Kleine Prosa: Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne 9783110913699, 9783484109025

Whether as aphorisms or fragments, thought figures or feuilletons, prose poems, micro-stories or autobiographical jottin

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German Pages 405 [408] Year 2007

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Table of contents :
Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne
I. ZWISCHEN SPÄTAUFKLÄRUNG UND VORMÄRZ (1770-1850)
Ungebunden, ungekünstelt? - Kleine Prosa um 1770
Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa
Skeptische Fragmente. Über den Zusammenhang von Skepsis und Fragment in der Spätaufklärung
Der ›Dialekt der Fragmente‹. Möglichkeiten und Grenzen fragmentarischen Schreibens in der Perspektive Friedrich Schlegels
Vom Sudelbuch zum aphoristischen Zeitalter. Über den Funktionswandel der aphoristischen Produktionen zwischen Lichtenberg und Feuchtersieben
»Totaleindruck« und »einzelne Theile«. Kleine Prosa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Genrebilder und Brief-Korrespondenzen in österreichischen Zeitschriften/Anthologien vor und um 1848 und deren Relevanz für das Textfeld ›Kleine Prosa‹
II. ›KLASSISCHE‹ MODERNE (1880-1930)
Das Prosagedicht im Textfeld ›kleiner Formen‹ um 1900
Alfred Lichtensteins »Skizzen«. Frühexpressionistische Rollendichtung im Kontext der Kurzprosa der Moderne
Der Schlüssel als Schloss und das »System des Teilbaues«. Kafkas kleine Prosastücke Beim Bau der chinesischen Mauer und Eine kaiserliche Botschaft
Das Prosastück als Idee und das Prosastückverfassen als Seinsweise: Robert Walser
Kurzprosa im 20. Jahrhundert – Kontinuitäten außerhalb einer Gattungstradition
»... wie ein Tropfen ins Meer«. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens: das Feuilleton als ›kleine Form‹
»Umfunktionierung« als ästhetisches Programm. Experimentelle Formen Kleiner Prosa an der Schnittstelle von Literatur, Philosophie und Politik
Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie. Benjamins Erkundungen der Lebenswelt
»Stoffe sehr verschiedener Art ... im Spiel ... in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen«. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne
III. GEGENWART (1960 BIS HEUTE)
Prosaskizzen als Denkbilder. Zum Zusammenspiel der Schreibweisen in der Kleinen Prosa der Gegenwart
Wege der Aufzeichnung in der deutschsprachigen Kurzprosa. Canetti, Handke und Schnurre
Mystik und Aphorismus. Mystik-Modelle des 20. Jahrhunderts in aphoristisch bestimmten Mischgattungen der Moderne
Inszenierte Kontingenz. Zur Kleinen Prosa von Thomas Bernhard, Alexander Kluge und Ror Wolf
Subversion des Erzählens in kleinen Erzähltexten der Gegenwartsliteratur
Zeitschrift, Zettel, Zigarettenschachtel. Überlegungen zu einer Medienkulturgeschichte narrativer Kurzprosa
Zu den Autorinnen und Autoren
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Kleine Prosa: Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne
 9783110913699, 9783484109025

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K L E I N E PROSA

KLEINE PROSA Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne

Herausgegeben von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10902-5 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Thomas Althaus / Wolfgang Bunuel / Dirk Gotische Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne

IX

I. ZWISCHEN SPÄTAUFKLÄJRUNG UND VORMÄRZ ( 1 7 7 0 - 1 8 5 0 )

Thomas Althaus Ungebunden, ungekünstelt? — Kleine Prosa um 1770

3

Giulia Cantarutti Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa

25

Detlef Kremer Skeptische Fragmente. Über den Zusammenhang von Skepsis und Fragment in der Spätaufklärung

45

Matthias Schöning Der >Dialekt der Fragmenten Möglichkeiten und Grenzen fragmentarischen Schreibens in der Perspektive Friedlich Schlegels

55

Christian Jäger Vom Sudelbuch zum aphoristischen Zeitalter. Über den Funktionswandel der aphoristischen Produktionen zwischen Lichtenberg und Feuchtersieben

75

Michael Neumann »Totaleindruck« und »einzelne Theile«. Kleine Prosa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

89

Primus-Hein£ Kucher Genrebilder und Brief-Korrespondenzen in österreichischen Zeitschriften/Anthologien vor und um 1848 und deren Relevanz füir das Textfeld >Kleine Prosa
KLASSISCHE< MODERNE ( 1 8 8 0 - 1 9 3 0 )

Woljgang Hunzel Das Prosagedicht im Textfeld >kleiner Formen< um 1900

123

Michael Ansel Alfred Lichtensteins »Skizzen«. Frühexpressionistische Rollendichtung im Kontext der Kurzprosa der Moderne

139

Ulrich Stadler Der Schlüssel als Schloss und das »System des Teilbaues«. Kafkas kleine Prosastücke Beim Bau der chinesischen Mauer und Eine kaiserliche Botschaft

157

Michael Niehaus Das Prosastück als Idee und das Prosastückverfassen als Seinsweise: Robert Walser

173

Mont\ Baßler Kurzprosa im 20. Jahrhundert — Kontinuitäten außerhalb einer Gattungstradition

187

Sibylle Schönborn »... wie ein Tropfen ins Meer«. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens: das Feuilleton als >kleine Form
Gattung jenseits der Gattungenaußenklassischen< Moderne von 1880 bis ca. 1930, in der die Makroperiode Moderne erkennbar einen neuen Grad der Radikalisierung, aber zugleich auch eine äußerst folgenreiche krisenhafte Zuspitzung erfahrt, und der Zeitraum ab etwa 1960, in dem stabilisierend und innovativ an Errungenschaften und Paradoxien der Moderne (wenngleich ohne deren obsolet gewordenen Gestus der Emphase) literarisch weitergearbeitet wird. Bis in die Gegenwart ist die Geschichte moderner Kleiner Prosa von ständigen Umbrüchen und Neuansätzen geprägt, die einerseits die Herausbildung verbindlicher transhistorischer Gattungskonventionen nur begrenzt zulassen, andererseits selbst Formen der Traditionsbildung darstellen.

Der Begriff stammt von Jauß und wird hier von der Charakterisierung einer einzelnen Gattung auf Nachbarschaftsverhältnisse und Austauschbeziehungen zwischen Gattungen übertragen; vgl. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. In Zusammenarbeit mit Jean Frappier, Martin de Riquer, Aurelio Roncagüa hg. von H.R. J. und Erich Köhler. Bd. 1: GeneraUtes. Heidelberg 1972, S. 107-138.

XII

Thomas Abbaus / Wolf gang Bunuel / Dirk Göttsche 2.

Um zu verstehen, wie die Kleine Prosa im späten 18. Jahrhundert nach und nach an Brisanz gewinnt, ist vorab ein Blick auf die ältere gattungsgeschichtliche Entwicklung vonnöten. Dabei zeigt sich, daß ihre traditionelle Funktionsbestimmung, gesicherte Lehre durch Beispiele zu illustrieren, schon in der Frühen Neuzeit ein Gegenanliegen nach sich zieht. Im Zuge der sozialen und politischen, religiösen und epistemischen Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts präsentieren sich die erstaunlich beliebten Genres Kleiner Prosa zunehmend als textueller Explorationsraum. Vermeintlich gesichertes Wissen kann hier mit Kontingenzerfahrungen konfrontiert werden. So durchziehen denn auch Widersprüche und Kontraste, »Schimpff vnd Ernst«4 die Kompilationen solcher Prosa, auf daß der Leser erkennt: Es geht »nit allwegen gleich zu / und wir seind des glücks spielfogel / zu gutem und bösen / zu wol und ubel leben«5. Zudem bedingt das unverbundene Nebeneinander der Einzeltexte einen permanenten Perspektivenwechsel, der den Rezipienten um die Sicherheit eines unverrückbaren Standpunkts bringt. Erste Ansätze zu einer Verfremdung von Gattungsintentionen zeigen sich in der Sprichwortkultur des 16. Jahrhunderts; die produktive Irritation wird dann im Gefolge der barockrhetorischen Scharfsinnspoetik und Pointierungskunst neu wirksam. In diesem Kontext bilden sich bereits Gattungsbegriffe (wie der des Apophthegmas6) heraus, die Momente der Denormierung in sich tragen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts freilich wird die Kleine Prosa aber doch noch einmal und quasi in Erinnerung an die lange Geschichte mancher Gattungen (vor allem der Parabel und der Fabel7) auf exempla-Funktionen festgelegt. Johannes Pauli: Schimpf und Ernst [1522]. Hg. von Hermann Österley. Amsterdam 1967. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1866. Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen I: Sybenhundert vnd Fünfftzig Teütscher Sprichwörter / verneüwert vnd gebessert. Hg. von Sander L. Gilman. Berlin/New York 1971, Nr. 461, S. 363. Im 16. und 17. Jahrhundert entwachsen den Exempelsammlungen neue Formen Kleiner Prosa, die Lehre nun nach ständig wechselnden Kriterien erteilen, mit Blick auf ein Verhalten unter den Bedingungen von Diskontinuität Vgl. dazu Thomas Althaus: Kleine Prosa der Frühen Neuzeit. Die Adaga des Erasmus von Rotterdam in ihrer Wirkung auf Johannes Agricola und Sebastian Franck. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), S. 317-331; Th. Α.: Kurzweil. Überlegungen zum Verhältnis von Darstellungsintention und geringem Textumfang in der Kleinen Prosa des 16. Jahrhunderts. In: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999. Hg. von Franz Simmler. Bem/Berlin/Brüssel/Frankfurt a.M./New York/Oxford/Wien 2002, S. 23-38. Siehe hierzu vor allem Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg v.d-H./Berlin/Zürich 1970. Vgl. als wichtige Sammlung: Die deutsche und lateinische Fabel der Frühen Neuzeit Hg. von Adalbert Eischenbroich. 2 Bde. Tübingen 1990, in der eine gattungsgeschichtliche Linie »vom Spätmittelalter bis zur Schwelle der Barockzeit« (Bd. 1, S. XVI) gezogen wird. Dem lassen sich freilich auch andere Gattungsgeschichten korrelieren, wie diejenige des (Prosa-)

Ränder, Schwellen, Zwischenräume

XIII

Den Bezugsrahmen dafür liefert jetzt die Moralphilosophie der Aufklärung. Als deren Lehrgebäude jedoch einzubrechen beginnen, fallen die Voraussetzungen für die Illustration ganzheitlicher Konzepte durch Literatur endgültig weg. Das reißt die Kleine Prosa geradezu aus ihren angestammten gattungsgeschichtlichen Verankerungen; es läßt nicht nur die Didaxe nostalgisch werden, sondern zersetzt auch die schematisierten Formen der Darstellung, die in früherer Zeit immerhin als Regulativ verfugbar blieben, um das Irritationspotential der Texte zu mildern. Waren kleine Prosaformen bis dahin, bei aller Abweichung, auf Grund ihrer Textkomponentensorten8 identifizierbar und daher in ihrem Erscheinungsbild stabil, so verändern sich mit der Auflösung der normativen Poetik und der daraus resultierenden Suspendierung von wohldefinierten Funktionsvorgaben die ästhetischen Rahmenbedingungen dergestalt, daß nun selbst bei relativ konstant bleibenden Gestaltungsmodellen Bestimmungsoffenheit zum entscheidenden Kriterium wird, die Kürze der Texte einmal ausgenommen. Der Umstand, daß die Prosa vom Umfang her >klein< ist, bleibt indes ein wichtiges Kriterium für ihr Selbstverständnis - trotz der Relativität dieser Bestimmung, die sich daran zeigt, Haft damit im Extremfall nur ein einziges Kolon (wie bei manchen Aphorismen Lichtenbergs oder in der Kurzprosa Sarah Kirschs), aber auch ein mehrseitiges Textgebilde (wie etwa bei Prosastücken Robert Walsers) gemeint sein kann. Kürze prädestiniert jedenfalls dazu, Darstellungsroutinen zu unterlaufen und sich so gattungstypologischen Verfestigungen immer wieder zu entziehen.® Sie ist aber auch formgewordene Reaktion auf den Verlust geschichtlich und theoretisch verbürgter Ordnungen der Literatur und Reaktion auf den Verlust von ganzheitlichen Weltdeutungsmodellen überhaupt. Gleichzeitig betreibt aber die Literatur diesen Prozeß von sich aus entschieden mit, wo sie Prosa der gezeigten Art ist, strukturell als bruchhafte Stückelung und semantisch als im Kleinen fokussierte radikale Wertkritik.

Schwanks, der sich vor einseitiger Indienstnahme bis ins Karnevaleske rettet, eine Tradition anarchischer Funktionsaufhebung ausbildet und sich lieber einer leeren Intention verschreibt und nichts bedeutet als nur etwas Konformes; siehe dazu: Deutsche Schwankliteratur. Hg. von Werner Wunderlich. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1992. Vgl. Wolf-Dieter Stempel: Gibt es Textsorten? In: Elisabeth Gülich/Wolfgang Raible (Hg.): Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. 2. Aufl. Wiesbaden 1975, S. 175-179 (Diskussion: S. 180-182). Für die Entwicklungen der Moderne, jenseits fester Gattungsmuster, dürfte dies ein entscheidender Aspekt sein, um in der Kürze nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Moment der Texte sehen zu können. Indes verfugen nur erst umfangsbesümmte Zusammenstellungen über ein solches Kriterium noch nicht; vgl. etwa den Band: Formes litteraires breves. Actes d'un colloque organise par l'Universite Blaise Pascal de ClermontFerrand, 1989. Wroclaw 1991, oder den Aufsatz von Burghart Wachinger: Kleinstformen der Literatur. Sprachgestalt — Gebrauch — Literaturgeschichte. In: Kleinstformen der Literatur. Hg. von Walter Haug und B. W. Tübingen 1994, S. 1-37.

XIV

Thomas Althaus I Wolfgang Hunzel / DtrkGöttsche 3.

Während die >kleinen Formen< in der Vormoderne auf Grund des Fehlens eines funktional organisierten Literatursystems noch keinen spezifischen Ort haben, sondern weitgehend gleichberechtigt mit den übrigen Genres koexistieren, bildet sich im Zuge der Etablierung der Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin auch ein mehr oder minder klar strukturiertes Gattungsensemble heraus. Dieses System ist in erster Linie durch die Basisdichotomie v o n >Poesie und Prosapoetischen< Prosa zu etablieren, um hier versuchsweise und im Kleinen die Verdichtungsleistungen der Lyrik an die Strukturoffenheit der Prosa zu vermitteln. Es gehört aber zur Typik dialektischer Entfaltung

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Lotman spricht in diesem Zusammenhang von einem »strukturellen Oppositions-Binom«; Jurij M. Lotman: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Einführung, Theorie des Verses [1964]. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Karl Eimermacher. Übersetzt von Waltraud Jachnow. München 1972, S. 64. Aber schon mit dem Ausgang der ersten Entwicklungsphase modemer Kleiner Prosa (nach der hier vorgenommenen Blockbildung) ist generell eine ästhetisch-kognitive Aufwertung von Prosastrukturen erreicht und Prosa »als Gefahrtin der Poesie auf der intellectuellen Laufbahn der Nationen« anerkannt, kann sich hier doch »der durch keine äussere Form gebundene Gedanke [...] in freier Entwicklung nach allen Seiten hin weiter bewegen«; Wilhelm von Humboldt Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]. In: W. v. H.: Werke in fünf Bdn. Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. 6. Aufl. Darmstadt 1988, S. 368-756, hier S. 586 und 588f. Zum (historischen) Stellenwert der Hierarchie vgl. Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940, und Stefan Trappen: Gattungspoetik Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001.

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Noch im Gattungsensemble der Aufklarung bestehen literarische Großformen wie der Roman neben »einer Vielzahl kleinerer Kommunikationsformen«, vor allem »pragmatisch situierter Genres«; Burkhard Lindner: Die Opfer der Poesie. Zur Konstellation von Aufklärungsroman und Kunstautonomie am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit Hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt a.M. 1980, S. 265—301, hier: S. 274. Mit der Autonomisierung des Sozialsystems Literatur, die mit einem »Verlust an kollektiver Kunstpraxis« einhergeht, verändert sich das akzeptierte Gattungsspektrum, und es kommt zu einer Prävalenz umfangreicher Texttypen, weil vor allem diese dem nunmehr geforderten Charakter des Kunstwerks - dem kohärenten Aufbau einer fiktiven Welt bei gleichzeitiger formaler Geschlossenheit — entsprechen; Jochen Schulte-Sasse: Einleitung: Kritisch-rationale und literarische Öffentlichkeit. In: ebd., S. 12-38, hier: S. 28.

Ränder, Schwellen, Zndschenräume

XV

dieser Prosa, daß nächste Entwicklungsschübe nach der Phase der Kondensierung eher gegenläufig ausgerichtet sind und bald wieder Gedichtfeme intendiert wird. Innerhalb des Segments Prosa gibt es allerdings bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts noch keine eindeutige Binnenhierarchie. So lange kann eine Fabel prinzipiell die gleiche literarische Dignität beanspruchen wie etwa ein Roman, ja unter Umständen wird erstere letzterem sogar vorgezogen, weil der belehrende Charakter ihr höheren Gebrauchswert verleiht als einer romanhaften Erzählung, die hier noch vorrangig der Unterhaltung und damit niedrig eingestuften Zwecken dient. Erst im Zuge der Autonomisierung der Literatur büßen die didaktischen Genres ihre bisherige Stellung ein und werden zunehmend aus dem eigentlichen Bereich der Literatur hinausgedrängt. Die Stellung der Kleinen Prosa zu Beginn der Makroperiode Moderne ist daher wegen ihrer Zugehörigkeit zum Sprachregister ungebundener Rede und wegen ihrer ästhetischen Randständigkeit doppelt inferior. Doch eben diese Position der Marginalität disponiert zur Kritik. Hieraus bezieht das Textfeld fortan sein Selbstverständnis. Gerade weil eine Anekdote oder ein Aphorismus gemäß den zu Beginn der Autonomieästhetik festgelegten Bewertungskriterien niemals den Rang einer Tragödie, eines Romans, ja selbst einer Elegie oder einer Ballade beanspruchen kann, siedeln sich die hier zur Debatte stehenden Ausdrucks formen bevorzugt an drei Orten im Gattungssystem an: (1) in jenem Bereich, wo auf Grund der Kürze der Texte die etablierten Normierungen nicht mehr oder nur eingeschränkt greifen, (2) an den Nahtstellen der >klassischen< Gattungstrias von Dramatik, Epik und Lyrik und (3) an den Rändern des Literatursystems, dort, wo die ästhetischen Funktionsregeln ihre Zuständigkeit und damit ihre Geltung verlieren. Mit anderen Worten: Der Status der Randständigkeit, den die Kleine Prosa im Gattungssystem der frühen Moderne zugeschrieben erhält, erweist sich als eigentlicher Motor der weiteren Entwicklung dieses Textfeldes. Der Aphorismus etwa wird im deutschen Sprachraum genau dann zu einem signifikanten Ausdrucksmodus, als das vormoderne Formenensemble sich auflöst und von einer systematisierenden, geschichtsphilosophisch überwölbten Gattungsästhetik abgelöst wird.13 Der Wegfall didaktischer Soll-Bestimmungen, der Epigrammen, Sentenzen und Apophthegmen noch einen klaren Funktionsrahmen gegeben hatte, öffnet nun den Raum für eine prägnante Reflexionsprosa, die der Verortung und Selbstverständigung des modernen Individuums als Medium dient. Einige tradierte Kurzformen überstehen aber offensichtlich die Epochenschwelle, die das späte 18. Jahrhundert markiert. Allerdings machen diese Formen einen nicht zu unterschätzenden Funktionswandel durch: vom Typus zum

13

Vgl. Friedemann Spicker Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. Berlin/New York 1997.

XVI

Thomas Althaus I Wolfgang Bunuel / DirkGöttsche

Regulativ, mit dem neuen Irritationen durch alte Muster gesteuert wird.14 Die modernen Spielarten Kleiner Prosa haben jedenfalls kaum noch etwas mit den sogenannten Einfachen Formen zu tun, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als anthropologisch-linguistische Universalien postuliert worden sind.15 Die Kurzprosa der Moderne wirkt allenfalls sekundär einfach. Tatsächlich handelt es sich bei ihr — vor allem dort, wo ein Zusammenhang mit bestimmten Einfachen Formen prätendiert wird (wie etwa bei der Kalendergeschichte) — um verfahrenstechnisch komplizierte Textstrukturen, die ihre ästhetische Komplexität hinter der Fassade eines simplen Sprechgestus verbergen. Literarische Erbschaften sind natürlich nicht zu bestreiten. So bedient sich der Aphorismus des Themen- und Formenreservoirs der Apophthegmatik,16 und zwar auf ähnliche Weise, wie dieses Genre des 17. Jahrhunderts die Sprichwortanthologien des 16. Jahrhunderts als Material fundus genutzt hatte. Hier zeigt sich exemplarisch, wie traditionelle gattungstheoretische Grenzziehungen — oft gegen direkte Zitatverhältnisse gearbeitet — historisch auseinander Erklärbares plötzlich nicht mehr als Prozeß erkennen lassen. Es werden also Filiationslinien nicht zuletzt durch terminologische Grenzziehungen verdeckt. In der Moderne ändern sich aber auch die Zusammenhänge innerhalb eines Gattungsmodells selbst, indem Rückgriffe nun vor allem den Zweck haben, geltenden Textmustern wieder mit Alternativen aus der eigenen genetischen Tradition zu begegnen. Das befördert gerade Differenzbildungen. Der Aphoristik Lichtenbergscher Prägung etwa erwächst auf diese Weise nicht nur von einer ersten, sondern gleich auch noch von einer zweiten Seite Konkurrenz: Während Friedrich Schlegel oder Novalis das Fragment zum zentralen epistemologischen Reflexionsmedium einer emphatisch begrüßten Moderne machen wollen und es in den Dienst romantischer Transgressionsästhetik stellen, nutzt Goethes Spruchdichtung gerade den Rekurs auf ältere Formen gnomischer und sententiöser Prosa, um auf die Kommunikationsaporien zu reagieren, die mit dem Epochenwechsel in die Moderne einhergehen.

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Gehen im Verlauf der Entwicklung Kleiner Prosa literarische Routinen der Wahrnehmung stark zurück, können im Gegenzug auch wieder alte Muster herangezogen und mit Ordnungsfunktionen besetzt werden. Vgl. dazu Theo Elm und Peter Hasubek: Fabel und Parabel in der Kultur der Aufklärung. Einleitung zu: Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert. Hg. von Th. E. und P.H. München 1994, S. 7-15. Vgl. hierzu vor allem Andre Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle 1930, sowie den Band: Simple forms / Einfache Formen, edendum curavit Z. Kanyo. Szeged 1982. In jüngerer Zeit gibt es auch Ansätze, vormodeme Gattungskonzepte mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium zu erschließen; siehe etwa Hans-Peter Ecker: Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung. Stuttgart/Weimar 1993. Siehe Thomas Althaus: »Wie gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen.« Böse Späße in der Kleinen Prosa der Frühen Neuzeit oder: Was alles hinter Lichtenbergs Aphorismus Ε 385 steckt. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2005, S. 7-29.

XVII

Ränder, Schwellen, Zwischenräume 4.

Die tiefgreifende Umstrukturierung des Spektrums >kleiner Formern um 1800 erstreckt sich vorrangig auf den Aphorismus und das romantische Fragment. Daneben überwiegt im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zunächst das aus der ästhetischen Abwertung didaktischer Gestaltungsweisen resultierende temporäre Verschwinden von Gattungen den Zugewinn neuer kleiner Formen.17 Eine nennenswerte Ausweitung des Formenkanons ereignet sich erst im Vormärz wieder, als es im Zeichen einer operativen Literatur18 zu einer Aufwertung funktionsbestimmter Schreibweisen kommt. Vormals als »blosse Darstellung des Wirklichen«19 geschmähte Prosaformen werden nun in ganz neuer Weise emphatisch besetzt. Zugleich fuhrt die Bevorzugung von Ausdrucksmustern, die dem Kontext der Publizistik entstammen, zu einer signifikanten Ausweitung Kleiner Prosa im Übergangsbereich von Literatur und Alltagskommunikation.20 Vor allem das Zeitungsfeuilleton stellt jene mediale Sphäre dar, die zur Exploration neuer kurzer, meist stark subjektiv akzentuierter Textformen einlädt. Diese verkoppeln Kulturdiagnostik mit Selbstreflexion und Alltagsbeobachtungen mit - z.T. kunstvoll inszenierter — Autobiographik.21 Die Kleine Prosa erobert sich hier neue Themengebiete und Gestaltungsweisen an den Rändern des Geltungsbereichs der Belletristik, in jener Zone, in der die Journalistik Brücken schlägt zwischen einzelnen Diskursen und die Grenze zwischen dem inner- und dem außerästhetischen Bereich durchlässig wird. Die spezifische Leistung der publizistisch bestimmten Kurzprosa besteht dabei besonders in der Amalgamierung von Redeformen aus unterschiedlichen Disziplinen, deren jeweilige Limitierungen erst im Akt der Verkreuzung kenntlich werden. Daneben wird in der deutschsprachigen Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert der Einspruch gegen das sich verfestigende triadische Gattungssystem mehr und mehr zur zentralen Funktion Kleiner Prosa. Sie ist jetzt ein Katalysator

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Einen guten Überblick gibt die in methodischer Hinsicht allerdings unbefriedigende Arbeit von Sabine Schlüter: Textsorte vs. Gattung. Textsorten literarischer Kurzprosa in der Zeit der Romantik (1795-1835). Berlin 2001. Vgl. Peter Stein: Operative Literatur. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Begründet von Rolf Grimminger. Bd. 5: Zwischen Revolution und Restauration 1815-1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München/Wien 1998, S. 485-494. Wilhelm von Humboldt Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (wie Anm. 10), S. 586. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1968, S. 343-374. Vgl. Günter Oesterle: »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. von Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Tübingen 2000, S. 229-250.

XVIII

Thomas Atihaus / Wolfgang Bunuel / Dirk Göttsche

literarischer Innovation. Dies läßt sich besonders gut erkennen, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die schwindende Geltungskraft: einst philosophisch begründeter und anschließend meist akademisch tradierter Gattungspoetik22 den inzwischen angestammten Kanon literarisch anerkannter Genres von innen heraus brüchig werden läßt. Immer stärker wird nun erkennbar, daß die bislang vorgenommene Einteilung nicht mehr mit der realen Vielfeit, die mittlerweile besteht, Schritt halten kann.25 Verstärkt richtet sich deshalb das Interesse der Schriftsteller auf die Lücken und Interferenzzonen innerhalb des Gattungssystems selbst. Teilweise angeregt durch den Transfer von literarischen Verfahrensweisen aus den Nachbarkulturen entstehen um 1900 zahlreiche gänzlich neue Genres, welche die Dichotomien des Literatursystems als Impuls zur Generierung innovativer Textformen nutzen. Das prominenteste Beispiel einer solchen Innovation stellt das Prosagedicht dar, das seit seiner Konzeptualisierung durch den Ahnherrn der >klassischen< Moderne, Charles Baudelaire, dadurch gekennzeichnet ist, daß es die Ausdrucksregister von Lyrik und Prosa vereint und so die hergebrachte Unterscheidung von gebundener und ungebundener Rede modellhaft aufhebt.24 Die Entwicklung ist jetzt kaum noch in gattungsgeschichtlich rekonstruierbaren Linien zu beschreiben; sie hat ihren Vollzug im Textfeld Kleiner Prosa, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts etabliert hat. Mit fortschreitender Ausdifferenzierung des modernen Literatursystems erweist sich genau dieses Segment der Textproduktion als das dynamischste, weil es nicht nur eine Fülle von Hybridformen bekannter Genres, sondern auch von gänzlich neuen Texttypen generiert. Nach 1900 wird die Vielfalt entsprechender Kurzprosa freilich so groß, daß sie sich kaum noch überschauen läßt. Der Hinweis auf ihre Marginalität, wie er etwa im Titel von Alfred Polgars Sammelband An den Rand geschrieben (1930) begegnet, wird allmählich zum Topos und gerät nicht selten zur nachgerade kokett anmutenden Floskel. Immer jedoch bildet die Kurzprosa einen Gegenentwurf zu den anerkannten Großgattungen und dem epistemologischen Anspruch auf Darstellungstotalität, den das 19. Jahrhundert ihnen eingeschrieben hat. Dagegen ist der Großteil Kleiner Prosa im 20. Jahrhundert einer Ästhetik der Verknappung verpflichtet, die sich am Leitkonzept der Reduktion ausrichtet und deshalb Weglassung und Aussparung zu Gestaltungsprinzipien erklärt. Als Kronzeuge und wichtiger Stichwortgeber für diese Entwicklung kann der österreichische Autor Peter 22

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Siehe etwa Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheotie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers. Tübingen 1981. Vgl. etwa Viktor Zmegac: Kunst und Ideologie in der Gattungspoetik der Jahrhundertwende [1980]. In: V. Z.: Tradition und Innovation. Studien zur deutschsprachigen Literatur seit der Jahrhundertwende. Wien/Köln/Weimar 1993, S. 74-101. Vgl. Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer Gattung der literarischen Moderne. Tübingen 2005. Andere literarische Experimente wie etwa die Texte aus Arno Holz' und Johannes Schlafs Sammlung Papa Hamlet (1889) verwischen die Grenze zwischen Narrativik und Dramatik, die lyrischen Dramen Hugo von Hofmannsthals jene zwischen Dramatik und Lyrik usw.

Ränder, Schwellen, Zmschenräume

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Altenberg gelten, der im Anschluß an die im Roman Λ rebours entwickelte Essenztheorie seines französischen Gewährsmanns Joris-Karl Huysmans25 die Umrisse einer poetischen Diätetik entwickelt.26 Nietzsche erklärt provokativ, er wisse, »in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt — was jeder andre in einem Buche nicht sagt ...«27. Karl Kraus spitzt dies noch einmal zu: »Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.«28 Weite Teile der Kleinen Prosa beziehen jedenfalls ihren ästhetischen Geltungsanspruch daraus, daß sie verbale Weitschweifigkeit vermeiden, indem sie Sprache zu verdichten suchen. Auf diese Weise vermag ein Kurzprosatext mit einem ganzen Roman zu konkurrieren, was mit einem Mal die Legitimität dieser sonst so überaus erfolgreichen Gattung in Frage stellt. So heißt es etwa bei Polgar apodiktisch: Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig füir verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch fur Psychologie, zu romanhaft fur Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe. [...] Ewigkeiten erweisen sich als zeitlich, die solidesten Götter als Götzen, alle Anker sind gelichtet, kein Mensch weiß, wohin die Reise geht, aber daß sie geht und wie tausend rasch sie geht, spüren wir am Schwindel: wer wollte da mit überflüssigem Gepäck beladen sein? 29 Ganz offensichtlich hat sich das Verständnis von Zeit und Dauer in der Moderne radikal verändert,30 was wiederum fur das Selbstverständnis der Kurzprosa von entscheidender Bedeutung ist. 25

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Vgl. Klaus Meyer-Minnemann: Le roman concentre en quelques phrases. Zur Auffassung und Gestaltung des Prosagedichts bei J.-K. Huysmans. In: Romanistisches Jahrbuch 21 (1970), S. 181-194. Siehe Wolfgang Bunzel: »Extracte des Lebens«. Peter Altenbergs poetische Diätetik. In: Individualität als Herausforderung. Moderne Identitätssemantik (1770 bis heute). Hg. von Jutta Schlich. Heidelberg 2006 (im Druck). Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. In: F. N.: Werke in 3 Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 2. 7. Aufl. München 1973, S. 939-1026, hier S. 1026, Nr. 51 (Streifzüge eines Unzeitgemäßen). Karl Kraus: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht Bd. 8: Aphorismen. Frankfurt a.M. 1986, S. 238 (Pro domo et mundo). Alfred Polgar Die kleine Form (quasi ein Vorwort). In: A. P.: Orchester von oben. Berlin 1926, S. 7-13, hier S. 12f. Siehe hierzu besonders die beiden Aufsätze von Ingrid Oesteile: Der Führungswechsel der Zeithorizonte< in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit >Gegenwartepisch< erzählbaren Verhältnissen — als wertlos galten. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Heinrich Laubes Roman Dasjung Europa, wo es heißt: »[...]

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5. Der den Großfoimen mindestens implizit innewohnende Anspruch, Realität in ihrer Totalität einzufangen bzw. geschlossene Gegenkonzepte zu dieser zu entwerfen, erweist sich damit zunehmend als obsolet. Mit dem Ende überwölbender geschichtsphilosophischer Konstruktionen im 19. Jahrhundert endet nicht nur der Glaube an eine lückenlose Erfaßbarkeit der Wirklichkeit, sondern auch die Zuversicht in deren Sinnhaftigkeit. Beides zusammen verlangt geradezu nach einer Deutung Kleiner Prosa unter dem Aspekt zerstörter Ganzheit. Das Manko, daß ihr der Werkcharakter fehlt, verwandelt sich für das skeptische Denken der klassischen und nachklassischen Moderne mit einem Mal in eine Wahrheitsbedingung; es kann sich ohne Inkonsequenz nicht mehr in größeren Zusammenhängen oder gar systematisch äußern.31 Befördert von der Sprachkrise der Jahrhundertwende 1900,32 die als Begleiterscheinung und Resultat dieser Verlusterfahrung verstanden werden kann, fitagmentarisiert und atomisiert sich fortan auch die Realität im Medium der Literatur. An die Stelle des ehemals Ganzen treten nun Teile, Bruchstücke, was Lückenhaftigkeit, Fragmentarizität und Vorläufigkeit zu poetischen Zentralbegriffen werden läßt. Ihren vielleicht greifbarsten Ausdruck findet diese Entwicklung in der Herausbildung einer Ästhetik der Skizze. Ein zeitgenössischer Rezensent resümiert in einer Besprechung aktueller Bände mit Neuerscheinungen Kleiner Prosa kurzerhand verallgemeinernd: »Das Skizzenhafte ist ganz eigentlich [...] das Charakteristische der modernen Litteratur.«33 In der Literatur findet das Prinzip der Skizzenhaftigkeit seinen unmittelbarsten Ausdruck in der >kleinen FormSkizze< zum wohl verbreitetsten Sammelbegriff für kurze Prosa in der Moderne geworden ist. Damit aber empfiehlt sich die Kleine Prosa definitiv als ein Textmodus, der den epistemischen und ästhetischen Herausforderungen der Moderne

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alle Tage einige Zeilen [...] aphoristisch [...] ich bin selbst ein abgerißner Fetzen der Welt, wer hält mich fest? Der nächste Sturmwind fuhrt mich fort - die ganze Welt ist aphoristisch, es ist kein Zusammenhang darin als die Luft, will sagen, der Wind: >Die Welt ist lauter Wind, Juchhe!großer< und >kleiner Form< verliert hier ihren Sinn; der produktive Bezug der einen Form auf die andere hebt den Unterschied auf.34 Parallel dazu begegnet im Kontext Kleiner Prosa immer häufiger das Phänomen, daß die bisherigen - ohnehin schon knappen — Standards des Textumfangs 34

Zur Unterscheidung zwischen >großer Form< und >kleiner Form< vgl. besonders Juri Tynjanow: Das literarische Faktum. In: J. T.: Poetik. Ausgewählte Essays. Leipzig/Weimar 1982, S. 7-30.

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noch unterschritten werden. Die in der Gegenwartsliteratur zu verzeichnende Tendenz zur Minimierung der Zeichenmenge, wie sie sich vor allem bei Erscheinungsweisen der sogenannten Kürzestprosa beobachten läßt,35 reinszeniert in gewisser Weise die Ausgangssituation des späten 18. Jahrhunderts, als kleine Prosaformen sich der Reichweite der herrschenden Gattungspoetik entzogen, indem sie den Umfang etablierter Textsorten mehr oder minder programmatisch unterschritten.36 Nach gut 200 Jahren Geschichte moderner Kurzprosa haben sich freilich auch in diesem Textfeld eigene Muster und Gestaltungskonventionen herausgebildet, die nicht einfach ignoriert werden können und sich tendenziell normierend auf den literarischen Ausdruck auswirken. Um diesen Limitierungen zu entgehen, erproben manche Autoren noch radikalere Ausweichbewegungen, die auch die Grenzen zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität verwischen bzw. gegenstandslos machen. Dabei ist vielfach zu beobachten, wie sich die Kodierung von Ästhetizität vom Text selbst auf sein Umfeld, seine mediale Verbreitungsform bzw. seine Inter- oder Kontexte verschiebt, die ihn dann aus der Unverbindlichkeit bloßer Alltagskommunikation herausheben und in ein ästhetisch rezipierbares Gebilde verwandeln.37 Eine Bewertung der Leistung sprachlicher Verknappung erweist sich indes als überaus schwierig. So ist es sicher nicht falsch, von der Annahme auszugehen, »daß [...] Kürze tendenziell Vieldeutigkeit impliziert«38. Ein solcher Effekt resultiert offenbar aus der bei Kurzformen im Vergleich zu umfangreicheren literarischen Gebilden in geringerem Ausmaß vorhandenen Möglichkeit zur semantischen Vereindeutigung des Textsinns bei gleichzeitig extrem hoher Konzentration des Ausdrucks. Das heißt: »Je weniger Kotext vorhanden ist, desto schwieriger

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Vgl. etwa Susanne Schubert Die Kürzestgeschichte: Struktur und Wirkung. Annäherung an die Short Short Story unter dissonanztheoretischen Gesichtspunkten. Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997. Im letzten Extrem, zu dem Lichtenberg sich hinarbeitet, bis auf Aphorismen aus »maximal· drei Wörtern, und zwar durchaus als Texte zu den Großereignissen der Zeit wie »Citoyen de Gomorrha« oder »Der Galgen Freiheitsbaum«; vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. 1 (Sudelbücher I). 3. Aufl. München 1980, L 342 und L 495. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird hier auch darauf verzichtet, Fiktionalität zur notwendigen Grundbedingung Kleiner Prosa zu machen, denn der Aufbau eines fiktionalen Rahmens ist bei den zur Debatte stehenden Texten durchaus nicht in jedem Fall gegeben. Gleichwohl werden hier nur solche Texte in den Blick genommen, die einen ästhetischen Wirkungsanspruch aufweisen, während sogenannte expositorische Texte ausgeschlossen bleiben. Ein beredtes Beispiel für die — auch in terminologischer Hinsicht heikle — Problematik der Abgrenzung zwischen Kunst- und Alltagskommunikation bezogen auf die Prosa stellt der Band: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hg. von Klaus Weissenberger. Tübingen 1985, dar. Ulrich Stadler: Kleines Kunstwerk, kleines Buch, kleine Form Kürze bei Lichtenberg, Novalis und Friedrich Schlegel. In: Die kleinen Formen der Moderne. Hg. von Elmar Locher. Bozen bzw. Innsbruck/Wien/München, S. 15-26, hier S. 20.

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wird es [...] in aller Regel auch, das Interpretationsergebnis abzusichern.«3' Dennoch wird man wohl kaum einfach sagen können: »Je kürzer ein Text ist, desto mehr Spielraum besitzt seine Interpretation.«40 Es macht deshalb auch wenig Sinn, von vornherein ein »riesenhaftes Bedeutungspotential, das der kleinen Form innewohnt«41, zu postulieren. Denn mit der Reduktion des Kotextes steigt im Gegenzug auch die Kontextbedürftigkeit eines Textes. So sieht sich ein kurzer Text bei der Veröffentlichung entweder auf ein publizistisches Umfeld verwiesen, oder er benötigt andere, selbständige Texte, um in Buchform präsentiert werden zu können. Dies erklärt im übrigen die medienspezifische Affinität >kleiner Formern zu publizistischen Verbreitungsmitteln ebenso wie die für Kurzprosa typischen Assemblierungsphänomene, auf die bereits hingewiesen wurde.

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Die Unübersichtlichkeit des Textfeldes und die Heterogenität der darin begegnenden Genres hat nicht nur zu einem Zustand terminologischer Unsicherheit geführt,42 sondern verschiedentlich auch die Ansicht genährt, die Kleine Prosa bewege sich mittlerweile jenseits aller Gattungsnormierungen.43 Wegen der kaum mehr zu überblickenden Formenvielfalt und der starken Heterogenität des Textfeldes ist in jüngster Zeit mehrfach die Auffassung vertreten worden, die Kleine Prosa müsse als ein transgenerisches Phänomen angesehen werden. Das hebt noch einmal ausdrücklich ihre modellkritischen Dimensionen hervor. Dabei gerät aber zumindest zweierlei außer acht. Erstens gibt oft genug — wie deutlich beim Feuilleton — das Medium Kontextbedingungen und Funktionen vor, die dann 39 40 41

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Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 31. Pforte spricht in diesem Zusammenhang von »Kompressionskunst«; Dieter Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Die deutschsprachige Anthologie. Hg. von Joachim Bark und D. P. Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800-1950. Frankfurt a.M. 1970, S. XIII-CXXIV, hier S.L. Das schließt freilich semantische Ausweichbewegungen ein, welche die analytische Anstrengung vorzeitig zum Stehen bringen und damit Erkenntnisverzicht üben, anstatt die Grenzen der Bestimmbarkeit präzise auszuloten. Vgl. etwa Michael Rössner. Transgressionen. Zu dem wirkungsästhetischen Potential der Gattungsmischung in nicht-einordenbaren Texten der modernen Literatur. In: Sprachlicher Alltag. Linguistik - Rhetorik - Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel 7. Juli 1994. Hg. von Annette Sabban und Christian Schmitt. Tübingen 1994, S. 455-476. Die Tendenz zu einer Verabschiedung gattungspoetischer Kategorien hat ihren Ausgang von der US-amerikanischen Literaturwissenschaft genommen; vgl. hierzu etwa die mittlerweile zum zentralen Bezugstext avancierte Arbeit von Paul Hernadi: Beyond Genre. New Directions in Literary Classification. Ithaca/New York 1972, aber auch die Studie von Thomas O. Beebee: The Ideology of Genre. A Comparative Study of Generic Instability. University Park (Pennsylvania) 1994.

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wohl kritisch zu reflektieren und fallweise auszusetzen, aber nicht völlig aufzugeben sind. Zweitens muß noch die konsequenteste Form avantgardistischer Sinnverweigerung strukturbezogen organisiert werden; ohne Textmodelle kann sie ihre Abweichung gar nicht markieren. Nicht zufallig nehmen viele Verfasser Kleiner Prosa des 20. Jahrhunderts gezielte, teilweise auch inszenierte Rückgriffe auf frühere Textmodelle vor, wobei sie häufig Erwartungen aufrufen, um sie anschließend entweder ganz zu enttäuschen oder zumindest zu unterlaufen. So rekurrieren beispielsweise Bertolt Brecht oder Erwin Strittmatter auf die Tradition der Kalendergeschichte, freilich nicht, ohne an der Textform bezeichnende Veränderungen vorzunehmen.44 Auf diese Weise aber schreiben die Autoren Überlieferung produktiv fort — auch wenn es sich meist um einen Akt der Umschrift handelt. Es ist denn auch der gesteigerte Grad der Intertextualität, der die meisten jüngeren und jüngsten Spielarten Kleiner Prosa auszeichnet.45 Ihre Herkunft wird erst dann erkennbar, wenn die spezifische Art der Bezugnahme auf Prä- und Kontexte in den Blick genommen wird. So üben gerade Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur häufig starke Zurückhaltung bei der Benennung ihrer Texte und verzichten entweder ganz auf Gattungsnamen oder wählen denkbar allgemein gehaltene, unspezifische Bezeichnungen wie beispielsweise »Prosa«, um einer vorschnellen Rubrizierung zu entgehen. Zugleich erfolgt dann aber innerhalb eines einzelnen Textes nicht selten der — zuweilen sogar namentlich ganz explizit gemachte — Verweis auf einen Autor kurzer Prosa bzw. seine Kurzprosa. In solchen Fällen geht also das Vermeiden von Zuordnung mit Akten nachgerade plakativen Traditionsbezugs Hand in Hand. Die durch diesen Befund bekräftigte Vorstellung feldbezogener Entwicklungen geht zwar fraglos über das methodische Inventar herkömmlicher Gattungspoetik hinaus, hat dieses gleichwohl aber zur Voraussetzung. Darin zeigt sich eine weitere Facette der potenzierten Intertextualität Kleiner Prosa in der Moderne. Manche der neuentstandenen Gattungen sind sogar als regelrechte »countergenres«4Volkstümlichen< in den Kalendergeschichten Hebels und Brechts. Stuttgart 1973. Zu avancierten Formen genetischer Intertextualität vgl. Andreas Böhn (Hg.): Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung: Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen. St. Ingbert 1999, sowie Α. B.: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie. Berlin 2001. Dieser von Guillen geprägte Terminus, der in mannigfaltigen Transformationen vor allem in der neueren US-amerikanischen Forschung begegnet, zielt darauf, Systemverhältnisse von Gattungen zu erfassen, indem z.B. die Entstehung einer neuen Textur zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem spezifischen literarischen System indiziert, daß sie als Gegenentwurf zu einem bestehenden Gattungsmodell fungiert; vgl. das Kapitel »Genre and Countergenre« in Claudio Guillen: Literature as System. Essays toward the Theory of Literary History. Princeton (New Jersey) 1971, S. 135-158.

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weder konkurrierender oder ergänzender — Gegenentwurf zur Verslyrik verstanden werden kann. Gerade dieses Textmodell aber fungiert nicht nur als ein »countergenre« im speziellen Sinn — nämlich als Vertextungsweise, die herkömmliche Gattungsmuster widerlegt —, sondern darüber hinaus auch als ein »countergenre« im allgemeinen und in gewisser Weise noch radikaleren Verständnis, also als Kommunikationsstruktur, welche die Geltungskraft von Generizität generell auf die Probe stellt. In jedem Fall gilt es, die Konsequenzen mitzubedenken, die sich aus dem fundamentalen Funktionswandel Kleiner Prosa in der Moderne ergeben, der zur Folge hat, daß vormals rein gattungsgeschichtliche Prozesse nunmehr Teil textfeldbezogener Entwicklungen sind.

7. Die Aufhebung von Gattungsnormen in der Kleinen Prosa ist jedenfalls schon deshalb nicht deren einziges Spezifikum, weil diese Verfahrensweise ihrerseits Muster von Erwartungsenttäuschung und Normendestruktion generiert, die zwangsläufig strukturbildend wirken. Es gehört überhaupt zur Geschichte dieser Prosa, daß aus offener Situation Textformate und Schreibweisen immer wieder neu entwickelt werden (die möglicherweise dann auch wieder neu abzustoßen sind). Derart bauen sich seit der >klassischen< Moderne relativ stabile Konturen Kleiner Prosa gerade an Schnittstellen auf, wie im Fall des Prosagedichtes und der Prosaskizze als >DenkbildZwischending< eines idyllischen Epigramms wird möglich, ein hybrides Genre »Idyll oder Epigramm«: »die grünende Daphne, der flötende Pan ließen sich auch im Epigramm sehen und hören«5; man kann »kleine Gemälde, Beschreibungen, Betrachtungen, oft auch selbst kleine Erzählungen epigrammatisch vortragen«6. Der Bindungsdruck fur Fabel, Idylle, Epigramm ist derart groß, daß sie dem jeweils als ^vermischte Gedichte< durch einen weiternden Bezug aufeinander zu entkommen trachten. Während die Theorie der Kleingattungen an Trennschärfe womöglich noch hinzugewinnt, verwischen in der literarischen Produktion derart die Konturen. Letztlich ist es die Regulierung selbst, die korrelative Schreibvotgänge und den Feldcharakter der gattungsgeschichtlichen Prozesse erwirkt. Die Gegentendenz auf Deregulierung vollendet sich dann in einer markanten flächendeckenden Erscheinung und Veränderung: Es kommt — im großen literaturhistorischen Maßstab annähernd zeitgleich — zu einer Prosawende. Sie hat ihre entscheidenden Textereignisse in Lessings Prosafabeln (1759), Geßners Prosaidyllen (ab 1756) und Lichtenbergs >Sudelbüchern< (ab etwa 1765) als traditionslos einsetzende Aphoristik, die aber in Frühstadien ihrer Entwicklung sehr wohl Verbindung zur

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praesentatio confusa«, »repraesentatio obscura«; Meditationes, §§ 13 und 15, S. 14—17). Daraus resultiert nur erst ein intellektuaüsiertes »sinnliches Leben (Pathos) der Gedanken«; Johann Gotthelf Lindner Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst. Frankfurt a.M. 1971 (Nachdruck der Ausgabe Königsberg/Leipzig 1771-1772), Theil I, § 4 (Baumgartensche Aesthetik), S. 209. Vgl. etwa Christian Fürchtegott Geliert: Der Schäfer und die Sirene. Eine Fabel. In: Ch. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Bd 1. Hg. von Ulrike Bardt und Bernd Witte. Berlin/New York 2000. Bd. 1, S. 3-5, hier S. 3: »Ein Schäfer aus der goldenen Zeit, / Ein Thyrsis im Arkader Lande / [...]«. Gottlob Wilhelm Burmann: Fabeln und Erzählungen in drey Büchern. Dresden 1768. Vorerinnerung, unpag. Johann Gottfried Herder Anmerkungen über die Anthologie der Griechen, besonders über das griechische Epigramm. In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 15. Berlin 1888, S. 205-221, hier S. 214. Die Texte der Anthobgia Graeca dienen (gegenüber denen Martials) als Muster einer innovativen Epigrammatik mit der Intention auf »Simplicität« (ebd) statt auf Satire. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (wie Anm. 1), S. 75.

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Aufklärungsepigrammatik hat oder sucht. Die Umstellung auf Prosa betrifft vorderhand lediglich Aspekte der Textur. Die Entscheidung gegen die poetische Kon2eption hat jedoch weitere Implikationen. Sie ist eine Kritik der Genera in ihrer bisherigen Form. Das jeweilige Genre wird in eminenter Weise reflexiv belastet, ja über den Vers offenbar auch die Gattung zersetzt. Eine dadurch indefinite Kleine Prosa liegt in der Konsequenz dieses Geschehens. So enthalten Gleims Sinngedichte, als Manuscript fiir Freunde von 1769 unter 52 Verstexten ein einzelnes Prosastück; die Verstexte bieten die Grazien- und Idyllendichtung zwischen Rokoko und Anakreontik, die von Gleim auch kaum anders zu erwarten ist, aber das Prosastück negiert das ganze System der Idylle ostentativ in dem Augenblick, in dem es auf die Nöte des Subjekts beziehbar wird. Solcher Prüfung hält es nicht stand. Amor und ein Satir. An einer Quelle des idalischen Waldes schlief Amor! Ein kleiner Satir traf ihn an, nahm ihm Bogen und Köcher, und hing ihn sich um seine Schulter! Nun bin ich ein Jäger, sprach er! Nun will ich doch sehen, ob Diana besser trift, als ich. Indeß wacht Amor auf, und siehet sich um, und ruft: Mein Bogen! Mein Köcher! Wer hat ihn? Wo ist er? Er siehet den Satir mit gespantem Bogen nach ihm zielend da stehn! Schieß nicht, Satir! ich bin der Gott der Liebe, spricht Amor! Aber der Pfeil saß dem Amor schon im Herzen, und es war derselbe Pfeil, den ich aus meinem Herzen riß, und ihn warf, vor seine Füße hin!7

Prosa kritisiert hier Poesie und hebt die ästhetische Illusion zusammen mit der Versstruktur auf. Die umgebenden Verstexte sind nicht annähernd so deformiert. Die regelpoetische Begrifflichkeit scheint deshalb über die Prosaauflösung abgeschüttelt zu werden. Eine solche Sichtweise auf die Prosawende als Genre-Negation verkürzt allerdings sehr die Entwicklungen. Sie werden letztlich zwar von einer Skepsis gegen die zugrunde liegenden Modelle gesteuert; auch befördern Theorieschübe abseits der Gattungspoetik die Auflösungstendenz: Mit der Ästhetik als Wissenschaft bringt gerade die Philosophie, als der Bereich begrifflicher Sicherung der Dichtungslehre, gegen Regelbezug und Definitionstreue strukturirritierende Kriterien auf; jetzt wird »Abwechselung«, »beständige Mannigfaltigkeit«, »angenehme Verwirrung« gefordert und damit gegen herkömmliche Textordnungen, v.a. gegen den Reim argumentiert.8 Gleichwohl ist die hier eintretende Situation nur sehr unzureichend mit dem Trennschema von Bindung und Entbindung zu erfassen. [Johann Wilhelm Gleim:] Sinngedichte, als Manuscript für Freunde. Berlin 1769, XLIII. Amor und ein Satir, S. 56f. — Eine ähnliche Situation ergibt sich in Johann Dietrich Leydings Uedem und Sinngedichten (Altona/Leipzig 1757), wenn hier auf 120 Seiten eine einzige Prosaekloge (»An Chloen«, S. 89f.) das Liebesthema der Idylle ins irritierend Extreme treibt Samuel Gotthold Langens Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1747 und 1752. Mit einem Nachwort von Frank Jolles. Stuttgart 1971. Vorrede, S. 2-21, hier: S. 14 und 18.

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Dagegen spricht schon, daß die Prosaisierung selbst als Rückgewinn von Gattungsintentionen proklamiert wird. Erklärte Absicht ist, Fabel, Idylle, Epigramm ihrer Intention nach neu wirksam zu machen. Dafür wird »der poetischere Styl« aufgegeben, »in welchen uns auch das allersimpelste Sylbenmaaß wie unvermeidlich verstrickt«9. Die Krise der Gattungen provoziert gleichlaufend den Regreß auf die Gattungskriterien.

2. Bestimmungszuwachs: die Prosafabel Die neue Prosafabel rekurriert auf die äsopische Fabel als Archetyp. Sie reiht sich den Übersetzungen und Nachbildungen an, die als verslose Texte mit diesem Anspruch die Geschichte der gereimten (phädrischen) Fabel immer wieder einmal kurz aussetzen lassen. Dichtere Folge gewinnt das in England zur Mitte des 18. Jahrhunderts (von Roger L'Estrange bis Samuel Richardson). Lessing übersetzt Richardson,10 zieht diese Entwicklung damit ins Deutsche und läßt seine eigenen Fabeln in Prosa nebst Abhandlungen mit dieser Oichtungsart verwandten Inhalts folgen. Das erfahrt jedoch über die eigene Werkgeschichte hinaus — trotz anhaltender Rezeption der Lessingschen Texte selbst — kaum noch eine literarische Weiterfuhrung. Es wirkt insgesamt eher traditionsendend als innovativ. Freilich verliert dann auch die Versfabel ihre historische Relevanz und Möglichkeit. Nur um so mehr scheint aber die Konsistenz des Genres mit der Prosawende verloren. Versbindung, Geschlossenheit des Textes und Ausrichtung auf den Lehrsatz als moraldidaktische Bindung scheinen einen Zusammenhang zu bilden, der nach der Wende eben nicht mehr besteht. Die Funktionsauflösung ist aber nicht prosabedingt. Sie folgt bereits aus den vielen Texten, die als Versfabeln in der Jahrhundertmitte entstehen. Diesen Texten ist schlicht durch ihre Fülle Alterität aufgezwungen. Sie müssen sich durch Variationen und Kontrafakturen des Fabelschemas voneinander unterscheiden und dies erheblich auch durch immer neue, andere Lehrsätze, die die Welt komplexer erscheinen lassen, als es jeder von ihnen seinem Geltungsanspruch nach eigentlich zulassen kann. Demgegenüber hat die Prosafabel im Gefolge Lessings, als »Vortrag [...] des ungekünstelten Geschichtschreibers«11, gerade umgekehrt mit einem nun wieder strenger auszuführenden Gattungskonzept, mit Komplexi9

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Gotthold Ephraim Lessing: [Fabeln. Drey Bücher. Nebst] Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts. In: G. E. L.: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl. durch Franz Muncker. Bd. 7. Stuttgart 1891, S. 413-479, hier. S. 467. Weitere Zitate aus den >Fabelabhandlungen< mit der Sigle A. Vgl. Samuel Richardson: Äsopische Fabeln mit moralischen Lehren und Betrachtungen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer Vorrede von Gotthold Ephraim Lessing sowie den vierzig Kupfertafeln der Erstausgabe von 1757. Hg. von Walter Pape. Berlin 1987. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften (wie Anm. 9), Bd. 1. Stuttgart 1886, Fabeln, S. 193-234, Die Erscheinung, S. 195. Weitere Zitate unter Angabe des Einzeltitels.

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tätsverringerung und Reduktion zu tun: »Präcision und Kürze« machen sie »so faßlich, als möglich«, »die Moral bestimmter«, den Text »planer, [...] zusammengepreßt«; der Widerstand der »anmuthigen poetischen Spielwerke« gegen eine vollständige Indienstnahme als Lehrdichtung wird gebrochen (A 467, 422, 437 u. 469). Die derart strikte Funktionalität aller Textmomente ergibt das genaue Gegenteil eines als Prosa ungebundenen Schreibens. Die Variationskunst der Versfabel, aus deren amplifikatorischer Fortschreibung sich das ganz andere Gattungsmerkmal ständiger Verschiebung entwickelt hat, geht aber dennoch auf die Prosafabel über. Die Fabeln Lessings sind in dieser Hinsicht geradezu ein Experiment mit der Überlieferung, indem er »in die alten Fabeln [...] eine Art von Jagd zu legen weiß«, »die Geschichte derselben bald eher abbricht, bald weiter fortfuhrt, bald diesen oder jenen Umstand derselben so verändert, daß sich eine andere Moral darinn erkennen läßt.« (A 477) Das hat erhebliche Folgen für die Möglichkeiten der Fabel als didaktisches Genre. Sollen (Verhaltens-)Regeln aufgestellt werden, setzt das relativ stabile Bereiche ihrer Geltung voraus. Die Bedingungen des Verhaltens dürfen nicht jedesmal andere sein, was sie aber in Fabeln wie »Der Rabe und der Fuchs« durch Variation so entschieden sind, daß es hier nur noch täuschend Ähnliches geben kann. Der Rabe und der Fuchs. Fab. Aesop. 205. Phaedrus lib. I. Fab. 13. Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbey schlich, und ihm zurief: Sey mir gesegnet, Vogel des Jupiters! - Für wen siehst du mich an? fragte der Rabe. — Für wen ich dich ansehe? erwiederte der Fuchs. Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechte des Zevs auf diese Eiche herab kömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfahrt? Der Rabe erstaunte, und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Ich muß, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrthume nicht bringen. — Großmüthig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen, und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf, und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte. Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler! (212f.)

Der Fuchs steht schon für ein Bewußtsein, das auf Wiederholbarkeit nicht mehr vertraut. Er geht die Sache nun anders an, kommt mit neuer Taktik auch zum Erfolg, liefert sich aber gerade damit der Unwägbarkeit des Geschehens aus. Der Rabe ist jetzt eine reflektierende Figur, trotzdem verblendet und kommt trotz seiner Änderungsunfahigkeit nicht zu Schaden. Er hat einfach Glück. Daraus folgt schlicht nur noch die Kontingenz von Welt, mit der absurden Weiterung, daß änderungsfähiges Verhalten ihr um so eher erliegt. Es geht nicht mehr um Käse, sondern um Fleisch, das aber nicht eßbar, sondern vergiftet ist; es war den Katzen zugedacht, gelangt aber an den Raben, aber nicht er tötet sich damit, son-

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dem der Fuchs. Auf diesen letzten Wechsel der Umstände kapriziert sich die Fabelmoral. Den Text deckt sie nicht ab, auch spekuliert sie selbst auf weiteres im Sinne einer Regel ausdrücklich nicht, sondern lehrt schlicht nur, den Zufall von seiner guten Seite zu nehmen. Das entpflichtet letztlich vom Gattungsprogramm und übersteigt erkennbar und radikal die durch Veränderungsdruck gewonnenen Freiheiten der Versfabel. Dabei sollte gerade ihnen und dem ganzen »anmuthigen poetischen Spielwerke« durch funktionable Prosa mit einem Regelwerk begegnet werden. Die Kodierung schärft aber eigentlich den Blick fur das Unregelmäßige und schafft ihm Gewicht. Was nicht ins Schema paßt, ist dann sofort auch als ironisch-skeptische Reaktion auf eine solche Zumutung motiviert. Das Textschema selbst wertet jedes Moment der Abweichung zum gezielten Normbruch auf und bewirkt eine entsprechende Konzentration des Schreibens. Es bildet sich ein Spannungsgefuge heraus, in dem Narration, Dialog, Reflexion der Engung ständig entgegenwirken. Gattungsvollzug wird zur Auseinandersetzung mit den Kriterien. Der interne Konflikt entzündet sich besonders am Lessingschen Hauptbegriff, dem zentralen darstellungstechnischen Begriff des Genres. Er ist erst jetzt, mit der konsequenten Transformation von Ästhetik in Funktionalität möglich geworden: Die Tierfiguren als Fabelwesen stehen für »die allgemein bekannte Bestandtheit der Charakteren. So legen Allegoriekritik, Textverknappung, Begriffs Sicherung das Genre nun metonymisch fest. Das erübrigt »umständliche Charakterisierung« und bringt »bey allen die nehmlichen Ideen hervor«, mit Wolf und Schaf, Esel und Löwe jeweils »diese und keine andere Idee« (A 451). Während die Tierfiguren der Versfabel allegorisch >flexibel< sind, ständig anders reden, als ihnen der Schnabel gewachsen ist, schafft sich die neue Prosafabel hier genaue Determinanten. Aber sie organisiert vor dem Hintergrund der Festlegung auch um so markantere Abweichungen. Das eine Mal fehlt den Charakteren »Bestandtheit«, gibt es z.B. unidentifizierbare Zwitter »aus dem Geschlechte der Wolfshunde« - Hunde, Wölfe? (»Das beschützte Lamm«, 211), das andere Mal sind sie nicht »allgemein bekannt«, wie in dieser Fabel Kazners: Die Aelster und der Staar. Eine gereiste schwatzhafte Aelster erzälte einst einem Staar von der wunderbaren Verschiedenheit der Vögel in andern Welttheilen: von Straussen und Papagoyen, vom Paradiesvogel und Colibri. Der Staar war ein erstaunter, aber stiller Zuhörer des Plauderers, welches Stillschweigen dieser für Mißtrauen in seine Erzählung hielt, und deswegen alle Götter und Göttinnen zu Zeugen aufrief. Jetzt flog der Staar davon, die Aelster aber rief ih[m] nach: »Der Geyer soll mich holen, wenn ich dir eine einzige Unwahrheit sagtel« »Er mag dich holen, oder nicht,« rief der Staar zurück, »so werde ich dir weder vom Strauß, noch vom Papagoy, noch vom Paradiesvogel, noch vom Colibri glauben, bis ich selbst

Kleine Prosa um 1770 welche gesehen habe. Was hättest du nöthig, die Götter bewußt wärest, keinen Glauben sv verdienen.«12

9 Zeugen ansprufen, wenn du dir nicht selbst

Der Star handelt besonnen und kritisch und schließt mit Beurteilungsvermögen und situationsbezogen richtig. Er gibt innerhalb der Fabel ein Beispiel für die adäquate Reflexion eines Fabelgeschehens. Das didaktische Ziel von Fabeln ist also vorbildlich in ihm figuriert. Seiner Schlußrede kommt die Qualität einer Lehre zu. Trotzdem ist seine Wahrheit falsch, und dies auf eine für das Fabelkonzept grundstürzende Weise. Es läßt auf die Möglichkeiten vernunftorientierter Lehre vertrauen. Hier jedoch wird ein Bewußtsein vorgeführt, das genau damit auch am Ende seiner eigenen Möglichkeiten ist. Die Welt ist bunter, als die kritische Wahrnehmung sie haben will. So nimmt die Fabel an sich zwar einen fehlerfreiem Verlauf und erreicht zielsicher ihr epimythion, das als kluge Schlußfolgerung graphisch ausgestellt wird. Alle Bedächtigkeit nützt aber nichts unter der falschen Voraussetzung regulärer Verhältnisse, als Pendant zur Regelbestimmtheit des Genres. Das tangiert dann den Begriff der Fabel überhaupt. Am Ende plädiert Kazner dafür, man solle »keine Moral mehr unter die Fabeln setzen!«13 Fabeln, »in Prosa aufgelöset« (A 416), stehen aber nicht ohne weiteres fur Strukturoffenheit. Zunächst verschärft sich sogar die Tendenz auf eine normpoetische Klärung. Nur ist bei deren Regelungswillen mit gleicher Verschärfung auf Gegenwirkung zu vertrauen. Die End- und Nachphase des Gottschedianismus ermöglicht es, Regelbruch durch Regelsetzung zu lancieren. Das bietet die rigoristische Theorie von sich aus bereits an: Sollte der Leser »auch schon dabey entdecken, daß meine Regeln mit meiner Ausübung nicht allezeit übereinstimmen: was ist es mehr? Er weiß von selbst, daß das Genie seinen Eigensinn hat; daß es den Regeln selten mit Vorsatz folget; und daß diese seine wollüstigen Auswüchse zwar beschneiden, aber nicht hemmen sollen.« (A 416) Darüber lösen sich nicht nur Vers fabeln in Prosafabeln auf, sondern auch Prosafabeln in funktionsenthobene Kleine Prosa.14

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Joh.[ann] Fndr.[ich] August Kazner: Fabeln, Epigrammen und Erzählungen. Frankfurt a.M. 1786, S. 124f. Ebd., Epilog. Die schöne Aussicht, S. 391 f., hier: S. 392. In der neuen Prosafabel rückt deshalb auch Gattungsironisches an die Stelle des letzten Satzes. Vgl. etwa: G.[otdob] W.[ilhelm] Burmanns Fabeln und Erzehlungen. Berlin 1763, S. 46: »Ewig Schade, daß es eine Fabel ist!« (2, 6. »Die Eheleute«). Wird am Gattungsmuster festgehalten, dient das zunehmend Zwecken (der Kinder- und Jugendliteratur) jenseits dieser Entwicklung oder einer Gegenreaktion auf sie, der das Muster nicht mehr Norm, sondern Regulativ ist. Zu Letzterem vgl. Theo Elm/Peter Hasubek: Fabel und Parabel in der Kultur der Aufklärung. In: Τ. E./P. H. (Hg.): Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert München 1994, Einleitung, S. 7-15.

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10 3. Intensivierung durch Lyrik: die Prosaidylle

In der Jahrhundertmitte werden heftige Auseinandersetzungen um die Idylle geführt. Sie gelten in der Gegenstellung Vergil/Theokrit dem Status der Idylle als künstlicher Allegorie oder als ästhetisch nur wenig optimierter Nachahmving der Natur. Es bietet sich an, die mit Geßner möglich werdende Alternative zwischen Vers- und Prosaidylle hierauf abzubilden. Die Entfernung vom Ideal arkadischer Poesie ist den Kritikern Mangel an Kunstsinn, und sie wollen »dieses Geschäft« gem »der Prosa abgetreten«15 sehen. Unter diesem Aspekt scheint Geßners Prosa als Intention aufzunehmen, was als Polemik gedacht war. Nun geraten Geßners Texte zwar in den Streit hinein, aber sie sind fur ihn zu wenig positionsbestimmt und erfahren deshalb auch unterschiedliche Zuweisungen. Dies macht sie überhaupt erst zu Repräsentanten des Genres. Dazu gehört auch, daß die Prosawende hier keineswegs einer Verabschiedung des Lyrischen gleichkommt. Das ist schon an der Genese der Prosaidylle zu sehen. Zwar scheint sich die Wende mit Geßners Idyllen (1756) wie ein Umschlag zu ereignen, literaturgeschichtlich vollzieht sie sich aber doch sukzessive und im Anschluß an das französische >genre mele< als Versprosadichtung. Dabei hinterläßt die Lyrik in der Prosa wichtige Spuren. Gerstenbergs Tändeleien und Prosaische Gedichte (1759) rekonstruieren als früheste Geßner-Nachfolge den Prozeß, in dem hier Lyrik zunehmend von Prosakommentaren begleitet und umgeben, dann von der mehr und mehr textbeherrschenden Prosa zur Liedeinlage verwandelt und schließlich in Prosa aufgehoben wird.16 Das schränkt Poesie als Darstellungsmodus ein, erlaubt aber gleichzeitig ihre nachdrückliche Inszenierung durch den Text. Die Kombination von lyrischen und prosaischen Passagen ergibt fürs erste eine Analogie zu Arie und Rezitativ. Da ist die Prosa freilich nur erst abschrittig Poesie, als »Recitiren nur ein tonvolleres Sprechen«, »die lebhafteste Accentuation der Aussprache«17. Unter dem Eindruck der neuen reimlosen Ode Klopstocks verändern sich aber die Bedingungen. Nun wird für die Lyrik sogar ein Intensitätsschub zur Prosa hin denkbar, eine Prosaauflösung zur Stärkung der lyrischen Emphase, was dann eigentliche Liedeinlagen erübrigt. Auf diese Weise >befreit< Gerstenberg in der kleinen Prosastudie »Cypern« Klopstocks >Zürchersee-Ode< zum Hymnus. Aus der Kahnfahrt »von der schimmernden See weinvollem Ufer her« (»Schon 15

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Johann Jakob Dusch: Briefe zur Bildung des Geschmacks an einen jungen Herrn von Stande. 1. Teil. Leipzig/Breslau 1773, S. 276. Zit. nach: Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß. Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung. Frankfurt a.M./ Bern 1981, S. 25. Zum Gattungsstreit und seiner gar nicht idyllischen »Heftigkeit« vgl. Renate Böschenstein-Schäfer Idylle. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 66-71. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Tändeleien. 1759. In: Gerstenbergs Vermischte Schriften von ihm selbst gesammelt und mit Verbesserungen und Zusätzen hg. in drei Bänden. Frankfurt a.M. 1971. Bd. 2 (Nachdruck der Ausgabe Altona 1815), S. 5-74. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Über Recitativ und Arie in der italienischen Sing-Komposition. An ***. 1770. In: ebd., Bd. 3 (Nachdruck der Ausgabe Altona 1816), S. 352-381, hier: S. 376f.

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lag hinter uns weit Uto« — »Schon war manches Gebirge / Voll von Reben vorbeygeflohn« — »Izt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh«)18 wird Sphärenflug: Da schwimmen wir hin durch den zerrissnen Himmel, vor seinen schallenden Sphären schnell vorüber [...] Schon steigen schroffe Felsen mit mosigtem Haupt aus dem blauen Abgrunde hervor, schon stehn sie in ihrer ganzen ehrwürdigen Schöne nackt vor mir da; und itzt ruht der Wagen auf cyprischem Gestade. Bacchus nennt mir den heiligen Ort. Ο Evan! Evoe! 19

Gerstenberg kopiert hierin Geßner. Jene Ode Klopstocks wird in den Prosaidyllen Geßners der Diktion nach förmlich abzitiert, von der ersten bis zur letzten Zeile, von »schön ist des heitern Himmels Blau, doch schöner ist dein blaues Aug« (»Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, / Auf die Huren verstreut; schöner ein froh Gesicht«) über »Auf den röthlichsten Stralen der MorgenSonne kömmt ihr daher« (»Komm, im röthenden Strale, / Auf den Flügeln der Abendluft«) bis »Ihr Brüder, die ihr jetzt fern in trägem Schlummer lieget, ach wäret ihr hier« (»Möchtet ihr auch hier seyn, die ihr mich ferne liebt«).20 Derart Lyrisches unterliegt aber ohne Ausnahme einer Transkription in Prosa, um darin dann auf wirksamste Weise zugegen zu sein. Die Auflösung bietet de facto die Möglichkeit, der Prosa lyrische Texturen einzumengen, dadurch die Prosa zum Zitierraum für Lyrik zu machen, ja sie aus Gedichtpartikeln zusammenzusetzen. So entsteht in paradoxaler Bildung eine Prosa als Querschnitt der Lyrik ihrer Zeit: Haller, Brockes, Ewald von Kleist, viele andere und immer wieder der »schöpfrische Klopstok« (»Der Wunsch«, 70) werden importiert. Mit Klopstock als zentralem Namen verbindet sich zudem die Aufhebung des Reimgebotes durch Elegien, Oden, Hymnen nach antiken Mustern. Das erlaubt der Prosa die weitreichende strukturelle Anverwandlung von Poesie und die Inszenierung genau dieses Vorgangs als »höchsten poetischen Enthusiasmus«, der dem »eigentlichen förmlichen Vers«, »aus überlegter Kunst entstanden«21, abschwört. Das paßt zu Geßners Prosaidyllen, obgleich ihnen selbstverständlich die rigide Metrik und die Strophenschemata der Odenlyrik eines Klopstock fehlen und sie lediglich in einzelnen Kola/Perioden versifizierter Text sind, im übrigen aber doch Prosa. Gerade dies kann jedoch bei so veränderten Bedingungen jetzt eben Überschreitung bedeuten: Eine »ungebundene Schreibart« transzendiert hier

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Friedrich Gottlieb Klopstock: [Zweyte] Ode Von der Fahrt auf der Züicher-See. In: Oden von Klopstock. Zürch im August 1750, S. 5-8, V. 5,13,15f. und 17. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Cypern. In: Gerstenbergs Vermischte Schriften. Bd. 2 (wie Anm. 16), S. 155-164, hier: S. 156. Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1981, S. 38 (»Daphnis. Chloe«), 11 (»Die Nacht«) und 60 (»Der Frühling«) - Friedrich Gottlieb Klopstock: Ode Von der Fahrt auf der Zürcher-See (wie Anm. 18), V. lf., 7f., 69. Weitere Geßner-Zitate unter Angabe des Einzeltitels. Johann Georg Sulzer Art. Poetisch; Poetische Sprache. In: J. G. S.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [...] 1. Theil. 2. vermehrte Aufl. Leipzig 1792, S. 707-710, hier. S. 708; »die Neueren erkennen eben deswegen eine prosaische Poesie, und eine poetische Prose« (S. 709).

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das »Sylbenmaaß« als »abgemessene Regel der Ordnung« 22 und überhaupt auch die »schulgerechte Ordnung der Sätze« (Idyllen, »An den Leser«, 17) und steigert den Affekt ins Irreguläre. Das zeigt sich nun alles, in Prosa überführt, als »Poesie [...] aus der ungekünstelten Natur hergenommen« (ebd., 17). Geßner orientiert sich aber gleichzeitig an der herkömmlichen Idyllentopik. Es geht um »ein goldnes Weltalter«, um »Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük«, »bey unverdorbenem Herzen und Verstand« (ebd., 15). Die strukturzersetzende Energie macht davor jedoch keineswegs halt, wie die Idylle »Der zerbrochene Krug« thematisch exakt zeigt. Hier wird »ein ziegenfussigter Faun« von Hirten gefesselt, muß sich durch ein Lied freikaufen und beklagt datin sein Ungeschick mit dem Krug: Wo ist mein Krug? Ach! da liegen die Scherben vom schönsten Krug! Da ich gestern im Rausch hier sank, da hab ich ihn zerbrochen — [...] Was soll ich euch singen, ihr Hirten? sprach der Faun, von dem zerbrochenen Krug will ich singen, da sezet euch im Gras um mich her. Und die Hirten sezten sich ins Gras um ihn her, und er hub an. Er ist zerbrochen, er ist zerbrochen, der schönste Krug, da liegen die Scherben umher! [...] auf dem Krug war gegraben, wie Pan voll Entsezen am Ufer sah, wie die schönste Nymphe, in den umschlingenden Armen, in lispelnden Schilf sich verwandelte; Er schnitt da Flöten von Schilfrohr, von ungleicher Länge, und kleibte mit Wachs sie zusammen, und blies dem Ufer ein trauriges Lied. Die Echo horchte die neue Musik und sang sie dem erstaunten Hain und den Hügeln. Aber er ist zerbrochen, er ist zerbrochen, der schönste Krug! Da liegen die Scherben umher. Dann stund auf dem Kruge, wie Zeus, als weisser Stier, auf dem Rüken die Nymph' Europa auf Wellen entführte; Er lekte mit schmeichelnder Zunge der Schönen entblössetes Knie. Indeß rang sie jammernd die Hände über dem Haupt, mit dessen lokichtem Haare die gaukelnden Zephire spielten, und vor ihm her ritten die Amors, lächelnd auf dem willigen Delphin. Aber er ist zerbrochen, er ist zerbrochen, der schönste Krug! Da liegen die Scherben umher. Auch war der schöne Bachus gegraben; Er saß in einer Laube von Reben, und eine Nymphe lag ihm zur Seite. Ihr linker Arm umschlang seine Hüften, den rechten hielt sie empor und zog den Becher zurük, nach dem seine lächelnden Lipen sich sehnten. Schmachtend sah sie ihn an und schien ihn um Küsse zu flehen, und vor ihm spielten seine geflekten Tieger; schmeichelnd assen sie Trauben, aus den kleinen Händen des Amors; 22

Moses Mendelssohn: Rez. [Johann Jakob Dusch:] Schilderungen aus dem Reiche der Natur und der Sittenlehre, durch alle Monate des Jahres. Die Frühlingsmonate [1757]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste. Hildesheim/New York 1979. Bd. 2 [3/1] (Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1762). VII, S. 96-106, hier: S. 103 und 100. Hier werden die Vorgänge noch aus negativer Sicht beschrieben: »in Prose eine Periode einfließen zu lassen, die einem Verse ähnlich siehet«, dies aber nicht ist, läßt »uns den Mangel der Ordnung [...] fühlen«, sonst nichts (S. 100). Das macht es in den 1760er Jahren noch dichtungstheoretisch schwierig, fur »poetische Prosa«, »prosaische Dichtkunst« zu votieren, und bleibt bei aller Anerkennung der »geßnerschen Gedichte« auch da ein Problem: sie werden von »Kennern mit einem allgemeinen Beyfalle aufgenommen [...], ob sie gleich in kein prosodisches Sylbenmaaß gebunden sind«; [Johann Adolf Schlegel:] Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit Abhandlungen begleitet von J. A. Sch. Hildesheim/New York 1976. 1. Theil (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770), S. 176f. Bei allen theoretischen Bedenken funktioniert dies literarisch als Entgrenzung.

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Aber er ist zerbrochen, er ist 2erbrochen, der schönste Krug! Da liegen die Scherben umher. Ο klag es Echo dem Hain, klag es dem Faun in den Holen! er ist zerbrochen, da liegen die Scherben umher. So sang der Faun, und die jungen Hirten banden ihn los und besahen bewundernd die Scherben im Gras. (Idyllen, »Der zerbrochene Krug«, 35-37)

Der Krug hat sein berühmtes Vorbild in den ειδύλλια des Theokrit. Er ist hier wie dort Idylleninventar und zugleich Bildfläche der Idylle, deren Szenen ihm eingezeichnet sind (»Innen ist eine Frau, ein Kunstwerk von Göttern, dargestellt [...] ein alter Fischer [...] seine Kraft ist wie die der Jugend [...] Ein wenig entfernt strotzt von dunklen Trauben schön ein Weinberg«23). Dieses Utensil der Idylle von alters her ist jetzt in Scherben gegangen. Nur sind es gerade auch diese Scherben, die die Steigerung des Wohllebens ins Dionysische bekunden: Ein Rausch läßt den Krug als allegorisches Zentrum der Idylle zerbrechen, so wie die poetisch gewonnene Intensität dieser Prosa das Poetische selbst in seinen Formen. In dem Betracht ist die Idylle vom zerbrochenen Krug ein selbstkritisch funktionierender Text, der die Intention auf Emphase intern problematisiert und Intensivierung an Destruktion verweist. Allerdings haben die Szenen schönen Lebens auf dem Krug auch schon derart Extremes. Wie der Faun in >malender Prosa< die mitzerstörten Bilder besingt, gibt es Unheil genug hinter dem alten Heil zu entdecken, »Entsezen« und Jammer, dem alles dann noch Schöne zum Hohn wird (»Indeß rang sie jammernd die Hände über dem Haupt, mit dessen lokichtem Haare die gaukelnden Zephire spielten«). Das macht die Idylle bereits in ihren mythologischen Anfängen suspekt; mit weit in die Gattungsgeschichte zurückreichender Radikalität erscheint sie als bloße Wahrung idyllischen Scheins. Doch wechseln Qualifikation und Disqualifikation einander weiterhin ab. Nach den eher schrecklichen Pan-Daphne- und Zeus-Europa-Szenen wird die denn doch vollständig schöne Bacchus-Nymphe-Amor-Szene rekonstruiert. Überhaupt wird alles poetisch eindrucksvoll rekonstruiert; so ist es als dionysisches Geschehen - schrecklich oder schön — mit performativer Kraft präsent. Der Gesang des Fauns ist die Selbstthematisierung dieser Leistung der Idylle. Er nimmt fast den ganzen Textraum ein. Randbildend kommt nur noch die interne Rezeption hinzu, auf daß die Wirkung der Geßnerschen Idylle beim Lesen an den Hirten als Hörerschaft vorexerziert werden kann. Darum durchzieht aber doch der Prosarefrain insistent die heile Welt des Gesangs mit Negation. Mit all dem lädt sich die poetische Prosa widersprüchlich auf. Die entscheidenden Idyllen Geßners sind auch die maßgeblichen Destruktionen ihres Genres. Die Texte werden doppelt lesbar, als Euphorisierung und Desillusionierung des Gattungskonzepts, sind aber deshalb nicht eigentlich konträr motiviert. Der Widerspruch liegt vielmehr in der Konsequenz extremen Vollzugs, fur den auf eine extreme Belastung des Gattungskonzepts nicht zu verzichten ist. Für eine Poesie,

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Theokrit: Gedichte. Griechisch - deutsch. Hg. und übersetzt von Bernd Effe. Düsseldorf/ Zürich 1999.1. ΘΥΡΣΙΣ Η ΩΙΔΗ (»Thyrsis oder Lied«), S. 8 - 1 2 9 , hier: S. 11.

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zur Prosa radikalisiert, ergibt bloße Stimmigkeit zu wenig Spannung. Die üblichen topographischen Modelle und ekphrastischen Beschreibungsmuster der Idyllentradition werden im Augenblick der Übernahme gestört. Dadurch wird Gattungserfullung fast schon zur Pointe: Subversionen hören gerade noch rechtzeitig vor Textende auf, damit doch keine Kontrafaktur herauskommt. In »Der veste Vorsaz« wünscht ein von Liebe Enttäuschter den Auszug aus der Idylle: »sprudelnder Bach, wohin rauschest du, an den unterhöhlten Wurzeln und durch das wilde Gewebe von Gesträuchen? Ich will deinen Wellen folgen, vielleicht führest du mich ödem Gegenden zu« (Idyllen, 58). Die dezidierte Abwendving vom Genre innerhalb des Genres gilt bis weit hinein in diesen Text, und erst am Ende erweist sich das Liebesleid als bloße Verstimmung, die den Betroffenen von einer Nymphe zur anderen weiterführt. In »Der Faun« kommt eine ähnlich unnötige Fixierung auf Unglück heraus, ist doch statt dessen Glück genug bei immer wieder einer anderen Nymphe zu finden. Gleichwohl beginnt der Text mit gezielt auf den Begriff gehender Radikalität. Die Texteröffnung hat in dieser Hinsicht schon Erwiderungscharakter: Nein, für mich kein froher Tag! so rief der Faun, als er beym Morgenroth aus seinem Felsen taumelte. Seit mir die schönste Nymph' entfloh, haß' ich den Schein der Sonne; bis ich sie wieder finde, soll kein Epheu-Kranz um meine Hörner sich winden, soll keine Blume rings um meine Hole stehn; mein Fuß soll sie, noch ehe sie blühen, zertretten, und meine Flöte soll — und diesen Krug soll er zertretten. {Idyllen, »Der Faun«, S. 57f., hier: S. 57)

Die Lektüreerwartung an das Genre wird verworfen, und die destruktiv gestimmte Figurenrede bricht noch selbst die Prosa syntaktisch auf. So scheint der an Gleims »Amor und ein Satir« beobachtete Konnex von Versaufhebung und Intentionsaufhebung und die auch schon für die Prosafabel konstatierte Tendenz auf interne Gattungskritik in Geßners Prosaidyllen Methode zu werden. Die neue Idylle ist mit einem derartigen Impetus Prosa, daß sich solche Kehrseiten bilden. Die Gattungsbindung wird aber nicht aufgehoben. Geßners Texte bleiben trotz ihres extremen Charakters am Ende immer noch als Idyllen vertretbar.24 Eine Dominanz der Konflikte und Infragestellungen ist damit ausgeschlossen. Auf der anderen Seite scheint aber Problemdruck schwer entbehrlich geworden zu sein, was das Paradox einschließt, daß die Idyllen ohne ihn >zu idyllisch< wirken: Geßner publiziert 1772 neue Idyllen zusammen mit Erzählungen Diderots und übernimmt diese Konstellation im selben Jahr auch für den 5. Teil seiner Schriften. In den Texten Diderots geht es gar nicht, und zwar bis zum bitteren Ende nicht idyllisch zu.25 Geßners Erzählen sucht aber genau diesen Kontrast. An Diderots Texte wird die in den eigenen Idyllen angelegte Negation delegiert. 24

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Dafür sorgt auch, daß die massiv wirkenden Gegentexte ihr Personal meist sorgfältig abgrenzen von den intentionstragenden Figuren des Genres, Chloe und Thyrsis, Damon, Daphnis, Daphne, Milon, Mycon, Mirtil... Deren Liebesleben kann in den Faunen, als Wesen gröberen Affekts, burlesk variert werden. Denis Diderot Die beyden Freunde von Bourbonne; Unterredung eines Vaters mit seinen Kindern. Oder: Von der Gefahr, sich über die Gesetze wegzusetzen. In: Salomon Geßner:

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Mit solchen Inkonsequenzen, mit Rücknahmen bei zu viel — und mit Forcierungen bei zu wenig destruktiver Tendenz sind Geßners Idyllen grenzwertige Repräsentanten des Genres. Nur wird die Prosaisierung hier zum Belastungsfaktor gerade in bezug und nicht in Absetzung v o n Lyrik, sofern jedenfalls der Maßstab dafür nicht mehr bei der Graziendichtung und ihrer Form v o n Idylle in Versen liegt. Dieserart Poetisches wird allerdings distanziert, aber v o n einer ihrerseits poetischen Prosa, die mit den Bündelungseffekten dichten Zitierens v o n Lyrik 26 über Genre-Adäquates hinausdrängt. A n der Geßner-Nachfolge zeigt sich konkret (und oft mit werkinternen Verschiebungen), daß Überschreitung hier durch ein Experimentieren der Prosa mit Lyrik bedingt ist. Gattungsaufhebung und Intentionsbruch hängen mit einer Ausdrucksintensivierung zusammen, für die auf Möglichkeiten der Lyrik zurückgegriffen wird. Kleine Prosa bietet dafür die notwendig offene Struktur, und sie bietet andererseits den engen Raum fur eine Komprimation der Bezüge, damit »zusammengedrängter Affekt« 2 7 entstehen kann, ähnlich dem Odenschwung an den intensivsten Stellen der Ode.

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Sämtliche Schriften in drei Bänden. Hg. von Martin Bircher. Zürich 1974 (Nachdruck der Ausgabe Zürich 1762), Bd. 3, S. 5-130 und 133-228: »Vor Wuth ausser sich steht Olivier auf, versetzt mit seinem Stocke dem Richter Coleau einen ungeheuem Streich auf das Genicke, der ihn fast todt auf den Boden streckt« (S. 139). »Ihre Kinder laufen hinzu, sehen, schreyen, wälzen sich auf ihren Vater, wälzen sich auf ihre Mutter [...] zu sich selbst gebracht, zerrauft die Kohlenbrennerin die Haare, zerfleischt ihre Wangen« (S. 147f.). »Bruder, [...], wie, wenn man diesem alten H** das Gesicht zerfetzte: Was meinst du?« (S. 156) Dabei wird die Prosaidylle nicht nur durch Klopstocks Oden und Hymnen emphatisiert. Zitatverhältnisse ergeben sich etwa auch zur Gräbeipoesie im Gefolge von Edward Grays »Elegy written in a Country Churchyard«: »Da stehe ich nun, fast leblos, und möchte die Erde durchsehen, um nur noch einmahl die Brust zu sehen, worinnen das zärtlichste Herze schlug! [...] Was rupfest du da an den noch jungen Sprößlingen des Grases? und warum scharrest du die Schollen der Erde hinweg?« Idyllen von Johann Heinrich Bücking. Erste Sammlung. Frankfurt 1775, Myrtül bey dem Grabe der Tabea, S. 26-31, hier: S. 26 und 28. In diesem Fall geht der Einfluß letztlich auf Edward Youngs Night Thoughts (1742ff.) zurück und wird entscheidend ermöglicht durch die wirkungsvolle Prosaadaption Johann Arnold Eberts (Dr. Eduard Young's Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit. In neun Nächten. Braunschweig/Hildesheim 1777 [1760/61]). Von ähnlicher Wirkung sind deutschsprachige Prosaversuche zu James Thomsons The Seasons (1726ff.). Vgl. etwa Ewalds Prosa-»Hymne über die vier Jahreszeiten, aus dem Englischen des Thomsons«, die den »Gesang« strukturell, durch Verslosigkeit aufgibt, aber permanent als Schöpferlob der Natur beruft, um dabei zugleich die Entbindung von Versrede zu motivieren: Der Gesang entfaltet sich in Kontrasten (»in drohenden Donnern, [...] in sanft säuselnden Winden«) bis zum tonalen Exzeß, da der »kühnere Laut«, »das fürchterliche Lob« jeweils den Ausschlag geben: »Itzt tobet der Donneri [...] Ihr Wildesten unter den Geschöpfen! [...] Lasset die Wüste von eurem fürchterlichen Lobgesange brüllen.« Johann Joachim Ewald: Lieder und Sinngedichte. In zweyen Büchern. O.O. 1757, S. 123-128. Dabei ist wichtig, daß hier nicht nur überhaupt in Prosa, sondern in Kleine Prosa transformiert wird. Das wirkt kondensierend, verdichtend — und führt um so mehr zu dekompositiven Belastungen des Gattungsmodells. Anonymus: Von der Ode. Ein Versuch. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschafften. Bd. 1. Breslau 1763, IV. Stück, S. 152-177, hier: S. 156.

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An gattungskonforme Entfaltung, einen stimmigen Zusammenhang von Intensivierung und Idyllisierung ist indes nur theoretisch zu denken. Die (neue) Idylle soll zwar der »sinnlichste Ausdruck der höchst verschönerten Leidenschaften und Empfindungen« sein, »Empfindungen und Beschäftigungen nach einem ganz verschönerten Ideal«28 zeigen. Das alles wird aber mit entschiedener Tendenz >prosaisch< gewendet, gegen die Implikation des Schön-Poetischen, was insofern letztlich doch noch eine Kontrafaktur von Lyrik ergibt. So geschieht es vielleicht am deutlichsten in der Prosaidylle Maler Müllers, wenn deren Figuren »weinen, ja weinen, beyde Fäuste voll Thränen«. Da wollen sie mit durchsichtiger Selbstberedung »doch lustig seyn«, »in artlichen Reimen was schönes prophezeihen«; sie bringen aber den Wett- und Wechselgesang der Hirten in der alten Idylle nur noch als Totenklage oder eigentlich nur noch als Totengeheul zustande: Ja wohl mögt ihr schreien, liebe Herzger — Heult nur, heult — [...] Nehmt alle Abschied von eurer Mutter — ins Dunkle geht sie; blickt nimmer zurück ins Licht Also der Faun. Erbärmlich heulten nun die Knaben; aber der älteste sprach: Laßt mich zuerst heulen, und ihr danach.29

4. Epigrammatisches Format: der Aphorismus Der (deutschsprachige) Aphorismus entwickelt sich historisch parallel zur Prosawende in den poetischen Kleingattungen. Das geschieht aber ohne eine regelpoetische Vorgabe. Der Aphorismus hat keine gattungsspezifische Tradition hinter sich. Ihn definiert letztlich erst der hier einsetzende Prozeß. Insofern hat er auch keine Normbildung erfahren, auf die mit (normauflösender) Prosaisierung zu reagieren wäre. Zur Vorgeschichte des Aphorismus unter fremden Namen gehören ältere Formen der Kurzprosa, die jedoch kaum auf eine Dialektik von Bindung und Entbindung abzustellen sind.30 Hiervon auszunehmen ist lediglich die Sicht

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Moses Mendelssohn: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, Beurtheilung der Schlegelschen Erklärung des Schäfergedichts [1760]. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend. T. 5, Nr. 85. Zit nach: Μ. M.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 5,1. Bearbeitet von Eva J. Engel. Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, S. 138-147, hier: S. 143 (im Original kursiv); Johann Gottfried Herder: Theokrit und Geßner. In: J. G. H.: Sämtliche Werke (wie Anm. 5). Bd. 1. Berlin 1877, S. 337-350, hier: S. 347. Friedrich [Maler] Müller: Der Faun[J eine Idylle. In: F. M.: Idyllen. Nach den Erstdrucken revidierter Text Hg. von Peter-Erich Neuser. Stuttgart 1977, S. 7-13, hier: S. 9-12. Vgl. im Kontrast dazu etwa Vergils Bucolica, VII, Vers 16—20: »Corydon — Thyrsis: das war ein bedeutender Wettstreit [...] denn es wollten die Musen des Wechselgesanges gedenken. / Corydon sang und Antwort gab im Takte ihm Thyrsis.« Vergil: Sämtliche Werke. Hg. und übersetzt von Johannes und Maria Götte. München 1972, S. 23. Das betrifft sowohl Traditionen des Gnomischen, v.a. den Bezug des Aphorismus auf die französische Maxime, als auch — wegen des Sammeins von Bemerkungen — die späte Nähe zu den Florilegien und Anthologien, zur Sprichwort- und zur Apophthegmenkultur früherer Zeit Vgl. zu letzterem vom Verfasser: »Wie gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen.«

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auf ihn als Prosa-Epigramm.31 Nur geht es auch für den Fall solcher Verbindung trotzdem um ein Schreiben ohne primäre Fesdegung. Bezugslosigkeit ist für den Aphorismus geradezu eine Frage der Identität. Anders als zwischen Versfabel und Prosafabel, Versidylle und Prosaidylle ergibt sich hier also kein modellbezogener Zusammenhang. Doch sind in der Konstitutionsphase und auch in bestimmten Kontrollphasen der frühen Gattungsentwicklung Relationen zur Textur des Epigramms offenbar wichtig. Ihre Funktion liegt aber •widersprüchlich in Absetzung vom Epigramm und in Näherung an das Epigramm, in entsprechend ausgerichteter Strukturöffhung oder Strukturgebung. Der Epigrammatiker Kästner, Lichtenbergs Universitätskollege und Vorgänger (auch in Sachen Aphorismus), führt seine Kleine Prosa als immer kürzer werdende »Prosaische Aufsätze« ein, gegen Ende der so bezeichneten Textgruppe seiner Vermischten Schriften?2 Im weiteren mengt er sie als »Einfalle« hier und da den »Sinngedichten« unter.33 Das geschieht kommentarlos. Nur einmal deutet sich eine Verhältnisbestimmung an. Danach ist die Prosa der Einfalle eine Vorstufe zur Lyrik der Sinngedichte. Ausgegangen wird von einer stärkeren Situationsgebundenheit der Einfalle und Bemerkungen. Bei ihnen »bezieht sich oft etwas auf Zeiten, Ort, Umstände, die nur Wenigen bekannt sind«. Kästner argumentiert hiermit aber nicht gegen die Aperes, denen offensichtlich gar kein Ort in der Poetik der Zeit anzuweisen ist. Ihm kommt es vielmehr auf eine (selbst-) kritische Beobachtung seiner Sinngedichte an, da im Vorgang dichterischer Bearbeitung nicht jedes weit genug von bloßen Gelegenheitsäußerungen mit Esprit abzusetzen war: »Wenn ich [...] manche solche Sinngedichte gemacht habe, so heißt das weiter nichts, als daß ich Einfälle gereimt habe, dergleichen etwa ein anderer in Prosa gesagt hätte.«34 Für die Bemerkungen in Prosa folgt daraus Böse Späße in der Kleinen Prosa der Frühen Neu2eit o d e r Was alles hinter Lichtenbergs Aphorismus Ε 385 steckt In: Lichtenberg-Jahrbuch 2005, S. 7 - 2 9 . 31

Z u m »sog. Prosaepigramm« (»für Sätze, die eine Pointe enthalten«) siehe Peter Erlebach: Formgeschichte des englischen Epigramms v o n der Renaissance bis zur Romantik. Heidelberg 1979, S. 58. »Tendenzen der Gebrauchsprosa bezeugen auf diese Weise die enge Verbindung zu einer Kunstform metrischer Gestaltung« (S. 60). Ähnliche Verweise bei Kristine Hecker: Die satirische Epigrammatik im Frankreich des 18. Jahrhunderts. O.O. 1979, S. 5. Vgl. auch Ernst Behler Das Fragment der Frühromantik. In: Ε. B.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Bd. 2. Paderborn/München/Wien/Zürich 1993, S. 2 7 42, hier S. 33, zum historisch (für Friedrich Schlegel) wichtigen, nur bis jetzt kaum ausgewerteten Bezug der neuen Kleinen Prosa (hier: des romantischen Fragments) zum Epigramm.

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Abraham Gotthelf Kästner. Vermischte Schriften. 2. Theil. Altenburg 1772. Prosaische A u f sätze, Nr. X I I - X L V , S. 1 1 5 - 1 6 9 .

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Vgl. Abraham Gotthelf Kästners neueste großentheils noch ungedruckte Sinngedichte und Einfalle. O.O. 1781, z.B. S. 16: Menuet cum Clausula codicallan, S. 35: Zusatz zum Evangelio am 26. Sonntag nach Trinitatis, S. 97: Parallele zwischen dem Socrates und mir, S. 120: Urtheil über den jungen Werther, S. 123: Beytrag zur poetischen Genealogie, S. 132: Isochronismus, U.Ö. Abraham Gotthelf Kästner Vermischte Schriften. 1. Theil. 2 Aufl. Göttingen 1782. Anhang. Vorerinnerung. Z i t nach: A. G. K.: Gesammelte Poetische und Prosaische Schönwissen-

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überraschenderweise aber dies, daß Kästner ihre Anlaßhafägkeit nachgerade kultiviert, abseitige Gegenstände in sehr gesuchten Bezügen aufruft u n d hier Partikukrität nach Möglichkeit n o c h betont. 3 5 Z u »einem getödteten Maulthiere, das Hebenstreit iη Leipzig zergliederte«, fällt i h m dieses u n d jenes ein, oder auch dazu, »daß Newton eines n e b e n i h m sitzenden Frauenzimmers Finger statt des Tabackstopfers gebraucht hat«, u n d z u ähnlichem über den »großen Gottesgelehrten Buddeus«, das i h m »der sei Gesner [...] in G ö t t i n g e n erzählt« 36 hat. D a s -wird keiner Kritik unterzogen. Solche Kritik erfahren nur diejenigen unter d e n Sinngedichten, die hierfür transparent bleiben u n d die als bedingte Perfektion der Apercus den Aufklärungsanspruch epigrammatischer Laster- u n d Ständesatire für ein absonderliches Interesse preisgeben. W ä h r e n d also derart Gedichtetes neu bedacht sein will, wird für die »Einfalle«, w i e sie »in Prosa gesagt werden« 3 7 , ein solcher Ehrgeiz nicht entwickelt. So entsteht die paradoxe Situation, daß nicht die weniger, sondern die m e h r poetischen T e x t e werkinterner Kritik unterliegen, u m mit e i n e m »besser noch« (»Verbessern Sie das Sinngedicht«) 38 stärker epigrammatisiert z u werden. D a s regt n u n aber gerade Prosakommentare an, in d e n e n die Einfalle den Sinngedichten den Rang ablaufen: Auf Rabnem. Zu spotten, und uns aim zu machen, Ist Rabners doppeltes Bemühn, Man sieht ihn über Alle lachen, Und Alle seufzen über ihn*.

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schafdiche Werke. 2 Theile. Frankfurt a.M. 1971 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1841). 1. Thal. Vorrede [der Herausgeber], S. Vif. Vgl. Rainer Baasner: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (1719-1800). Tübingen 1991, der die Einfalle als »Glossen« und »Marginalglossen« (S. 397, 390) und auch die Schwierigkeit beschreibt, diese nach dem Maßstab des Epigramms >ungeschlossenen< Texte, mit einer Intention auf die »unfertige Aussage« (S. 389), dem Versgenre gegenüber zu qualifizieren. Manches ist vielleicht nur »ein halbwitziger Einfall, wegen Abgang der zum Versifiziren nöthigen Geschmeidigkeit, auf dem halben Wege zum Epigramm ermattet liegen« geblieben; August Wilhelm Schlegel: Dienstentlassung. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift. Hg. von A. W. Sch. und Friedrich Schlegel. Darmstadt 1960 (Nachdruck der Ausgabe Braunschweig, Berlin 1798-1800). Bd. 2 2. Stück, S. 335. Schlegel ist aber selbst >Fragmentarist< und mit solchen Bemerkungen zu Kästner auf Kriteriensuche. Er nutzt die Perspektive traditioneller Kritik, weil es für die neue Kleine Prosa begrifflich noch keine eigene Perspektive gibt Abraham Gotthelf Kästner Gesammelte Poetische und Prosaische Schönwissenschaftliche Werke (wie A i m 34), 1. Theil, S. 176, Nr. 80: Mahomet II. ein Kunstkenner, 2. Theil, S. 138, Nr. 18: Ein Paar Beyspiele von Zerstreuungen berühmter Gelehrter. Gemeint sind in diesem Fall der Leipziger Pathologe, Chirurg und Anatom Johann Ernst Hebenstreit (17021757), der Jenenser Theologe Johann Franz Buddeus (1667-1729) und Kästners Göttinger Kollege, der Pädagoge und Philolog johann Matthias Gesner (1691-1761). Abraham Gotthelf Kästner: Vermischte Schriften. 1. Theil. Anhang. Vorerinnerung (wie A i m 34), S. VII. Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte Poetische und Prosaische Schönwissenschaftliche Werke (wie Anm. 34), 1. Theil, S. 34, Nr. 105: Wahre Ursache von des Mädchens Flucht, S. 27, Nr. 77: Kritik hierüber, die an einem Hofe wirklich gemacht worden.

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* Rabener war damals noch in Leipzig Steuer-Revisor, sein Amt bestund mit darin, zu verhüten, daß die Bauern keine Güter besässen, ohne von denselben die Abgaben zu entrichten: Er hatte aber dabey das Lob, so billig zu seyn, als nur seine Pflicht verstattete. Daher traf und beleidigte ihn die lezte Zeile nicht, so wenig als der Beweis, den ich ihm gab, daß ihm nächstens die Bauern singend entgegen kommen würden;

Cantabit vacuus coram lalrone viator.

Seine Antwort auf dieses Sinngedicht war: Ich hätte es als Syndicus der Narren und der Bauern gemacht.39

Derartige Zusätze überborden das Verskonzept des Epigramms. Sie sind eine heraustretende Weiterfuhrung in Prosa. Daß nach Juvenal (Saturae X, 22) >ein Wanderer mit leeren Taschen angesichts eines Diebs singen kann< (denn >wer greift schon einem nackten Mann in die Tascherechtens< und auch ironisch zu einem Toren und Dörper zweiter Ordnung macht. So wendet der Kommentar das Sinngedicht gegen seinen eigenen Verfasser. Die Autorposition des Epigrammatikers als Urteilsinstanz wird aufgegeben und der autoritative Gestus des Genres über Kommentarzusätze, durchaus spielerische Einfalle zum Epigramm, am eigenen Beispiel widerlegt. Einfalle solcher Art, betont als Randbemerkung und Annotation, realisieren auf engstem Raum den sprunghaften Reflexionsstil, mit dem jetzt eine assoziationsgelenkte, essayistische Prosa die Deduktionsverfahren des dogmatischen Rationalismus aufgibt. Sie setzt bei Zufälligem an und versucht in degressiven Bewegungen von der »Heerstraße« des Gedankens40 abzukommen. Hier werden andere Regeln als diejenigen einer Normpoetik fur Verstexte aufgehoben, >regulae ad directionem ingeniikantianischen< Aphorismen Plamers: »Was nun das Kantische Lehrgebäude betrifft so streite ich weniger gegen die Sätze, die es enthält, als gegen den Dogmatismus, mit welchem es dieselben vorträgt.« Emst

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schränktem Spielraum zeigen sich die digressiven Themen- und Problemverschiebungen dann v.a. als Perspektivenwechsel, Sinnkorrektur, Revision des Beschreibungsansatzes und erster Folgerungen. Das ist ein wichtiges Ausgangsmoment für den stark selbstreflexiven Aufbau aphoristischer Bemerkungen. So hält sich folgender Einfall Kästners fast schon lang und breit bei einer Begebenheit auf, um sie »etwas tiefer« zu ergründen, bis schließlich alles noch einmal nebenbei von einer ganz anderen Warte aus beleuchtet wird. Der zerstoßene Spiegel. Eines Königs zweyter Sohn zeigte in frühen Jahren Lebhaftigkeit und Gesinnungen, von denen man im Lande mit Lobe redete. Er bekam eine Jagdflinte zum Geschenk. Nachdem er sie geladen hatte, trat er damit einem großen Spiegel gegenüber, und drückte los. Die Hofleute stürzten auf den Knall herzu, und fanden nichts beschädiget, als den Spiegel. Der Schütze bekam einige Tage Stubenarrest. Man erzählte die Sache als ein Kinderspiel. Ich glaube etwas tiefer in des Prinzen Seele gesehen zu haben. Er dachte: Wie würde dir seyn, wenn Einer gegen dich stünde, im Begriffe, Feuer zu geben? So eine Erfahrung etwa bey einem Manöver zu machen, Heß man ihm nicht zu. Nun konnte er sie mit dem Spiegel machen. Natürlich war der Gedanke: du mußt ihn erschießen, ehe er dich erschießt. Denn das erste Feuer auszuhalten, und dann anzurücken, gehört fur Erwachsene und Geübte. Ich finde also in dieser Kinderey die Anlage, die sich nachdem entwickelt hat. U m des Spiegels Schicksal bekümmerte sich natürlicher Weise der entstehende Held so wenig, als sich die entstandenen um die Schicksale wichtigerer Dinge, als Spiegel sind, bekümmern — ohne einmal für ihre Zerstörungen Arrest zu bekommen. 43

Aus schierem Unfug wird hier der Kindheitsmythos eines neuen Herkules. Der Vergleich zwischen der Lümmelei in jungen Jahren und den späteren Taten eines Königs ist absichtsvoll weit hergeholt (>simile longe ductumSudelbüchern< die Situation bereits dahingehend geändert, daß unter vielen Einfallen nur noch wenige Sinngedichte zu finden sind. Eine deutliche Verbindung zum Verstext Epigramm gibt es für eine relativ kurze Schreibphase (in >Sudelbuch< Β [zwischen 1768 und 1771]).44 Hier bilden >epitaphia ioco-seria< in Prosa (B 90, 208, 400 u. 401) und epigrammähnlich adressierte Prosasatiren (»Grabschrift auf Herrn B.« [B 400], Auf den venerischen Herrn M. [C 365]) entsprechende Gelenkstellen zur >SudelbuchAphoristischen< zu einem Verhältnis der Kritik und zu einem >Verbessern des Sinngedichts< kommt: Auf ein schönes Mädgen, das in der Kirche sehr andächtig war. Andächtiger und schöner als Lucinden Wird man nicht leicht ein Mädgen beten sehn; In jedem Zug lag Reue fur die Sünden Und jeder reizte zum Begehn. (B 299)

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Siehe hier für Sudelbuch Β die Nummern 278, 289, 292, 293 u.ö.; Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. 1 und 2 (Sudelbücher I und II). 3. Aufl. München 1980 (Bd. 1); 3. revidierte Aufl. München/Wien 1991 (Bd. 2). Weitere Zitate nach dieser Ausgabe und ihrer Zählung. Es kann deshalb gleichwohl zur Gänze Neues entstehen, wenn hier Epigramme als Textmaterial genutzt werden. So ist eigentlich nur noch zu vermuten, Martials Epigramm 1,64 (»Du bist sehr reich, noch Jungfer, jung und schön! [...] Allein du lobest dich zu sehr / Und bist nicht reich, nicht schön, / Nicht jung, und keine Jungfer mehr.« Wilhelm Heinse: Sinngedichte. Halberstadt 1771, S. 16: »Auf ein hochmüthiges Mädchen nach dem Martial«) sei eine Vorlage für J 591 mit diesem völlig verfremdeten >Ergebnisversus rapportati< der Epigrammtradition durch die Aufhebung der Syntax.48 »Ubelgeraten« ist das erst aus der Perspektive der neuen Kleinen Prosa, die sich zwar gegen gebahnte Denkwege richtet, gleichwohl aber genau, distinkt entwickelte Prosa ist. Sie verläßt »die Landstraßen. (J 1331), die »Heerstraße« (K 312), das »Gleis (orniere), aus welchem wir erst heraus müssen« (J 1603), aber ihre >Abwegigkeit< impliziert keinen Rückgang argumentativer Stringenz. Außerdem: die aphoristische Prosa Lichtenbergs bildet sich in Differenz zu regelbestimmter Darstellung aus, ist aber auf Gegenentwürfe auch nicht festzulegen: »Grade das Gegenteil tun heißt auch nachahmen, es heißt nämlich das Gegenteil nachahmen.« (D 604) Zu ihr gehört als >MerkmalSudelbuchversus rapportati< im Epigramm vgl. etwa Martin Opitz: Teutsche Poemata. In: M. O.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. 2,2. Stuttgart 1979, S. 725. Nr. XIV: »Die Sonn' / ein Pfeil / der Wind / verbrennt / verwundt / weht hin // Mit Fewer / schärffe / stürm mein' Augen / Hertze / Sinn.« Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart 1984, S. 75.

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greifen eines fremden Musters zur Selbstorganisation aphoristischen Schreibens.50 Das ist für die Genese aphoristischen Schreibens in der zunächst noch sehr ungerichteten >SudelbuchSudelbüchern< J und L (1789-1799) vermehrt auftreten Q 564, 932, 946, 962, 1220, 1139, L 448, 556, 682). Der Bezug wird wiederholt erneuert, um die kriterienfreie Schreibweise des Aphorismus stärker zu konturieren. Dabei versucht Lichtenberg wohl in keinem Fall, Tradition und Gattungsanspruch des Epigramms auf seine »Einfalle« (z.B. G 228, J 344) und »Bemerkungen« (z.B. F 860, G 207) überzuleiten. Trotzdem ist das Epigramm als Strukturvorgabe wichtig, und zwar insbesondere deshalb, weil damit herkömmliche und neue Texturen Kleiner Prosa (Sprichwort, Apophthegma, Maxime, »Observations, Gedancken, Miscellanea, MemoireJW51...) traditionsbegründend auf den Aphorismus abgestellt werden können. Das lyrische Format wirkt eminent strukturgebend auf das offene Projekt Aphorismus, dem damit Konzinnität, eine spezifische Dialektik, Prägnanz und Pointierung vorgeschrieben sind.

5. Perspektiven Das alles ergibt eine bestimmungsoffene Situation. Es entstehen Fabeln und Idyllen in Prosa, die sich Prägungen entziehen und deren Differenz zu ihrem Genre damit größer zu werden beginnt als ihre Differenz zueinander. Darum wird in der Kleinen Prosa gleichwohl Gattungsgeschichte weitergeschrieben. 50

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Das mag den Widerspruch erklären, mit dem auf Differenz zum Epigramm zu bestehen ist und gleichwohl auch auf Verbindungen; vgl. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 36: »Bezüge, die sich kaum halten lassen: So die immer wieder behauptete Nähe des Aphorismus zum Epigramm« - »merkwürdige Zwischenverbindungen zwischen Epigramm, Sprichwort und Aphorismus« (S. 76), darunter auch »Epigramm-Kommentierungen«, von denen Lichtenberg eine aus den Überschriften Christian Wernickes herausliest, der damit einen Epigrammvers erläutert »Jene Italienerin, als sie in heissem Durst einen kühlen Trunck Wassers zu sich genommen, sagte gleichsam als entzücket Schad' ist's, dass dieses auch nicht Sünde ist.« Zit. ebd., S. 76f.; Christian Wernickes Epigramme. Hg. und eingeleitet von Rudolf Pechel. Berlin 1909, S. 241. - »Es ist schade, daß es keine Sünde ist Wasser zu trinken, rief ein Italiäner, wie gut würde es schmecken.« (F 674) Vgl. auch die Auflistung von Bezügen bei Friedrich Spicker (insbes. für die historische Phase, in der sich der Aphorismus als neues Genre Kleiner Prosa strukturell stabilisiert): Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. Berlin/New York 1997, S. 330ff. Joachim Christoph Nemeitz: Vernünfftige Gedanken Ueber allerhand Historische, Critische und Moralische Materien. Nebst verschiedenen dahin gehörigen Anmerckungen. 6. Theil. Frankfurt a.M. [1745]. Zit nach: Abgerissene Einfalle. Deutsche Aphorismen des 18. Jahrhunderts. Hg. von Harald Fricke und Urs Meyer. München 1998, S. 44—51, hier S. 46.

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Thomas Abbaus

Gattungsbezüge kann es weiterhin geben, sie indizieren jedoch mehr und mehr Gattungskritik. Diese Kleine Prosa konzentriert sich nun auf spezifische Traditionen und Funktionen mit dem gegengerichteten Zweck einer Nivellierung verpflichtender Prämissen. Sie zeigt sich zum Beispiel noch als Fabel oder als Idylle, um aber der damit verbundenen Maßgaben ledig zu werden, und provoziert Verstöße, deren Semantik die Semantik der Befolgungen bei weitem übersteigt. Insofern zielen die komplex zu beschreibenden Vorgänge in bestimmt-unbestimmter Richtung auf eine funktionsenthobene Kleine Prosa, die sich zunehmend begrifflos organisiert. Für das sich neu konturierende Genre Aphorismus ist der kritische Reflex auf Muster dann schon konstitutiv. Ihm ist keine Struktur vorgegeben, die noch erst aufzubrechen wäre. Unter diesem Aspekt liegt der Aphorismus bereits in der Konsequenz der Entwicklungen (und wird wohl auch der am ehesten favorisierte Name für sie, neben dem des >FragmentsProsaauflösung< bedeutet dann vieles. Bei Lessing bedingt sie zunächst sogar einen rigiden Gattungsbezug, bis Kodierung im selben Maße Dekodierung provoziert. In Geßners Idyllen gibt eine mit der Transformation u m so mehr poetische Prosa den entscheidenden Impuls zur Überschreitung, und in Lichtenbergs >Sudelbüchern< kann eine poetische Textur bei völliger Absetzung und durch die Negation hindurch trotzdem konzeptuelle Relevanz entfalten. Wie der Aphorismus als neues Leitgenre Kleiner Prosa entsteht, sind tatsächlich auch weiterhin immer noch wieder Abmessungen mit strukturell gebundener Epigrammatik zu registrieren. Diese Kleine Prosa ist ungebunden und ungekünstelt und ist es zugleich nicht, wenn Jean Paul in seinen Romanen die kurze Bemerkung als »Polymeter« und »Streckvers« 52 vom umgebenden Text absetzt oder Novalis' Blüthenstaub den Fragmenten/Aphorismen (schon der N a m e bleibt schwierig) mit einem elegischen Distichon als Motto den Takt vorgibt. 53

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Jean Paul: Flegeljahre. In: J. P.: Werke. Hg. von Norbert Miller. A b t I. Bd. 2. 3. neubearbeitete Aufl. München 1971, S. 567-1088, hier: S. 634: »in der Tat eine neue Erfindung des jungen Kandidaten [...], er machet Gedichte nach einem freien Metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien Vers haben, den er nach Belieben verlängert, Seiten-, bogenlang; was er den Strtckvers nennt, ich einen Polymeter.« Novalis: Blüthenstaub. In: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel· Stuttgart 1960, S. 413-463, hier S. 413: »Freunde, der Boden ist arm, wir müßen reichlichen Samen / Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Emdten gedeihn.« Vgl. dazu die Prosavariante als Schluß des Ganzen in Fragment Nr. 114, die mit einer Generalrevision von Schriftkultur alles noch einmal mit dieser Kleinen Prosa beginnen läßt: »Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. E s mag freylich manches taube Kömchen darunter seyn: wenn nur einiges aufgeht!« (S. 463)

Giulia Cantarutti

Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa

I.

1. »Les formes breves de la prose soulevent des problemes qui n'ont guere ete abordes par la critique«1, stellt Jean Lafond 1984 zu Beginn des eigenen Beitrags zu den von ihm herausgegebenen Kongreßakten Les formes btives de la prose et k discours discontinu (XVIe-XVIIe siecles) fest. Es wäre müßig, auf die Verdienste eines Bandes einzugehen, der u.a. endgültig deutlich macht, warum Versuche, die brievete >objectif< festzulegen, zum Scheitern verurteilt sind. Lafond gehört zu jenen >alten MeisternRhetorik< seines maßgeblichen Handbuchs wiederaufzugreifen — entsteht nicht nur die moderne »historische Schreibart«3, insbesondere die moderne Historiographie, welcher eine für die >culture de la sentence< überaus bedeutende Rolle einstimmig zuerkannt wird; es entstehen im allgemeinen die Formen, deren sich die ersten modernen >Lebensphilosophen< bedient haben: Essays, Maximen, Dialoge, Briefe. Jean Lafond: Des formes breves de la litterature morale aux XVIe et XVIIe siecles. In: Les formes breves de la prose et le discours discontinu (XVIe-XVIIe siecles). Etudes reunies et presentees par J. L. Paris 1984, S. 101-122, hier: S. 101. Beispielhaft füir das methodische Bewußtsein, Einzeluntersuchungen zu den Formen der >brevitas< nicht nationalphilologisch, sondern im allgemeinen Rahmen der europäischen Forschungen (»la ricerca [...] europea sulle forme brevi«) durchzuführen, ist das Kapitel über »La >brevitas< tacitista di Alciato« in Luisa Avellini: Letteratura e Cittä. Metafore di translazione e Parnaso fra Quattro e Seicento. Bologna 2005, insbes. S. 130. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Berlin/Stettin 1783, S. 256—280, mit genauer Unterscheidung zwischen »Kürze der Gedanken« und »Kürze des Ausdrucks« (S. 257); ab S. 258 einzelne Behandlung der vier »vornehmsten Anwendungsarten der historischen Schreibart«.

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Forschungsgeschichtlich sehr beachtenswert ist ein Kerngedanke Hugo Friedrichs in dem 1949 erschienenen, besten deutschen Buch über Montaigne, das die für die »kleinen Formen«4 der Literatur fundamentale Kategorie der »Offenheit«5 einführt. Friedrich, selbst ein glänzender Essayist, drückt diesen Kerngedanken metaphorisch aus: Die von Montaigne ins Leben gerufene schillernde, »dehnbare« Gattung ist »wie ein leicht anliegendes Kleid, das den lebhaften oder leisen Atemzügen des Geistes nachgibt«6. Das setzt auch beim Lesepublikum eine entsprechende geistige Mobilität voraus. Die Veränderung der »relation de l'ecrivain et du lecteur ä l'ecriture«7, die Lafond als ausschlaggebend für das Florieren der »Formes breves de la prose« im 16. und 17. Jahrhundert hervorhebt, ereignet sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2. Daß der Einschnitt »um das Jahr 1770« erfolgt, wird in Göttingen, einer Hochburg des antispekulativen Widerstands, mit aller wünschenswerten Klarheit rückblickend festgestellt: Im elften Band seiner Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts, der der Geschichte der deutschen Poesie und Beredsamkeit gewidmet ist, schreibt nämlich Friedrich Bouterwek 1819: Um das Jahr 1770 standen die Deutschen auf einem ganz andern Standpunkte der Cultur, als dreißig Jahr vorher. [...] Das Streben nach dem Neuen war überwiegend geworden. Von allen Seiten drangen gewagte Meinungen mit hinreißender Lebhaftigkeit vor. Nicht nur die schöne Litteratur der Deutschen nahm immer mehr einen revolutionären Charakter an; auch alle Wissenschaften schienen in Deutschland umgeformt, oder auf andre Grundsätze zurückgeführt werden zu müssen; und wo die neuen Begriffe mit den bürgerlichen, kirchlichen und andern geselligen Verhältnissen der Nation nicht harmonirten, sollte im Leben, wie in der Litteratur, alles, was bis dahin gegolten und ungestört sich behauptet hatte, der Gewalt des neuen Zeitgeistes weichen. Bei weitem die meisten Veränderungen, die sich in der Denkart und den Sitten der Deutschen ereigneten, gingen von Schriftstellern aus8.

Daß Schriftsteller Fahnenträger »des neuen Zeitgeistes« sind, wird ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in unzähligen Variationen wiederholt. In aller Schärfe drückt diese fuhrende — und in der Tat antizipatorische - Rolle der Schriftsteller Friedrich Maximilian Klinger in seinen Betrachtungen und Gedanken Die kleinen Formen in der Moderne ist der Titel eines aus einer Tagung in Verona hervorgegangenen, von Elmar Locher herausgegebenen, sehr lesenswerten Sammelbandes, Innsbruck 2001. Vgl. darin Ulrich Stadler Kleines Kunstwerk, kleines Buch und kleine Form. Kürze bei Lichtenberg, Novalis und Friedrich Schlegel, S. 15-36. Die anderen Beiträge gelten Kleist, Fontane, Rilke, Walser, Musil, Kafka, Benjamin, Bichsei, Handke und Bernhard. Ebd., S. 35, im Verweis auf Umberto Ecos Buch L'iipem aptrta und Hugo Friedrich: Montaigne. Bern/München 1967, S. 312ff. und 326ff. Hugo Friedrich: Montaigne (wie Anm. 5), S. 326. Jean Lafond: Les formes breves de la prose et le discours discontinu (wie Anm. 1), Avantpropos, S. 8. Friedrich Bouterwek: Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 12 Bde. Göttingen 1801-1819, Bd. 9, S. 349-350.

Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa

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über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur aus. Was die nicht nur im Bereich der schönen Literatur sich ereignenden >Revolutionen< (im Sinne des 18. Jahrhunderts) angeht, so waren hier in der Tat die »Buchstabenmenschen«9 Protagonisten und Diagnostiker zugleich: und zwar am unmittelbarsten im Medium derflexiblenFormen der >brevitasin tenui labor; at tenuis non gloria< kannte. Ein besonderer Aspekt dieses literarischen Genres im Kleinformat wird heute von York-Gothard Mix (im Kontext einer Analyse der Faktoren, die die »Kommunikation zwischen Literaten und Lesern in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts« bestimmen) am eindringlichsten hervorgehoben: daß sich im »kleinen Format der Almanache sichtbar die Auflösung autoritativer Lesesituationen«13 dokumentiere. Die sich heute als eine ergiebige Forschungsrichtung profilierende Aufmerksamkeit auf die Materialität der Texte14 wird in Epochen der Medienrevolution erst recht brisant. Beispielhaft dafür sind die Ausführungen über die Bücherformate unter dem Titel Όeher die grossen und kleinen Bücher in Johann Georg Schlossers Kleinen Schriften.15 Als »raisonnierender Denker« (so Johann Caspar Lavater16), Bürger mit Emphase, hoher Beamter und Prinzenerzieher verbindet Schlosser (1739—1799) paradigmatisch seine >anti-pedantismeWeltweisheit< der größten Beliebtheit —, auf der anderen die neue, idealistische Philosophie mit einem radikal anderen Selbstverständnis. In Helmut Arntzens nicht nur wegen des Themas — »Kurze Prosa von Lichtenberg bis Bloch« - immer noch lesenswerten Ausführungen wird auf eine »nicht verwunderlich[e], dennoch wenig beachtet[e]« Tatsache hingewiesen: »Bei den Antipoden Hegels bzw. des Hegelianismus«, »bei Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche« wird »die kurze Prosa als literarische Darstellung eine authentische Form der Philosophie«26. Zu bedenken wäre, was »authentische Form der Philosophie« in der Epoche der Weltweisheit bedeutete. Ein Zug läßt sich zunächst sehr deutlich herausstellen: Die Lebensphilosophen bringen Systemgeist, Transzendentalphilosophie und »Vielschreiberey« in Zusammenhang. Exemplarisch hierfür sind drei heute wenig bekannte, aber ausgezeichnete Vertreter Kleiner Prosa: Schlosser, ferner der ab 1780 am russischen Hof wirkende, wie Schlosser aus Frankfurt am Main stammende Klinger und der Geheime Kanzleisekretär Ernst Brandes (1758-1810). Daß Schlosser, Klinger und Brandes Staatsmänner sind, verleiht ihrer Kritik an der Vielschreiberei der »neuen so genannten Philosophen«27 eine besondere Schärfe. Was in Jördens Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten in Bezug auf Schlosser, den »Populär-Philosophen«, behauptet wird, entspricht einer Auffassung der Philosophie, deren literarisches Korrelat >Kleine Prosa< ist: Ihr Verfahren ist das Sammeln einzelner Wahrheiten, »wohltätigefr] Wahrheiten aus dem Gebiete der Politik, Geschichte, Moral und praktischen Philosophie überhaupt«; bewußt wird ein solches »Philosophieren, [das] nicht für trockene, abgezogene Spekulationen gemacht war«, als »phantasiereich« bezeichnet.28 Als >in supervacuum diffus« 29 und entsprechend ausufernd-schreibselig wirken dagegen die Transzendentalphilosophen: »ihre eigne Eitelkeit [...], ihr dringendes Bedürfhiß« - i.e. das Bedürfiiis der »neuen so genannten Philosophen« —, »die sie gewaltsam antreiben, das kaum trocken gewordene Geschriebene sogleich in dicken Bänden allgemein bekannt zu machen«, wird etwa im § 875 der Betrachtungen und Gedanken Klingers direkt gegeißelt. Die »dicken Bände« der Transzendentalphilosophen sind »Werk der Schule« >par ex-

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Helmut Arntzen: Philosophie als Literatur (wie Anm. 21), S. 60. Erinnert sei hier an Friedrich Sengje: Der Umfang als ein Problem der Dichtungswissenschaften. In: Gestaltprobleme der Dichtung. Günther Müller zu seinem 65. Geburtstag. Hg. von Richard Alewyn, HansEgon Hass und Clemens Heselhaus. Bonn 1957, S. 299-306. So Friedrich Maximilian Klinger: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur (wie Anm. 9), § 875. Art. Johann Georg Schlosser. In: Karl Heinrich Jördens: Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten. 6 Bde. Leipzig 1806-1811. Bd. 4, S. 537f. Senecas Formel (am Ende des Briefes 106 an Lucilius: »in supervacuum diffund[ere]«) wird angeführt im Aufsatz von Wilhelm Traugott Krug: Lebens-Philosophie oder Weisheit. In: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. 2. Aufl. Leipzig 1833. Bd. 2, S. 692-694, hier. S. 692.

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cellenceMemoiresPhilosophen fur die Weltscience morale< mit Skepsis begegnet. Der Akzent wird indessen darauf gesetzt, bekannte Wahrheiten zu aktivieren: Bekannte Ideen, die nützlich sind, in ein recht helles Licht zu stellen, ist ein vorzügliches Talent des gemeinnützigen Philosophen. Ganz neue, ungewöhnliche Ideen, besonders im Fache der moralischen und politischen Wissenschaften, sind selten ganz wahr; oder selten sehr nützlich. Hingegen bleiben die bekannten, die ausgemachten und großen Wahrheiten, unfruchtbar, weil sie nicht deutlich, nicht stark genug gedacht werden49.

Die Fruchtbarmachung, die >thesaurisationSur la maniere de lire les auteurs avec utilite< gehört, werden das Lesen als Kunst und die Schriftsteller als »Seeleute« betrachtet, die »immer Saamen zu neuen Entdeckungen und zu nützlichen Kenntnissen ausstreuen«; Bergk zieht explizit gegen das Vorurteil zu Felde, »den Wert und die Größe eines Gelehrten nur nach seinen Schriften [zu] schäzzen«.71 Im Zusammenhang damit steht die Frage nach dem Zweck des Lesens. Die verschiedenen literarischen Gattungen (von den Romanen bis zu den Trauerspielen) und die Werke der schönen Künste, der Geschichtsschreibung, Theologie, Jurisprudenz usw. werden daraufhin geprüft, inwieweit sie zur »Selbstthätigkeit der Denkkraft und Selbständigkeit des Charakters«72 beitragen können. Als Journalist, der sich der Hochachtung eines Heinrich von Kleist erfreute, ist Bergk imstande, die Vermischten Schriften auf ihre Haupteigenschaft hin zu beleuchten. Ihre Begriffsbestimmung kommt einer Apologie der Texte gleich, die »parva mole/ingenio magno« sind, wobei wir »alles auf unsere Mündigkeit anlegen«73 müssen. Der Passus soll wegen seiner Ergiebigkeit mit einiger Ausführlichkeit zitiert werden: Vermischte Schriften enthalten oft sehr köstliche Schäzze, denn es werden nicht selten sehr wichtige Beobachtungen und nützliche Entdeckungen in ihnen niedergelegt, die man nicht Zeit hatte, oder die man nicht willens war, weitläufig auszudehnen, oder die auch keiner solchen Ausdehnung fähig waren, als zu einem Buche nöthig ist. Und kleine Aufsäzze werden oft mit mehr Fleiß und Scharfsinn ausgearbeitet, als große Abhandlungen.

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Vorbericht zu: Georg Christoph Lichtenberg^ Vermischte Schriften (wie Anm. 51), S. III— XXII. Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799, S. 54 und S. 56. Es drängt sich der Vergleich auf mit Lichtenbergs Aussage: »Es ist ein Vorurteil unsers Jahrhunderts in Deutschland, daß das Schreiben so zum Maßstab des Verdienstes gediehen ist. Eine gesunde Philosophie wird vielleicht dieses Vorurteil nach und nach vertreiben.« (C 61) Das ist nämlich ein Topos im Zeitalter der Lebensphilosophie. Ebd., Vorwort, S. VIII. Ebd., S. 363. Hier auch die folgenden Zitate.

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Daß der beschränkte Umfang die Sorgfalt und Scharfsinnigkeit der Ausarbeitung begünstigt, wird im Sinne einer physiologisch ausgerichteten Reflexion klargemacht: unser Geist bleibt während der Arbeit voller Muth und Kraft, wenn er bald das Ende des Weges erblickt, und er theilt seine Gabe in reichlicherer Fülle aus, wenn er nur kurze Zeit über einem Gegenstande verweilen kann.

Es liegt nicht in meinen Absichten, die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Versuche Revue passieren zu lassen, die (angefangen mit Sengles programmatischen Vorschlägen %ur Reform der literarischen Formenlehre) zur Rehabilitierung von Formen der Prosa unternommen worden sind, die infolge idealistischer Spekulationen diskreditiert wurden. An dieser Stelle möchte ich aber mit allem Nachdruck dafür plädieren, von den Überlegungen der damaligen >Büchermenschen< auszugehen, die als >Lebensphilosophen< bzw. >Popularphilosophen< vor den später geläufigen disziplinären Grenzziehungen standen und, ganz anders als eine spätere Ästhetik, die Gattungsmischung im allgemeinen, den Mischcharakter der »Vermischten Schriften« insbesondere hochschätzten. Wie weit entfernt man damals war, »an einer Terminologie separater Formen Kleiner Prosa festzuhalten«74, erhellt eindeutig aus allen Ausführungen zu den »Vermischten Schriften«.

VI. Ebenso fern stand Lesern und Kunstrichtern jegliche Einengung auf nationale Quellen bzw. Muster. »Des großen und edlen Nordamerikaners Franklin's Kleine Schriftemi11' oder Montaignes Essais waren nicht weniger beliebt als etwa die (im 20. Jahrhundert von Blei wiederentdeckten) Schriften von Helfrich Peter Sturz. Sogar die »Gallicismen und Anglicismen« des »mit Hof und Welt bekannten« Darmstädters störten nicht.76 Der Rezensent von Lichtenbergs Vermischten Schriften in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenscheften und derjnyen Künste nennt die Franzosen an erster Stelle unter den »Nationen«, die an »Essais, Pensees, Maximes, Melanges etc. ihrer besten Schriftsteller« so »reich sind«, und bedauert dabei, daß »wir [Deutsche] ohnehin keinen Uberfluß an Schriften der Art« haben.77 Neben den Klassikern bieten sich ständig Engländer und Franzosen als Bezugspunkte an. Eben das Teilhaben an gesamteuropäischen Diskussionen bildet die Folie zu der bereits zitierten Diagnose Bouterweks. Es ist diese Aufgeschlossenheit, die be-

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Vgl. das Programm der Tagung [Verweis jetzt auf: Vorwort dieses Bandes, noch zu klären!!]. Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen (wie A m 71), S. 358. Vgl. den Helfrich Peter Sturz gewidmeten Artikel in Karl Heiniich Jördens: Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten (wie Anm. 28), Bd. 4, S. 752 und S. 745. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 64 (1800), 2. Stück, S. 261.

Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa

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fruchtend wirkt: sowohl in der Praxis wie in der Theorie. In beiden Hinsichten tritt Lichtenberg als der beste Gewährsmann auf. Ulrich Stadler vergegenwärtigt am Beispiel der >Sudelbuchbrevitas< betrifft, ist ein >jam dictumc Alle Bestimmungen erfolgen auf der Grundlage uralter Topoi, die ihrerseits in den modernen europäischen Literaturen verschiedenartig wiederaufgenommen worden sind. Selbst die typisch aufklärerische Inzitamentfunktion kleiner Prosa (bzw. in Hugo Friedrichs Sprache: die Inzitamentfunktion »offener« Formen) weist imponierende Belege in der >traditionellsten< klassischen Moralistik auf.79 Denn ganz selbstverständlich steht auch den deutschen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts die rhetorische Überlieferung zur Verfugung: Man hat immer mit Gelehrten zu tun (wobei freilich die Gelehrsamkeit der Besten »leicht wie Licht« ist),80 denen griechische und lateinische Autoren im Original geläufig sind. Man denke etwa an Sulzer, der in Jördens Lexikon Teutscher Dichter und Prosaisten wegen seines »lichtvoll[en] und staxk[en] Ausdruck[s]« gelobt wird,81 und mit seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste maßgeblich ist für die neue Ästhetik der Aufklärung mit ihrem Ziel der ethischpolitischen Formierung des Menschen. Was alte Gedankengänge für Sulzers Überlegungen zu den Begriffen Energie/Kraft/Kürze anzubieten hatten, verdeutlichen schon ein paar Sätze: »ut in parcimonia verborum more ενεργεία atque efficacia sit«; »in brevitate [...] sunt allusiones, imagines, translationes, crebrae et paene continuae: quae delectant simul et docent«82. Bezeichnend genug ist, daß der Artikel »Kürze« in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (mit dem Auftakt: »Ohne Zweifel ist die Kürze eine der wichtigsten Vollkommenheiten der Rede«) lauter klassische Quellen anführt.83

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Ulrich Stadler Kleines Kunstwerk, kleines Buch und kleine Form (wie Anm. 4), S. 23. Louis van Delft Le moraliste classique (wie Anm. 32), S. 244. So Elias Canetti im Schluß seines berühmten Lichtenberg-Portraits (»seine Gelehrsamkeit ist leicht wie Licht«); E. C: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972. Frankfurt a-M. 1981, S. 263. Art Johann Georg Schlosser. In: Karl Heinrich Jördens: Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten (wie Anm. 28). Bd. 4, S. 754. So Seneca, zit nach der immer noch mit großem Gewinn zu lesenden materialreichen Untersuchung von Georg Williamson: The Senecan Amble. Α Study in Prose Form from Bacon to Collier. London 1948, S. 194. Seneca wird als Modell für die als Briefe verfassten Essays und fiiir Bishop Halls Charakters of Virtues and Vices eingehend behandelt Auch für das 18. Jahrhundert gilt Williamsons abschließende Konstatierung: »Nor did the seventeenth century forget this other side of Seneca, which encouraged the >loose< style, though his curt style proved more attractive« (S. 199). Art. Kürze. In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt.

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Das Lichtenbergische »Neue Blicke durch die alten Löcher« bewährt sich auch in bezug auf die Rezeption der Heiligen Schrift und allgemein des religiösen Schrifttunis. Mit dem Hinweis auf die »ganz alten Werke der Bibel« und die »griechischen und lateinischen Schriftsteller« als doppelte Quelle von »Tugendlehren« und »seelenstärkende [n] Sentenzen« beginnt bezeichnenderweise die >Sudelbuchstrong lines< (»the products of a search for vigorous, pregnant, or exciting expression«).85 Der Vertreter der anti-ciceronianischen Bewegung wird wie ein »Schatzkäsdein« genutzt. Gemeint ist ein damals äußerst beliebtes, kleines Werk von Karl Heinrich Bogatzky, das, 1718 in Halle erschienen, bereits 1748 seine »18te und durchgehende neu vermehrte Auflage« erlebte: Güldenes Schat^Kästkin der Kinder Gottes, deren Schaff im Himmel ist: Bestehend in auserlesenen Sprüchen der Heiligen Schrift, samt beygeßgten erbaulichen Anmerkungen und Reimen,86 Bogatzkys Büchlein ist zweifellos Erbauungsliteratur — aber auch die heute eindeutig den >belles lettres< zugeschlagenen Maximes und Sentences, Reflexions und Pensees wurden als Erbauungsliteratur gelesen. Das Schat^-Kästlein wurde (nicht anders als erbauliche Kalender mit Abreißblättern) zu einem Buch gebunden und dann als durchschossenes Buch zum >album amicorum< verwendet. Mit anderen Worten: Hippel bezieht sich auf ein Reservoir kleiner Formen. Bei Spruchsammlungen jeglicher Art sind die — ohnehin fließenden — Grenzen zwischen >religiösem< und >nicht-religiösem< Bereich funktionell aufgehoben. Dieses Phänomen ist kein Spezifikum des deutschen Sprachraums. Ich kann hier nur auf die Forschungsergebnisse von Jean Lafond verweisen: Denn was Lafond in Hinblick auf die Lektüre der Maximes et sentences chretiennes als Vorbereitung und gleichzeitig als Ergänzung der Reflexions La Rochefoucaulds87 herausarbeitet, erhellt indirekt auch die Rolle Friedrich Karl von Mosers (1723-1798) und Lavaters in der Geschichte des aphoristischen Schrifttums.88 Die Beziehung

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Bd. 3. Hüdesheim/Zürich/New York 1994 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793], S. 1 2 8 131, hier: S. 128. Diese als Bruchstück auf uns gekommene Autobiographie ist reprographisch gedruckt Theodor Gottlieb Hippel: Biographie zum Theil von ihm selbst verfaßt. Mit einem Nachwort von Ralph Rainer Wuthenow. Hildesheim 1997 [Nachdruck der Ausgabe Gotha 1801], S. 93. »Ich habe dem Seneca und Plutarch viel zu danken« (ebd.). Georg Williamson: The Senecan Amble (wie Anm. 82), S. 195. Der Untertitel variiert leicht in den verschiedenen Auflagen. Jean Lafond: L'homme et son image. Morales et litterature de Montaigne ä Mandeville. Paris 1996, Kap. >La pensee religieuse et la rhetorique de la sentence-maxime dans la litterature fra^aise duXVIIe siecleLeben des KonfuzPrediger< als Gegensatz zu >Moralisten< deuten, befremdlich erscheinen muß. Man denke aber an erfolgreiche Bücher wie Lorenz Sterne des Menschenkenners Benutzung einiger Schriftstellen (ein »Buch«, das »anders nichts [enthält], als Predigten«)90 oder an Klingers Betrachtungen und Gedanken, wo Prediger als mutige »Büchermenschen« gepriesen werden. Ein begnadeter Prediger, der »immer das Evangelium, nicht die Moral predigte«, der »durchweg populär zu sein suchte«91 und eine staunenswerte, originelle »populäre Beredsamkeit«92 entwickelte, ist Lavater. Dieser Bodmer-Schüler ist sowohl für die Aphoristik- wie für die Tagebuch- und Briefforschung von großem Interesse, erprobt neuartige Kombinationen Kleiner Prosa, sprengt Gattungsgrenzen auch in den Augen der Zeitgenossen. Als Verfasser Vermischter Schriften findet er auch bei seinen erbittertsten Feinden eine Anerkennung, von der Nicolais Verqeichniß einer Handbibäothek der nützlichsten deutschen Schriften i(um Verzügen und Unterricht eindrucksvoll zeugt.93 Lavaters Vertrautheit mit der Bibel und der ganzen Tradition der Sprüche, der Briefe und der Exzerptensammlungen zeitigt Früchte, die unverwechselbar Früchte aus dem 18. Jahrhundert sind und sich ebenso augenscheinlich einer Untersuchung aus der Perspektive einer einzelnen Gattung entziehen. Als Tagebuchschreiber wird er von Lichtenberg neben »die περί εαυτου

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gen, Aphorismen«] Revue passieren« und nennt dabei als Pionier für Deutschland Moser, der trotz seines »stets frömmelnde [n] Ton[s]« »ob der Schilderung kleiner Höfe und des Geschäftsganges« von »Menschenkennern] mit Vergnügen« gelesen wurde; Göttingische Gelehrte Anzeigen vom 22.1.1803, S. 129-133, hier: S. 130. Friedrich Carl Moser: Reliquien. Frankfurt a.M. 1766, unpag. Vorwort »und welchen Stükken die Kirche insbesondere diese Bedeutung [= Reliquien] beilege, ist bekannt«. Lorenz Sterne des Menschenkenners Benutzung einiger Schriftstellen. Basel 1781, so auf der eisten Seite des unpaginierten Vorberichts. »Daß man sie [die Predigten] abgekürzt hat, geschah aus keiner anderen Ursache, als um ihnen, ihres vortreflichen Inhalts willen, noch mehr Leser zu verschaffen, als sie bisher gehaben haben«. (Ebd.) Art. Johann Caspar Lavater. In: ADB, Bd. 18, S. 785. So noch in Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge. 2. Section H-N. Leipzig 1888, S. 291. Friedrich Nicolai: Verzeichniß einer Handbibliothek der nützlichsten deutschen Schriften zum Vergnügen und Unterricht. [Berlin] 1787, S. 207 (Abt. Vermischte Schriften): Lavater ist mit 8 Werken vertreten, darunter mit Salomo oder Lehren der Weisheit. VgL von Verf.in: I »Vermischte Gedanken« di Lavater. Una tessera nel mosaico dell'aforistica tardosettecentesca. In: Spicilegio Moderno 14 (1980), S. 130-161.

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des Antoninus« gestellt.94 In »einzelnen hingeworfenen Gedanken, sowie in Briefen« »herrlich« 95 , ist ein Urteil, das für Lavater wie für »das 18. Jahrhundert« gilt, das, nach Brochs Wort, in Frankreich wie in Deutschland »die Geburtszeit der literarischen Moderne« 96 ist.

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Georg Christoph Lichtenberg an Emst Gottfried Baldinger vom 8.5.1774; G. Ch. L.: Schriften und Briefe (wie Anm. 45), Bd. 4. München 1967, Nr. 97, S. 199f., hier: S. 199. Wilhelm von Humboldt: Charakteristiken aus den Reisetagebüchern [1788-1796]. In: W. v. H.: Werke in 5 Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1981, B d 5, S. 17-36, hier: S. 20. Hermann Broch: Theologie, Positivismus und Dichtung. In: Η. B.: Philosophische Schriften. Bd. 1. Frankfurt a-M. 1977, S. 191-239, hier S. 209.

DetlefKremer Skeptische Fragmente Über den Zusammenhang von Skepsis und Fragment in der Spätaufklärung

1. Geschichtsphilosophie Etwas vereinfachend lässt sich Aufklärung als der epochale Versuch begreifen, die Geschichte des Menschen aus einem rationalen Prinzip zu erklären und die Gegenwart und Zukunft auf einen vernünftigen Endzweck hin organisierbar vorzustellen. Was am Anfang des 18. Jahrhunderts das Postulat der prästabilierten Harmonie innerhalb der rationalistischen Metaphysik der Wolff-Schule garantierte, nämlich Sinn und Vollkommenheit von Natur und Gesellschaft, das gerät innerhalb der Verzeitlichung und Beschleunigung im ausgehenden 18. Jahrhundert in die Krise und muss in einer historischen Perspektive umformuliert werden. Gegenüber der Statik des frühen Rationalismus erfordert die Verzeitlichung des gesellschaftlichen Lebens eine historische Theorie, die es erlaubt, bewegliche Horizonte zu denken. Vor allem die Geschichtsphilosophie übernimmt die Orientierungsfunktion der älteren Metaphysik, indem sie Harmonie als ein Postulat für die Zukunft formuliert. Sie übernimmt den universalisierenden Anspruch, theoretische und praktische Vernunft, Logik und Moral, als Einheit zu denken, projiziert ihn jedoch auf ein Entwicklungsmodell. Ihren breiten theoretischen Erfolg bezieht die Geschichtsphilosophie vermutlich aus der Fähigkeit, das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen anders als in hierarchischer Subsumption zu denken, gleichwohl aber die unverkennbaren Subjektivierungstendenzen in allgemein verbindliche Ordnungssysteme aufzunehmen. Objektivistisch gedachte Perfektion wird uminterpretiert zu subjektiver Perfektibilität. Stellvertretend für eine geschichtsphilosophische Hochkonjunktur gegen Ende des 18. Jahrhunderts sei Herders Beschwörung der Perfektibilität des Menschen aus den Humanitätsbriefen zitiert: »Die Perfektibilität ist also keine Täuschung sie ist Mittel und Endzweck zur Ausbildung alles dessen, was der Charakter unseres Geschlechts: Humanität verlangt und gewährt.«1 Eine radikale Position einer aufklärerischen Fortschrittsapologie hat in der Aufbruchstimmung der Französischen Revolution bekanntermaßen Condorcet Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Bd. 17. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1883, Zweite Sammlung, Brief 25, S. 115— 122, hier: S. 122.

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bezogen. Im Jahre 1793 konnte man sich die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft folgendermaßen vorstellen: wir könnten also schon jetzt den Schluß ziehen, daß die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen unbegrenzt ist; und dabei haben wir für den Menschen bis jetzt nur die natürlichen Fähigkeiten, die Organisation, welche er bereits hat, vorausgesetzt. Wie groß wäre also vielleicht erst die Gewißheit, das Ausmaß seiner Hoffhungen, wenn man annehmen könnte, daß diese natürlichen Fähigkeiten, diese Organisation selber möglicherweise sich verbessern?2

Die Planbarkeit der Zukunft nimmt ebenso wie die vernünftige Ordnung der Geschichte einen zentralen Stellenwert in der Geschichtsphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein. Kontingenz und Zufall haben hier keinen Platz. Was in der neuzeitlichen Skepsis von Montaigne bis Nietzsche eine wichtige Rolle spielt, das Denken des Zufalls, bedeutet für einen geschichtsphilosophischen Diskurs, der die Zukunft als planbar unterstellt, eine ärgerliche Irritation, die um jeden Preis ausgeblendet werden muss. Mit diesem Ziel entzieht der Baron d'Holbach in seinem breit angelegten Systeme de la nature von 1770 dem Begriff >Zufall< jede semantische Grundlage: Keine Wirkung entsteht in uns selbst oder in der Natur durch Zufall, ein Wort, das, wie schon bewiesen, gar keinen Sinn hat. Alles, was in uns vorgeht, und alles, was durch uns geschieht, ist, ebenso wie alles, was sich in der Natur ereignet oder was wir ihr zuschreiben, durch notwendige Ursachen bedingt, die auf Grund notwendiger Gesetze wirken und die notwendige Wirkungen hervorrufen, aus denen wiederum andere hervorgehen.3

Freiheit, Kausalität, Finalität, Entwicklung, Bildung sind diejenigen Stichworte eines geschichtsphilosophischen Diskurses, die auch die großen literarischen Entwürfe der Zeit ermöglichten: Entwicklungs- und Bildungsroman, Autobiographie und den pragmatischen Roman, wie ihn vor allem Christian Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman von 1774 als Zusammenspiel von (psychologischer) Kausalität und (entwicklungslogischer) Finalität bestimmt hat.4

2. Skepsis Man konnte sich die Gegenwart und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft bereits im Vorfeld der Französischen Revolution auch ganz anders denken, nämlich als eine Art Gegenrechnung zum aufklärerischen Projekt von Fortschritt und Bildung. Die Geschichte der menschlichen Zivilisation wird in Johann Karl Wezeis

Marie Jean Antoine Marquis de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. von Wilhelm Alff. Frankfurt a.M. 1976, S. 219. Paul Thiry dWolbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt Übersetzt von Fritz-Georg Voigt Frankfurt a.M. 1978, S. 182. Vgl. Christian Friedrich von Blanckenburg Versuch über den Roman. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert Stuttgart 1965.

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Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776) als Kreisverkehr und Variation des Immergleichen vorgestellt, und die Welt insgesamt erscheint im düsteren Licht eines »barbarischen Schlachthauses«5. Hiermit stimmt Friedrich Maximilian Klinger wörtlich überein. In der Geschichte Giafars des 'Barmeaden heißt es: »So sah nun Giafar die Welt als ein ungeheures, von Blut triefendes, von Brüllen und Gestöhn' erschallendes Schlachthaus an«6. Gewiss neigt der spätaufklärerische Skeptizismus zu einer düsteren, die letzten nihilistischen Konsequenzen nicht scheuenden Perspektive. Im Sinne einer Gegenrechnung zur optimistischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung gilt mein Interesse am skeptischen Diskurs jedoch seinem positiven Gehalt. Dieser besteht meiner Ansicht nach sowohl bei Klinger und Wezel als auch bei Lichtenberg und Klingemann in einem erfahrungsgesättigten Relativismus, der sich nichts mehr vormacht, praktischer Toleranz, die auf Ideologien, keineswegs aber auf Entscheidungen verzichtet, und einem Begriff des Individuums, der gegenüber jedem Dogma abstinent bleibt. Er ist daran gewöhnt, Widersprüche zu konstatieren und auszuhalten, ohne sie immer schon in wechselnden ideologischen Synthesen aufzuheben. Er weiß um die Kontingenz des Subjekts. Das hindert aber nicht daran, ein Ich zu behaupten: »Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfiiis.«7 So Lichtenberg in den Sudelbüchern. Sein historisches Profil erhält der skeptische Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch seine Gegenstellung zur Aufklärung. Die zentralen Annahmen der Aufklärung werden bezweifelt: Die Vorstellungen vom autonomen vernunftfahigen Subjekt, seiner Moralität und Bildungsfähigkeit werden plakativ in ihr Gegenteil verkehrt. Insofern der skeptische Diskurs sich einen Gestus der Negation der Aufklärung zu eigen macht, bleibt er allerdings den aufklärerischen Vorgaben des 18. Jahrhunderts semantisch eng verpflichtet. Der Behauptung eines autonomen Verstandessubjekts stellt er die Disziplin und Zergliederung des Körpers entgegen. Er unterläuft die Souveränität der Moral mit der Vorgängigkeit von Macht und Interessen. Vom aufklärerischen Bildungsprojekt zur Mündigkeit bleibt kaum mehr als das düstere Bild einer Entwicklung als Beschädigung. Und dennoch würde man der spätaufklärerischen Skepsis nicht vollständig gerecht werden, wenn man sie nur als Negativfolie einer aufklärerischen Utopie begreifen wollte. Denn rein logisch gesprochen, würde die Negation einer Position sich

Johann Karl Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Nach der Erstausgabe von 1776 hg. von Lenz Prutting. Frankfurt a.M. 1978, S. 148. Friedrich Maximilian Klinger: Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu »Faust's Leben, Thaten und Höllenfahrt«. (Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 12). Hg. von Sander L. Gilman, Karl-Heinz Hartmann und Thomas Salumets. Tübingen 2004, S. 14. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. 2. Sudelbücher II. Materialhefte. Tagebücher. 2. Aufl. München 1975, Κ 76.

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ebenfalls wieder zu einer Position verhärten. Und genau das möchte der skeptische Diskurs vermeiden. Klingers Leitbild ist der »Denker im Gleichgewicht«8. Wenn es das Anliegen eines jeden Skeptizismus ist, Widersprüche und Paradoxien nicht nur auszuhalten, sondern geradezu zu pflegen, dann muss er sich auf einen Prozess des Denkens einlassen, der prinzipiell in Bewegung bleiben muss und sich entsprechend nicht auf eine Seite des Widerspruchs festlegen lassen darf. Er hat sich auch bewusst zu sein, dass seine eigenen Aussagen gegenüber den kritisierten Behauptungen keineswegs als letztgültige Wahrheit zu verstehen sind, dass sie vielmehr selbst nicht über einen metaphorischen Status hinauskommen. Nietzsches Einsicht in die Wahrheit als »bewegliches Heer von Metaphern«9 ist Klinger bereits hundert Jahre vorher geläufig. Und Nietzsches praktische Perspektive dieser Einsicht, dass nämlich »das Leben [...] nicht von der Moral ausgedacht« ist, sondern »von der Täuschung«10 lebt, weiß bereits Klingers orientalischer Faust Abdallah: »Die Täuschung selbst ist Leben«11. Bevor ich auf die praktischen und das heißt hier immer auch: politischen Effekte des skeptischen Diskurses zurückkomme, möchte ich auf eine formale bzw. genetische Fragestellung eingehen. Sie resultiert aus dem Umstand, dass die spätaufklärerische skeptische Aufklärungskritik nicht nur eine semantische, sondern auch eine formal-generische Nähe zu Formen und Diskursen der Aufklärung einhält. Wo Klingemanns Nachtwachen von Bonaventura ihre Kritik an der »moralischen Theaterordnung«12 der Aufklärung auch in der Form reflektieren, entwerfen Wezel und Klinger ihre skeptische Verunsicherung in der relativ standardisierten Prosaform einer >pragmatisch-critischen< Geschichte. Sie gründet auf einer geradlinigen, sukzessiv fortschreitenden Erzählweise, die sich allenfalls — in der Manier Sternes — die Verzweigung eingeschobener Nebengeschichten oder digressive Erzählerkommentare edaubt.

3. Fragment und skeptischer Diskurs Diese Ambivalenz ist der Forschung nicht verborgen geblieben. Über eine Formbestimmung des pragmatischen Romans beobachtet etwa Monika Ammermann

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Friedrich Maximilian Klingen Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. Berlin 1958, S. 84. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: F. N.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 1, S. 873-890, hier: S. 880. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. In: F. N.: Kritische Studienausgabe (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 9-366, hier S. 14. Friedrich Maximilian Klinger: Der Faust der Morgenländer. In: F. Μ. K.: Ausgewählte Werke. Bd. 5. Stuttgart 1879, S. 1-206, hier S. 98. [August Klingemann:] Nachtwachen von Bonaventura. Hg. von Helmut Müller. München 1960, S. 42.

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eine Widerspriichlichkeit zwischen einer formalen »pragmatische[n] Aussagehaltung«13 und einer »anthropologischefn] Grundposition«, die das »Schema des pragmatischen Romans«14 sprenge: »In Wezeis Roman >Tobias Knautx, der stellvertretend für seine anderen Romane steht, widerspricht die skeptisch-pessimistische Bewertung der menschlichen Natur den Zielsetzungen dieser Romanform. In anderen Worten: wohin zielt die Wertorientierung, wenn der Adressat nicht eben hochgeschätzt wird?«15 Bei ihrer Kritik verkennt Ammermann die Hinwendung der spätaufklärerischen Skepsis zu thetisch philosophischen Schreibweisen. Sie übersieht Wezeis und besonders Klingers Neigung, ihr skeptisches Anliegen, das sich fortwährend in wechselnden dialogischen Perspektivierungen aktualisiert, in der Form des philosophischen Thesen- und Dialogromans zu organisieren. Offenbar angesichts der historischen Unmöglichkeit einer radikalen formal-ästhetischen und genetischen Konsequenz der spätaufklärerischen Skepsis verfolgt Klinger in den 1790er Jahren die formal wenig festgelegten Linien eines diskursiven Dialogromans, der immerhin nicht auf eine harmonisierende moralische Haltung verpflichtet, sondern in der Polyphonie der Stimmen die grundsätzliche Toleranz verschiedener Ansichten ermöglicht. Zuzustimmen ist Ammermann, wenn sie Lichtenbergs subjektiven, »nicht auf Kommunikation mit dem Leser angelegten«16 Reflexionen und Aphorismen eine größere Affinität zum relativierenden Gestus der Skepsis bescheinigt. Nicht zufällig setzt ja auch Klinger das weitverzweigte, äußerst heterogene Gewebe seiner 'Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (1803/1805) als Schlusspunkt unter seinen umfangreichen Romanzyklus. Sie bilden Band 9 und 10 des sorgfältig geplanten Prosa-Zyklus. Und dass diese im Gegensatz zu Lichtenbergs Reflexionen publiziert wurden, sich also durchaus an einen Adressaten wenden, ändert an ihrer skeptischen Polyphonie nichts. Die Möglichkeitsvielfalt fragmentarischer Aphorismen und Reflexionen bezeichnet den vorgeschobenen Posten des skeptischen Diskurses im aufklärerischen Formenspektrum, ohne dieses jedoch sprengen zu können. Ihr prinzipiell unsystematischer, immer wieder neu ansetzender und Widersprüche nicht nur aushaltender, sondern geradezu suchender Gestus verleiht dem skeptischen Diskurs ein weitgehendes formales Gerüst. Klingers Fragmente kreisen um die gleiche historische Erfahrung von Subjektivierung, Beschleunigung und Verlust verbindlicher Ordnungsvorstellungen, die ebenso die frühromantischen Fragmente wie die literarischen Arabesken der Romantik prägt. Die skeptische Kritik aufklärerischer Ganzheitsvorstellungen erlangt ihre adäquate Form des Erzählens in der Frühromantik, wo - wie in Schlegels Lucinde oder den Nachtwachen von Bonaventura — 13

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Monika Ammermann: Gemeines Leben. Gewandelter Naturbegriff und literarische Spätaufklärung. Bonn 1978, S. 159. Ebd., S. 172. Ebd., S. 167. Vgl. dagegen Emst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1974. Monika Ammeimann: Gemeines Leben (wie A m 13), S. 173.

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der Kausalnexus einer sukzessiven Erzähl- und Handlungsführung chronologisch und episodisch gebrochen wird und der skeptische Gestus der Destruktion derart in die Form eindringt, dass sich die kausale und finale Ordnung des >pragmatischcritischen< Romans im Labyrinth einer Formen- und Perspektivenvielfalt verläuft.17 4. Klingers Betrachtungen und Gedanken An vergleichbaren Effekten sind Klingers Betrachtungen und Gedanken auf einer diskursiv-reflexiven Ebene ausgerichtet. Die mehrere hundert, relativ kurzen, nur bisweilen mehr als eine Seite umfassenden Fragmente bieten den angemessenen genetischen Rahmen für einen skeptischen Diskurs, dessen grundsätzliches Prinzip in einer relativistischen, Widersprüche nicht scheuenden Facettierung der Gedanken besteht, ein Prinzip, das bereits beim spätantiken Skeptiker Sextus Empiricus feststeht: Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.18

Der bereits antiken Gegnern des Skeptizismus geläufige Einwand David Humes, der Relativismus des Urteilens könne sich unmöglich »auch nur wenige Stunden in seinem praktischen Verhalten«19 durchhalten lassen, streift zwar einen wunden Punkt des Skeptizismus, hebt ihn aber keineswegs aus den Angeln, weil er auf einem grundsätzlichen Missverständnis des Skeptizismus beruht. Das perspektivische Wissen des Skeptikers stürzt ihn nicht in tiefe Depression. Ganz im Gegenteil verspricht ihm sein toleranter Umgang mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen einen abgewogenen Zugang zum Handeln.20 Humes Kritik des Skeptizismus betrifft vornehmlich den seiner Meinung nach fehlenden Zusammenhang von skeptischem Denken und Handeln. Seine Kritik baut letztlich auf dem Glauben auf, die rationale Entwicklung der Argumente führe schließlich 17 18

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Vgl. Detlef Kremer Romantik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003, S. 130ff. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Hg. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a.M. 1968, S. 94. David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1980, S. 7; vgl. hierzu auch Michael Frede: Des Skeptikers Meinungen. In: Neue Hefte fur Philosophie 15/16 (1979), S. 102-129. Ein Skeptiker bleibt abstinent gegenüber Spekulationen, wie die Dinge wirklich oder wesenhaft sind. Er verzichtet jedoch nicht darauf, Meinungen von den Dingen und der Welt zu haben. Vgl. dazu Michael Frede: Des Skeptikers Meinungen (wie A n m 19), S. 128: »Was aber den Skeptiker im Prinzip von anderen Leuten unterscheidet, sind nicht seine Meinungen, sondern seine Einstellung zu seinen Meinungen. Er hat nicht die mehr oder minder naive und teilweise dogmatische Einstellung des >einfachen< Mannes, sondern sein Verhältnis zu seinen Meinungen ist durch das Bewußtsein gebrochen, daß die Dinge in Wirklichkeit vielleicht ganz anders sind, aber diese Möglichkeit beunruhigt ihn nicht mehr.«

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auf das Prinzip, das eine vernünftige handlungsleitende Maxime begründet. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, aus dem vernünftigen Argument ergebe sich zwangsläufig die Entscheidung zum richtigen Handeln, zwischen Denken und Handeln bestehe ein rationales Kontinuum. Diejenige Denktradition, der Klinger verpflichtet ist und die von Adorno und Horkheimer mit den »dunklen Schriftstellerin] der bürgerlichen Frühzeit«21 identifiziert wurde, Machiavelü, Hobbes und Mandeville, auch Montaigne, teilt diese Vorstellung mitnichten. Sie besteht darauf, dass zwischen Denken und Handeln ein Bruch besteht. Sie geht davon aus, dass der Entscheidung als Voraussetzung zum Handeln immer ein Hauch von Kontingenz, Willkür und Irrationalität innewohnt. In die Entscheidung zur Tat mischt sich durchweg eine Funktion der Macht ein, die ihrerseits nicht rational begründbar ist. Weder hindert die Beweglichkeit des Denkens oder die Perspektivität des Urteils den Skeptiker daran, eine Entscheidung zum Handeln herbeizufuhren, noch kann die rationale Argumentation sich zugute halten, immer schon auf der Seite der Vernunft, der Moral und des Rechts, jedenfalls jenseits der Macht zu stehen und Handlungsmaximen anzubieten. Das Ideal des Skeptikers ist nicht das »ewige Gespräch«22, das Carl Schmitt der politischen Romantik zu Recht oder Unrecht vorgeworfen hat, sondern das Wissen darum, dass das eigene Denken und Handeln perspektivisch, vorläufig und interessengebunden ist; ein Wissen, dessen Konsequenz nur Toleranz heißen kann und eben nicht wie bei Hobbes, Donoso Cortes oder Carl Schmitt: Diktatur. Donosos Sicht der Geschichte weist auffällige Ähnlichkeiten mit Klingers Betrachtungen und Gedanken auf: die Menschheit taumelt blind durch ein Labyrinth, dessen Eingang, Ausgang und Struktur keiner kennt, und das nennen wir Geschichte (Obras V, p. 192); die Menschheit ist ein Schiff, das ziellos auf dem Meer herumgeworfen wird, bepackt mit einer aufrührerischen, ordinären, zwangsweise rekrutierten Mannschaft, die gröhlt und tanzt, bis Gottes Zorn das rebellische Gesindel ins Meer stößt, damit wieder Schweigen herrsche (TV, 102). 23

Für Klinger ist es ausgemacht — und die Französische Revolution dient ihm als Beispielgeber —, dass »das Menschengeschlecht« sich in einem teuflischen »Sumpf« »herumwälzt«24, aus dem ein Ausweg keinesfalls auf der allgemeinen Ebene einer geschichtsphilosophischen Perfektibilität zu finden ist. Die »immer steigende Veredelung des Menschengeschlechts« ist für Klinger nicht mehr als eine zwar »schöne«, aber vor allem »täuschende Idee«25. Seine Kritik der Geschichtsphilosophie 21

22 23

24

25

Max Horkheimer/Theodor W. Adomo: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1971, S. 82. Carl Schmitt Politische Romantik [1919]. 5. Auflage Berlin 1991, S. 3. Zitiert in der Übersetzung von Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität 3. Aufl. Berlin 1979, S. 75. Die internen Verweise gelten: Obras completas de Don Juan Donoso Cortes. 5 Bde. Madrid 1854—56. Friedrich Maximilian Klinger: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (wie Anm. 8), S. 257. Ebd., S. 405.

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interferiert auf den ersten Blick mit Nietzsches Überlegungen aus der Un-

zeitgemäßen Betrachtung über den Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben. So heißt es im Fragment 590: »Die Zukunft bringt den Kultivierten um den vollen Genuß der Gegenwart«26. Als politischer Denker hält Klinger jedoch an der wie immer illusionären Projektion von Vervollkommnung für die breite Masse fest. Was der kritische, an Hobbes geschulte »Selbstdenker«27 selbstverständlich durchschaut, kann gleichwohl als Funktion der Kultivierung der Menschen eingesetzt werden.28 Zufall, Labyrinth, Wirrwarr sind die Metaphern, mit denen Klinger bevorzugt einen einheitlichen, sinnvollen Prozess der Geschichte unterläuft: Da nun bisher die sogenannten Geschichtsschreiber der Menschheit in diesem Sinne die allerwidersprechendsten Fakta immer zu einem zweckmäßigen Ganzen verbunden und nur schöne, tröstende und schmeichelnde Ideale aufgestellt haben, so muß der ernste Denker noch immer diese Geschichte denen ablauern, die auf dem Erdenrund den unendlichen Stoff dazu hergegeben haben und noch geben. [...] Vielleicht auch, daß er einen Faden der Verknüpfung entdeckt; nur das Ende dieses Fadens wird sich immer mehr für ihn im fernen Dunkel verlieren, je eifriger und aufrichtiger er es zu fassen strebt.29

Die Konsequenzen dieser dunklen Sicht der Dinge unterscheiden sich jedoch fundamental: nicht Absolutismus und Diktatur wie in der Katholischen Reaktion Donoso Cortes', sondern Toleranz, liberaler Pragmatismus und ein heroisches, selbstbestimmt handelndes Subjekt hießen die letzten Worte der Skeptiker, wenn es denn letzte Worte gäbe. Die Skeptiker beziehen eine Gegenposition zur Aufklärung; sie dürfen aber nicht als Gegenaufklärung missverstanden werden. Von rationaler Dogmatik, aufklärerischer Orthodoxie und katholischer oder absolutistischer Reaktion halten sie gleichermaßen Abstand. Dieser Abstand ist identisch mit der Verabschiedung einer universellen Geltung von Wahrheit. Die radikale Schlussfolgerung dieser Verabschiedung, die Klinget in verschiedenen Texten gezogen hat, steht ähnlich wie später bei Nietzsche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrung von Ekel.30 Sie

26 27 28

29 30

Ebd., S. 104. Ebd., S. 432. Vgl. ebd., S. 105: »Dächten wir die Zukunft nicht, so lebten wir nur den Augenblick, den wir wirklich leben, so erobern wir die kommende Zeit, die Ewigkeit selbst und genießen der grenzenlosen Eroberung als unsers Eigentums. Und ist alles dieses Täuschung, so laßt uns dem Oberherrn der Geister dafür danken; nur so konnten wir die grobe, drückende Wirklichkeit im Zustande höherer Kultur besiegen. Deutet Täuschung nicht auf die höhere Verwandtschaft so gebieterisch hin, daß sogar der Zweifler selbst im Augenblick edlen Wirkens von ihr träumt?« Ebd., S. 254. Gemünzt auf den weisen, weil skeptischen Betrachter der Weltgeschichte, hinter dem sich letztlich Gott verbirgt, heißt es zum Beispiel im Fragment 365a: »Man sollte meinen, Überdruß, Ekel und Ermüdung an einem so lärmenden Schauspiel müßten ihn wahrlich schon lange bewogen haben, sie [die Antwort auf die letzten Dinge, D.K.] den rastlosen, schreienden Springern hinzuwerfen. Aber es ist ein so weiser und schonender als mächtiger Geist; er

Skeptische Fragmente

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bewirkt einen Zynismus und Nihilismus, die entweder zum gänzlichen Rückzug in die Privatsphäre zwingen oder dringend einer neuen, wie immer perspektivisch gebrochenen Sinnorientierung bedürfen. Mit Notwendigkeit treibt jede skeptische Denkbewegung auf den Punkt zu, wo Entscheidungsfähigkeit einerseits in Frage steht, andererseits umso dringender gefordert werden muss. Es gibt dann nur die Entscheidung zwischen vollständiger Verweigerung — Selbstmord oder, man denke an den Schluss von Voltaires Candide, privatem Gartenidyll — und neuen Leitlinien für alltägliche Selbstbehauptung. Dass man letztlich um die Entscheidung zum Handeln nicht herumkommt, steht in Klingers Aphorismen außer jeder Frage. Flankierend zu einer auf Skepsis basierenden Toleranz entwirft Klinger Leitlinien eines heroischen Aktivismus, mit dem der besagte »ernste Denker«, der sich nichts mehr vormacht, das Sinnvakuum überspringt. In seinem umfangreichen Prosazyklus der 1790er Jahre erprobt Klinger einen Heroismus des kraftvollen Individuums und seiner anarchischen Revolte: »Der Augenblick der That und des Wirkens ist das Leben — Genuß darüber Reiz und Stärkung zu neuem Wirken«31 — so Klingers Faust der Morgenländer, der ebenso für Gerechtigkeit und Menschenwürde kämpft wie Wezeis Belphegor. Dass beide dabei der Projektion von Täuschung und Illusion Vorschub leisten, verliert im Augenblick der Tat seine Bedeutung. In diesem Moment ist die grundlegende skeptische Einsicht: »Das Leben ist ein Spiel« nicht so gravierend, entscheidend ist dann »nur der Einsatz des Spiels, der uns so nah angeht und uns so aufmerksam macht.«32 Die Sinnlosigkeit der Geschichte, deren Fortschritte, so Klinger, höchstens ins »Nichts«33 fuhren, fangt er im Entwurf des heroisch sich selbst bestimmenden Ich auf, dem die Vorstellung einer gerechten Zukunft eine unverzichtbare Voraussetzung seiner Energie und Durchsetzungsfahigkeit ist: »Des Menschen Stellung ist aufrecht, damit sein Auge in das Leere blick[e] und sein Geist da etwas für sich hindenke, wo vielleicht gar nichts für ihn ist und sein wird.«34 Als politischer Denker schreckt Klinger nicht davor zurück, das fur ihn längst obsolete Motiv der Unsterblichkeit der Seele als Orientierungsfunktion für ein gerechteres Leben zu funktionalisieren: »Nehmen wir nun auch an, es sei nur eine schöne Lüge, ein angenehmer Traum, so liegt doch darin, daß ein sonst so sinnliches Geschöpf so zu lügen, zu träumen, zu schwärmen, diesem Traum sogar die Wirklichkeit zum Opfer zu bringen vermag, eine so geheimnisvolle, erhabne Kraft oder Magie, daß [...] sie doch den Lügner, Träumer oder Schwärmer selbst zu einem noch größern Wunder macht.«35

31 32

33 34 35

kennt, was er gemacht hat, und wir könnten ihm nichts weismachen; wäre dies möglich, es wäre wohl schon längst geschehen«; ebd., S. 407f. Friedrich Maximilian Klinger Der Faust der Morgenländer (wie Anm. 11), S. 98. Friedrich Maximilian Klinger Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (wie Anm. 8), S. 285. Ebd,S. 117. Ebd., S. 105. Ebd., S. 54.

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Im Akt des heroischen Hinausgehens über sich selbst hat Klinger von den trotzigen Rachegeistern seiner frühen Dramen über Faust, der mit »strebende[r], stolze [r] Kraft« den »Augenblick des Genusses«36 sucht, bis in seine späten Betrachtungen die unabdingbare Voraussetzung eines Lebens gegen politischen und sozialen Zwang gesucht. Was Horkheimer in Hinsicht auf Montaigne vermutet, trifft vollständig auf Klinger zu: »Der positive Gehalt der Skepsis ist das Individuum.«37 Auf die skeptische Destruktion einer Vorstellung vom autonomen Subjekt folgt die Notwendigkeit zur Konstruktion des eigenen Ich, zur, wie Richard Rorty und Charles Taylor es nennen: »Selbsterschaffung«, wie immer gebrochen diese auch sei. In Küngers Annahme dieser existenziellen Notwendigkeit hallt deutlich noch der Titanismus der Genie-Zeit nach: Nur der Schwache, Feige, der Nichtdenker und der Charakterlose können sich mit den Wörtern Schicksal, Zufall trösten und über die blinde Wirkung dieser unsichtbaren Gespenster seufzen. Der Mann von Kraft, Charakter, der aus selbstgeschaffenen Grundsätzen handelt, verstattet keinem Luftbilde, keiner Macht außer ihm Gewalt über sich. Er handelt aus sich selbst; er weiß, daß er das Schicksal in sich beherrscht, weil er den Keim zu allem, was ihm widerfahren mag in sich selbst gelegt, entwickelt und durch Tat zum Aufschießen gebracht hat.38

Klinger hat einen Leitfaden für die Behandlung des skeptischen Diskurses in der Spätaufklärung angedeutet, der an die skeptische Balance von Paradoxien gemahnt: »Ich, der ich an keine Wunder glaube, will ein Wunder, an das ich glaube, erzählen.«39 Der Fluchtpunkt eines solchen Wunders ist die Rebellion gegen politische Zwangsverhältnisse, gegen Unterdrückung und Unmenschlichkeit, gewiss aber nicht als Orthodoxie oder Fanatismus, sondern als Perspektive, die sich ihrer Grenzen und Widersprüche bewusst bleibt. Und dass dies nicht auf den Skeptizismus der Spätaufklärung beschränkt ist, dokumentiert einmal mehr E.M. Cioran in einem Fragment aus dem Jahr 1956: Wir sind klarsichtig genug, um geneigt zu sein, die Waffen niederzulegen. Dennoch triumphiert der Reflex der Rebellion über unsere Zweifel. Und wenn wir auch die vollkommensten Stoiker abgeben könnten, der Anarchist bleibt in uns wach und widersetzt sich unserer Resignation. [...] Meine Revolte ist ein Glaube, zu dem ich mich bekenne, ohne daran zu glauben.40

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37

38

39 40

Friedrich Maximilian Klinger: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt (Werke. Historischkritische Ausgabe. Bd. 11). Hg. von Sander L. Gilman. Tübingen 1978, S. 8. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis. In: Μ. H.: Kritische Theorie. Bd. 2 Hg. von Alfred Schmidt Frankfurt a.M. 1968, S. 220. Friedrich Maximilian Klinger. Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (wie Anm. 8), S. 485f. Ebd., S. 49. Emile Michel Cioran: Dasein als Versuchung [1956]. Übersetzt von Kurt Leonhard. Stuttgart 1983, S. 118f.

Matthias Schöning

Der >Dialekt der Fragmente< Möglichkeiten und Grenzen fragmentarischen Schreibens in der Perspektive Friedrich Schlegels

Die Fragmentarier lieben irrationale Sätze.1

1.

Die Begriffe, die sich die Literaturwissenschaften von >der Moderne< machen, setzen bekanntlich alternative Zäsuren: >Querelle des Anciens et des Modernesum 1900< lauten die prominentesten. In ihrer Konkurrenz unterstreichen sie metasprachlich das einzig unstrittige Charakteristikum der bezeichneten Zeit: ihre Pluriversalität.2 Modernität und Moderne sind polemogene Begriffe. Aus dem Streit hervorgegangen und immer -wieder Streit verursachend, ist in jedem Wortgebrauch das trennende, abgrenzende, abwertende, vornehmer: das differenzierende Moment allgegenwärtig, als dessen historischen Siegeszug >die Moderne< sich inszeniert — >die Postmoderne< eingeschlossen. Entdeckt die 1688 ausgetragene >Querelle< allererst die >historische Zeit< als Medium ästhetischer Distinktion, so wendet die Romantik die Einsicht in die »Verschiedenheit des Antiken und des Modernen«3 reflexiv, um 1795, im Zuge der Parallelaktion von Schillers Aufsatz Über naive und sentimentaäsche Dichtung und Schlegels Abhandlung Über das Studium der Griechischen Poesie Zeitlichkeit selbst zum Definiens der Moderne zu machen und die Antike zur in sich zyklisch abgeschlossenen, d.h. vollendeten Epoche. Einige Dekaden später setzt dann im postromantischen Frankreich Baudelaires die programmatische Modernisierung< der Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre I, Fragmente zur Philosophie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18. Hg. von Emst Behler. München/Paderborn/Wien/Zürich 1963, S. 263, Nr. 830. Es werden - mit einer Ausnahme - stets die Texte dieser Ausgabe (abgekürzt als KFSA) zugrunde gelegt, hg. zunächst und vor allem von Emst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner und anderer Fachgelehrter, weitergeführt von Andreas Arndt, München/Paderbom/Wien/Zürich 1958ff. (Die Ausgabe ist noch unabgeschlossen). — Das Zitat im Titel findet sich in Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: KFSA, Bd. 2, S. 363-372, hier: S. 367. Vgl. Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: Konzepte der Moderne. Hg. von G. v. G. Stuttgart/Weimar 1999., S. 1-16. Hans Robert Jauss: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. Wortgeschichtliche Betrachtungen. In: Hans Steffen (Hg.): Aspekte der Modernität. Göttingen 1965, S. 150-197, hier: S. 167.

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Moderne ein, welche die zunächst noch zähneknirschende und für Rückschläge anfällige Selbstbegriindung der Moderne entschieden positiviert und gleichsam auf Dauer stellt, bis sich immer neue Modernen überbieten und »am Ende nur noch von sich selber«4 absetzen, wie allein schon das Mit- und Gegeneinander der nuancenreichen Alternativkonzepte von klassischer, emphatischer oder heroischer Moderne beweist.5 Die Romantik jedenfalls unterliegt der von ihr entfachten Dynamik, wird zur ersten Epoche der Moderne herabgestimmt und beginnt zu veralten.6 Seit ihrer Überwindung kann (und muss) man wissen, dass jedem Kunstprogramm, das ausdrücklich modern sein will, sein Altern von Beginn an eingeschrieben ist. Der Imperativ der ästhetischen Moderne etabliert als Funktion von Erwartungsstrukturen einen Gedächtniszwang, der überall dort sich zeigt, wo Neuheiten, Überbietungen und andere Strategien der Innovation das, wovon sie sich absetzen, zugleich mitanzeigen, um vor den ihrerseits historisch informierten Interpreten als das zu erscheinen, was sie sind oder vielmehr sein sollen.7 Unter den Bedingungen einer unendlichen Selbstreproduktion der Kunst aus Kunst (und bald schon aus artistisch-dezisionistisch aufgegriffener Nicht-Kunst) bemisst sich künstlerische Qualität zu einem Gutteil am Potential, Sichtweisen zu revolutionieren und Neuland zu betreten. Solchem Anforderungsprofil korrespondiert programmatisch die alle Kunstformen übergreifende Auszeichnung offener Werkstrukturen und endloser Kommunikationsprozesse: vom sprichwörtlich unendlichen Gespräch der Romantiker über die Revolutionskünste der historischen Avantgarden bis zu den Schwundformen von Kunstrevolution, die sich mit der Verletzung von literarischen Konventionen und mentalen Scripts begnügen, deren Restitution, ungeachtet zahlreicher De(kon)struktionsbemühungen, wir unserer kognitiven Ausstattung verdanken.

4

5 6

7

Hans Robert Jauss: Art. Antiqui/modemi (Querelle des Anciens et des Modernes). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Darmstadt 1971, Sp. 410-414, hier Sp. 414. Vgl. auch den Beitrag von Gustav Frank und Stefan Scherer in diesem Band. Vgl. auch Carsten Zelle: »Nous qui sommes si moderne, seron anciens dans quelque siecle«. Zu den Zeitkon2eptionen in den Epochenwenden der Moderne. In: Konzepte der Moderne (wie Anm. 2), S. 497-520. Vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1986, S. 126ff.; Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 10. Arthur C. Danto hat auf die Einsicht, dass sich unter Bedingungen der Moderne die Praxis der Kunst mit der Geschichtsphilosophie verschränke, ja von der Philosophie entmündigt werde, seine ganze Kunstphilosophie gegründet; vgl. insbes.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M. 1991, und: Die philosophische Entmündigung der Kunst, übersetzt von Karen Lauer. München 1993. Kritisch dazu: Gerhard Plumpe: Kann man Kunst erkennen? Arthur C. Dantos Ästhetik der Transfiguration. In: Thomas Hecken/Axel Spree (Hg.): Nutzen und Klarheit. Anglo-amerikanische Ästhetik im 20. Jahrhundert Paderborn 2002, S. 152-172.

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modernistischen Moderne< allerdings, d.h. all jener Kunst-, Literatur- und Theorieprogramme, die sich irgendeiner Form von Steigerung verschreiben und die operationalen Bedingungen, Vinter denen sie stehen, nicht nur kennen, sondern formal anzeigen und die Bestätigung ihrer Geltung zum Telos der Werke machen, relativiert sich, wenn man über den Tellerrand der Künste hinausschaut. Das Spezifische ihres Modernismus, die diachrone Dynamisierung der Kommunikation und offensive Ausstellung der Kontingenz, ist nicht zugleich auch das Programm der Wirtschaft, der Wissenschaft oder des Rechts, die sich zu mindestens ebenso einflussreichen Agenturen der Modernisierung ausdifferenziert haben. Ein Vergleich der Formen systemischer Kohärenz zeigt durchaus unterschiedliche Selbstprogrammierungen an, die statt auf modernistische Anzeige auf Invisibilisierung von Kontingenz setzen müssen, um erfolgreich operieren zu können. Auch ist — das gilt nun systemübergreifend — die kalkulierte Kopie der operationalen Erfolgsbedingungen in ein Erfolgsprogramm eine wenig aussichtsreiche Unternehmung, solange intrinsische Motivationen einer Kommunikationsofferte nicht eine spezifische Adresse verleihen.10 In der Perspektive einer sozialwissenschaftlich informierten Hermeneutik der modernen Literatur ist also zu bedenken, dass die programmatische Affirmation von Kontingenz und temporaler Dynamik die Modernität der Moderne zwar semantisch bestärken mag, solche Affirmation in Form und Programm aber für das Gelingen der einzelnen Werke letztlich gleichgültig ist. Mehr noch: auf lange Sicht erweist sich die modernistische Selbstprogrammierung der Kunst als unproduktives Manöver, das normativ getragene Monokulturen pflegt und die Reso8

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10

Friedrich Schlegel: Fragmente. In: KFSA, Bd. 2, S. 165-255, hier: S. 172, A 51, S. 184, A 121, S. 217, A 305. Vgl. vom Verf.: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens. Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, S. 134-148. Daniel Libeskind: Upside Down X. In: D. L.: Kein Ort an seiner Stelle. Schriften zur Architektur-Visionen fur Berlin. Dresden/Basel 1995, S. 14—16, hier: S. 14. Vgl. Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? In: N. L.: Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S. 245-266, hier S. 258f.

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nanz für die Vielgestaltigkeit der Moderne (einschließlich ihrer Schattenseiten) verliert, der sie doch Ausdruck verleihen -will. So erschöpft sich die Avantgarde, die einmal auf die Entdifferenzierung von Kunst und Leben zielte, im systemkonformen Avantgardismus, der seine Leser weniger schreckt als in ihrer elitären Selbstauszeichnung bestätigt und der dadurch ermüdet, dass er vergisst, die Konventionen einmal in anderer Richtung zu durchbrechen. Die einseitige Auszeichnung modemeaffiner Programmpunkte jedenfalls verknappt die ästhetischen Ressourcen ganz unnötig.11 Gegen den Modernismus gerichtet könnte man sagen: Wenn wir uns der Moderne so sicher sein können, wie es der krisenfeste Fortbestand ihrer operationalen Bedingungen anzeigt, dann müssen die Gegenbegriffe nicht länger im Zeichen normativer Modernität ausgeblendet werden, sondern können im Gegenteil in ihrer Gegenstrebigkeit als besondere Leistung Anerkennung finden.

3. In jedem Fall ist es als eine offene Frage zu behandeln, wie viel programmatischer Modernismus zu systemspezifischem Erfolg unter Bedingungen der Moderne eigentlich von Nöten ist. Die konstruktive Selbsterzeugung, die »doppelte Hermeneutik«, wie sie laut Anthony Giddens für Beobachtungen der Moderne charakteristisch ist, bedarf nicht notwendig einer modernistischen oder konstruktivistischen Programmierung.12 Eine moderne Praxis bleiben die Angebote zur Selbstbeschreibung »einer nicht mehr als von außen vorgegeben gedachten Einheit«13 auch dann, wenn sie programmatisch Kritik der Moderne betreiben. Angesichts der substantiellen Unterbestimmtheit der Moderne ist nicht der programmatische Modernismus allein modern, sondern die Dialektik von Modernismus und Anti-Modernismus, die jede soziale Einheit vor die Aufgabe stellt, sich mit historischer Bewußtheit den mangelnden Grund selbst zu verschaffen. Für die Romantik, die erste literaturgeschichtliche Epoche der Moderne, erwächst aus solchem Moderneverständnis das Plädoyer, den Früh- bis Spätphase übergreifenden Romantik-Begriff nicht nur als Nodösung zu begreifen, sondern als echten Epochenbegriff ernst zu nehmen.14 Dass die Romantik im Unterschied

11

12

13

14

Zur Kritik der systemtheoretischen Selbstidentifikation mit der modernen Literatur vgl. Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, S. 3f. und 29ff. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 1995, S. 26. Vgl. auch Gerhart von Graevenitz: Einleitung (wie Anm. 2), S. 13. Heiner Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich. Hamburg 2003, S. 10. Vgl. auch Dedef Kremer: Romantik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003, S. 43-47.

Der>Diakkt

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der Fragnente
zerrissene< Menschen dar, sondern sind an solche insofern adressiert, als sie diese einseitig ansprechen und nur »den unersättlichen Durst nach Stoff«16 befriedigen. Das Ziel der Vollendung in der Vermittlung von Form und Stoff, wie es die Antiken auszeichne und noch für die klassische Ästhetik von Karl Philipp Moritz und Friedlich Schiller formuliert wird, bleibt in Schlegels Wahrnehmung seiner Gegenwart aller Orten uneingelöst.

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16

Friedrich Schlegel: Über die Grenzen des Schönen. In: KFSA, Bd. 1, S. 34-44, hier S. 36 und 37. Friedrich Schlegel· Über das Studium der Griechischen Poesie. In: KFSA, Bd. 1, S. 203-367, hier S. 222.

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Die Richtung, die die Umwertung dieses Mangels nehmen -wird, ist bereits in einer seiner frühesten Arbeiten, dem Aufsatz Über die Grenzen des Schönen vom Mai 1795, angelegt: Dieser Zusammenhang gegen unsere Zerstückelung diese reinen Massen gegen unsere unendlichen Mischungen, diese einfache Bestimmtheit gegen unsere kleinliche Verworrenheit sind Ursache, HaR die Alten Menschen im hohem Stil zu sein scheinen. Doch dürfen wir sie nicht als Günstlinge eines willkürlichen Glücks beneiden. Unsere Mängel selbst sind unsere Hoffnungen: denn sie entspringen eben aus der Herrschaft des Verstandes, dessen zwar langsame Vervollkommnung gar keine Schranken kennt. 17

Wo unendliche Perfektibilität den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen als Geschichtsmodell abgelöst hat, ist Imperfektion nicht ein Resultat unvollkommener Ausführung oder eines bereits überschrittenen Zenits, sie weist vielmehr stets voraus in die bessere Zukunft, der eine noch bessere folgt. Selbst in der Logik des nimmer satten Begehrens, das die »Stachel des Redenden« 18 stumpf werden lässt und immer neue, immer interessantere Stoffe verlangt, ist das Gesetz zu entziffern, das der Moderne ihr Selbstvertrauen gibt: Die Produkte einer von derartigem Interesse angeleiteten Kunst steigern die Gegensätze zu einer Spannung, die verspricht, der Zukunft explosiv Bahn zu brechen. Wenn man diese Zwecklosigkeit und Gesetzlosigkeit des Ganzen der modernen Poesie, und die hohe Trefflichkeit der einzelnen Teile gleich aufmerksam beobachtet: so erscheint ihre Masse wie ein Meer streitender Kräfte, [...] welches gleich dem alten Chaos, aus dem sich [...] die Welt ordnete, eine Liebe und einen Haß erwartet, um die verschiedenartigen Bestandteile zu scheiden, die gleichartigen aber zu vereinigen. Sollte sich nicht ein Leitfaden entdecken lassen, um diese rätselhafte Verwirrung zu lösen, den Ausweg aus dem Labyrinthe zu finden?19

Schlegel hat diesen selbst gestellten Anspruch, einen »Leitfaden« zu finden, bald wieder aufgegeben und das Szenario schon im nächsten Kapitel dahingehend verändert, dass die »Krise des Geschmacks« nur durch einen »plötzlichen Sprung« überwunden werden könne, »der sich mit dem steten Fortschreiten [...] nicht wohl vereinigen«20 und durch keinen Erzähl faden binden ließe. Wegen dieses Theorieproblems, wie man sich die Einlösung des Versprechens denken soll, dass das Durcheinander der Gegenwart eine neue Weltordnung berge, ändert er aber weder seine Diagnose noch seine Bewertung. Bleibt auch die Genesis, die das Material der Moderne zu einem neuen Kosmos ordnet, eine zweifelhafte Hoffnung, so hält er jedenfalls an der Einschätzung fest, dass dem Chaos der Gegenwart eine Steigerung des Potentials korrespondiert, dank dessen sich die erste und die letzte Phase seiner dreistufigen Geschichtsphilosophie qualitativ unterscheiden sollen.

17 18 19 20

Friedrich Schlegel: Über die Grenzen des Schönen (wie Anm. 15), S. 35. Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie (wie Anm. 16), S. 223. Ebd., S. 223f. Ebd., S. 254 und 255.

Der >Dialekt der Fragmente*?

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Wer einstweilen auf Vollendung verzichtet, wird mit der Steigerung des Potentials belohnt. So ließe sich die Diagnose zum etwas ökonomistischen Merksatz verdichten, der auch darin modern ist, dass er sich von seinen Entstehungsbedingungen abkoppelt und seine Denkvoraussetzungen einfach offen lässt. 5. Der programmatische Fragmentarismus kann an diese Gründungsurkunde der Frühromantik direkt anschließen. Wenn »die Herrschaft des Interessanten«21 durch eine Logik der Überbietung gekennzeichnet ist, müssen sich doch — so ließe sich die Motivation der Akteure reformulieren — Formen finden lassen, die der entfesselten Dynamik entsprechen und ihre weitere Evolution unterstützen. Das Fragment, »die reine Form der Classicität und Progressivität und Urbanität«, ist der wohl prominenteste Terminus in dieser Hinsicht,22 dessen theoretischer Geltungsbereich sich weit über die äußere Form von Fragment und Fragmentsammlung erstreckt.23 Zu den bekanntesten poetologischen Fragmenten, die das Programm des Fragmentarismus in fragmentarischer Form explizieren, gehört das 24. Stück der in der Zeitschrift Athenaeum 1798 erschienenen Sammlung primär Friedrich Schlegelscher Kleinsttexte mit dem lapidaren Titel Fragmente: Viele Werke der Alten sind Fragment geworden. Viele Werke der Neuem sind es gleich bei der Entstehung.24

Es lohnt, sich dieses Fragment A 24 ein wenig genauer anzusehen, denn es enthält eine Theorie moderner Literatur und Literaturgeschichte >in nucerestidealistischen< Festhalten an einem als chaotische Fülle interpretierten Absoluten wenigstens aus »Liebhaberey«30. Im wahrsten Sinne zugespitzt wird im >FragmentDialekt der Fragmnte
West-östlichen DivanProjekts< vgl. Georg Stanitzek: Der Projektmacher. Projektionen auf eine unmögliche Kategorien In: Ästhetik & Kommunikation 17 (1987), H. 65/66, S. 1 3 5 146, und Ulrich Bröckling: Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform. Ms. Konstanz (März 2005) 22 S. Friedrich Schlegel: Fragmente (wie Anm. 8), S. 168f., A 22. Vgl. auch die Vorlage zu diesem Fragment in Schlegels »Philosophischen Fragmenten« von 1797; F. Sch.: Philosophische Lehrjahre I (wie Anm. 1), S. 92, Nr. 750. Weitere Belege für den Zusammenhang von Fragment und Projekt: ebd., S. 46ff., Nr. 285, 298f., 301 und 308, S. lOOff., Nr. 857 und 880.

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lichkeit zuwächst, ist insofern vollauf gerechtfertigt. War das Fragment aus der Vergangenheit ehemals reicher, so wird das Fragment aus der Zukunft, das Projekt, es künftig einmal sein. Ein letzter Unterschied bleibt allerdings. Die Fragmente aus der Vergangenheit sind fragmentarisch im Modus der Faktizität. Die Fragmente aus der Zukunft sind es nur im Modus der Potentialität. Ihr Potential ist ein Versprechen, über dessen Einlösung die literarische Evolution allererst entscheiden wird. So erklärt sich, warum es im Fragment A 24 hieß, dass lediglich y>viek Werke der Neuern [...] gleich bei der Entstehung« (Hervorhebung, M.S.) Fragmente seien, keineswegs aber alle. Fragmentarität im modernen, zukunftsorientierten Sinne ist zugleich ein Wertbegriff. Ihrer Intention nach voll realisierten Texten den Titel des Fragments zu verleihen, das heißt, ihnen das Potential zuzuschreiben, von Interpreten einmal besser verstanden zu werden als von ihren Verfassern.

7. Fasst man zusammen, was das Fragment A 24 in komprimierter Form enthält, so erhält man die Unterscheidung von drei Bedeutungsebenen des Terminus Fragmente 1. bezeichnet dieser Ausdruck - im eigentlichen Sinne gebraucht - einen vielgestaltigen Texttyp, der entweder unwillkürlich entsteht36 oder ausdrücklich deklariert wird. Im zweiten Fall erhält die Zuschreibung eine gewisse intuitive Evidenz durch Kürze. Außerdem grenzen Fragmente sich gegen andere Kleinformen insbesondere durch Reflexivität und forcierten Witz ab, verstanden als schlaglichtartige Beleuchtung des Vergleichbaren im Differenten. Wenn es auch de facto immer in Sammlungen auftritt, hat das einzelne Fragment insofern doch zunächst einmal einen insularen Charakter, der es möglich macht, ganz bei ihm allein zu verweilen, bevor dann die Suche nach Material zur Füllung seiner Leerstellen die Herstellung von thematisch geführten Korrespondenzen mit anderen Fragmenten antreibt, ohne die von Schlegel gelegentlich in Aussicht gestellte Möglichkeit systematischer Ordnung auch nur annähernd erreichen zu können. Unabhängig von der in die Paradoxie ausweichenden Programmatik ist festzustellen, dass solche Fragmentsammlungen, als Text betrachtet, lediglich lose verknüpfte Reihen bilden, ohne Tendenz zur sei es textuellen, sei es ornamentalen Schließung. Die syntagmatische »Sammlungsordnung nimmt fast nie Rücksicht auf die Sinnbezüge der im Einzelstück«37 skizzierten Perspektiven und unterstützt so den digressiven Charakter des modernen Fragmentarismus.

34

37

Verschiedene Formen und Ursachen bruchstückhafter Überlieferung unterscheidet Ernst Behler: Das Fragment In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Tübingen 1985, S. 125-143. Gerhart von Graevenite Das Ornament des Blicks (wie Anm. 31), S. 160.

Der>Dialekt der Fragmentes

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2. verweist der Ausdruck auf die Bedingungen moderner Uteraturhommunikation, wie sie im >StudiumFragments< ein positives ästhetisches Orteil. Die operationalen Bedingungen der Moderne werden nicht nur als unabänderliche Voraussetzungen akzeptiert, sondern affirmiert und zu einem programmatischen Fragmentarismus gesteigert. Texte, die das Gesetz der Moderne, unter dem sie zwangsläufig stehen, ausdrücklich begrüßen, ja feiern, indem sie es symbolisch an sich vollziehen, können der ästhetischen Wertschätzung der frühen Romantiker sicher sein, die hier eine Vorreiterrolle spielen für die zunehmend radikale Affirmation der Brüche und Abgründe, der Krisen und Kollapse im Prozess nicht nur der ästhetischen Moderne. Ihren synthetischen Sinn erhalten diese drei Begriffsdimensionen im Zusammenhang einer frühromantischen Theorie moderner literarischer Kommunikation, zu der auch die romantische Ironie39, der Begriff der Kritik40 und die programmatische Unverständlichkeit41 gehören — mit all ihren Filiationen. Im Gegensatz zu den Ästhetiken des Deutschen Idealismus hat keiner der Frühromantiker eine solche Theorie vorgelegt.42 Jedoch hat Schlegel immerhin ein Netzwerk von Begriffen mit einem so konsistenten Verweisungszusammenhang geschaffen, dass

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Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung des deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992, S. 240. Vgl. nur Franz Norbert Mennemeier: Fragment und Ironie beim jungen Friedrich SchlegeL In: Poetica 3 (1968), S. 348-370; wieder abgedruckt in: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Ts. 1980, S. 229-250. Vgl. nur Heinz-Dieter Weber. Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie. Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert. München 1973, S. 234. Vgl. nur Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit Frankfurt a.M. 2000, S. 159ff. Detlef Kremer: A r t (Literaturtheorien der) Romantik. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 1998, S. 468-471, hier: S. 468.

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die Theoriebausteine seiner Arbeiten der Jahre 1797—1800 als performativ angemessene Statthalter einer solchen interpretiert werden können.43 Im Kern - und abgesehen vom philosophischen Überschuss44 — handelt es sich dabei um eine Konzeption von Literatur, welche die im Vergleich mit der Antike beobachtete Dynamik in eine Ästhetik des Unvollkommenen übersetzt. Das Skizzenhafte, Einseitige oder Übertriebene wird — systemtheoretisch reformuliert — mit dem Argument aufgewertet, dass nicht Perfektion, sondern Imperfektion Anschlusskommunikation provoziert und das Gesetz der Moderne erfüllt, indem derartiges den Bedarf an kommunikativen Fortsetzungen schürt, anstatt Befriedigung zu gewähren: Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andere Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. [...] Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.45

Der Willkür des Autors begegnet die Hartnäckigkeit des Lesers, der aus der niemals vollständig zergliederten Dichtung immer neue Brocken Sinn bricht: Es wird sich auch hier bewähren, was ich in prophetischem Geiste in den ersten »Fragmenten< als Maxime aufgestellt habe: »Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.« [...] Noch viel verborgne Unverständlichkeit wird ausbrechen müssen.4*'

Das Prinzip der Imperfektion gilt also für alle Positionen literarischer Kommunikation, für Autor, Werk und Leser gleichermaßen. Autoren pendeln ruhelos zwischen »Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«47, ihre Werke sind formal betrachtet fragmentarisch im explizierten Sinn und inhaltlich gesehen — wie angedeutet — >unverständlichOiakkt der Fragnente
FragmentOialekt der Fragmente'

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zei, (wenn der Handelsstaat völlig geschlossen, und selbst der Paß der Reisenden mit einer ausfuhrlichen Biographie und einem treuen Portraitgemälde versehen sein wird) ein Roman schlechtweg unmöglich sein würde, weil alsdann gar nichts im wirklichen Leben vorkommen könnte, was dazu irgend Veranlassung, oder einen wahrscheinlichen Stoff darbieten würde. Eine Aussicht, welche so sonderbar sie lautet, doch in Beziehung auf jene verfehlte Gattung nicht ohne Grund ist.55

Ich habe dieses Beispiel nicht nur gewählt, weil es so schön, ja man muss schon sagen, so frappierend (und mithin so modern) ist, sondern auch, weil in der Konfrontation von offener Form und geschlossenem Handelsstaat Schlegels vormalige Theorie der Moderne unter veränderten Vorzeichen wieder aufruft. So ist das Fichtesche Apercpu, das Schlegel hier weitergibt, gar nicht »sonderbar«. Das Polizeiwidrige des Romantischen ist dessen Disposition zum schlechten Unendlichen der werkinternen Digression einerseits und uniimitierten Zirkulation andererseits, die seine bevorzugten Gattungen, Roman und Fragment(sammlung), miteinander teilen. Hier bestätigt sich noch einmal, dass nicht Länge oder Kürze, sondern die Alternative von kommunikativer Öffnung und monumenthafter Schließung das romantische Feld poetologischer Reflexion strukturieren, so dass die Gründe fur das konjunkturelle Auf und Ab der einzelnen Formen in der Umwertung der Moderne gesucht werden müssen, die diese Alternative trägt.

11.

Vieles spricht dafür, dass Schlegel einfach konservativ geworden ist — vom Anwalt der Revolution zum Innenminister sozusagen. Doch selbst wenn es so wäre: die Frage, wogegen sich sein zunehmender Anti-Modernismus insbesondere richtet, erübrigt sich damit nicht. Denn wenn auch viele ganz zufällige und private Dinge Schlegels Wende motivieren, die außerbiographisch ohne Belang sind: wer so tiefe Einblicke in die Verfassung der Moderne genommen hat, von dem dürfen wir erwarten, dass noch seine programmatische Abkehr von ihr unser Wissen über sie bereichert. Einen wichtigen Fingerzeig gibt seine Reise nach Frankreich im Jahr 1803, also genau in jenem Zeitraum, in dem Schlegels Umorientierung sich zu vollziehen beginnt. Die Reise ist ein Schock, wenn man Schlegels Darstellung folgt. Die eingebildete Modernität des Ironikers scheint an der realen Erfahrung großstädtischen Handelns und Treibens zu zerbrechen. Auszuhalten scheint sie für ihn lediglich in bestimmten Rückzugsräumen zu sein, im Museum eben, beim Sanskrit-Lemen, im Rahmen seiner Vorlesungen oder sonstiger im eigenen Hause veranstaltetet Geselligkeiten.56 Außerhalb dieser Inseln sieht man sich in Schle55 56

Friedrich Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur. In: KFSA, Bd. 6, S. 275. Vgl. Irina Hundt: Geselligkeit im Kreise von Dorothea und Friedrich Schlegel in Paris in den Jahren 1802-1804. In: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin/New York 1997, S. 83-134.

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gels Paris »vergeblich um nach jener unbefangnen, absichtslosen, naiven und herzlichen Geselligkeit, die dem so leicht ein Bedürfnis -wird, der sie einmal gefühlt hat.« Vollends draußen, auf den Straßen, das gilt auch fiir andere französische Städte, herrscht ein »Gedränge und Schauspiel«, bei Dunkelheit wohlbeleuchtet, das der Sinnlichkeit alles bietet, »aber nichts für die Phantasie«: In einer Mittelstadt wie Metz z.B., die bedeutendste, die wir zwischen Mainz und Paris sahen, sieh[s]t Du Boutique an Boutique in allen Straßen, und kaum ist ein Haus davon ausgenommen; alles scheint ein Gewerbe zu sein, alles geschieht auf der Straße oder ist nach der Straße zu ausgestellt, und das Leben scheint aufgelöst in ein allgemeines Kaufen und Verkaufen, Verzehren und Zubereiten. [...] Eine solche enge französische Straße voll Handel und Wandel, Poissarden und Parfümeurs, Ausrufer und Traiteurs, Schuhputzer und prächtiger Boutiquen, ist gleichsam eine lebendige bewegliche Gallerie niederländischer Gemälde. So ist der ältere Teil von Paris beschaffen [...]57

Die rasante Zeit, das Altwerden des Neuen, die Vulgarisierung des Delikaten und — auf der Seite der Rezipienten/Konsumenten — die Abstumpfung gegenüber jedem Reiz, der nur ein wenig andauert, all das, was von der Literatur als dem >Laboratorium der Moderne< entwickelt und reflektiert wurde58 und in Deutschland bislang auch auf diesen Bereich beschränkt blieb, hat in Frankreich vom ganzen Leben Besitz ergriffen, so erscheint es Schlegel.59 Und drei Jahre später, in seinen Briefen auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweif und einen Teil von Frankreich heißt es: Draußen im Leben [...] ist [alles] nur auf den bequemsten Genuß gestellt, wie zum eilenden Raube des flüchtigen Tages, und die allgemeine Formlosigkeit des Daseins, der Gebäude und Kleidungen, wie aller Gebilde und Zierden des Lebens, wird nur hier und da unterbrochen durch die schimmernden Einfalle und eigensinnigen Launen der schnell wechselnden Mode.60

Schlegel macht auf seinen Reisen die bedrängende Erfahrung, dass die von ihm selbst diagnostizierte Dynamik der Moderne auf der Rückseite ihrer befreienden Entfesselung der Künste von regelpoetischen Normen eine Trivialisierung des Interessanten betreibt, deren Folge nicht eine unendliche Vervollkommnung ist, sondern ein fades »Zeitalter der Unaufhörlichkeit«61, in dem das Fragment nur noch eine Formlosigkeit unter anderen darstellt, die sich ganz der Ökonomie der dringlichen Reize gegen permanente Sättigung verschrieben haben.

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Friedrich Schlegel: Reise nach Frankreich. In: KFSA, Bd. 7, S. 56-79, hier: S. 69f. Vgl. Friedlich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie (wie Anm. 16), S. 223. Vgl. vom Verf.: Ironieverzicht (wie Anm 8), Kap. 5.2. Friedrich Schlegel: Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich. In: KFSA, Bd. 4, S. 153-204, hier: S. 203; dabei handelt es sich allerdings um einen Zusatz der Ausgabe: Friedrich Schlegels sämmtliche Werke. Wien 1820ff. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder (wie Anm. 7), S. 229 (unter Rückgriff auf Gottfried Benn).

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Der >Dialekt der Fragment« 12.

Als Konsequenz schwört er dem programmatischen Modernismus ab, w o er kann. — Wo er kann! Für eine solche Einschränkung spricht, dass seine eigentliche Diagnose der Moderne von der programmatischen Kehrtwende unangetastet bleibt. Schlegel kehrt weder zum Lobpreis der Antike zurück, noch macht er irgendwelche Versprechungen hinsichtlich der Überwindung der die Moderne konstituierenden Zeitlichkeit. Stattdessen sucht er einerseits nach neuen Ressourcen, insbesondere fem-östlichen, die von der europäischen Zwei-Phasen-Geschichte aus vergangener Antike und penetranter Moderne unbelastet sind, und setzt andererseits seiner neuen Programmatik das Ziel, bremsend, verzögernd auf die Moderne einzuwirken. So wertet er in der selben Beschreibung seiner Reise nach Frankreich die bereits im Studium-AuiszXz diagnostizierte Verspätung Deutschlands um. (Dabei kommt weniger ein gesteigerter Nationalismus zu Vorschein — Deutschlands Verspätung war damals bereits seine Chance und ist es für Schlegel noch immer —, sondern ein Antimodernismus, der weiß, dass er es mit einem europäischen Phänomen 6 2 zu tun hat und einer Moderne, die gegenüber solchen Unterschieden indifferent ist.) Angesichts der Einsicht in die Zukunft der Moderne, deren Folgen in Frankreich bereits sichtbar geworden sind, gilt es, an der Verspätung festzuhalten, am besten sie zu steigern, um das Alte, das in der scheinbaren Unzeitgemäßheit der eigenen Anciennität überlebt hat, zu revitalisieren. Die Moderne soll gestoppt, wenigstens aber gebremst werden, und dazu bedarf es historischer Gewichte, die sich von den kurzen Rhythmen der Moderne so leicht nicht verrücken lassen. Als Faustpfand einer Umkehr der Zeiten sind deutsche Altertümer und deutsche Landschaft deshalb unersetzbar: Die Reise [...] führt durch größtenteils angenehme und mannigfaltige, ja sogar schöne Gegenden, aber keine derselben kommt dem Eindrucke gleich, welchen die Wartburg Eisenach mir gegeben hat. [...] Nur der Rhein hat noch einen gleichen Eindruck auf mich machen können. Aber weder von der einen noch von der anderen wirst Du eine geographische Beschreibung von mir erwarten, die auch wohl überflüssig wäre. [...] Man fühlt es recht und glaubt es zu verstehen, beim Anblick solcher Felsenschlösser, wie die Wartburg, warum die Alten auf den Höhen des Landes in ihren Burgen lebten und welche Lebensfreude damit verbunden war. Seitdem nun die Menschen herabgezogen sind zueinander und sich alles um die Landstraßen versammelt hat, gierig nach fremden Sitten wi[e] nach fremdem Gelde, stehen die Höhen und Burgen verlassen und die Kunst scheint verloren, dieses herrliche Land auf die angemessenste Art zu bewohnen und zu beherrschen. 63

E s ist vor allem eine Vision, an der Schlegel sich hier berauscht. Wie seine Pariser Vorlesungen zur Literaturgeschichte deutlich zeigen, weiß er über die deut-

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Friedrich Schlegel: Reise nach Frankreich (wie Anm. 57), S. 72: »Gegen diese europäische Gleichheit verschwinde in der Tat jeder Nationalunterschied« Ebd., S. 57f.

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sehe Literatur des Mittelalters zu dieser Zeit eigentlich noch nicht viel zu sagen.64 Um so aufschlussreicher sind seine Entwürfe, wenn man sein Bild von der nachantiken und insofern auch schon modernen Literatur des Mittelalters als programmatisch motivierte Antwort auf die fortgeschrittene Moderne interpretiert. Darin drückt sich 1803 nicht nur antinapoleonische Gesinnung und Tendenz zum Katholizismus aus, sondern, amalgamiert mit diesen, eine alternative Literaturtheorie. Legt man nur das letzte Zitat zu Grunde, so fällt vor allem die Achsendrehung auf, die Schlegel als charakteristische Differenz zwischen Gegenwart und Mittelalter behauptet. Während die Gegenwart in der Horizontalen siedelt, die durch allgemeinen und reibungslosen Verkehr und monetäre Zirkulation bestimmt wird, kennzeichnet die Vorzeit eine vertikale Ordnung, in der die Kunst blüht, weil sie gerade nicht dem Diktat der Zirkulation folgt, sondern — so kann man nur mutmaßen — die Höhe des ritterlichen Lebens mit dem Höchsten verbindet. Geht es dort um kommunikativen Erfolg, kurz: Gewinn, so hier um das Heil.65

13. Zur Beantwortung der Frage, auf welcher der drei herausgearbeiteten Ebenen Schlegels Revision seiner modernistischen Frühphase eigentlich stattfindet, lässt sich nur sagen: auf allen programmierbaren Ebenen. Als Texttyp verliert das Fragment seine publizistische Attraktivität und fungiert nur noch als private Notiz. Es büßt seine Spitzenstellung als performativ gedecktes Reflexionsmedium ein und verliert an Profil (9). Wertästhetisch erleidet der Fragmentarismus parallel zur Romankunst eine vollständige Entwertung. Der vormals positiv beurteilten Akkommodation an die Moderne werden staatliche Exekutivorgane an den Hals gewünscht (10). Mit Blick auf die kommunikativen Grundverhältnisse moderner Literatur wird die Lage verwickelter. Ästhetischem Seitenwechsel und publizistischer Zurückhaltung entspricht kommunikationstheoretisch ein Antimodernismus (11), der an den Verhältnissen, denen er — gemäß frühromantischer Diagnose — kommunikationspraktisch unterliegt, gerne manches ändern würde. An Schlegels Einsicht, dass die Reichweite aller Theorie dafür nicht langt, zeigt sich der Stellenwert seiner eigenen Reflexion der beginnenden Moderne. 64

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Vgl. Hans Eichners Vorwort zu: Friedrich Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur (wie Anm. 55), S. XIX, sowie Edith Hölthenschmidt Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 58. Vgl. auch Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre II. Fragmente zur Philosophie. In: KFSA, Bd. 19, S. 33, Nr. 303: »Die Ritterzeit überhaupt die Blüthezeit der insgesamt europäischen] Geschichte - Christus und die deutschen Helden, von denen ist alles Gute gekommen.« Vgl. auch Heinz Härtl: Friedrich Schlegel und Lessing. In: Wissenschaftliche Zeitung der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 31 (1982), S. 561-567, hier: S. 565.

Der>Dialekt

derFragmente
transzendentalpoetischeKritik< der modernen Literatur keine Frage von Inhalten, wie seine Konfrontation der religiösen Literatur Lamartines mit den modernen Produktionsbedingungen zeigt, sondern eine Frage der nach Leistungserwartungen spezifizierten Programmierung der modernen Operativität literarischer Kommunikation. Es käme ihm wohl auf eine Literatur an, die sich nicht zuvörderst um ihre literaturgeschichtliche Innovativität sorgt und auf eine Poetik des Fragmentarischen deshalb programmatisch verzichtet.70 68

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Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. Joseph von Eichendorff: Zur Geschichte der neuem romantischen Poesie in Deutschland. In: J. v. E.: Werke. Nach den Ausgaben letzter Hand bzw. den Erstdrucken. Bd. 3. Textredaktion Marlies Korfsmeyer. München 1976, S. 9-50, hier: S. 30f. Siehe auch, z.T. identisch: Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland (ebd., S. 51-77), sowie ausführlicher in: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands von 1857 (ebd., S. 529-925, hier: S. 775f. und 779). Vgl. auch Emst H. Gombrich: Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee. 2 Aufl. Köln 1987, S. 117: »Es scheint mir, daß das wachsende Bewußtsein davon, daß wir den Mut haben müssen, jeweils nach der Legitimation eines Fortschrittsbegriffs zu fragen, sich auch auf die Kunst auswirken wird. Nirgendwo ist es dringlicher [...], Distanz zu gewinnen und uns zu fragen, was wir eigentlich von der Kunst wollen. Die gedankenlose Anbetung jeder Neuerung kann nie die menschlichen Werte ersetzen, auf denen auch die Kunst ruhen muß.« — Um auch hier die Balance zu wahren, vgl. dagegen Jean-Luc Nancy: Die Kunst - Ein Fragment. Übersetzt von Jean-Pierre Dubost. In: J.-P. D. (Hg.): Bildstörung Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 1994, S. 170-184, hier: S. 170.

Christian Jäger

Vom Sudelbuch zum aphoristischen Zeitalter Über den Funktionswandel der aphoristischen Produktionen zwischen Lichtenberg und Feuchtersieben

1. Prolegomena zu Begriff und Geschichte der Aphoristik Ist schon das Textfeld kurzer bzw. Kleiner Prosa nur grob zu strukturieren und impliziert es eine Vielzahl von Textsorten: Essay, Brief, Anekdote, Kalendergeschichte, Fabel, Denkbild, so ist der ebenfalls implizierte Bereich der Aphoristik auch noch diffus bestimmt: Sentenz, Bemerkung, Maxime, Gnome, Reflexion, Gedankensplitter, Dornenstück, Fragment, Denkspruch etc. Aphorismen besitzen viele Namen, und nahezu jeder Aufsatz, jede Monographie, die sich grundsätzlicher mit ihnen befasst, fuhrt eine Reihe von Namen auf, stellt sie an den Anfang, um dann mit der begrifflichen Klärung zu beginnen: Solche Reihungen dienen gemeinhin entweder der Eingrenzung des Begriffs oder dem Verzicht auf ein solches Unternehmen, was zunächst einmal eigenartig anmutet, stammt doch der Ausdruck vom griechischen αφοριζειν, das meint ungefähr >eingrenzenumreißenbestimmenknappKotextuelle Isolation^ >Prosaform< und >Nichtfiktionalität< die [...] vier alternativen Merkmale >EinzelsatzKonzisionoriginärer< Aphorismen enthalten. Ich ziehe es vor, nicht nur auf eine eingeengte Bedeutung zu verzichten, sondern zudem den Begriff selbst fallen zu lassen, da er ja kaum zur Gattungsbestimmung taugt, und wähle statt dessen die Bezeichnung aphoristische Produktion^ Gattungsbegriffe erfordern einen >Satz< fester Konstituenten, die immerhin einen Rahmen fesdegen, innerhalb dessen die Sachverhalte der Gattung zuzurechnen sind, während sie bei Überschreitung desselben eben einer anderen Gattung zugehören. Für Aphorismen lautet eine weitere Gattungsbestimmung bspw. so: »Ein Aphorismus ist die komprimierte, pointierte und polar gespannte Formulie-

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Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart 1984, S. 10. Ebd., S. 14. So resümierend Friedemann Spicker Aphorismen über Aphorismen. Fragen über Fragen. Zur Gattungsreflexion der Aphoristiker. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 161-198. Zuvor: Giulia Cantarutti: Zehn Jahre Aphorismus-Forschung. In: LichtenbergJahrbuch 1990, S. 197-224. Dagegen aber Stephan Fedler: Der Aphorismus. Begriffsspiel zwischen Philosophie und Poesie. Stuttgart 1992.

Vom Sudelbuch %um aphoristischen Zeitalter

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rung eines subjektiven, in sich selbständigen, über sich hinausweisenden Gedankens in aussparend darstellender Kunstprosa.«4 Ohne das Widersprüchliche und Unpräzise auch dieser Definition darlegen zu wollen, so verdeutlicht sie doch exemplarisch die Differenz zwischen den Bestimmungsversuchen und dem Gemeinten. Ein Gutteil der historisch frühen aphoristischen Produktionen enthält mehrheitlich keine derartige Kunstprosa. Zu finden ist vielmehr ein wüstes Durcheinander von Textformen: Exzerpte, Anmerkungen, Notizen, sogar Skizzen, gedrechselte Wendungen und schmucklose Gedankenfragmente und eben Sentenzen, Maximen und Aphorismen im engeren Sinn. Was die aphoristische Produktion vorderhand auszeichnet, ist eine relative Knappheit — selten finden sich Aufzeichnungen, die mehr als zwei Seiten umfassen — und die ungebundene Form. Dieser Minimalanspruch fuhrt im weiteren zum Verzicht auf weitere Definitionsversuche und zu einem anderen methodologischen Ansatz: Gefragt wird nach der Funktion der Texte, die irgendwann einmal als Aphorismus bezeichnet wurden. Gibt es etwas, was sie in der Zeit verbindet? Ist ihre Ausrichtung schwerpunktmäßig zu erfassen? Existieren gehaltliche Häufungen, die signifikant unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge und Aussageintentionen beschreibbar werden lassen? Schwierig zu belegen ist die damit implizierte Vorstellung, es handle sich bei Aphorismen um Gedanken, um Abstraktionen, Theorieelemente oder -kerne. Oftmals grenzen die Texte an tagebuchartige Aufzeichnungen, bieten Anmerkungen zu Lesefrüchten, Kunsterlebnissen, Alltagsbegebenheiten, historischen Ereignissen sowie zu historisch bedeutsamen und unbedeutenderen Personen. Kurzum, zumindest die ersten aphoristischen Produktionen sind — mit Lichtenberg zu sprechen — schlechterdings mehr Sudeleien, denn irgendeine Gattungsform. Ihr Charakter entspricht eher privaten Niederschriften, die Vorstadien und -Studien späterer möglicher Veröffentlichungen sind. Dennoch kann man von einem Bezug auf die zeitgenössischen Theoriebestände ausgehen sowie von dem jedem Individuum inhärenten Drang, ein einigermaßen kohärentes Weltbild ohne allzu offensichtliche Widersprüche zu besitzen. Auf diese Weise impliziert aphoristische Produktion trotz ihres >sudeligen< Charakters ab ovo den Aspekt des Theoretischen im alten Sinne der >theoria< als Weltschau. Setzen wir als Beginn solch aphoristischer Produktionen den Beginn der Lichtenbergischen Hefte 1765, da keine weiteren vergleichbaren Texte bekannt sind, befinden wir uns in einem Zeitraum, dessen Textproduktion von Zensur bestimmt wird. Und wie immer handelt es sich um eine mindestens doppelte, deren äußerer Pol die öffentliche Verfolgung politisch-moralisch unbotmäßigen Schrifttums mit entsprechenden Sanktionen markiert, während andererseits eine intraGerwin Marahrens: Über eine Neudefinition der Goetheschen Aphoristik. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 297-320, hier: S. 304. Der Verfasser schlägt diese eigene Neudefinition als abschließendes Resümee nach dem knappen Referat von vierzig Jahren Forschungsgeschichte vor.

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psychische Kontrolle die Texte in Bezug auf die äußerlichen Anforderungen und Beschränkungen gestaltet. In dieses Feld zwischen institutioneller und SelbstZensur wagt sich programmatisch die Aufklärung, spitzt gegen beide Pole die Feder und sucht zu klären, warum bestimmte Äußerungen scheinbar nicht möglich und in jedem Fall nicht statthaft sind. Die private Niederschrift, die keinerlei formale und kaum inhaltliche Schranken kennt, erweist sich vor diesem Hintergrund als Experimentieren, als Erprobung und Erforschung — nun nicht so sehr der Außen- oder Innenwelt, sondern zuallererst der Schriftwelt. In Frage steht, was man wie schreiben kann.

2. Das Expertmentallabor der Aufklärung Ich verführte ihn erst und dann zerschnitt ich ihm das Gesicht, so ist die Kerbe auf beiden Stücken des Kerbholzes, und Leib und Seele können sich leichter zusammen finden.5 Theorie des Autorwesens. Das beste Leben aller Dinge ist: Vögeln und gevögelt werden. Die Seele ist hierin eine Quintessenz von Spatz. Kaum hat sie empfunden, so will sie es schon wieder in einer Jottissance von sich geben. [,..]6

Drastisch ist die aphoristische Produktion vor 1800 und doch nicht unreflektiert, das Erotische wird durchaus in seinem Bezug zur Kultur bedacht — wenn auch auf unterschiedliche Weise: Jedermann sollte wenigstens so viel Philosophie und schöne Wissenschaften studieren als nötig ist, um sich die Wollust angenehmer zu machen. Merkten sich dieses unsere Landjunker, Hof-Kavalier, Grafen und andere, sie würden oft über die Würkung eines Buchs erstaunen. Sie würden kaum glauben wie sehr Wieland den Champagner erhöhet, seine häufige Rosenfarbe, sein Silberflor, seine leinenen Nebel würden ihnen selbst den Genuß eines guten elastischen Dorf-Mädgens mehr sublimieren.7 Was sind die Wirkungen der Mahlerey und der Bildhauerkunst gegen die der Musik und Poesie durch alle Zeiten! Höchstens ein nackend Mädchen gevögelt, und einen Priap in die Fotze gesteckt von einer brünstigen, das ist alles. Dieß thut eine manntolle oft an der Bettpfoste, und ein wüthender Kerl mit einem Stück Speck.8

Predigt der eine Aphoristiker die ars erotica, die Foucault später bei den Griechen suchte, so wird der andere zotig, indem er Musik und Poesie der Banalität des Sexes oder der Malerei und Bildhauerkunst gegenüberstellt. Allein, es ist nicht das pornographische Hinterstübchen, die Dunkelkammer des Begehrens, die hier

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Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. 1 und 2 (Sudelbücher I und II). 3. Aufl. München 1980 (Bd. 1); 3. revidierte Aufl. München, Wien 1991 (Bd. 2), J 389. Johann Jacob Wilhelm Heinse: Aphorismen. In: J. J. W. H.: Sämmtliche Werke. Bd. 8. [1]. Hg. von Albert Leitzmann. Leipzig 1924, S. 17. Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher (wie Anm. 5), Β 41. Johann Jacob Wilhelm Heinse: Aphorismen (wie Anm. 6), S. 487.

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geöffnet wird, es ist der zensurfreie Raum des Selbstversuchs, um den es geht. Und ist von Zensur die Rede, liegt das Politische nicht fem: Kein Fürst wird jemals den Wert eines Mannes durch seine Gunst bestimmen, denn es ist ein Schluß, der nicht auf eine einzige Erfahrung etwa gegründet ist, daß ein Regent meistens ein schlechter Mann ist Der in Frankreich backt Pasteten und betrügt ehrliche Mädgen, der König von Spanien haut unter Pauken und Trompeten Hasen in Stücken, der letzte König in Polen der Kurfürst in Sachsen war schoß seinem Hofnarren mit dem Blasrohr nach dem Arsch [...]; die meisten übrigen Beherrscher dieser Welt sind Tambours, Fouriers, Jäger. Und dieses sind die Obersten unter den Menschen; wie kann es denn in der Welt nur erträglich hergehen; was helfen die Einleitungen ins Kommerzien-Wesen, die arts de s'enrichir par l'agriculture, die Hausväter, wenn ein Narr der Herr von allen ist, der keine Oberen erkennt, als seine Dummheit, seine Caprice, seine Huren und seinen Kammer-Diener, ο wenn doch die Welt einmal erwachte, und wenn auch drei Millionen am Galgen stürben, so würden doch vielleicht 50 bis 80 Millionen dadurch glücklich; so sprach einst ein Peruquenmacher in Landau auf der Herberge, man hielt ihn aber mit Recht für völlig verrückt, er wurde ergriffen, und von einem Unteroffizier noch ehe er in Verhaft gebracht wurde mit dem Stock todgeschlagen, der Unteroffizier verlor den Kopf. 9

Der Autor notiert zunächst eine Überlegung, liefert Exempel nach, die einerseits seine Behauptung stützen, andererseits weiterfuhren, den partiellen Zweifel der ersten These universalisieren, die ganze Welt einschließen, schließlich in einen Stoßseufzer münden, der zur blutigen Revolution aufruft. Diese Auslassung, in der das empörte Gefühl und der rebellische Geist gleichermaßen von der Kette gelassen werden, erfahrt eine Zäsur und Zensur durch die nachgetragene Perspektivierung, die das zuvor Gesagte als Wiedergabe der Rede eines verrückten Perückenmachers erscheinen lässt. Diesen ereilte die Strafe stehenden Fußes, wobei der Exekutor selbst in die zweideutige Wendung, dass er den Kopf verloren habe, gespannt wird, was sowohl das Irrationale der Handlung als auch einer möglichen Ahndung derselben implizieren kann. Das Prozessierende eines schreibenden Denkens teilt sich deutlich mit, eines Denkens, das sich durch das Geschriebene führen lässt, gemäß den Einfallen, Launen, Assoziationen des Verfassers. Und dies eben nicht nur im disparaten Nacheinander der Notate, sondern auch innerhalb eines Schreibvorgangs. Dennoch bildet die Folie des Schreibens immer die Konvention der Textproduktion unter Bedingungen der Zensur, wie es die nachträgliche Perspektivierung des Geschriebenen als indirekte Rede deutlich genug ausweist. Aber wechseln wir zu einer expliziteren Konzeption von Gesellschaft: Anarchie Man nimt das Wort immer in bösem Verstände; und im Grunde drückt es doch völlig dasselbe aus, was Freyheit. In einem Staate von vernünftigen Menschen soll Niemand herschen, als der Hausvater in seinem Hause, und auch dieser nur insofern, als er der älteste ist, und die Sachen am besten versteht. Das Gesetz allein soll das Ganze verbinden und in Ordnung und glückseeligem Leben erhalten; und ein Gesetz soll der vernünftige Wille aller seyn; deß-

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Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher (wie Anm. 5), A 119.

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wegen muß es erst bekannt gemacht, und von den Verständigen geprüft werden, bis es gültig zur Ausübung ist. Monarchie, Aristokratie, Demokratie, alles dreyes ist ein gewaltsamer Zustand, denn unter Demokratie versteht man doch immer, daß der große Haufe, Bauern und Handwerker, den einzigen vortreflichen Köpfen zu gebieten haben, was sie thun und lassen sollen. Bloß das Gesetz muß herrschen, das die ausgesucht Verständigen entwerfen und alle, so viel möglich, gut heißen. Da viele Gesetze für den Moment seyn müssen, als bey Krieg, Verbindung mit Auswärtigen, so muß Vernunft und Verstand immer in Sitz und Stimme erhalten werden; und damit keine Aristokratie daraus entsteht, ist nichts besser, als der beständige Wechsel und öffentliche Verhandlung. Also besteht der vollkommenste Staat nicht aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammen, ein dreyköpfiges Ungeheuer! sondern die beste Staatsverfassung ist Anarchie; und nur das vernünftige Gesetz formt sie zu einem schönen lebendigen Ganzen.10 Der Verfasser ist sich sehr wohl des Risikos bewusst, das hohe Lied der Anarchie im Jahre 1793 zu singen, weswegen er damit auch hinter dem Berge hält und die Aufzeichnungen als Speicher einer politischen Vorstellung nutzt, die weder auf der linken noch der rechten Rheinseite zu den willkommenen gehörte. Dass dann auch noch Vorstellungen über die Kollektivierung des Privateigentums entwickelt werden, wäre in Frankreich zu äußern gewesen, aber nicht in Deutschland, wenn man wie Heinse Bibliothekar eines Kurfürsten bleiben möchte, der gerade v o n deutschen Revolutionären davongejagt wurde: Eine Gesellschaft, wo das Eigenthum heilig bleibt, ist vortreflich für diejenigen, die großes Eigenthum haben; aber warlich nicht für diejenigen, die gar nichts haben. Ein Staat, wo hundert Familien ungeheuer reich sind, und tausend oder millionen gar nichts haben, ist gewiß der erbärmlichste unter allen, für die tausend oder millionen, die gar nichts haben, und Sklaven oder Tagelöhner sind Wenn die meisten im Staate ihr gutes Auskommen haben: dann laßt einzelne Familien so ungeheuer reich seyn, als sie wollen. Aber daß zwey drittel Bürger, die stärksten, gesündesten und vernünftigsten, ewig die gehorsamen Diener von wenig Reichen machen sollen, ist nicht in der Natur eines vortreflichen Staates, nicht in der Natur eines mittelmäßig guten.11 Solche Gedanken ließen sich allenfalls als anonyme Flugschriften publizieren oder eben im geheimen Denklabor der Aufzeichnungen. Andererseits ist an der Sprachform zu beobachten, dass der Autor seine Texte immer stärker durchgestaltet, mit Wiederholung und Variation arbeitet, als ginge es denn doch um eine Publikation, als verknüpfe sich das Notieren hier mit einer Wirkungsabsicht. V o n einem anderen Autor werden ähnliche Gedanken vor einem vergleichbaren Hintergrund angestellt, da auch dieser von einer grundsätzlich sinnlosen Welt ausgeht, in der als einziges der Selbstgenuss der Subjekte bleibt. Doch kann von diesen Grundannahmen aus auch die allgemeine politische Ordnung attackiert werden: [...] Es ist keine Cultur möglich, wenn die geistigen Kräfte durch zu viel körperliche Anstrengung beständig unterdrückt werden; diese erschöpfende, stupide machende Thätigkeit ist aber weder nöthig noch nützlich. So viel über Moral geschrieben worden, so wenig hat man 10 11

Johann Jacob Wilhelm Heinse: Aphorismen (wie Anm. 6), Bd. 8.3, S. 6. Ebd., S. 13f.

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die Pflichten, die jedem Menschen in Ansehung der Schätzung der Thätigkeit anderer obliegen, nach ihrer Wichtigkeit erwogen; bei der Erziehung wird ihrer gar nicht erwähnt. Wir haben strenge Gesetze gegen die Entziehung der animalischen Bedürfnisse, ebenso, wenn ein Mensch sich an dem Uberfluß eines andern als wenn er sich an dessen Notdurft vergreift [...] und gegen den Menschen, der einen andern um sein geistiges Eigenthum bringt, der ihn durch Unterdrückung seiner Denk- und Gefuhlskräfte um allen wahren Genuß bringt, ihn zum bloßen Thier herabwürdigt, ist kein Gesetz, keine Meinung, ja nicht einmal ein Gefühl von Mißbilligung, ein Zeichen wie wenig Fortschritte selbst noch die gebildeten Menschen in der wahren Cultur gemacht haben. [...] Die widernatürliche Einrichtung, daß ein Mensch mehr Grundeigenthum besitzt, als er mit seiner Familie bearbeiten kann, und daß dagegen eine Menge Menschen des natürlichen Rechts, das jeder an dem Erdboden hat, beraubt ist, bringt die Möglichkeit, frivole Bedürfnisse zu erzeugen und zu befriedigen, hervor und nöthigt die, die keinen Antheil an der Erde haben, solche Gegenstände, wie sie der Geschmack durch Überfluß bei Uncultur schlechter Menschen verlangt, zu produciren. Und da der Reichthum die Preise fixiert, so sind sie für die, die ihre Thätigkeit darauf wenden, so niedrig bestimmt, daß sie bei aller Anstrengung ihrer Kräfte es nur dahin bringen, kümmerlich ihr Leben zu fristen und auf allen geistigen Genuß [...] Verzicht leisten müssen.12 Auch die nahe liegende Schlussfolgerung wird gezogen, dass sofern nicht A b hilfe in der Verteilung des Eigentums geschaffen wird, unweigerlich eine Revolution dieselbe herbeifuhren wird: Es ist kein Zweifel, HaR bei mehr Cultur die unbegreifliche Sorglosigkeit der Menschen bei ihrer Armuth einst aufhören werde; da wird dann [durch] eine neue Revolution eine Gleichmacherei des Vermögens vor sich gehen, wenn man nicht bei einer neuen Legislative schon Rücksicht nimmt, die zu große Anhäufung des Reichthums, die eine Beraubung seiner Mitbürger im Grund ist, zu hindern und nach dem Tode des Besitzers zu zerstreuen.13 Hier wird gar das bekannte Diktum Pierre Josephe Proudhons, dass Eigentum Diebstahl sei, antizipiert und das Erbrecht in Frage gestellt. Eine derartig emanzipatorische Kritik konnte ihren Platz tatsächlich unter den damaligen Bedingungen nur in der aphoristischen Produktion finden, in welcher konventionelle Moral und entsprechende Sprechweisen ebenso hinfällig wurden wie die politischen Verbindlichkeiten. Im Unterschied zum Tagebuch jedoch transzendieren die Verfasser hier eine sozialverantwortliche Position, werden Gedankenexperimente protokolliert, die zwar keineswegs affektfrei sind, aber doch v o n subjektiver Befindlichkeit nur implizit künden und sich eher als thetische Objektivität artikulieren. Ausgegangen wird dabei — wie meistens — v o n der Falschheit gesellschaftlicher Konvention, wodurch die dissidente Aussage sich mit einem Wahrheitsanspruch auflädt. Die Gefährdung durch polizeiliche Sanktionen beim Publizieren sichert nochmals die Wahrhaftigkeit ab, legitimiert die Produktion wie ihr Verbergen in Sudelbüchem.

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August von Einsiedel: Ideen. Hg. von Wilhelm Dobbek. Berlin 1957, S. 196. Ebd., S. 303.

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3. D i e Öffentlichkeit romantischer Aphoristik Nach dem zuvor Gesagten steht zu vermuten, dass sich die Veröffentlichung von Aphorismen signifikant auf deren Charakter auswirken wird. Z u den ersten veröffentlichten Aphorismen rechnen die Athenäumsfragmente, und schon der erste der unter dem Begriff Blüthenstaub zusammengefassten Aphorismen signalisiert, dass hier eine gänzlich andere Orientierung des Schreibens vorliegt: »Wir suchen über all das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.« 1 4 D a s Unbedingte hat nun nichts mehr mit dem unbedingten, moralfreien Lebensgenuss der Vorgänger zu tun, sondern meint das von Bedingungen freie, dem Alltäglichen entrissene Höhere eines geistigen Lebens, das einen Ort der Zuflucht vor den Miserabilitäten des irdischen Daseins bietet. Die Fantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht - Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaldos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt 1 5

U m den Geist geht es mithin, der nicht außer uns, sondern nur in uns zu finden ist, von allem Anfang an den Möglichkeitshorizont unseres Werdens aufspannt, so dass es letztlich nur an uns liegt, uns im Sinne der Vorgabe zu vervollkommnen. 16 Von Vorteil erweist sich diese Rückkehr ins platonische Ideenreich aus der Sinnenwelt lebensphilosophischer Aufklärung auch, weil es keinerlei Kriterien oder Indizien der gelungenen Selbstverwirklichung gibt und geben kann. Was aber sind überhaupt Ideen? »Ideen sind unendliche, selbständige, immer in sich bewegliche, göttliche Gedanken.« 17 Und Gott ist die Menschheit, und Dichter und Philosophen sind Propheten 18 — und was der romantischen Gemeinplätze mehr sind. Politisch fuhrt dieses Konzept nicht weiter als bis zur Gelehrtenrepublik, die als rudimentäre F o r m des einstigen Revolutionsideals umfassender

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Novalis: Blüthenstaub. In: Athenäum Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Darmstadt 1960 (Nachdruck der Ausgabe Braunschweig, Berlin 17981800), Bd. 1. 1. Stück, S. 70-106, hier: S. 70. Ebd., S. 74. »Wie kann ein Mensch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat? Was ich verstehn soll, muß sich in mir organisch entwickeln; und was ich zu lernen scheine, ist nur Nahrung Inzitament des Organismus.« Ebd., S. 74. Friedrich Schlegel: Ideen. In: Athenäum (wie Anm. 14), Bd. 3. 1. Stück, S. 4-33, hier: S. 5. »Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?« Novalis: Blüthenstaub (wie Anm. 14), S. 90.

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Brüderlichkeit und Demokratie bleibt.19 Entscheidend ist im romantischen dichtenden Philosophieren die Orientierung auf ein arkanes Wissen, das immer nur näherungsweise erschlossen werden kann, und von daher bestimmter Formen und Ausdrucksweisen bedarf: »Im Styl des ächten Dichters ist nichts Schmuck, alles nothwendige Hieroglyphe.«20 Hieroglyphe meint zu diesem Zeitpunkt noch unentzifferbares geheimes, kultisches Zeichen, so dass mit dem Postulat eine Schreibpraxis verbunden ist, die sich der Selbstverantwortung endedigt, da sie ja nicht verständlich kommunizieren soll, sondern ihre Daseinsberechtigung darin findet sich zum bis dato Unerkannten, nahezu Unaussprechlichen vorzuarbeiten. Ausdruck findet diese Haltung im nachstehenden Fragment: Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht!21

Klar artikuliert sich das nichtbewusste Schreiben als solches, das um seinen Gehalt ebenso wenig weiß wie um seine Wirkung. Und dies kann auch nicht gewusst werden, da es eine Art Sprechen in Zungen ist, oder mit dem von den Romantikern selbst gewählten Ausdruck: in Hieroglyphen. Damit ist formal die Affinität zur angestrebten Position des Schreibenden hergestellt: »Der dichtende Philosoph, der philosophirende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch seyn, und hat auch Anlage, es zu werden.«22 Was aber meint »prophetisch«? Es ist die Offenbarung des Künftigen, die Entbergung des in der Zukunft Geborgenen und mithin ein riskantes Sprechen, dessen Berechtigung erst a posteriori zu erschließen ist. Gegen den Verdacht, das Geweissagte könnte, statt ein Versprechen zu sein, lediglich ein Versprecher sein, verwahrt sich die Form: »Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet seyn wie ein Igel.«23 Die Abkehr von der Welt und die stachelige Wappnung schirmen die Vollkommenheit des Fragments wirkungsvoll von möglicher Kritik ab, wie auch der Status des Geschriebenen als quasi-religiöser eben nicht den Normen einer Empirie unterliegt, sondern allenfalls geglaubt werden kann 24 Jedenfalls sofern es sich um das mehrfach besagte dichtende Philosophieren handelt, das allerdings 15

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»Innigste Gemeinschaft aller Kenntnisse, scientifische Republik, ist der hohe Zweck der Gelehrten.« Novalis: Blüthenstaub (wie Anm. 14), S. 98. Fragmente. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Bd. I, 2. Stück, S. 179-322, hier S. 221 (August Wilhelm Schlegel). Novalis: Blüthenstaub (wie Anm. 14), S. 106. Fragmente (wie Anm. 20), S. 244 (Friedrich Schlegel). Ebd., S. 230 (Friedrich Schlegel). »Poesie und Philosophie sind, je nachdem man es nimmt, verschiedne Sphären, verschiedne Formen, oder auch die Factoren der Religion. Denn versucht es nur beyde wirklich zu verbinden, und ihr werdet nichts anders erhalten als Religion.« Friedrich Schlegel: Ideen (wie Anm. 17), S. 12.

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auch einen entsprechenden Autor voraussetzt, der, umso mehr er dichtendes Genie ist,25 umso mehr Wissen respektive Offenbarung zu bringen vermag: »Der Dichter kann wenig vom Philosophen, dieser aber viel von ihm lernen. Es ist sogar zu befürchten, daß die Nachtlampe des Weisen den irre fuhren möchte, der gewohnt ist im Licht der Offenbarung zu wandeln.«26 Schon diese begrenzte Anzahl von Athenäumsfragmenten macht deutlich, wie sehr sich augenscheinlich um 1800 die aphoristische Produktion verändert. Aus dem Labor der Kritik, dem jenseits der Zensur gelegenen alchemistischen Kammerstübchen unorthodoxen, radikalen Denkens und Formulierens, das die Spitze der Kritik ins Herz der erstarrten Feudalgesellschaft samt ihrer klerikalen Moral treiben will, ist ein sich selbst als religiös verstehender öffentlicher Diskurs geworden, und genau das geheimniskrämerisch unverständliche und unverantwortete Schreiben erscheint als Zutrittsbedingung zur Öffentlichkeit. In der Jenseitsorientierung des dichtenden Philosophierens ist die bedrohliche gesellschaftliche Relevanz zugunsten idealischer Geisterpolitik fur die Bildungselite getilgt. Statt Adelskritik bietet das Athenäum Selbstnobilitierung durch ein arkanisches Wissen, das um sich selber kreist. Zweifellos hängt diese eskapistische Revitalisierung eines platonischen Idealismus mit den realpolitisch enttäuschten Hoffnungen der Aufklärung zusammen. Die Enttäuschung schreibt sich fort bei anderen Autoren der Romantik, die aber teilweise eine mehr wissenschaftliche, weniger philosophische Ausrichtung in ihrer Aphoristik verfolgen. So vor allem Johann Wilhelm Ritter. 1809 beginnt er, aus seinen Tagbüchern die Fragmente zusammenzustellen, die 1810 unter dem Titel Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physiken. Ein Taschenbuch für Freunde der Natuf anonym erscheinen. Noch vor deren Erscheinen verstirbt er am 23. Oktober 1810 in München. Und selbst diese vermeintlich auf Naturerkenntnis zielenden Fragmente ziehen in die Physik eine Transzendenz ein: Alles, was wir wahrnehmen im Leben, ist Grenzwahmehmung an unserem Körper und der Außenwelt Unsere Wahrnehmung fallt in die Synthesis beider, darum nichts außer uns, alles in uns. Der Wille ist der oberste Vultus divinus, der oberste Gottespol selbst. Liebe die oberste Indifferenz. Schicksal der latente — Pol. 28

Die radikale Innerlichkeit der Außenwelt und ihre Vergöttlichung in tins fanden sich zuvor bei Görres eher in eine interpersonale Konstellation gespannt. Nur die Gattung ist ewig. Darum soll der Mensch lieben. Sterben und Lieben sind Synonyme. In beiden wird die Individualität aufgehoben, und der Tod ist die Pforte des Lebens. 25

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»Man kann sagen, HaR es ein charakteristisches Kennzeichen des dichtenden Genies ist, viel mehr zu wissen, als es weiß, daß es weiß.« Fragmente (wie Anm. 20), S. 221 (August Wilhelm Schlegel). Ebd., S. 210 (August Wilhelm Schlegel). Johann Wilhelm Ritter Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Heidelberg 1810. Hier zitiert nach der Ausgabe Leipzig/Weimar 1984. Hg. von Steffen und Birgit Dietzsch. Ebd., S. 428.

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Beides ist Vermählung mit der himmlischen Jungfrau, nur daß sie im Weibe incognito erscheint.29

Waren die Aufklärer noch mit der Entzauberung der Welt befasst und profanierten sie die Geschichte, die Erotik, das Politische und das Subjekt, in dem sie aus der Gottgegebenheit, mystischen Überhöhung respektive der Dunkelheit des Unaussprechlichen ins Licht der Sudelbücher setzten, kehrt nun der Geist als Heilige Familie zurück, geht es augenscheinlich um eine Reauratisierung, Resakralisierung der Lebenswelt. Den Hintergrund dieser Bestrebungen bilden fraglos die enttäuschten politischen Hoffnungen derer, die in der Französischen Revolution den Aufbruch aus der Unmündigkeit sahen, dann sich angesichts des terreur erschreckt abwandten, um im Napoleonismus schließlich die Reinstallation quasimonarchischer Autorität zu beobachten. Diese umfassende Enttäuschung des Ideals der befreiten und lemfahigen bzw. bildbaren Menschheit und die offensichtliche Persistenz autokratischer Regime hat zu der diskursiven Wendung vom Politischen zum Subjektiven, vom Profanen zum Sakralen gefuhrt.

4. Aphoristik als (Über)Lebenshilfe Allein die Reaktion der Romantiker ist und war nicht die einzig mögliche. Eine etwas ältere Generation, noch geprägt von den Jahren aufklärerischen Aufbruchs, verhält sich zum Zusammenbruch der früheren Ideale anders und differenzierter. Exemplarisch lässt sich dies an Jean Paul beobachten. »Schaffen und Bemerken so verschieden. Denn wenn ich nicht mehr arbeiten kann, setz' ich Bemerkungen hin wie eben hier den 22ten Mai diese gerade.«30 Bei Jean Paul waltet ein eigenartiger Glaube an die Haltbarkeit des aufgeschriebenen Augenblicks, was Hegel in der Phänomenologie des Geistes radikal bestreiten wird, wenn er davon handelt, dass die »aufgeschriebene Wahrheit«31 schal werde. In der aphoristischen Produktion Jean Pauls wird dem entgegen immer wieder auf dem Gegenwärtigen und Unmittelbaren der Schrift und des Schreibens insistiert, die darin ihre Wahrheit verifizieren: Wie ich oft dasitze mit lauter Kraft für Einfalle, Bilder und Sprachfülle; und mir mangelt blos die rechte Form noch, in der allein ich meinem Kunstwerk jene Kraft anwenden darf; — und bei solchem Burid[ans] Esels-Schweben werden blos meine Sammelbücher reicher.32

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Joseph Görres: Aphorismen über die Kunst Als Einleitung zu Aphorismen über Organonomie, Physik, Psychologie und Anthropologie. Koblenz 1802, S. 629. Jean Paul: Ideengewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß [1782-1822]. Hg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. Frankfurt a.M. 1996, Nr. 50. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1970, S. 105. Jean Paul: Ideengewimmel (wie Anm. 30), Nr. 72.

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Es handelt sich somit nicht nur um ein Weiterschreiben, sozusagen ein Ausklingen des kreativen Aktes, sondern auch um ein Sich-Annähern, ein Herantasten, Wortsuche, Umkreisen der Form, schreibend verbrachte Wartezeit, in der Nebenseiten gefüllt werden, bis sich eine Vorstellung von der »rechten Form« für das literarische Kunstwerk eingestellt hat. Gleichzeitig scheint dies Schreiben dann aber auch einen eigenständigen Charakter zu besitzen oder mehr noch zu erhalten, der es abhebt von der Narration und der dies Schreiben ins Unreine rechtfertigt: Das ist das darin enthaltene Philosophische. Jean Paul stellt sich dabei bewusst in die Tradition der französischen Moralisten: Bemerkungen über den Menschen. Alle die Rochefouc[ault], la Bruyere sind unmöglich zu behalten, zu ordnen, anzuwenden, sondern sie sollen blos im Allgemeinen den Blick schärfen und ihm eine gewisse Richtung geben.33

Dass dieser Aphorismus eine Überschrift trägt, die der Autor dann nutzt, um seine Nebenbeischriften, sein Ideengewimmel festzuhalten, kann nicht wichtig genug genommen werden, denn damit gibt er den Sinn dieser Bemerkungen an. Es geht um ein Orientierungswissen, das er schaffen will, um ein praxisnahes Philosophieren, das willentlich und wissentlich unsystematisch in der Form daherkommt Die Gesellschaft, in der sich Jean Paul am wohlsten zu fühlen scheint, ist die der Bücher, er stilisiert sich als ein lieber in Bücherwelten als unter Menschen Lebender.34 Und dies Leben in der Gutenberggalaxis trägt seinen Lohn in sich, da der Lohn in einem Stück Unsterblichkeit liegt: »Man denkt bei keinem Buche daran, ob der Verfasser, der uns anredet, noch lebendig ist oder todt; er selber verschwindet, und das gedruckte Wort hat in beiden Fällen gleiche Kraft.«35 Das heißt aber eben auch, dass nur das geschriebene Ich überdauert. Alles, was nicht aufgeschrieben ist oder aufgeschrieben werden kann, vergeht. Wenn bei Jean Paul von einer Neurose zu reden ist, dann von einem Schreibzwang, der sich hier explizit ausspricht — ansonsten in der bei hochintensiver Spracharbeit wuchernden Seitenfulle seines Werkes zu betrachten ist. Vielleicht sind auch die zahlreichen Fragment gebliebenen Werke Zeichen der überschäumenden Unruhe 33

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Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Eduard Berend. 2. Abt. Bd. 5: Bemerkungen über den Menschen. Weimar 1936, S. 410. »Was heißt denn Lesen? — Man denke sich einen guten Gesellschaftszirkel — niemand wird eingeladen als einer der statt der Ahnen J[ahre] und Jahrhunderte mitbringt - ein Dummer kommt nie hinein; nämlich er darf darin nicht sprechen — Wer darin spricht, sind Leute, von denen man jedes Wort auffängt, kommentiert und druckt, weil nie etwas besseres gesagt wurde - Wer in dieser Gesellschaft spricht, darf nicht etwa sagen: guten Morgen, oder: wie befinden Sie sich - sondern jedes Wort muß Geist haben, jede Sentenz Flügel - Und wie heißt diese Gesellschaft? - Eine auserwählte Handbibliothek« Jean Paul: Ideengewimmel (wie Anm. 30), Nr. 189. Ebd., Nr. 184.

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eines Autors, der alles und immer aufschreiben muss, der wenn er ein Werk zu Ende bringt, fürchtet, nicht die Zeit zu haben, das nächste zu schreiben? »Jetzo indem ich zum Aufschreiben einer Bemerkung nach Vita hinlange, hab ich sie vergessen; und nur durch Schreiben hab ich dieses Bemerken des Vergessens nicht vergessen.«36 Das Schreiben ist Rettung, der ausgelagerte Speicher, in dem Bewusstsein und Gedächtnis einander erhalten, sich einschreiben, festschreiben. Die flüchtige Identität wird hier zur Gestalt gebracht. Das heißt aber auch, dass das Schreiben Rettung bedeutet, nicht zuletzt weil in ihm alle Wünsche erfüllt werden können: »Für den Dichter gilt der Optimismus: seine Welt muß die beste sein und alle Übel auflösen.«37 Nicht alle Dichter, die Aphorismen produzieren, teilen den von Jean Paul postulierten Optimismus, vielmehr glauben sie an eine Zwiespältigkeit der Welt, an eine unglücklich eingerichtete gesellschaftliche Ordnung einerseits, andererseits an Möglichkeiten der Besserung. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Kapriziert sich Friedrich Heinrich Jacobi in der Auswahlausgabe seiner Aphorismen mit dem Titel Fliegende Blätter3* auf die Bewahrung des Humanuni in einer letztlich nicht zu verändernden politischen Ordnung, so hält Friedrich Maximilian Künger an den Chancen einer Revolution fest, die er aber aufgrund der Miserabilität der menschlichen Natur für unwahrscheinlich hält, so dass ein Gutteil seiner Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der"Literatur®Ratschläge zur Orientierung in der gegenwärtigen Gesellschaft enthält. Trotz dieser inhaltlichen Differenzen eint alle drei Autoren ein Insistieren auf der Einsamkeit ihrer jeweiligen Position und das entsprechende gesellschaftliche Unverständnis, dem sie begegnen. Sie ihrerseits durchschauen aber die Ordnung und wissen zu raten, wie man sich trotz Ablehnung in ihr zu bewegen vermag. Ein weiterer Einigungsfaktor eher äußerlicher Art liegt im Charakter der Schriften selbst, die offensichtlich aus früheren Sudelbüchern hervorgegangen sind, in die Zeit der Aufklärung zurückreichen und für die Publikation entsprechend bearbeitet wurden. Die daraus abgeleitete Kompromissform scheint in der Tat konsensfahig gewesen zu sein, da sie sich als Muster durchsetzt: In der Folgezeit adressieren Aphorismengruppen mehrheitlich das Individuum in seiner subjektiven Verlassenheit und vermitteln Ratschläge, wie das Leiden an der bestehenden, schlechten Wirklichkeit zu minimieren sei, um dabei gleichzeitig den Anspruch der Höherwertigkeit der eigenen Existenz zu bewahren. Als paradig-

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Ebd., Nr. 76. Ebd., Nr. 225. Friedlich Heinrich Jacobi: Fliegende Blätter. In: F. H.J.: Werke. Bd. 6. Darmstadt 1968 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1825], S. 131-242. Friedrich Maximilian Klingen Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. In: F. Μ. K.: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. 11. Stuttgart/Tübingen 1842.

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matisch können hier Texte wie August von Platens l^ebensregelrF1 von 1817 oder Goethes posthum edierte Maximen und Reflexionen gelten. Der erstaunliche Weg der Aphorismen aus den Geheimkammern der Sudelbücher über die romantischen Fragmente zu einer Art Lebenshilfe-Sachbüchern, die derart populär sein müssen, dass Ludwig Börne zwischen 1827 und 1830 von »dieser aphoristischen Zeit«42 spricht, und wenige Jahre später (1842) Ernst von Feuchtersieben in seinen ljebensblättern dekretiert, »daß am Ende das beste Wissen doch nur aphoristisch zutage gefördert werden kann«,43 dass dieser Weg aus dem publizistischen Untergeschoß zur dominanten, anscheinend die Zeit prägenden Textform erfolgreich beschritten werden konnte, verdankt sich dem Funktionswandel der aphoristischen Produktion. Dass nun dieser Funktionswandel seinerseits erfolgte, mag seine Gründe im gesellschaftlichen Wandel jener Jahre besitzen. In der Aufhebung feudaler Strukturen, einer ökonomischen Durchsetzung des Kapitals und damit einhergehend einer publizistisch-ideologischen Verklammerung des Bürgertums mit den Interessen der feudalen Mächte. Von Lichtenberg bis zur Revolution von 1848 kann der Aphorismus wohl als genuiner Ort der Auseinandersetzung, Vermittlung und Versöhnung bürgerlicher und feudaler Interessen gelten. Die dritte Kraft, die sich dann zu Wort meldet, wurde bereits 1806/07 um Hilfe ersucht: »Heiliger Spartacus, bitte für uns! Wenn doch mehr solche Schulmeister des Menschenverstandes aufträten!«44

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August von Platen: Lebensregeln [1817]. In: A. v. P.: Gesammelte Werke. Bd. V. Stuttgart/ Tübingen 1834, S. 261-280. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen [1840]. München 1989. Ludwig Börne: Aphorismen und Miszellen. In: L. B.: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Düsseldorf 1964, S. 191-378, hier: S. 335. Ernst von Feuchtersieben: Aphorismen [Erste Ausgabe unter dem Titel: Lebensblätter. Wien 1842]. In: E. v. F.: Ausgewählte Werke in einem Band. Hg. von Richard Guttmann, Leipzig o.J, S. 105-274, hier: S. 105. Johann Gottfried Seume: Apokryphen. Frankfurt a.M. 1966, S. 36.

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»Totaleindruck« und »einzelne Theile« Kleine Prosa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. »diese Achtung der Thatsache«. Hermann Hauffs Poetik der kleinen Form Anläßlich einer einleitenden Bemerkung zu seiner Übersetzung von Pa/ey's natürlicher Theologe aus dem Jahr 1837 entwirft der Redakteur und Herausgeber Hermann Hauff, der Cottas Morgenblattfür gebildete Stände redigierte und unter anderem eine erfolgreiche Reisebibliothek herausgab,1 eine Typologie, die der Beobachtung der Unterschiede zwischen deutscher und englischer Philosophie aufruht: »Deutsche Naturphilosophie«, heißt es, ist ein ganz anderes Ding, als was der Engländer natural philosophy nennt. Der uns inwohnende, durch so manche wunderliche und erhabene Geistesschöpfung beurkundete Trieb, die Natur in letzter Instanz poetisch zu construiren, fehlt dem sonst so poetischen Inselvolk fast ganz, oder er ist doch durch seine historische Entwicklung in ihm zurückgedrängt worden.2

Der von Hauff postulierte Unterschied betrifft das Selbstverständnis der romantischen Poetik, die ihren Ausgangspunkt in jenem Ich nimmt, zu dem sie immer wieder zurückfindet: Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsere Geistes kennen wir nicht. — Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese

Hermann Hauff (1800-1865) gab gemeinsam mit Eduard Widenmann und späterhin Oskar Peschel die Reisen und Länderbeschreibungen aus der älteren und neuesten Zeit (42 Bde., 1835-1860) im Cotta-Verlag, Stuttgart und Tübingen, heraus; im übrigen übersetzte Hauff Alexander von Humboldts Reisen in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents (Stuttgart/Tübingen: Cotta 1859) sowie Charles Beils Buch Die menschliche Hand und ihn Eigenschaften (Stuttgart 1836), das als erster Band der von Hauff in Deutschland edierten Bridgewater-Bücher erschien. Eine Studie über die Arbeiten Hauffs, zu denen auch erzählerische Texte sowie zahlreiche Feuilletons und Essays gehören, ist derzeit noch Desiderat; sie könnte anhand der Werkbiographie die Professionalisierungstendenzen im Grenzbereich von Philologie und Journalismus thematisieren. Hermann Hauff: Vorwort des deutschen Herausgebers. In: Paley's natürliche Theologie. Mit Bemerkungen und Zusätzen von Lord Brougham und Sir Charles Bell. In deutscher Bearbeitung hg. von Η. H. Stuttgart/Tübingen 1837, S. III-VI, hier: S. III.

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Michael Neumann Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen a]s je, denn unser Geist hat entbehrt 3

Novalis' Fragment zeigt die Rolle der »letzte[n] Instanz« eindrucksvoll; es zeigt, •wie die »Schattenköiper« Vehikel von Einsichten werden, die dem »Geist« selbst gelten. Hauffs Anmerkung, daß der von der »natürliche[n] Theologie [...] vielseitig bewiesene Gott uns anthropomorphistischer erscheint, als der, den wir speculativ selbst machen«, zeigt statt dessen einen recht nüchternen Blick auf die poetologischen Verfahrensweisen der zeitgenössischen deutschen Philosophie. Dieser Blick bezeugt sich auch in der Charakteristik, die Hauff von Paleys Stil gibt, womöglich unter Berücksichtigung seiner eigenen Poetik: Seine Darstellung ist streng logisch; eingedenk seines Grundsatzes, zum Verstand der Leser, nicht zu ihrer Einbildungskraft zu sprechen, verschmäht er den Schmuck der Rede und geht der Begeisterung aus dem Wege. Blendet er somit weder durch die Rhetorik eines Buffon, noch durch die poetische Färbung deutscher Naturbeschreiber, so versteht er dagegen die Κνιηβζ den Leser, der sich einmal mit seiner Form befreundet hat, immer mehr anzuziehen und bis zum Ende festzuhalten.4

Hauffs Präferenz wird in dieser kurzen Vorbemerkung durchaus deutlich; explizit wird sie dort, wo Hauff die »Höhen deutscher Metaphysik« nicht den Philosophen der Romantik, sondern »unser[em] Kant« in Rechnung stellt.5 Denn die Grenzziehungen gegenüber der »Rhetorik eines Buffon« und der »poetische [n] Färbung deutscher Naturbeschreiber« sind einem Zugriff geschuldet, der das »Studium der Naturgeschichte« von den besagten Einflüssen freihalten möchte, um den Gegenstand aus sich selbst heraus evident werden zu lassen. Dort, wo die »Schattenkörper« des romantischen Fragments gleichsam Durchgangsstationen zur Erkenntnis des Absoluten sind, hält der »Naturbeschreiber« Hauffs inne, um im Objekt der Wahrnehmung die »letzte Instanz« zu behaupten. Das Vorwort erkennt in der Entsprechung von Gegenstand und Beschreibung das Kriterium einer Poetik, die ihre »Natur in letzter Instanz« nicht »speculativ selbst mach[t]«, sondern im Objekt der Beschreibung findet. Die Priorität gilt also einer Referenzebene, die anstelle der Affizierung des ausgezeichneten Ichs den Gegenstand selbst ins Zentrum des Interesses stellt (und deshalb auch den »Gott« der englischen »natural philosophy« ohne Umschweife tilgt, um den Wert des Empiri-

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Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub. In: Novalis: Das philosophisch-theoretische Werk (Schriften. Bd. 2). Hg. von Hans-Joachim Mähl. München/Wien 1978, S. 225286, hier: S. 233. Aus philosophischer Sicht vgl. die prägnante Zusammenfassung von Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a.M. 1967, sowie D. H.: Evolutionen des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1994; Rüdiger Bubner: Innovationen des Idealismus. Göttingen 1995. Hermann Hauff: Vorwort des deutschen Herausgebers (wie Anm. 2), S. III. Ebd., S. IV.

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sehen in der Natürlichen Theologe jenseits seines spezifischen Kontextes zu erhellen: »die eigenthümliche Form« soll den »Werken der Natur« angemessen sein). 6 Im Umkehrschluß offenbaren die im Vorwort zu Paley's natürlicher Theologe freilich nur angerissenen poetologischen Koordinaten Hauffs jene Denkfiguren, denen die Stiftung von Zusammenhängen, und das heißt auch: die Stiftung von Sinn,7 in Rechnung gestellt werden kann. E s sind dies »Gott«, der »Schmuck der Rede« und die »poetische Färbung«, mithin Kategorien, die immer auch rhetorisch fundiert sind und im Text einen semantischen Überschuß produzieren, 8 der über den Gegenstand ebenso wie über die Sprache hinausweist. Daß mit dem »Schmuck der Rede« indes nicht allein eine Entscheidung für einen spezifischen Stil getroffen wird, vielmehr auch die Disposition für das Wissen des Textes schlechthin gegeben ist, hat Paul de Man in seinem Aufsatz über die »Epistemologie der Metapher« gezeigt: »Rhetorik ist an sich keine historische, sondern eine epistemologische Disziplin.« 9 In der naturwissenschaftlichen Orientierung Hauffs, deren genauer Status noch zu befragen bleibt, begründet sich die Möglichkeit, eine exemplarische Position im Feld kleiner Formen zu beschreiben, die nicht als Ableitung aus rhetorisch-poetischen Traditionen auftreten und deren Fragmentarizität sich auch nicht aus der emphatischen Überzeugung speist, »litterarische Sämereyen« (Novalis) zu streuen. 10 Vielmehr ist sie die Konsequenz aus dem Reflex auf die eigene historische Situierung und die Diversifizierung des Wissens der Zeit.11 Der Verzicht aufs Absolute bezeichnet die Trennlinie zur Romantik, die die kleine Form ebenfalls als adäquate Ausdruckweise (zumal als Fragment) im Rückgriff auf den eigenen Ort in der Geschichte bestimmt: 12 »Alle 7i[oetischen]

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Ebd., S. Ulf. Vgl. allgemein Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann. Frankfurt a-M. 1993. Die rhetorische Fundierung bedeutet freilich keineswegs eine Trennung von anthropologischen Belangen; vgl. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Η. B.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104-136. Paul de Man: Epistemologie der Metapher. In: Theorie der Metapher. Hg. von Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt 1996, S. 414-437, hier: S. 436. Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (wie Anm. 3), S. 285. In der Fixierung auf »Gestalt« und »Morphologie« fundiert dieser Ansatz auch Andre Jolles' Beschreibung »einfacher Formen« (Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz [1930], Tübingen 1982). Vgl. einleitend Joseph Vogl (Hg.): Poetologie des Wissens um 1800. München 1999; Gabriele Brandtstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. Vgl. zunächst Eberhard Ostermann: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991, S. 101-132.

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Fragm.[ente] müssen irgendwo Theile eines Ganzen sein.«13 Hauffs Geologische Βπφ aus dem zweiten Band seiner Ski^en aus dem lieben und der Natur lie fern — im übrigen in einer kleinen Form, die im Adressatenbezug das Versprechen der Unmittelbarkeit gegen die Professionalisierung der Publizistik aufbietet — die entsprechenden Gründe für den Verzicht aufs »Ganze«, die sie in einer Auseinandersetzung mit der Leitwissenschaft: der Jahrhundertwende gewinnen. Im ersten Brief, der das »Verhältnis der Geologie zu unserer Zeit« beschreibt, hält Hauff fest, daß »das Gleichgewicht der Ueberzeugungen und Meinungen« am »Schluß des vorigen Jahrhunderts« »rasch aufgehoben« wurde. Und er fährt fort: Die durch die französische Revolution erzeugten Ideen, die Kantische Philosophie, die völlige Umkehr der Physik und Chemie durch die großen Lehren von der Wahlverwandtschaft und der Polarität, die deutsche Naturphilosophie, die geognostischen Theorien Werners und James Huttons, Omers, Leopold von Buchs und Alexander von Humboldts so fruchtbare Gedanken und Forschungen - alles dieß drängt sich in eine kurze Reihe von Jahren zusammen. Es sind eben so viele einflussreiche und umfassende Aperfus, welche den Gesichtskreis des Menschen nach den verschiedensten Seiten aufs überraschendste erweitert haben. Aber der Geist fand in allen nur eine augenblickliche Befriedigung. Aus den Höhen, auf die er gehoben wurde, erblickte er nirgends ein unmittelbares Ziel seines Strebens; er übersah nur einen viel weiteren Horizont als zuvor, voll Räthsel und Schwierigkeiten. Man überzeugte sich nach allen Seiten, daß die Synthesen des achtzehnten Jahrhunderts im Leben und Wissen blinde Anticipationen gewesen, daß vor allem Noth thue, das Geschäft der Analysis ernstlich und nach neuen Planen vorzunehmen; und der eigentliche Fortschritt bestand in Allem darin, daß man von der Speculation zur Erfahrung zurückkehrte.14

Die empirische Bewegung, die der Text als Signatur der Zeit >um 1800< erweist, ist für die Form von unmittelbarer Relevanz; sie impliziert eine Beschränkung, die im Kurzschluß von »Form« und »Erfahrung« die Voraussetzung der Entsprechung von Zeit und Poetik erkennt. Darüber hinaus entsagt sie jener Disziplin, die noch >um 1800< das auseinanderstrebende Wissen zu überwölben schien: »Polyhistorie«, dekretiert Hauff, »auch nur im Bezirk der Naturforschung, wird mit jedem Tag unmöglicher, und auch die Wissenschaft gedeiht jetzt nur durch jene Theilung der Arbeit, welche die Seele der materiellen Production der neuern Zeit ist.«15 Hauffs »Fortschritt« ist zunächst ein Rückschritt; er besteht in einer Beschränkung, die die »Erfahrung« gegen die »Synthesen« ins Spiel bringt und dadurch die »Höhen deutscher Metaphysik« programmatisch aus den Augen verliert. Die poetologischen Implikationen dieser Entscheidung schließen an eine

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Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. 2. Abt. Bd. 16. Hg. von Hans Eichner. München/Paderborn/Wien/Zürich 1981, S. 154. Hermann Hauff: Geologische Briefe. In: Η. H.: Skizzen aus dem Leben und der Natur. Vermischte Schriften. Bd. 2. Stattgart/Tübingen 1840, S. 405-499, hier: S. 406. Ebd., 407f. Zur Diskurslage der Historiographie um 1800 vgl. den Überblick von Daniel Fulda: Formationsphase 1800. Historisch-hermeneutisch-literarische Diskurse in der Rekonstruktion. In: Sdentia Poetica 6 (2002), S. 153-171.

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Auffassung an, die noch ein halbes Jahrhundert zuvor den Rahmen aller epistemologischen Bemühungen bildete: »Der Stoff der Gelehrsamkeit«, schreibt Sulzer in dem Buch Kurier Begriff aller Wissetischafien und andern Theile der Gelehrsamkeit, das im übrigen an den Beginn seines Kanons die Philologie setzt, »ist unendlich«: Sie gleichet einem Baum, der alle Jahre neue Zweige treibet, aus welchen hernach große Aeste werden. In den neuem Zeiten ist sie zu einer Ausdähnung angewachsen, daß sie sehr schwer zu übersehen ist. Nil mortalibus arduum. Sie ist ein Land, dessen Umfang, Gränzen und Distrikte vielen Einwohnern desselben unbekannt sind. Kein Mensch hat Leben oder Kräfte genug, alles darin kennen zu lernen. Indessen ist es angenehm einen Abriß desselben vor sich zu haben [...]. Ein Werk, worin alle Theile der Gelehrsamkeit abgehandelt werden, wird eine Encyklopädie genennet. Ein in allen Theilen der Gelehrsamkeit erfahrener Mann bekommt den Namen eines Polyhistors. Bey dem gegenwärtigen sehr ausgedähnten Zustand der Gelehrsamkeit, ist es ein eiteles Unternehmen nach diesem Namen zu streben, der die Kräfte eines Menschen weit übersteiget Es ist auch zur Erweiterung der Gelehrsamkeit weit besser, daß jeder einige wenige und mit einander verbundene Theile wähle, denen er aus allen Kräften obliege. Ein rechtschaffener Gelehrter aber muß in keinem Theile ganz unwissend seyn.16

Das organisch-genealogische Bild von den Wissenschaften als »Baum« stiftet wie die Metapher vom »Land« einen Zusammenhang,17 den Hauff nicht mehr einräumen kann; in »der neuern Zeit« sind solche »Synthesen«, die trotz aller Widerstände Endlichkeit und Überschaubarkeit zumindest versprechen (und im zentralen Begriff der »Encyklopädie« festhalten18), von der »Erfahrung« selbst durchkreuzt worden. An der Stelle des Rahmens, den in der enzyklopädischen Ordnung das Alphabet fixierte (das die Philologie in ihrem Rang als erste Wissenschaft bestätigte), erscheint die Kontingenz von »Leben und Wissen«. Die alphabetisch geordnete Fallsammlung, der wenigstens potentiell die Repräsentation »alle[r] Theile« der Welt obliegt,19 wird von der Einsicht in Partialität und Vorläufigkeit des Wissens verdrängt: Es ist hier nicht zu betrachten, welche Bedeutung dieses Flüssiggewordenseyn der Persönlichkeit und des Wissens für die Cultur und die Geschichte hat; ebensowenig, wie das

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Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff der Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Innhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. 5. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1778, S. 6f. Zu Sulzer vgl. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert Stuttgart 1994, S. 410-439. Vgl. dazu die Überlegungen von Helmut Müller-Sievers: Über Zeugungskraft. Biologische, philosophische und sprachliche Generativität. In: Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, S. 145-164. Zur literarischen Wirksamkeit der Enzyklopädik vgl. Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600-2000. München 2003. Vgl. auch den Überblick: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädie. Hg. von Theo Stammen und Wolfgang E. J. Weber. Berlin 2004.

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Michael Neumann heutige Individuum durch die Theilung der Aufmerksamkeit, durch dieses Anziehen von geistigem Stoff aus allen Strichen in den einen Beziehungen freier, selbstständiger und kräftiger, in andern dagegen abhängiger und schwächer geworden ist, als der Durchschnittsmensch früherer Generationen. Es ist hier nur um die Bemerkung zu thun, daß bei diesem großartigen Encyclopädismus, bei dieser schnellen Verbreitung der Resultate aller Forschung, doch auch heutzutage die populären, landesläufigen Begriffe von einer Wissenschaft hinter dem wirklichen Stand derselben eine bedeutende Strecke zurückbleiben.20

Der im formalen Kontinuum Kleiner Prosa stattfindende Übergang von Exemplum und Kasus zu einer Fallbeschreibung, deren Kriterien naturwissenschaftlicher Natur sein wollen, offenbart einen Paradigmenwechsel, der die Inhalte des epistemologischen Optimismus' betrifft: Die Abschüeßbarkeit zum guten Ende (von Geschichte und Wissenschaft) wird von der Hoffnung auf Fortschritt ersetzt. Was also noch Sulzers Horizont ausmacht, wird von Hauff verabschiedet. Indes ist beiden ein Zugriff gemeinsam, der der Besetzung besagter »Höhen deutscher Metaphysik«, soll heißen: der »Höhen« des deutschen Idealismus, die gleichsam im Zeitraum zwischen Sulzer und Hauff erobert wurden, die »Erfahrung« an die Seite stellt; sie soll das Mittel sein, um der »neuem Zeit« auf die Spur zu kommen.

2. »Anhäufung einzelner Bilder«. Formen der Empirizität Hauffs Poetik der kleinen Form steht am Schluß einer poetologisch-epistemologischen Tendenz, die tatsächlich >um 1800< virulent ist und in Texten Goethes ebenso beobachtet werden kann wie in den Arbeiten Alexander von Humboldts. Im Zentrum der gattungstypologischen Präferenzen und Reflexionen steht jeweils das Phantasma einer Äquivalenz von Zeit, Wissen und Form. Die Bewegung in einen »Raum der Empirizität« (Michel Foucault)21 zeitigt mithin formale Konsequenzen, die einerseits die Form des Romans und andrerseits die Form naturwissenschaftlicher Texte betreffen; beide nähern sich in jenem Zeitraum, der zugleich die Formation der Naturwissenschaften im modernen Sinn bedeutet,22 in ihren epistemologischen Ansprüchen einander an. Als Wissensspeicher weisen sie dabei jene Merkmale Kleiner Prosa auf, die ihren Ursprung in der Fragmentarisierung von »Erfahrung« und »Aufmerksamkeit« besitzen. Mit der Ausdifferenzierung und institutionellen Etablierung der Wissenschaften im Lauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verliert sich diese Annäherung. Das Problem der Form reduziert sich in diesem Prozeß der Entfaltung zunehmend auf kommuni-

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Hermann Hauff: Geologische Briefe (wie Anm. 14), S. 417f. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Koppen. Frankfurt a.M. 1974, S. 107. Vgl. Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Wien/Weimar 2004, S. 587-698.

»Totaleindruck« und »einzelne Theile«

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kative und ästhetische Binnenlogiken; es -wird in dem Maß ein jeweils systeminternes Problem, in dem sich die Erkenntnisinteressen und die Ansprüche der Disziplinen, die zwischen Naturwissenschaft und Literatur konvergierten, voneinander lösen oder miteinander in Konkurrenz treten. In der Einleitung zu Alexander von Humboldts Vittoresken Ansichten der Cordillenn und Monumenten americanischer Völker ist dieser historische Moment als poetologische Erwägung anzutreffen: Schüchtern übergebe ich dem Publicum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben, und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Ueberblick der Natur im Grossen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, den die unmittelbare Ansicht dem fühlenden Menschen gewährt - sind die Zwecke, nach denen ich strebte. [...] Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, grosse Schwierigkeiten der Composition. Der Reichthum der Natur veranlasst Anhäufung einzelner Bilder. Diese Anhäufung aber stört die Ruhe und den Totaleindruck des Naturgemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus.23

Auffällig ist zunächst, daß die Kriterien des Übergangs von »naturhistorische[n] Gegenstände[n]« zum »Totaleindruck des Naturgemäldes« mit jenen Figuren der Sinnstiftung identisch sind, die Hauff in der Natürlichen Theologe anfuhrt: Es geht die Rede von »Gefühl und [...] Phantasie«, von »Styl« und »ästhetischefr] Behandlung«, schließlich auch von der »Composition«. Der »Ueberblick der Natur im Grossen« erweist sich als Resultat einer Strategie der Asthetisierung; er abstrahiert vom »Reichthum der Natur«, um seine »Zwecke« durchzusetzen. Das Scheitern dieser »Zwecke«, das in der Formulierung von der »Anhäufung einzelner Bilder« benannt ist, bezeugt zugleich die Authentizität des beschriebenen Gegenstands. Es hat seine Ursache im »Reichthum der Natur« selbst und ist übers Medium der »Erfahrung« zum Gegenstand der Beschreibung geworden. Eine »Anhäufung einzelner Bilder« wiederum kann man auch Goethes Roman Wilhelm Meisters Wandeljahre attestieren, dem noch Thomas Mann unterstellte, daß er ein bloßes »hochmüdes, würdevoll sklerotisches Sammelsurium« sei.24 Es soll im folgendenfreilichkeine gattungstheoretische Diskussion eröffnet wer-

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24

Alexander von Humboldt Pittoreske Ansichten der Cordilleren und Monumente americanischer Völker. Tübingen 1810, S. Vf. Vgl. dazu Daniel Tobias Seger »... die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemüthes ...« Alexander von Humboldt und das Erhabene. In: Scientia Poetica 6 (2002), S. 59-76; sowie: Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne. Hg. von Ottmar Ette/Ute Hermanns/Bernd M. Scherer/Christian Suckow. Berlin 2001, S. 3 - 7 2 Thomas Mann an Hermann Hesse, Brief vom 8. April 1945. In: Th. M.: Briefe 1937-1947. Hg. von Erika Mann. Frankfurt a.M. 1963, S. 424f., hier: S. 424. Allerdings sollte der Kontext der Bemerkung nicht ausgeblendet werden: Der Brief besteht unter anderem in einem Lob von Hesses Glasperlenspiel, das im Gegensatz zu den Wanderjahren ein gelungenes Alterswerk sei.

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den; es geht vielmehr darum, die Virulenz von Denkfiguren aufzuweisen, die die Entscheidung für kleine Formen mitverantworten. Denn im Gegensatz zum pejorativen Unterton, der die Bemerkung Manns grundiert, läßt sich darin ein formaler Aspekt erkennen, der Goethes Roman an die empirischen Tendenzen seiner Gegenwart anschließt und in ihnen den Verzicht auf narrative Kontinuität zugunsten korrespondierender kleiner Prosastücke begründet Die »Betrachtungen im Sinne der Wanderer« setzen die »strenge Erfahrung« als Voraussetzung der »Bildung«; indes versehen sie den Verlust des »Ganzen« mit einem melancholischen Vorzeichen: Es ist »das größte Unheil unserer Zeit«, daß sie »nichts reif werden läßt«. »Das Verhältnis der Künste und Wissenschaften zum Leben ist nach Verhältnis der Stufen worauf sie stehen, nach Beschaffenheit der Zeiten und tausend andern Zufälligkeiten sehr verschieden; deswegen auch niemand darüber im Ganzen leicht klug werden kann.«25 Schließlich finden sich in den »Betrachtungen« zwei Bemerkungen, an die Hauffs poetologische Direktive unmittelbar anschließt und die es zugleich erlauben, den Problemzusammenhang gleichsam axiomatisch zusammenzufassen: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.« Und: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.«26 Schon in der Italienischen Reise hatte Goethe ein Wahrnehmungsprogramm formuliert, das die »Erfahrung« ins Zentrum der Poetik rückt: Goethes Ziel ist die »Entäußrung von aller Prätention«, er wolle »das Auge Licht sein lassen«: »Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre.«27 Die Prämissen der Wahrnehmung, die die Poetik selbst fundieren, lassen ein induktives Verfahren kenntlich werden, das die Erfassung des »Ganzen« zumindest vertagt. Die von Alexander von Humboldt angesprochenen »Schwierigkeiten der Composition« widerstreiten auch im Fall Goethes jenem »Totaleindruck«, den zumal die zeitgenössische Kritik von Goethes Roman erwartete. Der Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre verweigert sich einer Erwartung, die in der Literatur zu einem »Ganzen« zusammenzwingen möchte, was vom Wissen der Zeit nicht zusammengedacht werden kann. Mit anderen Worten: Das »Sammelsurium« (Thomas Mann) gibt das Bild der Zeit, das sich im konkreten Fall auch jenen geschichts-

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26 27

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre [1829]. (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [Münchner Ausgabe]). Bd. 17. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München 1991, S. 239-714, hier: S. 517f. und 519f. Ebd., S.532f. Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [Münchner Ausgabe]. Bd. 15). Hg. von Andreas Beyer und Norbert Miller. München 1992, S. 157 und 141. Zur anthropologischen Wahrnehmungskonfiguration um 1800 vgl. Caroline Welsh: Hirnhöhlenpoetik. Theorien zur Wahrnehmung in Literatur und Ästhetik um 1800. Freiburg i.Br. 2003; Peter-Andre Alt: Kartographie des Denkens. Literatur und Gehirn um 1800. In: »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft. Hg. von Norbert Eisner und Werner Frick. Göttingen 2004, S. 163-192.

»Totaleindruck« und »einzelne Thüle«

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philosophischen Gewißheiten gegenüber verschließt, die Schiller in der Korrespondenz über Goethes Roman einklagt.28 Tatsächlich sind die strukturellen Merkmale des Textes — Notate, Einschübe, Briefe, Exkurse, Erzählungen, aphoristische Sentenzen und redaktionelle Bemerkungen — einer Logik der kleinen Form verpflichtet, die Hermann Hauff als Reflex auf die epistemologische Situation seinerzeit erweist: Die Menschheit war in so fern wissender geworden, als ihr Blick nicht mehr süffisant über die Oberflachen der Erscheinungen hinweg- und hinausschweifte, sondern in ein unendliches Labyrinth von Aufgaben tauchte. Sie sah überall eine grenzenlose Bahn möglicher Forschung und Reform vor sich liegen und gewöhnte sich, der ein2elsten Thatsache ihr Recht wiederfahren zu lassen.2'

Der Verzicht auf »Totaleindruck« oder »Synthesen«, der in der Kleinen Prosa eine äquivalente »Form« findet, -wird also nur dort als Mangel empfunden, wo der epistemologische Anspruch des Textes nicht nachvollzogen wird, wo vielmehr das >Einzelne< seinen Sinn nur im Horizont seiner Einordnung unters >Ganze< erhält:30 »Ja es ist jetzo«, heißt es dagegen in den Wandetjahnn, »die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in diesem Sinne wirkt.«31

3. »Skizzen«, »Umrisse« und »Bilder«. Metaphorologie Kleiner Prosa Die metaphorische Inanspruchnahme von Bildmedien in der (gattungstypologischen) Qualifizierung der Textproduktion zeigt paradigmatische Fixierungen, die den Anspruch der Texte sowohl in poetologischer als auch in epistemologischer Hinsicht offenlegen. Dieser Anspruch artikuliert das Phantasma einer Präsenz der »strengefn] Erfahrung« im Text selbst: Die Fiktion einer Gegenwärtigkeit der verhandelten Dinge figuriert in der Literatur in Formmetaphern, die den Text als Bild ausweisen. »Die Suspendierung des Buchstäblichen«, schreibt Sybille Krämer in ihrem gleichnamigen Aufsatz, bestehe darin, daß »die Entstehung der metaphorischen Bedeutung [...] an die Offenlegung von Analogien zwischen dem, was unsere begriffliche Taxonomie als absolut Unterschiedenes kennzeichnet«, gebunden ist, »und wenn die identitätsstiftende Rolle des Analogischen ein Charakteristikum des mythischen Weltbildes ist, dann zeugt die Metapher vom lebendigen Fortbestand einer mythischen Sicht der Realität. Das metaphorische Sprachverfahren enthüllte sich so als ein Residuum der mythischen Konstitution des Wirk-

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Vgl. zunächst Zeitgenossen über Goethes »Wanderjahre«. In: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (wie Anm. 25), S. 1028-1049. Dort auch weiterführende Literaturhinweise (S. 1028). Hermann Hauff: Geologische Briefe (wie Anm. 14), S. 406. Allgemein zu diesem Aspekt der »Semantik Alteuropas«: Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1998, S. 912-931. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (wie Anm. 25), hier: S. 270.

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lichen.«32 Es ist diese »identitätsstiftende Rolle des Analogischen«, die die Differenz der hier verhandelten poetischen Verfahren zur Naturwissenschaft markiert: Hauff benennt seine Texte als »Skizzen«, Humboldt spricht von »Ansichten« und Goethe schreibt von »Bildern und Gleichnissen«. Zur Charakteristik dieser Metaphern gehört, daß sie nicht allein den Anspruch des Textes, sondern auch dessen poetologjsche Vorannahmen transportieren. Allesamt bezeichnen sie eine Vorläufigkeit, die zugleich Voraussetzung des Wissens ist; die entsprechend qualifizierten Texte nehmen also keineswegs nur einen Anspruch zurück, namentlich den der »Naturphilosophie«, die in Absehung vom »Theil«, von Hauffs »Thatsachen«, aufs »Ganze« zielt. Schellings Arbeit Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur kann hier stellvertretend zitiert werden: Die leisesten Verändrungen, z.B. bloß räumlicher Verhältnisse, haben in diesem lebensvollen Ganzen Erscheinungen von Wärme, licht, Electricität zur Folge: so beseelt zeigt sich alles, ein so inniges Verhältniß des Theils zum Ganzen und des Ganzen zum Theil. [...] In demselben Verhältniß, in welchem das Band aufgeschlossen wird, fängt das Verbundene selbst an, unwesentlich zu werden, und wird einem immer größeren Wechsel unterworfen. Das Verbundene, als solches, (die bloße Materie) soll nichts für sich seyn; sie ist nur etwas als Ausdruck des Bandes, daher diese beständig wechselt, indeß das Organ, d.h. eben das Band, die lebendige Copula, die Idea selbst, wie durch göttliche Bekräftigung, besteht und immer dasselbe bleibt 33

In den Formmetaphern Kleiner Prosa begegnet nicht allein die Korrektur einer Tendenz, die durch die programmatische Vorläufigkeit von »Bildern«, »Skizzen« und »Umrissen« im Rekurs auf den Status des transportierten Textwissens korrigiert wird. Vielmehr produzieren die Metaphern einen semantischen Uberschuß, der die Relevanz der Texte für den Prozeß einer Genese des Wissens selbst erweisen soll: Sie sind die Bedingung der Möglichkeit einer Wissensakkumulation, die auf der Höhe der Zeit ist. Die Metaphorologie der kleinen Form ist mithin (jenseits der pragmatischen Grenzen, die etwa dem Redakteur Hauff durchs Medium der Zeitung gesetzt werden) an mediale Umgebungen und medientechnische Innovationen gebunden, die die Rezeption des Textes als Versprechen einer Analogie begleiten. Die Lektüre gleicht der Auseinandersetzung mit einem Bild, das die Natur des Gegenstands wiedergibt. Dieses Versprechen spielt ohne Frage auch in journalistische Formen hinein; die zeitgenössischen literarischen >Reisebilder< können hier ebenso als Referenz angeführt werden wie die zahlreichen Texte, die als >Guckkastenbilder< oder >Panoramen< figurieren.34 In nachgerade

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Sybille Krämer: Die Suspendierung des Buchstäblichen. Über die Entstehung metaphorischer Bedeutung. In: Allgemeine Zeitschrift fur Philosophie 5 (1990), S. 61-68. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts. Hamburg 1806, S. 28, 30. Zu Idealismus und Naturphilosophie vgl. auch die in Anm. 3 erwähnten Arbeiten. Vgl. dazu Gerhard Plumpe: Der tote Bück. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990.

»Totaleindruck« und »einzelne Theik«

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idealtypischer Weise offenbart sich diese Konfiguration in der Titelgebung eines literarischen Stadtporträts, das einen enzyklopädischen Anspruch vertritt: Bilder aus London, in derjüngsten Zeit nach dem Leben entworfen von Otto von Rosenberg. Mit 10 ebenfalls nach der Natur vom Verfasser gezeichneten Ski%%en.3S Die Konsequenz aus der Logik der Metaphern zieht Hans Christian Andersen, indem er sie in eine Poetik ummünzt, die das Schreiben Kleiner Prosa als Anfertigung »leichtefr] Umrisse auf dem Papiere, durchflochten mit meinen eigenen Gedanken«, bezeichnet: Bilderbuch ohne Bilder lautet der Titel einer Sammlung zwei- bis dreiseitiger Prosastücke, die, so die Herausgeberfiktion, einem Maler vom Mond mitgeteilt werden: »>Male nun was ich erzähle,< sagte er bei seinem ersten Besuch, >so wirst du ein recht schönes Bilderbuch erhaltene« Diejenigen Bilder, »welche ich gebe, sind nicht gewählt, sondern folgen wie ich sie gehört habe; [...] was ich zeige, sind nur leichte Umrisse auf dem Papiere, durchflochten mit meinen eigenen Gedanken [...].«36 Der Ausschnitt, der in der kleinen Form als »Theil« der Welt begegnet, unterhält deshalb keine Relationen zum »Ganzen«, weil er selbst »Thatsache« sein möchte: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.«37 Eine Wendung ins Epistemologische finden diese Schreibweisen Kleiner Prosa, die wie gesagt übers Kriterium des Analogischen von den naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen im engeren Sinn zu trennen sind, in Heinrich Heines Zueignungsbrief an den Fürsten Pückler-Muskau, der der Buchausgabe der Lutetia vorangestellt ist: Um die betriebsamen Berichterstattungen zu erheitern, verwob ich sie mit Schilderungen aus dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft, aus den Tanzsälen der guten und der schlechten Sozietät, und wenn ich unter solchen Arabesken manche allzu närrische Virtuosenfratze gezeichnet, so geschah es nicht, um irgendeinem längst verschollenen Biedermann des Pianoforte oder der Maultrommel ein Herzeleid zuzufügen, sondern um das Bild der Zeit selbst in seinen kleinsten Nuancen zu liefern. Ein ehrliches Daguerreotyp muß eine Fliege ebenso gut wie das stolzeste Pferd wiedergeben, und meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selbst abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine Treue authentisch durch sich selbst dokumentiert Mein Buch ist daher zugleich ein Produkt der Natur und der Kunst, und während es jetzt vielleicht den populären Bedürfnissen der Leserwelt genügt, kann es auf jeden Fall dem späteren Historiographen als eine Geschichtsquelle dienen, die, wie gesagt, die Bürgschaft ihrer Tageswahrheit in sich trägt 38

Das Moment der »zarte [n] Empirie« wird in Heines Anverwandlung zu einer Denkfigur, die die Authentizität des »Dargestellte[n]« anzeigt. Mithin ist zum Ar-

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Otto von Rosenberg: Bilder aus London. Leipzig 1834. Hans Christian Andersen: Bilderbuch ohne Bilder. Aus dem Dänischen übertragen von Julius Reuscher. Berlin 1841, S. 2f. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (wie Anm. 25), hier: S. 532f. Heinrich Heine: Lutetia [1854]. In: Η. H.: Sämtliche Schriften. Bd. 5. Hg. von Klaus Briegleb. München 1984, S. 217-548, hier. S. 239. Vgl. dazu vom Verf.: Eine Literaturgeschichte der Photographie. Dresden 2006, S. 43ff.

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g u m e n t i n n e r h a l b d e s literarischen D i s k u r s e s g e w o r d e n , w a s z u v o r g e r a d e die G r e n z e z u j e n e m D i s k u r s d u r c h die B e n e n n u n g v o n » R h e t o r i k « u n d » P o e s i e « markierte. H e i n e s K l e i n e P r o s a integriert a l s o d e n n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n G e s t u s 3 9 u n d g e w i n n t in der Integration d a s M e r k m a l d e r » T a g e s w a h r h e i t « . D i e V o r läufigkeit, d i e die a n d e r e n T e x t e für sich i m B l i c k a u f d a s W i s s e n v o n der N a t u r schlechthin b e a n s p r u c h e n , bleibt d a d u r c h fürs F e l d der H i s t o r i o g r a p h i e erhalten: D a s B u c h k ö n n e » a u f j e d e n Fall d e m s p ä t e r e n H i s t o r i o g r a p h e n als eine G e schichtsquelle dienen, die, w i e gesagt, die B ü r g s c h a f t ihrer T a g e s w a h r h e i t in sich trägt.« T a t s ä c h l i c h verdeutlicht sich hier, d a ß es eine L i n i e gibt, die v o m G e s t u s n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h fundierter E m p i r i z i t ä t z u r Stilfigur d e s F l a n e u r s führt, z u d e r e n E i g e n h e i t e n die d e m o n s t r a t i v e B e f r e i u n g d e r W a h r n e h m u n g v o n m o r a l i s c h e n o d e r p o l i t i s c h e n D i s p o s i t i o n e n g e h ö r t . D e r V o r w u r f d e r K ä l t e w u r d e hier w i e d o r t geäußert. 4 0 I n d e r K l e i n e n P r o s a findet diese L i n i e ein a d ä q u a t e s M e d i u m , d a s als B i l d v o n » T h a t s a c h e « u n d » T a g e s w a h r h e i t « auftritt: Jetzt, wo das Neujahr herannaht, der Tag der Geschenke, überbieten sich hier die Kaufmannsläden in den mannigfaltigsten Ausstellungen. Der Anblick derselben kann dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewahren; ist sein Hirn nicht ganz leer, so steigen ihm auch manchmal Gedanken auf, wenn er hinter den blanken Spiegelfenstern die bunte Fülle der ausgestellten Luxus- und Kunstsachen betrachtet und vielleicht auch einen Blick wirft auf das Publikum, das dort neben ihm steht. Die Gesichter dieses Publikums sind so häßlich emsthaft und leidend, so ungeduldig und drohend, daß sie einen unheimlichen Kontrast bilden mit den Gegenständen, die sie begaffen, und uns die Angst anwandelt, diese Menschen möchten einmal mit ihren geballten Fäusten plötzlich dreinschlagen, und all das bunte, klirrende Spielzeug der vornehmen Welt mitsamt dieser vornehmen Welt selbst gar jämmerlich zertrümmern! Wer kein großer Politiker ist, sondern ein gewöhnlicher Flaneur, der sich wenig kümmert um die Nuance Dufaure und Passy, sondern um die Miene des Volks auf den Gassen, dem wird es zur festen Überzeugung, daß früh oder spät die ganze Bürgerkomödie in Frankreich mitsamt ihren parlamentarischen Heldenspielern und Komparsen ein ausgezischt schreckliches Ende nimmt und ein Nachspiel aufgeführt wird, welches das Kommunistenregiment heißt! Von langer Dauer freilich kann dieses Nachspiel nicht sein; aber es wird um so gewaltiger die Gemüter erschüttern und reinigen: es wird eine echte Tragödie sein. 41

35

40

41

Zur Geste als Textfigur vgl. Nicolas Pethes: Die Transgression der Codierung. Funktionen gestischen Schreibens. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. von Margreth Egidi/Oliver Schneider/Matthias Schöning. Tübingen 2000, S. 299-314. Hiltrud Gnüg benannte diesen Gestus als »Kult der Kälte« (H. G.: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur. Stuttgart 1988); vgl. auch dies.: Art. Dandy. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karl-Heinz Barck u.a. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2000, S. 814-831. Heinrich Heine: Lutetia (wie Anm. 38), S. 373f. Zu Dufaure und Passy »als Depurtierte aus dem linken Zentrum« (»sie schwankten immer, ob sie das Ministerium oder die Opposition unterstützen sollten«) vgl. Heinrich Heine. Säkularausgabe. Bd. 10/11. Kommentar (Pariser Berichte, Lutezia). Bearbeitet von Lucienne Netter. Berlin/Paris 1991, S. 176.

»Totaleindruck« und »einzelne Theile«

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Die Kulisse der Warenwelt wird transparent;42 sie öffnet sich zu einem geschichtsphilosophischen Ausblick, der die Ästhetik nicht in der Ethik, sondern vielmehr in der Empirie fundiert: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.« Der Flaneur wird dort Geschichtsphilosoph, wo der Empiriker Naturhistoriker war. In der empirisch grundierten Wahrnehmung des Flaneurs gewinnt das Detail im Feld der Philosophie jenen Wert, den es in der Wahrnehmung des Naturhistorikers für die Naturgeschichte besaß. Hauffs »Oberflächen der Erscheinungen« werden zur Auskunftsstätte historischer Verläufe, indem der Text das Stück, das auf dem Theatrum mundi gegeben wird, auf seine dramaturgischen Koordinaten reduziert. Damit kehrt aber ins Gebiet von Rhetorik, Poetik, Ästhetik und Geschichtsphilosophie zurück, was zuvor gerade in der programmatischen Abkehr von diesen Feldern als Möglichkeit einer Entsprechung von Wissen, Zeit und Form imaginiert wurde. Die Verschiebung des Fokus der Wahrnehmung zeigt zugleich die Ausdifferenzierung an, zu deren Signatur paradoxerweise die Rückkehr der Denkfigur des »Ganzen« unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen gehört. Die Kleine Prosa wird wieder Medium des »Ganzen«; die »Thatsache« zum Ausgangspunkt einer Überschreitung, die die Transparenz der Verhältnisse physiognomisch ermittelt. Die Einholung des »Ganzen«, die in Wilhelm Meisters Wandeljahren programmatisch vertagt wird (und zwar in der berühmten Schlußsentenz »Ist fortzusetzen«43), ist denn auch im Fall der bereits zitierten Passage Alexander von Humboldts schon gegeben, nämlich im avisierten »Totaleindruck des Naturgemäldes«, zu dem »Bilder« durch »Styl« und »Composition« synthetisiert werden sollen. Humboldt selbst hatte diesem Verfahren in seiner kleinen Schrift Ideen einer Physiognomik der Gewächse einen programmatischen Text gewidmet, der bereits im Titel jene Reduktionstechnik anführt, die es erlaubt, in den »Oberflächen der Erscheinungen« dem »Ganzen« auf die Spur zu kommen. Dazu ist einer Prämisse zu folgen, die abermals den Unterschied zwischen Hauff und Goethe auf der einen und Humboldt und den Romantikern auf der anderen Seite verdeutlicht, nämlich der, »von Lokalphänomenen zu abstrahiren«: Der »Totaleindruck einer Gegend« könne durch die Erkenntnis der »Physiognomik der Natur« fixiert werden. »Dem Künstler ist es gegeben, die Gruppen zu zergliedern, und unter seiner Hand löst sich (wenn ich den Ausdruck wagen darf) das grosse Zauberbild der Natur, gleich den geschriebenen Werken der Menschen, in wenige einfache Züge auf!«44 Die Analogie, die Humboldt im Nebensatz anspricht, bringt als Phantasma physiognomischer Lektüren die komplexitätsreduzierende Überführung des »Zauberbild [es] der Natur« in Schrift ins Spiel; sie legt dadurch die

42

43 44

Vgl. dazu Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt München 1998, S. 303-336. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (wie Anm 25), S. 714. Alexander von Humboldt Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen 1806, S. l l f . und 25.

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Michael Neumann

Logik eines Zeichenbegiiffs zugrunde, der selbst physiognomisch funktioniert und trotz der Abstraktion von »Lokalphänomenen« dem Text die Repräsentation derselben im »Ganzen« zutraut. Daß dieser Versuch, Kleiner Prosa das »Ganze« physiognomisch einzuprägen, gerade dort scheitern muß, wo unterm »Ganzen« keine geschichtsphilosophische Topik, sondern naturwissenschaftliche Erkenntnisse subsumiert werden, hat seine Ursache in der Beweglichkeit und Unbeständigkeit eines Wissens, dessen Komplexität nicht mehr, »gleich den geschriebenen Werken der Menschen«, in einer physiognomischen Reduktion stillgestellt werden kann.45 Hauff hatte dieses Problem im Blick, als er festhielt, daß ein System, irgend ein Complex logisch gegliederter Naturansichten immer erst dann in die Vorstellung der Menge und in die populäre Literatur übergegangen [ist], wenn die Forschung selbst langst schon weitergerückt ist, und oft eine ganz andere Richtung genommen hat Die populäre Vorstellung kann aber schon darum nie eine reine seyn, weil sie doch beständig der vorauseilenden Wissenschaft nachrückt und sich dabei verschiebt, indem sie immer zugleich auch einzelne der neuesten Ansichten und Erfahrungen aufnimmt, die dem Gros der gefaßten Ideen nicht selten, ja meist widersprechen. Die Menge, wenn sie von neu gewonnenen Begriffen oder Thatsachen frappirt wird, weiß häufig nicht, welche alte Meinungen sie dagegen aufzugeben hat, und so bildet in jedem dilettantischem Kopfe die betreffende Disciplin eine andere unregelmäßige Figur mit oft seltsam aus- und einspringenden Winkeln.44

Vielleicht kann man die Geschichte der Physiognomik selbst als eine solche »Figur« bezeichnen, deren »oft seltsam aus- und einspringende Winkel« sich dem Wunsch verdanken, die »neu gewonnenen Begriffe oder Thatsachen« in einem Bild von der Welt zu verorten, »gleich den geschriebenen Werken der Menschen«. In der Vorrede zur dritten, verbesserten und vermehrten Auflage der Ansichten der Natur, die 1849 abermals bei Cotta in zwei Bänden erschien, kann Humboldt nicht mehr umhin, der Geschichtlichkeit seines eigenen Ansatzes Tribut zu zollen: Die zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber nach dem demialigen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren) ist in der Vorrede zur ersten Ausgabe, fast vor einem halben Jahrhundert, bezeichnet worden. Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturscenen entgegenstehn. Die Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern: machen die Anordnung der einzelnen Theile und das, was als Einheit der Composition gefordert wird, schwer zu erreichen. [...] Es ist mir noch im achtzigsten Jahre die Freude geworden, eine dritte Ausgabe meiner Schrift zu vollenden und dieselbe nach den Bedürfhissen der Zeit ganz umzuschmelzen. Fast alle wissenschaftliche Erläuterungen sind ergänzt oder durch neue, inhaltreichere

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46

Es ist bekannt, daß dies nicht zuletzt für Humboldts letzten großen Versuch gilt, Natuigeschichte als Universalgeschichte zu schreiben: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Jubiläumsausgabe zum 14. September 1869. Stuttgart 1869. Vgl. dazu Petra Werner: Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein Kosmos. Berlin 2004. Hermann Hauff: Geologische Briefe (wie Anm. 14), S. 418f.

»Totakindruck«

und »einzelne

Theile«

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ersetzt worden. Ich habe gehofft den Trieb zum Studium der Natur dadurch zu beleben, daß in dem kleinsten Räume die mannigfaltigsten Resultate gründlicher Beobachtung zusammengedrängt, die Wichtigkeit genauer numerischer Angaben und ihrer sinnigen Vergleichung unter einander erkannt, und dem dogmatischen Halbwissen wie der vornehmen Zweifelsucht gesteuert werde, welche in den sogenannten höheren Kreisen des geselligen Lebens einen langen Besitz haben.47 »Moden«, so Hermann Hauff, »sind historische Symbole«. 48 W e n n Humboldt die »ästhetische Behandlung großer Naturscenen« »den Bedürfnissen der Zeit« unterwirft, dann zeigt sich darin eine sehr ähnliche Einsicht; sie stellt schließlich eine Erkenntnis ins Zentrum poetologischer Überlegungen, die das Verhältnis zwischen Wissen und Form einerseits in seiner Symbolizität und andrerseits in seiner Historizität würdigt. 49 Kleine Prosa wird dadurch gleich in doppelter Hinsicht zur historischen Auskunftsstätte; die »Moden« der Epistemologie lassen sich ihr ebenso ablesen wie die Denkfiguren, die jeweils zwischen den »einzelnen Theilen« und dem »Ganzen« vermitteln und in diesem A k t nicht weniger begründen als die Form des Weltbildes selbst.

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Alexander von Humboldt Ansichten der Natur. Mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen 1849, S. Xlf. und XIVf. Hermann Hauff: Moden und Trachten. Fragmente zur Geschichte des Costüms. Stuttgart und Tübingen 1840, S. 9. Das Buch enthält Beiträge, die zuerst im Morgenblatt publiziert worden sind; es kann selbst als wichtiges Beispiel einer Kleinen Prosa gelten, die die Figur des Flaneurs als Wahrnehmungsschema in Szene setzt, insbesondere deshalb, weil Hauff für die Abfassung seiner Fragmente auf die Unabdingbarkeit einer »sinnüchefn] Beobachtungsgabe« (S. 4) insistiert. Vgl. allgemein: Aktualität des Symbols. Hg. von Frauke Bemdt/Christoph Brecht. Freiburg i.Br. 2005.

Primus-Hein^ Kucher

Genrebilder und Brief-Korrespondenzen in österreichischen Zeitschriften/Anthologien vor und um 1848 und deren Relevanz für das Textfeld >Kleine Prosa< wienerisch eine gewollte Leichtfertigkeit im Ausdruck. (Hugo von Hofmanns thai, 1893) 1

1.

1836 erschien in Leipzig ein zweibändiger Reisebericht unter dem Titel Bilder und Träume aus Wien, verfasst von Adolf Glaßbrenner, der ein Jahr zuvor wie bereits andere Berliner Autoren vor ihm (der bekannteste war wohl Friedrich Nicolai, gefolgt von Willibald Alexis) die österreichische Haupt- und Residenzstadt aufgesucht hat, um ihrem kolportierten Zauber, ihrer ungenierten Gemütlichkeit sowie den vielbeklagten chinesischen Mauern rund um das Geistige nachzuspüren. Damit sollte nicht nur ein ungewöhnlicher, provokanter und von der Zensur (auch in Preußen) sofort verbotener Text vorgelegt werden, sondern auch ein — wie ich meine — origineller Beitrag zu dem entstehen, was hier Gegenstand der Reflexion ist: dem Textfeld der Kleinen Prosa. Dass dieser Text zwei Bände füllte, mag zwar auf den ersten Blick irritierend wirken. Nimmt man freilich die Struktur des Buches näher in Augenschein — eine zunächst an gängige Stadtbeschreibungen angelehnte Tableau-Form, die bereits nach wenigen Kapiteln durch Traumbilder, Porträtskizzen und diaristische Aufzeichnungen ihren systematischen Ansatz sukzessive unterläuft —, wird diese Zuordnung doch einigermaßen plausibel. Neuere Arbeiten zu Glaßbrenner heben denn auch die gattungspoetische Modernität hervor, seine texttypologische Heterogenität und Hybridität, die Heine und das unsystematisch offene Genre von Stadt- und Genrebildern, von Skizzen aufrufe, zugleich aber auch Anbindungen an spezifische lokale Wiener Stadt- und Genrebilder (Bäuede, Castelli, Groß-Hoffinger, Saphir) suche und nahe lege. Der Text kann adäquat nur in der Durchdringung und Überlagerung von zwei publizistiknahen Genres beschrieben werden, von literarischem Reisebericht und Stadtbeschreibung, genauer, von zwei formal konvergierenden Typen in beiden offenen, vielgestaltigen Textsorten.2

Hugo von Hofmannsthal: Im Vorübergehen. Wiener Phonogramme [Expose zum Text Kunstauction]. In: Η. v. H.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 31. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a.M. 1991, S. 8. Harald Schmidt: Reise in die »Ungeniertheit«. Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume aus Wien (1836). In: Hubert Lengauer/Primus-Heinz Kucher (Hg.): Bewegung im Reich der

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Primus-Hein£ Kucher

Glaßbrenners Bilder und Träume folgen also einerseits dem literarischen Reisebericht, und zwar dem Heineschen Typus der witzig-assoziativen Kombinatorik, andererseits »indizieren sie mit dem Gattungssignal >Bilder< auch das unsystematisch >bunte< Genre der Stadtbeschreibung, das sich mit seinen Skizzen [...] dem öffentlichen und privaten Menschenleben der Stadt zuwendet«3, - womit eine >moderne Schreibart mit konkreten lokalen, d.h. Wiener Erfahrungen und Wiener Bild-Material überblendet wird. Gerade dieses Unsystematische und Skizzenhafte, ein klarer Verstoß gegen die Regeln der zeitgenössischen Schul-Ästhetik, scheint Glaßbrenner angemessen im Hinblick auf das öffentliche Treiben< zu sein. Es erschließt ihm Räume der deskriptiven Wahrnehmung einerseits — »Jeder Schritt eröffnet dem Auge eine neue Perspective, ein anderes Gemälde [~.]«4 — sowie der ironischen Kommentierung und der Kritik andererseits. Bereits in den ersten dieser als >Genrebilder< fassbaren Kapitel über die Wiener und Wienerinnen verknüpft der Autor abrufbare Imagostereotypien (Gemütlichkeit, Genusssucht, Titelsucht, mangelnder Ehrgeiz versus norddeutsche Gelehrsamkeit, Aufklärung und Strebsucht) mit den sozialen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welchen sie (mit)verp fliehtet bzw. mit welchen sie konfrontiert seien, um daraus seine, zum Teil ungewöhnlichen Perspektiven zu gewinnen. So z.B. greift er den gängigen, durch offizielle Statistiken untermauerbaren Vorwurf der Rückständigkeit im Bereich der literarischen Produktion wohl auf; hinsichtlich der Lektüre zentraler zeitgenössischer Texte belässt es Glaßbrenner allerdings nicht beim ebenfalls gängigen Hinweis auf die Zensur, sondern er dreht die Argumentation überhaupt um: Gerade weil fast alles verboten war, wurde auch alles — außerhalb jeder Statistik — gelesen: »Da die Censur kein Buch erlaubt, dessen Funken dem Obskurantismus schädlich sind, so greifen die Wiener nur nach verbotenen Schriften [...]« Von mangelndem Interesse, so der übliche Vorwurf, könne keine Rede sein: Es ist ganz richtig, dass Börne in keinem Land so stark als in Ostreich gelesen wird [...] er [der die Formel vom >China Europas< geprägt hat, P.-H.K.] ist ihnen zum Bedürfnis geworden, weil er mit geistreicher und eisenfester Sprache ihre geheimsten Empfindungen offenbart.5

3 4

5

Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848—49. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen. Wien/Köln/Weimar 2001, S. 108-131, hier: S. 111. Zur spezifischen Wiener (Text-)Tradition vgl. Kai Kaufmann: »Es ist nur ein Wienl« Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien/ Köln/Weimar 1994. Vgl. Harald Schmidt: Reise in die »Ungeniertheit« (wie Anm. 2), S. 111. Adolf Glaßbrenner: Bilder und Träume aus Wien. Leipzig 1836, Bd. 1, S. 18 u. 30. Weitere Nachweise mit der Sigle BTW. Ebd., S. 34f. Möglicherweise stützt sich Glaßbrenner dabei auf Passagen aus Börnes Brief vom 30. Januar 1831, wo es ja unter anderem heißt »Campe schrieb mir neulich, daß meine Schriften in Österreich am meisten Abgang hätten.« Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Hg. von Alfred Estermann. Frankfurt a.M. 1986, S. 137.

Genrebilder in österreichischen Zritschriften vor und um 1848

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Hinsichtlich der >Wienerinnen — um kurz ein weiteres Beispiel anzuführen —, deren Sinnlichkeit Glaßbrenner irritierend anstößig zur Schau gestellt erscheint und denen dennoch der Vorzug vor den »klugen Weibern« Germaine de Stael, Rahel Varnhagen und Bettina Brentano gebühre, fuhrt er zwei Momente ins Treffen, welche literarische Projektionen und gesellschaftliche Bedingungen zu frappierenden Bildern amalgamieren: die ausufernde Sinnlichkeit habe nämlich als Quelle teils die »Politik Österreichs« mit ihrem repressiven Zug dem Geistigen gegenüber, die eine Flucht des Komischen und Satirischen aus dem öffentlichen Leben »in die Kloaken« zur Folge habe, d.h. in promiskuitive Stätten. Hinzu trete, als anderer Teil, die »Religion« mit ihrem rigiden Moral- und Ehekodex, welche »offenbar die Demoralisation befördern muß« und der Gegenwart den Stempel des »überall zerrissen«-Seins aufdrücke.6 Textstrategisch gesehen stieß Glaßbrenner mit diesen beiden Kapiteln die Tür auf fur eine auf Ironie und Paradoxie rekurrierende Technik sowie für weitere Bilder, Skizzen, Anmerkungen, Träume, d.h. für gattungsmäßig voneinander z.T. schwer abgrenzbare Formen, die — so die Publikationsgeschichte mancher nachfolgender Fälle, als prominentes Beispiel wäre an Adalbert Stifters >Wien-BilderSchreibart< in Frage, die Börne, Gutzkow und Heine um 1830-1840 mit ihren Briefkorrespondenzen und Reisebildern als Modell künf6 7

Ebd., S. 51 bzw. S. 50. Vgl. Adalbert Stifter. Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben. Mit Beiträgen von A. St, Carl Edmund Langer, Johannes Nordmann u.a. Pesth 1844; Separatdrucke einzelner Texte erschienen davon in den Wiener Sonntagsblättern sowie in der Wiener Zeitschrift fiir Kunst, Literatur, Theater und Mode.

Primus-Heins^ Kucher

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tiger Synthesen aus Dichtung und Publizistik, aus Dichtung und operativer Geschichtsschreibung, d.h. Kritik, entwickelt haben, um damit das Terrain für die 1840er Jahre, das Vorzimmer der Revolution, zu bereiten. Wenn hier von einer Bindung einer Gattung bzw. Subgattung wie jener der Genrebilder/-skizzen an publizistische Organe die Rede ist, dann sind damit vor allem jene Zeitschriften gemeint, die ab 1840 in der literarisch-publizistischen Öffentlichkeit an Gewicht gewannen, indem sie an den schwelenden bzw. durch die Rezeption anglofranzösischer (Stadt-)Prosa akzentuierten Debatten über das Profil einer >modernen< Prosa teilnahmen, ja z.T. deren privilegierte Foren wurden: Die Gren^boten, Der Telegraph, die Wiener Sonntagsblätter oder Die Gegenwart, die - zumindest für den österreichischen Bereich — bereits länger etablierten Organen zur Seite traten bzw. zur Konkurrenz wurden, z.B. der Wiener Zeitschrift fiir Literatur, Theater und Mode, in der immerhin Adalbert Stifter 1840-1845 mehr als die Hälfte der bis dahin verfassten Studien-Texte (vom Debuttext Der Condor bis zu Die Barmherzigkeit) veröffentlicht hat. Während Die Gren^boten und Der Telegraph das Genre >CorrespondenzenGenreLebensbilderschlafenden Ungeheuersparler spatialmentgelingen< - war und war zugleich nicht nur journalistisches Experimentierfeld für literarische Karrieren. Sie gab darüber hinaus auch das Experimentierfeld ab für spezifische literarische Formen, die nach 1848 an Gewicht und Anerkennung gewinnen: für das literarische Feuilleton — auch als Weiterentwicklung von Genrebriefen und Skizzen zu verstehen wie bei Ferdinand Kürnberger, Daniel Spitzer und Betty Paoli — sowie für verschiedene Synthesen aus Genreskizzen und Dorf- bzw. Ghettogeschichten. Als Beispiele solcher angestrebter Synthesen können die unter >Skizzen< oder >Lebensbilder< firmierenden Produkte des geradezu als Textfabrikanten einzustufenden Anton Langer (1824-1879) oder jene von Sigmund Kolisch (1816-1886)10 angesehen werden, ferner die als >Genreskizzen< oder >Erzählungen< ausgegebenen frühen Texte von Leopold Kompert (1822—1886). Gerade letztgenannte, die textstrategisch an Stifters Studien-Modell erinnern (aber nicht mit ihm konvergieren),11 sollten ab 1845 das Terrain der Dorfgeschichte (so die nur z.T. zutreffende Klassifizierung in der Literaturgeschichtsschreibung) neu vermessen, d.h. eigentlich grundlegend ausweiten auf einen Lebens- und Sozialraum, den Berthold Auerbach 1851 in einem Brief an Hieronymus Lorm als gelungene Vorwegnahme eines von ihm angestrebten Vorhabens bezeichnet hat. Kompert habe bereits, so im Brief, »die Aufgabe genommen und gelöst, die ich mir noch vorgesetzt hatte, nämlich, das jüdische Dorfleben selbständig zu behandeln.«12 Überhaupt kann Kompert als interessantes Beispiel dafür herangezogen werden, wie ein Übergang aus journalistischer Brotarbeit zur Literatur gelingen konnte und inwiefern dabei auch ein Funktionswandel von reisejournalistischen, deskriptiven Texten hin zur Form des Genrebildes und in weiterer Folge zur Ghettogeschichte (oder jüdischen Dorfgeschichte) zum Tragen kam.

8 9

10

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12

Vgl. dazu Stifters Äußerungen in Briefen um 1840-1842. Vgl. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, S. 12f. Zu den beiden Autoren vgl. die biographischen Angaben in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 4, S. 82 (Kolisch) und Bd. 5, S. 3f. Vgl. Maria Theresia Wittemann: Draußen vor dem Ghetto. Leopold Kompert und die Schilderung jüdischen Volkslebens< in Böhmen und Mähren. Tübingen 1998, bes. S. 122f. Zit. nach Stefan Hock: Einleitung: Komperts Leben und Schaffen. In: Leopold Kompert Sämtliche Werke in zehn Bänden. Leipzig 1906. Bd. 1, S. XXXIII.

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Primus-Ha/tz Kucher 3.

Wie elastisch das Genre-Verständnis war, zeigt ein Blick auf einen repräsentativen Sammelband der 1840er Jahre, auf die von Andreas Schumacher (Novellist, Redakteur der Zeitung Die Gegenwart 1845—1847) herausgegebenen Lebensbilder aus Österreich (1843). In ihm versammelte er ein heterogenes Textspektrum mit — aus zeitgenössischer Sicht — durchaus bekannten Beiträgern wie Johann Gabriel Seidl, Johannes Nordmann, Emanuel Straube, Friedrich von Schwarzenberg oder Josef Rank.13 Auch Anton Langer, mit rund einhundert Romanen um 1870 definitiv zur Spezies eines Textfabrikanten aufgerückt, beteiligte sich mit der »Skizze« Die Wiener Handlungsdiener. Interessant an dieser Skizze ist weniger das Sujet an sich (das im Rückblick eigentlich klischiert wirkt), sondern die betont urbane Kodierung des Themas, der Sprache sowie die intertextuelle Referentialität. So setzt die Skizze mit einem Bezug auf Boz (Dickens) und dessen Sketches ein, die zunächst 1835—1836 im Morning Chronicle erschienen waren, um sie als mögliches Modell aufzurufen: Boz hat mit origineller Feder Londoner Skizzen geschrieben, mit kecken Zügen zeichnet er die Bewohner der Riesenstadt am Themseufer, ihre Vorzüge und Schwächen. Sollte man nicht auch Physiognomien der österreichischen Hauptstadt darstellen?14

An den Handlungsdienern, »deren ganze Klasse« wiederum in größere Gruppen, z.B. die >der freigewordenen Handlungsdiene«, der >Lions< als »Kern dieser Klasse« sowie die der >altemden Häupter< bzw. Geschäftsführer aufteilbar sei, lässt Langer, in Anlehnung an Kommis- und Straßenbilder von Dickens Facetten der Modernisierung und Kapitalisierung des Alltags an Details durchscheinen: an der Kleidung, am Konsum, am Kaffeehausbesuch und Billardspiel oder am Kaufverhalten, die Status und somit den Marktwert anzeigen, einen ökonomischen wie einen erotischen, sowie ritualisierte Initiationsmuster: Vor allem muß er sein Augenmerk auf die Kleidung lenken. Denn Kleider machen Menschen. Sein glänzender Hut, sein grüner Quäcker, die engen Pantalons geben ihm ein vorteilhaftes Aussehen, aber die Hauptsache ist die Cravate, aus der das majestätische Kinn hervorragt wie eine Blume aus düsterer Felsspalte [...] um unter seinen Kameraden zu einigem Rufe zu gelangen, schließt er sich an einen Lion an, mit ihm theilt er seine Cigarren, manchmal sogar seine Börse. Der lion führt ihn in die Kaffeehäuser ein, lehrt ihn auf elegante Weise Billardspielen, und endlich glaubt unser junger Mann, daß die anmuthige Kassiererin ihre dunklen Augen mit Wohlgefallen auf ihm ruhen lasse.15

Vom Texttyp her gesehen lassen sich Stücke wie das vorliegende an den Schnittflächen von beschreibender Wahrnehmung und räsonierender Kommen13

14

15

Namen, die auch in Glaßbrenners >Wien-Bildern< gut wegkommen, z.B. Seidl, Ludwig August Frank!; BTW, S. 157f. Anton Langer Die Wiener Handlungsdiener. In: Andreas Schumacher (Hg.): Lebensbilder aus Österreich. W e n 1843, S. 18—23, hier: 18. Zu Dickens' London-Sketches vgl. Fredric S. Schwarzbach: Dickens and the City. London 1979, bes. S. 30. Anton Langer: Die Wiener Handlungsdiener (wie Aim. 14), S. 19f.

Genrebilder in österreichischen Zeitschriften vor und um 1848

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tierung verorten, wobei bewusst ein Entwurfcharakter durch den Gattungshinweis »Skizze« in Kauf genommen bzw. angepeilt wird. Das Skizzenhafte verweist zugleich auf das Unfertige, auf ein potentiell Serielles, auch in sprachlicher Hinsicht und spekuliert nebenher auf das imaginative Sensorium der Leser. Während Dickens' Sketches ebenfalls Momentaufnahmen bleiben und ihr Reiz gleichermaßen im Offenen, Fragmentarischen wie in der Verdichtung zum Bild besteht, meint Langer, seine originellen Typen in eine sinnfälligere Ordnung bringen zu müssen: Er literarisiert, zitiert Shakespeare, Goethe, Schiller und Nestroy, führt Subspezies ein, darunter eine >ästhetischeFeuilletonisten< unter dem Titel Die Feuilletonisten vorgelegt hat, er durchstöbert — dies jedoch eher in anderen Texten — wie »ein wildes Raubtier genuß- und beutegierig das ganze Material einer Großstadt« und übersieht dabei »das Spiel der Individualitäten«.18 Ein weiteres Beispiel für den Versuch, von der Wahrnehmung eines Details aus Leben, eine Gestalt zu skizzieren, liefert Emanuel Straube, um 1870 einer der erfolgreichsten Feuilleton-Romanciers, mit seinem Beitrag Das Weib mit dem blauen Vortuch.Thema dieses Textes ist ein Leichenbegängnis, freilich ein Zug weniger durch die als vielmehr aus der Stadt hinaus, in dem auf die paradoxe Konvivenz von paganischen Mythen und moderner, urbaner Zivilisation angespielt wird, wobei der Erzähler ein auffälliges Detail, das des blauen Tuches, mit Beharrlichkeit 16

17

Vgl. Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989, S. 32f. Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1982,

Bd. 1, S. 531 (DerFlaneur).

18

19

Ferdinand Kürnberger Die Feuilletonisten. In: Sprache und Zeitungen und andere Aufsätze zum Pressewesen. Mit einem Nachwort hg. von Karl Riha. Siegen 1991, S. 13-19, hier S. 13f. Emanuel Straube: Das Weib mit dem blauen Vortuch. In: Andreas Schumacher (Hg.): Lebensbilder aus Österreich (wie Anm. 14), S. 71-73.

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einkreist, am Ende allerdings den Text — aufdringlicher als Langer — in moralisierende Kommentierung kippen lässt. Ähnliches - d.h. Interesse fur die soziale, die industrielle« Physiognomie der Stadt und offenkundige Schwierigkeiten, dies adäquat zu gestalten — ist von einer in Zeitschriften der 1840er Jahre häufig anzutreffenden Rubrik zu sagen: der Rubrik »Wien und die Wiener. Wiener Briefe«, die 1846—1847 in der wiederum von Andreas Schumacher redigierten Zeitung Die Gegmvart, ein »Politisch-literarisches Tagsblatt« dem Untertitel nach. Urbane Erfahrungen wie das Gewicht saisonaler Rhythmen und Zwänge, die Entwicklung der Zeitungslandschaft oder die sich ändernde (politisch-soziale) Physiognomie einzelner Stadtviertel rücken dabei unübersehbar in den Vordergrund.20 Programmatisch liest sich z.B. der »XXVIII. Brief« (Nr. 67/1846), der wie folgt einsetzt: Es geht nichts über die Industrie! Unsere Zeit ist so durch und durch industriel, daß auch die Träger des Geistigen, diejenigen, die das Geistige verkörpern, durch und durch industriel geworden! Die Litteratur, die Kunst, die Wissenschaft amalgamiren sich, fließen in eins zusammen und erscheinen als Industrie auf dem Markt des Lebens - offenbar ein Fortschritt, der keinen Tadel verdient.21

Dem Hymnus auf das anbrechenden kultur-industrielle Zeitalter folgt die Skepsis auf dem Fuß. Zwar habe es den Anschein, dass die Wissenschaft nicht mehr betteln gehe, ebenso »die Kunst [...] nicht mehr nach Brot« und die »Dichter [...] nicht mehr in Dachstuben [wohnen], womit also Kryptozitate Lessings und Heines den Text in seiner Exposition mittragen, aber diese neue Qualität habe ihren Preis, nämlich den, Dinge tun zu müssen, »von denen die alten Poeten nichts träumten«, denn: »sie [die Dichter, P.-H.K] gehen um mit den Herren der Erde, sie reiten, fahren, jagen, duellieren sich bisweilen und zwar nicht blos mit den Federn [...] sie machen Alles.« Dabei merkten sie nicht, »wie Alles Dunst und dass sie arm an Gefühl und alt an Erfindung sind«, denn »die Industrie deckt [...] all diese Mängel zu [...J«22 Zu Profiteuren dieser Entwicklung avancierten jene, die den Geist der Industrialisierung, das Kommerzielle, zu erfassen und auf die Kunst-Praxis zu übertragen verstünden, wie der zweite Teil des >BriefesLebensbilder< fortan deutlicher prägen sollten. Für diese aus dem Blickwinkel von 1846 doch offene wie ungewisse Perspektive stellt die Technik der Genreskizze bzw. jene des Genrebriefes einen zwar vorläufigen, ästhetisch fragwürdigen, aber dominanten Wahrnehmungsparametern offenbar korrespondierenden formalen Rahmen dar. Damit öffnet sich hier nicht nur thematisch eine in Wien bislang auf ironische Zeichnung von Kleinepisoden aus dem sozialen Alltag fokussierte Textsorte. Denn in der selben Nummer der Gegenwart erschien z.B. auf der vorangegangenen Seite als quasi traditionelles Genrebild ein mehrteiliger Text mit dem Untertitel »Szenen und Skizzen aus dem Ehestandsleben«,24 in einer anderen Nummer eine Art Nachtstück von A. Langer Wien in der Nacht (Suizidthema),25 in anderen wiederum erscheinen alpenländische Genrebilder von Franz Mitterbacher, eine Selbstbiographie eines Wittes™ ein Hymnus auf die >StaberlBrief< mit dem Untertitel »Bilder von der Promenade« hin, der ausgehend von einer flüchtigen Reflexion über Formen des Spazierengehens zunächst auf deren möglichen Erkenntnismehrwert abhebt, 23 24 25 26

Ebd. Ebd., S. 314. GW 1846, Nr. 3, 3.1.1846, S. 10-12. GW 1846, Nr. 9,12.1.1846, S. 36f.

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wenn es heißt: »um nicht blos frische Luft, sondern mitunter auch eine Idee zu schöpfen«, oder neben und mit der »Schaustellung neuer Toiletten« die Promenade auch als Informationsdrehscheibe erlebt bzw. studieren will. Von hier aus lässt sich der Übergang zu einem Lebensbild rasch herstellen und zwar im vorliegenden Fall über beobachtend erzählte Tauschgeschäfte zwischen Eros und sozialem Status mit konventionellem Ausgang (Heirat im beiderseitigen Interesse). Im Wechsel vom reflexiven zum berichteten Teil zielt der Text auf jene thematische wie formale Durchlässigkeit, die im zeitgenössischen Kontext - eingeflochten werden zudem literarische und journalistische Bezüge auf die zu Vergleichen bemühten Autoren Paul de Kock, Ida Hahn-Hahn sowie ein Verweis auf »Pariser Feuilletonisten« - offenbar Modernität signalisierten.27 Diese Texte mögen im Rückblick die Ansprüche an die Form, die freilich >ex posteriore und von prominenten externen Stimmen definiert wurden,28 eher unterbieten als erfüllen. Doch sie bildeten ein erstes Experimentierfeld für jenes Textfeld >FeuilletonStrich< sein wollte, eine Form, wie sie seit den späten 1850er Jahren mit Langzeitwirkung bis hin zu Karl Kraus, der sich in mehreren FackeJ-Texten zu einem potentiellen Vorgänger wie Kürnberger explizit bekennt,29 in der Wiener Publizistik und Literatur entstehen wird: ein Textgenre, das offen und heterogen bleiben will, sich auch als Fortsetzung des Volkstheaters mit anderen Mitteln verstand,30 jedenfalls sich aber im Schnitt- und Spannungsfeld einer zunehmend publizistischen und eher sekundär werdenden literarischen Öffentlichkeit, d.h. mit Anbindungen an außerliterarische Faktoren und Erfahrungen, zu positionieren suchte.31 27 28

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GW 1847, Nr. 45, 23.2.1847, S. 207. Vgl. dazu Hubert Lengauer, der auf die Problematik der Übertragung der Benjaminschen Begrifflichkeit auf das Wiener Feuilleton der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinweist und mit Bezug auf Hofrnarmsthal und dessen Aufsatz Der Schalten der Lebenden (1925) das regionale Kolorit und die Bindung der Form an die lokale literarische Tradition — vor und nach 1848 wesentlich eine, die vom Volkstheater geprägt war - einmahnt; H. L.: Das Wiener Feuilleton nach 1848. In: Kai Kaufmann/Erhard Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Berlin 2000, S. 102-121, bes. S. l l l f . Vgl. die zahlreichen Bezugnahmen von Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel.\ v.a. im Zeitraum 1906—1908. Dazu auch Karl Riha: Zu Ferdinand Kürnbergers kritischer Position. In: F. K : Sprache und Zeitungen und andere Aufsätze zum Pressewesen. Mit einem Nachwort hg. von K. R. Siegen 1991, S. 43-53. Vgl. z.B. Ferdinand Kürnberger Der Mongole. In: F. K : Siegelringe. Eine ausgewählte Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Hamburg 1874, S. 227-232. In diesem Text versuchen u.a. ein Kritiker und ein Amateur die Adressaten und den idealen Ort feuilletonistischer Texte zu präzisieren, und auf die Frage, ob die Politik ins Feuilleton gehöre, heißt es da: »Schreibe ich denn Politik? Fragte ich erstaunt. Ich schreibe das Theater-Referat der österreichischen Tragödie [...]« (S. 227). Vgl. dazu auch Hubert Lengauer Das Wiener Feuilleton nach 1848 (wie Anm. 28), S. 112 und 115, wo er den Feuilletonisten mit dem Wiener Typ des Coupletsängers vergleicht. Vgl. dazu Kai Kaufmann: Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung. In: Κ Κ / Erhard Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form (wie Anm. 28), S. 10-17, bes. S. 12.

Genrebilder in österreichischen Zeitschriften vor und um 1848

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4. Nach diesem Beispiel darf - in gebotener Kürze - ein Exkurs zu einem der -wichtigsten publizistisch-literarischen Organe, 2x1 den Grenzten, eingeschoben werden. Weniger die kulturpolitischen und literaturkritischen Positionierungen sind dabei hier von Interesse, als vielmehr die das Profil der Zeitschrift mittragende Kurzprosa und deren Funktionskontext. Diese Prosa, versammelt unter der Rubrik »Tagebuch« und unter Subrubriken wie »Correspondenzen« oder »Notizen«, die immerhin ein gutes Drittel des Gesamtumfanges der vierteljährlich erscheinenden Bände umfasste, bildet gleichsam ein eigenständiges Korpus. Generell zwar dem Genre der berichtend-kommentierenden nichtfiktionalen Texte zurechenbar, weisen diese in ihrer oft sorgfältigen sprachlichen Ausgestaltung, in ihrer spezifisch kritischen Tendenz, die an Börnes oder, zeitlich näher liegend, an Hebbels Briefprosa denken lässt, doch über das vordergründig Berichtend-Journalistische hinaus, obgleich sie ihm thematisch, formal und argumentativ entspringen. Neben dem Aufbau eines Netzwerks kommunizierender Nachrichten und Kommentare (insbesondere auf Transfers zwischen Leipzig und den aufstrebenden Zentren Budapest, Berlin und Prag abgestellt, aber auch Wien und Paris mit einbeziehend) führte sie junge Schriftsteller und Kritiker zusammen, die hier eine Plattform für Korrespondenzberichte vorfanden wie z.B. Leopold Kompert, Gustav Freytag und Ignaz Kuranda. Letzterer, der bereits in den späten 1830er Jahren mit dem Telegvph in Wien eine überraschend >modeme< Zeitschrift lanciert hatte,32 war überdies Redakteur der Zeitschrift bis 1848 und später Herausgeber der Ost-Deutschen Post (1848—1866), einer jener >restliberalen< Zeitungen Wiens, in denen das Feuilleton auch in der Phase des Neoabsolutismus überleben, ja sich weiter entfalten konnte. Wie war nun dieser Kurzprosateil der Grenyboten strukturiert, inwiefern lassen sich die Texte der zuvor benannten Rubriken im gegenständlichen Horizont verorten? Grundsätzlich folgten die Korrespondenz-Berichte einem ziemlich präzisen räumlich-zeitlichen Raster - Aus Paris oder Die Schweiber Frage, um zwei Beispiele zu nennen —, d.h. sie waren mit klareren Konturen versehen, als dies bei den >Notizen< üblicherweise der Fall war. Unter »Notizen« konnte der Leser vielmehr breitgestreute Themenangebote in knapper textlicher Ausarbeitung vorfinden: Millionäre und Literaten. - von Hannover nach Braunschweig. - Neue Art von Inhabern. Thiers und seine Verbreitung. - Heine und die Franzosen. - Ein deutsches Blatt in Belgien. - Ein russisches ben trovato. - Noch eine russische Anekdote. — Programm zum »Zerrissenen« von Nestroy. - Die rheinischen Eisenbahnen. - Der Eremit von Gauting. - Verbot der sächsischen Vaterlandsblätter in Preußen. — Nur langsam. — Sander33.

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Der Telegraph, österreichisches Conversationsblatt für Kunst, Literatur, geselliges Leben, Theater, Tagsbegebenheiten, Industrie und Fabrikwesen. Wien 1836-1839. Vgl. Die Grenzboten. 1845, Bd. 2, S. 35. Weitere Nachweise mit der Sigle GB.

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Auf wenigen Seiten, denn dieser Rubrik waren schon ausfuhrlichere Korrespondenzberichte aus Berlin, Wien und Prag vorangestellt, ließen sich hier akzentsetzende Schlagzeilen-Informationen als Kommentare versammeln bzw. zu solchen modellieren, etwa durch skurrile Zuspitzung, ironische Kontextualisierung, durch chiffrierte Mitteilungen, um dem Untertitel der Zeitschrift gemäß - und dieser lautete bis 1848/49 »Zeitschrift fur Politik und Literatur« - beide Referenzfelder zu bedienen. Die einzelnen Abschnitte differieren im konkreten Informationswert ebenso wie in der sprachlichen Verdichtung. Neben eher kuriosen Mitteilungen eröffneten sich in diesen Rubriken immerhin Spielfelder für eine Prosa, in der kruder Bericht, Kommentar, verdeckte Polemik und literarische Techniken, etwa der aphoristischen oder skurrilen Zuspitzung, auf Synthesen zusteuerten, die freilich nicht immer als gelungen gelten können, mitunter aber bemerkenswerte Verdichtungen erreichten. Die mit Balzac und Gautier argumentierende Heine-Hochschätzung in Frankreich mündet z.B. darin, dass einer, Gautier, sich bei Heine via Feuilleton für Anregungen in La Presse bedankt, weil ihm dies als rascheste und geeignetste Kommunikationsform erscheint, womit diskret und unausgesprochen das Modernisierungsgefälle zwischen deutscher und französischer Realität — übrigens ein Leitmotiv zahlreicher Tagebuch-BenchteM - hervortritt: Die letzte so eben erschienene Novelle von Balzac ist Heinrich Heine gewidmet [...] Die französischen Schriftsteller sind überhaupt sehr galant gegen diesen liebenswürdigen deutschen Trotzkopf. Theophile Gauthier, der den Stoff seiner mit so vielem Glücke gespielten Feerie »die Willis« einem Heineschen Gedicht entnommen hat, bedankte sich dafür in einem Feuilleton der Presse, das Heine die geistreichsten Schmeicheleien sagt. Da ich nicht weiß, beginnt Gauthier, in welchem Winkel Sie sich jetzt befinden, so wähle ich als sicherstes Mittel, daß mein Dank Sie erreicltt, das Feuilleton einer Zeitung u.s.w.35

Der vergleichsweise ausfuhrliche Abschnitt Aus Pra£6 hingegen widmet sich in seiner Exposition der Frage der unbefriedigenden Rechtslage bei gemischten Ehen, was vor allem für das konfessionell geteilte Ungarn relevant war, um von diesem scheinbar peripheren Reformanliegen her ein grundsätzlicheres, weite Bereiche des öffentlichen und kulturellen Lebens einschließendes Feld aufzurollen, wie z.B. das des Unterrichtswesens, verbunden mit einem übergreifenden Appell zu nötiger Emanzipation vom römischen Klerus. Exemplarisch wird der Fall der gescheiterten Disziplinierung des Philosophen Franz S. Exner durch den Erzbischof von Leitmeritz herausgegriffen, um in einem Nebensatz auf ein ähnliches Ansinnen Friedrich Th. Vischer gegenüber in Tübingen hinzuweisen und von dort den Bogen zur konservativen Offensive französischer Bischöfe von Provinzstädten auszuspannen und Religion und Zensurpraxis anhand einer missglückten Verhinderung einer Flugschrift kurzzuschließen: eine erkennbare und spezifische

34 35 36

Vgl. z.B. GB 1846, Bd. 1, S. 123: Victor Hugo und die Zuckerbäcker - Arnold Rüge. Vgl. GB 1845, Bd. 2, S 36. Ebd., S. 31-35.

Genrebilder in österreichischen Zritschriflen vor und um 1848

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>Signatur des Zeitaltersoperativen< Textbegriffs ausmachen zu können.

5. Es stellt sich in diesem Kontext zwangsläufig immer wieder die Frage nach den innovativen ästhetisch-formalen Aspekten dieser Prosa, nach den konkreten Formen der Verschränkung von fiktionaler und politisch-journalistischer Technik, den Verfahren und Textbeispielen, welche die angesprochene Durchlässigkeit reflektieren bzw. kenntlich machen, — eine Frage, der abschließend anhand des Textes Spa^ergang eines Wiener Prosaisten nachgegangen wird. Der (anonyme) Verfasser eröffnet seinen Text, indem er auf erwartbare Reflexionen abhebt, d.h. er verknüpft bereits im Eingangsabsatz das Spazieren — dem Flanieren verwandt — mit literarischen wie politisch-kulturellen Erfahrungen, lässt anklingen, dass ihm gängige Bildmuster vertraut sind, Börnes Spaziergänge im Jardin de Luxembourg ebenso wie jene näher liegenden von Anastasius Grün, nimmt sich selbst jedoch als bescheidener, nüchterner Beobachter zurück: Es liegt im Spazierengehen die Tendenz, freie Luft zu schöpfen, es ist somit ein Act der Freiheit, ein Bestreben, die Brust zu erweitem, ein Kämpfen gegen die Beengungen der Mauern, ein unmittelbares Verkehren mit dem Athem des Weltgeistes, der Luft Es möge

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feiner in Prosa oder Versen gegangen werden, so läßt sich davon einiger Nutzen und viele Annehmlichkeiten ziehen.37

Der Streifzug durch die Stadt beginnt im Grunde konventionell, d.h. mit dem Stephansdom und dem Gerücht, sein Turm werde abgetragen. Dieses Signal der Irritation gibt dem Verfasser die Möglichkeit, von der gängigen deskriptiven Form abzurücken, das Assoziativ-Reflexive hervortreten und da und dort jenes Verkehren mit dem »Athem des Weltgeistes« durchscheinen zu lassen. Von der Nähe besehen und ohne systemische Ansprüche betrachtet, schaue dieser Weltgeist allerdings bescheidener aus, luge aus vielen Kalamitäten hervor, die es zu überwinden gelte. Da ist z.B. die innere Stadt, die »täglich beengter« werde,38 die sich gegen Mauern presse, gegen das Glacis, Mauern im realen wie im metaphorischen Sinn, oder das »sonderbare Irrgewinde des österreichischen Geschäftsganges«, die Bürokratie, wo Unter- und Oberbehörden im ständigen, rätselhaften und undurchsichtigen Wettstreit um Anmaßung und Abweisung von Zuständigkeiten lägen, beinahe eine Vorwegnahme kafkaesker Gerichtshöfe. Da ist aber auch die Musik, das Konsortium Strauß & Co., das alle Annoncen und Plakate dominiere, worauf vermutlich nicht ganz zufällig zwei signifikante Absätze folgen: einer über den Indifferentismus der Wiener und einer über die »Compression«, d.h. die bedrückte allgemeine Stimmung, die freilich auch »von der Compressibilität eines Elements« abhänge, wo der Wiener sich als besonders »empfanglich« zeige.39 Spätestens in diesen Absätzen wird deutlich, dass der harmlose Spaziergang nicht ganz ohne subversives Atemschöpfen abläuft, dass die Deskription weniger der äußeren Topographie der Stadt auf der Spur ist als eher einer verdeckten, die zugleich entsprechender Techniken der Deskription, des reflexiven Kommentars bedarf. Mit anderen Worten: je länger der Spaziergang dauert, desto weiter entfernt sich der Beobachter vom äußeren Straßen- und Stadtbild, um unter seine Oberflächen zu blicken und letztlich eine Skizze des intellektuell-politischen Interieurs der Stadt als Genrebild zu versuchen. Und da fugt sich der »Athem« rasch in ein zwar kodiertes, aber zugleich rekurrentes existentielles Raster: in den Konnex Leben und Freiheit, die von den Lesern als Chiffren erkannt werden konnte. Ferdinand Kürnberger hat diesen Konnex in einem Essay, erschienen als eines seiner frühen Feuilletons in den Wiener Sonntagsblättern 1848, geradezu zur Gleichung und Maxime erhoben, wenn er schrieb: »Freiheit ist nichts als unbehindertes geistiges Atemholen« und bedürfe keiner direkten poetischen Ansprache.40

37 38 39 40

GB 1846, Bd. 3, S. 527-532, hier S. 527. Ebd., S. 528. Ebd., S. 531. Ferdinand Kümberger: Die Poesie und die Freiheit. In: Sonntagsblätter, 30.7.1848; zit nach: F. K.: Gesammelte Werke. Hg. von Otto E. Deutsch. Bd. 2 München/Leipzig 1911, S. 4 1 3 418, hier: S. 417.

Genrebilder in österreichischen Zeitschriften vor und um 1848

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6. Obwohl die Liteiaturgeschichtsschreibung und die mit ihr eng verknüpfte Kanonbildung >bedeutende< Kurzprosa vor bzw. um 1848 in Osterreich vorwiegend auf Grillparzers Tagebuch-Aufzeichnungen und seinen Armen Spielmann sowie Stifters Studien-Texte, begrenzt und selbst die phasenweise vitale aphoristisch-epigrammatische Produktion (Grillparzer, Ernst von Feuchtersieben) bloß >en passant< wahrgenommen hat, scheint, und das zeichnet sich doch als Fazit ab, das Spektrum wesentlich breiter und anhand der angedeuteten Beispiele auch mit gewissem Entwicklungspotential versehen gewesen zu sein. Im Besonderen treten aus dem systematisch noch zu erfassenden Korpus von Almanach-Beiträgen, Anthologien sowie der journalistisch-literarischen Berichts-Prosa jene Formen hervor, die als Genrebilder41 eine z.T. ungewöhnliche Verknüpfung aus TableauTechnik, Stadtskizze und traditionellen narrativen Bauformen versuchen und dabei externe Anregungen (z.B. Glaßbrenner) ebenso aufgreifen wie lokalkolorierte Genreformen. Zum anderen wird dem Bereich der feuilletonistischen Prosa in den Zeitschriften fortan doch mehr Aufmerksamkeit zu schenken sein, fungierte sie nämlich nicht nur als Entwicklungsschiene hin zum klassischen Feuilleton der 1850-1890er Jahre im Umfeld von Ferdinand Kürnberger, Daniel Spitzer und der ebenfalls unterschätzten Betty Paoli, die schon 1848 an der Presse mitschrieb und seit 1866 angesehene Feuilletonistin fur die Neue Freie Presse war,42 sondern auch als zentrales experimentelles Feld, auf dem Durchlässigkeiten zwischen literarischer und politischer Rede auszuloten waren, um das Projekt einer >modernen< operativen >Schreibart< weiter zu treiben. Dieses Projekt war einer spezifisch empirischen, medienmodellierten Anverwandlung und textlichen Gestaltung von Wirklichkeit verpflichtet, in die zudem lokale Faktoren und Traditionen ihr Gewicht und Potential einbrachten. Ein besonderer Entwicklungsstrang der Genrebilder und -skizzen ergab sich im Wiener Raum zweifellos über den bereits erwähnten Leopold Kompert (1822-1886), nämlich hin zur Ausbildung der sogenannten >Ghetto-ErzählungGhetto-SkizzenKLASSISCHE< M O D E R N E ( 1 8 8 0 - 1 9 3 0 )

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Das Prosagedicht im Textfeld >kleiner Formern um 1900

Mit dem Prosagedicht wurde kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich ein neuartiger Texttyp konzipiert, der - nicht zuletzt auf Grund der raschen Verbreitung, die er in ganz Europa erfuhr - nachhaltigen Einfluß auf die Literatur um 1900 gewann und speziell für alle Formen von Kurzprosa in der »klassischem Moderne zu einem zentralen Bezugspunkt avancierte. Diese Funktion vermochte er vor allem deshalb einzunehmen, weil er ein historisch neuartiges Genremodell darstellt, das den bestehenden Textsorten nicht einfach eine neue Variante hinzufügt, sondern den Wirkungsbereich Kleiner Prosa besonders akzentuiert: als Ort nämlich, an dem Inkonsistenzen und Widersprüche der bis dato bestehenden Gattungsordnung in ihrer Konflikthaftigkeit modellhaft zur Anschauung gebracht werden können. Das Prosagedicht präsentiert sich demnach als textueller Reflexionsmodus literarischer Generizität, der stets über sich hinaus auf die - problematische — Verfaßtheit des Literatursystems insgesamt verweist. Die besondere Stellung des Prosagedichts im Ensemble fiktionaler Textsorten resultiert nicht zuletzt aus dem Umstand, daß es sich nicht — wie die meisten anderen Spielarten Kleiner Prosa — über einen längeren Zeitraum hinweg zur Eigenständigkeit entwickelt und erst allmählich von bereits existierenden Mustern abgenabelt hat, sondern daß es im Gegensatz dazu von Anfang an gezielt als distinkte Ausdrucksform auktorial generiert worden ist. Als Gattungsinventor, der zudem über ein klares Bewußtsein seiner Innovation verfügte, hat dabei Charles Baudelaire zu gelten. Er entwarf aus Protest gegen die dichotomische Verfaßtheit des Literatursystems, das durch zwei einander ausschließende Aussagemodi — nämlich >Poesie< und Prosa — gekennzeichnet war (und tendenziell noch immer ist), denen jeweils divergierende Themenfelder, Stillagen und Sprechhaltungen zugeordnet werden, mit seinen Petits poemes en prose ein Textmodell, das ebendiese komplementär gedachten Ausdruckssphären verschränkt und so die ihnen zugrundeliegenden Normen kalkuliert miteinander kollidieren läßt. Der dafür gewählte Gattungsname >poeme en prose< entspricht denn auch der Sprachfigur des Oxymorons, wobei der von Baudelaire gebrauchte Zusatz >petit< das neue Genre dezidiert im Feld der »kleinen FornK1 verortet, einer genetischen Interferenzzone mithin, deren textuelle Repräsentanten auf Grund ihres äußerst begrenzten Um1

Den Begriff prägte - obwohl es zuvor bereits ähnliche Umschreibungen dafür gegeben hat bekanntlich Alfred Polgar im Vorwort seiner 1926 erschienenen Kurzprosasammlung Orchester von Oben. Zur Genese des Prosagedichts als modernem Typus der »kleinen Form< siehe vor allem Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989.

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fangs in der Lage sind, viele der gängigen textuellen Strukturierungsregeln zu unterlaufen. In der Textsorte Prosagedicht geht also der tendenziell entdifferenzierende Abbau von Vertextungsvorschriften, der für die meisten Kurzformen charakteristisch ist, mit dem transgressiven Impuls der Überschreitung und Verkreuzung fundamentaler sprachlicher Ausdrucksbereiche eine hochbrisante Verbindung ein. Allerdings erwies sich Baudelaires Textmodell, das zudem von seiner Funktionslogik her stark an die Voraussetzungen des französischen Gattungssystems gekoppelt war, im Endeffekt als zu komplex, um ohne weiteres transkulturell vermittelbar zu sein. Die Petits poemes en pivse, die 1869 postum erstmals gesammelt gedruckt wurden (zuvor hatte Baudelaire — genretypisch — einzelne Texte bzw. Textgruppen in mehreren Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht), blieben denn auch im deutschsprachigen Raum geraume Zeit unrezipiert. Eingang in das deutsche Literatursystem fand das Prosagedicht erst auf dem Umweg über einen anderen Autor: Ivan Sergeevic Turgenev. Dieser seit langem in Frankreich lebende russische Schriftsteller, der bis dahin in erster Linie als Verfasser von Romanen und novellistischer Erzählprosa hervorgetreten war, stieß Anfang der achtziger Jahre auf Baudelaires Gattungsinnovation, nahm an ihr aber lediglich das Merkmal der >kleinen Form< wahr und begriff sie dementsprechend als verdichtete Kurzprosa mit allegorisierendem Charakter und der Tendenz zu aphoristischer Spruchhafügkeit. Den Aspekt der Verkreuzung von >Poesie< und Prosa und den damit verbundenen scharfen Kontrast von Themenfeldern, Stillagen und Sprechhaltungen in Baudelaires Texten übersah er bzw. drängte er im Akt der Rezeption beiseite.2 Auf diese Weise entstanden auf dem Weg der korrigierenden Nachahmung zahlreiche Kurzprosastücke, die 1883 unter dem Titel Stichotvorenija νpro%e — also: >(Kleine) Gedichte in Prosa< — in Buchform erschienen. Turgenevs Variante des Genremodells nun stieß von Anfang an auf begeisterte Zustimmung — und zwar europaweit. So kamen noch im Erscheinungsjahr der Originalausgabe nicht weniger als drei deutsche Übersetzungen der Stichotvorenija ν proye heraus. Im Gefolge dieser außerordentlichen Resonanz wurde das Prosagedicht endlich auch in Deutschland entdeckt. Und da die Erstrezeption von Turgenevs Texten zeitlich mit der Konstitutionsphase der naturalistischen Bewegung zusammenfiel, begriff man es zunächst als den Bedingungen der modernen Lebenswirklichkeit optimal angepaßte Form der Kurzprosa. Auf diese Weise amalgamierte sich das Genre in der öffentlichen Wahrnehmung stark mit der naturaliVgl. hierzu die Untersuchung von Adrian Wanner: Baudelaire in Russia. Gainesville/Tallahassee/Tampa/Boca Raton/Pensacola/Orlando/Miami/Jacksonville 1996, sowie seinen Aufsatz: From Subversion to Affirmation. The Prose Poem as a Russian Genre. In: Slavic Review 56 (1997), S. 519-541. Turgenev kann damit als Beispiel für den Typus des >starken< Autors gelten; vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. London/ Oxford/New York 1975. Seine »Einflußangst« ging schließlich sogar so weit, daß er den Namen Baudelaires nicht nur in seinem literarischen Werk, sondern auch in seinen Briefen nachgerade systematisch verschwieg.

Das Prosagedicht int Textfeld >kleiner Formern um 1900

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stischen Ästhetik der >Skizze< bzw. >StudieOffenheit< und dabei Momente wie Unfertigkeit und Ausschnitthaftigkeit zu Leitwerten erhob. 3 Raphael Löwenfeld, einer der deutschen Übersetzer der Stichotvorenija νpro%e, bezeichnete die Texte in der Einleitung seiner Edition als »scheinbar flüchtig hingeworfene, ja fragmentarische kleine Erzählungen«4 und präformierte damit ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum in entscheidender Weise. Die Wahl von Termini wie >Skizze< oder >StudieSkizzen< und >StudieStudien< zu solchen« aufzufassen seien; Arno Holz/Johannes Schlaf: Papa Hamlet / Ein Tod. Im Anhang: Ein Dachstubenidyll von J. S. Mit einem Nachwort von Fritz Martini. Stuttgart 1982, S. 18. Siehe hierzu auch Roy C. Cowen: Der Naturalismus. In: Hans Joachim Piechotta/Ralph-Rainer Wuthenow/Sabine Rothemann (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Opladen 1994, S. 68-111.

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Lyrik (1898/99) schreibt —, der literarischen Produktion »nicht bloß möglichst viel von der Frische des Entwurfes zu belassen, sondern ihr geradezu den Charakter des Entwurfes, von etwas Unfertigem, gleichsam im Entstehen Begriffenem, zu geben«8. Damit war das Prosagedicht schon bei seiner Einfuhrung in das deutsche Literatursystem direkt an das Gattungsspektrum der Kleinen Prosa angekoppelt. Eine nähere Bestimmung seines Genrecharakters und eine Funktionszuweisung ergaben sich freilich erst durch die jeweiligen Nutzer selbst. So konnte das Prosagedicht sowohl als eine Art Sammelbegriff für alle Typen kurzer Prosa als auch als spezifische Ausprägungsform — deren Eigenart im einzelnen jeweils noch zu bestimmen ist — innerhalb dieses Textfeldes verstanden werden. Zusätzliche Akzentuierung erfuhr die Deutung des Ausdrucksmodells als Variante der Kurzprosa dann durch einen belgischen Autor, und zwar durch JorisKarl Huysmans. In seinem — thematisch in mehrfacher Hinsicht auf Baudelaire rekurrierenden — Roman A rebours (Gegen den Strich) aus dem Jahr 1884 lieferte er nämlich eine eigenwillig akzentuierte Poetik des >poeme en prose kleiner Formern um 1900

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Das Prosagedicht präsentiert sich bei Huysmans also als eine Art sprachlicher Überbietungsgestus, als textgewordene Utopie eines literarischen Vollkommenheitsbegehrens. Während Baudelaire es noch an der Nahtstelle von >Poesie< und Prosa, >gebundener< und >ungebundener< Sprache angesiedelt hat, verortet es Huysmans nunmehr ganz im Bereich der Narrativik. Seine gleichsam >lyrische< Qualität erhält es erst sekundär, auf dem Weg äußerster Verdichtung: »So entstand eine kondensierte Literatur, eine Essenz, eine sublimierte Kunst«11, heißt es hierzu in Λ rebours. Zugleich wird das Genre Prosagedicht allen Großformen der Literatur ästhetisch übergeordnet, weil es auf kleinstem Raum den Gehalt eines umfangreichen Romans komprimiere und ihn dadurch gewissermaßen von seinen narrativen Redundanzen befreie. Dies läuft faktisch auf eine — mindestens partielle - »Entfabelung«12 der Narrativik hinaus. Der von Huysmans noch als exklusiver Darstellungsmodus konzipierte Gedanke des »auf ein oder zwei Seiten kondensierten Romans« wurde dann vor allem im Kontext der Wiener Moderne aufgegriffen13 und beispielsweise von Peter Altenberg zu einer regelrechten Poetik der >kleinen Form< ausgebaut.14 Das Ziel des von ihm in diesem Zusammenhang entwickelten »abgekürzten Verfahrens« besteht darin, »einen Menschen in einem Sat^e [...], ein Erlebnis der Seele auf einer Seite, eine Landschaft in einem Worte«15 zu schildern. Was die Textgestalt angeht, so fuhrt ein solcher »Telegramm-Stil« im Resultat zu Sprachgebilden, die mit hohem Aufwand hergestellten Konzentraten ähneln: Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel! Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extracte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in gemessbare Bouillon zu verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste, mit einem Worte sie dünnflüssig und verdaulich zu machen.16

Indem Altenberg zur Beschreibung seines Vertextungsverfahrens Metaphern verwendet, die dem Bereich moderner industrieller Fertigungstechniken entnommen sind, demokratisiert er freilich das vormals elitäre Konzept von Huysmans und erklärt die Kurzprosa umstandslos zu einem massenkompatiblen Gestaltungsmodus.17 Die Selbstcharakteristik seiner Texte lenkt den Blick darüber hin11 12

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Ebd., S. 333. Jacob Wassermann: Kolportage und Entfabelung. In: Wissen und Leben. Neue Schwerer Rundschau 19 (1926), S. 362-364. Zum Phänomen der »Entfabelung« als ästhetischem Programm vgl. Iris Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992, S. 9. Siehe Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg — Hofmannsthal - Polgar. Berlin/New York 1986. Vgl. hierzu Wolfgang Bunzel: »Extracte des Lebens«. Peter Altenbergs poetische Diätetik. In: Individualität als Herausforderung. Hg. von Jutta Schlich. Heidelberg 2006 (im Druck). Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Fünfundsechzig neue Studien. Dritte vermehrte und veränderte Aufl. Berlin 1906, S. 6. Ebd. Vgl. Roger Bauer: Le poeme en prose autrichien: de Baudelaire ä Peter Abenberg. In: Formes litteraires breves. Actes d'un colloque organise par lUniversite Blaise Pascal de Clermont-Ferrand, 1989. Wroclaw 1991, S. 239-254.

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aus auf eine im Zusammenhang aller Klein- und Kleinstformen der Literatur besonders -wichtige Instanz: den Leser. Er ist es nämlich, der die mit jeder Art sprachlicher Verknappung verbundene Herausforderung annehmen muß. Ähnlich -wie viele andere kurze Textsorten erfordert auch das Prosagedicht einen Rezipienten, dessen Aufmerksamkeit nicht auf die knappe Spanne der zur bloßen Aufnahme von Information nötigen Zeit beschränkt ist. Zwar scheint sich in dem Maß, in dem die in einem Text verwendete Zeichenmenge geringer wird, auch die Anzahl semantisch möglicher Bezüge zu verringern. Dieser rein quantitative Verlust an Ankoppelungsmöglichkeiten aber kann einerseits durch die Polyvalenz des verwendeten Sprachmaterials, andererseits durch eine komplexe Art der Vertextung wieder aufgefangen, unter Umständen sogar überkompensiert werden.18 Sowohl Huysmans mit seinem Phantasma des »ausgewählten Wortes«, das einen »zugleich präzisen und vielfältigen Sinn« besitzt, über den »der Leser wochenlang« nachdenken kann, als auch Altenbergs von Alfred Polgar als »Ausspartechnik«19 charakterisierte Darstellungsweise, die ihre Besonderheit vor allem aus dem bezieht, »was man >weise verschweigt«^0, geben jedenfalls einen deutlichen Hinweis auf die veränderten Rezeptionsanforderungen, auf die sich ein Leser von Prosagedichten einzustellen hat. Es geht dabei letztlich um eine Wahmehmungsart, die dem Leser von der Verslyrik her vertraut ist. Auf Grund dieser Analogie nun war es allererst möglich, drucktechnisch eindeutig als Prosa ausgewiesene Texte als >Gedichte< zu verstehen. Der Bezug zur Verslyrik, den Baudelaire seinen Petits poemes en prose nach dem Muster des von Jacques Derrida beschriebenen Akts der Durchstreichung, bei dem das Ausgelöschte weiterhin sichtbar bleibt, eingeschrieben hatte, wird damit im deutschsprachigen Raum anders hergestellt. Er ergibt sich hier nicht mehr über das dekonstruktivistische negative Aufrufen lyrischer Gattungskonventionen im Text, sondern durch eine habitualisierte Rezeptionshaltung des Lesers. Sobald 18

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Deshalb ähneln viele Ausprägungsformen kurzer Prosa, besonders aber natürlich das Prosagedicht, dem Typus des überstrukturierten Textes, der vor allem von der Verslyrik her bekannt ist; siehe hierzu etwa Jürgen Link: Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes. In: Funk-Kolleg Literatur. In Verbindung mit Jörn Stückrath hg. von Helmut Brackert und Eberhard Lämmert. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 1, S. 234-255. Letztlich ist in der Prosa vor allem »das Quantum der mitteilenden, d.h. einer außerästhetischen Funktion größer« als in den poetischen Gattungen; Jan Mukarovsky: Probleme des ästhetischen Werts. In: J. M.: Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik. Hg. und übersetzt von Holger Siegel. Mit einer Einleitung von Milos Sedmidubsky und einem Nachwort von Thomas G. Winner. Tübingen 1986, S. 9. Alfred Polgar: Peter Altenberg. In: Peter Altenberg: Der Nachlaß. Berlin 1925, S. 151. Die Altenberg-Forschung hat diesen Terminus dann übernommen. Vgl. etwa Peter Wagner: Peter Altenbergs Prosadichtung. Untersuchungen zur Thematik und Struktur des Frühwerks. Diss. (Masch.) Münster 1965. Der Begriff der »Ausspartechnik« läßt sich in mancher Hinsicht in fruchtbaren Zusammenhang mit Isers rezeptionsästhetischem Konzept der »Leerstelle« bringen; vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2., durchgesehene und verbesserte Aufl. München 1984, S. 257-355. Peter Altenberg Was der Tag mir zuträgt (wie Anm. 15), S. 6.

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ihm dutch entsprechende Signale — die gezielte Aussparung von syntaktisch-semantischen Verbindungsgliedern oder den extensiven Gebrauch von Tropen — suggeriert -wird, ein Text sei durch eine besondere Form sprachlicher Verdichtung gekennzeichnet, neigt er dazu, ihn als Äquivalent zur Lyrik zu betrachten. Zusätzliche Bekräftigung erhielt dieses Wahmehmungsmuster durch die zeitgenössischen ästhetischen Debatten in Deutschland und Österreich. Angesichts der Prädominanz der Naturwissenschaften als Weltdeutungsmodell und einer ständig komplexer werdenden sozialen Realität, die zunehmend vom Prinzip der Rationalität durchdrungen wurde, erschien Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere der Fortbestand der Verslyrik nicht länger gesichert. So vertrat etwa Carl Bleibtreu in seiner Streitschrift Devolution der Litteratur (1886) die Auffassung, daß »die Enge der lyrischen Form sie untauglich macht, den ungeheuren Zeitfragen zu dienen«21, und zeigte sich deshalb davon überzeugt, daß sich »die Lyrik [...] als Dichterberuf [...] überlebt«22 habe. Andere Autoren indes gestanden der Verslyrik auch unter den kunstfeindlichen Bedingungen der Moderne weiterhin eine Existenzberechtigung zu und entwickelten Vorschläge, wie eine Lyrik der Zukunft aussehen könnte. Den vielleicht ambitioniertesten Versuch unternahm in diesem Zusammenhang Max Halbe, der in seinem programmatischen Aufsatz Lyrik? (1889/90) bislang als basal angesehene Formelemente lyrischer Texte wie Metrum und Reim zu beliebig verfugbaren Kunstmitteln erklärte, deren Präsenz oder Absenz letztlich keinen Einfluß auf den Gattungsstatus habe, und kurzerhand »die Prosaform [...] als das lyrische Zukunftsideal«23 ausrief. Er begründete dies mit dem Hinweis darauf, daß sich in »Epik u. Dramatik«24 schon seit geraumer Zeit der Übergang von >gebundener< zu >ungebundener< Rede vollzogen habe und eine analoge Entwicklung sich nun auch bei der dritten dichterischen Fundamentalgattung ereignen werde. Zwar werde die Lyrik — bezogen auf die Gesamtheit literarischer Gestaltungsweisen — künftig an Bedeutung verlieren, doch würden sich ihr zugleich auf dem Feld der Prosa ungeahnte Wirkungsmöglichkeiten erschließen. Als gelungenes Beispiel für diese neuartige »Prosalyrik« nennt Halbe Turgenevs Gedichte in Prosa, die den »Reimdurchfallen zahlreicher Reimkünstler«25

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Carl Bleibtreu: Revolution der Literatur. Mit erläuternden Anmerkungen und einem Nachwort neu hg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1973, S. 67. Ebd., S. 70. Walter Hettche: Max Halbes Berliner Anfänge. Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachlaß. In: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997. Hg. von Adolf Haslinger, Herwig Gottwald und Hildemar Holl. Stuttgart 2000, S. 46-65, hier S. 63. Ebd. Ebd., S. 64. Daß Halbe das neue Gattungsmodell nicht nur theoretisch umrissen, sondern auch praktisch erprobt hat, zeigt der Text Das bist Du. Ein Gedicht in Prosa, der 1891 in der Münchner Zeitschrift Moderne Mätter erschien; er ist wiederabgedruckt in: Walter Hettche: Max Halbes Berliner Anfänge, S. 64f. In Halbes Erinnerungen heißt es später rückblickend über diese Zeit »Ich experimentierte damals viel herum, schrieb Skizzen, Studien, versuchte

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weit überlegen seien. Durch diese rhetorisch elegante Umdeutung, die in der Praxis freilich überaus heikle Folgen mit sich brachte, gelang es, das Prosagedicht zu einer besonderen Erscheinungsweise der Lyrik zu erklären.26 Die ursprünglich als Gegenentwurf zur Verslyrik konzipierte Textsorte erfuhr demnach im deutschen Literatursystem eine Reintegration in das bestehende Gattungsspektrum — und zwar entweder als Lyrik in »Prosaform« oder als Spielart nartativer Kurzprosa. Jene beiden Ausprägungsmuster, die Baudelaire noch zusammengezwungen und so zu einer brisanten textuellen Gegensatzstruktur fusioniert hatte, fielen im Rahmen der deutschen Gattungsgeschichte wieder auseinander. Daraus wird dreierlei ersichtlich: 1. Jedes Genre hat einen genuin historischen Index und unterliegt wechselnden Funktionszuschreibungen, die im Extremfall zeitlich sogar koexistieren können. 2. Da Gattungssysteme kulturspezifisch sind, variiert die Stellung eines Genres im Ensemble der Textsorten von Sprachraum zu Sprachraum. 3. Der interkulturelle Transfer von Gattungsmodellen - sei es auf dem Weg der Übersetzung oder auch der Lektüre in der Originalsprache — >deformiert< diese und paßt sie den jeweiligen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der aufnehmenden Kultur an. Bezogen auf das Prosagedicht bedeutet das: Das Gattungsverständnis wandelt sich im Verlauf der Rezeption der fremdsprachigen Muster tiefgreifend. Es wird nicht nur von den allgemeinen Normen des deutschen Literatursystems bestimmt, sondern zusätzlich noch von den ästhetischen Debatten beeinflußt, die zum Zeitpunkt der Aneignung des Textmodells gefuhrt werden. Außerdem hat der Rezeptionsakt mehr oder weniger nachhaltige Rückwirkungen auf das eigenkulturelle Gattungsensemble insgesamt. Die weitere Entwicklung des Prosagedichts in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, daß von Autor zu Autor wechselnd, aber auch den jeweils aktuellen ästhetischen Konjunkturen folgend entweder die eine oder die andere der beiden basalen Präsentations formen dominierte. Im Zuge der Revitalisierung der Verslyrik in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete sich vor allem das Modell der »Prosalyrik«, das im übrigen eine Ankoppelung des noch jungen Genres an ältere Erscheinungsweisen >poetischer Prosa< - wie etwa die biblischen Psal-

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mich in rhythmischer Prosa«; Max Halbe: Scholle und Schicksal. Die Geschichte meiner Jugend. Neue, durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. Salzburg 1940, S. 372. Die Forschung hat dieses Manöver die längste Zeit nicht durchschaut und so Positionen der ästhetischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts unreflektiert übernommen. Schon Victor Klemperer, die Gründungsfigur der akademischen Prosagedichtforschung in Deutschland, sieht die Entstehung der Gattung im Zusammenhang eines »Bemühens um Poetisierung der Prosa«; Victor Klemperer: Moderne französische Lyrik (Dekadenz - Symbolismus - Neuromantik) [1929]. Studie und kommentierte Texte. Neuausgabe mit einem Anhang: Vom Surrealismus zur Resistance. Berlin (Ost) 1957, S. 35. Das Prosagedicht erweitere den Spielraum der Lyrik, indem es »lyrische« Gestaltungsmittel auf die Prosa übertrage und so eine »rhythmisch beschwingte« Prosa schaffe, die Klemperer auch als »Prosalyrik« bezeichnet; ebd., S. 4. Für Fülleborn ist dann das Prosagedicht kurzerhand »Lyrik [...] in ungebundener Rede«; Ulrich Fülleborn: Das deutsche Prosagedicht. Zu Theorie und Geschichte einer Gattung. München 1970, S. 10.

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men, prosimetrische Formen, das im 18. Jahrhundert beliebte >genre melekleiner Formen< ziemlich einzigartige Situation, daß während der gesamten weiteren Gattungsgeschichte des Prosagedichts zwei verschiedenartige Varianten nebeneinander bestanden. (Im Grunde hat sich daran bis heute nichts geändert; selbst die Tatsache, daß Baudelaires Kurzprosatexte nach der Jahrhundertwende vollständig in deutscher Übersetzung zugänglich waren, vermochte die einmal eingetretene Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen.) Die Gattungsgeschichte spaltete sich so faktisch in zwei nebeneinander herlaufende Stränge auf, wobei die Art und Weise, in der das Prosagedicht zu einem bestimmten Zeitpunkt überwiegend genutzt wurde, gewöhnlich von den ästhetischen Präferenzen der jeweils dominierenden literarischen Strömung abhing. Dies erklärt nicht nur die anhaltenden Schwierigkeiten, welche die Forschung seit jeher mit dem deutschen Modell — oder besser: den deutschsprachigen Ausprägungsformen — des Genres hatte, sondern wirft auch ein Licht auf seine besondere Stellung im Ensemble Kleiner Prosa um 1900. Die im Kontext des Naturalismus erfolgte Nobilitierung der Prosa in Kombination mit der gleichzeitig betriebenen ästhetischen Legitimierung nurmehr ausschnitthafter Darstellung der Wirklichkeit führte jedenfalls nicht nur zur Akzeptanz des Vertextungsmusters Prosagedicht, sondern letztlich zu einer Aufwertung des gesamten Spektrums narrativer Kurzformen. Dies wiederum machte Rückgriffe auf ältere Texttypen möglich, die im Lauf der literaturgeschichtlichen Entwicklung entweder gänzlich außer Gebrauch gekommen waren oder lediglich an den Rändern des Gattungssystems weiterexistierten. Und so kam es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer geradezu explosionsartigen Ausbreitung verschiedenster Formen Kleiner Prosa. Das beginnt bei umfangsreduzierten Varianten der novellistischen Erzählung, für die sich seit dem Vormärz zunehmend die Bezeichnung >Novellette< eingebürgert hat.29 Unter dem Einfluß der skandinavischen Literatur erfuhr dieser Erzähltyp eine Wendung ins Realistische,30 so daft er 27 28

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Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Althaus im vorliegenden Band. L.[eif] L.[udwig] Albertsen: Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock. Aarhus 1971, S. 74. Vgl. hierzu etwa Willibald Alexis', Eduard Ferrands und Arthur Müllers Babiolen. Novellen und Novelktten (1837), Franz von Gaudys Novelletien (1837), August Lewaids Novelktten (1839) oder Clara Mündts Novellettenbuch (1841). Eine besondere Rolle spielen hierbei Heiberg, Jakobsen und Kielland; vgl. u.a. Hermann Heibergs Noveller og Novelletter (1884) und Hinterm Lebensvorhang. Novelletien (1898), Jens Peter

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in Deutschland problemlos als fur die Darstellung moderner ErfahrungsWirklichkeit geeignet aufgefaßt werden konnte.31 Daneben ereignete sich auf breiter Ebene eine Revitalisierung bereits seit längerer Zeit ins Literatursystem eingebürgerter Genres. Als Beispiele hierfür seien nur die Humoreske und die beiden benachbarten Textsorten Parabel und Fabel genannt. Während erstere sich gleichfalls seit dem Vormär2 großer Beliebtheit erfreute und im Grunde durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch präsent blieb, so daß eine Fortschreibung dieses Ausdrucksmusters ohne weiteres möglich war,32 war es im Hinblick auf die beiden letzteren deutlich schwieriger, an die vorhandene Gattungstradition anzuknüpfen, weil sie um 1800 abgerissen war. Doch half in diesem Fall die Existenz neuer Formmodelle dabei, die eingetretene Lücke zu überbrücken. So erschien etwa das Prosagedicht turgenevscher Prägung mit seiner stark moralistisch-allegorischen Komponente manchen Zeitgenossen als Beleg dafür, daß offen oder latent didaktische Genres ob der starken Verknappung ihrer Aussage auch in der Moderne noch nutzbringend eingesetzt werden können. Fritz Mauthner etwa untertitelte seinen 1892 erschienenen Band mit allegorisch verdichteter Kleiner Prosa kurzerhand mit der Doppelbezeichnung »Fabeln und Gedichte in Prosa«.33 Auf diese Weise kam es im späten 19. Jahrhundert — zusätzlich bestärkt durch zeitgenössische skandinavische Vorbilder34 — mehrfach zu einer Wiederbelebung der lange Zeit für obsolet gehaltenen Texttypen Parabel und Fabel.35 Nicht selten bewirkten die seit den achtziger Jahren zu beobachtenden Bemühungen um eine poetologische Funktionsbestimmung des Prosagedichts aber auch, daß Autoren sich dieser zunehmend Popularität gewinnenden und sich da-

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Jakobsens Bin Schuß im NebeL Novelktte (1875) oder Alexander L. Kiellands NoveUetter (1879) und Njie NoveUetter (1880), die auf deutsch unter dem Titel Novelktten (1884) und Neue Novelktten (1886) erschienen. Siehe unter der fast unüberschaubaren Vielzahl von Titeln nur Arthur Schnitzlers Die Frau des Weisen. Novelktten (1902) und Paul Scheerbarts Astrale Novelktten (1912). Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise Otto von Leixners Aus vier Dimensionen. Humoresken (o.J.), Emil Peschkaus Sommersprossen. Neue Humoresken (1884), Ernst von Wildenbruchs Humoresken und Andern (1886), Richard Schmidt-Cabanis' Nervöse Humoresken (1889), Heimine von Preuschens Tollkraut. Novelktten (1893), Gustav Falkes Harmlose Humoresken (1894), Dora Dunckers Überraschungen. Humoresken (1896), Julius Stettenheims Humoresken und Satiren (1896) oder Ernst Ecksteins Humoresken (1898). Vgl. Fritz Mauthner. Lügenohr. Fabeln und Gedichte in Prosa. Stuttgart 1892. Vgl. etwa August Strindberg: Moderne Fabeln. (Autorisirte Uebersetzung von Gustav Lichtenstein.) In: Das Magazin für Litteratur 62 (1893), S. 46f., 96f., 110f., 124, 143f., 187-189, 206-209. Siehe etwa Friedrich Hildebrandt-Strehlens Vierzig Fabeln (1880), Marie von Ebner-Eschenbachs Parabeln, Märchen und Gedichte (1892), Frida Schanz' 101 neue Fabeln (1898) oder Hanns Heinz Ewers' Märchen und Fabeln für große und kkine Kinder (1902). Nicht zufallig hat die Forschung zwischen einzelnen Texten Ebner-Eschenbachs und Turgenevs enge Beziehungen festgestellt; vgl. Alexander Stillmark: Ebner-Eschenbach und Turgenjew. Eine Begegnung im Prosagedicht In: Des Mitleids tiefe Liebesfähigkeit. Zum Werk der Marie von EbnerEschenbach. Hg. von Joseph P. Strelka. Bern/Berlin/Frankfurt a.M./New York/Paris/ Wien 1997, S. 219-237.

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durch allmählich verfestigenden Ausdrucksform mehr oder weniger gezielt zu entziehen suchten. Ein gutes Beispiel hierfür ist Peter Hille. Obgleich er das neuartige Gattungsmodell in seinen verschiedensten Spielarten nicht nur aufmerksam zur Kenntnis nahm, sondern auch als einer von ganz wenigen deutschsprachigen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts Baudelaires Petits poemes en prose frühzeitig im Original kannte,36 vermied er eine Fesdegung auf dieses Genre und knüpfte lieber an die deutsche Tradition sog. poetischer Prosa an.37 Das Bestreben, vorgegebene Wahrnehmungsschemata zu umgehen, führte bei ihm letztlich dazu, daß er jede Form von Gattungsraster mied und seine Kurzprosa vor der Fesdegung auf bestimmte Genremuster zu bewahren trachtete. Er tat dies, indem er entweder ganz auf Textsortenbezeichnungen verzichtete oder Gattungsnamen soweit individualisierte, daß sie ihren genetischen Charakter einbüßten. Zur Kennzeichnung seiner Kleinen Prosa griff er deshalb zumeist auf unspezifische Sammelbegriffe wie »Skizze« oder »Novellette«38 zurück. Falls dann aber — beispielsweise bei der Drucklegung - eine vereindeutigende Benennung unumgänglich wurde, begegnete er diesem Etikettierungszwang gern durch den Rückgriff auf ungewöhnliche oder auch durch die Erfindung von neuen Formtermini. Zugleich sind diese Namen aber auch Ausdruck seines Charakterisierungsbestrebens. So tragen Hilles Texte etwa Bezeichnungen wie »Atelierskizze« (Das Mädchen und die Goldfische), »Ostseeskizze« (Am Strande), »Phantastische Kinderskizze« {Weltwiese, 2. Fassung), »Londoner Skizzen« (Dirty Dick), »Artige Skizze aus dem schönen Hellas« (Phryne), »Arabeske« (Mein Brautfuchs), »Biblische Burleske« ((Goliath, der Wtederauferstandene), »Spiritisten-Humoreske« (Unter Geistern), »Flagellanten-Humoreske« (Zwei Rutenstreiche), »Federzeichnungen« (Der letzte seines Stammes, Exotisch und 'Räuberheim), »Phantasie« (Unter einem guten Stern), »Scherzo« (Wohltäter Wein), »Ein Kapriccio aus der Wirklichkeit« (Ein fideler Abend), »Baby-Capriccio« ('Weltwiese, 1. Fassung), »Knabenphantasie« (Das Fegefeuer), »Ein Symbol« (Ahasver — Veronika), »Ein Lebenssymbol« (Verschlummert), »Ein Teufelsspäßchen« (Ästhetik in der Hölle), »Agrarische Kriminalgeschichte« (Ein ungeheures Verbrechen), »Neue deutsche Reichsmär« (Barbarossa ist auferstanden) oder auch nur »Karma« (Banger Traum).

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Siehe hierzu die entsprechenden Belege in meinem Aufsatz: »Echte Lyrik nährt sich von der feinsten Epik.« Peter Hilles Kurzprosa im ästhetischen Kontext ihret Zeit. In: Der Prophet und die Prinzessin. Peter Hille und Else Lasker-Schüler. Hg. von Walter Gödden und Michael Kienecker. Bielefeld 2006, S. 67-82. Das Vorbild, das Hille dabei vor Augen hat, sind insbesondere die »Streckverse« Jean Pauls. Proben dieser allenfalls leicht rhythmisierten Kurzprosa im Übergangsbereich von Narrativik und Lyrik hatte Jean Paul in seinem Roman Flegeljahre (1804/05) vorgelegt Dort gibt er sie aus als »Gedichte nach einem freien Metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien Vers haben«, der »nach Belieben verlängert« werden kann, »Seiten-, bogenlang«; Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. Abteilung I. Bd. 2: Siebenkäs / Flegeljahre. München/ Wien 1959, S. 634, Briefe von und an Peter Hille. In: Peter Hille (1854-1904). Hg. von Martin M. Langner. Berlin 2004, S. 125-221, 223-246 (»Anmerkungen zu den Briefen«), hier S. 167.

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Die fest inflationär wirkende Vielfalt dieser Untertitel, die im übrigen gezielt Anleihen aus allen Bereichen künsderischer Gestaltung — also auch aus Musik und Malerei — nehmen, belegt in aller Deutlichkeit, wie sehr Hille der Vereinnahmung durch eine kategorisierende Gattungspoetik zu entgehen trachtete. Er trifft sich darin vor allem mit seinem Kollegen Paul Scheerbart, der ihm seit Beginn der neunziger Jahre freundschaftlich verbunden war und der die Strategie, nahezu jeden seiner Texte mit einer anderen, jeweils unverwechselbaren Genrebezeichnung zu versehen, nachgerade zu seinem Markenzeichen als Autor gemacht hat. Bei ihm begegnen im Bereich der Kleinen Prosa nicht nur eine »Damen-« (Der Lichtclub vonBatavia), eine »Ehe-« (Der Geldschrank), eine »Luxus-« (Das Rubin-Zimmer), eine »Zukunfts-« (Lachende Götter), eine »Warenhaus-« (Fliegendes Dynamit), eine »Spekulanten-« (Die Reise ins Jenseits), eine »kulturhistorische« (Die Perseiden und die Leoniden) und eine »Telegramm-Novellette« (Das Oyeansanatorium fiir Heukranke), eine »Persische« (Hoftrauer), eine »Ninivitische Bibliotheks-« (Der brennende Harem), eine »Assyrische Feldherrn-« (Die Schlachtpomade), eine »Assyrische Burg-« (Marduk) und eine »Palmyrenische Fackeltanz-Novellette« (Von Leuten, die den Kopf verloren)?9 sondern auch ein »Assyrisches Morgenidyll« (Audienz beim König), ein »Antisimples Farbenmärchen« (Die weißen Vögel), eine »Bewegungsstudie« (Geistertan%), eine »Tempelphantasie« (Die alten Priester und die Knaben), ein »Weisheitsidyll« (Der gpmmige Igel), ein »Herrenscherzo« (Krebsrot) bzw. schlicht ein »Mordsspaß« (Die angefahrte Hexe), ein »Mysterium« (Die Urläsung der Müden) oder ein »Lichtspuk« (Geisterburgen).40 Aber auch unabhängig von der terminologischen Unterwanderung vorgegebener Gattungserwartungen ist Hilles und Scheerbarts Kleine Prosa äußerst vielgestaltig. Sie erstreckt sich von autobiographisch getönten Anekdoten über feuilletonistische Erlebnisberichte, Momentaufnahmen historischer Gestalten bzw. Situationen, legenden- und märchenartige Texte bis hin zu lyrisierten Prosagedichten und novellistischen Kurzerzählungen und kennt in ihrem Variantenreichtum kaum Parallelen in der Literatur um 1900. Die terminologische Vielfalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei beiden Autoren nach wie vor beschreibbare Vertextungsstrukturen erkennbar sind, nur geschieht die genetische (Selbst-)Verortung im Hinblick auf die Kleine Prosa eben nicht mehr unbedingt paratextuell — und damit durch einen klaren deklarativen Akt — oder durch die Verwendung feststehender Textkomponenten, sondern vielfach inter- oder kontextuell.41 Was sich verschiebt und fraglos auch insgesamt gesehen verkompliziert, ist demnach die Art und Weise, wie Texte an bestehende Gattungstraditionen angekoppelt bzw. von ihnen abgegrenzt werden, nicht aber der nur mit Hilfe intersubjektiv bestehender Muster funktionierende Akt genetischer Zuordnung selbst, ohne den eine textuelle Kommunikation zwi35 40 41

Hinzu kommt der Band Astrale Novelletten (1912), der zwölf weitere Kurzprosatexte enthält. Siehe hierzu auch Uli Kohnle: Paul Scheerbart. Eine Bibliographie. Steinweiler 1994. Zur Verlagerung des Gattungssignalements auf solche indirekten Wege der Autor/LeserKommunikation siehe Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht Theorie und Geschichte einer Gattung der literarischen Moderne. Tübingen 2005, S. 41-45.

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sehen Autor und Leset undenkbar wäre. Untersucht werden müssen im Hinblick auf das ab dem späten 19. Jahrhundert fast unüberschaubar gewordene Spektrum der Kurzprosa also die spezifischen Strategien und Methoden, mit denen Autoren ihre Texte jenseits gesicherter Genrenormen verorten. Denn im selben Maß, wie Schriftsteller begonnen haben, sich gegen die uniformisierende Wirkung präskriptiver Gattungspoetik zu wehren und ihre Vorgaben zu unterlaufen, haben sie auch die historisch gebahnten Zugangswege zu ihrem Publikum verloren. Nur vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird denn auch verständlich, weshalb so viele Autoren um 1900 zu traditionellen Ausdrucksformen zurückgekehrt sind. Im Bereich der Kleinen Prosa jedenfalls scheint es um 1900 zu einer Dichotomisierung der Textproduktion gekommen zu sein: Während einerseits herkömmliche Genres einen deutlichen Wiederaufschwung erlebten, bildete sich andererseits ein eigener Sektor heraus, in dem mit Textstrukturen in bis dato unbekannter Radikalität experimentiert wurde.42 Ästhetisch wirken zwar die auf diese Weise entstandenen Produkte fraglos strahlkräftiger, doch handelt es sich bei beiden letztlich um komplementäre Resultate eines Prozesses genetischer Ausdifferenzierung. Eine entscheidende Rolle spielt dabei ohne Zweifel der kräftige Aufschwung des Zeitschriftenwesens um die Jahrhundertwende. Auf diese Weise entstand allererst jener gewaltige Bedarf an kurzen Ptosatexten, det die nachhaltige Segmentierung der Produktion in ein Feld mit zwei gegensätzlichen Polen — einen primär kommerziell bestimmten und einen sich davon absetzenden, in dem mit den Mitteln esoterischer Kommunikation43 Disönktionsgewinne erzielt werden44 - machtvoll vorantrieb. Im Feuilleton45 kreuzen sich beide Entwicklungslinien, ist es doch sowohl medialer Ort der rezipienten- und damit absatzorientierten Zurichtung Kleiner Prosa gemäß den Verwertungsgesetzen der Presse als auch publizistische Nische für innovative und originäre Textprodukte, die einer ständig Abwechslung verlangenden Leserschaft Neues bieten.46 42

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Hier kam es schließlich auch zur Herausbildung jenes Typs von Kleiner Prosa, den Baßler detailliert in seiner Funktionsweise beschrieben hat; vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916. Tübingen 1994. Siehe Annette Simonis: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen 2000. Diesen Mechanismus als Entwicklungsgesetz moderner Kunstkommunikation herausgearbeitet hat Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [1992]. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a-M. 2001. Siehe hierzu Günter Oesterle: »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. von Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Tübingen 2000, S. 229-250, sowie den Beitrag von Sibylle Schönborn in diesem Band. Im höchst ambivalenten Verhältnis Peter Altenbergs - dessen CEuvre ja fast ausschließlich aus Kurzprosa besteht — zum Feuilleton zeigt sich dieser Doppelcharakter sehr deutlich; vgl. den Exkurs »Prosagedicht und Feuilleton — Versuch einer Abgrenzung« in Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht (wie Anm. 40), S. 270-275.

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Zugleich ist zu bedenken, daß das Spektrum Kleiner Prosa sich — so paradox es klingen mag — ab der ersten Phase der sog. >klassischen< Moderne nicht mehr nur auf Genres geringen Umfangs beschränkt, sondern auch im Kontext der traditionellen Großform auftaucht. Das >poeme en prose< hat hier augenscheinlich abermals eine historische Vorreiterrolle gespielt. Jedenfalls wurden in Deutschland in eine Vielzahl von Einzelabschnitten segmentierte narrative Texte mit lyrisierendem Gestus nicht selten als Aneinanderreihung von Prosagedichten interpretiert. Ein Beispiel hierfür sind die schon im Titel auf die Lyrik verweisenden Chansons de Bilttis (1894) von Pierre Louys.47 Im Gefolge dieser veränderten Einschätzung von Teil und Ganzem gestaltete vor allem Johannes Schlaf seine Bücher In Dingsda (1892) und Frühling (1896) zu textuellen Spielarten im Übergangsbereich zwischen Vers und Prosa, welche die bis dato gattungskonstitutive Funktion des Umfangs zu verabschieden trachten. Doch auch ohne den Bezug auf das Vertextungsmuster Prosagedicht finden sich in dieser Zeit mehrfach Hybridstrukturen zwischen Roman und Kurzprosa, in denen die traditionelle Unterscheidung von Groß- und Kleinform subvertiert wird. So wandte beispielsweise Paul Scheerbart frühzeitig das Verfahren an, Kleine Prosa zu größeren narrativen Gebilden zusammenzufassen. Auf diese Weise entstanden mehrere stark parzellierte Prosatexte größeren Umfangs, die der Autor kurzerhand als Romane bezeichnete: Ich liebe dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermesgos (1897), Na Prost. Phantastischer Königsroman (1898), Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferderoman mit dreiundacht^g merkwürdigen Geschichten (2 Bde., 1902). Die Versuche, um 1900 alternative Formen kurzer Prosa zu etablieren, ereignen sich zwar durchaus parallel zur allmählich stattfindenden Kanonisierung des Prosagedichts als anerkanntes und eigenständiges Genre literarischen Ausdrucks, kommen aber ohne Abgrenzung von diesem Textmodell nicht aus, das zu der Zeit als dominierendes Modell der >kleinen Form< angesehen werden muß. Das liegt natürlich daran, daß dieses Genre an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert wiederholt Gegenstand der ästhetischen Debatten war und die Poetik vieler Autoren erheblich beeinflußte. »Das Prosagedicht ist um 1900 damit auch die poetologisch dominante Spielart Kleiner Prosa, das poetologische Kraftzentrum im entstehenden Feld der Kurzprosa.«48 Schriftsteller, die im Gattungsfeld Kleiner Prosa operierten, mußten demnach nach geeigneten Strategien Ausschau halten, um sich zumindest implizit von diesem Texttyp abzugrenzen. Durch die herausgehobene Position, die das Genre im Spektrum >kleiner Foimen< einnahm, wirkte es nämlich wie eine Art Gravitationszentrum, das die Aufmerksamkeit der Leser von vornherein lenkte und so die Rezeption der Texte entsprechend beeinflußte. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Jeder Verfasser fiktionaler Kurz47

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So verstand etwa Richard Dehme], einer der angesehensten Autoren seiner Zeit, die Chansons de Bililis — wie aus einem Brief an Arno Hob vom 13. November 1895 hervorgeht — als romanhaften Prosagedichtzyklus aus »100 Liedern von nur je 4 Strophen«; Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 bis 1902 [= Bd. 1], Berlin 1923, S. 222. Dirk Gotische: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 16.

Das Prosagedicht im Textfeld >kleiner Formern um 1900

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prosa, die nicht als Prosagedicht aufgefaßt werden sollte, war gezwungen, geeignete rezeptionssteuernde (Gegen-)Maßnahmen zu ergreifen. D.h. alle Schriftsteller, die darauf verzichteten, ihre Kurzprosa durch para-, inter- oder kontextuelle Signale dem Typus Prosagedicht zuzuordnen, nahmen einen bewußten Akt der Abgrenzung vor, dessen poetologische Voraussetzungen und wirkungsästhetische Auswirkungen jeweils reflektiert werden müssen. Durch die Wahl bestimmter Textsorten bedingte auktoriale Positionierungen im Bereich konkurrierender Gattungsmuster sind also zugleich immer auch Abgrenzungen von alternativen Gestaltungsoptionen, und der - latent oder manifest — zeichenhafte Charakter solcher Distanznahme verdient die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft. Faktisch saugte das Prosagedicht im Feld >kleiner Formen< nahezu alle bis dahin bekannten Vertextungsweisen auf, die sich im Ubergangsbereich von Lyrik und Prosa, >gebundener< und >ungebundener< Sprache bewegten. Diese monopolisierende Wirkung der einen Textvariante hatte jedoch zur Folge, daß komplementär dazu die genetische Prägekraft der Gattung im Hinblick auf die zweite Variante, nämlich die der narrativen oder auch der aphoristischen Kurzprosa, nachließ. Und so bildeten sich denn auch nach 1900 zahlreiche Typen Kleiner Prosa heraus, die in Konkurrenz zum Prosagedicht traten. Am leichtesten gelang eine derartige Emanzipation, wenn Austauschbeziehungen zu benachbarten Ausdrucksweisen hergestellt werden konnten. So boten etwa der Bereich journalistischer Formen im Kontext der Tagespresse (Stichwort: Feuilleton), das Gebiet des Autobiographischen und Essayistischen oder der Bezug zur Philosophie mannigfaltige Möglichkeiten für die Generierung neuer Textsorten der Kurzprosa, die von den Autoren des frühen 20. Jahrhunderts dankbar genutzt wurden. Göttsche bemerkt freilich zu Recht: Die Vielfalt der Kurzprosa-Spielarten und deren mannigfaltige Interferenz und Metamorphose im Prozeß der Moderne machen eine Katalogisierung modemer Kurzprosa nach trennscharfen Gattungsbegriffen mit klar definierten Merkmalkomplexen unmöglich. Stattdessen ist im Gefolge des französischen Prosagedichts (und anderer, deutschsprachiger Traditionen Kleiner Prosa) im ausgehenden 19. Jahrhundert die Ausbildung eines Feldes kleiner Prosaformen mit vielfältigen Schreibweisen, unterschiedlichen Verdichtungszonen und stabilisierenden Traditionslinien festzustellen [...]. Gemeinsam ist den einzelnen Spielarten, daß sie traditionelle Gattungsgrenzen und Literaturbegriffe unterlaufen und in Frage stellen, daß sie Merkmale anderer, vor allem älterer Gattungen experimentell in neue Schreibweisen überfuhren und solche (bildhaften, reflexiven, narrativen) Verfahren vielfaltig modellieren und kombinieren.49

Die eigentliche Bedeutung des Prosagedichts liegt denn auch in seiner Funktion als Katalysator der innerliterarischen Entwicklung. Es wirkt als Störelement, das zu einer Deformation der herkömmlichen literarischen Klassifikationsparameter fuhrt und so eine Erneuerung des Formenspektrums und — in Konsequenz daraus — eine Umstrukturierung des Gattungssystems erzwingt. Indem das Prosagedicht die weitere Ausdifferenzierving literarischer Ausdrucksmuster in Gang 49

Ebd., S. 19.

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bringt und vorantreibt, trägt es in erheblichem Maß zur Überwindung des vormodernen Textsortenkanons bei.50 Das Genre erweist sich mithin weniger als diskursprägend denn als bedeutsamer Einflußfaktor für die literarische Praxis selbst. Als nahezu unumgänglicher Bezugspunkt sowohl für die Lyriker als auch die Verfasser von kurzer Prosa der Zeit wird es zu einer der treibenden Kräfte bei der Umgestaltung und Rekonstellierung des Gattungsensembles um 1900. Seine epochale Wirkung besteht zumindest im deutschsprachigen Raum weniger in der Generierung von Texten selbst als in der Veränderung der symbolischen Hierarchien innerhalb des Literatursystems und dessen diskursiver Redeordnung.

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Bourdieu hat diesen Funktionsmechanismus kultureller Innovation als erster ausfuhrlich beschrieben: »Auf dem Markt zu einem gegebenen Zeitpunkt einen neuen Produzenten, ein neues Produkt und ein neues Geschmackssystem durchzusetzen heißt, die Gesamtheit der unter dem Gesichtspunkt des Legitimitätsgrades hierarchisierten Produzenten, Produkte und Geschmackssysteme ein Stück weit in die Vergangenheit zu schieben.« Pierre Bourdieu; Die Regeln der Kunst (wie Anm. 43), S. 257.

Michael

Ansel

Alfred Lichtensteins »Skizzen« Frühexpressionistische Rollendichtung im Kontext der Kurzprosa der Moderne

Alfred Lichtenstein fristet seit geraumer Zeit ein randständiges Dasein in der Forschung. Seit der 1988 vorgelegten Monographie Klaus Vollmers 1 sind lediglich zwei wissenschaftliche Beiträge über ihn erschienen, die sich seiner Lyrik widmen.2 Zieht man ältere, nicht speziell Lichtenstein gewidmete Arbeiten der Expressionismus-Forschung seit den 1970er Jahre heran, so bestätigt sich jener Befund: Allein der Lyriker, dessen Die Dämmerung gemeinsam mit Jakob van Hoddis Weltende als Prototyp des frühexpressionistischen Simultangedichts gilt, hat hinreichende Beachtung gefunden. Lichtensteins Prosatexte hingegen sind selbst im Kontext der neueren Untersuchungen zur expressionistischen Prosa kaum berücksichtigt worden. Sofern sie überhaupt mehr als beiläufig wahrgenommen wurden, sind sie einer autorzentrierten Lesart unterzogen und hinsichtlich ihrer autobiographischen Fundierung betrachtet oder als vorbereitende Studien für Lichtensteins qualitativ höher bewertete Gedichte gedeutet worden. 3 Hartmut Vollmer: Alfred lichtenstein - zerrissenes Ich und verfremdete Welt. Ein Beitrag zur Erforschung der Literatur des Expressionismus. Aachen 1988. Csilla Mihäly: Alfred Lichtensteins Fluchtgedichte in der Menschheitsdämmerung. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 1998, S. 137-146; Csilla Mihäly: Ich- und Weltdissoziation in Alfred Lichtensteins Lyrik. In: Der Text als Begegnungsfeld zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik. Zehn Jahre Germanistik in Szombathely im europäischen Zusammenhang. Hg. von Lajos Szalai. Szombathely 2000, S. 235-239. Zu diesen Aufsätzen kommt drittens noch der jüngst vorgelegte, sich allerdings nicht mit Lichtensteins Werk, sondern seiner bislang unbekannten Mitgliedschaft im »Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur« beschäftigende Beitrag von Nadine Fuchs: Der Student Alfred Lichtenstein (18891914). Neue Erkenntnisse zur Biographie des Expressionisten. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 15 (2005), S. 327-336. Exemplarisch hierfür sind die Ausführungen von Wolfgang Paulsen - Alfred Lichtensteins Prosa. Bemerkungen gelegentlich der kritischen Neuausgabe. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 586-598 - , der die »erzählerischen Fingerübungen lichtensteins« als »unscheinbare Gebilde« (S. 588) bezeichnet, die »hier und da« (S. 587) unfertig seien, und betonen zu müssen glaubt, »[...] dass dem Erzähler Lichtenstein nur ein kleiner und letztlich sogar ziemlich nichtiger Weltausschnitt für die epische Fixierung zur Verfügung stand. Der Grund dafür aber ist [...] eher in psychologischen als in irgendwelchen künstlerischen oder ästhetischen Voraussetzungen zu suchen, was auch gerade seine gleichzeitig entstandenen Gedichte eindeutig belegen. Sein epischer Stoffkreis erweist sich im Vergleich mit ihnen als wesentlich enger, so dass man sagen könnte, Lichtenstein habe auf dem Gebiet der Lyrik bereits einen beachtlichen Schritt über seine Erzählungen hinaus getan« (S. 592). Paul-

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Da Lichtenstein unstrittig zu den wichtigsten frühexpressionistischen Autoren gehört, ist seine Vernachlässigung durch die jüngere Literaturwissenschaft nicht nachvollziehbar. Noch verwunderlicher ist freilich der wohl von der generellen Forschungslage4 mitverschuldete Umstand, dass man sich bislang mit seiner Prosa überhaupt nicht bzw. allenfalls auf die eben skizzierte Weise beschäftigt hat. In der kritischen Ausgabe von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer umfasst der Prosateil immerhin etwa 80 Druckseiten und nimmt damit knapp 4 0 Prozent des Raums der edierten Texte ein. Aber auch unter qualitativen Gesichtspunkten lohnt sich die Beschäftigung mit Lichtensteins Prosa, die - wie nun gezeigt werden soll — bislang eindeutig unter ihrem Wert behandelt wurde, weil ihre epochenspezifische Relevanz nicht angemessen gewürdigt worden ist.

1. Gegenstandsbestimmung: Die »Skizzen« Die folgenden Darlegungen beschränken sich auf Lichtensteins Kurzprosa, also auf jene acht kurzen Texte, die 1 9 1 9 von Kurt Lubasch unter der später von Klaus Kanzog übernommenen Gattungsbezeichnung »Skizzen« ediert worden sind.5 Sie wurden zwischen September 1 9 1 0 und Oktober 1911 im Sturm bzw. jeweils in den Oktobermonaten 1 9 1 2 und 1 9 1 3 in der Aktion publiziert. Schon die Tatsache, dass die letzten drei »Skizzen« etwa zwei bzw. drei Jahre nach der Versens Aufsatz ist immer noch die beste Studie zu Lichtensteins Prosa, hat aber zwei generelle Defizite: Weder unterscheidet er zwischen den »Geschichten« und den »Skizzen« noch kann er sich von der Einschätzung der älteren Expressionismus-Forschung lösen, dass die Prosa als Schwachpunkt des Expressionismus zu gelten habe; vgl. ebd., S. 593. Vollmer, der in seiner Urteilsbildung weitestgehend von Paulsen abhängig bleibt, hält Lichtensteins Prosatexte für »autobiographische Spiegelungen«. Da sie einen höchst »privat-persönlichen, an die lyrische Haltung erinnernden Charakter« besäßen, bezieht er sich vorbehaltlos bejahend auf Kanzogs Kommentar in: Alfred Lichtenstein: Dichtungen (wie Anm. 5): »Diese notwendige, die enge Verflechtung von Vita und Dichtung dokumentierende Werkerläuterung legt Klaus Kanzog [...] geradezu mit Detailbesessenheit vor. So werden Zusammenhänge sichtbar, die Aufschlüsse über die existenzielle Bedeutung der Lichtensteinschen Dichtung geben«; Hartmut Vollmer: Alfred Lichtenstein — zerrissenes Ich und verfremdete Welt (wie Anm. 1), S. 184,183 und 183. Es gehört seit mindestens 30 Jahren zu den Stereotypen der Expressionismus-Forschung, dass die einschlägige Prosa zu wenig Beachtung finde. Zuletzt in diesem Sinne hat sich Hermann Körte — Abhandlungen und Studien zum literarischen Expressionismus 1980—1990. In: IASL, Sonderheft 6, 1994, S. 225-279 - geäußert »Für die Prosa gilt nach wie vor, dass sie, wie schon Brinkmann [im Jahr 1980; Μ. Α.] hervorgehoben hat, >das dünnste Kapitel< im Forschungsbericht bildet« (S. 271). Alfred Lichtenstein: Dichtungen. Hg. von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer. Zürich 1989, S. 151ff.; Alfred Lichtenstein: Gedichte und Geschichten. Hg. von Karl Lubasch. Bd. 2: Geschichten. München 1919, S. Iff. Während Kanzog die »Skizzen« nach ihrem Erstdruck anordnet, werden sie von Lubasch in folgender Reihenfolge ediert: Konrad Krause, Mie%t Maier, Siegmund Simon, Leopold Lehmann, Kuno Kohn, Mabei Meier, Das Fragment (bei Kanzog unter dem korrekten, im Erstdruck verwendeten Titel Der Freund) und Die Familie.

Alfred Lichtensteins »Skisgen«

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Öffentlichving der fünf anderen vorgelegt wurden, lässt ihre Deutung als vorbereitende Studien für die Lyrik als problematisch erscheinen. Ab2ugrenzen sind die »Skizzen« von den umfangreicheren erzählerischen Prosatexten, die in den Ausgaben von Lubasch und Kanzog unter dem Oberbegriff »Geschichten« zusammengefasst werden. Hierzu gehört Cafe Klößchen, Lichtensteins bekanntester Prosatext, der die Fraktionsbildungen und persönlichen Rivalitäten der frühexpressionistischen Zirkel im Berliner Cafe des Westens verarbeitet. Neben dem größeren Umfang und der Tatsache, dass nicht nur Cafe Klößchen, sondern auch die anderen »Geschichten« um eine Thematisierung der avantgardistischen Berliner Literaturszene kreisen, gibt es ein weiteres Unterscheidungsmerkmal: Während die »Geschichten« autobiographische Erfahrungen verarbeiten und in vergleichsweise konventioneller narrativ-kausaler Art von Lebensschicksalen erzählen, denen eine intersubjektiv nachvollziehbare, einen gewissen zeitlichen Rahmen ausfüllende psychologische Folgerichtigkeit zu attestieren ist, stehen in den »Skizzen« punktuelle Momentaufnahmen zwischenmenschlicher Kommunikation bzw. Interaktion im Zentrum des Interesses. Nicht unwichtig ist schließlich der Hinweis, dass zwar alle »Skizzen«, von den »Geschichten« hingegen nur eine ganz (Der Selbstmord des Zöglings Müller) und eine weitere teilweise (Der Sieger) veröffentlicht worden sind. Daraus kann man nicht zwingend die Schlussfolgerung ableiten, Lichtenstein habe die ausnahmslos zum Druck beförderten »Skizzen« höher bewertet als die nur zum Teil publizierten »Geschichten«. Möglicherweise fand er keinen Druckort für die erst aus dem Nachlass edierten »Geschichten« oder glaubte sie gerade wegen ihrer Wertschätzung vor ihrer Publikation nochmals überarbeiten zu müssen. Da deren erste vollständige Veröffentlichung im Jahr 1919 schon gegen Ende des Expressionismus erfolgte, ist jedoch gewiss, dass nur die in prominenten Zeitschriften erschienenen »Skizzen« ein nennenswertes Wirkungspotenzial auf die expressionistische Dichtung entfalten konnten. Schon dieser Sachverhalt lässt es geboten erscheinen, Lichtensteins »Skizzen« genauer zu analysieren.

2. Textgestalt und Texteigenschaften der »Skizzen« Keiner der Texte erreicht in der Edition von Kanzog einen Umfang von zwei ganzen Druckseiten. Der kürzeste von ihnen ("Leopold hehmanri) besteht aus 19, der längste (Mie^e Maier) aus 59 Zeilen. Von zwei Ausnahmen {Der Freund und Die Familie) abgesehen, besitzen alle »Skizzen« einen alliterierenden, aus Vor- und Nachnamen bestehenden Eigennamen als Überschrift. Außer Die Familie sind alle in der Form der autodiegetischen6 Ich-Erzählung gehalten. Auch das unterscheidet sie von den »Geschichten«, die sich einer heterodiegetischen Erzählweise beDie von uns verwendete erzähltheoretische Terminologie folgt Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheoiie. München 1999.

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dienen. Die nahe liegende Vermutung, die in der Überschrift präsentierten Personen seien die narrativen Instanzen, erweist sich generell als Irrtum. Diese Personen sind vielmehr die von einem namentlich meist nicht bekannten Erzähler thematisierten Bezugspersonen. Nur in Mte^e Maier und Siegmund Simon erfährt man die Namen der Ich-Erzähler. In der erstgenannten »Skizze« wird der erzählende Gymnasiast von der titelgebenden Figur in wörtlicher Rede mit seinem Vornamen Olaf angesprochen (S. 152), und im zweiten Text spricht der in der Irrenanstalt lebende Samuel Simon selbst von sich in der dritten Person (S. 154).7 Die Ich-Erzähler(innen) der »Skizzen« konzentrieren sich auf eine Darlegung ihres emotionalen oder sexuellen Abhängigkeitsverhältnisses zu jener Bezugsperson, ohne es jedoch eindeutig zu qualifizieren. Über das Innenleben der beiden Menschen, über ihre Gefühle und Empfindungen, wird nur rudimentär berichtet. Man kann es lediglich anhand der geschilderten Verhaltensweisen oder der direkten Figurenrede zu erschließen versuchen. Die autodiegetische Erzählerrede wird mit einer durchgängigen externen Fokalisierung kombiniert. Der Erzähler betrachtet also nicht nur seine Bezugspersonen, sondern auch sich selbst auf irritierende Weise mit einer befremdlich anmutenden Außensicht. Lediglich in Der Freund spricht er ausfuhrlicher über seine persönliche Befindlichkeit. Da er aber nur wenig konkret verifizierbare Anlässe oder intersubjektiv nachvollziehbare Ausprägungsformen seiner Angstgefühle benennt, bleiben seine Ausführungen merkwürdig leer. Wenn er darlegt, dass er »die toten Tage« liebt, die »kein Leuchten« haben, dass sein »kleiner Tod [ihn] quält [...], es war doch schon viel Sterben und größeres«, und dass er »lächle, wenn [er] das Weinen des Kindes finde oder den Tod der Mutter [...] oder die anderen blutigen Köstlichkeiten« (S. 156f.), so lassen alle diese Formulierungen viel Spielraum für eigene Assoziationen des Lesers. Gewiss ist allerdings, dass die geschilderten zwischenmenschlichen Verhältnisse generell problematisch sind. Von erfüllten, Glück bringenden Kontakten kann grundsätzlich nicht gesprochen werden. Die Personen sind durch triebhafte Abhängigkeiten oder erfolglose psychische Beziehungsarbeit aneinander gekettet. Selbst in jenen Fällen, in denen die Beziehungen als positiv geschildert werden (Kuno Kohn und Konrad Krause), bleiben sie wegen der völlig unzureichenden Thematisierung ihrer Bedeutung für die in sie mehr Verstrickten als Eingebundenen immer diffus und letztlich ungeklärt. Der in den »Skizzen« sprechende bzw. vorgestellte Personenkreis besteht aus pubertierenden Gymnasiasten, Prostituierten, Homosexuellen, hässlichen Krüppeln, Schizophrenen, Irren und von Geschlechtskrankheiten Gezeichneten, die vereinsamt am Rand der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte und Normen leben. Diese Menschen gehören also meist nicht (bildungs)bürgerlichen Kreisen, sondern der Unterschicht der städtischen Bevölkerung an oder sind zumindest wie in Mieye Maier und Der Freund als heranwachsende, ausschließlich mit sich Die hier und im Folgenden in den Haupttext integrierten Seitenangaben beziehen sich stets auf die Ausgabe: Alfred Lichtenstein: Dichtungen (wie Anm. 5).

Alfred Lichtensteins »Skitten«

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selbst beschäftigte junge Männer nicht in die leistungsorientierte Gesellschaft integriert. Keiner von ihnen kann auf einen gelungenen Selbstfindungsprozess zurückblicken und als physisch oder psychisch gesund bezeichnet werden. Selbst der pedantische Bankbeamte in Leopold Lehmann ist ein Außenseiter, der mit seinem von einer »komplizierten Lues« gezeichneten Assistenten »verkehrt« (S. 160), sich bürgerlichen Erfolgskriterien verweigert und deshalb seit 30 Jahren nicht befördert wurde. Ihrem Personenkreis entsprechend fallen auch die Schauplätze der »Skizzen« aus: Sie sind vorwiegend im Straßenstrich, in der Irrenanstalt, auf dem Friedhof, in einer bordellähnlichen Unterkunft und in einfachen Dachwohnungen bzw. »Kammerfn]« (S. 156 und 158) lokalisiert. Was ihren Bauplan betrifft, so lassen sich fünf zwei- und drei einteilige »Skizzen« unterscheiden. Die zweiteiligen Texte (Miesgt Maier, Kuno Kohn, Siegmund Simon, Der Freund, Konrad Krause) bestehen aus einem Einleitungssegment und der Schilderung einer speziellen Kommunikations- bzw. Interaktionsszene zwischen der als Erzählinstanz auftretenden Person und der titelgebenden Bezugsperson. Der Übergang zwischen den beiden Textteilen wird durch Temporaladverbien bzw. ein Ordinaladjektiv — »einmal« (S. 151), »zuletzt« (S. 155), »neulich« (S. 158) bzw. »erste Begegnung« (S. 153) — und den Tempuswechsel vom referierenden Präsens ins erzählende Präteritum markiert. Das im zweiten Textteil geschilderte Geschehen liegt also chronologisch vor dem Erzählerbericht des ersten Teils. Die zeitliche Distanz zwischen dem Erzähleinsatz des ersten und den geschilderten Ereignissen des zweiten, analeptischen Textteils kann in keinem Fall präzis bestimmt werden. Bei Mieye Maier beträgt sie offenbar nur wenige Tage, während sie sich bei Kuno Kohn immerhin über ein »halbes Jahr« (S. 152) zu erstrecken scheint. Während die Zeitspanne zwischen den beiden Textteilen nur annäherungsweise bestimmt werden kann, besteht jedoch kein Zweifel, dass die psychischen Auswirkungen des in der Analepse thematisierten Geschehens auf das erzählende Ich bis in die im ersten Textteil exponierte Erzählgegenwart hineinreichen. Die einteiligen »Skizzen« lassen sich als Einzelsegmente der zweiteiligen Texte deuten. Entweder berichten sie wie deren analeptische Teile einleitungslos im Präteritum von einer zwischenmenschlichen Begegnung (Mabel Meier) oder sie sind quasi als expositorischer, im Präsens referierender Text ohne Schilderung einer konkreten Interaktionssituation (Leopold Lehmann, Die Familie) aufzufassen. Einen Grenzfall stellt Die Familie dar, weil dieser Text eingangs eine sich »in jedem Monat« (S. 159) wiederholende familiäre Gesprächssituation mittels eines summarischen Aufrisses thematisiert, sodann aber nahdos in eine singulare, mittels des Temporaladverbs »einmal« (S. 159) markierte und als Textklimax komponierte Kommunikationsszene über einen verworfenen, Sprachlosigkeit und Verlegenheit auslösenden Außenseiter einmündet. Will man diese »Skizze« nicht des immanenten Widerspruchs zeihen — Singularität und Regelmäßigkeit schließen einander aus —, so kann man sie nur als Bericht einer kollektiven, sich zwanghaft immer wieder einstellenden Obsession interpretieren.

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Schon in Anbetracht ihrer Kürze können die zweiteiligen »Skizzen« kein ausfuhrliches Einleitungssegment aufweisen, das einen auch nur einigermaßen ausfuhrlichen, die Erzeugung einer konzisen Erwartungshaltung ermöglichenden Rahmen bereitstellen würde. Das gilt natürlich auch für die zwei als expositorische Texte definierten einteiligen »Skizzen«. Am konventionellsten ist Mie^e Maier, also die erste von Lichtenstein veröffentlichte »Skizze«, gehalten, deren Einleitung im Gegensatz zu den anderen Beiträgen ihres Genres die im zweiten Textteil auftretenden Akteure und deren Liebesbeziehung auf nachvollziehbare Weise umreißt und insofern folgerichtig auf die anschließend geschilderten Ereignisse vorbereitet. Aber auch unabhängig von ihrem knapp bemessenen Raum präsentieren diese Einleitungen bzw. Texte keine leicht eingängigen, systematisch aufeinander aufbauenden oder wenigstens aufeinander abgestimmten Informationen, obwohl sie in zeitraffender, summarisch überblickshafter Weise vom Alltag und dessen gleichförmiger Monotonie berichten. Zwar stellen sich alle Erzählerinnen) einleitend vor — abgesehen von dem heterodiegetisch erzählten Text Die Familie wird spätestens im zweiten Satz das Personalpronomen »ich« verwendet —, doch setzen diese expositorischen Mitteilungen relativ unvermittelt ein und sind nicht von dem Bemühen um eine intersubjektiv nachvollziehbare Selbstcharakterisierung geprägt. Konrad Krause beispielsweise beginnt mit den Worten: »Nicht einmal in der Nacht habe ich hier Ruhe« (S. 157) und berichtet anschließend über unfreiwillige, durch begehrliche junge Männer erzwungene Schlafunterbrechungen und das gleichfalls verlangte frühe Aufstehen, um deren Kleider und Stiefel sorgfältig reinigen zu können. Anstelle von allgemeinen und aussagekräftigen Informationen über die personale, soziale und berufliche Identität des sprechenden Ich erfahrt man meist kontingente Details seiner aktuellen Lebenssituation, die für seine psychische Befindlichkeit offenbar von großer Bedeutung, für den Leser jedoch nicht einfach zu dechiffrieren sind. Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für Mabel Meier und jene Textteile, die in den zweiteiligen »Skizzen« an zweiter Stelle stehen und deren erzählerisches, am Textende kulminierendes Zentrum bilden. Sie münden in eine konkrete, manchmal aus zwei Sequenzen bestehende (Mie^e Maier und Konrad Kraust) Szene ein — eine Ausnahme hiervon macht lediglich der zweite Teil von Der Freund, der ebenfalls in summarischer Manier über die gesellschaftliche Wahrnehmung der obszönen Augen eines jungen Mannes berichtet — und tendieren somit zu zeitdeckendem, durch die Wiedergabe direkter Figurenrede verstärktem Erzählen. Da sie auf singulative Weise mittels einer punktuellen Momentaufnahme über eine zwischenmenschliche Begegnung berichten, eignen sie sich ohnehin nicht zur ausführlichen, systematisch angelegten Explikation persönlicher Daten. Natürlich kann man von der Annahme ausgehen, dass die geschilderten Szenen für die persönliche Identität der Erzähler(innen) von Wichtigkeit sind, zumal die Namen der Bezugspersonen den Titel der »Skizzen« bilden und schon im vorangehenden Einleitungssegment eingeführt werden. Dennoch gibt es in den Texten keine eindeutigen Relevanzbekundungen, die das geschilderte Ereignis als Schlüsselszene

Alfred Uchtensteins »Skisgen«

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oder wenigstens als eine für den Sprecher bedeutungsvolle Begegnung bezeichnen. Hinzu kommt, dass dem bereits angesprochenen, relativ unvermittelten Beginn der »Skizzen« deren abrupter, mitten in der geschilderten Handlung abbrechender Schluss korrespondiert. Der ortsspezifische Dialog auf dem Straßenstrich in Mabel Meier endet etwa mit folgenden Worten: »Über das Gesicht der Dame kam ein Lächeln. Sie schaute zu einer Laterne « (S. 154). Der Leser wird nicht mit einer in sich abgeschlossenen, eine sinnvolle Urteilsbildung ermöglichenden Handlungseinheit und schon gar nicht mit einem explizit formulierten Sinnangebot, sondern mit einer ihm willkürlich scheinenden, das Erzählte vorzeitig beendenden Zäsursetzung entlassen, die als implizites Eingeständnis einer in der Schwebe bleibenden, psychisch nicht verarbeiteten zwischenmenschlichen Konstellation wirkt. Davon auszunehmen ist lediglich Mie^e Maier, deren Schlusssatz mit dem Hinweis auf die schlechten schulischen Leistungen des Gymnasiasten die Folgen von dessen sexueller Hörigkeit thematisiert.8 Die generell schwer erschließbare Identität des sprechenden Ichs entzieht sich ihrer Erfassung also zusätzlich durch den Umstand, dass sie primär in ihrer Beziehung zu der titelgebenden Figur dargelegt und dass diese Beziehung in den szenischen Text(teil)en anhand einer punktuellen Interaktions- bzw. Kommunikationsszene thematisiert wird. Zum einen präsentiert sich das Ich somit von vornherein im Hinblick auf einen anderen Menschen. Selbst wenn man annehmen muss, dass der Andere eine wichtige Bedeutung für seine Identitätsbildung besitzt, blendet die ausschnitthafte Konzentration auf dieses zwischenmenschliche Verhältnis alle sonstigen Sozialkontakte schlichtweg aus, die unter Umständen weitere Facetten der Persönlichkeitsstruktur des Sprechenden zutage gebracht hätten. Zum anderen bleiben jene Interaktionsszenen scheinbar im Bereich der Alltagsbanalität, obwohl ihre Wirkung auf den Ich-Erzähler und das von ihm referierte zwischenmenschliche Verhältnis über das Textende hinaus Bestand hat. Insbesondere aus diesem Umstand und dem Sachverhalt, dass sie als mitteilenswert erachtet werden, lässt sich ihre Relevanz für den Ich-Erzähler erschließen. Da auch ihre offenen Schlüsse keine Handhabe zur Konstruktion eines sinnstiftenden Potenzials anbieten, kann man den analeptischen, im Präteritum erzählten Textteilen keine eindeutige narrative Funktion zuordnen. Weder hat man es in ihrem Fall mit beidseitig eingefassten, die Haupthandlung vorübergehend unterbrechenden Rückwendungen zu tun, weil sie selbst bis zum Text- bzw. Erzählende fuhren, noch sind sie — was man mit einer an konventionellen Erzählungen geschulten Erwartungshaltung annehmen könnte — wirklich aufbauend,

In Anbetracht der offenen Textenden ist Vollmers Rede von den angeblichen Schlusspointen der »Skizzen« verfehlt; Hartmut Vollmer: Alfred Lichtenstein — zerrissenes Ich und verfremdete Welt (wie Anm. 1), S. 185. Die Schlüsse teilen zwar mit einer Pointe das Überraschende, nicht Vorhersehbare der Formulierung, erfüllen aber keineswegs deren Funktion des Bilanzierenden, eine Quintessenz Präsentierenden. Pointen runden Texte sinngebend ab. Das trifft auf die Schlussformulierungen der »Skizzen« überhaupt nicht zu.

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weil sie keineswegs jene Informationen nachreichen, mit deren Hilfe man das eingangs Referierte befriedigend erklären kann. Die Tendenz, sich gegen kohärente Sinnbildungsprozesse zu sperren, ist jedoch nicht nur für den beidseitig offenen und keine stimmige Struktur aufweisenden Gesamttext der »Skizzen« konstitutiv, sondern lässt sich auch anhand von Binnenbeobachtungen verifizieren. Erstens sind die Texte voller semantischer Leerstellen, die der Leser kreativ füllen kann, ja vielleicht sogar muss, um sich das Gelesene produktiv aneignen zu können. So fragt man sich in Konrad Krause, inwiefern die titelgebende Figur zu der Ich-Erzählerin »auch am Tage gut« (S. 158) sein kann. Schließlich lässt er sie als Prostituierte nicht nur arbeiten, sondern missbraucht sie sogar selbst als solche wie andere Männer einschließlich seines Sohns. Oder in Die Familie bleibt völlig offen, welche Krankheit jene männliche Person heimgesucht hat, deretwegen es zu der für alle Beteiligten peinlichen Gesprächsstockung kommt, wobei sogar nicht einmal sicher ist, ob der (erstmals) im dritten Absatz der »Skizze« genannte Kranke tatsächlich der für diese Kommunikationsstörung verantwortliche Redegegenstand ist. Zweitens weisen die Texte inhaltliche Ungereimtheiten auf, die sich nicht erklären lassen. Textstellen lassen sich gegen andere Textstellen anfuhren, ohne dass man die Widersprüche produktiv auflösen kann. In Mie^e Maier ist von bisher sieben Favoriten der sechzehnjährigen Kindfrau und Titelfigur die Rede, während diese selbst in einer Figurenrede ausführt, sie »habe zweimal unglücklich geliebt und einmal glücklich entbunden« (S. 152). In Siegmund Simon möchte man wissen, wie ein seit 29 Jahren in der Irrenanstalt Lebender einen 19-jährigen Sohn haben kann (S. 154f.). Drittens verwenden die Texte Formulierungen oder Lyrismen, die sich nicht eindeutig empirisch verifizieren lassen. Solche empirisch nicht konkretisierbaren Aussagen wurden weiter oben bei den Darlegungen zur persönlichen Befindlichkeit des Erzählers in Der Freund bereits angeführt. In dieselbe Richtung geht beispielsweise der Satz in Siegmund Simon, wenn »es warm ist, gehe ich im Garten [sie!] und horche, wie die Stunden sterben« (S. 154). Lyrisch klingende Formulierungen findet man etwa in Konrad Krause — »erschrak er laut, weil ich so lachte« (S. 158) — oder in Der Freund, wo es über dessen erotomanisch wirkende Augen heißt, er »verbarg sie viel hinter den vergilbten Lidern« (S. 157). Aus Raumgründen wollen wir es bei den angeführten Beispielen belassen, obwohl man für jedes der drei genannten Sinnunterwanderungsphänomene — semantische Leerstellen, inhaltliche Ungereimtheiten und schwer referenzialisierbare Formulierungen sowie Lyrismen — eine Vielzahl weiterer Textbelege beisteuern könnte. In Anbetracht ihrer semantischen Inhomogenität überrascht es nicht, dass die parataktische Reihung das dominierende Stilmerkmal der »Skizzen« ist. Auch dies gilt wiederum sowohl für die Gesamtstruktur der Texte als auch für deren einzelne Sätze. Die »Skizzen« sind in eine Vielzahl einzelner Absätze unterteilt. Der längste von ihnen weist im Druck der Edition von Kanzog einen Umfang von zehn Zeilen auf. Die meisten Absätze sind wesentlich kürzer. Viele kommen mit ein bis drei Zeilen aus. So sind die 19 Zeilen von Leopold Lehmann in sechs Absät-

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ze aufgeteilt. Nicht selten bilden wenige, in eine Zeile gehende Worte, einmal sogar nur ein Wort mit Gedankenstrich (S. 159) einen ganzen Absatz. Die Sätze selbst sind kurz, oftmals elliptisch: »Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht es, viele Männer krank zu machen« (S. 151). Hypotaktische Satzkonstruktionen oder Konjunktionen, die hypotaktische Satzfolgen indizieren, kommen zwar vor, sind aber selten. Die einzelnen parataktischen Satzteile stehen nicht asyndetisch nebeneinander. Sie sind auch nicht agrammatisch aneinandergereiht. Dennoch bilden sie sowohl untereinander als auch mit ihrer unmittelbaren Textumgebung keine stringent durchkomponierte semantische Einheit. Man kann einige von ihnen weglassen oder durch andere parataktische Glieder ersetzen, ohne dass ihre Entfernung oder Substitution dem Textganzen einen unmittelbar auffalligen Schaden zufügen würde. Signifikant sind auch die häufigen Gedankenstriche oder Auslassungspunkte, die meistens einen Satzabbruch markieren und zum Innehalten bei der Lektüre sowie zu eigenen Assoziationen anregen. Alle diese Textphänomene erzeugen den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit der semantischen Gesamtstruktur der »Skizzen«, während sich zugleich die einzelnen parataktischen Elemente von ihrer textuellen Umgebung zu lösen und ein partielles Eigenleben zu entwickeln beginnen. Insgesamt betrachtet, kann man Lichtensteins »Skizzen« als kurze, autodiegetisch erzählte Prosatexte betrachten, die nur einen sehr kleinen, auf das Verhältnis zwischen zwei Personen beschränkten Weltausschnitt aus dem meist unterbürgerlichen Milieu des anonymen Großstadtlebens präsentieren. Uber das Innenleben der Personen, über ihre >authentischen< Gefühle oder Ansichten erfahrt man wenig, weil die hierfür einschlägigen Formulierungen entweder in einer empirisch kaum referenzialisierbaren Sprache oder in unbeholfenen, an der Schilderung der konkreten Ereignisse oder Figurenreden haftenden, wenig Reflexionsniveau signalisierenden Worten gehalten sind. Man gewinnt den Eindruck, die Erzählerinnen) seien viel zu sehr von ihren Erlebnissen oder den dadurch ausgelösten Empfindungen absorbiert, um ihnen einen adäquaten Ausdruck verleihen zu können. Das lässt sich mit dem sprechenden Personenkreis gut in Einklang bringen, der wegen seines unterbürgerlichen Sozialstatus, seiner psychischen Krankheit oder seiner aktuellen, von pubertätsbedingten Problemen geprägten Lebenssituation über keine elaborierte Artikulationsfahigkeit verfugt und sich selbst entfremdet ist. In Mabel Meier führt der Erzähler aus, er habe sich »gleichgültig wie einen fremden Gegenstand« betrachtet, und spricht wie die narrative Instanz in Siegmund Simon von sich selbst in der dritten Person als »altefm] Mann«, der »so sonderbar ist«, bzw. als »Samuel Simon«, der »an Wahnvorstellungen leide[t]« (S. 154). Diese Darstellung starker, schizophrene Züge annehmender Selbstentfremdung wird im einleitenden Teil von Der Freund programmatisch reflektiert und lässt sich mit der Beobachtung korrelieren, dass die »Skizzen« trotz ihrer autodiegetischen Erzählperspektive meist den Eigennamen einer Bezugsperson des Erzählers im Titel fuhren, während dieser selbst namenlos bleibt. Obwohl die

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Er2ähler(innen) die Hauptfiguren des erzählten Geschehens sind, scheinen sie nicht direkt von sich sprechen zu können, sondern sich primär durch ihre problematische Beziehung zu anderen definieren zu müssen. Der Befund, dass die Ich-Erzähler(innen) nur über eine höchst eingeschränkte Reflexions- bzw. Artikulationsfähigkeit verfugen und im Extremfall mittels der Außensicht über sich selbst berichten, dass also autodiegetisches Erzählen mit deutlicher Tendenz zu externer Fokalisierung vorliegt, überrascht aus erzähltheoretischer Perspektive, weil die Ich-Erzählung nicht nur — was für die »Skizzen« durchaus zutrifft — ein eigentümliches, subjektives Licht auf die dargestellte Welt zu werfen vermag, sondern auch zur Introspektion und Artikulation der Gefühlswelt des Erzählenden disponiert. Hierzu gehört des Weiteren das Phänomen, dass die Texte von der mit der Autodiegese prinzipiell gegebenen Möglichkeit, das Geschilderte zu reflektieren und zu kommentieren oder gar den Erzählvorgang selbst zum Gegenstand des Erzählens zu machen, nicht den mindesten Gebrauch machen. Die als syntaktisches Prinzip dominierende Parataxe, welche die angebliche Gleich-Gültigkeit alles Mitgeteilten suggeriert, ist auch in dieser Hinsicht prägend: Der geringen Anzahl hierarchischer, in einem logischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehender Textstrukturen korrespondiert der Ausfall expliziter, über den Erzählerbericht hinausgehender Kommentare über das berichtete Geschehen oder dessen sprachliche Vergegenwärtigung. Die ausgeprägteste Kommentierung findet sich in Kuno Kohn, wo die Analepse von der Erzählerin mit folgenden Worten eingeleitet wird: »Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen: Es regnete« (S. 153). Schließlich ist auch das erzählerische Arrangement des Geschehens vergleichsweise einfach. Abgesehen von dem Umstand, dass die zweiteiligen »Skizzen« einen analeptischen zweiten Teil besitzen, herrscht die Chronologie als ordnendes Erzählprinzip, so dass es keine gravierenden Unterschiede zwischen der Darstellungs- (>discoutshistoirestrukturiertertexturierteSkizzen< darstellt, [...] auf Lichtensteins eigene Kommunikationsschwierigkeiten, auf sein gestörtes Verhältnis zur Gesellschaft, auf seine (gesuchte und ihm oktroyierte) Kontakdosigkeit«24 hin. Wenn sich die Bedeutung dieser Texte darin aber erschöpfen würde, so bräuchte man sich heutzutage nicht mehr mit ihnen zu beschäftigen. Selbst die am stärksten autobiographisch getönte »Skizze« Oer Freund, in der nach Meinung aller bisheriger Interpreten Lichtensteins Verhältnis zu seinem späteren Editor Karl Lubasch gestaltet wird, lässt sich ohne jegliche Kenntnis dieser privaten Zusammenhänge hinreichend verstehen. Man kann es auch anders formulieren: Die Verständnisschwierigkeiten, die dieser Text einer um Eindeutigkeit bemühten Interpretation entgegensetzt, werden durch autobiogra24

Hartmut Vollmer: Alfred Lichtenstein - zerrissenes Ich und verfremdete Welt (wie Anrn 1), S. 189.

Alfred Lichtensteins »Skisgen«

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phische Erklärungsmuster keineswegs kleiner. Man muss solche Erklärungsmuster also zumindest in einen generationenspezifischen Kontext stellen und als sekundär im Vergleich zur rollenspezifischen Ausrichtung der »Skizzen« behandeln. Lichtenstein artikuliert gemäß der von Anz konzipierten Literatur der Existenz ein zeittypisches Lebensgefuhl der expressionistischen Generation und schlüpft dazu in verschiedene Rollen der im Expressionismus bevorzugten Außenseiterfiguren. Auch die inhaltlichen und stilistischen Affinitäten zwischen Lichtensteins »Skizzen« und seinen Gedichten sollen nicht geleugnet werden. Die ständige Betonung oder Uberbewertung dieser Affinitäten erschwerte jedoch bislang eine eigenständige Betrachtung von Lichtensteins Kurzprosa. Sie verhinderte deren Anerkennung als vollwertige Prosa des Expressionismus und leistete außerdem einer fragwürdigen Suche nach deren Vorläufern Vorschub: Unter Berücksichtigung der grotesken Elemente in Lichtensteins Lyrik glaubte man nun auch seine Prosa zeitnahen oder -gleichen Formen der Prosagroteske zuordnen zu können und verwies auf Paul Scheerbart und Mynona (Salomo Friedländer).25 Der Hinweis auf diese Vorläufer überzeugt selbst dann nicht, wenn man die zweifellos vorhandenen grotesken Elemente der »Skizzen« z.B. in Siegmund Simon oder Leopold Lehmann über Gebühr strapaziert. Der einzige, im Rahmen unseres Aufsatzes nicht behandelte Text Lichtensteins, der hier als einschlägig gelten kann, ist das 1915 in der Aktion postum publizierte Gespräch über Beine, das Lubasch und Kanzog in ihren Editionen an letzter Stelle der »Geschichten« eingerückt haben.26 Ansonsten haben die »Skizzen« mit Scheerbarts und Mynonas spielerischen, die Kontingenz alles Seienden phantastisch bzw. transzendental überspielenden Humoresken wenig gemeinsam: Während diese scheinbar mühelos die Banalität und Absurdität des Alltags grotesk überzeichnen, steht bei Lichtenstein die unausweichliche, in ihrer elementaren Inhumanität bedrohliche strukturelle Gewalt der Lebenswirklichkeit im Zentrum der Darstellung. Hier ergeben sich Ähnlichkeiten mit der erzählten Welt in Kafkas Prosa, was die Lichtenstein-Forschung ebenfalls bereits bemerkt hat.27 Die Verfolgung dieser Spur scheint uns Erfolg versprechender zu sein als die Verweise auf Scheerbart und Mynona, wobei allerdings einzuräumen ist, dass Lichtensteins »Skizzen« trotz ihrer unleugbaren Qualitäten den Grad der parabolischen Verdichtung von Kafkas Prosa nicht erreichen. Zweitens ist die Auffassung der älteren Forschung zu revidieren, Lichtensteins »Geschichten« seien höher einzuschätzen als seine angeblich unscheinbaren »Skizzen«, weil diese in Anbetracht ihrer Kürze und geringen Personenzahl einen extrem kleinen Weltausschnitt präsentierten. Das wird explizit zwar gar nicht ge25 26

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Vgl. ebd., S. 184 und 195, und Alfred Lichtenstein: Dichtungen (wie Anm. 5), S. 342. Alfred Lichtenstein: Dichtungen (wie Anm. 5), S. 199-201, und Alfred Lichtenstein: Gedichte und Geschichten (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 60-62. Vgl. Wolfgang Paulsen: Alfred Lichtensteins Prosa (wie Anm. 3), S. 588f. und 596, und Hartmut Vollmer Alfred Lichtenstein - zerrissenes Ich und verfremdete Welt (wie Anm. 1), S. 184f.

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sagt, insofern aber stillschweigend vorausgesetzt, als bei der Thematisierung von Lichtensteins Prosa meist die »Geschichten« im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Wie unsachlich bzw. anachronistisch diese an realistischen Erzählformen ausgerichtete Auffassung ist, ersieht man aus dem Umstand, dass sie sich gegen eine Vielzahl expressionistischer Prosatexte ächten ließe, die unbestritten zum qualitativ hochwertigen Kanon ihrer Epoche gezählt werden. Niemand käme auf den Gedanken, Gottfried Benns Novellenband Gehirne als nachrangige Prosa einzustufen, weil in ihm der krasse Welt- und Wirklichkeitsverlust seines Protagonisten Rönne gestaltet wird. Obwohl die »Geschichten« hier nicht behandelt wurden, soll die These aufgestellt werden, dass die »Skizzen« die innovativeren, ästhetisch anspruchsvolleren und daher interessanteren Texte sind. Gerade wegen ihrer Kürze und ihrer inhaltlichen sowie erzähltechnischen Unterkomplexität sind sie jenseits traditioneller realistischer Erzählungen anzusiedeln und leisten einen eigenständigen und originellen Beitrag zur Kurzprosa der literarischen Moderne, die sich in eine Vielzahl unterschiedlichster Formexperimente ausdifferenziert. Schon die nicht von Lichtenstein selbst, sondern von seinen Editoren gewählte Bezeichnung dieser Kurzprosa als »Skizzen« zeigt deren subversives, überkommene Gattungsbegriffe unterlaufendes Potenzial an.28 Wenn man die »Skizzen« mit literaturgeschichtlich relevanten Prosatexten vom 18. Jahrhundert bis zur Klassischen Moderne (und darüber hinaus) vergleicht, könnte man zu der Auffassung gelangen, dass sie von einem Dilettanten verfasst worden sind, der die große Bandbreite der im Verlauf von fest zwei Jahrhunderten erprobten Möglichkeiten anspruchsvollen Erzählens nicht zu nutzen versteht. Diese Texte sind in inhaltlicher und formaler Hinsicht reduktionistisch und nicht auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Kommunikation mit einem aufhahmebereiten, an einem adäquaten Textverstehen interessierten Empfanger ausgerichtet. Damit verdoppelt sich die innerhalb der erzählten Welt thematisierte Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Verständigung über die Textgrenzen hinaus. Dies hat eine Verunsicherung des eigentlich gar nicht angesprochenen Adressaten zur Folge, der mit der Aufgabe konfrontiert wird, einen adäquaten Zugang zu diesen sperrigen, sich einer leichten Eingängigkeit widersetzenden 28

Vgl. Moritz Baßler: [Artikel] Skizze. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: Ρ—Z. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2003, S. 444f. Baßler definiert Skizze als »ein[en] (im Unterschied zum Fragment) in sich vollständigen Text, der den Charakter des Unausgearbeiteten bewahrt Dieser Eindruck entsteht entweder im Vergleich mit dem dargestellten Gegenstand oder im Vergleich mit ausgearbeiteten Werkformen« (S. 444). Sodann unterscheidet er drei Wortbedeutungen, von denen die dritte in unserem Kontext interessant ist. In diesem kunst- und literaturgeschichtlich präzisierbaren, seine Blütezeit parallel zum malerischen Impressionismus gegen 1900 erreichenden Sinn versteht man unter einer literarischen Skizze einen »ausgearbeitete[n] Text, der mit Kunstmitteln gezielt einen Effekt des >Alla Primadifferentia specifica< zu bestimmen. Das sei zum Schluss zumindest noch versucht, wenn ich mich dabei auch mehr, als mir lieb ist, in das Gebiet der Deutung begeben muss. Dabei bevorzuge ich, wie bereits erkennbar geworden sein dürfte, eine autopoetologische Interpretation der beiden hier vorgestellten Texte. Es sieht so aus, als sei die euphorische Hoffnung, mit der die Frühromantiker, allen voran Novalis, den Leser als einen »erweiterte[n] Autor«73 begrüßen wollten, der das unvollständige Werk komplettieren könne, einer starken Ernüchterung und Enttäuschung gewichen. In Beim Bau der chinesischen Mauer wird immerhin so viel klar, dass das lückenlose Bauwerk, welches das ganze China umspannt und vereint, niemals fertig gestellt werden kann. Statt dessen gibt es die

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Elmar Locher. Bozen bzw. Innsbruck/Wien/München 2001, S. 15—36, hier: S. 26f. Zum Fragmentarischen im Werk Kafkas gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur; siehe etwa Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. In: Athenäum Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189-205; Michael Braun: Verlorene Ganzheit Kafkas Fragmente. In: Μ. B.: >Hörreste, SehresteBar Kochba< in die Nähe einer solchen Auffassung rückt, aber die Schrift Beim Bau der chinesischen Mauer wie auch die Prosaskizze Eine kaiserliche Botschaft sind kaum geeignet, fur einen Zionismus dieser Art einzustehen; Hartmut Binder: Franz Kafka und die Wochenschrift Selbstwehr (wie Anm 2), S. 284. Wenn selbst der ausgewiesene Kafka-Forscher Binder den »Brust an Brust«-Satz affirmativ liest und mit den gesellschaftspolitischen Auffassungen des Autors kurzschließt, dann ist es auch leicht vorstellbar, dass den Lesern und Leserinnen der Selbstwehr die abgründige Skepsis gegenüber den Realisierungsmöglichkeiten von Einheit und Ganzheit entgangen ist, die in der Kaiserlichen Botschaft zum Ausdruck kommt (siehe Anm. 2). Außerdem steht der Kommentar Binders in der Tradition der allegorisierenden Auslegungen, der hier, im vorliegenden Aufsatz, mit der Verlagerung von der Bedeutung zur Funktion entgegengearbeitet worden ist; siehe Anm. 60 und die Kritik an Kafka-Interpretationen nach dem Muster »Dieses [= diese Einzelaussage; U. S.] bedeutet jenes« bei Gilles Deleuze/Felix Guattari: Kafka (wie Anm. 60), S. 12. Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer (wie Anm. 1), S. 344. Ebd., S. 352.

Michael Niebaus

Das Prosastück als Idee und das Prosastückverfassen als Seinsweise: Robert Walser

I. Robert Walser soll im Folgenden als ein Paradigma angesprochen werden: als das Paradigma des Autors als Prosastückverfasser. Die Bezeichnung >Prosastück< ist dabei Robert Walsers Prosastücken selbst entnommen. Es ist aber im Grunde gar nicht klar, was es mit diesem geläufigen Begriff auf sich hat. In welchem Verhältnis steht er zu dem der Kleinen Prosa oder der Kurzprosa? Was ist das Stückhafte am Prosastück? Kleine Prosa und Kurzprosa sind Sammelbezeichnungen, die sich nicht in den Plural setzen lassen, die nichts Einzelnes bezeichnen können. Was ein Band Kleiner Prosa enthält, könnten dann etwa einzelne Prosastücke sein. Ist das einzelne Prosastück deswegen nur ein Stück, Teil eines Ganzen? Oder verweist die Ergänzung >-stück< auf das >Gesellen-< oder das >Meisterstück< und damit auf eine handwerkliche Tätigkeit? Ahnelt das Prosastück vielleicht dem in Serie produzierten >Seestück< oder dem >Blumenstück