht etwa versteckt an –––––––— 28 Der Text der Vorlesungen Nietzsches ist in mehreren Fassungen übermittelt worden, Beispiele der Unbeständigkeit, die einen zur wörtlichen Exposition bestimmten Text charakterisiert. Das Auffinden von bis dato unbekannten genetischen Zeugnissen, wie sie die Nachschriften der Studenten Nietzsches darstellen, wird es uns ermöglichen, den kreativen Entwicklungsprozess Nietzsches zu rekonstruieren und jedes Manuskript für Vorlesungen Nietzsches mit dem Rest des genetischen Dossiers zu kontrastieren. Vgl. Almuth Grésillon: Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994; Dies.: La mise en oeuvre. Itinéraires génétiques. Paris 2008; Louis Hay: La littérature des écrivains. Questions de critique génétique. Paris 2002. 29 Zu den in den Jahren 2015 bis 2017 aufgefundenen Exemplaren könnte noch eine größere Zahl hinzukommen, die es ermöglichen würde, neue Grundlagen für die Herausgabe einer präzisen Edition der Vorlesungen Nietzsches zu legen. Das Auffinden, die Transkription, Untersuchung und Herausgabe dieser Nachschriften der Studenten ist deshalb in den kommenden Jahren eine wichtige Aufgabe der Nietzsche-Forschung. 30 Vgl. Jean Bellemin-Noël: Le texte et l’avant-texte. Paris 1972; Essais de critique génétique. Sous la direction de Louis Hay. Paris 1979.

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einem geheimen Ort der Manuskripte zur Vorlesung Nietzsches, sondern der Text entsteht in dem Augenblick, in dem er mündlich hervorgebracht wird und in die Erfahrung derjenigen eingreift, die ihn empfangen, also seine Studenten, welche die aktive Funktion übernehmen, diese Worte schriftlich als Vorlesungsaufzeichnungen abzufassen und somit ein neues Werk schaffen. Bei diesen Nachschriften sind sowohl der Autor Nietzsche anwesend als auch seine Zuhörer, die Studenten, die ihre eigenen Skizzen entwerfen und auf ihre Weise die Lücken und Unbestimmtheiten ausfüllen, wobei sie gemäß ihren Kenntnissen über die Materie Kohärenz suchen. Dies ist entscheidend, um zu verstehen, was für eine Art Text eine Vorlesung bei Nietzsche ist. Von jeder einzelnen Vorlesung ließen sich in diesem Sinne Dutzende verschiedene Texte auffinden, so viele, wie Nachschriften der Studenten überliefert sind. In welchem Maße gibt der Nachtext (die Mit- und Nachschriften) den mündlichen Text Nietzsches wieder oder überarbeitet er ihn? Die Nachschriften der Studenten sind ein Nachtext, der aus dem mündlichen Vortrag Nietzsches entstanden ist und der in einigen Fällen aus direkt von den Studenten aufgezeichneten Stenographien (Mitschriften) und in anderen Fällen aus ins Reine geschriebenen Transkriptionen (Nachschriften) besteht. Somit ist der Wert der Mit- und Nachschriften der Studenten außergewöhnlich.31 Sie sind kein privater, sondern ein öffentlicher Text. Sind die Anmerkungen Nietzsches in seinen Manuskripten für Vorlesungen private Notizen, Auszüge aus Lektüren, von dem, was Nietzsche nicht vergessen wollte, so legen die Aufzeichnungen der Studenten Zeugnis ab über die öffentliche Geste Nietzsches in der Situation der Lehre. Wenn das Manuskript Nietzsches die noch nicht durchgeführte Mündlichkeit fiktionalisiert, so ‚vermündlichen‘ letztendlich die Aufzeichnungen der Studenten die Anmerkungen Nietzsches in einem Prozess der fortwährenden Assimilation und Rekreation, bei dem Spuren des mündlichen Registers verbleiben: große Sprünge und Auslassungen, unvorhergesehene Assoziationen, gelegentliche Ausweitungen etc. Auf der einen Seite eröffnen uns die Mit- und Nachschriften eine bis dato unbekannte Facette Nietzsches, die mündliche. Durch eine eingehende Analyse der Aufzeichnungen der Studenten würden – bis zu einem gewissen Grad – Rückschlüsse auf Nietzsches mündlichen Vortragsstil möglich. Die Nachschriften der Studenten enthalten wie kein anderer Text das spontan in Erscheinung tretende Denken Nietzsches. Im Gegensatz zu Nietzsches Manuskript basieren die Nachschriften der Studenten auf der Assoziation von Gedanken, die nicht auf chaotische oder ungeordnete Art und Weise geschieht, sondern bei der sich – wie bei den Gliedern einer Kette – verschiedene Themen aneinanderreihen. Gegenüber der Dürre der Anmerkungen Nietzsches springt die Farbenpracht des geschriebenen Wortes in den Mitund Nachschriften der Studenten ins Auge, angeregt durch die Fähigkeit des freien Sprechens, die Spontaneität und die entspanntere Struktur des Diskurses. Sie lässt die –––––––— 31 Vgl. Ulrich Joost: Vorlesungsmanuskript und Vorlesungsnachschrift als editorisches Problem, und etwas von Lichtenbergs Vorlesungen. In: Wissen und Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung. Hg. v. Robert Seidel. Heidelberg 2001, S. 33–70.

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mündliche Quelle der Philosophie Nietzsches ahnen, ein Modell des kreativen Sprechens, bei dem sich der experimentelle Charakter aufzeigt, der dem Denken Nietzsches eigen ist und der in den Aufzeichnungen der Studenten, aufgrund der Tatsache, dass sie geteilt und übermittelt wurden, fortbesteht. Auf der anderen Seite sind die Mit- und Nachschriften der Studenten eine unschätzbare Hilfe bei der Festlegung des kritischen Textes seiner Vorlesungen. Die Abweichungen zwischen den Nachschriften der Studenten und dem Manuskript für die Vorlesung Nietzsches ermöglichen es, die textuellen Schichten im Manuskript zu analysieren und neue Einschübe bei einem erneuten Abhalten der gleichen Vorlesung zu entdecken. Die Nachschriften der Studenten stellen die letzte Phase der textuellen Genetik einer jeden Vorlesung dar und sind somit unverzichtbarer Bestandteil für eine neue kritische Ausgabe. Sie eröffnen für die Forschung, das Verständnis der Autorintention, die Bedeutung und die Herausgabe der Texte neue Horizonte. Ihre Analyse ist unerlässlich für die Bereitstellung einer verlässlichen Lektüre des Werkes, die Analyse genetischer Aspekte, die Entdeckung von Hinweisen, die einigen Hypothesen Gültigkeit verleihen und anderen diese entziehen könnte. Eine ernsthafte kritische Edition der Vorlesungen Nietzsches, die die bestehenden Ausgaben ersetzen und ihre Defizite beheben will, kommt um die Aufzeichnungen der Studenten nicht herum. Im Gegensatz zu dem Manuskript zur Vorlesung Nietzsches haben die Mit- und Nachschriften der Studenten sowohl den Vorteil der Vollständigkeit – weshalb sie für jedwede neue Ausgabe unverzichtbar sind – als auch den Charme der Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes. Nicht zuletzt spiegeln die studentischen Nachschriften verschiedene Versionen einer gleichen Vorlesung wider, die in verschiedenen Jahren abgehalten wurde, was zum Verständnis der philologischen Arbeit Nietzsches als work in progress nicht unwesentlich beitragen kann.

2. Zur Edition der Vorlesung „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“ (Sommersemester 1871) Es besteht kein Zweifel daran, dass die theoretischen Aspekte der Frage relevant sind. Aber es ist notwendigerweise zu überdenken, wie die Edition der Vorlesungen Nietzsches praktisch angegangen werden soll und auf die Wichtigkeit der Nachschriften der Studenten hinzuweisen. Die digitale Edition, die der Verfasser von der Vorlesung „Einleitung in das Studium der Klassischen Philologie“ (Sommersemester 1871) vorbereitet und die als Vorlage für den Rest der Vorlesungen dienen soll, wird die Faksimile-Ausgabe, die diplomatische und kritische Ausgabe der Anmerkungen und die sich auf diese Vorlesung beziehenden Handschriften Nietzsches, sowie der jüngst aufgefunden Nachschriften der Studenten enthalten. Das genetische Dossier dieser Vorlesung strukturiert sich auf folgende Art und Weise.

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a) Urtexte: Lehrpläne Im Nachlass Nietzsches (Heft P I 5, auf den Seiten 7 bis 15) befinden sich eine Handvoll autografischer kleiner Blätter, die das Grundgerüst der Vorlesung bilden.32 Diese Blätter besitzen eine lange Anmerkung mit dem Titel „Encyklopädie der Philologie“. Der Text wurde in BAW 4, S. 3–8, veröffentlicht und seine Herausgeber datieren ihn zwischen dem Herbst des Jahres 1867 und Anfang 1868.33 Dieser Text wurde in KGW I 5, 75[3], S. 192–198, erneut veröffentlicht, wo man ihn allerdings zwischen Februar 1868 und Oktober 1869 datiert. Die Herausgeber der KGW weisen im Vorwort der KGW darauf hin, dass sie zu denken geneigt sind, dass wir mehr als vor den Aufzeichnungen Nietzsches aus einer Vorlesung Ritschls vor einem Konzept für die von Nietzsche im Sommersemester 1871 abgehaltene Vorlesung stehen, eine Option, die auch uns als die glaubhafteste erscheint. Diese Skizze, auch wenn sie mehr oder weniger wortgetreu in der endgültigen Fassung benutzte intertextuelle Materialien aufweisen kann, ist in einem Apparat nicht darstellbar. Wenn man den Plan aufsplittert und seine Fragmente in einen genetischen Apparat eingesetzt werden, würde dieser Entwurf unverständlich werden und die Unterschiede zwischen dieser Anfangsphase und der Endversion würden nicht wahrgenommen werden. Das Beste wäre, diese Skizze in einem Anhang der Ausgabe anzufügen. b) Voraustexte: Anmerkungen in Heften Es ist wichtig herauszufinden, ob in anderen Handschriften Nietzsches und in den in mehreren Ordnern seines Nachlasses aufbewahrten losen Blättern sich auf diese Vorlesung beziehende Anmerkungen befinden, und zu präzisieren, in welchem Verhältnis sie mit dieser stehen. So finden wir in Mp XI 1–8 beispielsweise einige lose Blätter mit sich auf diese Vorlesung beziehenden Anmerkungen, deren Verbindung zu klären wäre. Das ist gleichfalls der Fall des Heftes P II 8a, das eine Serie von wichtigen An–––––––— 32 Die Faksimiles dieser Seiten sind veröffentlicht in www.nietzschesource.org/DFGA; auch in diesem Fall können die zitierten Seiten direkt abgerufen werden durch Eingabe der Internetadresse zusammen mit den im Text angegebenen Siglen, z. B. www.nietzschesource.org/DFGA/P-I-5,7. 33 Die Autoren der BAW meinen, wie sie im philologischen Apparat schreiben (BAW 4, S. 616): „Es handelt sich vermutlich um eine Nachschrift (das zuletzt genannte Datum einer Publikation ist das Jahr 1864), und zwar nicht, da die Seiten eine sehr schöne Schrift zeigen, eine direkte Kollegnachschrift, sondern um die Kopie einer solchen, vermutlich nach dem Vortrage Fr. Ritschls (der dieses Kolleg zu lesen pflegte). Nietzsche hat die Seiten später für seine entsprechende Vorlesung sehr intensiv, benutzt“. Jedoch weist Walter F. Otto, Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses, in einem detaillierten Bericht über den philologischen Apparat des Bandes 4 darauf hin: „Der Band beginnt Seite 4–8 mit einem Abriß zur ‚Encyklopädie der Philologie‘. Offensichtlich liegt hier die direkte oder indirekte Wiedergabe einer Vorlesung vor. Der Nachbericht sagt: ‚Es handelt sich vermutlich um eine Nachschrift‘. Man sollte meinen, daß eine sorgfältige Untersuchung weiter geführt haben würde. Tatsächlich hat Ritschl genau in dem Jahr, aus dem die Niederschrift stammt, über Encyklopädie der Philologie gelesen. Also wird das Vorliegende wohl aus einer Nachschrift dieser Vorlesung stammen. Davon bemerkt der Nachbericht nichts. Interessant ist ferner, daß die auffallende Sorgfalt und Sauberkeit der Niederschrift auf eine Reinschrift nach einer Collegnachschrift schließen läßt; ferner, daß Nietzsche dieses Stück später für sein eigenes Collegmanuskript über Encyklopädie wörtlich benutzt hat. Von alledem – und wohl noch manchem, was zu entdecken gewesen wäre – weiß der Nachbericht nichts“ (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 72/2000, 84–88).

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merkungen enthält, in denen Nietzsche ein Panorama der Geschichte der Klassischen Philologie in Deutschland zeichnet. Diese Aufzeichnungen sind bis heute in keiner der vorausgegangenen Ausgaben veröffentlicht worden. Dank der aufgefundenen Nachschrift von Constanz Jecklin wissen wir, dass Nietzsche dieses Manuskript für die Vorlesung benutzte, da wir die gleichen Aufzeichnungen genauso wörtlich in den Aufzeichnungen dieses Studenten finden.34 Eine neue Edition der Vorlesung Nietzsches hat diese Anmerkungen an entsprechender Stelle einzugliedern. Sowohl der Urtext als auch der Voraustext stellen die präredaktionelle Phase (Pläne und Anfangsleitfäden, erklärende Skizzen, Entwürfe) dar. Es ist angebracht, all diese Zeugnisse tiefgreifend zu untersuchen, sie mit den Nachschriften der Studenten abzugleichen und in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob es vorteilhaft ist, sie in die Edition der Vorlesung einzugliedern oder sie im Anhang zu veröffentlichen, um die letzte Version besser zu interpretieren. c) Vortexte: Manuskripte für die Vorlesung (‚Vorlesungsmanuskripte‘) Nietzsches Manuskripte zur Vorlesung sind Arbeitshandschriften, welche die verschiedenen Schaffensphasen des Textes und die Spuren des Schreibens, wie Streichungen oder Einfügungen, präsentieren. Diese Handschriften entstehen durch eine Reihe von in den vorangehenden Phasen entwickelten Transformationen und offenbaren uns Besonderheiten des usus scribendi Nietzsches, die uns wertvolle Information sowohl auf der Ebene des Idiolektes des Autors als auch auf der Ebene der Intentionalität (sowohl des intentio auctoris als auch des intentio operis) liefern. Eine neue kritische Edition der Vorlesungen Nietzsches hat eine detaillierte Untersuchung der graphischen und phonomorphologischen Varianten durchzuführen, die seine Autographen vermitteln, welche systematisch in fast allen Ausgaben ausgelassen werden. Diese Schwankungen des Idiolektes haben Vorrang vor der bewussten Intentionalität des Autors und könnten den Weg für die Entdeckung nicht angegebener Quellen ebnen, die Ideologie beleuchten, ihre Wahrnehmung des historischen Kontextes erläutern oder uns bei der Identifikation bestimmter extratextueller Referenzen helfen. Zum Beispiel war gemäß dem Verzeichniß der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommersemester 1871 die offizielle Bezeichnung dieser Vorlesung, die von Nietzsche nur dieses eine Mal während seiner gesamten Lehrtätigkeit abgehalten wurde, „Einleitung in das Studium der klassischen Philologie“, so wie sie zweifelsohne veröffentlicht werden muss.35 In seiner in den Erziehungsakten überlieferten Ankündigung schreibt Nietzsche in abgekürzter Form „Einleitung in das Studium der Philologie“.36 Die Bezeichnungen „Encyclopädie der klassischen Philologie“ oder „Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben“, –––––––— 34 Staatsarchiv Graubünden, Chur (StAGR), B 779/16. 35 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Universitätsarchiv AA. 36 StABS, Erziehungsakten X 34.

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die auf den ersten Seiten der Handschrift P II 8 zu finden sind, werden in die diplomatische Ausgabe aufgenommen und im kritischen Apparat registriert. Außerdem ist es für die Festlegung des endgültigen kritischen Textes unverzichtbar, die Handschrift den bestehenden Ausgaben und Transkriptionen gegenüberzustellen. Besonders die für die BAW erarbeitete Transkription ist ein nützliches Instrument für die Klärung zweifelhafter Fälle, auch wenn sie Fehler enthält. Dagegen sind die Diskrepanzen zwischen dem Manuskript und der von KGW veröffentlichten Transkription weitaus größer. Allerdings muss die Hauptaufgabe einer neuen kritischen Ausgabe darin bestehen, zu verstehen zu versuchen, wie die Intention des Autors sich geändert und ausgefeilt hat, wobei zu der Intentionalität des Autors auch die kontextuellen Konditionierungen hinzugerechnet werden müssen, da die Intentionalität ein Prozess ist oder viel mehr das Ergebnis eines Prozesses, d. h. etwas sich im Laufe des Schreibens Veränderndes. Der Vortext stellt die Phase des Verfassens dar (er besitzt Anmerkungen bezüglich der mündlichen Exposition, entwickelte Pläne und Leitfäden, aufeinander folgende Versionen der Gesamtheit, ins Reine geschriebene Entwürfe). Die gründliche Untersuchung dieser Hefte und ihr Vergleich mit Plänen und anfänglichen Leitfäden und anderen Anmerkungen offenbart nicht nur, wie Nietzsche arbeitet, wie er schreibt, sondern auch und noch viel mehr, wie er liest und wie er sich selbst liest, also den Schaffensprozess seiner Vorlesungen. Zu diesem Zweck erweist es sich als wichtig, den Grad der Intertextualität in jedem genetischen Dossier zu untersuchen, unter Berücksichtigung sowohl der Dimensionen der Exogenese, das heißt der Auswahlund Anpassungsprozesse von Quellen, als auch der Dimensionen der Endogenese, das heißt der Gruppierung, Strukturierung und Transformation dieser Materialien. d) Nachtexte: Nachschriften der Studenten Doch all dies ist noch übermäßig abstrakt. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem wir uns fragen müssen, was genau die Nachschriften der Studenten Nietzsches zu wissen ermöglichen und wo genau ihr Nutzen liegt. Das Auffinden, die Transkription und die Untersuchung der Nachschriften bieten uns Hilfen für: 1. Die Rekonstruktion der Titel der in der Handschrift Nietzsches fehlenden Überschriften. So ist beispielsweise „Ursprung der modernen Philologie“ der Titel, mit dem in der Nachschrift von Jecklin der § 1 versehen wird, der im Manuskript Nietzsches unbetitelt bleibt. 2. Die Eingliederung der Zusätze Nietzsches in seinen Notizbüchern an angemessener Stelle. Dies ist zum Beispiel von großer Wichtigkeit im Falle der umfassenden Zusätze, wo es keine Markierung im Manuskript Nietzsches gibt, um den Ort dieser Einfügungen zu bestimmen. 3. Die Bestimmung der Schreibschichten, besonders im Falle der mehr als einmal abgehaltenen Vorlesungen, sofern Nachschriften von Studenten für jedes Semester vorliegen.

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Francisco Arenas-Dolz

4. Die Eingliederung der Anmerkungen Nietzsches auf in anderen Heften und in Ordnern aufbewahrten losen Blättern, die von Nietzsche in einer seiner Vorlesungen verwendet wurden. Dies ist von besonderer Wichtigkeit im Falle der Unterrichtseinheiten, die Nietzsche am Pädagogium abgehalten hat, von denen kein Manuskript erhalten ist, von denen wir aber wahrscheinlich handschriftliche Zeugnisse in seinem Nachlass finden könnten. 5. Die Identifizierung der Themen und Inhalte der Seminarübungen, die von Nietzsche als Alternative zu seinen Vorlesungen abgehalten wurden und von denen in der Mehrheit der Fälle ebenfalls keine Manuskripte erhalten sind, von denen wir aber wahrscheinlich im Nachlass verstreute handschriftliche Zeugnisse finden könnten. Beispielsweise weist Nietzsche am Ende seiner Handschrift zu dieser Vorlesung rätselhaft hin auf: „Römische Alterthümer hier zu übergehen“. Die Nachschrift von Jecklin enthält am Ende einen ausführlichen Anhang über römische Alterthümer mit Auszügen aus dem ersten und zweiten Band der ersten Ausgabe des Werkes von Ludwig Lange,37 zweifelsohne ein Thema der Seminarübung, die Nietzsche dieses Semester abgehalten hat und von der keine handschriftlichen Auszüge Nietzsches erhalten sind, wobei wir jedoch wissen, dass Nietzsche die Bände bei der Bibliothek der Universität Basel in zwei Fällen ausgeliehen hat, nämlich am 11. und 29. September 1871. Eine neue Edition der Vorlesungen Nietzsches müsste auch diese Schriftstücke, die nur in Form der studentischen Nachschriften erhalten sind, mit einbeziehen. 6. Die Präzisierung der von Nietzsche in der Vorlesung angewendeten Quellen, welche die Studenten üblicherweise am Rande ihrer Nachschriften zu vermerken pflegten. 7. Die Bewertung der Inhalte, die Nietzsche in jedem Vorlesungsabschnitt abhielt, und ob er das Lehrprogramm zu Ende geführt hat, oder nicht.

Abstract This paper examines both the text critical problems faced by the editors of Nietzsche’s philological writings and the solutions proposed in each edition. The aim is to set guidelines for a digital genetic edition of Nietzsche’s philological work. In particular, this article emphasizes the relevance of students’ notes, whose value has been neglected, to deal with editorial problems, to understand better Nietzsche’s teaching methods and to evaluate the cognitive skills and abilities developed by his students during the lectures.

–––––––— 37 Vgl. Ludwig Lange: Römische Alterthümer. Erster Band. Einleitung und der Staatsalterthümer erste Hälfte. Berlin 1856; Zweiter Band. Der Staatsalterthümer zweiter Theil. Berlin 1862.

Jörn Bohr

Windelbands Sendaier Manuskripte vor der Edition

Während man im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert noch verschiedentlich meinen konnte, in den nachgelassenen Manuskripten für Vorlesungen oder in den Kollegheften eines Gelehrten seien dessen ungeschriebene oder jedenfalls nicht mehr zu Lebzeiten gedruckten Bücher überliefert, deren fragmentarischen Charakter man durch Mit- oder Nachschriften berufener und weniger berufener Hörer nach Art des philologischen Verfahrens der Rekonstruktion einer verlorenen Urschrift emendieren, ‚bessern‘ und mehren könne oder müsse, hat sich die editorische Bewertung und kritische Behandlung von Kollegheften, Manuskripten zu Vorlesungen und Nachschriften von dieser romantischen Vorstellung längst verabschiedet. Wenn heute Vorlesungen bzw. im weit überwiegenden Falle, die einzig davon zeugenden Nachschriften ediert und veröffentlicht werden, so geschieht das zu dem ganz anderen Zweck, die wissenschaftliche Tätigkeit eines Autors über das von ihm zum Druck Gebrachte hinaus zu dokumentieren und damit überhaupt erst einen Begriff des Werkes im umfassenden Sinne zu gewinnen. Ein dafür bestimmtes Manuskript ist zweifellos ein Teil einer Vorlesungsstunde gewesen, das einzige aber, was daran ediert werden kann, ist der Text des Manuskriptes, der Text der Nachschriften. Der Hinweis darauf, dass diese Texte nicht die Texte der Vorlesung in actu sind, weil diese unwiederbringlich verklungen ist, zeigt, dass wir lediglich Zeugen einer Vorlesung edieren, nicht aber die Vorlesungssituation selbst. Dadurch könnten sich freilich spezifische Verluste ergeben, nicht zuletzt in philosophischer Hinsicht. Es bleibt die Frage, was für Texte wir da überhaupt edieren bzw. konstitutieren.1 Der Hintergrund dieser editionswissenschaftlichen, methodisch und praktisch interessierten Fragen, ist, dass in Wuppertal seit 2015 an einem Editionsprojekt „Grundlagenforschung zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts am Beispiel Windelbands“ gearbeitet wird,2 zu dessen Ergänzung ein erst während der Projektlaufzeit bekannt gewordenes Konvolut von 20 Heften und Notizbüchern ediert werden wird. „Forschungsgrundlagen“, das meint hier kurz gesagt das Unternehmen, die Hilfsmittel der Forschung – Korrespondenzen, Bibliographien etc. – einmal zum Zentrum der editorischen Bemühung zu –––––––— 1 Vgl. Claus Zittel: Zur Kritik der „editorischen Vernunft“. Textologie und philosophische Edition. In: Martin Endres, Axel Pichler, Claus Zittel: Textologie. Theorie und Praxis interdisziplinärer Textforschung. Berlin/Boston 2017, S. 7–45. 2 Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Geschäftszeichen HA 2643/14-1, Bearbeiter: Gerald Hartung, Jörn Bohr).

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machen. Bevor dazu im weiteren Verlauf Näheres mitgeteilt wird, sind vielleicht noch einige grundsätzliche Überlegungen am Platze.

1. Manuskripte zu Vorlesungen und Kolleghefte als hermeneutisches und editorisches Problem Übereinkunft besteht vielleicht darin, daß Nachschriften explizit nicht-autorisierte Texte sind, wenn man denjenigen als Autor betrachtet, der die Lehrveranstaltung abgehalten hat. Nachgelassene Manuskripte sind erst recht nicht autorisiert, sie waren nie zur Veröffentlichung bestimmt und können allenfalls Vorstufen für z. B. Lehrbücher oder die verbreiteten „Grundrisse zum Gebrauch bei Vorlesungen“ darstellen. Für die Dignität von solchen Texten und v. a. für die Verwendung dieser Texte in der Forschung ist dieser Hinweis alles andere als trivial. Zitate aus dem Nachlass sind weitaus begründungspflichtiger als aus dem gedruckten Werk, wobei der Werkbegriff seinerseits durch die Edition von Manuskripten für Vorlesungen noch problematischer wird, als er ohnehin ist. Dem öffentlichen Interesse an Manuskripten zu Vorlesungen und Nachschriften liegt oft das unzweifelhaft fruchtbare, aber hermeneutisch nicht genug zu betonende Vorurteil zugrunde, es damit in irgend einer Weise mit der Lehre desjenigen zu tun zu haben, von dem wir als Lehrendem in Wahrheit aber nur vom Hörensagen – oder eben: ‚Hörenschreiben‘, wenn man so will – wissen. Im Folgenden soll das ansonsten aus guten Gründen etablierte Verfahren mit Namen ‚Vorlesungsedition‘ einmal problematisiert werden, um scheinbar Selbstverständliches wieder in den Blick zu bekommen: Denn dass wir es in solcher Edition mit der reinen ‚Lehre‘ des Edierten zu tun haben, das ist nur eine romantische Sicht, denn Universitätsvorlesungen stehen in weitgehend klar definierten, institutionalisierten Lehrzusammenhängen irgendwo zwischen Prüfungsordnung und Lehrerausbildung.3 Sie sind außerdem – als Reihe von Vorträgen zum Überblick über zentrale Wissensgebiete – periodisch wieder aufgenommen worden. Das entlastet unsere Hermeneutik bereits von vorn herein von allen Fragen der Biographik.4 Die überlieferten Notate der Hörer und des Vortragenden sind freilich interpretationsbedürftig im umfassenden Sinne – aber diese Interpretation kann nur in den Kontexten von autorisiertem Werk, akademischem Unterricht, Universitätsgeschichte (was z. B. ist zu Vorlesungen zu sagen, die zur Schulung künftiger Staats–––––––— 3 Vgl. Björn Hambsch: [Art.] Universitätsrede/Vorlesung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 9. Hg. v. Gerd Ueding u. a. Tübingen 2009, Sp. 908–914 u. Sp. 1194–1204. 4 Vgl. Georg Simmel: Ueber Geschichte der Philosophie. Aus einer einleitenden Vorlesung [1904]. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. 1. Hg. v. R. Kramme u. a. Frankfurt/M. 1995 (Georg Simmel Gesamtausgabe. Hg. v. O. Rammstedt. Bd. 7), S. 287: „Jener personale Charakter jeder großen Philosophie verträgt es aber durchaus, daß auf alle Erzählung des sogenannten persönlichen Lebens der Philosophen verzichtet wird. Denn die biographischen Anekdoten betreffen ja gerade das Unpersönliche am Philosophen. Ob jemand arm oder reich, schön oder häßlich, Engländer oder Deutscher, verheiratet oder Junggeselle war – das ist etwas relativ Allgemeines, das teilt er mit unzähligen Andern. Die Quellen der Philosophie fließen doch tiefer, als daß sie aus diesen Strömungen an der Oberfläche des Lebens herzuleiten wären, aus irgend welchen ‚Umständen‘.“

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diener gehalten wurden) etc. einen Sinn ergeben. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt die Mediengeschichte, denn der Buchdruck hat für die Vorlesung, die älter als der Buchdruck ist, eine – auf lange Sicht – revolutionäre Freisetzung bedeutet: weg von der Bindung an Autoritäten hin zu einer immer weiter reichenden Freiheit eigener Lehrmeinung und Forschung, von fremden zu eigenen Lehrbüchern.5 Das hatte u. U. eine ganz andere Kühnheit zur Folge, die sich in den Vorlesungen weit eher als in den Büchern äußerte: „Berücksichtigt man, wie nachhaltig prägend derlei Kollegien für manchen Schüler solcher Kathederfürsten waren (und gewiß bis heute sind), leuchtet doch unmittelbar ein, was für einen Rang gerade diese eben nur scheinbar flüchtigen mündlichen Äußerungen beim Nachzeichnen der Entwicklungslinien eines Faches haben. Oft verdeutlicht sich überhaupt erst durch die regelmäßige Wiederholung einer Lehrveranstaltung ein Sachverhalt, ja manchmal wird plötzlich (wie etwa zwischen den verschiedenen Auflagen eines Lehrbuchs) eine epochale Veränderung sichtbar.“6 Dazu trat nicht zuletzt mit dem Ende der Latinität zugunsten des Vortrags in der Landessprache eine sprachliche Nivellierung und neue Öffentlichkeit des Wissens, die man schon aufgrund der fälligen Kollegiengelder noch längst nicht Demokratisierung nennen kann und die mit einem Verlust an Internationalität erkauft wurde. Die geschilderten hermeneutischen Schwierigkeiten sind übrigens nirgends ein Argument gegen Vorlesungseditionen und die ihrer Nachschriften. Sie helfen lediglich, das methodische Verfahren klarer zu definieren. Die kritische Edition von Manuskripten zu einer Vorlesung ist, was allein die Darstellung der Genese und Wiedergabe der Varianten angeht, in vielerlei Hinsicht ein weitaus transparenteres Verfahren als sowohl der Druck von eben für den Druck überarbeiteten und eingerichteten Vorlesungen durch ihren Autor als auch die Ausgabe nachgelassener Unterlagen für Lehrveranstaltungen durch Söhne, Schüler und Freunde, wie sie seit dem neunzehnten Jahrhundert üblich wurden. Die zentrale hermeneutische und methodische Frage der Edition von „Lehrveranstaltungstextzeugen“ ist die nach der Form der Abhängigkeit der überlieferten Manuskripte vom gesprochenen Wort. Zwei Tatsachen sind dabei vielleicht unstrittig: 1. hat es das gesprochene Wort gegeben, 2. sind sowohl Manuskript als auch Nachschrift abhängig von diesem gesprochenen Wort. Die Frage ist allerdings: wie, in welcher Weise? Art des Vortrags und Grad der Verschriftlichung müssen nicht notwendig korrelieren, weder vom Lehrer aus gesehen noch vom Hörer aus. Ein freier Vortrag kann bis ins Letzte auf ein ausgearbeitetes Manuskript zurückgehen, und jeder noch so textgebundene Vortrag wird immer situative Äußerungen nötig machen, die eben nicht niedergeschrieben sind. Dies nur als polare Gegensätze, die auch das Umgekehrte nicht ausschließen: Vortragskünstler, die aus dem Reichtum ihrer Beschäftigung frei extemporieren und deren Bericht sich als gegliederter dennoch –––––––— 5 Vgl. Thomas Ellwein: Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Lizenzausgabe Wiesbaden 1997, S. 12–13. 6 Vgl. Ulrich Joost: Einleitung zu: Georg Christoph Lichtenberg: Vorlesungen zur Naturlehre/Gottlieb Gamauf: „Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen“. Die Nachschrift eines Hörers. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Göttingen 2008 (Georg Christoph Lichtenberg Gesammelte Schriften Bd. 2), S. XI.

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sinnvoll mit- und niederschreiben lässt. Nicht zu vergessen sind schließlich die nur scheinbaren Mitschreiber, die vielleicht sogar gar nicht anwesend waren, sondern sich die Nachschriften auf dem akademischen Markt gekauft hatten. Einfache Faustregeln helfen hier also nichts, denn sonst geraten wir frei nach Wilhelm Dilthey in Gefahr, unsere editorische Tätigkeit mit dem zu verwechseln, was aus dieser Tätigkeit erst hervorgehen soll. Wir dürfen nicht selbst als Autoren unserer Editionstexte auftreten.

2. Die Kontexte einer Vorlesungsedition Soweit zum Problemaufriss bzw. Hintergrund des Projekts zur Edition von Windelbands Heften. Aber vielleicht ist das alles noch zu sehr achtzehntes Jahrhundert und entspricht nicht mehr den gesetzteren Verhältnissen des neunzehnten. Während Fischer in seinem Ratgeber ja noch v. a. den Nutzen der Nachschriften für die Vorbereitung auf Prüfungen im Auge hat,7 lesen sich Paulsens Auslassungen von 1902 dazu fast als gutmütige Anerkennung eines notwendigen Übels. Irgendwo dazwischen steht Jacob Grimm mit einem Schreiben an Savigny vom 25. März 1833: An sich habe ich nichts gegen das nachschreiben der worte und ausdrücke, deren sich ein trefflicher lehrer im vortrag bedient; es ist natürlich, daß der schüler von ihm alles zu fassen sucht bis auf die form; und der geist dieser form wird auch einigermaßen in das nieder geschriebene mit eingehen können, wie wir es an den neulich gedruckten Wolfischen vorlesungen, aller mißgriffe ungeachtet, sehen. Ein solches nachschreiben kann nicht gehindert werden und fördert manche. Das gefährliche ist nur, einmal, daß die schüler das beste nicht aufschreiben und mit der feder warten, bis das dictiermäßige kommt, dann, daß manche lehrer, was nie geschehen soll, ihren vortrag für das niederschreiben berechnen.8

Das galt als schlechte Übung. – Schließlich aber gibt es nach wie vor den habituell gewordenen Zwang, sich bei jedem Vortrag etwas zu notieren, der noch vor der bloßen Kritzelsucht aus Langeweile kommt. Paulsen lehnt alle im engeren Sinne praktischen Absichten des Nachschreibens ab, es geht ihm auch nicht um die Prüfungsvorbereitung, sondern er läßt lediglich diejenige Art des Nachschreibens gelten, die sich in Aufmerksamkeit für das Wesentliche an einem Vortrag bzw. einer Sache übt, und wenn es nur die Befähigung zum Protokollieren betrifft. „Und so hat dies Nachschreiben selbst seinen Nutzen gehabt, auch wenn das Nachgeschriebene niemals wieder angesehen wird, ganz wie ein Exzerpt geleistet hat, was es sollte, blos dadurch, dass es gemacht wurde“.9 Aber das konnte Paulsen auch nur unter den Umständen sagen, dass neben die Vorlesungen im späteren neunzehnten Jahrhundert nunmehr die Übung10 getreten war: „Die Vorlesungen haben die Darstellung der Wissenschaft in –––––––— 7 Vgl. Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte. Oder: erprobte Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben sowohl der Academischen als der höheren Gymnasialvorlesungen. Bonn 1826 (http://www.deutschestextarchiv.de/fischer_collegienhefte_1826). 8 Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hg. in Verb. m. I. Schnack v. W. Schoof. Berlin 1982, S. 375. 9 Friedrich Paulsen: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium. Berlin 1902, S. 399. 10 Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg 1999.

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ihrem Gesamtbestand, die Uebungen die Einführung der Teilnehmer in die mehr oder minder selbständige Arbeit auf dem Gebiet zur Aufgabe.“11 Das Hauptgewicht der prüfungsrelevanten Lehre war in die Seminarien und Privatissima abgewandert, wo nicht zuletzt die Dissertationen entstanden. Das setzte die Vorlesung, die nun überhaupt erst mehr oratorisches Talent in der Lehre zuließ, schließlich auch rhetorisch frei: jetzt darf auch erfreuen, was zuvor nur belehrte.12 Damit also zu Windelbands sog. Sendaier Heften. Sendai ist eine Stadt im Nordosten Japans, mit der Windelband zunächst einmal nichts zu tun hat. Dazu gibt es eine kurze Geschichte zu erzählen: Ein knappes Vierteljahr nach Beginn der Arbeiten an dem laufenden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt ist ein überraschender Fund bekannt geworden, der zumindest einen Teil des bis dahin vollständig verschollen geglaubten Nachlasses von Wilhelm Windelband öffentlich bekannt macht.13 Bei dem Fund handelt sich um 20 Manuskripthefte mit umfangreichen Notaten zu Buchprojekten und Lehrveranstaltungen Windelbands. In der Bibliothek der Tohoku-Universität Sendai, Japan befinden sich seit 1926 diese 20 archivarischen Einheiten. Es handelt sich um Entwürfe und Ausarbeitungen zum Thema Psychologie (Hefte 1, 8, 10, 11, 12, 16, z. T. datiert auf 1878–79); Griechische Philosophie (Hefte 3, 13, 14, 15, z. T. datiert auf 1878/9 und die 1880er Jahre); Skelett der Geschichte der Philosophie (Heft 6); Grundlinien der Rechtsphilosophie (Hefte 4, 5, datiert Sommer 1882); Hauptprobleme der Philosophie (Heft 2, datiert Winter 1878/9); Einleitung in die Philosophie (Heft 7); ein Heft ohne Titel, beginnend mit: „Einleitender Theil. Die Philosophie in den ersten sechs Jahrhunderten der christl. Zeitrechnung“ (Heft 9); Religionsphilosophie (Heft 17, datiert 1891); Geschichte des Deutschen Geisteslebens (Hefte 18, 19, z. T. datiert 1899/1900) – sowie Willensfreiheit (Heft 20, datiert 1899/1900).14 Der Status dieser Manuskripte –––––––— 11 Paulsen 1902 (Anm. 9), S. 237. 12 Vgl. Hambsch 2009 (Anm. 3); Paulsen 1902 (Anm. 9), S. 242–249. 13 Bisher Fehlanzeige, kein Nachweis in den gängigen Findmitteln; ebenfalls kein Nachweis in: Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932. Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1986, S. 300 (Eintrag Windelband). Vgl. die Notiz der Herausgeber in: Max Weber Gesamtausgabe Abt. 2 Bd. 5, Briefe 1906–1908, hg. v. M. Rainer Lepsius u. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarb. m. Birgit Rudhard u. Manfred Schön, Tübingen 1990, S. 39, Anm. 1.: „Laut Mitteilung von Frau Gisela BredtStutz [Enkelin Wilhelm Windelbands, *24. Oktober 1902] an Manfred Schön vom 5. Sept. 1985 ist der Nachlaß von Wilhelm Windelband, der sich bei dessen Sohn Wolfgang [1886–1945] in BerlinGrunewald befand, durch Bombeneinwirkung vernichtet worden.“ Dazu die sehr viel frühere (!) Notiz Rosenbergs in: Hans Rosenberg (Hg.): Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, Berlin/Leipzig 1930, S. 1: „Wie eingehende Nachforschungen ergeben haben, müssen die Briefe Hayms an […] W. Windelband als verloren angesehen werden.“ – Eigene Recherchen bei den direkten Nachfahren Windelbands in Hamburg und anderen Zweigen der Familie in der Umgebung von Magdeburg haben ebenfalls nichts ergeben. 14 Vgl. die Notizhefte und -bücher Windelbands im Besitz der Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai, Japan: 20 Einheiten mit der Signatur II, A 2–2 WW 1–20 (laut jeweils aufgeklebtem Etikett). Hs. geführt (deutsche Schrift). Überwiegend recto beschrieben, verso frei gelassen für Ergänzungen. 15 Schreibhefte, 5 Notizbücher. Der Inventarstempel der Bibliothek der kaiserlichen Tohoku-Universität weist aus, dass die 20 Hefte u. Notizbücher am 16. Januar 1926 unter der Nummer 16926 inventarisiert worden sind. Die Maße von durchschnittlich 20,6 x 15,6 cm der Hefte und 16,8 x 10,8 cm der Notizbücher haben das kostümhistorisch bedeutsame Pendant der mindestens 4 (2 außen, 2 innen), das Format von ca. 16 x 12 cm fassenden Taschen des Herren- bzw.

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als Notizen für entweder Vorträge, Lehrveranstaltungen oder Veröffentlichungen ist Gegenstand und Forschungsfrage des Editionsprojekts. Typologisch gesehen, gibt es für jeden von Walter Jaeschke namhaft gemachten Typus ein Beispiel: bloße Gliederungskonzepte, Stoff- und Stichwortsammlungen und Hefte mit ausformulierten Text sind vertreten; außerdem treten als vierte Form noch Publikationsvorstufen oder Buchpläne hinzu.15 Wie ist es zu diesem Überraschungsfund gekommen? Eine Chronologie der Ereignisse sieht folgendermaßen aus: Nach Durchführung einer im März 2015 in Heidelberg veranstalteten Tagung über Windelband erreichte den Mitveranstalter der Tagung, Peter König (Heidelberg) ein Schreiben von Sekido Mai von der Bibliothek der Tōhoku-Universität Sendai, Japan. König wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich im Bestand dieser Bibliothek bei Retrokatalogisierungsarbeiten 20 handschriftlich geführte Hefte aufgefunden hätten, die offenbar von Windelband stammten.16 Die Nachrichten von Sekido lauten mit Email vom 3. Juni 2015 (Übersetzung Chihiro Kodama-Lambert, Universitätsbibliothek Heidelberg): Auf welchem Weg diese Materialien zu uns kamen, ist noch nicht klar. Was ich momentan weiß: Am 16.1.1926 (Taishô 15) wurden 20 Hefte im Set als Notizbücher von Windelband in unseren Bestand aufgenommen. Sie wurden erworben (keine Schenkung). Der Lieferant ist die Firma Gustav Fock (möglicherweise eine Buchhandlung). Der Preis beläuft sich auf 135 Yen 50 Sen. Es wurden noch u. a. Bücher über Philosophie und Psychologie (hauptsächlich auf Deutsch) mit aufgenommen. Folgende Wissenschaftler waren damals an der philosophischen Fakultät als Dozent tätig: Takahashi Satomi, Ishihara Ken, Oyama Tomoe, Eugen Herrigel. Zu dieser Zeit (1926) erhielt die Universität Tōhoku ebenfalls eine Sammlung von Unterlagen von Emil Seckel, Friedrich Stein, Wilhelm Wundt u. a.

Tatsache ist, dass die Universitätsbibliothek Tōhoku im Besitz der Privatbibliothek Wilhelm Wundts ist.17 Schriftvergleiche, u. a. angestellt von Dagmar Drüll-Zimmermann vom Archiv der Universität Heidelberg, bestätigten bald die zutreffende Vermutung, dass es sich beim Sendaier Fund um Manuskripte Windelbands handelt.18 Peter König bestätigte dazu in einer Email vom Januar 2016, dass es möglich sei, dass –––––––—

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Professorenjacketts: da würden 4 solcher Notizbücher, wie sie Windelband benutzt hat, hineinpassen (vgl. den Hinweis von Hans-Liudger Dienel: Schreiben, Zeichnen, Erinnern: Persönliches Wissens– management im Ingenieurberuf seit 1850. In: Werner Rammert/Cornelius Schubert (Hg.): Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik. Frankfurt/M./New York 2006, S. 397–424, hier: 402). Diesem Schnittmuster hat unzweifelhaft ein Bedarf, genauer gesagt: eine Praxis entsprochen. Seine Hefte hätte Windelband für die Rocktaschen bloß falten müssen. Vgl. Walter Jaeschke: Manuskript und Nachschrift. Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio Bd. 1), S. 82–89. Email Sekodo vom 1. Juni 2015. Vgl. die Pressemitteilungen aus Heidelberg: http://www.uni-heidelberg.de/presse/meldungen/ 2016/ m20160601-unbekannte-notizhefte-des-heidelberger-philosophenwindelband-in-japan-aufgetaucht.html (19.9.2018) – und Sendai: http:// www.tohoku.ac.jp/ en/ news/ arts_and_ culture/ notebooks_of_philosopher_windelband_found. html (19.9.2018). Ankauf ebenfalls 1926 bei Focks Konkurrenz Buchhandlung Alfred Lorentz, Leipzig, vgl. http:// www.library.tohoku.ac.jp/en/collections/major_special_introduction.html#wundt (19.9.2018). Vgl. Peter König: Einleitung. In: Peter König/ Oliver Schlaudt (Hg.): Wilhelm Windelband (1848– 1915). Würzburg: Koenigshausen & Neumann (Studien und Materialien zum Neukantianismus Bd. 38), S. 26.

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der Kontakt 1926 über Eugen Herrigel lief, der als Schüler Windelbands und v. a. Rickerts aus Heidelberg an die Tōhoku Universität eingeladen wurde (Aufenthalt 1924–1929, danach als Nachfolger Paul Hensels in Erlangen), oder über Takahashi Satomi, den späteren Rektor der Tōhoku Universität, der sich unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg in Heidelberg aufgehalten hatte, wo er Herrigel kennen lernte. Laut Auskunft von Sekido vom 13. Juni 2016 an den Verfasser ist an der dortigen Universitätsbibliothek weiterhin nichts Näheres über die Umstände der Erwerbung bekannt. Ergänzend ist zu sagen, dass zum einen die Leipziger Antiquariatsfirma Gustav Fock in den 1920er Jahren eine Dependance in Tokio unterhielt19, zum anderen eine Reihe japanischer Wissenschaftler, darunter solche, die später an der Tōhoku Universität lehrten, bei Windelband bzw. Heinrich Rickert studierten. Die Firma Fock war, da sie in der Inflationszeit die Bestände der Firma Friedrich Meyer aufkaufte, wahrscheinlich auch in den Besitz der Privatbibliothek Windelbands gelangt, soweit sie nicht bereits verkauft war. Über die Privatbibliothek existiert ein zweiteiliger Verkaufskatalog (einzig nachgewiesen in der Staatsbibliothek Berlin): Bibliothek Windelband Abt. I. Die Philosophie der alten Welt. Klassische Philologie. Kulturgeschichte. Antiquariats-Katalog No. 133 enthaltend u. a.: Den ersten Teil der Bibliothek des † Herrn Geh. Rat Dr. Windelband, o. ö. Professor an der Universität Heidelberg. Leipzig: Friedrich Meyer’s Buchhandlung Winter-Semester 1916/17. 424 Nummern. – Bibliothek Windelband Abt. II. Wilhelm Windelband. Immanuel Kant. Neuere Philosophie und deren Geschichte. Antiquariats-Katalog No. 134 enthaltend u. a.: Den zweiten Teil der Bibliothek des † Herrn Geh. Rat Dr. Windelband, o. ö. Professor an der Universität Heidelberg. Leipzig: Friedrich Meyer’s Buchhandlung 1916/17. 903 Nummern. Der Verbleib der Bibliothek ist ungeklärt, ebenso der Weg der Bibliothek von den Erben Windelbands ins Antiquariat, zu schweigen von den in Rede stehenden Manuskripten. Bisher ist nur eine einzige Äußerung der Erben zu den Kollegheften bekannt geworden. In einem Schreiben an Paul Siebeck, den Inhaber des Verlages Mohr/ Siebeck, hat Windelbands Sohn Wolfgang am 27.3.1916 über die möglichen Bearbeiter der Neuauflage des Lehrbuches der Geschichte der Philosophie u. a. geäußert: „Für die spätere Bearbeitung denke ich übrigens in erster Linie an Dr. Baensch in Strassburg, der von den Schülern meines Vaters, von dem er das meiste nach Lask erwartet hat. Ihm hat er auch seine Kolleghefte über die Geschichte der Philosophie geschenkt“ (Verlagsarchiv Mohr/Siebeck, Staatsbibliothek Berlin). Es muß nach derzeitigem Kenntnisstand offen bleiben, ob nicht gar Otto Baensch der Einlieferer der Hefte an das Auktionshaus Fock gewesen ist. Im Nachlass Baensch (Bibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München) sind jedenfalls keine Manuskripte Windelbands überliefert, und die Sendaier Sammlung umfaßt mehr Themen als bloß Philosophiegeschichte. –––––––— 19 Vgl. die Auflistung der Niederlassungen auf dem Titelblatt des Verkaufskataloges Nr. 612 der Firma Fock von 1929 (Stadtbibliothek Mainz, Signatur 22/510). Japan: Seiyu-Building No. 1, Itchome, Uchiyamashita-cho, Kojimachi-ku, Tokyo.

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Die bisherige Forschungsarbeit hat die Arbeitshypothese bestätigt, dass am Werk und Wirken Windelbands exemplarisch die inneren wie äußeren Umstände der akademischen Philosophie um 1900 abgelesen werden können. Windelband verkörpert wie kaum ein zweiter das gesamte neue Aufgabenspektrum eines akademischen Lehrers dieser Zeit mit sämtlichen neuen (heute üblichen), zunächst aber ganz philosophiefremden Leitungs- und Verwaltungsfunktionen der Wissenschaftsorganisation. Windelband beförderte die Institutionalisierung der Philosophie und ihre Herausbildung als Fachwissenschaft, indem er: philosophiehistorische Forschungen betrieb; zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften und zu methodologischen Fragen der Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung forschte; Überblickswerke zur Philosophiegeschichte und Lehrbücher der Philosophie schrieb; seine persönliche Stellung (und damit zugleich diejenige seine Faches) innerhalb der Institutionen stärkte: als dreimaliger Rektor der Universitäten Straßburg und Heidelberg und als Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften; indem er neue Institutionen begründete: als Sekretär der Akademie der Wissenschaften Heidelberg, durch die Einrichtung des Philosophischen Seminars an der Universität Heidelberg, die Schaffung der Institution „Philosophische Assistenz“ als Teil der Institutionalisierung der philosophischen Fachlichkeit; indem er als ein gefragter Redner und Organisator tätig war: Beteiligung am 2. und Präsidentschaft des 3. Internationalen Kongresses für Philosophie (1908 in Heidelberg); Fachzeitschriften mitbegründete oder ihre Gründung unterstützte: vor allem die „Kant-Studien“ (seit 1897) und „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ (seit 1910) – sowie als Erzieher wirkte: Windelband gilt als „Schulhaupt“ des sogenannten Südwestdeutschen Neukantianismus. Seine Hauptschriften erreichten hohe Auflagen und wurden z. T. mehrfach in verschiedenen Sprachen übersetzt. Eine starke Fraktion russischer Schüler verbreitete z. B. seine Werke durch Übersetzungen in Russland. Die bisher ausgewerteten Materialien zum Leben und Werk geben erste Antworten auf die Frage, in welcher Weise Windelband für die Herausbildung der Fachwissenschaft Philosophie um 1900 gewirkt hat. Das nunmehr überraschend vorliegende Material soll Einblicke in Windelbands Wirken als akademischer Lehrer geben und einen weiteren Schritt zu Kontextualisierung des zu Lebzeiten publizierten Werkes liefern. Einen ersten Versuch der Rekontextuierung hat unlängst Horst Gundlach für die Bestimmung der Leistungen Windelbands im Kontext der Formierung der Psychologie zu einer akademischen Disziplin vorgelegt.20 Die Arbeit von Gundlach unterstreicht durch den Abdruck der Texte der Manuskripte von Windelband zu Lehrveranstaltungen und monographischen Entwürfen über Psychologie das Desiderat einer kritischen Edition dieser und der weiteren in Sendai –––––––— 20 Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich, 2017. Open access: http:// heiup. uni-heidelberg. de/ heiup/ catalog/ book/ 203). Eine zweite Fassung des editorischen Teils in: Horst Gundlach: Windelbands Ringen mit der Psychologie In: König/ Schlaudt (wie Anm. 18), S. 297–334; Anhang: Wilhelm Windelband: Blaue Hefte zur Psychologie, S. 335–356.

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überlieferten Manuskripte Windelbands. Es handelt sich bei Gundlachs Abdruck um eine Lesefassung von Windelbands Heften Nr. 1, 8 und 10 zur Psychologie, flankiert von den Texten der Nachschriften von Rickert, Baensch und Curtius zu psychologischen Lehrveranstaltungen Windelbands aus verschiedenen Jahren. Dieser Abdruck zeigt einerseits das Interesse an den Nachlassheften, wie er andererseits eine diplomatisch verfahrende historisch-kritische Edition sämtlicher Manuskripte (bei Gundlach fehlen z. B. Windelbands Manuskripte Nr. 11 u. 16 zur Psychologie, die sich erst bei näherer Untersuchung als zum Thema gehörig erwiesen haben) und die für die Kommentierung notwendige Heranziehung der dazu zu stellenden Nachschriften dringlich macht. Zur technischen Erfassung der Transkriptionen und Kommentare wurden durch die Firma Bülow & Schlupkothen XML Dienstleistungen (Wuppertal), von Gilles Bülow und Frederik Schlupkothen Auszeichnungen erarbeitet, die auf den „Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange“ der Text Encoding Initiative (TEI) basieren, so dass die festgehaltenen Dokumente in einer normierten Datenstruktur vorliegen.21 Ziel und Vorteil dieses Verfahren ist, dass die Erfasser diese Auszeichnungen in einschlägigen Textverarbeitungsanwendungen nutzen können, ohne tiefergehende Kenntnisse von Markup-Sprachen wie bspw. TEI-XML erwerben zu müssen. Im vorliegenden Projekt wird Microsoft-WORD verwendet. Die derart ausgezeichneten Transkriptionen basieren dadurch auf einem De-facto-Standard zur digitalen Kodierung von gedruckten Werken. Die Kodierungsmöglichkeiten sind jedoch nicht nur auf die Struktur und Repräsentation gedruckter Werke beschränkt, sondern es können auch textkritische Anmerkungen und Kommentare der Herausgeber mit aufgenommen werden. Durch die Nutzung normierter Auszeichnungen ist eine Weiterverwendung der erzeugten Daten durch standardisierte Werkzeuge sichergestellt. Die ausgabeneutral erfassten Daten werden zunächst einer Publikationspipeline zur automatischen Drucksatzlegung übergeben. Die Ausgaben können innerhalb der Publikationspipeline im Layout individuell, z. B. nach Verlagsrichtlinien, angepasst werden und können alle Kodierungsmerkmale wie nicht zuletzt den textkritischen Apparat regelbasiert verarbeiten. Die automatische Überführung der Ausgangsdaten in ein webfähiges Format befindet sich in Vorbereitung. Folgende Forschungsergebnisse zum Nachlass Windelbands und zu den Manuskripten in Sendai können bereits jetzt im Umriss vorgelegt werden: Die Leipziger Bestände der Firma Gustav Fock, darunter womöglich auch die Privatbibliothek Windelbands, sind im 2. Weltkrieg verbrannt.22 Eine ebenfalls von Friedrich Meyer angebotene und angereicherte Fichte-Sammlung Windelbands ist vom Marx-EngelsInstitut Moskau gekauft worden.23 Darüber existiert ein Katalog (in mehreren –––––––— 21 Ich danke den Genannten für die Formulierung dieses Absatzes. 22 Vgl. Erich Carlssohn: Lebensbilder Leipziger Buchhändler. Meersburg 1987, S. 113–117. 23 Das bestätigt die Selbstauskunft des Institutes in: Marx-Engels Archiv 1 [1926], S. 448–460: „Die Bücherbestände des Instituts kamen auf verschiedene Weise zusammen. Von den Ankäufen im Auslande, die von Anfang an in großem Umfange betrieben wurde, ist von besonderer Wichtigkeit die Erwerbung von mehreren großen Spezialsammlungen: […] die Fichte-Bibliothek von Windelband […] die Fichte-Literatur, deren Grundstock die oben erwähnte Windelbandsche Sammlung bildet, umfaßt

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Bibliotheken nachgewiesen, vgl. den Karlsruher virtuellen Katalog KVK): Eine Fichte-Sammlung beschrieben von Friedrich Meyer. Mit einer Einführung von Universitäts-Professor Dr. Ernst Bergmann-Leipzig. Leipzig: Friedrich Meyers Buchhandlung 1921. VIII, 94 S., 624 Nummern. Meyer teilt allerdings nicht mit, welche Titel aus Windelbands Besitz stammen und welche er selbst der Sammlung hinzugefügt hat (angereicherte Sammlungen – z. B. zu Goethe – waren eine Spezialität Meyers). Danach, womöglich unmittelbar, erschien: J. G. Fichte. Eine Sammlung von Werken von und über ihn. Mit einer Einführung von Universitäts-Professor Dr. Ernst Bergmann-Leipzig. Angeboten von der Buchhandlung Gustav Fock. Leipzig o. J. VIII, 94 S., 624 Nummern (Privatbesitz Bohr, ein Nachweis in der AmerikaGedenkbibliothek Berlin, vgl. den KVK). Das ist bis auf Titulatur und Vorbemerkung identisch mit dem obigen Meyerschen Fichte-Katalog – unter Unterschlagung der Autorschaft Meyers, der in der Inflationszeit der 1920er gezwungen war, seine Bestände an die Buchhandlung Gustav Fock zu verkaufen.24 1922 erschien eine Rezension des Meyerschen Fichte-Kataloges von E. Hirsch, Göttingen, in: Theologische Literaturzeitung 47 (1922), Sp. 206. 1926 erschien eine weitere Rezension des Meyerschen Fichte-Kataloges, ohne Autornennung in: Revue de Métaphysique et de Morale 33 (1926), S. 11, mit der Nachricht, diese Fichte-Sammlung sei an das MarxEngels-Institut Moskau verkauft worden, so dass der dortige Erwerb auf die Jahre 1921–1926 eingegrenzt werden kann.25 Der spätere Verbleib (das Institut wurde 1991 geschlossen und seine Bestände in andere Archive überführt) ist bisher nicht ermittelt. Der Hintergrund des japanischen Interesses an deutschsprachigen wissenschaftlichen Sammlungen und des Studiums von bereits in Japan ausgebildeten Wissenschaftlern in Deutschland, insbesondere Heidelberg, ist kurz der folgende.26 Es kamen zwei Dinge zusammen: das Interesse Japans, sich radikal zu modernisieren – auch wissenschaftlich; und später nicht zuletzt der starke Yen zur Zeit der Hyperinflation in Deutschland. Da Deutschland im neunzehnten Jahrhundert wissenschaftliche Weltgeltung beanspruchte, lautete die Vorstellung, etwas salopp gesagt: wenn Japan die wissenschaftlichen Papiere z. B. eines Windelband besitzt, der als ein führender Kopf deutscher Philosophie gilt, dann steht die japanische Wissenschaft automatisch mit an der Spitze der Weltgeltung. Nach 1890, zur Zeit der Meiji-Er–––––––— gegen 800 Titel“ (vgl. S. 448–449 u. S. 453 – d. h. lediglich ca. 200 Nummern mehr als der Meyersche Katalog). Aus Windelbands Besitz ist außerdem in den Handel gekommen: Driesch, Hans: Ordnungslehre. Jena 1912. Mit einer eigenhändigen Widmung an Windelband vom Verfasser. Angeboten in: Münchener Kunstversteigerungshaus Adolf Weinmüller: Katalog 5. Bibliothek aus rheinischem Privatbesitz. Versteigerung Donnerstag, den 12. November 1936, S. 17, Nr. 117 (http://digi.ub-uniheidelberg.de/weinmueller1936_11_12/0019; 1.4.2014). 24 Vgl. Carlssohn 1987 (Anm. 21), S. 95–99. 25 Vgl. Anm. 21. Die Sammlung erwähnende Berichte von Besuchern des Instituts finden sich bei Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. 1.–10. Tsd. Berlin 1927, S. 133 sowie bei Georg Lenz: Das Marx-Engels-Institut in Moskau. In: Historische Zeitschrift 137 (1928), S. 498–501. 26 Vgl. Takeshi Ishida: Die Entdeckung der Gesellschaft. Zur Entwicklung der Sozialwissenschaften in Japan. Frankfurt/M. 2008; Günther Haasch (Hg.): Bildung und Erziehung in Japan. Ein Handbuch. Berlin 2000; Niels Gülberg: Eugen Herrigels Wirken als philosophischer Lehrer in Japan. In: WasedaBlätter 4 (1997), S. 41–66 und 5 (1998), S. 44–60; ferner Wolfgang Schwentker: Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905–1995. Tübingen 1998.

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neuerung (1868–1912, mit der Einführung einer an der des Deutschen Reiches orientierten Verfassung 1889, inklusive der Wiedereinsetzung des Kaisers, sowie einem an Preußen orientierten Schulmodell), „in der man glaubte, dem starken Druck des Westens nur durch die rasche Adaption seiner Institutionen und die Übernahme seiner Werte begegnen zu können, war […] vor allem der Import westlicher Wissenschaftsdisziplinen und Theorien von großer Bedeutung.“ Die Regierung Japans „entsandte viele herausragende, junge Wissenschaftler an die renommiertesten Standorte westlicher Wissenschaften“, in Deutschland v. a. nach Berlin, Marburg und Heidelberg, um technisches und theoretisches Wissen zum Aufbau eines modernen japanischen Staates zu sammeln.27 Ein weiterer Weg dahin war die Berufung deutscher Wissenschaftler an japanische Universitäten (Tokio, Kyoto, Tōhoku/ Sendai). Diese Bemühungen und dieser Austausch wurden auch nach der Meiji-Zeit weitergeführt. Ein Studium war ohne Kenntnisse des Deutschen, Französischen oder Englischen als der Sprache der Lehrbücher nach wie vor nicht denkbar. An der Universität Tokyo wurde z. B. überwiegend Deutsch gelesen. Diese Sprachen wurden in den ersten Jahren an der Universität (die man mit 15 Jahren beziehen konnte) erworben, wenn nicht an der vorangegangenen Höheren Schule.28 Die Studenten aus Japan – die meisten von ihnen bereits promoviert oder gar bereits als akademische Lehrer tätig – erhielten ein staatliches Stipendium, was, da es in Yen ausgezahlt wurde, v. a. während der 1922 beginnenden Inflation in Deutschland von Vorteil war. Es war für die japanischen Wissenschaftler leichter, die Werke ihrer deutschen Lehrer zu kaufen und somit deren Theorien in Japan zu verbreiten, nicht zuletzt durch Übersetzungen. Bei Windelband studierten von 1904–1906 Hatano Sei’ichi (1855–1910) und 1909 Tomonaga Sanjūrō (1881–1927); bei Rickert, noch in Freiburg, Sōda Kilchirō (1881–1927).29 Inwiefern tatsächlich der Neukantianismus der japanischen Modernisierungsabsicht entgegenkam oder vielmehr deswegen verstärkt in den japanischen Geistes- und Sozialwissenschaften rezipiert wurde, weil er als die führende Philosophie in Deutschland angesehen wurde, ungeachtet möglicher methodischer Vorzüge oder Nachteile, wäre noch zu untersuchen.30 Für die japanische Hegel-Rezeption spielte z. B. Ernest F. Fenollosa (1853–1908) aus den USA, der seit 1878 in Tokio lehrte, eine entscheidende Rolle.31 Jedenfalls gab es eine gewisse Affinität zu Kant, die bereits von Raphael von Koeber (1848–1923, aus Russland, Studium u. a. in Heidelberg, auch Schüler Eduard von Hartmanns32), bei dem in seiner Tokioter Zeit (1893–1914) eine Reihe von später in Heidelberg hören–––––––— 27 Vgl. Wolfgang Seifert (Hg.): Japanische Studenten in Heidelberg – ein Aspekt der deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen in den 1920er Jahren. Ubstadt-Weiher u. a. 2013, S. 10 sowie S. 48–49 (Beitrag Julika Wilbert). Danach die vorangegangenen Zitate. 28 Vgl. Haasch (Hg.) 2000 (Anm. 25), S. 66–93 (Beitrag Barbara Drinck). 29 Vgl. Seifert 2013 (Anm. 26), S. 10. 30 Vgl. ebd., S. 12. 31 Vgl. Seiichi Yamaguchi/Taiju Okochi: Die japanischsprachige Hegel-Rezeption von 1878 bis 2001. Eine Bibliographie. Frankfurt/M. u. a. 2013, S. 17–18. 32 Vgl. Kiochi Kasamatsu: The Development of German Philosophy in Japan. In: K. A. Sprengard, K. Ono, Y. Ariizumi (Hg.): Deutschland und Japan im 20. Jahrhundert. Wechselbeziehungen zweier Kulturnationen. Wiesbaden 2002, S. 61–66, hier: 63.

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den Studenten gelernt hatte, vorbereitet sein mochte, nicht zu vergessen Ludwig Busse (1862–1907), der nach seiner Promotion von 1887–92 ebenfalls an der Universität Tokio lehrte, bevor er sich 1894 in Marburg habilitierte.33 Ein Beispiel ist der Philosophiehistoriker Tomonaga Sanjūrō (1871–1951), der nach einem Studium bei von Koeber seit 1907 in Kyoto westliche Philosophiegeschichte lehrte, bevor er nach Heidelberg ging, um 1909–1913 bei Windelband zu studieren. Anschließend versah er wieder sein Lehramt an der Kyoto Universität.34 Ein weiterer Schüler von Koebers, Inoue Tetsujiro (1844–1944) war eine Zeitlang auf Empfehlung seines Lehrers Schüler von Eduard von Hartmann (Deutschlandaufenthalt 1884–1890).35 Fakt ist außerdem, dass sowohl der Philosoph und spätere Kultusminister Amano Teiyū (1884–1980) als auch der Philosoph Miki Kyoshi36 (1897–1945), der Philosoph und Politiker Kita Reikichi (1885–1961) sowie der Kirchenhistoriker und Theologe Ishikara Ken (1882–1976) nicht nur in den Jahren 1922–1924 bei Rickert studiert haben, sondern im Falle Amanos, Mikis und Ishikaras auch mit Rickerts Assistenten Eugen Herrigel (1884–1955) gut bekannt waren, der anschließend nach Japan eingeladen wurde und 1924–29 an der Universität Tōhoku in Sendai deutsche Philosophie lehrte. Die Tatsache, dass Jirō 1923 und Ihsikara Ken 1924 Professoren an der Tōhoku wurden, deuten im Verein mit der Anwesenheit Herrigels an dieser Universität darauf hin, dass der Ankauf der Papiere Windelbands durch die Bibliothek der Tōhoku alles andere als bloß zufällig geschah. Jirō soll außerdem eine Übersetzung von Windelbands Geschichte der Philosophie angefertigt haben, wie unbestätigte Berichte mitteilen. Die Hinweise auf gleichwohl unerforschte personelle Zusammenhänge verdichten sich dadurch, dass Kita nach 1922 die Stiftung eines „Windelband-Stipendiums“37 durch Sawanagi (Sawayanagi) Masutarō (1865–1927) vermittelt hatte (über 3000 Yen, wertstabil gegenüber der Deutschen Reichsmark), wobei Sawanagi niemand geringeres war als 1911–13 der 1. Rektor der 1907 gegründeten Tōhoku Universität Sendai. Kita kaufte außerdem die Sammlung von Büchern von und über Kant aus dem Nachlass Kuno Fischers und schenkte sie der Universität Tokio.38 Ein Weiteres trat im Falle Windelbands hinzu, das nicht ohne Zusammenhang mit dem überraschenden Erfolg der Werke Rickerts in Japan ist: der in den 1920er Jahren stetig wachsende japanische Absatzmarkt von Windelbands Tübinger Verleger Paul Siebeck (J. C. B. Mohr), mit beachtlichem finanziellen Vorteil, insbesondere mit –––––––— 33 Vgl. Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen. Bearbeitet v. Bruno Jahn. München 2001, S. 60. 34 Vgl. http://tksosa.dijtokyo.org/?page=collection_detail.php&p_id=158 (Sammlung Privatbibliothek Tomonaga; 19.1.2016). 35 Vgl. Kasamatsu 2002 (Anm. 31), S. 63. 36 Von diesem ein Artikel in: Frankfurter Zeitung, Nr. 382 vom 27.5.1923, Erstes Morgenblatt, S. 1–2: Rickerts Bedeutung für die japanische Philosophie. 37 Damit ist womöglich gemeint: Die Windelband(-Rickert)-Stiftung zur Förderung der Philosophie des deutschen Idealismus bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, bestätigt am 20.2.1924; vgl. Udo Wennemuth: Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsförderung in Baden. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909–1949. Heidelberg 1994, S. 245. 38 Vgl. Seifert 2013 (Anm. 26), S. 55 (Beitrag Julika Wilbert).

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Windelbands Werken.39 Die formale Kriegsgegnerschaft spielte dabei offenbar weniger eine Rolle als die Fortsetzung der in der Meiji-Zeit angestoßenen, an Wissenschaft aus Deutschland orientierten Modernisierung, zumal die japanischen Kontakte der 1920er Jahre v. a. von privaten, kirchlichen und universitären Initiativen gehalten und geknüpft wurden. Die steigende Nachfrage in Japan betraf außerdem die Schriften von Emil Lask (herausgegeben von Herrigel) und Max Weber sowie von Emil Lederer, Georg Jellinek und anderen sozialwissenschaftlichen und juristischen Autoren. Das scheint zu dem zuvor über ein methodisches Interesse Gesagten zu passen. Besonders Rickert hatte viele Studenten aus Japan, die ihrerseits seine Philosophie zu Hause populär machten. In diesem Netzwerk und in einer bezeichnenden Verzerrung gegenüber der Bedeutung, die Rickerts Philosophie zur selben Zeit in Deutschland beigemessen wurde – in Konkurrenz zu den anderen im Angebot befindlichen Philosophien – bevorzugten die v. a. in Heidelberg geprägten jungen japanischen Doktoren die sogenannte südwestdeutsche Philosophie ganz entschieden.40 Eugen Herrigel berichtete Rickert aus Sendai, diese Philosophie sei geradezu Mode geworden und werde von einer großen Anzahl seiner Kollegen nachgefragt, die seine Lehrveranstaltungen deswegen stark frequentierten. Bald erscheinende japanische Übersetzungen von Windelbands „Präludien“ und dessen „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ förderten sogar noch den über Im- und Exportfirmen abgewickelten Absatz der deutschen Originalausgaben, da die japanischen Leser sich die Originalwerke anhand der Übersetzungen aneigneten. Der oben erwähnte japanische Hörer in Rickerts Freiburger Zeit, Sōda Kilchirō fungierte dabei mehrfach als Verbindungsmann, spendete in die erwähnte Heidelberger Windelband-Rickert-Stiftung und kaufte u. a. die Privatbibliothek Hans Vaihingers, die bei dem Tokioter Erdbeben 1923 allerdings vollständig vernichtet wurde. Nicht zu vergessen ist wiederum Eugen Herrigel, der schließlich sogar die wirtschaftlichen Interessen Rickerts gegenüber japanischen Verlegern und Buchhändlern wahrte. Von Bedeutung war außerdem Emil Lederers zweijährige Dozentur an der Universität Tokio, wo er nicht zuletzt Verbindungsmann für den Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) war. Wie dem aber auch im Einzelnen sei – die Geschichte des Wirkens deutscher Wissenschaftler in Japan sowie die Geschichte der japanischen Kant-Rezeption bleibt weitgehend noch zu schreiben41 – der Weg Windelbandscher Manuskripte nach Japan war in den 1920er Jahren in vielerlei Hinsichten und auf –––––––— 39 Vgl. für das Folgende: Silke Knappenberger-Jans: Verlagspolitik und Wissenschaft. Der Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) im frühen 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2001, S. 396–408. 40 Vgl. Miki: Rickerts Bedeutung für die japanische Philosophie. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 382 vom 27.5.1923, Erstes Morgenblatt, S. 1–2. 41 Es gibt erste Ansätze, die wertvolle Hinweise bieten: Chukei Kumamoto: Rezeption der Transzendentalphilosophie und des Idealismus in Japan. In: Helmut Girndt (Hg.): Fichte in Geschichte und Gegenwart. Amsterdam/New York 2003 (Fichte-Studien Bd. 22), S. 1–18; Kasamatsu 2002 (Anm. 31), S. 61–66; Dairi Matsumoto: Kants Philosophie in Japan. Aktueller Forschungsstand und philosophische Überlegungen hierzu, http:// www.jdzb.de/ fileadmin/ Redaktion/ PDF/ veroeffentlichungen/ tagungsbaende/D57/23-p1184%20matsumoto1.pdf (1.2.2018); ferner: Arash Saidi: Kant in China. A Study on the Introduction and Interpretation of Immanuel Kant’s Philosophy from Late Qing China. Master thesis an der Universität Oslo, https://www.duo.uio.no/handle/10852/24409.

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breitester Interessenbasis geebnet. Die Edition von Windelbands Manuskripten bedeutet nicht zuletzt einen Beitrag zu diesen beiden philosophiehistorischen Desiderata. Bisher ist weitgehend ungeklärt, welchen Status diese Manuskripte haben: ob sie vorbereitende Notizen und Ausarbeitungen für Vorlesungen und andere Lehrveranstaltungen sowie öffentliche Vorträge waren oder ob sie Vorstufen für geplante Veröffentlichungen darstellen. Die Beantwortung dieser Fragen wird ein Hauptziel der inhaltlichen Erforschung und Interpretation der Manuskripte sein. Es ist z. B. erst im Laufe der Projektdurchführung am Briefwerk überhaupt bekannt geworden, dass Windelband seit den 1870er Jahren den Plan verfolgte, eine eigene Psychologie zu schreiben, den er jedoch spätestens im Laufe der 1880er Jahre aufgab, wie er seinem Freund Karl Dilthey (den Bruder des Philosophen) bereits am 3. August 1878 andeutete: Denn ich hatte mit zwei Vorlesungen herzlich viel zu thun und cumulirte diese Thätigkeit durch das etwas forcirte Arbeiten an dem ersten Bande meiner ‚Geschichte der neueren Philosophie‘ (in toto zwei Bände, dieser erste Renaissance bis Kant), an dessen Ende ich nun freilich glücklicherweise stehe und den Du hoffentlich zu Michaelis gedruckt sehen wirst. […] Du darfst mich einigermaßen verwundert fragen, wo denn dabei meine Psychologie bleibt. Im Kasten, ist leider die einzige Antwort, die ich darauf habe. Wie ich Dir schon um Ostern sagte, schreitet sie sehr langsam fort. Und das hauptsächlich aus Einem Grunde. Es kommt mir in erster Linie auf methodologische Grundlegung und dabei hauptsächlich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Physiologie an. Meine Züricher Antrittsrede deutete schon darauf hin. Wir kommen, wie die Sachen liegen, zu keiner selbständigen Psychologie, ehe wir nicht festgestellt und ganz reinlich bestimmt haben, was wir von der Physiologie brauchen und wo für uns ihre Grenzen sind. Im Princip bin ich mir darüber klar: für die besondere Durchführung bedurfte ich der tactischen Flankendeckung halber eines Eindringens in die Nervenphysiologie und ihre Literatur, zu dem meine bisherigen Kenntnisse nicht ausreichten. So blieb mir nichts übrig, als noch einmal bei der Physiologie in die Schule zu gehen, was ich dann auch in diesem Sommer endlich gethan habe. Und doch bin ich noch zweifelhaft, ob es ausreicht, schon in diesen Ferien das Facit zu ziehen. Versuchen will ich’s.42

Der Versuch gelangte nicht in der gewünschten Weise zur Ausführung. Es bleibt auch nach der Arbeit von Gundlach (2017) die Frage bestehen, inwiefern dieses Projekt identisch sein könnte mit den Sendaier Heften Windelbands über Psychologie. Weitere ungeschriebene Publikationspläne umfassten ein Buch über Eduard von Hartmann, eines über Comte, sowie die Geschichte der Philosophie in Frankreich und England, nicht zu vergessen das Projekt einer Logik. An den ‚Sendaier Manuskripten‘ gibt es Anzeichen für das wiederholte Lesen, wenn auch vielleicht nicht in der Weise, wie in einer von Thomas Ellwein kolportierten Klage einer Professorenfrau um 1820: „Ich weiß gar nicht, wie das kömmt, früher hatte mein Mann so starken Besuch im Kolleg; jetzt werden die Hörer immer –––––––— 42 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Dilth. 141.

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spärlicher, dabei liest er doch genau dieselben Hefte wie vor dreißig Jahren!“43 Das darf man eben nicht machen, wenn man weiter von den Hörergeldern leben will bzw. muss. Die Gleichung Fach=Professor ging nicht mehr auf. Windelband hat das am eigenen Leib für das Nebenfach Psychologie erlebt. Immerhin bedeuten im späteren neunzehnten Jahrhundert – bei allem turnusmäßigen Wechsel der Hauptvorlesungen unter den Kollegen – nicht nur die eigenen Kollegen eine starke Konkurrenz, sondern auch die allgemeine Pluralisierung der Wissenschaften, nicht zu vergessen die Universitäts- und v. a. Seminarbibliotheken, die im neunzehnten Jahrhundert einen ganz ungeahnten Aufschwung nahmen und wo die Lehrbücher der Professoren bereitlagen, nicht weniger als in den örtlichen Buchhandlungen. Es sind bisher einige Konvolute an Nachschriften Windelbandscher Lehrveranstaltungen in Archiven und Bibliotheken ermittelt worden, die jedoch 1. überwiegend nicht mit den Manuskripten Windelband zu korrelieren sind und die 2. nur eine historisch zufällige Überlieferung und Auswahl darstellen, auch was Umfang und Qualität angeht. Es könnten jederzeit weitere Nachschriften bekannt werden. Aufgrund der prinzipiellen Unabschließbarkeit dieses Forschungsgebietes erscheint es für das Projekt Forschungsgrundlagen nicht sinnvoll, die Nachschriften eigens zu edieren. Da die Nachschriften unterschiedliche Jahrgänge umfassen und keine zwei Nachschriften zu demselben Semester vorliegen, ist ihre tatsächliche Aussagekraft nicht zu bestimmen. Deswegen sollen die bekannten Nachschriften lediglich zur Kommentierung herangezogen werden.44 Eine Edition ist nicht vorgesehen. Es fällt auf, dass verhältnismäßig wenige Nachschriften zu Windelbands Vorlesungen im öffentlichen Besitz überliefert sind. Das Problem, aus den Redundanzen zu vieler Nachschriften die treffendste herauszufinden, besteht also in diesem Fall –––––––— 43 Vgl. Ellwein 1997 (Anm. 5), S. 53. 44 Nachschriften, soweit bisher ermittelt: Otto Baensch (UB LMU München, Nachlass Otto Baensch): Geschichte der neueren Philosophie Winter 1898/99, Ethik I/II. Winter 1900/1901, Logik I/II/III/IIII. Sommer 1899, Ueber Willensfreiheit. Winter 1899/1900, Goethes Beziehungen zur Philosophie. Winter 1898/99, Theorie der Induction. Winter 1900/1901, 19tes Jahrhundert, Psychologie. Winter 1899/1900 (bei Gundlach 2017 abgedruckt), Geschichte des deutschen Geisteslebens I/II. Winter 1899/1900. Friedrich Blanck (Universitätsbibliothek Heidelberg; Signatur: Heid. Hs. 1670, 1671, 1672, 1673): Kant und seine Zeit [W .S. 1905/1906], Comte und der Positivismus [W. S. 1906/1907], Geschichte der Philosophie des 19. Jhs. [S. S. 1906], Geschichte und System der Erkenntnistheorie [W. S. 1909/10]. Ernst Robert Curtius (UB Bonn, Nachlass Ernst Robert Curtius): Psychologie Sommer 1910 (bei Gundlach 2017 abgedruckt), [Geschichte der Philosophie]. Georg Kerschensteiner (Münchner Stadtbibliothek/ Monacensia, Nachlass Georg Kerschensteiner): Kant. Skizzen aus Vorlesungen von Georg Simmel und Wilhelm Windelband. Emil Krüger (UB Bonn): Geschichte der neueren Philosophie (Descartes bis Kant). Straßburg i/E W.-S. 1890/1. Gertrud von Le Fort (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Le Fort): Religionsphilosophie Sommersemester 1911. Zwei Vorlesungsmitschriften, „Einleitung in die Philosophie“ Heidelberg Sommersemester 1908. Heinrich Rickert (UB Heidelberg, Nachlass Heinrich Rickert: http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/heidhs.html): Spinozas Lehre vom Parallelismus der Attribute. Straßburg Winter 1885/86, Psychologie [I]/II/III/IV. Straßburg, o. D. [1886–1888] (bei Gundlach 2017 abgedruckt), Goethe u. Schiller in ihren Beziehungen zur Philosophie. Prof. Windelband [Straßburg WS 1895/96], Geschichte der Philosophie 19tes Jahrhundert. Prof. Windelband. Straßburg, o. D. [1886/87], Einleitg. in die Philos. II. Windelb. Heidelberg 05. Carl Zickendrath (UB Basel): Religionsphilosophie. Nach Prof. Windelband. Heidelberg, Winter 1905/6, Kant u. seine Zeit. Windelband. Heidelberg, Winter 1905/6.

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nicht.45 Eine systematische Suche steht noch aus und ist Gegenstand künftiger Forschung. Für wissenschaftliche Nachlässe gibt es aber trotz Diltheys bekannter Intervention bis heute keinen öffentlichen Sammelauftrag;46 trotz des Marbacher Literaturarchivs z. B. geht nach wie vor eine Menge verloren, da sich die Universitätsbibliotheken (denn Universitätsarchive sind Verwaltungsarchive, in denen Nachlässe per definitionem nicht gesammelt werden), die am ehesten dafür in Frage kommen, nicht aktiv um die Nachlässe verstorbener Wissenschaftler bemühen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Frage der Erben ist noch eine ganz andere. – Manuskripte zu einer Vorlesung sind folglich Dokumente mit einem spezifischen Anforderungsprofil an ihre Edition. Auf den Wortlaut einer Vorlesung können daraus nur sehr bedingte Rückschlüsse gezogen werden. Das ist indes kein Dilemma, denn alle diese Tatsachen bedeuten im Grunde nichts für die Entscheidung, die überlieferten Textzeugnisse zu edieren, sie bieten lediglich Schutz gegen einen naiven Umgang mit dem Material. Vieles wird dem Befund im Einzelfall überlassen bleiben, aber weitaus begründungspflichtiger als die Edition von Vorlesungszeugen im Rahmen der Edition eines Autors wäre immerhin das Fehlen der Dokumente zu Lehrtätigkeit und Lehrinhalt. Im Falle Windelbands ermöglicht die Entdeckung seiner Sendaier Manuskripte überhaupt erst einen Einblick in seine Arbeitsweisen und unveröffentlichten Projekte, der über seine eigenen, wenigen beiläufigen Andeutungen und über die vergleichsweise vagen Berichte Dritter hinausführt. Abstract Companging notes of the audience of a lecture are documents with specific requirements for their edition. They only provide very limited conclusions of the wording of a lecture. However, this is not a dilemma, because all these facts offer protection against a naive use of the material. Not the edition of lecture notes in the context of the edition of an author would be to justify, but the lack of such documents on teaching and teaching content. In the case of Windelband, the discovery of his lecture manuscripts gives a rare insight into his working methods and unpublished projects, which goes beyond his own incidental allusions and comparatively vague reports by third parties.

–––––––— 45 Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Vollständigkeitsprinzip und Redundanz. Überlegungen am Beispiel der Edition der Nachschriften von Diltheys systematischen Vorlesungen. In: editio 3 (1989), S. 18–27. 46 Vgl. Wilhelm Dilthey: Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 2 (1889), S. 343–367.

Andrea Leubin / Monika Philippi

Edition von Vortragsnachschriften innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe

Rudolf Steiner (1861‒1925), der Begründer der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, wirkte in vielfältiger Weise für deren Grundlegung, Ausbau und Verbreitung: in Schriften, künstlerischen Werken und vor allem in Vorträgen. Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse vor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große Reihe von Kursen […]. Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die – wegen mangelnder Zeit – nicht von mir korrigiert werden konnten.1

Der im Rudolf Steiner Archiv in Dornach vorhandene Nachlass enthält neben den Schriften ‒ Büchern, Aufsätzen, Dramen ‒ und dem weiteren schriftlichen Nachlass wie Korrespondenz, Notizbüchern und -zetteln auch die Mitschriften von etwa 4500 Vorträgen. Dazu kommen von Rudolf Steiner geschaffene Kunstwerke, Entwürfe, Zeichnungen, Modelle usw. Für die Sicherung, Herausgabe und Zugänglichmachung dieses schriftlichen, mündlichen und des künstlerischen Werks wurde von Marie Steiner-von Sivers (1867‒1948), der Ehefrau und Alleinerbin des Nachlasses, 1943 die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung gegründet, die sich bis heute dieser Aufgabe widmet. Bereits Marie Steiner skizzierte als Aufgabe der Nachlassverwaltung die Schaffung einer „schönen Gesamtausgabe“, bestehend aus Schriften und Vorträgen,2 deren Planung nach ihrem Tod von ihren Mitarbeitern fortgesetzt wurde. Als Vorläufer einer Gesamtausgabe erschienen ab 1954 lang vergriffene Bücher in einheitlicher Ausstattung, zunächst in verschiedenen Verlagen, dann im Selbstverlag der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, jedoch erst ab 1959 mit dem Vermerk „Rudolf Steiner Gesamtausgabe“. Eine Gesamtplanung lag erstmals mit der 1961 erschienenen Bibliografie vor, die in den folgenden Jahren bis heute meist Band für Band umgesetzt, jedoch in manchen Teilen auch verändert wurde.3 –––––––— 1

Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. Gesamtausgabe Bd. 28, S. 442f. 2 Marie Steiner im sog. Übereignungsvertrag, abgedruckt in: Marie Steiner: Briefe und Dokumente, vornehmlich aus ihrem letzten Lebensjahr. Dornach 1981, S. 180–183, hier S. 181. 3 Hella Wiesberger u. a.: Rudolf Steiner. Das literarische und künstlerische Werk. Eine bibliografische Übersicht. Dornach 1961. Dass., 2. erweiterte und veränderte Aufl. Dornach 1984 (Bd. 1 der Übersichtsbände zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe).

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Während die Schriften mit Ausnahme der Briefe heute weitgehend ediert vorliegen und in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe Band 1–45 (im folgenden: GA) vorliegen, ist das beim sogenannten Vortragswerk (beginnend mit Bd. 51) nicht der Fall. Die Herausgabe von etwa 900 Vorträgen steht noch aus. Begonnen zum 100. Geburtstag Rudolf Steiners, soll die Edition bis 2025, also zum 100. Todesjahr abgeschlossen werden.4 Die Edition der Vortragsaufzeichnungen ist hierbei eine besondere Herausforderung, da die dazu im Archiv vorhandenen Dokumente die gesamte Bandbreite von einem lediglich überlieferten Vortragsdatum über nachträgliche Erinnerungsnotizen bis hin zum wortwörtlich mitstenografierten Vortragstext umfassen. Zuerst ediert wurden deshalb neben den Schriften diejenigen Vorträge, die in Mitschriften guter Qualität überliefert sind und zumeist schon gedruckt vorlagen: Kurse und Vortragszyklen für Mitglieder der theosophischen, später anthroposophischen Gesellschaft oder für ein Fachpublikum (von Pädagogen, Ärzten, Landwirten etc.) sowie Vortragsreihen, so etwa die öffentlichen Vorträge, die Rudolf Steiner als Einführungskurse über viele Jahre an seinem früheren Wohnort Berlin hielt. Dazu treten die fortlaufend gehaltenen Mitgliedervorträge an seinem späteren Wohnsitz Dornach.5 Die ersten Bände der Gesamtausgabe wurden unter Zeitdruck durch den drohenden Ablauf des Urheberrechtes fertiggestellt. Daher wurden weniger gut überlieferte Vorträge in der Edition zurückgestellt bzw. waren in früheren Editionsplanungen (Bibliografien von 1961 und 1984) nur in Auswahl vorgesehen. Diese, oft sind es Einzelvorträge, gilt es heute sinnvoll zu Bänden der Gesamtausgabe zusammenzustellen und trotz der Mängel des Materials in eine editorisch vertretbare, aber auch ansprechende, lesbare Form zu bringen ‒ was zur eventuellen Vervollständigung von Lücken im Material immer wieder neue Recherchearbeit in weiteren Archiven bedeutet. Die Rudolf Steiner Gesamtausgabe umfasst zurzeit um die 400 gedruckte Bände. Über achtzig Herausgeberinnen haben von 1954 bis heute daran mitgewirkt. Maßgebend waren stets die von Rudolf und Marie Steiner vorgegebenen Richtlinien, die jedoch mehr eine allgemeine Publikationsethik als editionswissenschaftliche Kriterien artikulieren, wie z. B. „darüber zu wachen, dass die Herausgabe des Werkes von Rudolf Steiner nach Möglichkeit und bestem Wissen und Gewissen in dessen Sinn erfolgt“.6 Besonders in Bezug auf das mündliche Werk sind solche Kriterien einem ständigen neu zu verifizierenden Wandlungsprozess unterworfen. Bei einer derart umfangreichen und vor allem auch über Jahrzehnte laufenden Editionstätigkeit treffen –––––––— 4 Ausführliches dazu in: David Marc Hoffmann: Zu Geschichte und Gestalt der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, in: Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv Nr. 5, August 2016, S. 11‒59. 5 Marie Steiners Verdienst ist es, dass bei ihrem Tod bereits ca. 180 Ausgaben aus dem Steinerschen Gesamtwerk in Gänze oder in wesentlichen Teilen publiziert vorlagen, die in die Gesamtausgabe integriert werden konnten. Vgl. Cornelius Bohlen: Mitgliederverzeichnis des Vereins Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, mit Bemerkungen zur Geschichte des Vereins und einer Bandübersicht über die Abteilungen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, in: Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv Nr. 7, Dezember 2017, S. 224‒237, hier S. 229. 6 Aus dem Übereignungsvertrag, abgedruckt in: Marie Steiner: Briefe und Dokumente, vornehmlich aus ihrem letzten Lebensjahr. Dornach 1981, S. 180–183, hier S. 181.

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aktuelle Ansprüche auf eine von heutigen Standards abweichende Praxis vergangener Tage, was insbesondere in der Vortragsedition einem zeitübergreifenden einheitlichen Maßstab für bereits erschienene und noch zu edierende Bände im Wege steht. In den Anfangsjahren der Edition galt der schriftlich ausformulierte und damit als zuverlässig empfundene Text als Maßstab, folglich wurde gerade im Vortragswerk auf eine solche Textgestalt hin ediert und teilweise sogar redigiert. In diesem Zuge etablierte sich stellenweise die Praxis, aus verschiedenen Mitschriften eine Textkompilation (‚Mischtext‘) zu erstellen, ohne dies kenntlich zu machen oder deren Komponenten nachzuweisen. Beim sog. Heilpädagogischen Kurs zum Beispiel geschah dies durch drei Kursteilnehmer, die unmittelbar nach dem Kurs einen gemeinschaftlichen Text erzeugten, der in die Gesamtausgabe übernommen wurde.7 Auch heute noch ist es das begriffsgenuine Ziel der Leseausgabe, einen möglichst lesbaren Text bereitzustellen, allerdings mit dem Authentizitätsanspruch, dass auch unzulänglich überlieferte Vortragstexte sowie eventuelle Ergänzungen aus anderen Mitschriften als solche erkennbar bleiben und den Leserinnen die konzeptuelle Mündlichkeit, unterschiedliche Überlieferungssituationen und damit die relative Zuverlässigkeit von Vortragspublikationen im Allgemeinen ins Bewusstsein gerufen wird.

2. Die Vortragssituation bei Steiner Bei den ca. 4500 erhaltenen, bisher noch nicht vollständig edierten Vortragsstenogrammen handelt es sich nach einem Bericht des Organs des Schweizerischen Stenografenverbandes um den „größten stenographischen Nachlass der Menschheit“.8 Dieser Superlativ verdankt sich der Tatsache, dass Steiner während seiner rund 25jährigen Vortragstätigkeit in der Regel ohne Manuskript, ja oft sogar ohne schriftliches Konzept auskam. Demzufolge trägt eine heutige Vortragsedition die Verantwortung für Textzeugen der unterschiedlichster Qualitäts- und Überlieferungsstufen: Von ca. 1700 Vorträgen existieren professionelle, wortwörtliche, stenografische Mitschriften; sie liegen im Originalstenogramm und in der maschinenschriftlichen Übertragung vor. Von ca. 2000 Vorträgen sind annähernd wörtliche stenografische Mitschriften von guten Laienstenografinnen erhalten, zum Teil in Originalstenogramm mit Übertragung, zum Teil nur in der Übertragung. Von ca. 500 Vorträgen liegen unterschiedlich vollständige bzw. unterschiedlich zuverlässige Mitschriften von Laienstenografen vor, auch hier sind die Originalstenogramme nur teilweise erhalten geblieben. Von ca. 350 Vorträgen existieren lediglich Hörernotizen. Wo Textzeugen vorhanden sind, handelt es sich nicht selten um mehrere unter–––––––— 7 Heute in Band GA 317. 8 B. Gloor: Rudolf Steiners riesiges Nachlasswerk dank Kurzschrift. In: Der Schweizer Stenograph 123 (1982), Nr. 10, S. 394. Im Rudolf Steiner Archiv in Dornach sind Stenogramme sowohl im System Gabelsberger als auch im System Stolze-Schrey erhalten. Aus diesen beiden Systemen entstand 1924 die Deutsche Einheitskurzschrift (DEK). Zur Geschichte der Stenografie sowie zu den Stenografinnen und Stenografen der Vorträge Rudolf Steiners vgl. Michel Schweizer: Zur Qualität der stenografischen Mitschriften von Steiners Vorträgen, in: Archivmagazin: Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv, Nr. 6 von Mai 2017.

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schiedliche Dokumentationen ein und desselben Vortrags, wobei auch zwischen handschriftlicher Aufzeichnung tatsächlich teilnehmender Hörer und späteren Abschriften solcher Aufzeichnungen differenziert werden muss. Zu den restlichen ca. 1650 nachgewiesenen Vorträgen aus Steiners mündlichem Werk sind keinerlei Aufzeichnungen erhalten. Da unterschiedliche Typen von Hörern mit verschiedenen Inhalten, Aufzeichnungsmöglichkeiten und -techniken sowie deren Professionalisierungsgrad korrelieren, ergeben sich für das Vortragswerk Rudolf Steiners vier unterschiedliche Textsorten: Öffentliche Vorträge waren allgemein zugänglich und sind inhaltlich auf ein breites Publikum zugeschnitten. Halböffentliche Vorträge wurden zwar der breiten Öffentlichkeit nicht angepriesen, sind im Wesentlichen aber allgemeinverständlich gehalten, und gesellschaftsexternes Publikum war zugelassen bzw. wurde individuell eingeladen. Mitgliedervorträge waren eingetragenen Mitgliedern der theosophischen bzw. später anthroposophischen Gesellschaften vorbehalten und richteten sich inhaltlich wie terminologisch an diese als Fachpublikum. Ein besonderer Stellenwert kommt den Lehrstunden der Esoterischen Schule und anderen privaten Lehrstunden zu, die oft Seminarcharakter hatten und bei denen nur eine kleine Hörerschaft anwesend war. Bei diesen vertiefenden Unterweisungen im Kreis ausgesuchter Mitglieder wünschte Steiner ausdrücklich keine Notizen. Die Teilnehmenden erstellten nach dem Unterricht mehr oder weniger ausführliche Erinnerungsnotizen, von denen nicht alle erhalten geblieben sind. Steiner unterscheidet selbst zwischen Schriftlichem als einem verbindlichen, für eine allgemeine Öffentlichkeit konzipierten Text und Mündlichem als situativer, orts-, zeit- und publikumsgebundener Momentaufnahme. Letztere mochte er eigentlich nicht gedruckt sehen: „Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die – wegen mangelnder Zeit – nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre.“9 Er gab jedoch den Bedürfnissen seiner Rezipienten nach, wodurch zunächst Privatdrucke entstanden: Auf Drängen der Mitglieder der Theosophischen bzw. Anthroposophischen Gesellschaft erlaubte Steiner um 1904 die Mitschrift seiner Vorträge durch Stenografen und die Drucklegung durch seine Mitarbeiterin und spätere Ehefrau Marie von Sivers.10 Bereits zu Lebzeiten Steiners gab es also Einzeldrucke verschiedener Vorträge „nur für Mitglieder“, die, im Gegensatz zum redigierten schriftlichen Werk, auf vom Vortragenden nicht durchgesehenen Manuskripten bzw. Mitschriften beruhen und bei einer Edition innerhalb der Gesamtausgabe als Textzeugen berücksichtigt werden müssen. So wurden bis zu Steiners Tod (1925) fünfzig Vortragszyklen zwar mit seiner Erlaubnis gedruckt, jedoch ohne dass der Wortlaut der Texte tatsächlich von –––––––— 9 Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28, Dornach 2000, S. 442f. 10 Diese berichtet hierzu in: Welches sind die Aufgaben des Nachlassvereins?, 1945, S. 6: „Sie [die Vorträge] wurden – zunächst gegen das Gebot Dr. Steiners – privat vervielfältigt und unter der Hand verbreitet und enthielten oft solchen Unsinn, dass Dr. Steiner, um dem Unfug zu steuern, sich gezwungen sah, die Stenografierenden selbst zu bestimmen und die Übertragung in unsere eigene Regie zu nehmen. So entstanden die […] Privatdrucke.“

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ihm autorisiert worden wären. Seit Anfang 1916 war für die Mitschriften die Berufsstenographin Helene Finckh engagiert, die bis zum Ende von Steiners Vortragstätigkeit fast alle Vorträge mitstenographierte. Ihre Stenogramme sind von höchster Qualität, wortwörtlich und selbst bei Zitaten und Diskussionsbeiträgen verlässlich. Vorher jedoch (ab ca. 1889) wurden die Vorträge von Laien und nur teilweise stenografisch festgehalten, was hinsichtlich Wortwörtlichkeit und Vollständigkeit der Textüberlieferung nicht mehr zu revidierende Unsicherheiten beinhaltet. Besonders von frühen Vorträgen zeugen oft lediglich Pressestimmen, im besten Fall ein durch Rudolf Steiner selbst abgefasstes Referat.

3. Möglichkeiten und Grenzen des Transfers von gesprochenem Wort Bei der Überführung eines Vortrags in die gedruckte Form durchläuft ein Text im idealen Überlieferungsfall bereits vor der tatsächlichen Edition verschiedene editorisch wirksame Stadien: Der vom Urheber vorgetragene Text (0) wird stenografisch aufgezeichnet (1). Das so entstandene Stenogramm (2) wird – im besten Fall zeitnah von der gleichen Person ‒ in eine allgemein lesbare Form (3), meist in Maschinenschrift, überführt, die dann die Grundlage des zu edierenden Texts bildet. Alles, was auf diesem Weg nicht als offensichtliche Lücke erkennbar ist und konsequent als solche behandelt und gekennzeichnet wird, fällt automatisch der Interpretation der jeweilig nächsten Bearbeitungsstufe anheim. Die Fehlerquellen sind hierbei mannigfaltig: Bereits bei Stufe (0) kann, z. B. durch einen nicht korrigierten Versprecher, eine originale Inkonsistenz produziert werden, die analog dem oben beschriebenen Prinzip der Lücke in allen darauffolgenden Bearbeitungsstadien zu Komplikationen führen kann. Auf dem Weg zu Stadium (1) lauern breit gefächerte physiologische wie kognitive Stolpersteine: der Zuhörer verhört sich oder überhört etwas, versteht z. B. Fachspezifisches nicht oder falsch; bei der schriftlichen Niederlegung können Abweichungen zum gesprochenen Text durch Verschreiben und Zeitnot (Lücken, Verkürzungen, schlechte Lesbarkeit etc.) produziert werden. Auf Stufe (2) trägt allein die Entzifferung eines Stenogramms – oder auch eiliger langschriftlicher Notizen – bereits einiges Interpretationspotential in sich, selbst dann, wenn die Person der Stenografin mit der der Maschinenschreiberin identisch sein sollte, was nicht immer der Fall ist. Es kommen hier nochmals sämtliche Problematiken der Referent-Stenograf-Beziehung zum Zuge; dies insbesondere dann, wenn ein Stenogramm mittels Diktat in die Maschine einer weiteren beteiligten Person seinen allgemein lesbaren Niederschlag finden sollte. Zusätzlich zur situativen Mündlichkeit eines Vortrags greifen bereits beim zuhörenden Stenografen, spätestens jedoch bei der Entzifferung des Stenogramms Problematiken der Handschriftenedition: Bereits die Entzifferung (auch die akustische) hängt sowohl vom Textverständnis als auch von den Erwartungen des Lesers bzw. Hörers ab, unterliegt also dessen Interpretation. Stenografin, Maschinenschreiber und letztlich Editorin glauben den Text richtig zu lesen bzw. zu hören, solange sie das Gefühl haben, ihn zu verstehen. Eine Zäsur und damit die eventuelle Rückbesinnung auf eine vorherige Überlieferungsstufe erfolgt nur dann, wenn das

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Gelesene bzw. Gehörte den Erwartungen nicht entspricht, also z. B. inhaltliche oder grammatikalische Inkonsistenzen aufweist. Allerdings nur insoweit, als Inkonsistenz per se oder Unverständliches nicht bereits Teil der Erwartungen sind, wie dies beispielsweise bei einem mit der Anthroposophie nicht vertrauten Stenografen oder Textbearbeiter in Bezug auf Fachtermini der Fall wäre. Aufgrund solcher Vorgänge ist es auf jeder Überlieferungsstufe möglich, dass Textstellen, die auf einen Fehler in der Überlieferungskette hindeuten würden, nicht als irritierend wahrgenommen und daher übergangen werden.

4. Vortragsedition Für die editorische Arbeit Bearbeitungsstufen zu überspringen und zur Beseitigung von Unklarheiten zum Ursprung, also Stufe (0) zurückzugehen, ist aufgrund der Historizität nicht möglich.11 Es ist jedoch auch in Bezug auf Stufe (1) – das Originalstenogramm – nicht immer eine zuverlässige Lösung, wie das Beispiel zweier unabhängig voneinander, zeitlich weit auseinanderliegend unternommener Übertragungen derselben Stelle aus dem ersten Vortrag der Reihe „Das Christentum als mystische Tatsache“ (Berlin, 19. Oktober 1901) zeigt.12 Übertragung 1901: „Heraklit […] verstand nur die Philosophie der eleusinischen Mysterien.“ Übertragung 1940: „Heraklit […] war Vorstand einer Filiale der eleusinischen Mysterien.“ Die lautlichen Verhältnisse sind in einer solchen Gegenüberstellung augenfällig. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei der Stenografie auch um eine Art Laut- bzw. Silbenschrift handelt, bei deren Entzifferung gerade die Vokale oft aus dem Zusammenhang geschlossen werden müssen, wird außerdem klar, dass tatsächlich beide Varianten im Stenogramm zu lesen sein können, insbesondere da davon ausgegangen werden kann, dass das Wort „Philosophie“ [filosofi:] auch in der Kurzschrift in Abkürzung (z. B. Phil [fil]) verschriftlicht wurde. Der übertragenden Person von 1901 mögen die Begriffe „Vorstand“ und „Filiale“ als nicht mit dem hehren Kontext eleusinischer Mysterien vereinbar erschienen sein; bei diesem Beispiel ist die Lösung aber anhand historischer Quellen zu finden, denn Heraklit war tatsächlich Vorstand einer Filiale der eleusinischen Mysterien in Ephesus.13 In anderen Fällen muss dagegen das Stenogramm unter Hinzuziehung von Experten neu studiert werden. Da in der Regel zu keiner Zeit in auch nur einem der Bearbeitungsstadien eine Prüfung seitens des Referenten – also eine Rückführung auf Stufe (0) – stattgefunden hat, muss bei festgestellten Inkonsistenzen im zu edierenden Text der gesamte Überlieferungsweg mit allen möglichen Klippen mitgedacht werden. –––––––— 11 Tonaufzeichnungen wurden nicht angefertigt. 12 Die Veröffentlichung dieses Bandes Nr. 87 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe ist für 2019 vorgesehen. 13 Vgl. Edmund Pfleiderer: Die Philosophie des Heraklit von Ephesus im Lichte der Mysterienidee, Berlin 1886, S. 35: „Als solcher aber [als Nachkomme des Gründers der Kolonie] besaß Heraklit […] die Würde eines Vorstands der eleusinischen Filiale, welche sich ähnlich wie an manchen anderen Orten in Ephesus befand.“ Auf dieses Buch weist Rudolf Steiner auch in der Ausarbeitung seiner Vorträge zu der Schrift „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“ hin (GA 8, 9. Aufl. Dornach 1989, S. 39).

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Diese Phänomene ernst zu nehmen bedeutet in einem solch langjährigen Projekt wie der Rudolf Steiner Gesamtausgabe auch, revidierte Neuauflagen des bereits edierten Vortragswerks vorzulegen: Wo in den Anfängen der Edition bedenkenlos die maschinenschriftlichen Übertragungen der Stenogramme als Textgrundlage für die Herausgabe gewählt wurden, werden heute Vergleiche zwischen Stenogramm und Übertragung angestellt, in denen man gelegentlich auf Differenzen stößt. Diese erklären sich zum einen aus den beschriebenen Fehlermöglichkeiten beim Hören, Schreiben, Entziffern und In-die-Maschine-Diktieren. Zum anderen sind, wie bei ‚Heraklit als Filialleiter‘ zu sehen, zu starken Kürzungen verformte stenografische wie nicht stenografische Symbole grundsätzlich mehrdeutig. Fähigkeit und Erfahrung sowie Fachwissen spielen angefangen bei der Person der Stenografin bis hin zum Editor eine zentrale Rolle, wobei sich speziell die Editionstätigkeit mancherorts ohne einen zusätzlichen Schuss Intuition in einer Sackgasse wiederfände. Die allgemeinen Editionsrichtlinien wie Transparenz der Textgrundlagen, Vollständigkeit und Dokumentationscharakter sowie die Definition als Lese- und Studienausgabe zur Ermöglichung der Erstrezeption von Steiners Lebenswerk sowie die Beschaffenheit revidierter Neuauflagen wurden als verbindlich publiziert.14 Bei aller Transparenz der Textedition aber stellt jede Schöpfung eines Vortragsbandes mittels gedruckter Sichtbarkeit eine mündliche ‚Mitteilung‘ Steiners seinen schriftlichen Werken gleich. Es wird ein vom Lesepublikum als verbindlich verstandenes Buch daraus. Dass der unvermeidliche optisch-haptische Eindruck durch den Inhalt zumindest nicht weiter untermauert wird, beinhaltet editorische Herausforderungen, denen sich die Leseausgabe der Vorträge Rudolf Steiners immer wieder neu stellt: Die Unterschiede zum schriftlichen Werk – Ereignischarakter, Situativität und Mündlichkeit in Thematik, Aufbau und Sprache – möchte sie erhalten und den Vortrag als überlieferten Hörertext sichtbar machen. Dies geschieht insbesondere durch den Nachweis der Überlieferungssituation eines jeden Vortrags mittels Nennung von an der Überlieferungskette beteiligten Personen, Beschreibung der Beschaffenheit der Dokumente etc. Obwohl immer die verlässlichste und vollständigste Aufzeichnung (in der Editionspraxis als „Leittext“ bezeichnet) als zu druckender Vortragstext gewählt wird, werden allfällige Varianten oder Zusatzinformationen aus evtl. vorhandenen weiteren Aufzeichnungen berücksichtigt und nachgewiesen. Zu Gunsten der Lesbarkeit geschieht dies, wie jedwede anderweitige Erläuterung, in einem Hinweisteil im Anhang.

–––––––— 14 Archivmagazin: Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv, Nr. 5, August 2016, S. 123ff., für die Vortragspublikation insbesondere Kap. 3 Vorträge, S. 131ff.

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5. Dokumentation und Kommentierung Die Rudolf Steiner Gesamtausgabe wurde, wie eingangs erwähnt, vor allem aus Zeitgründen zunächst als Leseausgabe konzipiert. Waren die ersten Bände, insbesondere die Schriften weitgehend ohne Kommentierung erschienen, so stellte sich bei der Edition der Vorträge immer mehr heraus, dass gewisse Sachverhalte nicht oder nicht mehr allgemein bekannt waren und daher einer Kommentierung bedurften. Zurückhaltend werden diese Kommentare bis heute „Hinweise“ oder „Hinweise zum Text“ genannt. Informationen über Textgrundlagen gab es darin zunächst nicht. Erst in den späten 1970er und in den 1980er Jahren wurde damit begonnen, die Urheber der Mitschriften zu nennen und auch Korrekturen und weitere Texteingriffe nachzuweisen. So gestaltete sich allmählich der mehrgliedrige Anhang der Bände heraus. Der neu erscheinenden Bänden beigegebene Anhang vermittelt Informationen zur Entstehung des Bandes, Begründung der Auswahl sowie Geschichte und Hintergrund der in ihm vereinigten Vorträge. Unter dem Titel „Textgestalt“ finden sich allgemeine Informationen zur Quellenlage und Überlieferung der Dokumente. Da im Unterschied zu geschlossenen Vortragszyklen, wo meist alle Teilvorträge denselben Mitschreiber haben, bei Vortrags-Sammelbänden die Sachlage von Vortrag zu Vortrag verschieden ist, sind hier die Textgrundlagen unter der Rubrik „Hinweise zum Text“, für jeden Vortrag einzeln verzeichnet, wie das folgende Beispiel illustriert.15 Zum Vortrag vom 22. September 1909 in Basel Textgrundlagen: Die Textwiedergabe folgt einer Aufzeichnung von Agnes Friedländer in maschinenschriftlicher Übertragung (Vortragsregisternummer 2062‒2063, Originalvorlage nicht vorhanden). Ergänzend hinzugezogen wurde an einigen Stellen eine Aufzeichnung von Hans Behrend in maschinenschriftlicher Übertragung (Vortragsregisternummer 2062f B I, Originalvorlage nicht vorhanden) sowie eine handschriftliche Aufzeichnung von unbekannter Hand (Vortragsregisternummer 2062 C). Diese Stellen sind in eckige Klammern gesetzt [ ] und in den Hinweisen zum Text einzeln ausgewiesen. Nicht ausgewiesene Zusätze [in eckigen Klammern] stammen von der Herausgeberin. Im Anschluss erfolgt ‒ seitenbezogen nach Lemmata ‒ der Nachweis etwaiger Eingriffe in den Text wie Ergänzungen aus anderen Mitschriften oder solche redaktioneller Art, auch Varianten der gleichen Stelle in anderen Mitschriften oder, zum Beispiel bei inhaltlichen Unklarheiten, Parallelstellen aus anderen Vorträgen. Bei der Heterogenität in Anzahl und Beschaffenheit der jeweiligen Überlieferungsbefunde, Quellen und Textzeugen ist herausgeberische Subjektivität nicht restlos zu vermeiden. Dies beginnt bereits mit dem Selektionsprozess zur Festlegung eines Leittextes, der nicht nur formalen, sondern auch inhaltlichen Gesichtspunkten folgt: –––––––— 15 Beispiel aus Goethe und die Gegenwart, GA 68c, S. 580.

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Ist die Verständlichkeit des Lesetextes gewährleistet? Eine ausführlichere Mitschrift ist nicht immer die qualitativ bessere und muss daher nach inhaltlichen Kriterien aus anderen Mitschriften ergänzt oder auch korrigiert werden. Da zur Kennzeichnung aller editorischer Eingriffe nur eckige Klammern zur Verfügung stehen, ist ein Einzelnachweis erforderlich, ob es sich um einen ‒ sparsam zu verwendenden ‒ redaktionellen Eingriff seitens der Herausgeberin oder um eine Ergänzung aus einer zweiten Mitschrift handelt. Die verwendeten Quellen werden in den neuesten Bänden der Gesamtausgabe mit Archivnummer (Vortragsregisternummer) ausgewiesen. Diese Nummer kennzeichnet das Ereignis (hier den betreffenden Vortrag), unabhängig vom Vorhandensein oder der Beschaffenheit der dazu erhaltenen Dokumente. Meist liegt eine Mitschrift in mehreren Exemplaren (römisch gezählt) vor, ein Großbuchstabe weist darauf hin, dass es Mitschriften verschiedener Hörer gibt. Diese Angaben erleichtern es auch, bestimmte Textstellen wieder aufzufinden, was aufgrund von Nachfragen seitens aufmerksamer Leserinnen oder sich in zahlreichen Ordnern stetig sammelnden Korrekturvorschlägen erforderlich ist. Anders als in historisch-kritischen Ausgaben oder einzelnen früheren Bänden der Rudolf Steiner Gesamtausgabe beschränkt sich die Kommentierung heute auf eine Dokumentation der Überlieferung und, wie oben beschrieben, auf die Erklärung von eventuell Unverständlichem. Inhaltliche Deutungen werden vermieden. Außerdem sind Nachweise von Zitaten enthalten, Lebensdaten erwähnter Personen und bisweilen Verweise auf Parallelstellen im Gesamtwerk Rudolf Steiners. Auf Sekundäroder Fachliteratur wird nur in Ausnahmefällen hingewiesen. Als Richtlinie gilt, dass der Kommentarteil eines Bandes im Umfang nicht mehr als ein Zehntel des Bandes ausmachen sollte.16 Abgerundet wird der Anhang mit bibliografischen Nachweisen, Hinweisen auf Bände mit ähnlicher Thematik, einem Register, und, wenn vorhanden, Bildmaterial wie etwa Wandtafelzeichnungen zu den Vorträgen. Eine eventuelle kritische Edition der Gesamtausgabe aus dem Rudolf Steiner Archiv muss bis auf Weiteres der Zukunft vorbehalten bleiben.17 Abgesehen von der grundsätzlichen Schwierigkeit, ein so monumentales, heterogenes und vielfach durch nicht autorisierte Textzeugen überliefertes Werk kritisch herauszugeben, gilt es zunächst das Werk in seiner ganzen Breite mithilfe einer Leseausgabe überhaupt erst zu erschließen.18

–––––––— 16 In manchen Fällen, wie bei der Neuauflage der Dornacher Mitgliedervorträge vom Winter 1916/1917 (Rudolf Steiner: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, GA 173a‒c, 2. Aufl. Basel 2014), war, da sie zahlreiche Bezüge zu damaligen Tagesaktualitäten enthalten, eine ausführliche Kommentierung mit Quellennachweisen notwendig. 17 Gegenwärtig erscheint unabhängig von der Rudolf Steiner Gesamtausgabe im Frommann-HolzboogVerlag eine von Christian Clement herausgegebene kommentierte „Kritische Ausgabe“ der Hauptschriften Rudolf Steiners in acht Bänden (Rudolf Steiner: Schriften ‒ Kritische Ausgabe, Stuttgart 2013ff.). 18 Einen Einblick in die Rudolf Steiner Gesamtausgabe, ihre Entstehungsgeschichte und Gliederung sowie in die Arbeit der Herausgeber gibt: Rudolf Steiner-Gesamtausgabe. Eine Dokumentation, hg. v. der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach 1988.

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In Bezug auf die Vortragsedition bedeutet dies immer noch, den Überlegungen Marie Steiners nachzukommen, wie sie sie (bisher unveröffentlicht) am 8. Februar 1948 gegenüber Werner Rosenthal äußerte: Was die Korrektur mangelhafter Nachschriften betrifft, so machen diese keineswegs Anspruch auf Vollkommenheit. Bei manchen Gelegenheiten […] ist dem Leser dadurch die Möglichkeit gegeben, in Freiheit tiefer darüber nachzusinnen. Wenn sich dann Einige dazu äußern, kann man vielleicht bei der nächsten Auflage die Sache verbessern. Man kann natürlich […] einen Anhang machen, wo man solche Unterschiedlichkeiten oder Ungewissheiten nebeneinander bringt. Aber dann muss man so weit sein, dass schon ein Bureau von Menschen an diesen Dingen arbeitet und immer wieder prüft und nachschlägt und nebeneinanderstellt. […] Wenn Sie nun annehmen, dass in den Nachschriften das Wort Dr. Steiners immer unverstümmelt erscheint, so geben Sie sich einer enormen Illusion hin. Das Schwerste bei den Überprüfungen der Nachschriften ist eben die Tatsache, dass man manches stenografierte oder flüchtig nachgeschriebene gekürzte Wort gar nicht entziffern kann und auf das Raten angewiesen ist.

Tatsächlich hat ein mittlerweile nicht nur mehr in der Wunschvorstellung Marie Steiners existierendes „Bureau von Menschen“ die Aufgabe einer belastbaren Edition übernommen und betreibt jenes ständige Prüfen, Nachschlagen und Nebeneinanderstellen strittiger Stellen. Der von Marie Steiner erträumte Anhang ist so bereits seit Jahren Realität. Eine kritische Ausgabe rückt überdies mit dem geplanten Abschluss der Leseausgabe 2025 zumindest am editorischen Horizont in planerisch denkbare Nähe. Abstract This article deals with problems of the edition of lectures within the Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA, complete edition of Rudolf Steiner’s works). In addition to his written work, Rudolf Steiner gave more than 6000 lectures, of which 4500 were recorded in short or longhand by the audience. Their edition began in the 1950s with well-documented lectures; by now about 900 lectures of very different quality still have to be processed. Stenographs were usually transcribed by the notator himself or dictated to someone else. With each new person involved the probability of errors, misunderstandings and own interpretation increases. In the early volumes of the GA, the edition was oriented in its style to the written works. A modern edition standard does not want to hide the oral style and an eventually fragmentary character and makes all editorial changes transparent.

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Zum Detektieren und zum Nachweis von Textstellen fremder Provenienz am Beispiel von Vorlesungsnotizen Max Webers Editorische Miszelle

In Arbeitsmanuskripten zu sachlichen bzw. wissenschaftlichen Texten, im vorliegenden Fall in Manuskripten für Vorlesungen, kann es – arbeitsweisenspezifisch – vorkommen, dass nicht sämtliche oder gar überhaupt keine Quellen durch die Hand des Autors nachgewiesen wurden.1 Die Identifizierung von Textstellen fremder Provenienz, die nicht vom Autor, etwa durch korrekte Zitation oder Titelnennung, nachgewiesen sind, sowie deren Recherche sind aus diversen Gründen relevant. Durch eine Analyse solcher Stellen lassen sich Aussagen zur Arbeitsweise des Autors und damit zur Textentstehung treffen. Bietet eine Edition mehr als den reinen Textbefund, sollte die Provenienz dieses Wissens im Rahmen eines Kommentars mitgeteilt werden. Im Kommentar sollten diese unbelegten Stellen idealiter mit einem Literaturnachweis und einer Erläuterung versehen werden. Zudem lassen sich anhand der Quelle Sachirrtümer oder Fehler bei der Übernahme der Inhalte aus der rezipierten Literatur in das Manuskript identifizieren, herleiten und aufklären. Die sachliche Richtigkeit der Informationen muss ferner gesondert geprüft werden, etwa, weil in der Quelle selbst ein Sachirrtum vorliegen könnte, welcher dem Autor somit nur indirekt zuzuschreiben wäre. Eine unterbliebene Korrektur im Manuskript könnte ein weiterer Aspekt der Analyse der Arbeitsweise sein. Zudem kann die Vorlage der verarbeiteten Quelle im Editionsprozess als Entzifferungshilfe dienen und somit die Textkonstitution betreffen. Um sich während des Edierens nicht ausschließlich auf eine schwer überprüfbare editorische ‚Intuition‘ verlassen zu müssen, haben wir Indikatoren erarbeitet, anhand derer sich entsprechende Stellen leichter auffinden lassen können. Für diesen kurzen Bericht aus der Praxis schöpfen wir u. a. aus den Erfahrungen an der Max Weber-Gesamtausgabe, in concreto den Manuskripten zur Vorlesung über „Praktische Nationalökonomie“.2 Textstellen fremder Provenienz haben wir hierbei in drei Typen separiert. Der erste Typ umfasst historisches geistiges Allgemeingut. Dieses bezeichnet Bildungsgehalte, Sprichwörter und Redensarten sowie Zitate, die mutmaßlich zeitgenössisch von Studenten allgemein verstanden wurden und deren Quelle ebenso als allgemein bekannt –––––––— 1 Aus Gründen der Pragmatik und der Lesbarkeit wurde hier das generische Maskulinum verwendet, obwohl sämtliche Geschlechter angesprochen sind. 2 Max Weber, Praktische Nationalökonomie. Vorlesungen 1895–1899, hg. von Hauke Janssen in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll und Ulrich Rummel. Tübingen, im Erscheinen (Max WeberGesamtausgabe Abt. 3. Vorlesungen, Bd. 2).

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vorausgesetzt werden konnte, weshalb sich vermutlich eine Notiz zum Quellennachweis oder zur Erläuterung im Manuskript erübrigte. Der zweite Typ besteht aus Handbuchwissen. Darunter werden in diesem Zusammenhang jene Texte verstanden, derer Weber sich für seinen Vortrag umfassend bedient hat, ohne die zu Rate gezogene Literatur nachgewiesen zu haben. Als dritten Typ, die fehlende Quelle, sei eine Textstelle bezeichnet, die aus einer anderen als der angegebenen Quelle stammt.

1. Historisches geistiges Allgemeingut Das erste Beispiel zeigt ein Blatt aus dem 1. Buch, § 2 der Vorlesung „Praktische Nationalökonomie“, aus dem Abschnitt über die wirtschaftspolitischen Doktrinen des Mittelalters, konkret zum Zinsverbot (Abb. 1):

Abb. 1: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Weber, M., Nr. 31–2, Bl. 34v (DFGViewer: S. 69), Ausschnitt.3

Hier ist ein für Webers Arbeitsweise typisches Dokument zu sehen: Zunächst wurde der Schreibraum auf der rechten Seite mit sich intensivierender Rechtsneigung der Schrift verwendet. Diese Notizen bestehen eher aus Halbsätzen als aus Stichwörtern und sind stark gegliedert; dies war vermutlich die erste Niederschrift der Gedanken. Im Nachgang hat Weber im linken Schreibraum einige Einschübe und Ergänzungen angefügt. Der linke Blattrand wurde zu diesem Zweck vermutlich vorsorglich freigelassen. Weber referiert im vorliegenden Fall eng angelehnt an ein angegebenes Werk und kommt zu der im Mittelalter vorgetragenen ‚ökonomischen‘ Begründung für das Zinsverbot: „Geld habe keine Jungen“, siehe Markierung. Die Stelle befindet sich, zunächst eher unscheinbar, auf der rechten Hälfte des Blattes. Dieses indirekte Zitat ist eine Stelle, die sich der Hörerschaft vermutlich vor deren Bildungshintergrund erschlossen hat und somit als historisches geistiges Allgemeingut betrachtet werden –––––––— 3 Sämtliche besprochenen Beispiele finden sich als öffentlich zugängliche Digitalisate (DFG-Viewer) unter den angegebenen Signaturen auf den Websites des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz im Bestand „VI. HA, Nl Weber, M.“ http:// archivdatenbank.gsta.spk-berlin.de/ midosasearchgsta/ MidosaSEARCH/ vi_ha_nl_weber_m/index.htm (30.10.2018).

Nachweis von Textstellen fremder Provenienz

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kann. Die Aussage wird Aristoteles zugeschrieben, bis heute findet sie sich gelegentlich – eher in der Formulierung „Geld heckt keine Jungen“ – in wissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen zum christlichen mittelalterlichen Zinsverbot. Das Zitat geht zurück auf das 1. Buch der „Politik“ des Aristoteles (Pol 1258 b 5), wo es sich indes in keiner auch nur ähnlichen Formulierung finden lässt; es ist vielmehr eine Zuspitzung der dort vorgefundenen Aussage. Die Stelle fällt bei näherer Betrachtung durch die Verwendung des Konjunktivs bzw. der indirekten Rede und durch ihren abweichenden Stil auf, welcher sich nicht in den sonst eher sachlich gehaltenen Vortragstext einfügt. Sie trägt erkennbar redensartliche Züge. Wenn also heute das (indirekte) Zitat nicht mehr bekannt sein sollte, kann dieser Indikator der stilistischen Abweichung Anlass zu einer Recherche und späteren Kommentierung geben.

2. Handbuchwissen Trotz fehlender eigener Annotationen soll das von Weber in das Manuskript für seine Vorlesung eingeflossene Handbuchwissen ermittelt werden. In einem Beispiel hat Weber in großem Umfang fremde Texte in seinem Vortrag (bzw. seinem Manuskript) verwendet, abermals ohne Nachweis. Da es sich um Notizen für einen Vortrag handelt, ist denkbar, dass Weber mit einem allgemeinen mündlichen Hinweis in solchen Fällen auf das entsprechende Handbuch bzw. Handwörterbuch verwiesen hat; es ist ebenso denkbar, dass die Studenten prinzipiell wussten, dass sie dort nachzuschlagen hatten, sofern nichts anderes vermerkt war. Hier nun geht es um das 2. Buch, § 6 zur natürlichen Bevölkerungsbewegung. Auf sieben Manuskriptseiten finden sich dort zahlreiche Jahres- und Datumsangaben, Zahlen, Angaben zu Gesetzen usf., jedoch: es fehlt eine Literaturangabe. Dies ist ein Beispiel für einen Abschnitt der Vorlesung, der komplett aus Handwörterbuchartikeln kompiliert bzw. abgeschrieben wurde. Die benutzte Literatur besteht dabei im Wesentlichen aus drei Artikeln aus dem „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“.4 Der Indikator dafür, Textstellen fremder Provenienz zu vermuten, ist hier die extreme Informationsdichte und Datenfülle. Die Kenntnis über Webers Arbeitsweise ist der Schlüssel: Erfahrungsgemäß hat Weber im Vorlesungsrahmen in Fällen, in denen sich sehr viele sachliche Informationen häufen, nicht etwa intensives Quellenstudium betrieben, sondern seine Informationen in der Regel aus vorliegender Fachliteratur, hier einem Handbuch bzw. Handwörterbuch, extrahiert. Nachdem nun die Aufmerksamkeit des Editors durch die materielle Form der Notation (hier: gedrängte Informationen in einer eher linearen Schreibweise) auf die Passage gelenkt wurde, –––––––— 4 In der Reihenfolge ihrer Verwendung: Ludwig Elster: Artikel Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik (Teil 3 des Abschnitts „Bevölkerungswesen“). In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes Conrad u. a., 2. Bd. Jena 1891, S. 465–528; Hermann Rehm: Artikel Eheschließung (die polizeilichen Beschränkungen derselben). In: Dass., 3. Bd. Jena 1892, S. 7–14; Paul Aschrott: Artikel Die Armengesetzgebung in Großbritannien (Teil 3,3 des Abschnitts „Armenwesen“). In: Dass., 1. Bd. Jena 1890, S. 873–883.

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besteht der nächste Schritt in der Identifikation der Quelle. Hierbei kann etwa die Kenntnis der Handbibliothek oder der Bibliotheksausleihen des Autors hilfreich sein.5

3. Fehlende Quellen Das dritte Beispiel zu nicht angegebenen Quellen zeigt einen Textteil anderer Provenienz als der bereits vermerkten. Es handelt sich um die erste Seite aus dem 4. Buch, § 16 zu Transportmitteln. In diesem Fall ist zwar eine Quelle (unterhalb der Überschrift) angegeben,6 es finden sich aber noch weitere Informationen, die nicht der angegebenen Quelle entstammen. Der angegebenen Literatur folgt Weber sehr nah, er gibt den Text oft wörtlich und chronologisch wieder. Der Inhalt betrifft die historische Entwicklung der Eisenbahn in Europa – mit ‚Europa‘ sind bei Weber im Kontext des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit der Industrialisierung in der Regel England, Deutschland und Frankreich gemeint. In gewohnter Manier hat Weber auch hier zunächst primär den Schreibraum der rechten Seite genutzt; für die folgende Betrachtung ist der obere Einschub auf der linken Seite von Interesse (Abb. 2):

Abb. 2: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Weber, M., Nr. 31–3, Bl. 272 (DFGViewer S. 556), Ausschnitt.7

Die Form des Einschubs lässt vermuten, dass Weber beim Ansatz eine ungefähre Vorstellung vom Zeichenumfang des Notats hatte; die vier gleichmäßigen Zeilen sind annähernd symmetrisch am übrigen Text ausgerichtet. Eine wohl nachträglich hinzugefügte Einschubklammer markiert den Zeilenzwischenraum. Der Umfang dieses Einschubs scheint Weber schon im Vorfeld bekannt gewesen zu sein, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Fällen, in denen er beim Verschriftlichen der Formulierung –––––––— 5 In Webers Fall sind Informationen über seine Handbibliothek vorhanden, die über die Website der Max Weber-Gesamtausgabe abgerufen werden können: https://mwg.badw.de/ fileadmin/user_upload/ Files/MWG/Liste_der_Handexemplare_Max_Webers.pdf (29.9.2018). 6 Richard van der Borght: Das Verkehrswesen. Leipzig 1894 (Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen Bänden. 1. Abt.: Volkswirtschaftslehre, Bd. 7). Weber verwendet in diesem Zusammenhang den 4. Abschnitt, „Der Eisenbahnverkehr“, S. 273–350. 7 Vgl. Anm. 3.

Nachweis von Textstellen fremder Provenienz

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eines Einschubs abschweift und es zu einer Kaskade von Einschüben im Anschluss an den ersten kommen kann. Hier aber schien raumökonomisches Schreiben nicht geboten. Weber beschreibt im rechten Part die Eisenbahngeschichte in Europa. In dem Einschub links heißt es dann unvermittelt: In Amerika: auf Grundl[age] v[on] Landschenkungen privater Massenbau, eilt der Cultur voran keine Landstraßen8

Diese Informationen sind jedoch in der angegebenen Quelle nicht zu finden. Auf der inhaltlichen Ebene ist die Abweichung vom ursprünglichen geographischen Bezugsraum ein Indikator für eine fremde Quelle: Von Europa wechselt Weber nach Amerika. Außerdem sehen wir auf der thematischen Ebene Webers Blick auf ein Problem der Raumentwicklung und ihrer Ökonomie sowie eine historisch-geographische Begründung der Ereignisse, die sich nicht nahtlos in den übrigen Text einfügt. Die bloße Darstellung der Chronologie wird an dieser Stelle also um Fakten ergänzt, die außerhalb des eigentlichen Themenfeldes liegen. Der erste Indikator für eine fremde Quelle aber, der überhaupt eine Abweichung vermuten lässt, ist die Topographie der Schrift auf der Seite. Alternativ kann in analogen Fällen ein Wechsel des Schreibgerätes oder des Duktus ein materialbedingter Indikator für eine nachträgliche Ergänzung sein. Für die editorische Praxis lassen sich somit, wie gezeigt, Indikatoren entwickeln, anhand derer sich nicht nachgewiesene Texte fremder Herkunft erkennen lassen können. Resümierend ist festzustellen, dass – bei umfassender Kenntnis der Arbeitsweise des Autors – etwaigen stilistischen, inhaltlichen oder materiellen Abweichungen besondere Aufmerksamkeit zuteil werden sollte. Besonders die materiellen Phänomene (etwa bei Abänderungen in Position, Schreibgerät oder Schreibduktus) lassen sich nach einer Linearisierung des Textes in der Regel nicht mehr rekonstruieren, Unstimmigkeiten oder Abweichungen somit nachträglich nur schwierig herausstellen. Dieses Verfahren ist freilich hochgradig abhängig von der jeweiligen Arbeitsweise und der Kenntnis darum; es hat sich aber gezeigt, dass sich – zumindest für einen Autor oder eine bestimmte Schaffensperiode eines Autors – Indikatoren entwickeln lassen, anhand derer sich die Detektion und infolge dessen der Nachweis von Texten fremder Provenienz operationalisieren lassen.

–––––––— 8 Vgl. Alfred von der Leyen: Die nordamerikanischen Eisenbahnen in ihren wirtschaftlichen und politischen Beziehungen. Gesammelte Aufsätze. Leipzig 1885, S. 2f. Zur Erläuterung des Kontextes: Im Westen der Vereinigten Staaten wurden in großer Zahl Eisenbahnlinien gebaut, weil es keine Landstraßen gab. Die Landbesitzer förderten den Bau der Eisenbahn als willkommene Infrastrukturmaßnahme privater Investoren, indem sie Land unentgeltlich zur Verfügung stellten.

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Sophia Krebs / Ulrich Rummel

Abstract While working on the edition of Max Weber’s lecture notes on Praktische Nationalökonomie we have identified passages that were unlike the others. In some of these passages, Weber did not reference his sources at all; or if he did give references, he sometimes did so incorrectly. The difficulty was identifying those text parts with criteria beside intuition. In this miscellany, we describe how we found valid indicators that aim to assist editors with identifying such passages.

Thomas Kessel

Nicolai Hartmann – Circelprotokolle 1920–1950 Ein Werkstattbericht

Die sogenannten Cirkelprotokolle aus Nicolai Hartmanns privat gehaltenen Oberseminaren der Jahre zwischen 1920–1950 sind nicht allein wegen ihrer historischen Zeugenschaft, ihrer philosophiegeschichtlichen Bedeutung in Bezug auf die klassische Philosophie, als auch wegen der Diskussion zeitgenössischer Werke, ihrer werkinternen Signifikanz und Funktion von größtem Interesse, sondern bereits aufgrund ihrer Textsorte und des sie jeweils auszeichnenden Charakters. Somit konzentriert sich der folgende Beitrag auf die Darstellung der editorischen Herausforderungen und Besonderheiten, welche die Textgattung Protokoll provoziert.

1. Geschichte und Charakter des Protokolls Protokolle gibt es in mannigfaltiger Ausprägung: Protokolle zu Zeugenaussagen, zu Rechtsakten oder Parlamentsdebatten, Protokolle eines Krankheitsverlaufes oder einer Prüfung, Sitzungsprotokolle und sogar Gebärdenprotokolle, welche je nach Bedürfnis in ihrer Form variieren, aber dennoch gewisse gemeinsame Charakterzüge tragen, welche sie als eine eigenständige Textsorte gegenüber anderen auszeichnen. Einen solchen Charakterzug finden wir in ihrem Verweis auf ihren institutionellen Zusammenhang, der sie bereits seit ihrem ersten Auftreten auszeichnete. Denn als Protokoll bezeichnete man im mittelgriechischen jene Vorsatzblätter, welche amtlichen Papyrusrollen im alten Ägypten aufgeleimt wurden, um vor Gericht als ein Zeichen ihrer Echtheit anerkannt zu werden.1 Heute finden wir diese Funktion des ,Protokollon‘ von der amtlichen Apostille abgelöst. Doch der institutionelle Bezug und der Anspruch auf Echtheit und Gültigkeit des Inhaltes zeichnen das Protokoll als Textgattung auch heute noch aus. Wobei dieses in seiner Verfertigung je nach institutioneller Ausrichtung und Funktion einer je spezifischen Technik unterliegt, welche sich durch stete Kultivierung der formalen

–––––––— 1 Der Begriff ,Protokoll‘, im Mittelgriechischen πρωτόκολλον, protókollon, setzt sich zusammen aus πρῶτος, prótos (erster) und κόλλα, kólla, (der Leim) und bezeichnete jenes der Papyrusrolle aufgeklebte Blatt, welches über die Entstehung des Schriftstückes Auskunft gab. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Wolfgang Seebold. Berlin/New York 2002, S. 725.

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Thomas Kessel

Bedingungen ausbildete und darin bestimmte Richtlinien bereitstellt, welche den Rahmen dafür bilden, was in ein Protokoll hineingehört und was nicht.2 Ein weiteres Charakteristikum des Protokolls stellt seine Unterschriftsfähigkeit dar. Was zu Protokoll gegeben wird, steht fest und was mit dieser Festgestelltheit gesichert ist, kann unterschrieben und damit der Unterschreibende zur Rechenschaft gezogen werden. Damit wird das Protokoll selbst zur Institution. Während das Protokoll noch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ausschließlich eine Praktik des Rechtswesens darzustellen schien, zeigte sich ab der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sein gewinnbringender Nutzen auch in den Natur- und Geisteswissenschaften. Darauf soll in der Folge detailliert eingegangen werden, um zum einen weitere Charakteristika der Textgattung Protokoll aufzuweisen und zum anderen eine Art Kategorisierung zu erreichen. Mit dieser soll es möglich werden, einerseits die Bedeutsamkeit der Protokolle aus dem Kreise Hartmanns herauszustellen und andererseits die Aufgaben und Herausforderungen, denen die Teilnehmer sich gegenübersahen, in den Blick zu bekommen. Dieser Schritt scheint zudem unerlässlich für die editorischen Fragen nach Textgenese und dem schon erwähnten Anspruch auf Gültigkeit des Inhalts – Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Als Ausgang der weiteren Charakterisierung bietet sich der Übergang von Diskurs zum Text an, welcher durchaus komplexere Strukturen aufweist, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und das Protokoll gleichsam von anderen ebenfalls komprimierenden Textformen unterscheidet. Mit einem Protokoll wird der Übergang vom Diskurs zum schriftlichen Text und damit zur Fixierung mündlich erarbeiteter Wissensbestände realisiert. Es verlangt von seinen jeweiligen ProduzentInnen also rezeptive und produktive sprachliche Fähigkeiten, und zwar sowohl in der gesprochenen Sprache als auch in der Schriftsprache.3

Entscheidend für diesen Übergang ist dabei eine klare Trennung von Diskurs (also sprachlicher Situation) und Mitschrift bzw. Nachschrift (d. h. dem endgültigen Protokolltext). Denn der Protokolltext ist nicht einfach als Fixierung sprachlichen Ausdrucks zu verstehen, sondern als eine Überwindung der Flüchtigkeit der Sprachsituation, welche durch das Herauslösen aus einer ersten sprachlichen Situation für eine weitere durch den Protokolltext festgestellt wird.4 Ein Akt, der gleichsam in die Richtung einer sonst kaum berücksichtigten sozialen Funktion des Protokollierens hinweist, auf welche in der Folge näher eingegangen wird. Durch den Prozess des Herauslösens aus einer Sprechsituation und des Feststellens werden dem Gesprochenen durch die Hand des Protokollanten einerseits bestimmte Mittel entzogen wie Pausen, Betonungen und dergleichen, andererseits werden ihm aber auch andere Mittel hinzugefügt, die letztlich auf einer der Verschriftlichung im–––––––— 2 Vgl. Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa: Textsorte Protokoll. In: Das Protokoll. Kulturelle Funktion einer Textsorte. Hg. von Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa. Frankfurt/M. 2005, S. 7f. 3 Melanie Moll: Das wissenschaftliche Protokoll. Vom Seminardiskurs zur Textart: empirische Rekonstruktionen und Erfordernisse für die Praxis. In: Studien Deutsch 30 (2001), S. 22. 4 Vgl. ebd., S. 23.

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manenten Zerdehnung beruht.5 Hinzu kommen strukturelle Veränderungen wie Gliederungspunkte, Inhaltangaben, zusätzlich recherchierte Materialien, Literaturangaben etc., welche auch dem wissenschaftlichen Anspruch auf Präzision nachkommen. Die Ausmaße des Eingriffs korrespondieren naturgemäß mit den jeweiligen Bedürfnissen, Ansprüchen und Funktionen der Protokollanten bzw. der Institutionen, deren sie als Amtsinhaber verpflichtet sind. Während das Verlaufsprotokoll auf möglichst wortgetreue und chronologisch einwandfreie Wiedergabe Anspruch erhebt und sowohl in direkter als auch indirekter Rede verfasst sein kann, in dem auch teilweise die jeweiligen Sprechakteure protokolliert sind, kommt es beim Ergebnisprotokoll allein auf die Wiedergabe von Beschlüssen etc. ohne Rücksicht auf Sprecher, Verlaufsstruktur und Nachvollziehbarkeit der Argumentationslinie an, welche beim Verlaufsprotokoll wiederum ausdrücklich erwünscht sind. Dabei ist festzuhalten, dass die Grenzen zwischen den eben genannten Protokolltypen fließend sind, was den Versuch einer eindeutigen Zuweisung ad absurdum führt. Durch die ausführliche und oft direkte Form mancher Protokolle, welche die Nachvollziehbarkeit des Argumentationsstranges in allen Schritten erlaubt – so auch bei einer Vielzahl der Cirkelprotokolle – entsteht bei vielen Lesern zumeist der Eindruck, es handele sich tatsächlich um eine wortgetreue, chronologisch einwandfreie Wiedergabe des Gespräches. Dass dies aber nicht der Fall sein kann, sollen die folgenden Ausführungen zeigen, welche sich in erster Linie auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen von Melanie Moll stützen.6 Zwischen Diskurs und Protokolltext steht die Mitschrift und dies gerade auch in Zeiten, in denen Stenographie zu den Fähigkeiten vieler Protokollanten gezählt werden konnte. Diese Mitschriften korrespondieren in ihrer Qualität mit verschiedenen, didaktisch vermittelbaren Fähigkeiten seitens der Protokollanten. Zum einen spielt das Vorwissen hinsichtlich des Diskursgegenstandes eine gewichtige Rolle. Dies zeigt einschlägig die Fähigkeit fachkompetenter Protokollanten, aus wenigen Aufzeichnungen einer unmittelbaren, stichwortartigen Mitschrift ein inhaltlich hochwertiges Protokoll zu erstellen. Aufgrund dieser Fähigkeit können sich beispielweise in der Sprechsituation ungeschickte und unsichere Äußerungen im Protokolltext als fachlich eindeutige und belegbare Sprachbeiträge darstellen. Eine weitere Anforderung des Protokollierens stellt die Kenntnis des im Protokoll Intendierten, d. h. der Funktion des Protokolls innerhalb des Diskurses des gesamten Seminars dar. Unbezweifelbar ist auch das Vermögen, Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden, eine unabdingbare Voraussetzung für eine gelungene Mitschrift. Auch die Fähigkeit des gleichzeitigen Hörens, Verstehens und Aufzeichnens wird als eine der notwendigen Grundfähigkeiten des Protokollierenden verstanden, begleitet von Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeit sowie schreibökonomischen Strategien. So

–––––––— 5 Vgl. ebd., S. 161. 6 Ebd., S. 108ff.

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entsteht ein dem Protokoll vorangehender Primärtext, der ohne jede schöpferische Konzession absolute und unpersönliche Objektivität fordert.7 Die nächsten Hindernisse einer wortgetreuen Wiedergabe, welche allein den Anspruch auf absolute Gültigkeit des Protokollierten verbürgen könnte, stellen neben der Lückenhaftigkeit der Mitschrift, welche allein durch Fachkenntnisse und Gedächtnisleistung zu füllen wären, die Lesbarkeit bzw. Unlesbarkeit des unmittelbar Mitgeschriebenen, des Notierten dar. Sind diese letzten Schwierigkeiten überwunden, beginnt die eigentliche Protokollerarbeitung. In dieser wiederholen sich die Prozesse des Unterscheidens von Relevantem und Irrelevanten, des Auslassens und Hinzufügens, die den Protokolltext in seiner Analogie zur Sprachsituation verändernd beeinflussen. Die jeweilige Fachkompetenz des Protokollanten und dessen sprachliche Fähigkeiten müssen sich darin erneut bewähren. Nicht zuletzt hat das Protokollieren soziale Aspekte. Dazu zählt die oben angesprochene direkte Sprachsituation in ihrer Flüchtigkeit als Bedingung für eine weitere Sprachsituation, nämlich die der Protokollbesprechung, in welcher die Teilnehmer zum Protokollierten Stellung nehmen, ihre eigenen Aussagen reflektieren und Vorschläge zur Verbesserung einbringen können. Ähnliches gilt für den Protokollanten, welcher sich autoreflexiv auf das von ihm Verfasste richten kann. Die gemeinsame fachgerechte Unterredung schafft dabei nicht nur Bindungen, sondern ermöglicht auch einen gemeinsamen Wiedereinstieg in den behandelten Stoff. „So wird der erarbeitete Begriff, die terminologische Zuordnung als Reflexionsprodukt erlebt, so enthält jedes Protokoll […] das Angebot, eine wiederholbare Erkenntnisund Lernhilfe zu sein.“8

2. Das Protokoll im Wirken und Werk Nicolai Hartmanns Diskutieren und Protokollieren gehörte zum Selbstverständnis des Philosophen Nicolai Hartmanns (1882–1950), wie Zeitzeugen berichten. Schon zwischen 1903 und 1905 besuchte er zusammen mit seinem Studienfreund in seiner Sankt Petersburger Zeit den Disputierkreis des Kommilitonen Weidemann. Reine Männergeselligkeit mochte er nicht sehr, wenn da nicht wirklich Interessengemeinschaft war oder gar ein Disputierkreis. Einen solchen mußte er zeitlebens um sich haben […]. Einen solchen Kreis gab es schon in Sankt Petersburg.9

Ein solcher Kreis gab Hartmann stets die Gelegenheit, sein Denken durch die Disputanten zu kontrollieren und gegen andere Positionen abzuwägen, ein Bestreben, welches durch die vorliegenden Cirkelprotokolle bis 1950 belegt ist. Ob Hartmann 1903– 1905 bereits Protokolle geführt hat, kann zwar im Nachlass nicht belegt werden, –––––––— 7 Vgl. Walter Gebhard: Für eine Kultur des Protokolls. Zur didaktischen Bedeutung einer wenig geliebten Textsorte. In: Das Protokoll. Kulturelle Funktion einer Textsorte. Hg. v. Michael Niehaus u. HansWalter Schmidt-Hannisa. Frankfurt/M. 2005, S. 271. 8 Ebd., S. 286. 9 Frida Hartmann: Aufzeichnungen von Frida Hartmann, geborene Rosenfeld (1979) In: Nicolai Hartmann. Facetten der Persönlichkeit. Zusammengestellt von Lise Krämer. Privatdruck 2003, S. 13.

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scheint aber wahrscheinlich. Dies wäre die Frage weiterer Forschungsarbeit. Auch José Ortega y Gasset hat in seinem Bericht über seinen zweiten Aufenthalt in Marburg um 1910 von Hartmanns unermüdlicher Freude am Disputieren berichtet: „Mit Nicolai Hartmann, mit Paul Scheffer, mit Heinz Heimsoeth habe ich über Kant und Parmenides diskutiert, oft mitten in der Nacht.“10 Nimmt man den Bericht des Teilnehmers am Berliner Cirkel Hartmanns, Bruno Baron von Freytag Löringhoff aus dessen Vortrag Erinnerungen an Nicolai Hartmann, den er am 28. Juni 1986 bei den Baltischen Kulturtagen auf Schloss Stettenfels hielt,11 nicht nostalgisch, sondern nimmt ihn einmal editionswissenschaftlich ernst, so enthält er eine Reihe an Informationen, die nicht allein zur Genese der Protokolle, sondern ebenfalls über ihre Bedeutsamkeit sowohl für die Teilnehmer als auch für Hartmann selbst Auskunft geben. Darüber hinaus verweist er auf die hohe Konzentrationsfähigkeit, welche die Protokollanten zur Erstellung ihrer jeweiligen Mitschriften mitbringen mussten, um die dreistündige Sitzung angemessen fixieren zu können, was wiederum die naive Annahme, die Protokolle seien direkte Mitschriften, als unwahrscheinlich zurückweist. Die Rolle des Sitzungsleiters und die des Protokollanten gingen unter dem guten Dutzend der Teilnehmer reihum. Ein solches etwa dreistündiges Gespräch festzuhalten und in die Form eines in den wichtigsten Punkten ausführlichen Protokolls zu bringen ist schwer […] Ich habe jeweils viele Tage an die Erstellung eines solchen Protokolls gewandt.12

In seinen Erinnerungen spricht Freytag Löringhoff auch die soziale Komponente an, welche den Ernst, mit dem die Protokolle erstellt wurden, und deren Funktion dokumentiert. An das Protokoll wurden in der nächsten Sitzung große Erwartungen gestellt. Alle nahmen es unter die Lupe […]. Der Protokollant bekam für die nächste Sitzung, in der er verlas, quasi zur Belohnung die Leitung […]. War das Protokoll aber schwach, so wurden die ersten Minuten nach der Verlesung peinlich, und der Verbleib des Protokollanten im Zirkel sowie seine Promotion konnten gefährdet sein.

Hartmann, so erfahren wir aus den weiteren Erzählungen des Zeitzeugen Freytag Löringhoff, nahm sich nicht von der Pflicht des Protokollierens aus und erstellte selbst einige, da sie für ihn den Ansatzpunkt der nächsten Sitzung darstellten. Hier zeigt sich das Protokoll abermals nicht einfach als die Verschriftlichung einer Sprachsituation, sondern als die Herauslösung einer Sprachsituation aus ihrer Flüchtigkeit, um sie für eine anknüpfende Sprachsituation verfügbar zu machen: Die Sprachsituation der Protokollbesprechung, die Hartmann, wie Freytag Löringhoff notiert, als „den wichtigsten Teil seines Wirkens“ charakterisierte. –––––––— 10 José Ortega y Gasset: Schriften zur Phänomenologie. Hg. von Javier San Martin. Übers. Arturo Campos, Jürgen Uscatescu. Freiburg/München 1998, S. 236. 11 Bruno Baron von Freytag Löringhoff: Erinnerungen an Nicolai Hartmann. In: Nicolai Hartmann. Facetten der Persönlichkeit. Zusammengestellt von Lise Krämer. Privatdruck 2003, S. 54 (von Freytag Löringhoff war Cirkelteilnehmer in den Wintersemestern 1938/39 und 1942/43). 12 Ebd., S. 57.

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Aufgrund solcher Zeitzeugenaussagen können wir den Stellenwert der Cirkelprotokolle in annähernder Weise bestimmen: Disputieren und Protokollieren zeigen sich als zwei Grundpfeiler im Wirken Hartmanns, die neben der besonderen Charakteristik der Textgattung Protokoll eine editorische Bearbeitung durchaus rechtfertigen. Eine Bearbeitung, wie sie schon 1955 Wilfried Stache mit der Publikation der Protokolle Klugheit und Weisheit und Der Wahrheitsanspruch der Dichtung in dem Bändchen Philosophische Gespräche initialisierte und welches am 14. Juni 1954 vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht die Zusage zur Veröffentlichung erhielt.13 Dieses Bändchen lässt allerdings Zurückhaltung in Hinsicht auf editorischen Eingriffe stark vermissen, da es auf jegliche Dokumentation der gekürzten, umformulierten und emendierten Textstellen verzichtet, und zwar in einem solchen Umfang, dass der Grundtext kaum noch wiederzuerkennen ist. Weitere Bändchen waren geplant, bekamen aber ebenso wie ein von Stache verfasster Aufsatz zu Hartmann am 22. März 1960 eine Absage mit der Begründung: Es wird schwierig sein, [Ihren Hartmann-Aufsatz] unterzubringen, nachdem das Gespräch über Nicolai Hartmann so stark abgeklungen ist. Ich habe das nun schon so oft bei Gelehrten beobachtet, auch bei sehr großen, daß sie zunächst einmal nach ihrem Tode fast in Vergessenheit geraten oder daß man nur wenig von ihnen spricht.14

3. Das Projekt und sein Gegenstand Fast sechzig Jahre nach dieser Absage hat eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projektgruppe unter der Leitung von Joachim Fischer auf der Dresdner und Gerald Hartung auf der Wuppertaler Seite die Editionsarbeit der Cirkelprotokolle von 1920 bis 1950 im Oktober 2016 wieder aufgenommen. Der Nachlass Nicolai Hartmanns, welcher bis 2012 auf dem Dachboden des Hauses des aus zweiter Ehe stammenden Sohnes Olaf Hartmann untergebracht war, wurde von den Erben in zwei Etappen dem Deutschen Literaturarchiv Marbach übergeben und enthält neben der gesamten Privatbibliothek Hartmanns: Briefe, Korrespondenzbücher, Aufzeichnungen, Entwürfe bekannter Monographien aus der Hand des Philosophen sowie die gesammelten Cirkelprotokolle aus den Jahren zwischen 1920 und 1950, die in einem Umfang von ca. 3000 Blatt nahezu vollständig erhalten sind. Die einzelnen Seminaraufzeichnungen umfassen durchschnittlich zehn bis zwölf Sitzungen, die in ihrer Gesamtzahl im Schnitt eine Stärke von 80 bis 100 Blatt besitzen. Der Umfang der einzelnen Protokolle variiert dabei stark. Die Protokolle sind zum größten Teil handschriftlich in Deutscher Kurrentschrift verfasst, nur ein geringer Anteil fällt auf Typoskripte. Die Protokolle sind besonders in den ersten Jahren auf annähernd DIN A5 großen, linierten und beidseitig mit einem –––––––— 13 Auszug aus dem Briefwechsel zwischen Frida Hartmann und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 494, G 1950-54/4 Bl. 273. 14 Auszug aus dem Briefwechsel zwischen dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und Wilhelm Stache. Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 494, G 1959-63/18. Bl. 756.

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Rand versehenen Bögen verfasst, welche aus entsprechenden Schreibheften herausgelöst zu sein scheinen. Andere Protokolle sind auf DIN A4-Bögen geschrieben, welche der Breite nach gefaltet und zu Heftchen zusammengefügt wurden. Dabei beginnen die Protokolle meist auf der rechten Seite des ersten gefalteten Bogens und enden auf der linken desselben, wenn es der Textumfang erforderte. Andere, der Zahl nach wenige, DIN A4-große, meist unlinierte Bögen wurden in voller Größe zur Aufzeichnung benutzt. Die einzelnen Protokolle sind fast durchgängig von anderer Hand mit rotem Buntstift in lateinischer Zählung auf dem oberen rechten Rand durchnummeriert. Andere weisen Seitenzählungen der einzelnen Seiten in arabischen Ziffern auf. Zudem enthalten die Protokolle zahlreiche Streichungen und Korrekturen vom Protokollanten sowie von anderer Hand, nicht zuletzt von Hartmann selbst, wie die durchgeführten Schriftvergleiche eindeutig belegt haben. Hartmanns Eingriffe befinden sich teils in, teils über oder unter der Zeile sowie auf dem Rand. Auf den Rändern und in wenigen Fällen auch am unteren Seitenrand finden sich Anmerkungen und Kommentare. In wenigen Fällen sind diese aufgrund ihres Umfangs auf gesonderten Blättern eingefügt. Teilweise sind sowohl in den Manuskripten als auch in den Typoskripten die Korrekturen mit dem gleichen Stift, entsprechend mit der Schreibmaschine, teils mit anderem durchgeführt, ein Tatbestand, welcher auf einen zeitlichen Abstand zwischen Verfassen des Protokolls und der durchgeführten Korrektur schließen lässt. Diese könnten wenigstens in einzelnen Fällen aus der gemeinsamen Besprechung im Kreis resultieren. Eindeutig lässt sich dies nach dem heutigen Forschungsstand jedoch nicht verifizieren und muss als Forschungsfrage offenbleiben. Setzen wir voraus, dass die Protokolle in den meisten Fällen Resultate von Mitschriften und Gedächtnisinhalten darstellen, so befinden sich in dem Konvolut keine solchen Mitschriften, wenn auch einige der Dokumente aufgrund ihrer ausgeprägten ökonomischen Notation, die sich beispielsweise in privatsprachlichen Abkürzungen zeigt und die selbst bei gleichen Begriffen divergiert, oder durch ihre komprimierte Form als direkte Mitschriften bzw. Seminarnotizen erscheinen.

4. Umsetzung: Vom Text zur Hybridausgabe Die Abwägung von editorischen Möglichkeiten, das Treffen von Entscheidungen und deren technische Umsetzung im weitesten Sinne ist ein komplexer Prozess, welcher sich auf die formale und inhaltliche Gestaltung nicht nur des Endproduktes, sondern auch aller miteinander verwobenen Arbeitsschritte in hohem Maße auswirkt und aufs engste zusammenhängt mit dem Versuch der Antizipation aller oder doch der meisten Desiderate potenzieller Benutzer. So fiel die Entscheidung für eine Hybridausgabe, die dem Leser informative Angebote macht, statt ihn zu belehren, seiner Einbildungskraft Raum lässt für eigene Interpretationen, ihm die Möglichkeit gibt, den Grundtext gedanklich zu rekonstruieren. Es

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geht darum, Erläuterungen zu liefern, die, hier einmal im Sinne Friedrich Beißners, im Gegensatz zu ‚Kommentaren‘ weniger Gefahr laufen zu veralten.15 Die dafür benötigte technische Grundlage wurde von den beiden im Hintergrund agierenden Technikern (Gilles Bülow, Frederik Schlupkothen) bereits für das ebenfalls DFG-finanzierte Wuppertaler Windelbandprojekt (Gerald Hartung, Jörn Bohr, vgl. S. 129–144 im vorliegenden Band) entwickelt und bereitgestellt. Diese ermöglicht über eine Word-Eingabemaske mit einer darunterliegenden XML-Verarbeitung die technische Erfassung von Transkriptionen und Kommentaren und wurde nach den ‚Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange‘ der Text Encoding Initiative entwickelt. Dieses Vorgehen ermöglicht die gleichzeitige Erarbeitung der Ausgabeformate sowohl für die Print- als auch die Web-Edition. Zudem ist die Weiterverwendung der gespeicherten Daten durch die normierte Auszeichnung und standardisierten Werkzeuge sichergestellt. Ein weiterer Vorteil dieser Anwendung ist die Möglichkeit automatischer Drucksatzlegung aufgrund einer Publikationspipeline, welche ebenfalls eine flexible Anpassung des Layouts an z. B. Verlagsrichtlinien ermöglicht. Neben der Möglichkeit der automatisierten Erstellung sämtlicher Register hat sich diese Anwendung nicht nur aufgrund ihrer Bedienerfreudlichkeit bewährt, sondern auch dadurch, dass sie durch die Hand der Techniker direkt auf Bedürfnisse reagieren kann, welche sich im Laufe der Transkriptions- und Auszeichnungsphase aufgrund des Textbefundes ergeben. Durch ihre schlanke Form unterstützt die Anwendung zudem die Herstellung von Einheitlichkeit ohne den Eindruck irgendwelcher technisch bedingter Einschränkungen, zumal sich Überlappungen verschiedener Auszeichnungsformate als unproblematisch erweisen. Grundsätzlich unterscheiden sich bei der medialen Grundlage Absatzformate und Zeichenformate, wobei erstere beispielsweise als eine Reaktion auf die unterschiedlichen Darstellungsformen der Grundtexte reagieren, ob sie nämlich einem Fließtext im indirekten Stil oder einem direkten Stil mit vorstehender Nennung der jeweiligen Sprecher folgen. Alle verwendeten Auszeichnungen dienen sowohl der Erstellung möglicher Varianten in der Layout-Gestaltung als auch der Extrahierung, um in der späteren Webausgabe den Zugriff auf spezielle Anzeigemodi der Protokolle zu ermöglichen. Weitere Zugriffsmöglichkeiten dieser Art erlaubt die Einrichtung eines Metadatenblockes, welcher in normierter Form über Textart (Manuskript, Typoskript), Titel, Sitzungsnummer, Teilnehmer, Ort und Datum der jeweiligen Sitzung informiert und sich am Kopf einer jeden Protokoll-Transkription befindet und z. B. die Möglichkeit bietet, alle Sitzungen anzuzeigen, bei denen ein bestimmter Teilnehmer anwesend war. Dieser Metadatenblock kann in einer Buch-Ausgabe ebenfalls als Informationsträger den abzudruckenden Protokollen vorangestellt werden. –––––––— 15 Vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuer Texte. 3. Aufl. Stuttgart 2013, S. 124: „In seinem von der Textdokumentation bestimmten Editionsverständnis stellte sich für Beißner jeder weitere Schritt hin zu einem Kommentar, der über die Erläuterung einer einzelnen Textstelle hinausging, als eine ‚Zutat‘ dar, ‚die schnell veraltet‘.“

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Weiterhin hält das Programm drei unterschiedliche Kommentartypen bereit. Neben der geläufigen Unterscheidung von philologischem und editorischem Kommentar steht noch der Typ Autorenkommentar zur Verfügung, welcher die Kommunikation zwischen den Editoren (Thomas Kessel, Wuppertal, Friedrich Hausen, Dresden) im Falle von Transkriptionswidrigkeiten, Kommentarbedarf u. a. direkt ‚vor Ort‘, d. h. in der Transkriptionsdatei erlaubt. Als weitere Informationsquelle neben Metadatenblock und Kommentaren, auf die unten eingegangen wird, sollen die erstellten Abstracts dienen, welche zu Beginn einer jeden Diskussionnseinheit dem Leser einen orientierenden Überblick über Inhalt, philosophiegeschichtliche Hintergründe und Referenzen, vertretene Positionen sowie das Verhältnis zu Hartmanns Werken zu verschaffen beabsichtigt. Diese Abstracts haben zudem die Funktion, die Textauswahl für die Buch-Edition zu unterstützen. Diese Entscheidung wird zudem getragen sein von unterschiedlichsten Gesichtspunkten wie Lesbarkeit, Qualität des Grundtextes, historische bzw. philosophiehistorische oder zeitgenössische Bedeutung, werkimmanente Relevanz als auch von thematischen Belangen, um den Bedürfnissen einer möglichst breiten Leser- und Forscherschaft gerecht werden zu können. Ein editionswissenschaftlich seit je diskutiertes Feld stellt die Frage nach der Art und dem Umfang des editorischen Kommentars dar. Dies betrifft allgemeine Entscheidungen, welche bei einer Vielzahl von Editionen in ähnlicher Weise wiederkehren, als auch der Textsorte Protokoll immanente Entscheidungen. Zu letzteren ist die Kommentierung der Teilnehmer im Besondern zu nennen, die besondere Schwierigkeiten bereitet. Denn während sich die Recherchen zu prominenten Teilnehmern des Cirkels wie Helmuth Plessner (Wintersemester 1925/26), Günter Patzig (Wintersemester 1948/49 und 1949/50), dem Pädagogen Theodor Ballauf (Wintersemester 1933/34–1937/38), den Philosophen Hans-Georg Gadamer (Wintersemester 1920/21–1923/24), Herrmann Wein (Sommersemester 1934–1948, nicht durchgängig) und Takiyettin Mengüsoglu (Sommersemester 1934–1937) vergleichsweise problemlos bewerkstelligen lassen, erwies sich die Recherche nach den vielen weitaus unbekannteren Teilnehmern als wahre Detektivarbeit, welche nicht nur durch die fehlenden Angabe der Vornamen, sondern auch dadurch erschwert wurden, dass eine für diese Zeit ungewöhnlich große Anzahl von Studentinnen an den Diskussionen teilnahm, die aufgrund von Eheschließung nicht mehr unter ihrem damaligen Familiennamen zu finden sind. Daher waren Zeitzeugenberichte, wie sie u. a. von Hartmanns Tochter Lise und Sohn Olaf vorliegen, als Quellen von unschätzbarem Wert. Weitere Quellen stellen z. B. für die Kölner Zeit die Kassenbücher der Universität aus den entsprechenden Jahren dar, in welchen die Zahlung der Kollegiengelder namentlich quittiert wurde. Auch Briefwechsel können als Dokumente zur Erschließung weiterer Informationen herangezogen werden. Zum Zwecke der Sammlung von sämtlichen Informationen zum Werdegang, zur Literatur und zum Einpflegen von Fotos und Erinnerungen wurde eine Teilnehmer-Datenbank erstellt, aus welcher für die Hybridedition entsprechend der Buch- und Web-Edition Informationen in einer den Teilnehmern zugeordneten Kommentierung erfolgen sollen, die je nach Bedeutung der Teilnehmer als auch der Befunde divergieren.

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Die einer solchen Auswahl unvermeidlich zugrundeliegende Interpretation soll dabei möglichst transparent gemacht werden. Neben den üblichen Quellennachweisen von ausdrücklich genannter als auch implizit diskutierter Literatur innerhalb der Diskussionen sollen Bezüge zum Werk Hartmanns wie auch zwischen den einzelnen Diskussionen selbst kommentierend dargestellt werden, die beispielsweise auf die Genese späterer Werke verweisen und deswegen für weitere editorische Forschung als dienlich betrachtet werden. Die aufgeführten Felder der Kommentierung sind nur exemplarisch aufgeführt und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da ein solcher den Umfang des vorliegenden Berichtes bei weitem überfordern würde. Hier geht es nur um die der Sache nach einschlägigsten. Während bei der Edition der vorliegenden Protokolle die Rekonstruktion der Grundlagentexte, wenn man hier den Terminus bemühen möchte und wenn man von möglichen Mitschriften absieht, weniger ins Gewicht fällt, so stellen die Prozesse der Dokumentation der Textkonstitution, die Fragen nach dem nötigen Maß an Emendation und anderen Eingriffen den Editor vor eine Vielzahl von Problemen, die einer vertretbaren Lösung, welche mit dem Anspruch auf Einheitlichkeit auftritt, zugeführt werden sollen. Die ist ein Entscheidungsprozess, der neben der oben aufgezeigten Auswahl der editorischen Kommentare und ihres Umfangs wohl zu den wichtigsten Aufgaben eines Editors gezählt werden kann, denn die „Definition, was ein zu verbessernder Fehler ist und ob oder wie in einen Text eingegriffen werden darf und soll, gehört seit jeher zu den in der Editionswissenschaft umstrittensten Fragen.“16 Eine besondere Schwierigkeit bildet in Bezug auf den eigentlichen Transkriptionsprozess die große Anzahl der Teilnehmer, welche sich sowohl aus der Vielzahl der jeweiligen Disputanten eines Semesters als auch dem Wechsel derselben von Semester zu Semester ergeben, was schließlich zu einer Fülle unterschiedlichster Handschriften führt, die es zu entziffern gilt. Neben handschriftlichen Gepflogenheiten zeigen sich hier auch orthographische Probleme. Dies im Besonderen, wenn die Orthographie ein und desselben Wortes sogar innerhalb eines Textes, ja einiger weniger Zeilen variiert und eine Entscheidung hin zu der einen oder anderen kommentarbedürftigen Variante nahelegt, um die Lesefreundlichkeit zu fördern. Zudem erschweren oft privatsprachlich anmutende Abbreviaturen, Streichungen, Verschleifungen und der teils bis zur Unleserichkeit reichende Gesamtzustand der Befunde die Prozesse der Transkription und der damit korrespondierenden Kommentierung. Da die Edition sowohl auf Lesefreundlichkeit als auch auf einen schmalen Kommentar-Apparat, der dennoch den Bedürfnissen einer breiten Leserschaft nachkommen möchte, einen hohen Wert legt, haben wir uns dazu erschlossen, alle fehlenden Buchstaben (z. B. bei privatsprachlichen Abbreviaturen) und Satzzeichen zu ergänzen, orthographische Eigenheiten zu belassen und nur dort kommentierend einzugreifen, wo die logische Struktur des Textes verletzt zu werden droht. –––––––— 16 Plachta 2013 (Anm. 13), S. 90.

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Streichungen werden nur dann kommentiert, wenn das gestrichene Textfragment rekonstruierbar ist, d. h. wenn ein möglicher Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Alle häufig in einem Protokoll wiederkehrenden, kommentarbedürftigen Eigenheiten, die aus den beiden oben aufgeführten Gründen nicht im Text übernommen werden, werden im Editionsbericht ausgewiesen. Gleiches gilt für Grundtexte mit verschliffener Schrift, wo weder eine diplomatische Umschrift noch die Ergänzung fehlender Buchstaben zu einem Transkriptionsergebnis führen würden, das lesbarer wäre als das Original. Wie erwähnt konzentriert sich der vorliegende Bericht auf solche Probleme, die speziell – wenn auch nicht ausschließlich – in den Editionsprozessen von Protokollen zum Tragen kommen. Zwei in diesem Sinne spezielle Schwierigkeiten wären noch zu erwähnen. Im Laufe der ersten drei Semester wird das Protokollieren im Kreis der Teilnehmer entweder durch Nicolai Hartmann selbst, auf Anregungen seitens der Studierenden oder in gemeinsamer Absprache formal und, wenn man so will, inhaltlich kultiviert. Betrachten wir exemplarisch den Kopf des Protokolls vom 13. Mai 1921, so lassen sich hier weder Datum noch die Namen des Protokollanten oder Vorsitzenden finden. Wir wissen sicher, dass der Protokollant der vorhergehenden Sitzung meist der Vorsitzende der folgenden war, und so ließen sich eigentlich aus dem vorhergehenden und dem folgenden Protokoll Vorsitzender und Protokollant ermitteln. Da aber die Situation in den vorhergehenden und folgenden Protokollen im vorliegenden Fall jeweils dieselbe ist wie bei dem in Frage stehenden Protokoll vom 13. Mai, kann nur durch Schriftvergleich auf Autor und Vorsitzenden geschlossen werden. Ähnliches gilt für die Bestimmung des fehlenden Datums, an dem die Sitzung wahrscheinlich stattgefunden haben wird. Die Nennung des Datums findet sich erst im vierten Protokoll des entsprechenden Sommersemesters, von dem aus dann, wenn man einen wöchentlichen Zyklus ansetzt, das Datum ansatzweise, aber ohne Gewähr ermittelt werden kann. In späteren Protokollköpfen zeigt sich dagegen eine stärker kodifizierte Art und Weise der Angabe von Sitzungsdatum, Protokollanten und Vorsitzendem – diese wurde auch als einheitliche Vorlage in die Edition transferiert. Ein weiterer Punkt, welcher die Kultivierung des Protokollierens betrifft, ist die Nennung der Sprecher. Während in frühen Protokollen kein Hinweis auf die Sprecher zu finden ist, kann man beispielsweise beim Protokoll vom 12. Februar 1921 auf dem linken Rand des Blattes den Eintrag „Prof. H.“ finden. Andere Sprecher werden im Fließtext in runde Klammern gefasst, wodurch jedoch eine exakte Zuordnung von Sprecher und Beitrag vielerorts nicht sicher bzw. nicht seriös erfolgen kann. Mit wenigen Ausnahmen etablierte sich erst seit dem Protokoll vom 1. Dezember 1923 eine Form, in welcher der Sprecher stets vor dem Beitrag mit Unterstreichung genannt wird. Neben dieser formalen Kultivierung zeigt sich in den obigen Beispielen auch eine Entfernung von einem Ergebnisprotokoll, über ein in indirekter Rede gehaltenes Protokoll mit den Schwerpunkten auf die Darstellung des Diskussionsverlaufes und der Nachvollziehbarkeit des Argumentationsstranges, hin zu einem in direkter Rede verfassten Verlaufsprotokoll. Dieser Entwicklung wird von editorischer Seite her durch unterschiedliche Textformate Rechnung getragen.

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Abschließend sei auf zwei weitere Datensammlungen verwiesen, welche im Rahmen des Projektes erarbeitet werden. Dazu gehört zum einen die ausführliche Primärbibliographie der Schriften Hartmanns, welche neben sämtlichen Texten Hartmanns auch Übersetzungen nachweist, und zum anderen die Dokumentation der von Hartmann gehaltenen bzw. angekündigten Vorlesungen. Das Protokoll erweist sich somit in der editorischen Behandlung und Erforschung als eine eigene Textgattung, die einer Definition bedarf, die über das Moment der Verschriftlichung von Sprachbeiträgen hinausgeht, um die wesentlichen Momente der Herausstellung des Gesprochenen aus seiner Flüchtigkeit und der Bereitstellung für anknüpfende Diskurse, dessen soziale Funktion u. a. zu fassen. Die sind die Momente, die gerade für das rechte Verständnis der Protokolle zu Hartmanns Cirkeln unerlässlich sind. Damit leistet das Projekt Cirkelprotokolle neben der Bereitstellung der edierten Protokolle einen darüber hinausgehenden editionswissenschaftlichen Beitrag zur Edition von Seminarprotokollen, die auch außerhalb der Hartmannforschung weiten Feldern kommender Untersuchungen Nutzen verspricht. Abstract Minutes of philosophical discussions as held by Nicolai Hartmann and his disciples deserve a special editorial treatment in order to take into account of its unique intentions and implications. Such minutes are not only a written form of a fugitive verbal communication but also act as a pillar for further discussion. The project Nicolai Hartmann, Cirkelprotokolle 1920–1950 longs to contribute to valuable information towards the understanding of Hartmann’s Works as well as to the editorial standards in general.

Dirk Braunstein

Autorschaft, Authentizität und Editionspraxis bei Seminarprotokollen Viele Fragen und einige Antworten

1. Unterschiedliche Textsorten stellen unterschiedliche editionsphilologische Anforderungen: Die Edition ‚belletristischer‘ Literatur hat vielfach anders vorzugehen als die von Wissenschaftsliteratur, und auch innerhalb dieser legen unterschiedliche Textsorten unterschiedliche Verfahrensweisen nahe, sie dem Lesepublikum zugänglich zu machen: veröffentlichte Werke zu Lebzeiten werfen zuweilen andere Probleme auf als nachgelassene Schriften, Kolleg- oder Vorlesungsmitschriften wiederum andere als Nachschriften.1 Neben der Ausrichtung an immanenten Erfordernissen, die die Gattung selbst an die Editoren richtet, stellt sich zudem häufig die Frage, ob – und, wenn ja, wie – jene Gattung als Teil eines Werkzusammenhangs herauszugeben ist.2 Dass die Textsorte Seminarprotokolle ihre eigenen Probleme und editionsphilologischen Anforderungen aufwirft, ist entsprechend also zunächst ganz trivial; um einer Lösung dieser Probleme näherzukommen, empfiehlt es sich, eine grundsätzliche Frage zu stellen, die ihrerseits aus drei Teilen besteht: Was wird, zu welchem Zweck, wie ediert? Zur annäherungsweisen Beantwortung dieser Fragen bietet sich die Diskussion des editionsphilologischen Begriffs der Authentizität an. Es wird sich – dies sei vorweggenommen – zeigen, dass er einerseits, so wie er bislang verwendet wird, für die Bewertung und Legitimation von Editionen von Seminarprotokollen nicht taugt, andererseits verdeutlicht diese Tatsache seine generelle Beschränktheit und kann, so steht zumindest zu hoffen, als modifizierter für eine umfassendere Gruppe von Textsorten fruchtbar gemacht werden, unter die auch Seminarprotokolle fallen. Das Editionsvorhaben, auf das sich die folgenden Überlegungen exemplarisch beziehen, wurde bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt,3 hier nur so viel: Seit –––––––— 1 Zur philologischen Unterscheidung von Nachschriften von Mit-, Rein- und anderen Schriften, die Lehrinhalte in eine Textform übertragen wollen, vgl. Werner Stark: quaestiones in terminis. Überlegungen und Fakten zum Nachschreibewesen im universitären Lehrbetrieb des 18. Jahrhunderts. Aus den Präliminarien einer Untersuchung zu Kants Vorlesungen. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Hg. v. Martin Stern unter Mitarbeit v. Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beiheft zu editio. 1), S. 90–99; zu der von ‚Vorlesungsmanuskript‘ und Nachschrift Walter Jaeschke: Manuskript und Nachschrift. Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen. In: Dass., S. 82–89. 2 Niklas Hebing diskutiert die Möglichkeit, Nachschriften der Ästhetik-Vorlesungen Hegels innerhalb der historisch-kritischen Gesamtausgabe Hegels herauszugeben; vgl. Niklas Hebing: Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesung. Ein Forschungsbericht zwischen Werkstattreferat und Editionstheorie. In: Textrevisionen. Hg. v. Wernfried Hofmeister u. Andrea Hofmeister-Winter unter redaktioneller Mitarbeit v. Astrid Böhm. Berlin, Boston 2017 (Beihefte zu editio Bd. 41), S. 337–349. 3 Vgl. Dirk Braunstein: Wahrheit und Katastrophe. Texte zu Adorno. Bielefeld 2018, S. 201–223.

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2014 wird mit finanzieller Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main das Projekt „Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Edition und Publikation der Gesammelten Sitzungsprotokolle 1949–1969“ bearbeitet. Ihm zugrunde liegen 476 Sitzungsprotokolle aus 57 Seminaren, die auf Adornos Veranlassung hin angefertigt wurden: In jeder Seminarstunde hatte ein Student oder eine Studentin das Protokoll zu führen, das meist in der folgenden Sitzung verlesen wurde, um den Anschluss an die stattgehabte Diskussion wiederherzustellen. Rolf Tiedemann, Schüler Adornos und nachmaliger Herausgeber seiner Schriften (sowie, gemeinsam mit Hermann Schweppenhäuser, derjenigen Walter Benjamins), berichtet vom Auswahlprozedere: „Das Seminar begann stets mit der Verlesung des Protokolls der vorigen Sitzung, das in der Regel auch den Ausgangspunkt für die Diskussion bildete. Weil die Sitzungsprotokolle scharfer Kritik der Seminarleiter, aber auch von den übrigen Teilnehmern, unterzogen wurden, war es nicht selten schwierig, Studenten zu finden, die bereit waren, das der aktuellen Sitzung zu unternehmen. In diesem Fall, und nur in ihm allein, griff Adorno dann auch einmal zur autoritären Bestimmung des Protokollanten.“4 Nun ergeben sich im Umgang mit Seminarprotokollen teilweise ähnliche Probleme wie bei Vorlesungsnachschriften, „insbesondere, wenn diese Nachschriften die einzigen überlieferten Textzeugen sind. Wer sich in ein Verhältnis zu ihnen setzt, muss sich vor Augen führen, es nicht mit vom Urheber autorisierten Texten zu tun zu haben, sondern mit Aufzeichnungen anderer.“5 Weder die Edition von Vorlesungsmitschriften oder Vorlesungsnachschriften noch die von Seminarprotokollen will „einen u. U. vergessenen Text oder ein Werk im jeweiligen zeitgeschichtlichen Gedächtnis positionieren oder repositionieren“,6 sondern bislang Unbekanntes zum ersten Mal einer Öffentlichkeit vorlegen, mithin das als ‚Werk‘ präsentieren, was nie Werk sein sollte und wollte. Walter Jaeschke hat sich entsprechend zum Problem der Autorisation geäußert: Sie sei „ein weiches Medium, in das sich mancherlei Zwecke einbilden lassen. Heute veröffentlicht man Vorlesungen Adornos nach Tonbandmitschnitten und räumt zugleich ein, der Autor hätte diese Veröffentlichung ‚fraglos‘ nicht autorisiert – doch da sie nicht als Raubdruck, sondern im Rahmen einer Werkausgabe erfolgt“ – nämlich als Teil der Nachgelassenen Schriften Adornos – „muß sie doch wohl von den Inhabern der Rechte autorisiert sein – wenn auch im Widerspruch zum unterstellten Willen des Autors. – […] Der Editor also als gewissenloser Scherge der Kulturindustrie? Dies ist nicht auszuschließen, und deshalb sind solche Bedenken sehr ernst zu nehmen. Sie haben jedoch – wie gerade dieser Fall eindeutig zeigt – nichts mit dem Problem der Autorisation zu tun.“7 Nun aber ausgerechnet Rolf Tiedemann – er ist jenes „man“, das die Veröffentlichung der Vorlesungen Adornos –––––––— 4 Rolf Tiedemann: Adorno und Benjamin noch einmal. Erinnerungen, Begleitworte, Polemiken. München 2011, S. 30. 5 Hebing 2017 (Anm. 2), S. 339. 6 Bodo Plachta und H. T. M. van Vliet: Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Editionen und Institutionen. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. v. Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet u. Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 14f. 7 Walter Jaeschke: Auctor und Autor. In: editio 16 (2002), S. 18, Anm.

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maßgeblich initiierte – dem man Mangel an Takt und Loyalität schwerlich wird vorwerfen können, eine wie immer geartete Nähe zur Gewissenlosigkeit und zur Kulturindustrie zu bescheinigen, ist einigermaßen absurd, zumal er die Gründe für die Entscheidung selbst ausdrücklich offenlegt: „Fraglos hätte Adorno der posthumen Publikation der Vorlesungen sein Einverständnis verweigert. […] Wenn das Theodor W. Adorno Archiv dennoch inzwischen begonnen hat, die erhaltenen Vorlesungen Adornos herauszugeben, so rechtfertigt deren sachliche Bedeutung das Editionsvorhaben. Es muß jedoch von dem nachdrücklichen Appell an die Leser begleitet sein, keinen Augenblick vergessen zu wollen, daß man keinen Text Adornos vor sich hat, sondern das Protokoll einer Rede, die der Redner der Vergessenheit zu widmen gedachte.“8 2. Ähnlich, freilich nicht genau so, verhält es sich mit den Seminarprotokollen. Wer sich mit Seminarprotokollen beschäftigt, sieht sich mit der Frage konfrontiert, womit er sich da eigentlich beschäftigt. Eine Theorie der Seminarprotokolle als wissenschaftlicher Textsorte gibt es (noch) nicht. Zwar soll, kurzum, hier der pragmatischen Frage nachgegangen werden, wie eine Sammlung jener Protokolle sinnvoll zu edieren sei; aber einige Überlegungen, wie derlei Seminarprotokolle wissenschaftsliterarisch einzuordnen sind, sind schon deshalb geboten, weil jene Frage sich kaum ohne Aufklärung darüber beantworten lässt, welchem wissenschaftlichen Kontext die Textsorte eigentlich entstammt. „Literatur wird fast immer verfaßt, um einem wie auch immer gearteten Publikum etwas zu vermitteln, etwa: Unterhaltung (was oft vergessen wird), Belehrung, Selbstbestätigung, Irritation etc.“9 Ausgehend von dieser nur scheinbar trivialen Feststellung lassen sich mehrere Funktionen ausmachen, die für die Entstehung der Protokolle aus den Seminaren Adornos relevant waren: Die eine ist die bereits genannte, einen roten Faden durch das jeweilige Seminar zu spinnen; eine andere womöglich die, die Protokolle selbst, zumindest teilweise, zur Grundlage des Seminars zu machen: Wie aus mehreren Protokollen hervorgeht, beschäftigen sich die stattgehabten Diskussionen ihrerseits mit den verlesenen Protokollen der vorhergegangenen Sitzung. Darüber hinaus kann die obligatorische Verpflichtung der Teilnehmer durch den Seminarleiter, jeweils ein Sitzungsprotokoll zu verfassen und in der kommenden Sitzung zu verlesen, als Lehrmethode aufgefaßt werden; und schließlich signalisiert das Protokollierenlassen das Ernstnehmen der eigenen Lehrtätigkeit sowie der Diskussionsfähigkeit der Studenten. Dazu gehört, daß sich Adorno einige Protokolle derart zu eigen gemacht hat, dass er sie „als Gedächtnisstütze für sich benutzte, um das, was er auch im Seminar mit den Studenten erarbeitete, später –––––––— 8 Rolf Tiedemann: Editorisches Nachwort. In: Theodor W. Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1959). Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1995 (Adorno Nachgelassene Schriften Bd. IV.4), S. 418. 9 Ulrich Müller: Der mittelalterliche Autor. Eine (postmoderne) Mischung aus Lazarus, Proteus und Medusa? – oder: Autorisation und Authentizität: Mittelalterliche Liebeslyrik als Erlebnislyrik? In: Autor – Autorisation – Authentizität. Hg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio Bd. 21), S. 87.

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umzuformen und in sein Werk zu übernehmen.“10 – Die Liste ist gewiss unvollständig. 3. Die Kategorie der Autorschaft ist dem Vorhaben, Seminarprotokolle aus einem bestimmten Kontext zu edieren, in erster Instanz vollkommen äußerlich. Es mag erfreulich (vielleicht aber auch einer unvoreingenommenen Rezeption abträglich) sein, wenn sich unter den Verfasserinnen und Verfassern der Protokolle bekannte Namen finden; ein Kriterium ist es aber nicht, weder für die Entscheidung zur Edition noch für die Editionspraxis. Insofern fordern die Seminarprotokolle als Korpus, das Produkt einer Kollektivarbeit ist, von sich aus einen stärkeren Bezug auf die „Faktizität der Texte“,11 wie sie Herbert Kraft angemahnt hat,12 so dass auch das „Kriterium für die Authentizität“ nicht notwendig „an den Nachweis gebunden“ bleibt, „inwieweit der Autor tatsächlich an der entsprechenden Fassung mitarbeitete bzw. sie billigte – wie es ehedem für die ‚Autorisation‘ formuliert wurde.“13 Der Autor als solcher ist zwar gewiss nicht tot, aber er ist, etwa bei manchen der Sitzungsprotokolle aus Adornos Seminaren, häufig unbekannt – was bedauerlich für den just daran interessierten Rezipienten sein mag, für die Edition aber insofern keine Rolle spielt, als der Text von unbekannter Hand nun einmal vorliegt und, da es um die Edition aller aufgefundenen Protokolle geht, weder ‚authentischer‘ noch ‚unauthentischer‘ dadurch wird, dass der Autor bzw. die Autorin oder jemand anders dessen oder deren Namen vermerkte. Die Texte sind als Texte da, ihre Authentizität dahingehend anzuzweifeln, sie seien womöglich nicht das, was sie scheinen, nämlich jeweils die von Adorno geforderten Protokolle der jeweiligen Seminarsitzungen, ist angesichts ihrer entsprechenden Verortungen in den Archiven, ihrer Kennzeichnung als Protokolle sowie ihrer Inhalte unsinnig.14 Ein Beispiel von Gunter Martens, in dem er auf die „beiden noch zu Lebzeiten Büchners erschienenen Drucke“ von Dantons Tod eingeht, zeigt zudem, wie problematisch der Zusammenhang von Autorschaft (mit anschließend möglicher Autorisation) und Authentizität insgesamt ist. Jene Drucke nämlich „sind zwar mit Zustimmung des Autors zustande gekommen, bieten aber durch drastische, der drohenden Zensur vorgreifende Eingriffe […] nicht die originale Textgestalt des Dramas, sind also, da es hier um den Text des Autors Georg Büchner geht, nicht au–––––––— 10 Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 222, Anm. 11 Herbert Kraft: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1982 (Zeitschrift für deutsche Philologie 101, Sonderheft), S. 5. 12 Um sie, wie Rüdiger Nutt-Kofoth zeigte, im nächsten Schritt selbst wieder abzuschwächen und so um ihr Bestes zu bringen; vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Nutt-Kofoth, Plachta, van Vliet und Zwerschina (Hg.) 2000 (Anm. 6), S. 176f. 13 Ebd., S. 178. 14 Die Protokolle aus Adornos Seminaren finden sich im Archivzentrum der Universitätsbibliothek, im Universitätsarchiv, im Theodor W. Adorno Archiv sowie im Archiv des Instituts für Sozialforschung (sämtlich in Frankfurt am Main).

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thentisch.“15 Dann wäre Authentizität also abhängig davon, ‚worum es geht‘; also etwa dem Herausgeber oder dem Leser. Ginge es um die beiden Druckfassungen, wären sie offenbar als authentisch zu erachten. In Bezug auf die Autorenschaft wäre es womöglich dann noch authentischer, wenn nicht nur der Name Büchners, sondern auch noch der des Zensors als Co-Autor genannt würde, immerhin hat er am publizierten Text mitgewirkt und ihn vor allem autorisiert. Die Frage wäre entsprechend, ‚geht es‘ um die Drucke zu Lebzeiten oder um Büchner und was er zu Lebzeiten hat drucken können? Es empfiehlt sich nicht lediglich die Lösung einer „allzu engen Bindung der Authentizität an die Person des Autors“,16 sondern deren vollständige Auflösung. „Von der Autorisation ist kein editorisches Heil zu erwarten; die Qualität einer Edition ist keine Folge ihrer etwaigen Autorisation – eher steht das Gegenteil zu befürchten“,17 schreibt Jaeschke, und er fügt hinzu: „Der editionsphilologische Begriff der Autorisierung ist der weiße und weite Mantel, unter dem das bereits emeritierte Gespenst der Autorintention unerkannt sein Unwesen weiterhin zu treiben sucht. Zwar wird niemand dem Autor seine Intentionen absprechen wollen – aber wenn der Autor sich nicht ausdrücklich über einen Sachverhalt erklärt, ist die Autorintention stets eine nur sekundäre, aus dem Text abgeleitete und deshalb überflüssige Größe, die einem editorischen Schattenreich angehört. Ein Text ist zu edieren, weil er vom Autor geschrieben ist und weil er für wichtig gehalten wird. Wenn er in früheren und späteren Fassungen vorliegt, so ist der Editor keineswegs verpflichtet, die spätere zu edieren, weil die spätere Autorintention die frühere aufhöbe. Und ein Fehler ist nicht deshalb zu emendieren, weil er der Autorintention widerspräche, sondern weil er ein Fehler ist. Und nur weil er ein Fehler ist, erschließen wir sekundär, daß er der Autorintention widerspreche.“18 Was auf den ersten Blick als recht radikal anmutet, ist auf den zweiten nicht radikal genug. Ein Beispiel aus eigener Produktion – aus eigener Fehlerproduktion zumal – mag das Gemeinte verdeutlichen. In der Einleitung einer Sammlung vormals bereits veröffentlichter Texte hatte ich im von mir verantworteten und selbstgesetzten Druck geschrieben: „Der Verfasser hat es sich im übrigen versagt, die Beiträge nach Möglichkeit auf einen ‚heutigen Stand‘ zu bringen, wenngleich dies bei manchen Texten durchaus nahegelegen hätte. Nach Versuchen in diese Richtung wurde unmißverständlich deutlich, daß vieles stark hätte erweitert oder besser noch völlig überarbeitet werden müssen, ein Vorgehen, daß der Idee einer Sammlung bereits veröffentlichter Schriften offenkundig entgegensteht.“19 Das erste ‚dass‘ des zweiten Satzes ist noch korrekt, das zweite hingegen schon nicht mehr. Mein als ‚authentisch‘ vermeinter Wille war es schon, an dieser Stelle ‚dass‘ zu schreiben, mein Wille war es –––––––— 15 Gunter Martens: Autor – Autorisation – Authentizität. Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie. In: Bein, Nutt-Kofoth, Plachta (Hg.) 2004 (Anm. 9), S. 42f. 16 Gunter Martens: Vom kritischen Geschäft des Editionsphilologen. Thesen zu einem weiter gefaßten Begriff der Textkritik. In: editio 19 (2005), S. 18. 17 Jaeschke 2002 (Anm. 7), S. 18. 18 Ebd., S. 19. 19 Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 12.

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jedoch nicht, einen Fehler zu begehen. Da sich später herausstellte, dass ich in meiner Vorlage korrekt ‚das‘ geschrieben hatte, durfte ich die Vorstellung von mir als authentizitätsfähigem Autor über Bord werfen, um hier und jetzt immerhin gegen eine Psychologisierung editionsphilologischer Kategorien zu votieren. Wo der Autor mit sich selbst nicht authentisch ist, wird deutlich, dass es sich bei ‚Authentizität‘ „nicht um eine Eigenschaft handelt, die einem Text zukommt“, wie Martens zu Recht sagt, um dann allerdings zu erklären: „Es ist vielmehr die Sicht des Editors, der die Übereinstimmung mit dem Original anstrebt und sie entsprechend feststellt.“20 Damit ist das Problem verschoben, aber nicht beseitigt. Erklärungsbedürftig bleibt, was eine ‚Übereinstimmung‘ wäre und weshalb sie prinzipiell als erstrebenswert vorausgesetzt wird. Jost Schillemeit beschreibt die Editionspraxis der historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher Goethes: „Bemerkenswert schließlich auch die gleichfalls ‚diplomatische‘ – oder doch weithin ‚diplomatische‘ – Wiedergabe der graphischen Anordnung der Tagebucheintragungen, namentlich der Absatzgestaltung: wo die Eintragungen in der Handschrift fortlaufend, ohne Absatz, geschrieben sind (wie häufig der Fall), werden sie auch hier fortlaufend wiedergegeben und umgekehrt – was insgesamt, schon auf den ersten Blick, ein sehr viel ‚authentischeres‘, ‚wirklichkeitsnäheres‘, ‚realistischeres‘ Erscheinungsbild dieser Aufzeichnungen ergibt.“21 Hier wäre also Authentizität skalierbar, beschränkte sich aber aufs ‚Erscheinungsbild‘, das eine ‚Übereinstimmung‘ mit der Vorlage herstellen soll. Vollends diffus wird der Begriff, wenn die Editionsrichtlinien der Marx-Engels-Gesamtausgabe vermelden, „Originalfotos oder zeitgenössische Zeichnungen, die Marx/Engels darstellen, sowie andere authentische Bildzeugnisse (Wohn- und Wirkungsstätten, Familienangehörige, Freunde und Mitarbeiter, zeitgenössische Karikaturen u. ä.“ würden ebenfalls in die MEGA² aufgenommen.22 Die Feststellung der Bildzeugnisse als ‚authentisch‘ ist nicht anders als durch die Editoren vollzogen denkbar, die eine Übereinstimmung zwischen Bild und dessen Zeugnischarakter attestieren müssen – wovon auch immer das Bild, gleichwie jeglicher Text, Zeugnis ablegen mag, außer seinem So-Sein. 4. Der Begriff der Authentizität entspringt einem ontologischen Bedürfnis nach einer ‚Echtheit‘, die sich innerhalb der Editionsphilologie zuweilen als Forderung nach Identität ausdrückt, auch wenn nicht stets klar ist, ob sie sich zwischen der Vorlage und der Edition (und dann wiederum, ob in inhaltlich-textlicher Hinsicht oder mit Blick aufs Erscheinungsbild oder beides) oder aber psychologisch zwischen vermeinten Intentionen und deren Nachvollzug bzw. Abbildung einzustellen hätte. Band 21 der Georg-Simmel-Gesamtausgabe etwa bietet die Texte zweier Kolleghefte Simmels sowie 26 Mit- und Nachschriften seiner „Vorlesungen, Übungen und –––––––— 20 Martens 2004 (Anm. 15), S. 43f. 21 Jost Schillemeit: Goethes Tagebücher, historisch-kritisch und kommentiert. Zu einem Editionsvorhaben der Stiftung Weimarer Klassik. In: editio 10 (1996), S. 70f. 22 Internationale Marx-Engels-Stiftung Amsterdam: Editionsrichtlinien der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1993, S. 21.

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Privatissima“, ohne dieses Vorgehen weiter zu rechtfertigen oder den Begriff der Authentizität zu bemühen oder gar zu problematisieren. Jene Texte werden als ‚Ergänzung‘ betrachtet, welche das Gesamtwerk insofern vervollständigten, als sie „sowohl Vorarbeiten und Rückgriffe auf von Simmel publizierte Schriften erkennbar machen wie auch in solche nicht eingegangene Überlegungen enthalten.“23 Das heißt, die Texte stehen zu einem Teil in Verbindung mit Simmels veröffentlichtem Werk, zum anderen Teil nicht, was sich über jeden denkbaren Text aussagen lässt. Kurzum, die nicht diskutierte Entscheidung, die Sammlung, so wie sie vorliegt, herauszugeben, wird sich wohl einerseits dem Interesse an Simmel als wissenschaftlicher Persönlichkeit verdanken, andererseits der Ahnung, die Mit- und Nachschriften sagten, welchen Anspruch an Authentizität man auch immer an sie stellen mag, etwas über die tatsächlich stattgehabten „Vorlesungen, Übungen und Privatissima“ aus, wenngleich jene zweifelsfrei nicht von Simmel autorisiert sind. Ein engerer Authentizitätsbegriff könnte fordern, dass die Protokolle den Verlauf einer Seminarsitzung wie auch immer adäquat wiedergeben. An anderer Stelle haben wir bereits eine Äußerung zitiert, die sich zwar auf Vorlesungsmitschriften Hegels und deren Edition im Rahmen dessen historisch-kritischen Gesammelten Schriften bezieht, die aber zugleich als paradigmatisch für die Einordnung und Behandlung jener schwierigen wissenschaftsliterarischen Gattung scheint: „Die Authentizität muss auf jeden Fall geprüft werden, da es gilt, Hegels Logik zu edieren und nicht die Gedanken der Nachschreiber zur Logik. So muss die Hegelsche Vorlesung selbst als Maßstab für den zu edierenden Text gelten.“24 Unsere Entgegnung bleibt bestehen: „Was in Hinblick auf die Wiedergabe von Vorlesungen immerhin diskutabel erscheint – wenngleich nicht recht ersichtlich ist, nach welchen Kriterien der Inhalt der faktisch gehaltenen Vorlesung von der Mitschrift zu unterscheiden wäre, wenn die doch der einzige Überlieferungszeuge ist –, erweist sich angesichts von Seminarprotokollen als vollends unzureichende Bestimmung von Material und dessen Edition.“25 Die Sitzungsprotokolle (die meisten sind eine Mischung aus Verlaufs- und Ergebnisprotokoll) bilden ganz gewiss nicht den Seminarverlauf ab, das war auch nicht deren Intention. Noch weniger allerdings kann mit ihnen ‚Adorno ediert‘ werden, einfach weil kein ‚Adorno‘ vorliegt – eine Handvoll Ausnahmen, in denen er zitiert wird (ob angeblich oder tatsächlich wörtlich, ist, siehe oben, eben unmöglich zu eruieren), bestätigen die Regel. Etwas wie Authentizität haben die überlieferten Sitzungsprotokolle aus Adornos Seminaren insofern, als sie eben dies sind. Sie zu edieren und herauszugeben ist jedoch eine Entscheidung des Herausgebers, der sich keinesfalls etwa auf den Willen des Seminarleiters oder der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser berufen kann. Diese waren lediglich damit einverstanden, das Protokoll zu verfassen, es gegebenen–––––––— 23 Angela Rammstedt und Cécile Rol: Editorischer Bericht. In: Georg Simmel: Kolleghefte, Mit- und Nachschriften. Bearbeitet u. hg. von Angela Rammstedt und Cécile Rol. Berlin 2010 (Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 21), S. 1012. 24 Annette Sell: Das Problem der Authentizität von Nachschriften zu Hegels Vorlesungen über Logik und Metaphysik. In: Bein, Nutt-Kofoth, Plachta (Hg.) 2004 (Anm. 9), S. 258. 25 Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 266.

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falls in der nächsten Sitzung zu verlesen und es anschließend der Seminarleitung zu überlassen. Wenn, wie vorgeschlagen, Authentizität von Seminarprotokollen ernstgenommen wird, so verbürgt erst die Tatsache, dass sie niemals zur Publikation vorgesehen waren – geschweige denn, deshalb geschrieben wurden – deren Authentizität: als Protokolle, die dem Seminarzusammenhang immanent sind und frei vom Blick auf eine Außenwirkung angefertigt wurden. 5. Gegen eine historisch-kritische Edition der Sitzungsprotokolle spricht nicht nur die Tatsache, dass sie material ausschließlich als Reinschriften vorliegen (gelegentlich mit maschinen-, manchmal aber auch handschriftlichen Sofortkorrekturen; den Text vor dem Korrekturgang in einem Variantenverzeichnis zu bringen, hieße nichts weiter, als die Tippfehler der Verfasserinnen und Verfasser den Rezipienten weiterzureichen, ohne dass mehr Informationen mitgeteilt würden, als dass teilweise eine gewisse Ungeübtheit im Schreibmaschinenschreiben bestand). Die historisch-kritische Edition von Heideggers Schelling-Seminar26 zeigt zudem, wie sehr eine solche Vorgehensweise an jeglichem Rezeptionsbedürfnis vorbeiediert, dem es schwerlich darum gehen dürfte, dem Prozess der Texterstellung zu folgen angesichts von Protokollen, deren Verfasser nun einmal nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen (oder schlicht nicht mehr zu ermitteln sind), dafür aber eben Heideggers Schelling-Seminar: Dies ist der Prozess, deren überliefertes Resultat die Protokolle sind; und sie sind als Zeugnisse dieses Prozesses zu edieren.27 Diskussionen für und wider historischkritische Editionen scheinen dementsprechend nur dann sinnvoll, wenn man von einem Autor ausgehen kann, dessen Werk, sei es das ‚Gesamtwerk‘ oder ein Teil desselben, ediert werden soll.28 Ein anderer Fall ergäbe sich bei einer Gesamtausgabe der Schriften Hans-Jürgen Krahls etwa, der, ein beliebiges Beispiel, ein Sitzungsprotokoll in Adornos philosophischem Seminar „Begriff der Negation“ vom 3. Februar 1966 angefertigt hat.29 Entschiede man sich für die Veranstaltung einer Gesamtausgabe Krahl, so hätte sie „auch dessen Sitzungsprotokoll aus dem Seminar Adornos aufzunehmen.“30 Geschähe dies schließlich im Rahmen einer historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Krahls, –––––––— 26 Vgl. Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings „Freiheitsschrift“ (1927/28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006. Lektüren F. W. J. Schellings Bd. 1. Hg. v. Lore Hühn u. Jörg Jantzen. Stuttgart 2010; vgl. Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 270f. 27 Bei Textvarianten oder gar bei verschiedenen Fassungen müssen Editoren zwar: „entscheiden und begründen, welcher der meist mehrfach zu einem Werk vorliegenden Texte zu edieren sei.“ (Zwerschina [Hg.] 2000 [Anm. 6], S. 203) – Dieses Problem stellt sich bei den hier verhandelten Sitzungsprotokollen aber nicht: In aller Regel liegt jeweils ein Text zu einer Seminarsitzung vor; bei einigen wenigen Texten finden sich, ungeklärt weshalb, Doubletten, bei denen es sich um Durchschläge handelt, in die ebenfalls alle entsprechenden Sofortkorrekturen eingetragen sind. 28 Bereits bei zwei Autoren ergeben sich andere praktische Schwierigkeiten und Legitimationsprobleme, wie Richard Sperl an der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe vorführt; vgl. Richard Sperl: „Edition auf hohem Niveau“. Zu den Grundsätzen der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Hamburg: 2004 (Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition, Wissenschaftliche Mitteilungen 5), S. 13–33. 29 Das Protokoll findet sich bereits veröffentlicht in Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 258–263. 30 Braunstein 2018 (Anm. 3), S. 268.

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wäre der Text selbstverständlich auch historisch-kritisch zu edieren, weil nicht das Protokoll als Zeugnis der Tätigkeit eines anderen im Zentrum des Interesses stünde, sondern der Autor des Protokolls selber. – Dieses Gedankenspiel führt vor Augen, wie sehr die Editionspraxis an der Funktion dessen orientiert ist, was sie ediert: Das entsprechende Protokoll wäre nun nicht länger Teil eines Kontexts, den es selbst erst mit erzeugt, sondern ein Solitär innerhalb der Schriften Krahls. Wenn bemerkt wird, „daß der Gegenstand einer Edition nicht selbstverständlich gegeben sei, sondern daß es zu ihren grundlegenden Aufgaben gehöre, diesen Gegenstand, das ‚Edendum‘, allererst zu definieren“,31 so ist hinzuzufügen, dass der Gegenstand eben zugleich die Edition bestimmt. Der Editor hat es eben nicht zu tun „lediglich mit seinem eigenen Willen, der sich auf an sich rechtloses Material, auf Sachen richtet“;32 es verhält sich genau andersherum: Dem Material wäre erst zu seinem Recht zu verhelfen. Nach der einmal getroffenen Entscheidung, es zu publizieren, sollte es in eine Form gebracht werden, die eine angemessene Rezipierbarkeit gewährleistet. Dazu wäre eine weitere Frage auf Grundlage des jeweiligen Materials zu beantworten, nämlich die nach der Angemessenheit. Ob sie sich dann stets einfach „gemäß den Standards der Editionswissenschaft“33 dingfest machen lässt, wäre angesichts von Textsorten, die noch längst nicht kanonisiert sind, ebenso füglich zu bezweifeln wie die Annahme, Wissenschaft sei zur Erarbeitung etwelcher Standards da. 6. Eine sinnvolle – weil zu beantwortende – Frage nach der Authentizität ließe sich erst anhand der Edition stellen. Ausgehend von der Frage, was die Edition einerseits leisten soll und welche Erwartungen die Rezipienten andererseits an sie stellen, kann (und sollte) darüber diskutiert werden, welchen Nutzen die Edition der Seminarprotokolle haben kann und welche Grenzen sie hat. Natürlich wird es in der Hauptsache das Interesse an Adorno sein, das die Leser zur Rezeption der Seminarprotokolle bewegen wird, an seiner Lehrtätigkeit, dem Umgang mit den Studenten, womöglich auch an seiner Person, hoffentlich auch an der Kritischen Theorie. Gerade deshalb ist es die Aufgabe des Herausgebers, darauf hinzuweisen, dass es sich, wie bereits gesagt, an keiner Stelle in der Weise um ‚Adorno‘ handelt wie bei seinen Schriften inklusive der nicht-autorisierten Vorlesungen innerhalb der Nachgelassenen Schriften: Adorno hat die Sitzungsprotokolle nicht nur nicht autorisiert, er hätte auch nicht die Autorität dazu gehabt, geschweige denn eine Autorschaft. Aus diesem Grund ist die Kommentierung möglichst ‚positivistisch‘ zu halten, um die Rezeptionslenkung zu minimieren. Umfassendere interpretative Anmerkungen, wie sie etwa bei den Nachgelassenen Schriften Adornos nicht unüblich sind, liefen an dieser Stelle Gefahr, den Lesern zu signalisieren, das, was sie interpretieren, sei gewiss seinerzeit Inhalt des Seminars gewesen – und nicht einfach ein Textabschnitt, dem sich die Forschung zuwenden, der aber den Editor –––––––— 31 Walter Jaeschke: Eine neue Phase der Hegel-Edition. In: Hegel-Studien 36 (2001), S. 29. 32 Jaeschke 2002 (Anm. 7), S. 22. 33 Ebd., S. 22.

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nicht zu einem Narrativ inspirieren sollte, das den Protokollen als Texten äußerlich ist. Dennoch ist es unzweifelhaft der Name Adornos, der nicht nur für die Rezipienten im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern das Editionsprojekt zuallererst initiiert hat. Vom wissenschaftlichen Interesse des Bearbeiters an dem, was sich mit dem Namen Adornos verbinden mag, über das der Leitung des Instituts für Sozialforschung, das Vorhaben ebendort anzusiedeln, bis hin schließlich zur Bereitschaft der Drittmittelgeber, das Projekt zu finanzieren: Es wäre abwegig, davon auszugehen, allein ein wissenschaftliches Interesse an den Texten (etwa als Suche nach deren immanenter Wahrheit) sei Garantin für die Durchführung einer solchen Edition von Seminarprotokollen. Offenkundig müssen mehrere Faktoren aufeinandertreffen, damit derlei überhaupt in Angriff genommen werden kann. Weder Autorschaft noch ein wie immer interpretierter Werkcharakter kann als synthetisierendes und begründendes Moment herangezogen werden, entscheidend ist ein komplexerer Zusammenhang, der seinerseits nicht beliebig reproduzierbar ist: Zunächst braucht es eine Person der Wissenschaftsgeschichte, der von der zeitgenössischen Forschung ein wie auch immer begründetes Interesse entgegengebracht wird. Die wiederum muss nicht nur, logischerweise, Seminare abgehalten, sondern sie darüber hinaus auch protokolliert lassen haben. Schließlich müssen Form und Inhalt jener Protokolle so beschaffen sein, dass sie, zumindest in größerem Zusammenhang, nach Einschätzung der beteiligten Akteure sowohl Lehre als auch die zugrundeliegende Theorie, besser noch zugleich deren Genese, zumindest teilweise abbilden. Dies setzt eine gewisse Anzahl von verfassten und noch erhaltenen Protokollen voraus, denn nicht jedes Protokoll muss (und wird) all jene Funktionen erfüllen, derentwegen Seminarprotokolle erst als veröffentlichungswürdig angesehen werden. Damit ist zugleich das Feld abgesteckt, auf dem sich die Rezeption jener Protokolle verantwortlich bewegen kann. Im glücklichsten Fall erschließt sich jenen Rezipienten, die nicht dabei gewesen sind, etwas von Inhalt und Verlauf der Seminare, von ihrer Lehr- und Lernsituation, die die Protokolle eben protokollieren sollten, obgleich sie strenggenommen weniger das Seminar selbst protokollieren als vielmehr das jeweilige Verständnis des Seminars. Einen Maßstab für eine Übereinstimmung zwischen damaligem Seminarverlauf und Protokolliertem gibt es nicht. 7. Abseits des Bedürfnisses nach Authentizität wären die Protokolle nicht mehr lediglich als Zeugnisse einer bestimmten stattgehabten Situation zu lesen, sondern sie wären darüber hinaus als wissenschaftliche Texte zu betrachten, denen entsprechend ein Anspruch auf Wahrheit innewohnt. Die Protokolle dienten so einerseits als Material zur Erforschung der Theoriegeschichte und wären andererseits als Teil der Theorie selbst zu begreifen. Referenzpunkt wäre dann nicht die jeweils stattgehabte Seminarstunde, sondern die Kritische Theorie Theodor W. Adornos. – Das aber ist Sache der anschließenden Forschung und nicht mehr die des Editors.

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Abstract Seminar minutes, regarded as a literary genre of scholarly texts, reveal the limitations of editorial and philological key concepts such as authorship, authorization, and authenticity. This article seeks to clarify that by reference to a particular editorial practice, namely, the edition of minutes that were kept in seminars held by Theodor W. Adorno. It will be seen that, on the one hand, the concepts of authorship and authorization no longer play an important part in that sort of editorial project and, on the other hand, the concept of authenticity must be understood quite differently if it is expected yet to serve as a philological criterion.

Bibliographie zur Edition von Kollegheften, Kollegnachschriften und Protokollen

Die folgende Liste ist im Internet unter der Adresse https://dgphil.de/ verbaende- undags/ ag- philosophischer- editionen/ bibliographie- zu- kollegheften- und- kollegnachschriften-als-editorischen-problemen/ abrufbar. Meldungen von Literatur, die hier vermisst wird, sind stets willkommen! Neben den editorischen Berichten zu den Editionen von Kant, Hegel, Schleiermacher, Schopenhauer, Schlegel, Lichtenberg, Schelling, Nietzsche, Alexander von Humboldt, Cassirer etc. sei vor allem verwiesen auf: 1826/2017 Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte. Bonn: T. Habicht 1826 (http://www.deutschestextarchiv.de/fischer_collegienhefte_1826 [2017]). 1969 Gerhard Lehmann: Einführung in Kants Vorlesungen. In: Ders.: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin 1969, S. 67–85. 1980 Kurt Hiller: Erfahrungen bei der Edition von Nachschriften. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), Heft 3, S. 64–66. Walter Jaeschke: Probleme der Edition der Nachschriften von Hegels Vorlesungen. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), Heft 3, S. 51–61. 1985 Werner Stark: Kant als akademischer Lehrer. In: Heinz Ischreyt (Hg.): Königsberg und Riga. Zentren der Aufklärung II. Tübingen: Niemeyer 1985 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. 16), S. 51–68. 1987/88 Ulrich Joost: Aus Vorlesungen Lichtenbergs. In: Einladung ins 18. Jahrhundert. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens. München: C. H. Beck 1988 [erschienen 1987], S. 129–148.

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Anschriften der Autorinnen und Autoren

Francisco Arenas-Dolz, Departament de Filosofia, Universitat de València, Av. Blasco Ibáñez 30, ES-46 010 Valencia [email protected] Christoph Binkelmann, Projekt „Schelling – Edition und Archiv“, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Alfons-Goppel-Str. 11, D-80 539 München [email protected] Jörn Bohr, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Philosophisches Seminar, Arbeitsbereich Kulturphilosophie und Ästhetik, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstr. 20, D-42 119 Wuppertal [email protected] Dirk Braunstein, Institut für Sozialforschung, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Senckenberganlage 26, D-60 325 Frankfurt/M. [email protected] Daniel Elon, Institut für Philosophie I, Hegel-Archiv, Ruhr-Universität Bochum, D-44 780 Bochum [email protected] Holger Glinka, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 54, D-06 110 Halle (Saale) [email protected] Frank Grunert, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 54, D-06 110 Halle (Saale) [email protected] Holden Kelm, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22/23, D-10 117 Berlin [email protected] Thomas Kessel, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Philosophisches Seminar, Arbeitsbereich Kulturphilosophie und Ästhetik, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstr. 20, D-42 119 Wuppertal [email protected]

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Anschriften

Johannes Korngiebel, Goethe- und Schiller-Archiv, Jenaer Str. 1, D-99 425 Weimar [email protected] Sophia Victoria Krebs, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Editions- und Dokumentwissenschaft, Gaußstr. 20, D-42 119 Wuppertal [email protected] Andrea Leubin, Rudolf Steiner Archiv, Rüttiweg 15, CH-4143 Dornach [email protected] Monika Philippi, Rudolf Steiner Archiv, Rüttiweg 15, CH-4143 Dornach [email protected] Ulrich Rummel, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Editions- und Dokumentwissenschaft, Gaußstr. 20, D-42 119 Wuppertal [email protected] Annette Sell, Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie I, Hegel-Archiv, D-44 780 Bochum [email protected] Werner Stark, Institut für Philosophie, Kant-Ausgabe (BBAW), Philipps-Universität Marburg, D-35 032 Marburg [email protected]