Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens: Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne [Reprint 2018 ed.] 9783110932577, 9783484350861

The book sets out to draw on the evidence about the creative approaches of authors documented in their manuscripts as a

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German Pages 122 [124] Year 2001

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Inhaltsverzeichnis
I. Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens
II. »Seelenspeise, die unsere Kräfte stärkt«: Die komplementäre Funktion des lauten Lesens gegenüber der stillen Lektüre
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens: Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne [Reprint 2018 ed.]
 9783110932577, 9783484350861

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 86

Klaus Hurlebusch

Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Gedruckt mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung Redaktion des Bandes: Georg Jäger

Für Juliane

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hurlebusch,

Klaus:

Klopstock, H a m a n n und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens : ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne / Klaus Hurlebusch. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 86) ISBN 3-484-35086-5

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Memminger Zeitung Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

I. Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens 1. Extrem entwickelte Spannung zwischen der Autor- und der Werkzentrik im neugermanistischen Literaturstudium 2. Auch Handschriften haben ihre Schicksale 3. Ein unzulänglich verstandener Vorklassiker 4. Wegbereiter der modernen autorbezüglichen Poesie 5. Der fragmentierend schreibende Dichter 6. Gegen den Systemgeist, für den schöpferisch sich erneuernden Autorgeist: Klopstock, Hamann, Herder 7. Göttlich lizensierte Subjektivierung: Ursprünglichkeit Organizität - energetische Selbsterfahrung 8. Die geteilte Muse der Moderne. Zweideutigkeit des Schaffensprozesses zwischen Autorzentrik und Werkzentrik . . 9. Die Kluft zwischen den vorherrschend selbstbezüglichen Autoren und den vorherrschend werkbezüglichen Philologen 10. Ende wissenschaftlichen Mißverstehens Beginn einer neuen Lektüre? 11. Der Sinn der textgenetischen Rekonstruktionsmethode II. »Seelenspeise, die unsere Kräfte stärkt«: Die komplementäre Funktion des lauten Lesens gegenüber der stillen Lektüre 1. Klopstock und seine Zürcher Verehrer 2. Franz Werfel und Max Brod 3. Stefan Zweig und »Das neue Pathos« Emile Verhaerens 4. Georg Heym und das »Neopathetische Cabaret« 1910-1911 . . . . 5. Die »Gruppe 47«: Das besondere Zeugnis der Spontankritik . . . . 6. Karl Kraus' Vorlesungen und seine Anhänger 7. Peter Rühmkorf: ein artistischer Dichter in seinem Widerspruch zwischen Esoterik und Agora 8. Ernst Jandl oder die artistische Befreiung von Sprache durch Dichtung Literaturverzeichnis Namenregister

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I. Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens

1. Extrem entwickelte Spannung zwischen der Autor- und der Werkzentrik im neugermanistischen Literaturstudium* Drey finger thuns (sagt man von Schreibern) Aber gantz leib und seel erbeiten dran M. Luther, Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle (1530) Solche Mühe hat Gott den Menschen gegeben! Goethe in Italien, vor der Umarbeitung des »Tasso« Bei ihm ging es so weit, daß es eigentlich kein Buch von ihm gibt. U m so aufregender ist alles, was er aufschrieb, geblieben. Elias Canetti, Das Geheimherz der Uhr, 1978 Von d e n zwei m ö g l i c h e n E r k e n n t n i s g e g e n s t ä n d e n d e s Literaturstudiums: A u t o r und W e r k liegt der Schwerpunkt in der Neugermanistik nach w i e vor auf d e m Werk. ( D e r Leser, der Dritte in der Dreifaltigkeit der Erkenntnisgegenstände, ist in Gestalt v o n R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e n d e n werkzentrischen Studien zuzuordnen.) Vorherrschend ist also das Studium v o n beharrenden, abgegrenzten und leicht überblickbaren Textgebilden und sekundär das Studium v o n Autoren, für die handschriftliche Z e u g n i s s e ihrer A r b e i t s w e i s e n oder Textgrundlagen in Form v o n Briefw e c h s e l n , Tagebüchern, N o t i z h e f t e n und Z e u g n i s s e n anderer P e r s o n e n erst erschlossen o d e r zusammengestellt w e r d e n müssen. D i e s e R a n g f o l g e beruht h e u t e nicht m e h r auf theoretischen, etwa werkästhetischen Gründen, sondern auf prakti-

* Der folgende Text ist aus einem Vortrag entstanden, dessen französische Fassung der Vf. am 16. Mai 1998 in der Ecole Normale Supérieure, Paris, im Rahmen eines Séminaire Général (»Pratiques d'écriture en occident: de l'Antiquité à la fin de l'Ancien Régime«) vorgetragen hat, das das Institut des Textes et Manuscrits Modernes (ITEM) des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) veranstaltete. Der Vortragstext ist enthalten in dem von Jean-Louis Lebrave und Almuth Grésillon herausgegebenen Sammelband Ecrire au XVlIe et XVlile siècles. Genèses de textes littéraires et philosophiques ( Textes et Manuscrits. Collection dirigée par Pierre-Marc Biasi et Daniel Ferrer.) Paris: CNRS Éditions 2000, S. 169-189. Die deutsche, stellenweise veränderte Fassung des Vortrages ist erschienen unter dem Titel So viel Anfangwar selten. Klopstock und die zeitgenössischen Genieästhetiker als Wegbereiter der literarischen Moderne als Beitrag zur Festschrift für Hans Joachim Kreutzer Resonanzen, hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl (Würzburg: Verlag Koenigshausen u. Neumann 2000, S. 61-82). Der Text wurde für diese Publikation überarbeitet und erheblich ergänzt. 1

sehen, arbeitsökonomischen Gründen. Werktexte sind unmittelbar verfügbar, in vielen Fällen auch preiswert zu erwerben, das dokumentierte äußere oder innere Leben eines Autors aber nicht. Selbst wenn diesbezügliche Zeugnisse ediert, vielleicht sogar zuverlässig ediert sind (Briefwechsel, Tagebücher, Notizhefte, Zeugnisse anderer u. ä.), ist der Arbeitsaufwand, den ihre Auswertung macht, in der Regel größer als das Studium von Werken und der Arbeitsgewinn vergleichsweise ungewiß. Für den hauptsächlich mit der Lehre befaßten Literaturwissenschaftler hat das autorzentrische Studium nur, wenn überhaupt, akzessorische Bedeutung. Anders für den forschenden Germanisten, dessen Gebiet die neuere deutschsprachige Literatur ist. Ein großer Teil der in diesem Bereich betriebenen Forschung im Sinne einer Quellenentdeckung und -erschließung dürfte autorzentrische Forschung sein. Sie hat mittlerweile die Entwicklungsstufe eigendynamischer Expansion erreicht, nicht zuletzt aufgrund der gerade in diesem Bereich der Literaturwissenschaft sinnvoll anwendbaren elektronischen Datenverarbeitung. Der besondere intellektuelle Reiz dieser Forschungsarbeit geht davon aus, daß hier die aktiven, konstruktiven und organisatorischen Kräfte von Wissenschaftlern ungleich besser zum Zuge kommen können als in dem überwiegend rezeptive Kapazitäten beanspruchenden werkzentrischen Studium. Bemühungen ζ. B. um eine Vereinheitlichung der editorischen Zeichenapparate und Darstellungsweisen scheiterten nicht zuletzt daran, daß individuelle technisch-kreative Begabungen ihr Betätigungsfeld in der neueren Editionsphilologie suchten, fanden und weiterhin finden, was von denjenigen, die die neuere Editionsphilologie nur von außen, also unzulänglich aus den fertigen kritischen Ausgaben kennen, verkannt oder mißbilligt wird. Paradigmatisch wird die autorzentrische Forschung im deutschen Sprachraum in der Editionsphilologie praktiziert, deren produktiver Anteil darin besteht, handschriftliche Texte, Entwürfe, Fassungen von Werken und sogenannte Egodokumente (Briefe, Tage- und Notizbücher u. ä.) in typographischen Transkriptionen für den Buchleser verfügbar zu machen. Seit längerer Zeit verstehen sich die Editionsphilologen nicht mehr als dienstbare Geister, als Handlanger der höheren Kritik, als »Lastesel des Parnasses« (Kant, Pädagogik). In einer neueren Einführung in die sogenannte Editionswissenschaft heißt es im Vorwort u. a.: Die Editionswissenschaft hat sich im Laufe der Zeit zu einer selbständigen philologischen Disziplin herausgebildet und eigene, manchmal sehr spezielle methodische und praktische Verfahren für die Edition von Texten entwickelt. 1

In Frankreich kommt das konstruktive Forschungsinteresse exemplarisch in der critique génétique zum Ausdruck. 2 Auch hier muß das werkgenetisch relevante hand1

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Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. (Universal-Bibliothek 17603). Stuttgart: Reclam 1997, S.8. Vgl. Almuth Grésillon: Elements de critique génétique. Lire les manuscrits modernes, Paris: Presses Universitaires de France 1994. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell überarbeitet von Almuth Grésillon (Arbeiten zur Editionswissenschaft Bd. 4). Bern: Peter Lang 1998. Rezen-

schriftliche Material lesbar gemacht, datiert und chronologisiert werden, bevor es genetisch gedeutet wird. Pointiert gesagt, besteht der besondere Reiz der autorzentrischen Forschung neben der Entdeckungsfreude am Unentdeckten vor allem in der Möglichkeit, Ordnung oder Umordnung im ungeordneten oder fehlerhaft geordneten überlieferten Material zu schaffen und dabei textliche Zusammenhänge herzustellen, die es vorher nicht gab, sei es in der Weise, daß publizierte Werkfassungen zusammen mit ihren handschriftlichen Vorstufen ediert werden oder ζ. B. Briefe eines Autors in chronologischer Reihenfolge, die mit den Briefen seiner Korrespondenzpartner einen Textezusammenhang darstellen, den es im urspünglichen voreditorischen Reliktzustand nicht gegeben hat. 3 Gegenüber diesen text- und kontextproduktiven Aktivitäten kann die werkzentrische, exegetisch und didaktisch orientierte Betrachtungsweise keine annähernd gleichwertigen konstruktiven Operationen aufbieten. Die besondere Anziehungskraft der werkzentrischen Studien liegt vielmehr im Kontemplativen. Denn an den Werken gibt es nichts zu ordnen oder umzuordnen, sondern nur zu verstehen. Und Werkverstehen erfordert und fördert kontemplative Bildung: »Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung« (Goethe, Wahlverwandtschaften, Aus Ottiliens Tagebuche, II, 4). Aufgrund ihrer jeweiligen Abgegrenztheit, Selbständigkeit, Abgeschlossenheit ermöglichen die Werke eine distanzierte Reflexionshaltung, die die rationale Erkenntnis- und Urteilsbildung begünstigt. Eine ähnliche, Überblick, Umsicht und Reflexion fördernde Betrachtungshaltung ist in der autorzentrischen Forschung aufgrund der komplexen und wandelbaren Natur ihres Gegenstandes kaum möglich. Je stärker, eigengesetzlicher die werkzentrischen und die autorzentrischen Studien ihrer jeweiligen vorherrschenden geistigen Anziehungskraft folgen, um so mehr trennen sich ihre Wege. Und dies scheint gegenwärtig in der neugermanistischen Literaturwissenschaft der Fall zu sein. Vereinfacht gesagt, haben sich in ihr Lehre und Forschung in einem Maße voneinander entfernt, daß eine fruchtbare wechselseitige Wahrnehmung kaum noch stattfindet. Die autorzentrische Forschung entwickelt sich - weitgehend ohne Rücksicht auf die literarische Bedeutung der betreffenden Autoren - in einer Weise, die in einem krasser werdenden Mißverhältnis steht zur schwindenden Kenntnis auch der wichtigsten Werke der deutschen Literaturgeschichte. Es scheint, als ob die zeitgenössische Bevorzugung des Produzierens gegenüber dem Rezipieren auch in einem so praxisfern gewordenen Fach wie der »Germanistik« Wirkung zeigt. Während ζ. B. Goethes Tagebücher mit hohem Einsatz urkundlicher Texttreue und fortlaufender Textstellenerläuterung neu

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sion der französischen Fassung von Klaus Hurlebusch in: editio 11 (1997), S. 233-236 und in französischer Fassung in: Genesis 11 (1997), S. 161-163. Vgl. Klaus Hurlebusch: Rezension von Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, im Auftrage der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne. Bd. 1 - 2 . München: C. H. Beck 1983-1985. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 238 (1986), S. 69-89. Hier S. 72-73.

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ediert werden, 4 ist der Faust immer mehr unter die ungelesenen Gipfelwerke einzureihen. Die Rezeption beschränkt sich weitgehend auf das, was jeweils zur eigenen Studienrichtung gehört. Nicht nur die Forschung, sondern auch die Lehre hat die Entwicklungsstufe der Selbstreferentialität erreicht. Es geht vor allem um Bestandserhaltung der erreichten relativen Selbständigkeit des Forschungsbetriebes einerseits und des Lehrbetriebes andererseits. Der gern zitierte Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre und damit die Einheitlichkeit des Faches n e u g e r m a n i s t i s c h e L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t ist nur Schein, exoterische Rechtfertigungsideologie. An die Fortexistenz der geistesgeschichtlichen Entstehungsgrundlagen der Germanistik - die Geisterneuerungsfähigkeit der schönen Literatur und ihre Bildungsmacht - glaubt heute wohl niemand mehr. 5 Ungewisser denn je sind heute Herausgeber großer wissenschaftlicher Dichterausgaben darüber, auf welche Leser oder Benutzer sie rechnen können, zumal wenn ein hoher Anteil der Ausgaben die Reproduktion oder Transkription textgenetischer Handschriften enthält (siehe unten Abschnitt 9), und professionelle Werkinterpreten dürfen nicht mehr erwarten, daß ihre Publikationen außerhalb der Germanistik-Studenten und -Dozenten wahrgenommen werden. Mit der vorherrschenden Selbstbezüglichkeit ihrer Arbeit haben die Neugermanisten in ihrer Welt der Gelehrsamkeit nachvollzogen, was Autoren des 18. Jahrhunderts wie ζ. B. Klopstock, Hamann und Herder in der ihren vorgebildet haben: die A u t o r b e z ü g l i c h k e i t d e s S c h a f f e n s . Damit eröffneten diese prinzipiell eine Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit des literarischen Schreibens: dessen Autorzentrik oder Werkzentrik. Diese Zweideutigkeit, ein Kennzeichen der literarischen Moderne, entfaltete sich immer stärker zur Entzweiung. Die autor- und werkzentrische Zweideutigkeit bzw. Entzweiung des literarischen Produzierens blieb unter dem Einfluß der werkzentrischen, didaktischen Studienorientierung in der Literaturwissenschaft lange verborgen. Erst Editionsphilologen, die innerhalb der Neugermanistik diejenigen sind, die sich professionell - ohne Didaktisierungszwänge - den Autoren am stärksten annähern, haben in ihren kritischen Editionen etwas aus überlieferten Werkhandschriften zutage gefördert, das angemessen zu erkennen dem gelehrten Buchleser und Werkinterpreten im Unterschied zum Handschriftenleser die Voraussetzung fehlt: die dominante Autorbezüglichkeit textgenetischen Schreibens moderner Autoren im Unterschied zur dominanten Werkbezüglichkeit. Sogenannte textgenetische Editionen stellen eine Art Indikator dar, mit welchem Autortypus man es jeweils zu tun hat. Das Entzweiungspotential des modernen Subjektivismus hat sich, bevor es im wissenschaftlichen Studium der

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Vgl. Jost Schillemeit: Goethes Tagebücher, historisch-kritisch und kommentiert. Zu einem Editionsvorhaben der Stiftung Weimarer Klassik. In: editio 10 (1996), S. 6 8 - 8 0 . D a s Fach wird wohl nicht verhindern können, daß seine Selbständigkeit zunehmend als Altlast empfunden wird, derer man sich auf möglichst unauffällige Weise wird entledigen wollen. Über akademische Notaufnahmestationen, w o die germanistische Literaturwissenschaft ohne viel öffentliches Aufsehen vor sich hin schrumpfen kann, wird ja schon nachgedacht, mögen sie nun »Kulturwissenschaft« oder »Medienkunde« heißen.

neueren deutschen Literatur wirksam wurde, zunächst im literarischen Schaffen selbst entfaltet. Bevor im wissenschaftlichen Studium der neueren deutschen Literatur die Werkzentrik mit der Autorzentrik durch das unbegrenzte Forschungsstreben der Textphilologen inkommensurabel wurde, war sie es schon, ohne es recht zu bemerken, in bezug auf die primär autorbezüglichen Schaffensweisen vieler Dichter und Schriftsteller seit dem 18. Jahrhundert. Unmittelbare Zeugnisse der literarischen Schreibprozesse sind die Autorhandschriften. Zunächst sei kurz skizziert, wie deutsche Autoren des 18. Jahrhunderts mit ihren Handschriften umgegangen sind.

2. A u c h H a n d s c h r i f t e n h a b e n i h r e Schicksale Vor dem alten, verwaltungserfahrenen Goethe hat kein anderer bedeutender Dichter sich so zielstrebig und eifrig um die Erhaltung seiner Handschriften und um die Ergänzung dieses Schatzes durch Autographen anderer Autoren bemüht wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), der berühmte Schöpfer der Anakreontik (Versuch in scherzhaften Liedern, 1744) und der deutschen Kunstballade. Gleim war der »größte deutsche Literaturmäzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«. 6 Die so entstandene Handschriftensammlung sollte zusammen mit einer beträchtlichen Sammlung von Porträtgemälden und Büchern das Anschauungsmaterial für eine von Gleim in einem Testamentsnachtrag 1787 so genannte »Schule der Humanität«, 7 d.h. der literarisch aufgeheiterten Menschenfreundlichkeit, bilden. Die von ihm in großer Anzahl aufbewahrten handschriftlichen Gedichtentwürfe und Gedichtabschriften wie auch die vielen handschriftlichen Überarbeitungen seiner bereits gedruckten Werke waren dem Autor prinzipiell ebenso wertvoll als Gelegenheitszeugnisse der Freundschaftsgesinnung wie die von ihm in Abschriften sorgfältig aufbewahrten Briefe an Freunde und die gesammelten Briefe von Freunden. Das Dichten und das Schreiben privater Briefe waren für diesen schreibseligen Autor nur äußerlich verschiedene Tätigkeiten; im Grunde dienten beide der Beförderung und dem heiteren Genuß der Freundschaft unter wohlgesinnten Menschen. Das im Gleimhaus in Halberstadt aufbewahrte reichhaltige Material an Handschriften und Drucken zum Œuvre des Autors verdankt ursprünglich seine Sammlung und Erhaltung nicht der besonderen ästhetischen Wertschätzung der Werke durch ihren Urheber, sondern im Gegenteil deren Mediatisierung zugunsten eines intersubjektiven Bildungsziels. Als Medien der Freundschaftsbildung waren für den Autor, der erklärtermaßen nicht für das allgemeine Lesepublikum oder für Kritiker dichtete, sondern für sich allein oder auch »für gute Freunde« - »Gleimi et amico-

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Heinrich Mohr: »Freundschaftliche Briefe« - Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 17. Wilhelm Körte: Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben. Halberstadt: Biireau für Literatur und Kunst 1811, S. 475.

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rum« lautet das Motto seines Exlibris 8 - , die Handschriften seiner Dichtungen genauso aufbewahrenswert wie die Drucke. Von den prominenten Dichtern des 18. Jahrhunderts Lessing, Klopstock, Wieland, Hamann, Herder und Schiller hat keiner in vergleichbarem Maße Sorge getragen für die Aufbewahrung der eigenen Werkhandschriften. Für keinen von ihnen ging wohl auch die mediatisierende Auffassung des Werkes, des Druckes und der Sammelausgabe zugunsten eines intersubjektiven Bildungsideals so weit wie bei Gleim. Im Unterschied zu ihm erkannten sie dem gedruckten, publizierten Werk und gar erst der Sammelausgabe eine Vorzugsstellung gegenüber den Handschriften zu, nicht zuletzt aus Autorenehrgeiz. Sie haben also den werkzentrisch gesinnten Germanisten durch ihr relativ sorgloses Verhalten gegenüber ihren Handschriften Vorschub geleistet. Die Drucklegung führte zur Entwertung oder jedenfalls Wertminderung der textgenetisch vorausliegenden Handschriften. Unausgeführt gebliebenen Entwürfen wurde leicht der Makel zugewiesen, hinter der Druckreife zurückgeblieben zu sein. Lediglich bei Hamann ging die Selbstrelativierung seiner Autorschaft - aus religiösen Motiven - noch weiter als bei Gleim. Sie äußerte sich in der Geringschätzung a l l e r literarischen Schriftstellerei, nicht nur der gedruckten. Sein Nachlaß war bei seinem Tode 1788 zerstreut 9 und existiert bezüglich des Königsberger Teils nur noch in Fotokopien in der Universitätsbibliothek Münster. Von diesen Autoren sind Werkhandschriften nur dank mehr oder weniger glücklicher Umstände überliefert. Nicht nur Bücher, sondern auch Handschriften haben ihre Schicksale! D a ß wir z.B. von Klopstocks Nachlaß nur Überbleibsel besitzen (nur wenige Gedichthandschriften), ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß er selbst mit seinen Handschriften sorglos umging. Sein Augenmerk galt dem Druck, und zwar einem möglichst fehlerfreien. Und das meiste des von ihm Geschriebenen ließ er drucken. 10 Ähnlich verhielt sich Schiller zu seinen Manuskripten, wie der frühere Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs Karl-Heinz Hahn feststellt: »Sie gingen mit dem Druck seiner Werke unter, und nur die Ausarbeitungen blieben erhalten, die der Dichter in späterer Zeit noch abzuschließen gedachte [...] Zu einer regelrechten Ordnung seiner Papiere gelangte er jedoch nie [...] Zu Schillers Nachlaß zählen nur verhältnismäßig wenig Handschriften, die im unmittelbaren Schaffensprozeß des Dichters entstanden sind; und doch genügen sie, um sein Schaffen, seine Arbeitsweise und das allmähliche Entstehen seiner Werke zu bezeugen«. 11

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Ebd., S. 328. Josef Nadler: Die Hamannausgabe. Vermächtnis - Bemühungen - Vollzug. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1930 mit der Findliste zu Josef Nadlers Hamann-Nachlaß in der Universitätsbibliothek Münster / Westf. von Sabine Kinder und einem Vorwort von Bernhard Gajek. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B. Bd. 12) Bern: Peter Lang 1978, S.355-362. 10 Erich Trunz: Nachwort. In: Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Hg. von Jürgen Behrens. Mit einem Anhang: Briefwechsel zwischen Klopstock und Herder. Hg. von Sabine Jodeleit. (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 3) Neumünster: Karl Wachholtz 1964, S.350. " Karl-Heinz Hahn: Der handschriftliche Nachlaß Friedrich Schillers im Goethe-und Schil9

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Auch nach dem Tode von Autoren erwuchs den Handschriften aus der Drucklegung bzw. der Edition ihrer Texte häufig nichts Gutes. Lessings schriftlicher Nachlaß ist hierfür ein Beispiel. Nachdem der Bruder Lessings, Karl Gotthelf, die Papiere für verschiedene Editionen und für seine Lessing-Biographie ausgewertet hatte, wurden sie teilweise oder ganz Opfer der Zerstreuung oder Vernichtung.12 LessingHandschriften werden daher heute an verschiedenen Orten aufbewahrt. Das nächste mit dem Gleimschen vergleichbare Beispiel eines Autors, der sich um »eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf [sein] schriftstellerisches Leben beziehen«, kümmerte, bietet Goethe. Seinen Lesern teilte er 1823 in seiner Zeitschrift Über Kunst und Alterthum den Abschluß des Archivierungsgeschäfts in einem kleinen Aufsatz mit, der im Inhaltsverzeichnis des Zeitschriftenbandes (Bd. 4, Heft 1, S. 177-178) den Titel trägt: Archiv des Dichters und Schriftstellers. In einem Gespräch (mit dem Kanzler Müller) äußerte Goethe im Winter 1830/1831: Meine Manuskripte, meine Briefschaften, meine Sammlungen jeder Art, sind der genausten Fürsorge wert. Nicht leicht wird jemals so vieles und so vielfaches an Besitztum interessantester Art bei einem einzigen Individuum zusammen kommen [...] Ich habe nicht nach Laune oder Willkür, sondern jedesmal mit Plan und Absicht zu meiner eignen folgerechten Bildung gesammelt und an jedem Stück meines Besitzes etwas gelernt. In diesem Sinne möchte ich diese meine Sammlungen konserviert sehen. 13

Ähnlich wie das Gleimsche ist das Goethesche Archiv, die Grundlage des späteren Goethe- und Schiller-Archivs, nicht aus der Absicht des Dichters entstanden, sich selbst zu Lebzeiten ein Denkmal zu setzen. Auch Goethes Konservierungsziel lag jenseits des von ihm Geschriebenen. Es bezog sich auf das, was noch zu schreiben war, d. h. auf seine Bemühungen um eine Gesamtausgabe seiner dichterischen und wissenschaftlichen Werke. Im gleichen Jahr 1823 begannen die Vorarbeiten für die Ausgabe letzter Hand, die 1830 gedruckt vorlag.14 Sein Archiv - es enthielt auch ein Repertorium - sollte dem Autor als Arbeitsgrundlage dienen, d. h. es sollte ihm die Erkenntnis des Unfertigen, Lückenhaften, Abgebrochenen, Ungeordneten seiner angewachsenen, vielseitigen Produktion erleichtern. Es sollte insbesondere die freie, diskontinuierliche Weiterarbeit an seiner Autobiographie ermöglichen.15

ler-Archiv in Weimar. In: lahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 3 (1959), S. 369-370, 377. 12 Wolfgang Milde (unter Mitarbeit von Christine Hardenberg): Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Bd. 1: Lessing-Handschriften Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Deutsche Staatsbibliothek Berlin DDR; Biblioteka Uniwersytecka Wroclaw (Veröffentlichungen der Lessing-Akademie Wolfenbüttel) Heidelberg: Lambert Schneider 1982, S.20, 26-27. 13 Zitiert nach Karl-Heinz Hahn: Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis (Bibliographien, Kataloge und Bestandsverzeichnisse) Weimar: Arion 1961, S. 11. Vgl. auch Willy Flach: Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Berlin 1956, S.45-71. Hier S.45. 14 Karl-Heinz Hahn: Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis (Anm. 13), S. 12. 15 Vgl. Goethe: Lebensbekenntnisse im Auszug. In: Goethe: Werke. Hg. im Auftrage der

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Auch das Archiv des Dichters und Schriftstellers Goethe war als Instrument der Bildung gedacht; es sollte allerdings nicht wie bei Gleim der intersubjektiven Bildung freundschaftlicher Gesinnung, sondern der subjektiven Bildung des Autors durch Ermöglichung produktiver Kontinuität dienen. Goethe glaubte damit primär seine eigene mannigfaltige Tätigkeit begünstigt zu haben und sekundär - wie er sagt »den Freunden«, die sich nach seinem Tode seines Nachlasses annehmen möchten, »zum besten in die Hände gearbeitet« zu haben. 16 Mit Sicherheit haben weder Gleim noch Goethe bei der Aufbewahrung ihrer Werkhandschriften an Textphilologen gedacht, die sie als unmittelbare Zeugnisse der Textgenese oder der Arbeitsweise ihrer Autoren analysieren. Textphilologen, Quellenforscher schätzen die Archive von Dichterhandschriften aus ganz anderen Motiven, als das ihre Urheber taten. Ob man ζ. B. Goethes testamentarische Zweckbestimmung seines Archivs richtig deutet, wenn man sagt (wie K.-H. Hahn), er habe es zur »Forschungsstätte für deutsche Literatur- und Kulturgeschichte« 17 bestimmt, ist mehr als zweifelhaft. Im deutschen Sprachraum betrachten Textphilologen Dichterhandschriften aber noch kaum als Erkenntnisgegenstände eigener Art, so wie das in Frankreich die critique génétique eingeführt hat. Handschriftliche Hinterlassenschaften deutscher Autoren sind in der Regel Gegenstände der Archivkunde, von Quellenrepertorien und speziellen Katalogen sowie von editionsphilologischen Erschließungen und Auswertungen, aber nicht Gegenstände eigener Erforschungen, die frei sind von pragmatischen Zwecken. Selbst das Buch von Hahn, Aus der Werkstatt deutscher Dichter (Halle 1963), das Studien über die Arbeitsweisen von Goethe, Schiller und Heine vereinigt, ist erklärtermaßen als eine Art arbeitstechnischer Ratgeber für Dichter und Schriftsteller gedacht, als Beitrag des Goethe- und Schiller-Archivs, die dort verwahrten literarischen Handschriften »auch für das literarische Schaffen der Gegenwart zu erschließen und fruchtbar werden zu lassen«. 18 Wie deutsche Autoren des 18. Jahrhunderts t a t s ä c h l i c h in ihren Handschriften ihre Texte geschrieben haben, erfährt man also im günstigsten Fall von Editionsphilologen, für die als Herausgeber wissenschaftlicher Ausgaben die Darstellung von Textgenesen heute nachgerade eine professionelle Selbstverständlichkeit geworden ist. Eine umfassende, wenn auch im einzelnen unzureichende Vorstellung davon, wie Lessing z. B. geändert hat, kann man aus der ersten kritischen Lessing-Gesamtausgabe von Karl Lachmann und Franz Muncker (23 Bände 1886-1924) gewinnen, wenigstens ab Band 13, von dem ab Muncker auch die anfänglich ausgeschlossenen Änderungen mitteilte, die Lessing, wie er sagte »in den Handschriften noch vor dem Druck gleich während des Schreibens vornahm« (Vorrede zu Bd.22, l). 1 9 Friedrich

Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. 1], Bd.41, 2.Abt. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1903, S.29-31. Hier S.30-31. Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers. In: Ebd., S.25-28. Hier S.27. 17 Karl-Heinz Hahn: Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis (Anm. 13), S. 15. 18 Karl-Heinz Hahn: Aus der Werkstatt deutscher Dichter. Goethe. Schiller. Heine. (Beiträge zur Gegenwartsliteratur 25) Halle: VEB Verlag Sprache und Literatur 1963, S. 11. 19 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3., aufs neue 16

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Beißner, der verdienstvolle Hölderlin-Philologe, stellte die später in seiner großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe angewandte textgenetische Transkriptionsmethode an neu aufgefundenen Entwurfshandschriften Wielands dar, die - wie er sagt - »ein Bild von der Arbeitsweise des Dichters vermitteln, wie es deutlicher nicht gedacht werden kann«. 20 Goethe äußerte über Wieland, er sei ein »unermüdet zum Bessern arbeitender Schriftsteller«. 21 Die Forschungsperspektive der Editionsphilologen ist aber in der Regel durch spezifisch textgenetische Erkenntnisinteressen und editorische Belange eingeschränkt, zuweilen auch durch ästhetische Präferenzen. So haben z.B. Bernhard Suphan und seine Mitarbeiter in der kritischen Ausgabe der Sämmtlichen Werke Herders (33 Bände, 1877-1913) das Schwergewicht auf die Wiedergabe der vom Autor veröffentlichten oder druckfertig gemachten Schriften gelegt und sind damit der offenen schreib- und denkseligen Arbeitsweise dieses Autors nicht gerecht geworden. Um ein genaues Bild von der Schaffensweise Herders zu gewinnen, ist man auf den Berliner Nachlaß angewiesen, der für diese Fragestellung noch manche ungehobene Schätze enthält. Die von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler erarbeitete Neuordnung und Katalogisierung des Nachlasses (1979) bietet hierfür ein gutes Erschließungsinstrument. 22 Und eine ähnliche werkzentrische Umgewichtung erfuhr Hamanns autorzentrische Schaffensweise in der von Josef Nadler herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke (6 Bände, 1949-1957). Als Nachlaßedition des unvollendet gebliebenen autorzentrischen Prosaschaffens Klopstocks (z.B. des 2. Teils der Gelehrtenrepublik) kommt auch die Hamburger Klopstock-Ausgabe (Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, 1974ff.) nicht ohne Konstruktionen aus, aber diese werden hier als editorische Hilfskonstruktionen, nicht als editorische Vollstreckungen des Autorwillens deklariert (siehe unten Abschnitt 8). Den außer- oder paratextlichen, materiell-graphischen Aspekten der dokumentierten Schreibprozesse wird von den deutschen Textphilologen im Gegensatz zu den französischen généticiens meistens nur - wenn überhaupt - eine untergeordnete Bedeutung zuerkannt.

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durchgesehene und vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd. 22, Teil 1. Berlin und Leipzig: Göschen'sche Verlagsbuchhandlung 1915, S. VI. Friedrich Beißner: Neue Wieland-Handschriften. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1937. Philosophisch-historische Klasse. Nr. 13. Berlin 1938, S.3. Goethe: Litterarischer Sansculottismus. In: Goethe: Werke (Anm. 15), [Abt.l], Bd. 40, S.201. Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler: Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Hg. von Tilo Brandis. Zweite Reihe: Nachlässe. Bd. 1) Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1979.

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3. Ein unzulänglich verstandener Vorklassiker Wenn heute literarhistorisch Gebildete mit dem Namen Friedrich Gottlieb Klopstock noch die Vorstellung eines Dichters des 18. Jahrhunderts verbinden, so ist es meistens die von einem pathetisch-erhabenen Schreckgespenst. Von dem Dreigestirn, das das literarische Leben in rund drei Jahrzehnten nach der Mitte des 18. Jahrhunderts überstrahlte: Klopstock, Lessing, Wieland, ist gerade der ursprünglich strahlendste Stern, nämlich der Dichter des Messias, heute am stärksten ins Dunkel des Vergessens abgesunken. Ihn selbst hat das Schicksal ereilt, das er den von ihm abgelehnten Autoren zugedacht hatte, indem er ihnen verachtungsvoll prophezeite, ihre Werke werden so vergessen sein, daß »nur die Sammler und Blätterer aller Bücher, die geschrieben werden, noch etwas davon wußten«. 23 Ein deutscher Kultusminister, der etwa behauptete: »Es geht auch ohne Klopstock«, ist schwer vorstellbar, weil es schon seit langem im Literaturunterricht ohne Klopstock geht. In dem jüngst erschienenen Unterrichtsbuch Deutsch in der Oberstufe (herausgegeben von Peter Kohrs, Paderborn 1998) wird Klopstock zwar als Autor des Messias und von Oden kurz namentlich erwähnt, aber nicht mit einem einzigen Textbeispiel vorgestellt. Als die deutsche Wochenzeitung Die Zeit im Mai 1997 »namhafte Autoren und Zeitgenossen« die Frage beantworten ließ, »welche Werke der deutschsprachigen Literatur ein Abiturient im Deutschunterricht gelesen haben müßte«, kam in den Antworten der Name Klopstocks nicht e i n m a l vor;24 übrigens derjenige Christoph Martin Wielands auch nicht. Vom genannten Dreigestirn ist nur noch Lessing bekannt, vermutlich wegen seiner Schauspiele Emilia Galotti, Minna von Barnhelm und Nathan der Weise, die noch hin und wieder aufgeführt werden. Es soll jetzt nicht versucht werden zu ergründen, warum Klopstock zu den großen, gegenwärtig unbekannten Autoren der deutschen Literatur gehört - ein Schicksal übrigens, das er mit seinem großen sprachlichen Vorbild Luther teilt; das Thema soll ja die Modernität dieses Dichters und nicht seine Antiquiertheit sein. Nur so viel sei gesagt: Klopstock ist nicht nur das Opfer einer für seinen Ruf ungünstig verlaufenen Rezeptionsgeschichte, er hat dieses Schicksal, einer der unbekanntesten Vorklassiker zu sein, selbst mitverursacht. Bereits zu seinen Lebzeiten galt er als schwer verständlicher »dunkler« Dichter, der von seinen Lesern ein Höchstmaß an seelischer Anteilnahme an seinen Dichtungen abverlangte, wozu natürlich viele Leser nicht bereit und nicht fähig waren. Klopstock hat von Beginn seines Schaffens an die Leserschaft in begeisterte Anhänger und kritische Gegner polarisiert. Lessings berühmtes Epigramm:

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom edlen Ausdrucke. In: F.G.K.: Sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften [...] Hg. von A.L. Back und A.R.C. Spindler. Bd. 2. Leipzig: Friedrich Fleischer 1830, S. 285-308. Hier S.298. Die Ausgabe wird im Folgenden zitiert: Back/Spindler. Die Zeit, 16. und 23.5.1997, Nr. 21 und 22.

Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch lesen sollt ihn jeder? Nein. Wir wollen weniger erhoben, Und fleißiger gelesen sein

beschreibt pointiert das früh entstandene zwiespältige Ansehen dieses Dichters. Das Epigramm erschien erstmals 1753,25 also fünf Jahre nach der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge des Großepos Der Messias, das seinen Autor in der deutschsprachigen Welt schnell berühmt machte. Carl Friedrich Cramer, Freund und Biograph Klopstocks, stellte 1781 über die Wirkung des Messias fest: »Was Finger und Federn hatte zu schreiben, schrieb für oder wider ihn«. 26 Vergleicht man den geschichtlichen Erfolg oder Mißerfolg eines Autors in der literarischen Welt mit dem Glücksspiel, so könnte man sagen: Der Dichter Klopstock, einer der ruhmbegierigsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte, hat mit sehr hohem Einsatz gespielt - und hoch verloren. Heute wird er weder gelobt noch getadelt, sondern schlicht übergangen. In einem Vortrag über Arno Schmidt nannte Christoph Hein unter den großen Spracherneuerern und Wortwelterbauern, zu denen er Schmidt zählt, Luther, Lessing und Wieland. Die dritte Stelle hätte gerechterweise Klopstock gebührt. Wenn ein so intelligenter und gebildeter Autor wie Hein den weit größeren Sprach- und Dichtungserneuerer Klopstock nicht mehr zu kennen scheint - was ist dann von den anderen zu erwarten? In Klopstocks Leben fehlen exzentrische Ereignisse, die wie im Falle Hölderlins und Kleists als Eselsbrücken des literarischen Interesses dienen können. Eine intelligente, literarisch hochgebildete Ehefrau wie Meta Moller oder kuriose Erscheinungen eines Dichterkultes sind heute nicht mehr ausreichend. Bleiben, wie in anderen Fällen auch, nur die Jubiläen übrig. Das historische Studium der deutschen Literatur kann ihn zwar nicht ignorieren, aber für dieses ist er im wesentlichen nur eine literarh i s t o r i s c h prominente Größe, die Einflüsse (z. B. aus vergangenen Literaturen) empfangen und Einflüsse auf zeitgenössische und nachfolgende Autoren ausgeübt hat. Ein anderer Aspekt des Autors, der ihn uns näher bringen könnte, wird in dieser Betrachtungsweise kaum gewonnen. Klopstock bleibt in ihr ein uns fremd gewordener Dichter. Im besten Fall können uns die literarhistorischen Arbeiten erklären, wie diese Fremdheit im einzelnen beschaffen und zustande gekommen ist.

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Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Schriften, Th. 1. Berlin 1753; Lessing: Sämtliche Schriften (Anm.19), Bd.l, S.3. Größere Verbreitung fand das Epigramm in der leicht veränderten Fassung von 1771 (Vermischte Schriften, Th. 1); der zweite Vers lautet dort: »Doch wird ihn jeder lesen? - Nein.« Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner [...], Bd.2: Werke 1751-1753. Hg. von Jürgen Stenzel, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S.635,1238. 26 Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er; und über ihn. Th.2. Dessau 1781, S.323.

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4. Wegbereiter der modernen autorbezüglichen Poesie Kommt man also um die Einsicht nicht herum, daß der Dichter ganz einer vergangenen, abgeschlossenen Welt angehört? Sollte man ihn also einerseits dem reißender werdenden Strom des Vergessens und andererseits der eigengesetzlichen analysierenden und rekonstruierenden Betriebsamkeit der Literaturwissenschaft überlassen? Dagegen spricht, daß der Dichter Klopstock immer wieder Dichter an sich zu ziehen weiß - bis in die Gegenwart, und zwar sehr unterschiedliche Naturen wie Rilke und Arno Schmidt, Johannes Bobrowski und Peter Rühmkorf, Volker Braun und Heinz Czechowski, 27 die im poetischen Ausdrucksanspruch und radikaler Exzentrik eine gewisse Geistesverwandtschaft mit Klopstock zeigen, die kritische Distanzierung im einzelnen nicht ausschließt. Es ist zu vermuten, daß neuere Dichter Züge der dichterischen Moderne, d. h. Züge einer Autorpoesie, in Klopstock erkennen, die ihnen diesen Autor bei aller individuell-historischen, thematischen Fremdheit näher bringen. Karl Krolow ζ. B. erkannte in Klopstock einen Vorläufer der modernen, absolut gewordenen Dichtung. In seinem Gedenkartikel zu Klopstocks 250. Geburtstag in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 2. Juli 1974 schreibt er: Klopstocks Dichtung - mit dem Kern der »Oden« - ist vor Hölderlin ein frühes Beispiel absolut gewordener Dichtung, einer Dichtung reiner Sprachbewegung, ausgelöst durch das absolut gewordene Gefühl, wie es dem aus pietistischem Milieu stammenden Klopstock vertraut sein mochte. Er wurde ein Dichter der »Taten der Seele«, die vorangehen müssen, ehe sie, wie es zu Beginn des sechsten Messias-Gesangs heißt, »der schauende Richter begnadigt«. 2 8

Wenn Hans Magnus Enzensberger Recht hat mit seiner Behauptung: »doch bleibt es eine Tatsache, daß ein Werk der Dichtung nur dann lebendig ist, wenn es die schöpferischen Kräfte der Nachwelt betrifft«29 - dann braucht man sich keine allzu großen Sorgen um das Nachleben der Klopstockschen Dichtung zu machen. Enzensberger schreibt im Nachwort zu seiner als Fischer-Taschenbuch erschienenen Brentano-Auswahlausgabe: Brentano war, als der erste unter den Deutschen, Dichter und sonst nichts. Das war unerhört. Bedingungslos hatte sich etwas in ihm geweigert, wie all die andern, so genial sie sein mochten, eine Lehre, ein Studium zu Ende zu führen, sich Deckung zu verschaffen: er ist zeit seines Lebens ohne bürgerlichen Beruf geblieben. Nicht aus Überheblichkeit oder

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Vgl. Katrin Kohl: >Wir wollen weniger erhoben, und fleißiger gelesen seine Klopstock's Sublime Aspirations and their Role in the Development of German Poetry. In: The Publications of the English Goethe Society 60, 1990, S. 39-62. Dies.: Klopstock und das Erhabene in der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Das Erhabene in der Dichtung: Klopstock und die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums vom 1. und 2. Juli 1995 in Quedlinburg (Schriftenreihe des Klopstock-Hauses Quedlinburg Bd. 1). Halle 1997, S.55-78. Der Artikel ist mit »Karl Kolow« gezeichnet. Laut freundlicher Auskunft von Frau Luzie Krolow ist der Autor aber tatsächlich Karl Krolow. Hans Magnus Enzensberger: Nachwort zu seiner Clemens-Brentano-Auswahlausgabe. In: Clemens Brentano. Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. (Fischer-Bücherei 231) Frankfurt/M. und Hamburg 1958, S. 195-204. Hier S.203.

Starrsinn; er konnte nicht anders. Und mit derselben Unbedingtheit, die gar nicht in seinem Charakter lag, die nichts war als eine Äußerung seines Dämons, hat er auch geschrieben. Er war kein Revolutionär, er war ein guter Bürger, [...] aber er war von ungeheuren Ahnungen befallen, wo es um seine eigenste Sache ging, die Sprache. 30

Der Anspruch, der erste zu sein, ist in der Geistesgeschichte immer riskant. Das, was Enzensberger hier von Clemens Brentano sagt, trifft auch auf Klopstock zu, mit einer bezeichnenden Nuance: »Deckung« - mehr als Angriffe von Seiten der protestantischen Orthodoxie und der Rationalisten - verschaffte dem religiösen Dichter des »Messias« die Religion, als Schutz und Förderung durch die »Großen«, aber auch durch die »Kleinen«. Natürlich empfinden auch Leser, die keine Dichter sind, das Wortlose in Klopstocks Dichtung, von dem er sagt, es wandle in einem guten Gedicht umher, »wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter«, 31 aber solche Sonderlinge fallen als quantités négligeables nicht ins Gewicht, wenn es um die Erkenntnis von allgemeinen, für kommune Meinungen relevanten Phänomenen geht. Auch Literaturwissenschaftlern sind die besonderen imaginations- und wahrnehmungsdynamischen Aspekte in der dichterischen Ausdruckskunst Klopstocks und ihre Thematisierung in seiner Produktionspoetik nicht entgangen, aber sie haben daraus nicht auf eine Relativierung des Werkbewußtseins zugunsten eines sich im Schaffensprozeß erneuernden Selbstbewußtseins des Autors geschlossen. Selbst dort, wo die Annäherung an den zukunftweisenden Aspekt der Klopstockschen Poesie und Poetik schon recht weit gegangen ist, wo ζ. B. erkannt wurde, daß es hier um die »stärkste >BewegungHandlung< geht«, 32 blieb die Konsequenz unbemerkt, die sich aus der Vorherrschaft der S p r a c h b e w e g u n g für das S p r a c h k u n s t w e r k ergab: dessen Entmachtung. Man ist noch nicht darauf aufmerksam geworden, daß gerade das, was man zu Recht als neuartig in Klopstocks Poesie und Poetik erkannt hat - die Bewegung zur Relativierung des Werkstatus führt, d. h. zur Depotenzierung dessen, was als wichtigste Voraussetzung literaturwissenschaftlicher Interpretation gilt: die Selbständigkeit des Werkes. Befangen in ihrem eigenen wissenschaftlichen Arbeits- und Ausdrucksfinalismus, ist den gelehrten Klopstock-Interpreten bisher verborgen geblieben, daß die von ihnen erkannten dichtungsästhetischen Charakteristika (ζ. B. mannigfaltige rhythmische Ausdruckskunst, energetisch-sinnliche »Darstellung«, bewußtseinssteuernde »Wortbewegung«) 33 Anzeichen einer grundlegenden Domi3

« Ebd., S. 200. Klopstock: Fon der Darstellung. Drittes der Fragmente Über Sprache und Dichtkunst, Hamburg: Heroldsche Buchhandlung 1779, S.[243]-258. In konventioneller Orthographie wiederabgedruckt in: Back/Spindler (Anm.23), Bd.4, S.3-12. Hier S . l l . 32 Winfried Menninghaus: Dichtung als Tanz - Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung. In: Comparatio 3 (1991), S. 129-150. Hier S. 150. 33 Vgl. Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen »Bewegung«. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. Winfried Menninghaus (Insel Taschenbuch 1038). Frankfurt/M.: Insel 1989,

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nanzwende des Werk-Autor-Verhältnisses sind. Vorherrschendes schöpferisches Ziel ist nicht mehr wie noch im rationalistischen Klassizismus eines Johann Christoph Gottsched, des einflußreichen Leipziger Professors für Poesie, das Werk, sondern der Autor. Das Werk ist ein Mittel zur schöpferischen Selbststeigerung oder Selbsterneuerung des Autors. Wichtiger als das Resultat des Schaffens wird das Schaffen selbst, vor allem in seinem originären Modus, d. h. im Textproduzieren, aber auch in seinem reproduktiven Modus, d.h. im Rezeptionsprozeß. Die Verschiebung des Gewichts vom Werk auf den Autor, vom äußeren, begrenzten, statischen Kunstgebilde auf das grenzenlose, bewegte Innenleben des Autors bezieht auch den Leser mit ein. Er sollte an der energetischen Selbstschöpfung des Autors in der dichterischen Ausdrucksbewegung teilnehmen. Für Klopstock war die ideale Dichtungsrezeption das Hören oder ein Lesen, als ob man höre, d. h. die produktionsanaloge Erstrezeption. An Meta Moller schreibt er am 9.5.1752: »Doch ich hasse die Sprache, die von der Gegenwart unbeseelt ist [d. h. von der körperlichen, expressiven Gegenwart des laut Sprechenden], ich hasse diese halbe Sprache [.. ,].«34 Aber nicht nur Klopstock. Herder sagt in seiner Terpsichore: Man lese seine [Horaz'] Gedichte nicht mit den Augen allein, sondern höre sie zugleich; oder wo es seyn kann, lese man sie laut, einem andern. So wollen lyrische Gedichte gelesen seyn; dazu sind sie gearbeitet. Mit dem Klange gehet ihr Geist hervor, Bewegung, Leben. 3 5

Aus ähnlichem Geist bevorzugte Goethe das lebendige Sprechen vor dem Schreiben bzw. das laute vor dem stillen Lesen. In seiner Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit heißt es gegen Ende des zweiten Teils (10. Buch): Schreiben ist ein Misbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles was er vermag auf den Menschen durch seine Persönlichkeit. 36

S. 259-361; ders.: »Darstellung«. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas. In: Was heißt »Darstellung«? Hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig (edition suhrkamp 696). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 205-226. 34 Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1751-1752. Hg. von Rainer Schmidt. In: F.G.K.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. (Hamburger Klopstock-Ausgabe.) Hg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch (t). Abteilung Briefe. Bd. II. Berlin, New York: de Gruyter 1985, Nr. 131, Z.17-18. Die Hamburger Klopstock-Ausgabe wird im Folgenden abgekürzt zitiert: H K A . Vgl. auch einzelne Ratschläge Klopstocks zur Deklamation in seinem Brief an Carl Wilhelm Ernst Heimbach, 14.5.1800; H K A , Briefe X, Nr. 130, Z.18-38. Vgl. ferner z.B. seine Epigramme (Wird das Gedicht nicht gesprochen ...), Die gewissenhafte Deklamazion, (Aber ihr kennet dieß Lied nicht...); H K A , Werke II, Nr 124, Nr 186, Nr 201. Vgl. Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Bd. 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1961, S. 357-370. 35 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 27 (Poetische Werke. Hg. von Carl Redlich. Bd.3). Weimar: Böhlau 1881, S.5. Vgl. auch August Hermann Niemeyer: Über Dichtkunst und Musik in Verbindung mit der Religion. In: A.H.N.: Gedichte. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1778, S.8: »Gedichte solte man eigentlich n u r h ö r e n ! « 36 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe (Bear-

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H e r d e r war ähnlich w i e Klopstock ein Kritiker der neuzeitlichen Vormacht der gedruckten Sprache. In seiner Preisschrift v o n 1778 Über die Würkung

der

Dichtkunst

auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten sagt er: Die B u c h d r u c k e r e i hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Würkung g e r a u b e t . Einst tönten die Gedichte im l e b e n d i g e n Kreise, zur Harfe, von Stimme, Muth und Herz des Sängers oder Dichters belebet; jetzt standen sie da, schwarz auf weiß, schön gedruckt auf Blätter von L u m p e n . Gleichviel zu w e l c h e r Z e i t einem lieben geneigten Leser nun der Wisch kam; er ward gelesen, sacht und selig überflogen, überwischt, überträumelt. [...] Jetzt s c h r i e b der Dichter, voraus s a n g er; er schrieb langsam, um gelesen zu werden, voraus sammelte er A c c e η t e , lebendig ins Herz zu tönen. Nun mußte er suchen, schön v e r s t ä n d l i c h zu schreiben; Kommata und Punkte, Reim und Periode sollten fein ersetzen, bestimmen und ausfüllen, was voraus die l e b e n d i g e S t i m m e tausendmal vielfacher, besser und stärker selbst sagte. Endlich schrieb er jetzt gar für das liebe k l a s s i s c h e W e r k und W e s e n , für die papierne Ewigkeit; da der vorige Sänger und Rhapsode nur für den j e t z i g e n A u g e n b l i c k sang, in demselben aber eine Würkung machte, daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf J a h r h u n d e r t e hin vertraten. 3 7 D i e s e s phonozentrische Sprachideal, das H e r d e r in frühen Kulturzuständen verwirklicht findet (vgl. auch Wilhelm v o n H u m b o l d t an Carl Gustav v o n Brinckmann, 5.12.1799: » D i e A l t e n waren ganz Ohr«), kehrt später bei Friedrich N i e t z s c h e wieder. Er sah im Hinblick auf die griechische Lyrik der klassischen Periode, w o es keine Leser, s o n d e r n nur H ö r e r g e g e b e n habe, darin, daß die m o d e r n e deutsche Poesie »gleichsam auf der Studirstube g e b o r e n wurde, im A n s c h a u e n gelehrter Vorbilder, ferne v o n der ursprünglichen Kraft des Volkes, ferne vor allem v o n ihrer natürlichen Stütze der Musik«, ihre » v o r n e h m s t e Schwäche«. 3 8 A m B e g i n n der A u f z e i c h n u n g e n zur Vorlesung über die Geschichte

der griechischen

Litteratur

(I und II)

für das Wintersemester 1874/1875 b e k u n d e t e N i e t z s c h e ebenfalls seine Zeitkritik am Primat der Schrift- und stillen Lesekultur: Man könnte es eine E n t a r t u n g nennen, wenn eine ganze Litteratur L e s e l i t t e r a t u r geworden ist: nun aber leben wir in einer solchen Entartung und bringen deshalb viele falschen Maßstäbe und Voraussetzungen in die griechische Geschichte mit: von der uns l e i d e r nur Lesewerke vorliegen. 39 D a s laute L e s e n ließ im Zuhörer d e n dichterischen Text nach und nach n e u entstehen. D i e Wirkung des lauten L e s e n s war vor allem e i n e sinnliche, w e n i g e r e i n e ratio-

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beiter: Siegfried Scheibe). Hg. von der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag 1970, S.370. Vgl. auch Irmgard Weithase (Anm.34), S.371. Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1892, S. 334-436. Hier S. 411-412. Friedrich Nietzsche: Vorlesungsaufzeichnungen (SS 1869-WS 1869/70). Bearbeitet von Fritz Bornmann und Mario Carpitella. (Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 2. Abt., Bd. 2. Hg. von Fritz Bornmann). Berlin, New York: Walter de Gruyter 1993, S. 107. Friedrich Nietzsche: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1874/75-WS 1878/79). Bearbeitet von Fritz Bornmann und Mario Carpitella. (Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 2. Abt., Bd. 5. Hg. von Fritz Bornmann). Berlin, New York: Walter de Gruyter 1995, S. 7. 15

naie. Für die Historikerin der Sprechkunst Irmgard Weithase »datiert [...] der Beginn der eigentlichen Sprechkunst« von »Klopstock und Schocher, jenem, dem Dichter, der die ersten ausgesprochenen Sprechkunstwerke schrieb, und diesem, dem Deklamator und Lehrer der Deklamation, der die ersten Versuche, die Deklamation als Wissenschaft aufzufassen, unternahm [.. ,].«40 Der Dichter habe die um 1800 einsetzenden Vortragsabende, sogenannte Deklamatoria, in denen übrigens auch hin und wieder Gedichte von ihm vorgetragen wurden, mit veranlaßt. 41 Dieses auditive Rezeptionsideal wurde übrigens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend unzeitgemäß, denn in dieser Zeit verstummte das Lesen immer mehr. Zeittypisch wurde das stille, beschauliche Lesen, d. h. eine von der Produktion abgelöste, e i g e n m ä c h t i g e Rezeptionsweise, in der die nach Vorwärts und Rückwärts beweglichen Augen regierten und nicht die an den Textverlauf gebundene Stimme. (Siehe unten Teil II: »Seelenspeise, die unsere Kräfte stärkt«: Die komplementäre Funktion des lauten Lesens gegenüber der stillen Lektüre.) Mit Klopstocks Aufwertung der dichterischen Produktion als einer Produktionsb e w e g u n g ging auch die Aufwertung der Rezeption als einer Rezeptionsbeweg u n g einher. Und dies wiederum bedeutete, die Rezeption als einen produktionsanalogen Prozeß im Sinne eines textverlaufgebundenen Nachschaffens aufzufassen. Paradoxerweise wurden dem Rezipienten dadurch mehr geistig-sinnliche Selbsttätigkeit zugeschrieben, daß er als Sprechender und Hörender medial an die Sukzession des Textes gebunden war, d. h. neuen, überwältigenden Eindrücken und Erlebnissen ausgesetzt, die der selbstbestimmt auswählende stumme Leser, mit den Augen vorauseilend oder bereits Gelesenes wiederholend, in ihrer Wirkung mindestens abschwächen kann. Der stumme Leser gewann Reflexionsdistanz. Was für den Autor gilt, gilt entsprechend auch für den Leser: Eine innere Erneuerung ist beiden nur möglich, wenn sie sich so umfassend wie möglich, d. h. mit möglichst vielen Sinnen, einem nicht selbstbestimmten Wahrnehmungsprozeß aussetzen: der Autor der Bewegung seiner eigenen Fremd- und Selbsterfahrungen Klopstock hat »viele Scenen im Messias, Oden, u. s. w. zu Pferde, zu Wagen, in Gesellschaft, auf Schrittschuhen gearbeitet«, 42 er hat sich zu metrisch-rhythmischen 40

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Irmgard Weithase: Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst von 1775-1825. (Germanische Studien 90.) Berlin: Verlag Emil Ebering 1930, S.7. Vgl. auch S.8,136,140-155; S. 156: »Erst nachdem durch Klopstock und seinen Kreis die ersten Wortkunstwerke geschaffen worden waren, die nicht so sehr gesungen als vorgetragen zu werden verlangten, und nachdem zu gleicher Zeit durch das neue Erwachen der Schauspielkunst das Interesse des Publikums auf das gesprochene Wort hingelenkt wurde, waren theoretische Erörterungen über das Wesen der Vortragskunst möglich.« Vgl. Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Bd. 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1961, S. 357-371. Besonders S.368. - Vgl. auch Emil Palleske: Die Kunst des Vortrage. Stuttgart: Verlag von Carl Krabbe 1880, S. 153: »Klopstock ist der Altmeister der Kunst, lyrische Dichtungen vorzulesen. Er ist noch heute ein vorzüglicher Lehrer in dieser Kunst.« Vgl. auch Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme. München: Fink 1998, S. 381 -398. [Carl Friedrich Cramer:] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa). Hamburg 1777, S.97.

Erneuerungen aus eigenen Eislauferfahrungen anregen lassen - , der Leser bzw. Zuhörer der lautlichen Bewegung des Textes. Bewegliches, Prozeßhaftes wie ganzheitliche geistige Selbststeigerungen und Selbsterneuerungen eines Subjekts konnten (und können) nicht durch etwas Statisches wie literarische Kunstwerke erzielt werden, deren Wahrnehmung nur einen Teil der Sinnlichkeit und des Geistes, vor allem den Distanzsinn des Auges und die Rationalität mobilisieren, sondern durch selbsttätig herbeigeführte Wahrnehmungsbewegungen, die ein Höchstmaß der sinnlichen Kräfte stimulieren. Das eigentliche Selbstverwirklichungsmedium des Dichters ist also nicht das Werk, sondern das Werkschaffen als Prozeß des Selbstausdrucks und der spontaneisierenden Selbstverinnerlichung des Autors. Für den Rezipienten ist es die mündliche oder wenigstens subvokalische Reproduktion des Werkes. D a ß dieser von Klopstock paradigmatisch vollzogene Dominanzwechsel im Verhältnis des Autors zum Werk, der eine bewußte Verzeitlichung der Produktion wie der Rezeption implizierte, bisher nicht erkannt wurde, hat verschiedene Gründe. Sie sind sowohl auf Seiten der literaturwissenschaftlichen Interpreten als auch auf Seiten des Autors gegeben. Warum den Interpreten die von Klopstock initiierte Ablösung des Schaffensprozesses von seinem Resultat, dem Werk, die von ihm wahrgenommene Eigengesetzlichkeit dieses Prozesses, bisher verborgen blieb, ist im wesentlichen wohl auf zwei Leitvorstellungen zurückzuführen. Die systematische ist bereits angedeutet worden. Textphilologen, gelehrten Literaturbetrachtern fällt es schwer anzuerkennen, daß Dichter in ihrer Produktion nicht dem gleichen werkfinalistischen Hervorbringungsschema, das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (VI 2,1140b 6f.) »Poiesis« nannte, folgen wie die Gelehrten. Deren Handeln zielt ja von vornherein auf etwas, was von diesem ablösbar und ihm gegenüber höherrangig ist: die gelehrte Schrift, der Aufsatz. Auch Gelehrte neigen dazu, von sich auf andere zu schließen, d. h. von ihrer Verstandeskultur auf die Phantasie- und Sinnenkultur der Dichter. Sie glauben, ihren Erkenntnissen eine gewisse Rationalität und objektive Geltung zu sichern, wenn sie voraussetzen, daß Autoren und Interpreten im Grunde der gleichen kommunikativen Werkintentionalität folgen. Der Philologe hat professionellerweise etwas vom Philister, der - wie Karl Kraus einmal boshaft bemerkte - »die Kunst mit dem Verstand beschmutzt.« 43 Diese rationalisierende Angleichung wollen natürlich die Philologen nicht wahrhaben; umso mehr erkennen sie gelegentlich die Dichter. Ein Beispiel. Ernst Jandl sagt in einem Vortrag mit dem Titel »Voraussetzungen, Beispiele und Ziele einer poetischen Arbeitsweise«: Übrigens - reden: von dem, der Sprache als Medium verwendet, um seine eigenen künstlichen Dinge daraus herzustellen, wird dann erwartet: Interview; Diskussion; Referat; Es-

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Karl Kraus über die »Neutöner« in der Fackel 1912 (Nr.351-353 vom 21. Juni): »Ich halte das Manifest der Futuristen für den Protest einer rabiaten Geistesarmut, die tief unter dem Philister steht, der die Kunst mit dem Verstand beschmutzt.« (Zitiert nach: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923. Eine Ausstellung des deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 8. Mai bis 31. Oktober 1960 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Katalog Nr. 7). München: Albert Langen, Georg Müller [1960], S. 79.

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say; Rezension - als sei das einfach dasselbe wie: Gedicht, Text, Stück usw., oder auch nur verwandt damit. - Mißbrauch des Mediums, möchte ich, für meinen Teil, es nennen. 44

Aber einzelne Stimmen werden an dieser Haltung wenig ändern: »Die Vorstellung einer linearen Entwicklung zur Vollendung hin ist eine Versuchung, der man nicht zu schnell nachgeben soll, auch dort nicht, wo Autoren ihr erliegen.«45 Daß die Dichter in dieser Hinsicht den Textphilologen und professionellen Literaturinterpreten durchaus nicht immer entgegenkommen und diese Intentionalitätsvoraussetzung erfüllen, wird exemplarisch an »dunkler« oder hermetischer Poesie deutlich. Sie erweist sich häufig auch noch für schöngeistig herabgesetzte Rationalitätsansprüche als schwer zugänglich oder verschlossen. Als Hemmnis, den genannten Dominanz Wechsel vom Werk zum Autor nachzuvollziehen, wirkt außerdem die erkenntniskritische Begrenzung des Literaturstudiums auf Gegenständliches, Zuständliches. Prozesse selbst können nicht Gegenstände literaturwissenschaftlicher Erkenntnis sein. Wenn in diesem Zusammenhang von Prozessen die Rede ist, handelt es sich immer um eine übertragene, uneigentliche Ausdrucksweise. Gegenstände der Erkenntnis sind immer nur die hinterlassenen Spuren eines Schaffensprozesses, d.h. die textlichen Entstehungszustände bzw. Textstufen in chronologischer Abfolge. Prozesse selbst können nur e r l e b t , aber nicht als Objekte e r k a n n t werden. Gerade das war es ja, was Produktionsund Reproduktionsprozesse für Klopstock und die Genieästhetiker interessant machte. Die P o e s i e in actu brachte ungleich mehr Phantasie und Sinne in Bewegung als die P o e s i e in p o t e n t i a , der poetische Text. Der andere literaturwissenschaftliche Grund dafür, daß in Klopstocks Dichten der paradigmatische Dominanzwechsel vom Werk auf den Autor, d. h. vom Werk auf den Schaffensprozeß, verstanden als selbstzweckhaftes Handeln, als »Praxis« im Sinne Aristoteles' (siehe oben), bisher übersehen wurde, ist die gängige literarhistorische Epochenkonstruktion, wonach die Abkehr von der tradierten Werkpoetik zugunsten der Genieästhetik erst im »Sturm und Drang« erfolgte. Der Gewichtungswechsel vom Werk zum Autor schien demnach den jungen Genies Hamann, Herder, Lavater, Lenz u. a. vorbehalten. Tatsächlich war ihnen aber Klopstock auf diesem Wege vorangegangen und hatte mit seinem dichterischen Ausdrucksgestus, weniger mit seinen Werken, beispielhaft die Richtung gewiesen: »Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen«, d.h. »wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde« (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Teil 2,10. Buch). Freilich hat Klopstock selbst dafür gesorgt, daß seine paradigmatische Bedeutung für das autorzentrische Umdenken den Literarhistorikern nicht recht deutlich geworden ist. Sein außerordentlicher, so-

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Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Hg. von Klaus Siblewski. Bd. 3: Stücke und Prosa. Darmstadt: Luchterhand 1985, S. 480-489. Hier S.480. Hans-Jost Frey: Der unendliche Text. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S.76 (unter dem Titel »Ändern«),

wohl dichterisch und religiös als auch von der säkularen Tradition des Ruhmesgedankens genährter Repräsentationswille erlaubte ihm nicht, der vorherrschenden Autorbezüglichkeit seines Dichtens einen größeren, von normativen Werkpoetiken freieren Ausdrucksspielraum zu verschaffen. Von Beginn seiner dichterischen Karriere an strebte er nach der höchsten Ehre, die seiner Auffassung nach zu vergeben war: ein deutscher Homer oder ein deutscher Milton zu werden. Dieser außerordentliche Ruhmeswunsch Klopstocks (»Zeig mir die Laufbahn, wo an dem fernen Ziel / Die Palme wehet!« Dem Erlöser, 1751) band ihn an diejenigen Dichtungsgattungen, die traditionellerweise als die anspruchsvollsten und angesehensten galten und deren Meisterung nach den klassizistischen Werkpoetiken am meisten Ruhm versprach: das Heldenepos, das Drama und die Ode. Klopstocks Absicht, ein deutschsprachiges Epos zu schreiben, scheint früher entstanden zu sein als die Idee, eine Messiade zu dichten. 46 Der Dichter bezeugt also ein anspruchsvolles Werkbewußtsein, das seiner Tendenz zum spontanen dichterischen Ausdruck und zur verinnerlichenden erhabenen Ausdruckskunst zu widersprechen scheint. Diese Paradoxie zwischen e x t r a v e r t i e r t e m W e r k b e w u ß t s e i n und i n t r o v e r t i e r t e r A u s d r u c k s k u n s t machte Klopstocks literaturgeschichtliches Profil zweideutig, gab ihm eine der Vergangenheit wie der Zukunft zugewandte Janusköpfigkeit, die verhinderte, diesen Dichter den Vätern des modernen autorzentrischen Dichtens zuzugesellen. Hinsichtlich seines literarischen Gesamtwerkes blieb er eine zwiespältige Grenzerscheinung: Der introvertierte Aspekt seines Schaffens wurde von seinem extravertierten, am Ruhm orientierten Aspekt verdunkelt. Der Werkdichter relativierte den Ausdrucksdichter, der Autor der Messiade und der »Oden« den Poetiker seines e i g e n e n dichterischen Ausdrucksprozesses. Vielleicht hat der stark innerlichkeitsorientierte Novalis die Paradoxie zwischen dem Ausdrucks- und dem Werkdichter empfunden und in folgendem Fragment zu erklären versucht: »(Klopstocks Wercke scheinen größestentheils freye Übersetzungen und Bearbeitungen eines unbekannten Dichters durch einen sehr talentvollen, aber unpoetischen Philologen, zu seyn.)« 47 Spannungsvoll Gegensätzliches im Verhalten Klopstocks ist verschiedentlich von Zeitgenossen festgestellt worden. Johann Jacob Bodmer spitzte es auf die Formel zu: »der Messiasdichter und Klopstock«, der dänische Dichter Jens Baggesen kennzeichnete es als »besondere Mischung von Majestät und Kindlichkeit« und Goethe faßte es auf als scheinbaren Widerstreit zwischen einem gewissen diplomatischen ministeriellen »Ansehn« einerseits und »zarten Naturgesinnungen« andererseits. 48 46

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Bd. 3: Text/Apparat. Hg. von Elisabeth Höpker-Herberg. In: HKA, Werke IV 3, S. 187. Novalis: Poëticismen 57. In: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn ( t ) und Richard Samuel. Zweite [...] Auflage. Bd.2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und Gerhard Schulz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S.537. Bodmer an Zellweger, 5.9.1750: »Er ist gleichsam zwei Personen in einem Leib: der Messiasdichter und Klopstock.« (Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1738-1750. Hg. von Horst Gronemeyer (HKA, Briefe I). Berlin, New York 1979, S. 428.) - Jens Baggesen: La-

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Die Paradoxie zwischen dem Epos-, Oden- und Dramen-Dichter einerseits und dem Ausdrucksdichter andererseits kann aber nicht allein dadurch aufgelöst werden, daß man im einzelnen die Klopstocksche Aneignung dieser erhabenen Gattungen durch Verinnerlichung bzw. Vergeistigung studiert. Weniger die Werke selbst als ihre genetischen Hintergründe, so weit diese dokumentiert sind, können hier weiterhelfen. Das heißt: Die Rekonstruktion der dokumentierten Schaffensprozesse Klopstocks, seiner sogenannten Arbeitsweise, erschließt einen Weg, den A u s d r u c k s d i c h t e r mit dem W e r k d i c h t e r zu verbinden. Das, was beide vermittelt, ist die Erkenntnis, daß der Dichter wesentlich auch ein S t ü c k e d i c h t e r , ein Fragmentist, gewesen ist.

5. Der fragmentierend schreibende Dichter Der Dichter eines Großepos von 20 Gesängen mit über 20.000 Versen Der Messias (1748-1773) und eines Prosawerkes von 448 Seiten (8°) Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) wäre also ein verkappter Stückedichter, ein »Fragmentarier« (F. Schlegel)? Diese Erkenntnis ist der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Friedrich Gottlieb Klopstocks (kurz: der Hamburger Klopstock-Ausgabe) zu verdanken, wo die Genese der Werke aufgrund von einschlägigem handschriftlichen und gedruckten Material rekonstruiert und dokumentiert wird. Damit ist einer neuen Lektüre der Weg gebahnt, den die Werke selbst kaum eröffnen können, da sie sich ja nicht von sich aus als rhapsodische Produkte eines Fragmentisten, einer Bricolage, eines patchworks, zu erkennen geben. Diese Lektüre weist Klopstock einen der literarischen Moderne näheren Platz zu und entzieht ihn damit der Anwendung literarhistorischer Verlegenheits- und Bequemlichkeitsformeln, die den Autor als eine Übergangserscheinung zwischen den Epochen im 18. Jahrhundert deuten lassen. 49 Wohl nicht speziell daran dachte Michael Bernays, als er in der Einleitung zur Sammlung Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 17641776 (Leipzig 1875) den Wunsch nach einer kritischen Klopstock-Ausgabe zum Ausdruck brachte. Aber immerhin versprach er sich von ihr das Erscheinen des Dichters in seiner »ganzen Würde und Bedeutung«, ähnlich wie er von Suphans Herder-Ausgabe erwartete, daß sie die »wahre Gestalt« ihres Autors »auferstehen« lasse:

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byrinthen eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankerig. Tl.l. Kopenhagen 179293. Deutsch von Carl Friedrich Cramer: Baggesen oder das Labyrinth. Eine Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. St.3. Altona 1794. S.50. - Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Teil 2,10. Buch. Z. B. Schleiden: »Als Dichter wie auch als Theoretiker steht Klopstock zwischen den Zeiten und Zeitbewegungen.« (Karl August Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Geschichte der deutschen Poetik (Schriften der Universiät des Saarlandes). Saarbrücken: West-Ost-Verlag [1954], S.145.)

sie [die kritische Klopstock-Ausgabe] müßte vornehmlich für die geschichtliche Einsicht in das Werden unserer neuen Dichtersprache den reichsten Gewinn bringen und den ersten großen Bildner dieser Sprache in seiner ganzen Würde und Bedeutung erscheinen lassen (S.VIII). In e i n e m kleinen Textstück in der Gelehrtenrepublik

beschreibt Klopstock die »in-

nige Herzenslust«, die ihm das textgenetische Schreiben als solches - er nennt es »Entwurf« - in Verbindung mit d e m G l a u b e n , daß daraus ein Werk entstehe, bereitet. D i e s e n das Schaffen energetisierenden Werkglauben nannte er im Titel » D i e Luftschlösser des G e l e h r t e n « , eine M e t a p h e r für: inspirierende, schöpferisches Verhalten b e f r e i e n d e A r b e i t s h y p o t h e s e n . D e r Text lautet: Den Entwurf zu einem Buche machen, das Neues enthält (mit Schnelligkeit, mit Feuer, mit Ungestüm!) und zugleich glauben, man werde den Entwurf ausführen, ist innige Herzenslust, und vielmehr als Vergnügen. So hab ich ihrer nicht wenige heut entworfen, und morgen die Hofnung aufgegeben sie zu schreiben. Vergessen sind sie! Doch bin ich darum weniger glüklich bey den Entwürfen gewesen? 5 0 D a s erinnert bereits an A u t o r e n des 20. Jahrhunderts, die sich über die b e s e l i g e n d e Lust - nicht nur die Mühsal - des Schreibens geäußert haben. 5 1

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. 1: Text. Hg. von RoseMaria Hurlebusch. (HKA, Werke VII 1) Berlin, New York 1975, S.87. 51 Zum Beispiel Max Frisch auf die Frage von Heinz Ludwig Arnold: »Gibt es Glücksgefühle beim Schreiben, an der Schreibmaschine?« Frisch: »Die größten, die es gibt, ja.« (Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Schriftstellern. (Beck'sche Schwarze Reihe 134) München: C. H. Beck 1975, S. 73.) Oder Elias Canetti: »Es ist aber wahr, daß ich nur hier, an meinem Tisch, vor den Blättern der Bäume, deren Bewegung mich seit zwanzig Jahren erregt, ich selber bin, nur hier ist dieses Gefühl, meine schrecklich wunderbare Sicherheit intakt, und vielleicht m u ß ich sie haben, um nicht vor dem Tod die Waffen zu strecken.« (Das Geheimherz der Uhr. In: Elias Canetti: Aufzeichnungen 1942-1985 (Werke). München: Carl Hanser 1993, S. 397-398.) Oder Robert Menasse: »Aber beim Erzählen hatte ich das Gefühl, ein vorhandenes Talent mit den Notwendigkeiten des Lernens und des Reflektierens verbinden zu können - in einem Strom. Und dann ist es mir beim Schreiben sehr rasch gelungen, zwei verschiedene, gleichwertige Formen von Glückszuständen herzustellen. Man kann manchmal glücklich sein, wenn man schreibt. Oft ist es leidvoll, und manchmal verflucht man es, aber aus irgendeinem Grund geht dann wieder etwas auf.« Oder Peter Rühmkorf: »Schreiben ist für mich ein Glücksgefühl. Es geht ja einerseits um den Ausdruck und gleichzeitig um die Verfassung seiner selbst, und das sollte doch wohl mit Glück verbunden sein. [...] Das ist ein Beruf, der Glück machen muß beim Produzieren, nur so kann man auch Glück ausstrahlen. Und das ist es ja, was die Literatur letzten Endes soll.« (Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1998, S.78; 181.) Oder George Simenon, der seine Arbeitsweise mit den Ausdrücken charakterisierte: »me mettre en transe« und »l'Etat de Grâce« (Brief an A n d r é Gide, ca. 15. Januar 1939; Francis Lacassin et Gilbert Sigaux: Simenon. Paris: Plön 1973, S. 396-405. Hier S. 400-401). Und schließlich Wilhelm Busch, der eingestandenermaßen die meisten seiner Bildergeschichten zum »Selbstpläsir« (»Was mich betrifft«; Brief an Friedrich August von Kaulbach, 16.9.1886) geschaffen hat, kannte nur zu gut das intime Lustrevier des poetischen Schaffens: »Wie wohl ist dem, der dann und wann / Sich etwas Schönes dichten kann!« (Balduin Bählamm,

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Klopstock arbeitete stückweise, wie er in einem Brief an einen seiner ältesten Freunde, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, am 19. Dezember 1767 bekundete: »ich arbeite nach meiner, wie ich glaube, löblichen Gewohnheit, sehr stiikweise«. 52 Mit dieser Aussage bezog er sich zwar im genannten Brief auf die Entstehung eines Dramas (Hermann und die Fürsten), aber sie beschreibt zutreffend einen generellen, werk- und gattungsunabhängigen Aspekt seines textgenetischen Schaffens. Bereits diese generalisierende Bezugnahme ist aufschlußreich, denn sie zeigt, daß für den Autor das S c h a f f e n als s o l c h e s , unabhängig von seinem Herstellungszweck, bedeutsam war. Er selbst begriff es bereits als Arbeitsweise im eigentlichen Sinne. In der Tat bezeugen die in seinem Arbeitstagebuch 1755 und 1756 enthaltenen Vermerke zur Entstehung des Messias-Gesangs X eine von der gedruckten Textfolge abweichende Produktion von jeweils kleinen Textstücken, häufig nur wenige Verse umfassend. 53 Diese Fragmentenproduktion des Messias hat Klopstock Johann Jacob Bodmer gegenüber, dem großen Zürcher Literaturkritiker und Förderer des Me.sjmv-Dichters, freimütig zur Sprache gebracht; er schreibt am 26. Januar 1749: »Wenn ich meinen Unruhen entwischen kann; so arbeite ich bisweilen einige kleine Fragmentchen aus«.54 Überhaupt gebrauchte Klopstock gerne den außerpoetologischen Begriff des Fragments, wenn er auf das von ihm für den Messias Geschriebene zu sprechen kam. Im Mai 1758 schreibt er an seinen Freund Johann Arnold Ebert: Wenn nur das Abschreiben nicht wäre; so schikte ich Ihnen meine Fragmente vom Mess. [...] Ich bin heute ausserordentlich glüklich gewesen. Ich habe diesen Morgen über 50Verse im X l l l t e n Gesänge gemacht. Sie müssen aber deßwegen nicht denken, daß ich mit dem XI u XII fertig sey. Bey weiten nicht. Und doch ergreife ich jede Minute der poetischen Stunde bey beyden Händen. 5 5

Das von ihm groß geplante christliche Nationalepos dichtete er primär seinem Schöpfergeist, seinem kreativen Impuls folgend und nicht nach Maßgabe eines kon-

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der verhinderte Dichter, 1. Kapitel, V. 1 - 2 ; Wilhelm Busch: Gesamtausgabe in vier Bänden. Hg. von Friedrich Bohne. Bd.4. Wiesbaden: Emil Vollmer o.D., S.7,151; Wilhelm Busch: Sämtliche Briefe. Kommentierte Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 1: Briefe 1841 bis 1892. Hg. von Friedrich Bohne unter Mitarbeit von Paul Meskemper und Ingrid Haberland. Hannover: Richard Beeck 1968, S.273.) Das Schöne umfaßt hier auch das KatastrophischUnheimliche, Disharmonische. Die obsessive katastrophische Tendenz in Büschs formal offenen Bildergeschichten ist ein Indiz dafür, daß der Autor sie primär für sich selbst geschrieben bzw. gezeichnet hat. Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Hans Zeller und Gunter Martens (Hgg.): Textgenetische Edition (Beihefte zu editio 10). Tübingen: Niemeyer 1998, S.8-51. Hier S.8-14. Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1767-1772. Hg. von Klaus Hurlebusch. (HKA, Briefe V 1) Berlin, New York 1989, Nr.31, Z.49/50. Vgl. H K A , Werke IV 3 (Anm.46), S. 321 -324; Klopstocks Arbeitstagebuch. Hg. von Klaus Hurlebusch (HKA, Addenda II). Berlin, New York 1977, S.392-411. Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1738-1750. Hg. von Horst Gronemeyer (HKA, Briefe I). Berlin, New York 1979, Nr. 20, Z.84-86. Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1753-1758. Hg. von Helmut Riege und Rainer Schmidt (Nr. 1 - 2 1 ) (HKA, Briefe III). Berlin, New York 1988, Nr. 55, Z.58/59; 63-67.

struierten Werkplans, eines Grundrisses, den es wahrscheinlich nie gegeben hat. 56 Das heißt: In bezug auf die definitive Textfolge des Werkes schrieb der Autor diskontinuierlich. Genetische Priorität hatten die inneren Selbstschöpfungsbedürfnisse des Autors, nicht die äußeren, schöpferischen Ansprüche des Werkes, ζ. B. allgemeine gattungspoetologische Erfordernisse. Das hat auch Meta Klopstock am »Messias«-Dichter beobachtet. Sie schreibt am 6. Mai 1758 an Samuel Richardson: I [...] beeing always present at the birth of the young verses, which begin always by fragments here and there, of a subject of which his soul is just then filled. He has many great fragments of the whole work ready. You may think that persons who love as we do, have no need of two chambers; we are always in the same. I, with my little work, still, still, only regarding sometimes my husband's sweet face, which is so venerable at that time! with tears of devotion and all the sublimity of the subject. 57

Nicht nur kleine, sondern auch größere Textabschnitte sind unabhängig von der endgültigen Textfolge des Werkes entstanden, z. B. 1748 und 1749 Szenen und Episoden, zu einer Zeit, als Klopstock noch nicht am V. Gesang arbeitete, in den sie schließlich eingearbeitet wurden. 58 Teile der »Episode vom Weltgericht« im XVIII. bis XIX. Gesang (Vers 259) sind in der frühen Arbeitsphase 1749/1750 bis etwa 1753 geschrieben worden, also lange vor der Fertigstellung der Gesänge XVIII und XIX. 59 Klopstocks eschatologische Neigungen waren stärker als die Arbeit an der Fortsetzung des Werkes mit den Gesängen VI bis VIII. Diskontinuierlich, unabhängig von der Entwicklung von Gesang XI bis XX sind auch die lyrischen »Fragmente« entstanden, aus deren Text der Schluß des Werkes, der Triumphgesang bey der Himmelfahrt besteht. 60 Literaturbetrachter, die mehr auf die Schriften als auf die Schriftsteller achten, neigen dazu, Charakteristika des dichterischen Produzierens als äußerliche Verhaltenskuriosa, von denen nur wegen monographischer Vollständigkeit Kenntnis zu nehmen ist, abzutun - zu Unrecht, wie ich meine. Klopstocks stückwerkhaftes, rhapsodisches Schreiben entsprach seinem Ausdrucksideal der Kürze. Dieses Ideal ist jedoch nicht im Sinne eines rhetorischen Stilprinzips, einer virtus dicendi zu verstehen. Es hat vielmehr religiöse oder sprachtheologische Wurzeln. Kürze ist für den frommen Dichter der Ausweg aus der Spannung zwischen der unerschöpflichen Fülle und Unaussprechlichkeit Gottes und dem Drang, sich ihm dennoch redend zu nähern. 61 In dem Maße, wie der Dichter sich vor allem als s c h ö p f e r i s c h e s Ebenbild Gottes verstand, dessen Fülle und Unaussprechlichkeit er für sich selbst in An-

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Vgl. HKA (Anm.46), S. 181-182. Meta Klopstock geborene Moller. Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Hermann Tiemann. Bd. 2: 1754 bis 1758. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 1956, S.663. Vgl. HKA (Anm.46), S.207. Vgl. HKA (Anm.46), S.217, 239. Vgl. HKA (Anm.46), S.233, 340-353. Vgl. Kevin F. Hilliard: Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern. In: Das Erhabene in der Dichtung (Anm.27), S. 13-32.

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spruch nahm, d. h. als Ideal der Selbststeigerung verinnerlichte, wurde die Spannung zwischen Schweigen und Reden nicht nur in der Gottesrede, sondern auch im Selbstausdruck wirksam. Die »Fülle des Herzens« und die bewegte Ganzheit der Seele schienen in der Gefahr, entstellt zu werden, wenn sie vom vorherrschenden Verstand in diskursiver, textimmanenter Logik eingeschränkt wurden. Dieser Gefahr begegnete der Autor dadurch, daß er es durch ein sprunghaftes, fragmentierendes Schreiben gar nicht erst zu einer diskursiven, textimmanenten Entfaltung des Verstandes kommen ließ. Das intentionale Fragment sollte den Anpassungsdruck und Kohärenzzwang, der vom schriftlich fixierten Gedachten bzw. Gesagten ausgeht, sozusagen die innere Gedankenkausalität des Textes, gering halten. Zu einer textimmanenten, linearen Eingrenzung, Gefangennahme des Geistes sollte es nicht kommen. Der Text sollte das Denken nicht binden, sondern es im buchstäblichen Sinne f r e i s e t z e n , auch in der Prosa, wie die einzelnen, vermutlich unabhängig voneinander entstandenen handschriftlichen Textstücke zur geplanten, aber vom Autor nicht verwirklichten Fortsetzung der Gelehrtenrepublik zeigen. Seinem Charakter nach ist diese Schrift ein o f f e n e s W e r k , bestehend aus locker verbundenen Textstücken, die an sich beliebig durch weitere Textstücke vermehrt werden konnten. Die werkfremden Einlagen, ζ. B. Epigramme, Fragmente »zu einer neuen deutschen Grammatik« und zur »Poetik«, Briefauszüge, sind hierfür ein beredtes Zeugnis. 62 Das Schreiben war also ein Balancieren zwischen textlicher Einschränkung und textlicher Befreiung des Denkens, um das es dem Autor letztlich ging. Das selbstgeschaffene Fragment war für ihn das Mittel selbstgeschaffener Befreiung seines Innenlebens. Sein bewußter Hang zur Kürze, zum Fragmentarischen hatte seine Wurzeln in der P a r a d o x i e seines Schaffens: einer V e r i n n e r l i c h u n g durch A u s d r u c k , einer s e l b s t i n d u z i e r t e n S p o n t a n e i t ä t , eines w i l l e n t l i c h herbeigeführten u n w i l l k ü r l i c h e n E r l e b e n s . In einer Notiz seines Allgemeinen Brouillons (Nr. 953) hat Novalis auch diese Paradoxie artikuliert: »die ganze Poesie beruht auf [...] selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Z u f a l l s p r o d u k t i o n . « Das Schreiben war nur der äußere, vom Willen beeinflußte Teil einer seelischen Gesamtbewegung, die im Innern des Autors entstand, aber auch schließlich dort, d. h. den Text transzendierend, sich erfüllte. Dem Schreiben bzw. dem Text kam in diesem Gesamtprozeß geistiger Erneuerung, in dem die Kräfte der Seele sich in einer harmonischen Wechselwirkung entfalteten oder entfalten sollten, die zwar notwendige, aber i n t e r m e d i ä r e Funktion des evokativen und impulsgebenden Verstärkers zu. Klopstock verstand diesen die ganze Seele erfassenden Erneuerungsprozeß in Begriffen der Erhebung, deren objektive Korrelate natürlich Vorstellungen des Erhabenen sind. In einem Aufsatz zur Rechtfertigung des Messias sagt er: »Welche neue Harmonie der Seele entdecken wir dann in uns! Mit welchem ungewohnten Schwünge erheben sich die Gedanken und Empfindungen in uns! Welche Ent-

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Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik, Bd. 2: Text und Apparat. Hg. Klaus Hurlebusch (HKA, Werke VII 2) (im Druck).

würfe! welche Entschlüsse!« 63 Poetisch-prozessuale Erneuerung der Seele war für Klopstock Wiedergewinnung i h r e r u r s p r ü n g l i c h e n g ö t t l i c h e n F ü l l e u n d G a n z h e i t . Die von ihm vollzogene Aufwertung des Schaffensprozesses war also noch keine Verabsolutierung - wie sie etwa bei Dichtern des 20. Jahrhunderts (Valéry ζ. Β.) zu beobachten ist, für die der Autorbezug des Schreibens wichtiger war als der Werkbezug. Der Prozeß wurde von ihm noch als zielgerichteter verstanden. Das Schaffensziel ist allerdings nichts Äußeres, sondern etwas Inneres: die H a r m o n i e d e r S e e l e n k r ä f t e , die sich letztlich erst in der erhofften himmlischen Erlösung von der Körperlichkeit, der »Schwere der Erde«, 64 vollendet.

6. Gegen den Systemgeist, für den schöpferisch sich erneuernden Autorgeist: Klopstock, Hamann, Herder Die Tendenz zur Breviloquenz bzw. zum fragmentierenden Schreiben ist nicht nur stilistischer oder kompositorischer Ausdruck einer gegebenen Geisteshaltung, sondern auch fermentum creationis des Autorgeistes. Der fragmentierende Redeverzicht ist sozusagen eine auf das Innenleben bezogene Kunst, überschießendes geistiges Tätigsein hervorzulocken. Die Erkenntnis dieser sprachlichen bzw. textlichen Selbsteinschränkung des Autors als eines Mediums seiner geistigen Selbstfreisetzung öffnet den Blick für Gemeinsamkeiten Klopstocks mit einem zeitgenössischen Autor, der bisher, ohne Einsicht in die fragmentierende, rhapsodische Schaffensweise des Dichters, weit von ihm abgerückt wurde: zu Johann Georg Hamann, dem »Magus in Norden«. Über Hamanns verehrungsvolles Verhältnis zu Klopstock, speziell auch zum Prosaisten, und dessen kühle Haltung gegenüber dem jüngeren Autor haben vor allem Rudolf Unger und Josef Nadler unterrichtet, freilich ohne die tiefere autorzentrische Geistesverwandtschaft beider zu erkennen. 6 5 Diese beiden großen Hamann63

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Back/Spindler (Anm.23), Bd. 4, S. 96. Klopstocks Hymne Dem Allgegenwärtigen, V. 13. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Mit Unterstützung des Klopstockvereins zu Quedlinburg. Hg. von Franz Muncker und Jaro Pawel. Bd. 1. Stuttgart: Göschen 1889, S. 123. Zu Klopstocks Religiosität vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. 2. Aufl. Kronberg/Ts.: Scriptor 1975. - Klaus Hurlebusch: Artikel »Klopstock«. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin: de Gruyter 1990, S. 271-275. Vgl. Rudolf Unger: Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden. München: C.H. Beck 1905, S.203-208; ders.: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert, Bd.l: Text. Tübingen: Niemeyer 1963, S.426-429; Bd.2: Anmerkungen und Beilagen. Tübingen: Niemeyer 1963, S. 764-766. - Josef Nadler: Johann Georg Hamann. 1730-1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg: Otto Müller [1949], S. 332-336,457-458. - Zum Brief Hamanns an Klopstock vom 15.10.1780 vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1776-1782. Hg. von Helmut Riege (HKA, Briefe VII 1). Berlin, New York 1982, Nr 163 und Erläuterungen hierzu im Bd. VII 3, S. 880-887.

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Gelehrten dachten noch zu sehr werkzentrisch, um die tiefere geistesselbstschöpferische Gemeinsamkeit zwischen dem grandiosen Lyriker und dem scheinbar bescheidenen Prosaisten spüren zu können. Ein detaillierter Vergleich Klopstocks mit dem Autor der »Brocken«, »Fragmente«, »Grillen«, »Einfälle« 66 ist wohl nicht notwendig, in diesem Zusammenhang auch nicht wünschenswert. Ich möchte nur auf Folgendes aufmerksam machen. Während Klopstock aus seinem Repräsentationsanspruch und Sendungsbewußtsein heraus sein fragmentierendes Schreiben in seinen gedruckten dichterischen Werken rhapsodisch n i c h t zum Ausdruck kommen läßt, hat Hamann es in seinen Schriften gegenüber der Öffentlichkeit nicht nur nicht verborgen, sondern es zur eigentümlichen kunstbewußten Schreibart gemacht. Im Unterschied zum poetischen Kryptofragmentisten und Kryptorhapsodisten Klopstock - nur in seiner Prosa gab er sich öffentlich als Fragmentist zu erkennen spielte Hamann als Autor vor dem Publikum mit offenen Karten, das literarische Kunstrichtertum direkt herausfordernd. In dieser Hinsicht ist Hamann leichter als Anbahner modernen Schreibens zu diagnostizieren als Klopstock, den man sich erst als Schreibenden aus überlieferten Handschriften und Zeugnissen philologisch erschließen muß. Hamann verkörpert sozusagen das genus humile der frommen Autorzentrik, Klopstock das genus grande. Hamann schreibt am 18. Januar 1778 an Johann Caspar Lavater: »Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk«. 67 Was beiden Autoren gemeinsam ist, ist die vorherrschende schöpferische Autorbezüglichkeit ihres Schreibens. Hamann verwirklicht sie aber nicht wie Klopstock auf poetische, sondern auf exegetische Weise. Entsprechend seiner Vorstellung eines sich herunterlassenden (»kondeszendenten«) Gottes ist Hamanns schriftstellerisches Ziel e i n k r e a t ü r l i c h e s Selbstverständnis der Autorschaft, d. h. ein Schreiben, aus dem alle intellektualistischen Ansprüche der Erkenntnis zugunsten eines verstärkten Sensualismus getilgt wurden, in einer Zitaten- und bilderreichen Sprache, dem sogenannten a b b r e v i e r t e n C e n t o s t i l , i n dem Heiliges mit Gemeinem gemischt und die Bilder unvermittelt aneinandergereiht sind. 68 Im häufigen Zitieren aus der Bibel und aus Autoren der griechischen und lateinischen Antike vollzieht der Autor auf seine Weise eine Kondeszendenz zu anderen Autoren, behilft sich mit fremden Federn, 69 wobei er sich demütig von schöngeistigen Flausen, modischen Anschauungen seiner Zeit, reinigt. Dieser gedrängt-vehemente, unterschiedliche Elemente spielerisch vereinigende Stil erfüllt seine Funktion nicht im distan-

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Vgl. Hamann an Johann Gotthelf Lindner, 12.10.1759. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 1: 1751-1759. Hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel (Bd. 4 - 7 von Arthur Henkel). Wiesbaden: Insel 1955, S.431. Im Folgenden abgekürzt zitiert: Hamann, Briefwechsel. Hamann, Briefwechsel (Anm.66), Bd. 4, S.6. Zu Hamanns Stil vgl. Josef Nadler: Johann Georg Hamann (Anm. 65), S. 463-464. - SvenAage J0rgensen: Zu Hamanns Stil. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 47 (1966), S. 374-387. Hamann an Klopstock, 15.10.1780; HKA, Briefe VII 1 (Anm. 65), Nr. 163, Z.25.

ziert-rationalen Verstehen, sondern in einer Autorschaft, die sich dynamisch im Wechselbezug von sinnlicher Mikrologie und geistig-religiöser Transzendenz bildet. Nur im dialektischen Wechsel zwischen Reproduktion und Dechiffrierung könnte Hamanns Sprache auf den Leser eine ähnlich evozierend verändernde Wirkung hervorbringen, die sie im Autor selbst erzeugte. Das Wechselspiel der seelischen Kräfte hat Rudolf Unger folgendermaßen beschrieben: »Vielmehr gewahren wir ein unentwirrbares Ineinanderbefangensein« 70 und auf eine Äußerung Hamanns in seinem Brief an Herder vom 9. November 1785 verwiesen: »Bey mir hängt alles zusammen und ineinander, wie Himmel und Erde«. 71 Der ideale Leser Hamanns war ähnlich wie derjenige Klopstocks ein reproduktiv nachvollziehender Komplize des Autors, d. h. ein die Produktionsbewegungen aufnahmebereit Nachproduzierender. Hamanns Lesesucht scheint in diesem Bedürfnis nach einer erlebnishaften Folge von Wahrnehmungsanstößen und von neuen Wahrnehmungen motiviert zu sein; er schreibt an Johann Caspar Lavater (18. Januar 1778): »So ein großer Bücherwurm ich auch bin, so hängt doch meine Lesesucht von Umständen ab, und seit langer Zeit genieße ich einen Schriftsteller bloß, so lange ich das Buch in der Hand habe. Sobald ich es zumache, fließt alles in meiner Seele zusammen [.. .].«72 Hamann und Klopstock legten dem Lesepublikum gegenüber eine sehr kritische Einstellung an den Tag. Hamann nannte es »den kundbaren Niemand«, Klopstock »ein tausendzüngiges Thier«.73 Der Autorgeist, dem sich der Leser Klopstocks prozessual angleichen sollte, war, entsprechend dem Gottesbild dieses Dichters, derjenige schöpferischer Hoheit und Erhabenheit, wohingegen der Autorgeist, den Hamann schaffen wollte, einer der bewußten geschöpflichen Niedrigkeit und Demut war. Eines seiner Vorbilder war z. B. Sokrates, »der weise Idiot Griechenlands«. 74 Auch für den »Magus in Norden« war der Autorbezug des Schreibens gegenüber dem Werkbezug der vorherrschende geworden. Seine Schreibweise beherrschte nicht nur seine Schriften, sondern verband auch weitgehend diese mit seinen Briefen. Einer der besten Hamann-Kenner, Sven-Aage J0rgensen, schreibt über das Werk, mit dem Hamanns Autorschaft begann, über die Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759): 70 71 72

73

74

Unger: Hamanns Sprachtheorie (Anm.65), S.32. Hamann, Briefwechsel (Anm. 66), Bd. 6, S.127, Z.19-20. Hamann, Briefwechsel (Anm. 66), Bd. 4, S. 6 - 7 . Nora Imendörffer über den Leseeifer dieses Autors: »Hamann war einer der unersättlichsten Leser, die wir kennen.« (Nora Imendörffer: Johann Georg Hamann und seine Bücherei. (Schriften der Albertus-Universität, Geisteswissenschaftliche Reihe 20). Königsberg / Berlin: Ost-Europa-Verlag 1938, S.2. Dieses Buch beginnt mit einem instruktiven, sehr verständnisvollen Kapitel über den »Leser Hamann« (S.2-12), in dem auf die »engste Beziehung« zwischen »Lesertum und Schriftstellertum« des Autors hingewiesen wird (S. 10). Hamann an Klopstock, 15.10.1780; HKA, Briefe VII 1 (Anm.65), Nr. 163, Z.5. - Klopstock an Johann Jacob Bodmer, Dezember 1750; HKA, Briefe I (Anm. 54), Nr. 98, Z.302. Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose. In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Josef Nadler. Bd. 2: Philosophie, Philologie, Kritik. Wien: Herder 1950, S. 197. Die Ausgabe wird im Folgenden abgekürzt zitiert als: Hamann, Sämtliche Werke.

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An diesem ersten, im Vergleich zu seinen späteren Schriften stilistisch und inhaltlich leicht zugänglichen Werk lassen sich schon die Züge bestimmen, die für Hamanns ganze »Autorschaft« charakteristisch sind. Darüber hinaus zeigt ein Vergleich zwischen dem Brief und dem späteren Werk den fließenden Übergang zwischen privatem Brief und öffentlicher Autorschaft. Dieser Zug ist für große Teile von Hamanns Œuvre bezeichnend [.. .].75 Bereits H e g e l hatte die Vorherrschaft der S c h r e i b w e i s e bei diesem Autor erkannt, wenn er sagt: »Hamann's Schriften haben nicht sowohl einen eigenthümlichen Styl, als daß sie durch und durch Styl sind«. 76 D e r früheren philologischen Bevorzugung des für sich bestehenden Werkes gegenüber d e m unselbständigen Textmaterial ist dieser Autor so wenig e n t g e g e n g e k o m m e n , daß man vor Nadlers Konzeption seiner historisch-kritischen Ausgabe wiederholt die chronologische Wechselfolge von Werktexten und Briefen als das angemessene editorische Anordnungsprinzip hielt: D i e von Friedrich Roth herausgegebenen Schriften (Bd. 1 - 7 , 1 8 2 1 - 2 5 ) sind so aufgebaut und der langjährige Sammler von Hamanniana, A . Warda, beabsichtigte etwas Ähnliches. D i e chronologische Anordnung schien ihm »die einzig gegebene, die Schriften erhalten dann in den Briefen einen fortlaufenden Kommentar.« 7 7 Auch für diesen Autor, den »Virtuosen des >HeuschreckengangsKonxompaxAugenblickeinterprétation< génétique. Le >substrat< (en allemand >Befundinterprétation< génétique. L'édition de Meyer propose à l'utilisateur la représentation combinée des éléments importants du substrat et de leur interprétation, ainsi que le cas échéant plusieurs propositions d'interprétation.«

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ein Organon geworden, dessen Handhabung eine eigene kritische und selbstkritische Denkweise erforderte. Und dadurch hatte er drittens die Voraussetzung geschaffen für eine freie, durch literaturwissenschaftliche Rücksichtnahmen nicht mehr belastete oder eingeschränkte Wahrnehmung der Handschriften eines Autors. D e n Prozeß der Loslösung des wissenschaftlichen Edierens von der Literaturwissenschaft diagnostizierte Hans Joachim Kreutzer fast zwanzig Jahre nach Erscheinen von Zellers Aufsatz mit den Worten: »Die editorische Aufgabe besteht nunmehr weniger in der Gewinnung eines kritischen Textes im Sinne eines als verbindlich gesetzten Wortlauts als vielmehr in der zweckmäßigen und zugleich möglichst unmißverständlichen Dokumentierung seiner Genese.« 198 Heute, mehr als zwanzig Jahre später, scheint dieser Prozeß hinsichtlich seiner inneren Entwicklungslogik an ein Ende gekommen zu sein in Gestalt der sogenannten t e x t g e n e t i s c h e n E d i t i o n , des neuphilologischen Gegenstücks zur t e x t g e s c h i c h t l i c h e n E d i t i o n der mediävistischen Philologie. 199 Die textgenetische Edition zeichnet sich, wie schon der Name sagt, dadurch aus, daß ihr Skopus der Schaffensprozeß des Autors, die Handschriftendokumentation (Reproduktion) und die durch sie lizensierte Rekonstruktion der T e x t g e n e s e und nicht der typographische Text ist. Bezeichnenderweise wurde dieser Editionstypus im deutschen Sprachraum an den Handschriften von Autoren entwickelt, die auf dem von Klopstock, Hamann und Herder eröffneten Weg einer Existenzialisierung des Schreibens als Bewegung geistiger Selbsterneuerung fortgeschritten sind: Hölderlin, Kleist, Heym, Trakl, Kafka, Barlach. Die textgenetischen Editionen ihrer Werke 200 veranschaulichen erstmals angemessen die Offenheit und Spontaneität

198

Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog (Beihefte zum Euphorion 7). Heidelberg: Carl Winter 1976, S. 13. 199 Vgl. Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Kurt Ruh (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 37-52. Ferner: Klaus Hurlebusch: Edition. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Hg. von Ulfert Ricklefs. Bd. 1. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 457-487. Hier S.459. 200 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. »Frankfurter Ausgabe«. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler u.a. Frankfurt/M.: Stroemfeld / Roter Stern 1975ff. - H.v. Kleist: Sämtliche Werke. Berliner bzw. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Frankfurt/M.: Stroemfeld / Roter Stern 1989ff.; Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hg. von Günter Dammann, Gunter Martens, Karl Ludwig Schneider. Bd. 1-2. Tübingen: Niemeyer 1993; Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe (Anm. 132); Franz Kafka: Der Process. [Faksimile-Edition in 17 Heften] (F. K.: Historischkritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Eine Edition des Instituts für Textkritik). Hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997. - Ernst Barlach: Sämtliche Werke. Gesamtherausgeber: Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung. Unter Mitwirkung der Ernst Barlach Stiftung Güstrow und der Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg. Kritische Ausgabe. Hg. von Ulrich Bubrowski. Bd. 2-3: Dramen II-III. Leipzig: Seemann 1998-1999. - Zur Zuordnung Hölderlins, Heyms und Kleists zum Typus der vorherrschend selbstbezüglichen 62

des Schaffens und entziehen damit dem werkfinalistischen Mißverstehen ihrer Texte den Boden. Ähnliches dürfte die geplante »Manuskript-Edition« von Nietzsches Nachlaß bewirken: Gegenstand der Nachlaßedition ist also nicht die Aufbereitung von Texten, sondern die Dokumentation von Niederschriften. Wir haben uns dabei auf den Begriff »ManuskriptEdition« geeinigt, und der Gedanke ist der, daß die von Nietzsche beschriebenen Hefte, Blätter, Zettel usw. transkribiert und in der ursprünglichen Anordnung der Niederschriften wiedergegeben werden sollen. 201

Aber lösen diese Editionen damit das Schaffen vielleicht auch vom Interesse der betreffenden kognitiven Disziplinen, ζ. B. von der Literaturwissenschaft und der Philosophie ab? Immerhin hat in diesen Editionen das autorzentrische Denken in einem Ausmaß die Vorherrschaft gewonnen, wie es anderswo kaum zu beobachten ist. Deutschsprachige Kolloquien über textgenetisches Schreiben, vor allem aber die critique génétique in Frankreich zeigen, daß hier, abseits von den werkzentrischen Literaturstudien, eine autorzentrische Spezialdisziplin im Entstehen ist. Zellers Postulat kritischer Selbstverdeutlichung der konstruierenden Subjektivität des Editors durch systematische Aufnahme der Befunde stieß auf breite grundsätzliche Ablehnung. Zeller hatte in seiner Unterscheidung von »Befund« und »Deutung« seine Erfahrung als kritischer und selbstkritischer Handschriftenleser begrifflich artikuliert, daß handschriftliche Gegebenheiten nicht immer bezüglich ihrer Bedeutungen verstehbar, ja nicht einmal immer eindeutig erkennbar sind und daß in diesen Fällen der Editor Deutungs- und Erkenntnisverzicht zugunsten von Deskription und Dokumentation üben müsse. Diese selbstkritischen Verständnisverzichte oder -relativierungen sind der interpretierenden Literaturwissenschaft weitgehend fremd, die innerhalb der Geisteswissenschaften als diejenige glaubt hervorzuragen, die, weil ohne von außen oder von innen kommende dogmatische, normative oder regulative Einschränkung wie ζ. B. im Falle von Theologie, Jurisprudenz und Philosophie, prinzipiell alles, zumindest das Textliche, deuten kann. Mit diesem Allzuständigkeitsanspruch kompensieren Neugermanisten als kulturwissenschaftliche Parvenus den Prestigeverlust ihres Faches als einer nationalen oder sozialkritischen Leitwissenschaft und empfehlen sich damit aufs beste für den Unterhaltungsbetrieb

201

Autorschaft vgl. Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise (Anm.51), S.40, 47; Ders.: Kritische Edition als Datenverarbeitung? Eine neue Ausgabe der Familie Ghonorez und der Familie Schroffenstein. In: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 183-199. Hier S. 189-190. - Zu nennen ist auch die Bonner Celan-Ausgabe: Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe. Frankfurt/M. 1990ff. Es ist geplant, in Ergänzungsbände der Ausgabe Faksimiles von Handschriften des Autors aufzunehmen. Vgl. Andreas Lohr: Kleine Einführung in die Bonner Celan-Ausgabe. In: Axel Gellhaus, Andreas Lohr (Hgg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Weimar: Böhlau 1996, S. 11-35; Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Andreas Lohr: Die historisch-kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht. Ebd., S. 197-226. Michael Kohlenbach und Wolfram Groddeck: Zwischenüberlegungen zur Edition von Nietzsches Nachlaß (Anm. 165), S.35.

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der Massenmedien. (Ein anderer Weg der Kompensation dieses Prestigeverlustes ist die Tendenz der Germanistik, durch Thematisierung ihrer eignen Geschichte Anschluß an die Geschichtswissenschaft, speziell die Wissenschaftsgeschichte zu finden.) Etwas als nicht deutbar zu deklarieren, gilt in der interpretierenden Literaturwissenschaft nicht als kritische Tugend wie bei skrupulösen Handschriftenlesern Zellerscher Observanz, sondern als kognitive oder hermeneutische Schwäche, die man sich nur in Ausnahmefällen, ζ. B. in bezug auf hermetische Poesie, leisten kann. Für diesen fast allzuständigen literaturwissenschaftlichen Deutbarkeitsanspruch ist der Distinktionsgewinn Zellers (»Befund« und »Deutung«) bis heute im Grunde keiner, d. h. unverständlich. 202 Aus der Vehemenz der Opposition gegen Zeller ist zu schließen, daß hier offenbar ein fundamentales Selbstverständnis des literaturwissenschaftlichen Deutens verteidigt wurde: dessen Anspruch auf prinzipiell unbegrenzte Freiheit, der sich natürlich auch auf die Editionsphilologie erstreckte. Der semiotische Unterschied zwischen handschriftlichem und gedrucktem bzw. typographischem Text wurde daher als d e u t u n g s r e l e v a n t e r geleugnet. Zeller hatte diese Deutungsfreiheit für die Handschriftenphilologie kritisch eingeschränkt, indem er an den Handschriften eigens den Aspekt thematisierte, der dem unmittelbaren Lesen bzw. Deuten Widerstand entgegensetzen konnte: die graphische Außenseite eines handschriftlichen Textes. Er machte hermeneutisch Ernst mit der Wahrnehmungstatsache, daß die Handschrift ein graphischer T e x t t r ä g e r , nicht aber der Text selbst und schon gar nicht die Textgenese ist. Zellers bahnbrechende Unterscheidung von »Befund« und »Deutung« bzw. »deskriptiver Information« und »Interpretation« beruht auf dem Unterschied der Zeugnisgattungen »Handschrift« (= paratextliches graphisches Zeichengebilde) und »Text« (= sprachliches Sinngebilde). Die »Befund«-»Deutung«-Unterscheidung ist das textphilologische Äquivalent zur »signifiant«-»signifié«-Unterscheidung in der theoretischen Linguistik (Ferdinand de Saussure). Die Differenz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, das Saussuresche Prinzip des »arbitraire du signe«, wird in Handschriften aufgrund des Chiffrierungseffekts individueller Abwandlungen konventioneller Schriftsysteme und linearer Schreibweisen viel sinnfälliger als in typographischen Texten - bis an die Grenze der Dechiffrierbarkeit und stellenweise über diese hinaus. Für Zeller war und ist die Handschrift mehr als nur eine Textquelle, die sie für seine Gegner ausschließlich war und ist. Sie ist für ihn auch ein Zeugnis e i g n e r A r t . Durch ihn wurde innerhalb der neugermanistischen Editionsphilologie die textgenetische Handschriftenlektüre, deren Dekodierungsleistung mit derjenigen der Drucktextlektüre keineswegs gleichzusetzen ist, in ihrer Eigenart erkannt und anerkannt und damit erst theoriefähig. In der Handschriftenlektüre herrscht ja der Objekt- und Mittelbezug der Zeichen vor, d. h. ζ. B. der Bezug der Graphen zu Buchstaben, Silben, Worten, Wortbedeutungen, In-

202 v g l A n n e Bohnenkamp: Textkritik und Textedition. In: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft (dtv 4704). 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1997, S. 179-203. Besonders S. 198.

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terpunktionen, Korrekturmarkierungen u. a. oder die Vor-, Nach- und Nebenordnung eines graphischen Zeichens χ zu einem anderen y bzw. die Zuordnung eines Zeichens xy zu einem Zeichen yx mit Ersetzungs- oder Variationsfunktion; hier, in der Drucktextlektüre, dagegen hat der Interpretantenbezug der Zeichen den Vorzug. Die Gegner Zellers versuchten, die Deutungssouveränität des literaturwissenschaftlichen Drucktextlesers auch für die philologische Handschriftenlektüre zu sichern, indem sie auf den Selektions- und Abstraktionsmodus der von Zeller geforderten deskriptiven Information, kurz auf deren interpretativen Modus, hinwiesen. Das schien der viel zitierten einschränkungslosen Erklärung Manfred Windfuhrs » E d i t i o n ist I n t e r p r e t a t i o n « Recht zu geben. 203 Die literaturwissenschaftliche Text- und Deutungswelt schien damit wieder in Ordnung zu sein; sie schien gereinigt von störenden Elementen, von objektiv deutungswiderständigen Zeugnissen, nämlich von schwer oder stellenweise gar nicht lesbarem handschriftlichen Material. Die Deutungssouveränität glaubte man auch für die Editionsphilologie gesichert zu haben. Auf die Kränkung der Eigenliebe reagiert der germanistische Deuter wie der Mensch überhaupt: durch Gegenwehr, die auf kognitive Unterschiede keine Rücksicht nimmt. Für die theoretische Ebene der Deklarationen traf diese Selbstbehauptung der Deutungshoheit auch zu, nur nicht für die Praxis der Handschriftenlektüre selbst. Das zeigt die Entwicklung der wissenschaftlichen Textedition zur textgenetischen bzw. Faksimile-Edition. Bezeichnenderweise nicht von literaturwissenschaftlicher Seite, sondern von editionsphilologischer ist jüngst gegen diese Entwicklungstendenz der »edierte Text [...] als selbständige Einheit« zurückgefordert worden. 204 Es bleibt abzuwarten, ob diese einzelne Stimme von denen unterstützt wird, für deren Erkenntnis- und Deutungsbelange vor allem sie sich zum Anwalt gemacht hat: von Literaturwissenschaftlern. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen Autor und Deutenden ist im Interpretationsprogramm der germanistischen Literaturwissenschaft nicht vorgesehen. In ihr wirkt die in der Geniezeit entstandene subjektivistische Tendenz nach, den Leser dem Autor anzugleichen. Dieser Tendenz folgten lange, jedenfalls in der Theorie, die Hermeneutiker von Schleiermacher bis Gadamer, weniger wohl die Interpretierenden selbst in der Ausarbeitung ihrer Deutungen, die eher umgekehrt den Autor dem Leser assimilierten. Schleiermacher hat bereits diese Annäherungsrichtungen in seiner Akademie-Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens von 1813 artikuliert (Übersetzen ist ja im wesentlichen Interpretieren und vice versa): »Entweder der Übersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt

203

204

Manfred Windfuhr: D i e neugermanistische Edition. Z u den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1959), S. 4 2 5 - 4 4 2 . Hier S.440. Rüdiger Nutt-Kofoth: Dokumentierte und gedeutete Befunde. Zum Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe von C. F. Meyers Gedichten mit einem Rück- und Ausblick auf die Entwicklung der Editionsphilologie. In: Euphorion 94 (2000), S . 2 2 5 - 2 4 1 . Hier S.240.

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den Schriftsteller ihm entgegen.«205 Schleiermacher neigte, unter dem Einfluß von Voß' Homer-Übersetzung, der ersten Alternative zu. Mit dem Schwund des religiösen Menschenbildes dürfte die zweite Alternative, die Annäherung des Autors an den Leser, das Übergewicht erhalten haben. Zellers Distinktionsgewinn, der auch professionelle Buchleser vor den Verlokkungen zum Deutungsübermut 206 bewahren könnte, wird zwar nicht mehr ausdrücklich zurückgewiesen, aber allgemein ignoriert, mit Gleichgültigkeit toleriert. Ob das Mißverständnis als Objektivismus oder die Indifferenz vorzuziehen sei, mag dahingestellt sein. Zeller hat, wie bereits angedeutet, mit seiner Erkenntnis- oder Deutungskritik als erster neuerer Philologe die allgemeine Einschätzung der Editionsphilologie als Hilfswissenschaft in Frage gestellt. Mit dem Status eines »niederen Handwerks«, einer »Kunst des Feinmechanikers«, einer »Kleinarbeit« war es nicht zu vereinbaren, wenn die theoretische Selbstvergewisserung am Beispiel textgenetischer Handschriften ergab, daß die Editionsphilologie ebenso D e u t u n g s p r o b l e m e hat wie die Literaturwissenschaft die ihrigen. Größere Kompendien zur Literaturwissenschaft der letzten sechzig Jahre wie ζ. B. Julius Petersens Wissenschaft von der Dichtung (erster Band 1939)207 und Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (vierte Auflage 1956)208 wissen von der Deutungsproblematik der neueren Editionsphilologie noch nichts; Anne Bohnenkamp in dem von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering herausgegebenen »Studienwerk« Grundzüge der Literaturwissenschaft (zweite Auflage 1997)209 weiß davon nur aus Zellers einschlägigem Aufsatz, freilich ohne Verständnis für die Tragweite seiner Problematisierung editionsphilologischer Deutung. Bohnenkamps Artikel Textkritik und Textedition210 bietet in dieser Hinsicht im Vergleich zu den diesbezüglichen Abschnitten in Petersens und Kaysers Lehrbüchern nichts wesentlich Neues, das der Bedeutung der textgenetischen bzw. Manuskriptedition angemessen wäre. Für sie ist der Editionsphilologe

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Friedrich Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. Wiederabgedruckt in: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens (Wege der Forschung 8). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 38-70. Hier S.47. 206 Modische wie unmodische Deutungskapriolen, Auswüchse ungezügelter Inanspruchnahme der Deutungsmacht über die Autoren, werden kaum noch als solche kritisch bloßgestellt, seit sich in der neugermanistischen Literaturwissenschaft eine subjektivistische Indolenz gegenüber dem Ansehen dieses Faches ausbreitet. Eine rühmliche Ausnahme (hoffentlich eine von mehreren, die mir nur nicht bekannt sind) stellt Christian Wagenknecht mit seinen »glössen« (1995ff.) dar. 207 Julius Petersen: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. Bd.l: Werk und Dichter. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1939, S. 69-107. Besonders S. 80-88. 208 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Vierte Aufl. Bern: Francke Verlag 1956, S. 27-52: »Philologische Voraussetzungen«. Besonders S. 27-35. 209 Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft (Anm.202). 210 Ebd., S. 179-203.

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nach wie vor ein textkritischer und textherstellender Handlanger des Literaturwissenschaftlers. Und wenn dieser Textlieferant überhaupt Deutungsprobleme hat, so scheinen sie prinzipiell alle lösbar zu sein. Der Arbeitsschwerpunkt des neuphilologischen Editors habe sich lediglich quantitativ ausgedehnt und zur Rekonstruktion von Textgenesen hin verschoben. Von der Einsicht, daß damit die autorzentrische Betrachtungsweise zusammen mit den ihr inhärenten Deutungsproblemen eine bisher ungekannte Entfaltung erfahren hat, zeigt der Artikel keine Spur. Der Literaturwissenschaft kommt nach wie vor das Privileg zur konzeptionellen Änderung und Erneuerung zu. Innovative Impulse gehen, so die communis opinio, wie früher nur den Weg von der »höheren« Kritik zur »niederen«, 211 nicht den umgekehrten. Das kommt praktisch etwa in der allgemeinen Meinung von Dozenten zum Ausdruck, daß junge Germanisten, die sich in der Literaturinterpretation hervorgetan haben, ohne weiteres für die Editionsphilologie qualifiziert seien. Tatsächlich aber gilt diese Qualifikationsgleichung längst nicht mehr, wenn sie überhaupt je gültig war. Tatsächlich hat sich das Mündel Editionsphilologie vor allem in Gestalt der textgenetischen Edition so weit emanzipiert, daß es nun auch einmal Vormund eines sich kritisch selbst beschränkenden Deutungsgeistes sein kann, der in stärkerem Maße, als es die unter dem Einfluß des Identitätsideals stehende Hermeneutik bisher zuließ, 212 die Kluft zwischen Autor und Interpret berücksichtigen kann. Tatsächlich also hat sich das Geistgefälle zwischen »höherer« und »niederer« Kritik durch die Entfaltung der autorzentrischen, speziell der textgenetischen Editionsphilologie à la Zeller umgekehrt: Das close reading ungedeuteter, neuer handschriftlicher Textzustände und die daraus entstehende Notwendigkeit einer Infragestellung der herkömmlichen textphilologischen Begriffssprache und der Problematisierung von Deutungen haben insgesamt eine Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik entstehen lassen (neben editionstechnischen Fähigkeiten der Text- und Kontextrekonstruktion, vgl. oben Abschnitt 1), die heute größer auf Seiten der »niederen«, als auf Seiten der »höheren« Kritik, der interpretierenden Literaturwissenschaft, ist, wo nur allzu leicht und nur allzuoft ohne Sanktionen gegen die Maxime verstoßen werden darf, über das, was nicht gedeutet werden kann, zu schweigen, oder dort, wo der Sinn nicht mit Gewißheit zu erkennen ist, ausdrücklich nur Vermutungen anzustellen. Gerade das Un- oder Schwerverständliche scheint selbstgefällige Interpreta-

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212

Ebd., S. 187: »Die Entwicklung von Editionskonzepten steht außerdem in direktem, wenn auch lange kaum reflektiertem Zusammenhang mit literaturtheoretischen Positionen.« Wie kaum eine andere Hermeneutik hat die philosophische von Hans-Georg Gadamer (»Wahrheit und Methode«, erste Aufl. 1960) die Verstehenslehre der Literaturwissenschaft beeinflußt, häufig nicht im Sinne ihres philosophischen Autors. Verstehen sei - so eine Kernthese - » i m m e r der V o r g a n g der V e r s c h m e l z u n g [ . . . ¡ v e r m e i n t l i c h für sich s e i e n d e r H o r i z o n t e « . (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J.C.B. Mohr 1960, S.289.) Vgl. auch ebd., S.277: »Sofern sie aber die beiden Traditionen, in denen sie sich weiß, zu einer sinnhaften Übereinstimmung zu bringen sucht, hält eine solche Hermeneutik grundsätzlich an der Aufgabe aller bisherigen Hermeneutik fest, im Verstehen ein i n h a l t l i c h e s Einverständnis zu gewinnen.«

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tionskiinstler immer wieder zur exegetischen Wahrsagerei zu inspirieren. Wirkliche Annäherungen an einen Autor gelingen aber erst dann, wenn man sich einer letztlich unaufhebbaren Differenz ihm gegenüber bewußt bleibt (vive la différence!). Die textgenetische Edition, die c r i t i q u e g é n é t i q u e und Zellers editionsphilologische Grundunterscheidung von »Befund« und »Deutung« sind Früchte hermeneutikfreien, d. h. deutungskonzeptfreien Erkennens. Ob sie von der Literaturwissenschaft aufgenommen werden können, die trotz Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus wohl die zur Zeit hermeneutikreichste und hermeneutikbewußteste Geisteswissenschaft ist 213 - ein Zeichen größer gewordener Selbstreferenz, man könnte auch sagen: fortgeschrittener Entwurzelung und Entfunktionalisierung - , muß gegenwärtig eine offene Frage bleiben. Vermutlich wird diese Rezeption auf einzelne beschränkt bleiben ohne nennenswerte Auswirkungen auf das werkzentrierte Fach. Zur fruchtbaren Dialektik zwischen kritisch-dokumentarischer Distanz vom und interpretierender Annäherung an den Autor sei ein Aperçu Hans Blumenbergs zitiert: Der Philologe zeigt sein handwerkliches Können am glänzendsten, wenn er die Hermeneutik verachtet. Gelegentlich gelingt ihm wirklich der Zugriff auf den Autor und damit der Nachweis, daß alle Rezeption schmählich versagt hat, etwas wahrzunehmen, was plötzlich auf der offenen Hand zu liegen scheint. 2 1 4

Das Ergebnis der Entwicklung der Editionsphilologie von der Textedition zur textgenetischen Edition bzw. Handschriftenedition ist ein paradoxales: Im großen und ganzen bedeutet sie eine in diesem Ausmaße bisher nicht gekannte Annäherung an den »schöpferischen Geist [des Autors] im schöpferischen Zustand«, 215 in handschriftlichen Einzelheiten des Textes aber eine ebenfalls bis dato nicht gekannte Fremdheit gegenüber dem Autor. Warum er geändert hat, wird an vielen Textstellen ebenso rätselhaft bleiben wie manche Stellen in flüchtig entstandenen Entwurfshandschriften unlesbar. Gegenüber der Faksimile-Edition von Kafkas Process (siehe Anmerkung 200) scheint die fundamentale kritische Energie erlahmt zu sein. Haben die Literaturwissenschaftler gegenüber diesem Editionstypus resigniert? Lassen sie ihn auf sich beruhen? Wenn ja, könnte das ein Zeichen selbstzweiflerisch erschöpfter Ressourcen theoretischen Postulierens und Reflektierens sein. Dies würde aber auch bedeuten, daß an der modernen textgenetischen Edition die anfänglich (im Abschnitt 1) genannte extreme Divergenz zwischen autorzentrischer Forschung und werkzentrischer Lehre sowie die oben (im Abschnitt 9) angedeutete Aporie der Literaturwis-

2,3

214

215

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D a s lehrt z.B. ein Vergleich von Kaysers Einführung in die Literaturwissenschaft ( A n m . 2 0 8 ) mit dem von Arnold und Detering herausgegebenen »Studienwerk« (Anm.202), w o gleich drei Artikel »Grundfragen der Textanalyse«, d.h. der Hermeneutik und ihrer Kritik, gewidmet sind (S. 101-177). Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten. (Bibliothek Suhrkamp Bd. 1303.) Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag 1998, S. 162. Stefan Zweig: Meine Autographen-Sammlung. In: Philobiblon. Jg. 3 (1930). H. 7, S . 2 7 9 285. Hier S.279.

senschaft exemplarisch deutlich wird. Die Annäherung an die Individualität des Autors hat in der textgenetischen Edition mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das literaturwissenschaftliche Ansprüche relevanter, verallgemeinerungsfähiger Erkenntnisse unter- oder überschreitet. Wenn Literatur durch ihre Autoren zum genuinen Gegenstand einer Disziplin autonomisiert wird, die sich hauptsächlich mit schöner Literatur beschäftigt - und diese Autonomisierung kommt in der textgenetischen Edition zum uneingeschränkten Ausdruck - , verliert sie zugleich das genuin werkzentrische wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. In bezug auf die autorzentrischen Dichter hätten sich Literaturwissenschaft und Editionsphilologie geschieden und würden jeweils eigene Wege gehen. Der philologische Weg von der Werk- oder Textedition zur textgenetischen Edition bzw. Handschriftenedition wird nicht mehr - wie vor rund fünfunddreißig Jahren - öffentlich als Abweg denunziert, 216 auch das ein Zeichen dafür, daß beide Disziplinen sich nicht mehr viel zu sagen haben. In Arnolds und Deterings Handbuch zur Literaturwissenschaft läßt sich unschwer erkennen, wie beziehungslos sich die genannte Entwicklung im Rahmen dieses Faches ausnimmt. 217 Die Entzweiungstendenz der Moderne hätte im Reiche der Textgelehrsamkeit ein neues Beispiel erzeugt. Der geschichtliche Kreis scheint geschlossen: Die Andachtshaltung, die die Wegbereiter der autorzentrischen literarischen Moderne, Klopstock, Hamann, Herder gegenüber ihrer Sprache und ihrem Sprechen aus Bibellektüre und pietistischer Bibelhermeneutik gewonnen hatten, hat sich bei den Herausgebern textgenetischer Editionen zur Andachtshaltung gegenüber autographisch dokumentierten Schreibprozessen ausgeweitet. Textgenetische Editionen sind gewissermaßen Andachtsausgaben modernen literarischen Schreibens und stellen eine philologische, technisch hochgerüstete Spätblüte der Heiligung des Dichters und des Dichterischen dar, wie sie von Klopstock initiiert wurde. Hans Joachim Kreutzer hat an Karl Goedeke erinnert, 218 der in seiner »historisch-kritischen« Schiller-Ausgabe (Schiller, Sämmtliche Schriften, 15 Teile, 1867-1876) als Hauptaufgabe die Dokumentation der »Geschichte von Schillers Geist« ansah, also damit unverkennbar die autorzentrische Perspektive einführte. Daß Goedeke hierin Erbe des Geniekultes ist, hat Kreutzer zu Recht an einer Koryphäe des Idealismus, Wilhelm von Humboldt,

216

217 2,8

Vgl. Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf A b w e g e n ? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: Forschen und Bilden. Mitteilungen aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. H. 1 (1966), S. 2 - 2 2 . Vgl. A n n e Bohnenkamp: Textkritik und Textedition (Anm.202), S. 194-203. Vgl. Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition (Anm. 198), S. 7 6 - 7 8 . Ein bündiges Zeugnis der autorzentrischen Tradition zitiert Kreutzer aus Kleists Brief an Fouqué vom 25. April 1811: » D e n n die Erscheinung, die am meisten, bei der Betrachtung eines Kunstwerks, rührt, ist, dünkt mich, nicht das Werk selbst, sondern die Eigenthümlichkeit des Geistes, der es hervorbrachte, und der sich, in bewußter Freiheit und Lieblichkeit, darin entfaltet.« (Heinrich v. Kleist: Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hg. von Erich Schmidt. (Meyers Klassiker Ausgaben.) Bd.5: Briefe, bearbeitet von Georg Minde-Pouet. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut o.D., S. 4 1 7 - 4 1 8 . )

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exemplifiziert, der in seiner Abhandlung von 1830 Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung u. a. sagt: Es giebt ein unmittelbareres und volleres Wirken eines grossen Geistes, als das durch seine Werke. Diese zeigen nur einen Theil seines Wesens. In die lebendige Erscheinung strömt es rein und vollständig über. [...] Nichts zieht daher die Betrachtung mehr an, als jeder, wenn selbst schwache Versuch, zu erforschen, wie ein merkwürdiger Mann des Jahrhunderts die Bahn alles Denkens: das Gesetz an die Erscheinung zu knüpfen, über das Endliche hinaus nach dem Unendlichen zu streben, in seiner individuellen Weise durchlief. 219

Aufs Ganze des Editionswesens gesehen, sind die textgenetischen Editionen nur ein Randphänomen, aber ihre Exzentrizität spiegelt nur diejenige ihrer Autoren wider. Literaturwissenschaftliche Leser werden diese Andachtshaltung, die sich auch auf das Kleine, »Unbedeutende« erstreckt,220 kaum teilen können und wollen. Aber Leser nichtwissenschaftlicher Observanz, Literaturliebhaber, die nicht auf interpretatorisch und didaktisch verwertbare Erkenntnisse, nicht auf gelehrte Ausbeutung aus sind und nur den Schreibspuren ihrer Autoren folgen wollen, werden sicher für eine genetische Lektüre, eine Lektüre sozusagen mit den Augen des Autors, gewonnen werden können 221 In seiner Besprechung der von Roland Reuß, Peter Staengle und Joachim Unseld herausgegebenen Faksimile-Edition von Kafkas Beschreibung eines Kampfes I Gegen zwölf Uhr [...] (2 Bände, Frankfurt/M.: Stroemfeld Verlag 1999) schreibt Peter von Matt: In dieser neuen Ausgabe zu lesen ist ein festlicher Akt. Kafkas Handschrift hat den unbedingt sicheren Strich einer Picasso-Zeichnung. Die zweite Fassung, in lateinischer Kurrentschrift geschrieben, begegnet dem Leser als ein grafisches Ereignis von großartiger Freiheit. Kafka-Lesen wird zu einem Augenglück. 2 2 2

Das sind die Worte eines rückhaltlosen Kafka-Liebhabers, dessen Wertschätzung auch die Handschrift des Autors einschließt, nicht die Worte eines Literaturwissenschaftlers oder Kritikers. Zu dessen Obliegenheiten gehört normalerweise nicht gerade das Handschriftenlesen als ästhetisches Erlebnis. Peter von Matts Überschreitung der literaturwissenschaftlichen Fachgrenzen erinnert an eine über vierzig Jahre zurückliegende transphilologische Grenzüberschreitung Hans Zellers. In seinem bereits genannten epochemachenden Aufsatz Zur gegenwärtigen Aufgabe der Edi-

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70

In: Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften (Anm. 98), Bd. 6,2. Berlin 1907, S. 4 9 2 527. Hier S.494. In der textgenetischen Edition, insbesondere in der mit Handschriftenfaksimiles angereicherten, hat das wissenschaftliche Ethos der Textphilologie, dessen spöttische Formel die »Andacht zum Unbedeutenden« ist (vgl. oben im Abschnitt 9 Suphans Variante dieser Formel: »Andacht zum Ungedruckten«), wohl seine bisher äußerste Entfaltungsmöglichkeit gefunden. Zum wissenschaftlichen Ethos der germanistischen Philologie vgl. Rainer Kolk: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), S. 50-73. Hier S. 52-53. Vgl. Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise (Anm. 51), S. 27-30. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.2000, Nr. 30.

tionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen (1958) hatte er an die gedruckte Wiedergabe einer Dichter-Handschrift eine solche Genauigkeitsforderung gestellt, daß aus der Wiedergabe das Bild des handschriftlichen Originals rekonstruiert werden kann: »Eine Dichter-Handschrift ist etwas Lebendiges; davon soll die Textübertragung möglichst viel bewahren.« 223 Hier spricht nicht mehr der Philologe oder Textologe, sondern ein Liebhaber und Sammler von Autographen, der ihren autornahen gestischen Ausdruck zu schätzen weiß. Später, in seiner Conrad-Ferdinand-Meyer-Ausgabe kehrte er zur philologischen Instrumentalisierung der Handschrift als »Zeichengrundlage der editorischen Textkonstitution« zurück.224 Das bei Klopstock, Hamann und Herder entstandene Ideal eines dynamisierten autorähnlichen Lesers (siehe oben Abschnitt 4), der den Ausdrucksbewegungen des Dichters mit offenen Sinnen folgt, würde in den geduldigen, gehorsamen Lesern textgenetischer Editionen eine späte Verwirklichung finden. Und da solche Leser das Salz der Literaturwissenschaft sind, da sie sich von akkumulierter Auslegungswissenschaft nicht dumm machen lassen, könnten prinzipiell von ihnen Erneuerungsimpulse für die »zünftige« Behandlung der Autoren ausgehen. Fragt sich nur, ob ihre Zahl groß genug ist, die wissenschaftlichen Auslegungszirkel und betriebsmäßigen Bestandserhaltungsinteressen zu durchbrechen. Das aufmerksame, unvoreingenommene, sehr genaue und geduldige Lesen gehört nicht gerade zu den Tugenden, die heute hoch im Kurs stehen. Die modernen Unterhaltungsmedien haben ja langfristig das Leseverhalten und vor allem die Bewertung des Lesens in einer für die Literaturwissenschaft abträglichen Weise beeinflußt. 225 Ein langsames, intensives Lesen, das dem Gelesenen die Zeit läßt, wenigstens partikelweise ins Gedächtnis aufgenommen zu werden, wird es immer schwerer haben, sich zu behaupten. Je

223 224

225

Euphorion 52 (1958) (Anm. 196), S.362. Vgl. Conrad Ferdinand Meyer: Gedichte. Bericht des Herausgebers, Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern 1964 (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd.2), S. 110. Ferner: Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise (Anm. 51), S.25-26. Die methodenskeptische Betonung der genauen, geduldigen und wahrnehmungsoffenen Lektüre durch den berühmten Romanisten Leo Spitzer hat nichts von ihrem Gewicht eingebüßt, im Gegenteil. In seinem Aufsatz Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft, ursprünglich 1948 in Englisch unter dem Titel Linguistics and Literary History (2. Aufl. 1962) erschienen, heißt es: »Der einzige Weg, der aus diesem Zustand der Unproduktivität herausführt, ist ein geduldiges und zuversichtliches Lesen und Wieder-Lesen« (Leo Spitzer: Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur. Aus dem Englischen und Französischen von Gerd Henninger, Helmut Hofman und Gerd Wagner. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 32). In einer Anmerkung (Nr 23) hat Spitzer nach dem zitierten Satz hinzugefügt: »Meine >Zirkelmethode< ist eigentlich nichts anderes als eine Erweiterung der gewöhnlich beim Lesen von Büchern geübten Praxis: die beste Art zu lesen setzt im menschlichen Geist ein eigenartiges Nebeneinander von zwei entgegengesetzten Fähigkeiten voraus: auf der einen Seite Beschaulichkeit und auf der anderen Seite eine einfühlende proteische Wandelbarkeit.« (Ebd., S.210). 71

weniger aber das Lesen das Gedächtnis speist, um so geringer wird das innere Potential für einen geistig produktiven Gebrauch der Sprache gebildet. Wie auch immer, die Herausgeber textgenetischer Editionen sollten sich nicht im Blick auf die Literaturwissenschaft die Köpfe über den Sinn oder den Nutzen ihrer Ausgaben zerbrechen. Der Aufwand dieser Editionen ist durch die offene, auch für Kleinigkeiten aufmerksame g e n e t i s c h e L e k t ü r e zu rechtfertigen - oder er ist überhaupt nicht zu rechtfertigen.

11. Der Sinn der textgenetischen Rekonstruktionsmethode Auch Editionsphilologen haben gern aus apologetischen Gründen oder als Zeichen ihrer Belesenheit Goethe zitiert. Diejenigen, denen es um die Rechtfertigung genetischer Textwiedergaben ging, führten gern eine Sentenz Goethes aus seinem Brief an Zelter vom 4. August 1803 an: »Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.« 226 Hans Joachim Kreutzer hat zu Recht festgestellt, daß dieser Satz untauglich ist, um den Editionsphilologen als Argument dienen zu können, denn er diene dem Briefschreiber nur als »entschuldigende Begründung für die [ z e i t l i c h e ] Unterbrechung einer Briefbeilage über Chordrama und Oratorium«. 227 In der Tat meint Goethe nicht die »genetische Entwicklung« im Sinne des Erschaffens von Natur- und Kunstwerken, sondern im Sinne der zeitlichen, genetischen Wahrnehmung, des genetischen »Begreifens« von Werken. Goethes Diktum ist also eine wahrnehmungstheoretische bzw. wahrnehmungskritische Aussage, die sich auf das genetische Reproduzieren des Wahrnehmenden bezieht. Mit dieser genetischen Wahrnehmungsweise verbindet Goethe, der die lebendige, d. h. theoretisch unvoreingenommene Anschauung über alles schätzte, einen besonderen Wahrheitsanspruch. Denn die Sentenz besagt, daß das genetische Wahrnehmen von Natur- und Kunstwerken ein ursprüngliches ist, das frei sei von Vorurteilen, von kurrenten Klischees. Kreutzer hat den Editionsphilologen empfohlen, auf dieses Goethe-Zitat zu verzichten. Das sollten aber nur diejenigen tun, die glauben, ihre textgenetischen Transkriptionen von Autorhandschriften stellten die Genese des Textes so, wie sie wirklich stattfand, dar. Diese Philologen beanspruchten bzw. beanspruchen tatsächlich zu Unrecht die Approbation des Dichterfürsten. Diejenigen aber, die dieser objektivistischen Täuschung nicht unterliegen oder sie apologetisch vermitteln, müssen sich ihren ohnehin immer kleiner werdenden Goethe-Zitatenschatz nicht noch erkenntniskritisch schmälern lassen. Denn ihnen ist bewußt, daß es sich bei ihren textgenetischen Transkriptionen nicht um Abbildungen der ursprünglichen Entstehungsprozesse selbst handelt, sondern um rekonstruktive Annäherungen an die ur-

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Zum Beispiel Friedrich Beißner: N e u e Wieland-Handschriften (Anm.20), S.4. Goethe: Werke (Anm. 15), Abt.IV (Goethe: Briefe), Bd. 16, S.265-266. Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition (Anm. 198), S. 18.

sprüngliche textgenetische W a h r n e h m u n g d e s A u t o r s . Es geht ihnen also nicht um die editorische Rekonstruktion der ursprünglichen Textproduktion, sondern der ursprünglichen Textrezeption des Autors. Sie eröffnen einen Weg, sich ursprünglicher Wahrnehmungen des Textes durch den Autor anzunähern, und diese Annäherungsmöglichkeit ist umso größer, je genauer und vollständiger die textgenetische Wiedergabe von Autographen ist, z.B. durch Transkription und fotomechanische Reproduktion. Im Falle von Faksimile-Ausgaben (Hölderlin, Kleist, Trakl, Kafka) geht die rekonstruktive Annäherung der Lektüre an die ursprüngliche des Autors bis nahezu an seine Handschriftenlektüre. Diese schließt ja die Wahrnehmung der ursprünglichen Graphie und der ursprünglichen Spatialisierung der Beschriftung mit ein. In diesem Verständnis der genetischen Rekonstruktionsmethode als Erschließungsweg zu einer originären Autor-Lektüre des Textes können Editionsphilologen sich sehr wohl in Übereinstimmung mit dem Goethe-Diktum fühlen. Denn für Goethe boten »genetische Entwicklungen« 228 - auch er schätzte die Bewegung, wenn auch nicht so übermäßig wie Klopstock und Herder (siehe oben Abschnitt 7) - die produktive Möglichkeit einer Wahrnehmung, die nicht von gängigen Ansichten, die die fertigen Werke betreffen, gegängelt wird. Das Prädikat »genetisch« hat hier nicht nur einen objektiven Bezug, das Entstandensein von Werken, sondern auch einen subjektiven Wahrnehmungsbezug, einen wahrnehmungsgenetischen Bezug und meint so viel wie ursprünglichkeitsnah bzw. - negativ ausgedrückt - möglichst frei von intellektualistischen Vorurteilen, theorie- oder systemgebundenem Mißverstehen. Etwas genetisch entwickeln, bedeutet ein durch objektgestützte Verzeitlichung, d.h. durch Rekonstruktion seines Entstandenseins ermöglichtes O f f e n und Beweglichhalten der Wahrnehmung. Damit erweisen sich die Herausgeber textgenetischer Editionen als Fortsetzer desjenigen Weges, den Klopstock, Hamann, Herder und andere eröffnet haben. 229 Die durch sie im Sinne einer autorzentrischen Umgewichtung bewirkte Erneuerung des literarischen Schaffens implizierte ja eine Erneuerung des literarischen Lesens. Diese bestand darin, daß die Rezeption - in Entsprechung zur Produktion - zu einer Tätigkeit bzw. zu einem Prozeß wurde. Sie wurde verzeitlicht, übrigens eine wichtige Voraussetzung für die besondere Thematisierung und Problematisierung des Lesens. Das Paradigma der Literaturrezeption wurde das laute Lesen (vgl. den folgenden Teil II). Durch bewußte Verzeitlichung, Prozessualisierung wurde das Wahrnehmen produktiv. Die genannten Autoren des 18. Jahrhunderts machten dadurch die Literatur zu einem Medium der ästhetischen und moralischen Geistesbildung, was wiederum die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen der germanistischen Literaturwissenschaft war. Gewiß werden auch die Philologen mit ihren textgenetischen Editionen eine Erneuerung der Literaturwahrnehmung bewir-

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Goethe an Zelter, 4.8.1803. In: Goethe: Werke (Anm.226), S.265. Zu den Autoren als editorischen Schrittmachern der Editionsphilologen vgl. Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise (Anm.51), S.50.

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ken 230 - aber voraussichtlich nur in einzelnen Lesern. Schon äußerlich nach Format, Stärke, Papierqualität und Typographie (ganz abgesehen vom Preis) stellen sich die textgenetischen Ausgaben abseits vom Durchschnitt der Bücher, die gewöhnlich von Germanistik-Dozenten und -Studenten benutzt werden. In seiner polemischen Anzeige der historisch-kritischen Ausgabe von Georg Büchners Danion's Tod, herausgegeben von Thomas Michael Mayer und Burghard Dedner (vier Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000), hat Johannes Satzwedel im Spiegel (Nr.51,18.12.2000) u.a. behauptet, zur »beschaulichen Lektüre taugen die Bücher im A4-Format [...] kaum« (S. 192). Das Gegenteil ist aber wahr. Dergleichen Ausgaben laden geradezu den Leser ein, sich in sie zu versenken. Die Frage ist nur, ob er dafür noch die innere und äußere Freiheit hat. Wenn Enzensbergers Diagnose zutreffend ist, daß die Literatur wieder zu dem geworden ist, was sie von Anfang an war: »eine minoritäre Angelegenheit« (Rezensenten-Dämmerung in Neue Zürcher Zeitung, 13., 14.12.1986), so gilt das in noch höherem Maße für die philologisch genaue Edition der Literatur. Ob die editionsphilologische Erneuerungswirkung über einzelne hinausgehen wird und das neugermanistische Literaturstudium bereichern kann, ist mehr als fraglich. Zu vielfältig ist das mit der Autorität der Wissenschaftlichkeit privilegierte Angebot an theoretisch gewitzten Antworten, wie ein literarischer Text zu lesen sei, als daß eine neue, offene, genetische Lektüre von literaturwissenschaftlicher Seite noch mit Interesse rechnen kann. Die Anerkennung dieser Verstehensweise würde die Entwicklungstendenz des Faches zu einem Gemischtwarenladen ohne spezifische obligatorische Hauptofferten (»anything goes«) verstärken. Immerhin bleibt den Herausgebern textgenetischer Ausgaben die Hoffnung auf Anerkennung ihrer Leistungen von der höheren Warte der fachspezifischen Geschichtsschreibung aus; sie könnte diese Ausgaben als philologische Zeugnisse einer Haltung würdigen, die das literarische Schaffen in unvergleichlich umfassender und methodisch konsequenter Weise ernst nimmt - von den Worten des Autors bis zu seinen lapsus calami, von den Vor- bis zu den Endstufen des Textes. Es bleibt den Herausgebern im übrigen die beruhigende Aussicht, daß wenn etwas die germanistische Literaturwissenschaft einige Zeit überdauern wird, es vorzüglich die kritischen Ausgaben sein werden und unter ihnen natürlich auch die textgenetischen Editionen bzw. die Manuskripteditionen.

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Vgl. Mazzino Montinari: Nietzsche lesen. In: M. M.: Nietzsche lesen. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1982, S . l - 9 . Besonders S.4: »[...] die kritische Gesamtausgabe ermöglicht eine philologisch-historisch fundierte Lektüre der Werke Nietzsches, die als Voraussetzung jeder philosophischen Interpretation gelten muß.«

II. »Seelenspeise, die unsere Kräfte stärkt«:1 Die komplementäre Funktion des lauten Lesens gegenüber der stillen Lektüre

Exkurs zu 1,4 »Wegbereiter der modernen autorbezüglichen Poesie« Dem Andenken an Ernst Jandl (gestorben am 9. Juni 2000)

Auch in der Kulturgeschichte des Lesens verliert das Vorstellungsschema der linearen A b l ö s u n g einer Kulturtechnik A durch eine andere B, hier des lauten Lesens durch das leise, an empirischen B e f u n d e n seine Überzeugungskraft. Dafür muß die Zeit jedoch reifen, d.h. die herkömmliche, vorherrschend v o m stillen Lesen geprägte Lesekultur problematisch geworden sein. Erich Schön stellt in seinem Buch Der Verlust der Sinnlichkeit

oder die Verwandlung

des Lesers. Mentalitätswandel

um

1800 im Kapitel II Das Ende des lauten Lesens fest: In der Antike und im Mittelalter war es selbstverständlich, daß Lesen lautes Lesen war; stilles Lesen war nicht völlig unmöglich, bedurfte aber als Ausnahme eines besonderen Grundes [...] Die allmähliche sprachliche Konventionalisierung der Zeugnisse des lauten Lesens und daß sie über lange Zeit neben solchen des leisen stehen, zeigt [...], daß die Ablösung des lauten durch das stumme Lesen als dominanter Form ein Vorgang von mehreren Jahrhunderten war - Sacchinis Lesepropädeutik, die das laute Lesen so ausführlich beschreibt, hat ihren Ursprung im Jahre 1614. [...] Für das 18. Jahrhundert aber kann es [das laute Lesen] noch nicht so ungewöhnlich gewesen sein, wenngleich es natürlich nicht mehr dominant war. Aber hier geht es ja um die endgültige Verabschiedung des lauten Lesens als Gewohnheit, um seinen Rückzug aus dem Selbstverständlichen in einen Residualbereich des erklärungsbedürftigen Absonderlichen - so erklärungsbedürftig wie ehedem das leise Lesen des Ambrosius für Augustinus gewesen war. 2 Roger Chartier schreibt in einem »Postscriptum« zu seinem Vortrag Loisir et sociabilité. Lire à haute voix dans l'Europe sen im Europa

der

moderne

(Muße und Geselligkeit.

Lautes

Le-

Neuzeit)·.

Es wird also deutlich, daß das laute Lesen als normale Art der Aneignung eines literarischen Textes nicht mit der Entwicklung der Druckkultur verschwindet. Die »oral/auralculture«, nach Walter Ongs Begriff [W. Ong: Rhetoric, Romance and Technology, Ithaca 1971], nützt sich durch die neue Fabrikationstechnik des Buches nicht ab, weil ihr Ursprung nicht die eine oder andere von dem geschriebenen Objekt angenommene Form,

1

2

Zitat aus: Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen [...] Jena 1799, wiedergegeben nach: Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. (Sprache und Geschichte 12.) Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S.101. Ebd., S. 100-101. 75

sondern die dauerhaft aufrechterhaltene Verbindung zwischen der Stimme und der Literatur ist. Die Geschichte der Leseweisen schreitet nicht im selben Rhythmus wie die Buchgeschichte voran, und ihre Brüche lassen sich nicht aus den Veränderungen ableiten, die entweder die Formen des Geschriebenen [...] oder die Technik seiner Reproduktion (ζ. B. durch die Erfindung der Buchdruckerei im 15. Jahrhundert) betreffen. Zu lange hat man sich vorgestellt, daß die Ausbreitung der »Druckkultur« notwendigerweise eine radikale Revolution der kulturellen Praktiken implizierte. Die Untersuchung des lauten Lesens warnt vor einer solchen Vereinfachung, indem sie einerseits alle Gattungen ermittelt, die eine Vermündlichung voraussetzen, und andererseits Situationen erkundet, in denen das Lesen keinen Akt der individuellen und stillen Privatheit darstellt. 3 U n d in einer n e u e r e n U n t e r s u c h u n g zur » G e s c h i c h t e der S t i m m e « (1998) heißt es: [...] seit dem E n d e des 15. Jahrhunderts gibt es eine Alternative zum gesprochenen Wort, die zu völlig neuen Aufteilungen des Terrains führt. Es wird weiter gesprochen, vermutlich sogar mehr als je zuvor, aber was gesprochen wird, hat nun eine neue >BedeutungMilieusin unmittelbarer Verständigung< mit dem als Inbegriff von Wahrheit und Sittlichkeit gedachten Geist.« 66 Diese religiöse Ganzheitsidee, Erbe der sprachtheologischen Wesensidentität von Sprache und Denken, motivierte das exorbitante Überlegenheitsbewußtsein 67 und die außerordentliche Faszinationskraft des Sprach- und Sprechkünstlers,

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Peter Rühmkorf: Paradoxe Existenz. In: Hans Bender (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten (List-Bücher 187). München: Paul List Verlag 1961, S. 149155. Hier S.149. Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche [1978]. In: Peter Rühmkorf: Strömungslehre I. Poesie, (das neue buch.) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1978, S. 265-270. Hier S.265; 269. Christian Johannes Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus (Anm.49), S. 128,132. Vgl. Elias Canetti: Der neue Karl Kraus. Vortrag, gehalten in der Berliner Akademie der Künste [1974]. In: Elias Canetti: Das Gewissen der Worte (Anm.41), S.254-278. Besonders S. 254-255.

der sich als solcher zum Sitten- und Wahrheitswächter erhöhte. Dieses Superioritätsbewußtsein fehlt, wie gesagt, bei Riihmkorf; er - anders als ζ. B. Grass - verbindet mit seinem Sprachvirtuosentum keinen Anspruch auf geistige Repräsentanz. 6 8 Als Sprachkünstler will er nicht mehr sein als er selbst, er ist sich dabei seiner Exzentrizität bewußt. Als Vorleser fehlt ihm daher auch ein geistiges Sendungsbewußtsein, das Zuhörer zu Proselyten und bedingungslosen Anhängern macht. 69 Auf seinen Lesereisen versteht er sich vielmehr als »VP [=Versuchsperson] seiner selbst« und sieht sich im »geschätzten Verein mit einem ganzen Haufen ähnlich motivierter Wanderartisten [...] (lyrische Selbstvertreiber und musikalische Alleinunterhalter, politische Aufklärvaganten und auf den mündlichen Vortrag abgedrängte Märchenonkels/Fiction-Tanten), die alle zusammen und jeder für sich die künstlich zertrennten Drähte zwischen der Literatur und ihren Liebhabern kurzzuschließen suchen.« 70 Das trennt ihn von Karl Kraus und nähert ihn einem nur wenige Jahre älteren Dichter-Kollegen an, der die Sprachartistik noch weiter treibt als Rühmkorf, indem er nicht nur mit W o r t e n spielt, sondern auch mit ihren morphologischen und phonologischen Bestandteilen: Ernst Jandl.

8. Ernst Jandl oder die artistische Befreiung von Sprache durch Dichtung Auch Jandl, der entscheidende Anregungen zu seinem Dichten von der expressionistischen und dadaistischen Lyrik sowie von der konkreten Poesie erhielt, hat »lange Zeit«, wie er in einem Interview äußerte, 71 Gedichte, sogenannte Sprechgedichte, auf der Bühne mit Musik-Begleitung vorgetragen, ζ. B. mit dem Jazz-Trio »Neighbours«, mit der NDR-Studio-Big-Band und mit anderen Musikern. 72 Sein Vortrag war so wirkungsvoll, daß - wie er in einer autobiographischen Notiz berichtet - »die >Sage< geht, keiner außer ich selbst könne sie sprechen [.,.].« 73 Diese »Sage« ist

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Vgl. z.B. Rühmkorfs Kritik an Kraus' Abhandlung über den »Reim« [April 1927] unter dem bezeichnenden Titel Die soziale Stellung des Reims. Karl Kraus oder die Grenzen der Wesensbeschwörung [1964]. In: Peter Rühmkorf: Strömungslehre I (Anm.65), S. 129-135. Vgl. Rühmkorfs eigene Theorie des Reims: agar agar - zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981). Kraus scheint selbst der Macht seines gesprochenen Wortes einiges zugetraut zu haben, ζ. B. seine Zuhörerschaft »zum Austritt aus dem Abonnement der von mir näher zu bezeichnenden Blätter« der Wiener Presse oder zur Lynchung von Preßleuten zu bringen. (Christian Johannes Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus (Anm.49), S. 158 (Anm.215). Peter Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester! Literatur - Kritik - und Publikum. In: Peter Rühmkorf: Bleib erschütterbar und widersteh (Anm.60), S.253, 254. Ernst Jandl. In: Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus (s.o. Anm. 51), S. 132-137. Hier S. 136. Vgl. Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Hg. von Klaus Siblewski. Bd. 3: Stücke und Prosa. Darmstadt: Luchterhand 1985, S.721, 722. Ernst Jandl: Autobiographische Ansätze, 4. In: Ernst Jandl: Sprechblasen. Mit einem

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nicht verwunderlich, denn sie ist die Antwort auf Jandls artistische Sprachbehandlung, die die praktischen, kommunikativen Verbindlichkeiten der Umgangssprache bis in ihre kleinsten Elemente, Laute und Buchstaben, nicht schont, um in der Dichtung eine neue zugleich umfassende und detaillierte sinnlich-sinngebende Wahrnehmung des Sprachorganismus entstehen zu lassen; und zum anderen ist diese »Sage« auch die Antwort darauf, daß das laute Sprechen von Gedichten den Eindruck bei den Zuhörenden erwecken kann, als ob diese Gedichte im Sprechen neu entstehen. Mit Bezug auf seine »akustische Neuformulierung« seiner Paraphrase des Goethe-Gedichtes Über allen Gipfeln ist Ruh sagt Jandl in der Vorrede zu einer Lesung in Graz, IL November 67\ »Fragt sich, ob man nicht, statt Gedichte immer so ziemlich auf die gleiche Art herunterzuleiern, ihnen einen besseren Dienst erwiese, wenn man sie, wenigstens durch die Art wie man sie spricht, jeweils auf den neuesten Stand brächte, sie aufmöbelte sozusagen.« 74 Der »Sprechdichter« Jandl teilt also im wesentlichen das dichterische Anliegen des vorlesenden Klopstock, dem es bei der »Sprechung« um die psychisch stimulierende Erneuerung bzw. Neuheit der Gedichtwahrnehmung ging (siehe oben Abschnitt 1,4). Gemeinsam ist beiden im übrigen sehr verschiedenen Dichtern, daß ihr Sprachdenken wortzentriert ist. Das Wort, ob nur übernommen oder kunstvoll manipuliert, ist für beide das Hauptausdruckselement. Sie sind insofern vor allem lyrische Naturen. »Lyrik, denke ich«, sagt Jandl, »ist die beste Art, heute Literatur zu machen; richtig angewandt, erlaubt sie, mehr als jede andre Gattung, Schärfe, Präzision, Intensität.« 75 Die Sprache ihrer Poesie ist primär W o r t s p r ä c h e , nicht Satzsprache. Jandl gehört denn auch zu den ganz wenigen zeitgenössischen Autoren, die sich Klopstocks als eines Vaters der modernen Poesie noch erinnern. 76 Im Unterschied zu Klopstock teilt Jandl aber nicht dessen phonozentrische Abneigung gegen die Schriftsprache. Ihn stört nicht wie Klopstock die Beweglichkeit der lesenden Augen, die oberflächlich über die sinnträchtigen Worte hinweggleiten können. Vorzüglich aufgrund ihrer Bedeutungen war die Sprache für Klopstock das unvergleichliche Darstellungsmedium geistiger Erneuerung. Bei Jandl hingegen fehlt diese Dominanz des Semantischen. Er hat Hören und Sehen, die bei Klopstock im einen sprechbaren Gedicht zusammenspielen, poetisch getrennte Wege gehen lassen in vier Arten von Gedichten: im »Gedicht in nahezu Alltagssprache«; im Stimme verlangenden »Sprechgedicht«; im lauten wortlosen »Lautgedicht«; im stillen »visuellen Gedicht«: 77

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Nachwort des Autors: »Autobiographische Ansätze«. (Reclam Universal-Bibliothek 9940.) Stuttgart 1979, S. 8 9 - 9 4 . Hier S.90. Ernst Jandl: Gesammelte Werke, B d . 3 (Anm.72), S.478. Ernst Jandl: Aufgaben. In: Ebd., S.491. Vgl. Ernst Jandl: D i e poetische Syntax in den Gedichten von Friederike Mayröcker. In: Ebd., S. 4 5 0 - 4 6 9 . Besonders S. 4 5 0 - 4 5 1 . Ernst Jandl: D a s Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie. In: Ebd., S. 5 6 2 - 5 7 6 . Hier S.562. Vgl. auch: Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Bd. 1: Gedichte 1. Darmstadt: Luchterhand 1985, S.371ff., 405, 417ff., 485ff.

es kam darauf an, möglichst viel Wege aufzumachen, um auf möglichst vielen weiterzukommen, und dafür möglichst viele Beine zu entwickeln, nicht um irgendwohin zu gelangen, sondern, im Sinn von Atmen und Herzschlag, um überhaupt in Bewegung zu bleiben. Kein Messiasweg also, kein Buddhaweg, bei allem Wissen, daß es bei dieser Tätigkeit zur Vermehrung des allgemeinen Vorrates an Poesie galt, etwas Neues zu tun, und bei allem Willen es zu tun. 7 8

Jandl hält zwar an der dichterischen Ganzheitswahrnehmung von Sprache fest, aber sie konnte für ihn nicht mehr im Zuge e i n e s Gedichtes zustande kommen, was noch Klopstock erstrebte. Der Dichter des 20. Jahrhunderts setzt sie gewissermaßen aus verschiedenen einzelnen Sinneserfahrungen - Lesen, Hören, Schauen - zusammen, ohne zu glauben, auf diesen diversen Wegen die Ganzheits- oder Autonomiewahrnehmung von Sprache vollenden zu können. An sie ist nicht mehr - wie noch bei Klopstock - das Streben nach seelischer Ganzheit oder Harmonie gebunden. Die kritische Distanz zur Normalsprache in Vergangenheit und Gegenwart ist sehr viel größer geworden. Bei aller gewachsenen sprachkritischen Haltung und experimentierenden Souveränität - dessen Begriff »Sprachm a t e r i a I « ist - ist der Glaube an das »Wunder der Sprache« (Walter Porzig)79 als eines Lebenselements des Geistes bei Jandl nicht weniger lebendig als bei Klopstock: poetry, like art and music, is not only pleasure. It is rather like life, which we all enjoy, and yet we all know that life is not only pleasure [...] »What is the purpose of poetry? of art? of music?« This [...] is a terribly hard question to answer, and perhaps there is no aswer. But there is something [...] that is perhaps more than an answer, a source of strength, that gives them [=people] the will to continue, something that may perhaps be called faith. 80

Auch Jandl verkörpert die Paradoxie, die seit Klopstock ein schöpferisches Grundmotiv modernen Dichtens ist und die man auf die Formeln bringen könnte: artistischer Sprachkult, sprachkritische Sprachfrömmigkeit. Daß er in dieser Hinsicht eine Tradition fortsetzt, hat er in einem kurzen Gedicht aus dem Jahr 1953 zum Ausdruck gebracht: zeichen zerbrochen sind die harmonischen krüge, die teller mit dem griechengesicht, die vergoldeten köpfe der klassiker aber der ton und das wasser drehen sich weiter in den hütten der töpfer. 8 1

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Ernst Jandl: Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie (Anm.77), S.566. Vgl. Walter Porzig: Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft. (Sammlung Dalp 71.) Bern, München: Francke Verlag 3. Aufl. 1962, S.211: »[...] die Sprache [ist] wesentlich Beschwörung.« Ernst Jandl: Highland Park Baptist Church. Sunday, Nov. 7th, 1971. In: Ernst Jandl: Gesammelte Werke, Bd. 3 (Anm.72), S. 498-499. Hier S. 498. Ernst Jandl: Mitteilungen aus der literarischen Praxis. 3 Vorträge. 1 Abgrenzung des eigenen poetischen Bereichs. In: Ebd., S.533-561. Hier S.545.

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In seinem »konversationsstiick in einem akt« die humanisten (1976) läßt Jandl die beiden Hauptakteure seines »Endspiels«, »ml« und »m2«, den Sprachkult des Autors, wenn auch mimisch verfremdet, folgendermaßen äußern: ml:

ich sein mein sprach mein deutsch sprach mein schön deutsch sprach [···) mein sprach sein e i n l o b e n immer wenn sprechen ich loben den sprach mein sprach sein ein loben [···]

ml: m2: ml : m2: ml:

den d e u t s c h e n sprach ... du lieben den deutschen sprach? den deutschen sprach mir h e i 1 i g sein ich sehr lieben den deutschen sprach, sehr lieben den deutschen sprach mir heilig sein sein mein muttersprach m2: sein mein und dein muttersprach ml: muttersprach heilig sein mir heilig sein m2: mir und dir heilig sein muttersprach deutschen muttersprach [...]«

Mit Riihmkorf und Jandl mag die Reihe der vorlesenden Dichter hier ein Ende finden. Sie könnte natürlich noch mit weiteren großen Namen ergänzt werden. Die Verschiedenheit der beschriebenen Autoren ist wohl hinreichend für ein angemessenes Verständnis ihrer Neigungen zum Vorlesen eigener Texte. Offensichtlich ist es nicht Ausdruck einer besonderen Rezipienten- oder Publikumsfreundlichkeit, wie man vielleicht meinen könnte, wenn man ausschließlich die Tatsache berücksichtigt, daß die Autoren in direkten expressiven Sprech- und Sichtkontakt zu Interessenten treten. Karl Kraus' Haß auf das Publikum widerlegt schon diese Annahme. Als Vorlesende oder Deklamierende kommen die Dichter zwar im räumlich-körperlichen Sinne interessierten Literaturfreunden entgegen, nicht aber als Dichter. Für Rühmkorf ist die Bühne ein »neues [...], bisher unbegangenes« Gelände, 83 zwar eine »experimentelle Herausforderung«, aber wohl nicht in Richtung eines Volksschriftstellertums: »er denkt [...] gar nicht daran, die Anstrengung zu verharmlosen, die dem Kunstgenuß immer noch geschwisterlich verbunden ist.«84 Ihre Absichten, ihre Bekanntheit durch Rezitationen auszudehnen und zu vertiefen und in unmittelbaren zustimmenden Echos von Zuhörern eine spontane Selbstbestätigung zu finden, einmal beiseite gelassen, bringen die beispielhaft charakterisierten Autoren in ihren

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Ebd., S. 237-253. Hier S. 239-240, 241-242. Vgl. auch S. 346-349: »Anmerkungen zum Stück >die humanistenWir wollen weniger erhoben, und fleißiger gelesen seine Klopstock's Sublime Aspirations and their Role in the Development of German Poetry. In: The Publications of the English Goethe Society 60 (1990), S. 3 9 - 6 2 . - Klopstock und das Erhabene in der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Das Erhabene in der Dichtung: Klopstock und die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums vom 1. und 2. Juli 1995 in Quedlinburg (Schriftenreihe des Klopstock-Hauses Quedlinburg B d . l ) . Halle: Verlag Janos Stekovics 1997, S . 5 5 - 7 8 . Kohlenbach, Michael und Groddeck, Wolfram: Zwischenüberlegungen zur Edition von Nietzsches Nachlaß. In: Text. Kritische Beiträge. Heft 1 (1995), S . 2 1 - 3 9 . Kolk, Rainer: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), S. 5 0 - 7 3 . Kraus, Karl: Karl Kraus. Eine Ausstellung des deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach 8. Mai - 31. Oktober 1999 [...] Ausstellung und Katalog: Friedrich Pfäfflin mit Eva Dambacher in Zusammenarbeit mit Volker Kähmen. (Marbacher Kataloge 52.) Marbach am Neckar 1999.

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Kreutzer, Hans Joachim: Überlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog (Beihefte zum Euphorion 7). Heidelberg: Carl Winter 1976. Krolop, Kurt: Klopstock und Karl Kraus. In: Hans-Georg Werner (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock. Werk und Wirkung. Wissenschaftliche Konferenz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Juli 1974. Berlin: Akademie-Verlag 1978, S. 255-274. Kurz, Gerhard: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse. Stuttgart: Metzler 1980. Lacassin, Francis und Sigaux, Gilbert: Simenon. Paris: Plön 1973. Lohr, Andreas: Kleine Einführung in die Bonner Celan-Ausgabe. In: Axel Gellhaus, Andreas Lohr (Hgg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Weimar: Böhlau 1996, S. 11-35. Mähl, Hans-Joachim: Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation des »Allgemeinen Brouillon«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1963, S. 139-250. Manegold, Ingemarie: Johann Georg Hamanns Schrift >Konxompax