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German Pages 188 [192] Year 2005
Dieter Schönecker Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit
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Kants tudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dieter Schönecker
Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit Eine entwicklungsgeschichtliche Studie unter Mitarbeit von
Stefanie Buchenau und Desmond Hogan
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Stonehill College (Easton, Massachusetts).
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018453-2 ISBN-10: 3-11-018453-2 Bibliografische
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Der Deutschen
Bibliothek
Die Dcutschc Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.dc > abrufbar.
© Copyright 2005 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Alikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort und Überblick Genau hundert Jahre nach dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte Hans Vaihinger (1881) den ersten Band eines Kommentars zu diesem Meilenstein der Philosophiegeschichte. Ihm schwebte ein umfassendes Kommentarwerk in historischer, entwicklungsgeschichtlicher und mikroskopisch genauer Absicht vor. Wir wissen, daß Vaihinger über die ersten Kapitel von Kants Buch nie hinausgekommen ist. Noch bis heute gibt es keinen umfassenden Kommentar zur ersten Kritik. Man wird einwenden, daß es angesichts der ungeheuren Komplexität und Schwierigkeit von Kants Hauptwerk nicht verwundert, daß solch ein Kommentar noch immer nicht vorliegt. Das mag richtig sein, ändert aber nichts am Problem und an seiner Dringlichkeit. Das Problem besteht darin, daß nicht nur nicht zur ersten Kritik, sondern überhaupt zu keinem der Kantischen Texte kommentarische Interpretationen vorliegen. Da ich an anderer Stelle bereits auf die Notwendigkeit kommentarischer Interpretationen eingegangen bin, brauche ich diesen Gedanken hier nicht weiter auszuführen. 1 Die leitende Überzeugung besteht darin, daß es eine Sache ist, einen Text zu verstehen und eine andere, ihn zu bewerten (wenn auch Bedeutungssuche ohne Wahrheitsüberlegungen in der Regel nicht möglich ist), und daß die philosophiehistoriographische Bezugnahme auf einen Text und Wahrheitsansprüche über seine Bedeutung überhaupt nur sinnvoll sind, wenn dies auf der Grundlage gründlicher Analysen geschieht. Wer einen Text verstehen will, muß bereit sein, sich auf allerkleinste Details und mikroskopische Feinheiten, zugleich aber auf kontextuelle und entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge einzulassen. Doch wer ist dazu bereit? TexWergessenheit belastet aber nicht nur die Interpretation von Kants eigenen Texten; auch die Texte über Kant und seine Texte werden oft ignoriert. Eine weitere Quelle der Unzufriedenheit mit der real existierenden Kantforschung ist daher die Unüberschaubarkeit der Literatur. Immer wieder stößt man in der Kantforschung auf Klagen über die nicht zu bewältigende Sekundärliteratur. Diese Unübersichtlichkeit - und der Unwille, daran etwas zu ändern - hat enorme Konsequenzen: Wir wissen nämlich nicht einmal, was bisher zu Kant überhaupt auch nur vorgeschlagen wurde und welche Einzel-
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Vgl. Schönecker (2001); vgl. auch Dänischen / Schönecker (2006). Ich muß betonen, daß diese hermeneutischen Prinzipien von den Mitarbeitern der vorliegenden Arbeit nicht oder nur begrenzt geteilt wurden.
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Interpretationen, Beobachtungen und Lösungsvorschläge es gibt. 2 So mangelhaft wie die Forschung aufgrund des Phänomens der Textvergessenheit in der Regel auch sein mag - einfach ignorieren dürfen wir sie nicht. Denn das führt zwangsläufig dazu, daß Erkenntnisse überhaupt nicht wahrgenommen werden, verlorengehen und stets aufs neue vorgetragen werden; so etwas wie einen echten ,Forschungsstand' gibt es in der Kantforschung überhaupt nicht. Es ist daher eine berechtigte Frage, ob die Kantforschung in der jetzigen Form überhaupt (noch) sinnvoll ist. Wenn ständig Bücher und Artikel geschrieben werden, die de facto nicht gelesen und jedenfalls nicht systematisch ausgewertet werden können, ist nicht zu sehen, für wen diese Literatur überhaupt noch erstellt wird. Beides - der Mangel an kommentarischen Interpretationen sowie der fehlende Forschungsstand - könnte vielleicht, so dachte ich, zumindest im Ansatz und exemplarisch behoben werden. Die Idee war folgende: Warum nicht ein Problem der Kant-Interpretation behandeln, das einigermaßen begrenzt und klar umrissen ist, mit dem Ziel, dazu eine kommentarische Interpretation vorzulegen, die zugleich versucht, die bisher vorgelegte Literatur umfassend und systematisch zu verarbeiten? Ein solches Problem - wir werden es das Kanonproblem nennen - besteht darin, daß Kant im ,Kanon' der Kritik der reinen Vernunft behauptet, die praktische Freiheit sei eine ,Naturursache' und ,durch Erfahrung beweisbar'. Das ist problematisch, weil praktische Freiheit sonst und vor allem im Kontext der Dialektik (in der ,Auflösung der dritten Antinomie') als eine Art von transzendentaler Freiheit verstanden wird, die keineswegs ,durch Erfahrung beweisbar' ist. Außerdem heißt es im Kanon, die transzendentale Freiheit sei für ,das Praktische' irrelevant; problematisch daran ist, daß Kant in der Dialektik genau das Gegenteil sagt oder jedenfalls zu sagen scheint. Eine Lösung zumindest der methodischen Schwierigkeit, daß niemand in der Lage ist, die bisherige Literatur zu überblicken, scheint mir darin zu liegen, Interpretationszentren zu gründen, in denen im Team Kantforschungen betrieben werden. Ein wesentlicher Gesichtspunkt müßte darin bestehen, die auch sprachlich vielfältige Literatur zu einem bestimmten Thema vollständig und systematisch zu verwerten. Im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes an der Yale University habe ich versucht, im bescheidenen Rahmen eine Forschungsgruppe zu gründen, die den bisherigen Forschungsstand zum Kanonproblem arbeitsteilig verwerten sollte. Zu dieser Gruppe gehörten
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Auch dazu hat Vaihinger (1881) bereits kluge Bemerkungen gemacht; vgl. auch die Hinweise auf die Unüberschaubarkeit der Literatur etwa bei Caird (1889, VII) und Paton (1936, S.18) sowie in neuerer Zeit ζ. B. bei Schmitz (1989, S.9), Waxman (1991, S.6), Willaschek (1992, S.17) und Steigleder (2002, XVI).
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insbesondere Stefanie Buchenau und Desmond Hogan. Verteilt auf die verschiedenen sprachlichen Hintergründe waren die einzelnen Mitglieder für die Suche nach relevanter Literatur zuständig: Stefanie Buchenau hat die französische, Desmond Hogan die englische und ich selbst habe naturgemäß die deutsche Literatur übernommen (ursprünglich vorgesehene Mitarbeiter für die italienische, spanische und portugiesische Literatur sind von der Aufgabe zurückgetreten); Allen W. Wood, mein Gastgeber an der Yale University, hat die Arbeit beratend begleitet und frühe Phasen des Manuskripts mit kritischen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen versehen. Unser primäres Ziel war es, möglichst alle jene Texte zu finden, die ganz gezielt und ausführlich auf das Kanonproblem (bzw. die zugrundeliegende Problempassage A801/B829-A804/B832) eingehen. Gemessen an der (für die Interpretation von Kants Freiheitstheorie) substantiellen Problematik hat sich aber erwiesen, daß solche (einigermaßen) ausführlichen Interpretationen selten sind; und eine Interpretation, die sich tatsächlich genau auf den Text und Kontext einläßt, gibt es überhaupt nicht. Kurz oder auch nur in einer Randbemerkung beschäftigen sich viele Beiträge mit der problematischen Passage. Es wurde versucht, auch möglichst viele solcher Randbemerkungen zu berücksichtigen, um ein umfassendes Bild zu gewinnen. Denn auch wenn eine Autorin nur kurz auf einen Text eingeht, so tut sie es doch, und so hat sie doch eine interpretatorische Meinung und trägt zur philosophiehistorischen Meinungsbildung bei; philosophische und philosophiehistorische Bücher sind voll von solchen (oft völlig irreführenden) Randbemerkungen und Verweisen. Berücksichtigt wurden nur Interpretationen (und waren sie auch noch so knapp gefaßt), die tatsächlich etwas zu dem eigentlichen Kanonproblem, also etwas zur entscheidenden Passage im Kanon sagen; Sekundärliteratur zu Problemen aus dem Kontext und der Entwicklungsgeschichte des Kanonproblems blieben weitgehend unberücksichtigt. Anhand der vorhandenen Bibliographien und der dort angegebenen Titel wurde versucht, solche Beiträge zu finden, von denen zu vermuten war, daß sie etwas zum Kanonproblem enthalten; außerdem sind wir in hervorragend bestückten Bibliotheken (Bonn, Paris, Yale) die entsprechenden Kantabteilungen Band für Band durchgegangen. Schließlich haben wir durch einen Aufruf in den KantStudien die Kolleginnen und Kollegen gebeten, uns entsprechende Hinweise zu geben (dieser Aufruf war allerdings fast ohne jeden Erfolg). Trotz dieser Anstrengungen wird keineswegs beansprucht, lückenlos jede einzelne Stelle aus der Sekundärliteratur zum Kanonproblem berücksichtigt zu haben; das war unter den eingeschränkten und oft widrigen Umständen schlechterdings unmöglich. Auch war es uns nicht möglich, unser ursprüngliches Ziel - ein Bericht über die Literatur in diversen Sprachen - zu realisieren; aufgrund der gemachten Erfahrung nehmen wir aber an, daß nicht allzuviel vermißt werden wird. (Vermissen wird man sicher manches Buch und manchen Aufsatz, die
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Vorwort und Überblick
im Titel vermuten lassen, sie behandelten das Kanonproblem; es ist in der Tat bemerkenswert, daß solche Beiträge Kants Freiheitstheorie behandeln, ohne das Kanonproblem auch nur mit einem Wort zu erwähnen.) Die kooperative Forschungsarbeit ist nicht nur mit Blick auf die Sekundärliteratur sinnvoll. Es scheint mir eine unbestreitbare Tatsache zu sein, daß die gemeinsame Interpretation eines Textes ungemein fruchtbar ist, und so haben wir uns regelmäßig zur gemeinsamen Arbeit am Text getroffen. Auch in dieser Hinsicht vermag ich nicht zu erkennen, warum in der Philosophiehistorie (wie überhaupt in der Philosophie) nicht Forschungsgruppen möglich sein sollten. Im Gegenteil: Sie sind dringend notwendig, wenn man aus der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte eine strenge Wissenschaft machen will, in der sinnvollerweise von einem Stand der Forschung und einem interpretativen Fortschritt in ihr die Rede sein kann. Und sie sind möglich, wenn man nur will und offen ist für neue Wege. Langfristig halte ich es für denkbar, daß man - ähnlich wie in den diversen Naturwissenschaften philosophische und philosophiehistorische Zentren einrichtet, in denen tatsächlich kooperativ gearbeitet wird. Es ist leicht, aber leichtfertig, solche Überlegungen als abwegig abzutun. Aber warum soll, was in anderen Wissenschaften möglich ist, nicht auch in der Philosophiehistorie seinen Platz haben? Das Buch ist auch als Anregung gedacht, über diese Idee und die Notwendigkeit kooperativer Forschung in der Philosophiehistorie nachzudenken. Aber natürlich ist es in erster Linie eine Aufforderung, noch einmal und anders über ein Problem der Kantischen Philosophie nachzudenken: über das Kanonproblem. Dieses Kanonproblem steht also im Mittelpunkt. Im ersten Kapitel (1) wird es zunächst genau beschrieben. Wie gravierend die Problematik ist, wird noch deutlicher werden, wenn der Freiheitsbegriff in der Dialektik genau analysiert ist; dies geschieht im zweiten Kapitel (2). Es zeigt sich dabei, daß der praktische Freiheitsbegriff in der Tat nichts anderes ist als die transzendentale Freiheit des Willens (der Vernunft). Man kann den Freiheitsbegriff und das daraus resultierende Kanonproblem nicht verstehen, ohne den entwicklungsgeschichtlichen Kontext zu berücksichtigen (3). Die genaue Analyse der relevanten Textstellen in den Vorlesungsmitschriften Metaphysik L/, Metaphysik Mrongovius und Religionslehre Pölitz sowie der Schulz-Rezension und der Grundlegung zeigt, daß Kant den Ausdruck praktische Freiheit' auf verschiedene Weise benutzt. 3 Diese entwicklungs-
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Von Kants sogenannten Reflexionen machen wir nur sehr sparsamen (unterstützenden) Gebrauch. Sie sind nicht zusammenhängend wie die Vorlesungsmitschriften, und vor allem ist in vielen Fällen die Datierung unklar (vgl. die kritischen Anmerkungen von Schwaiger [1999, S.21 ff.]). Es wäre sicher eine eigene Studie wert, Kants Reflexionen zum Freiheitsbegriff zu untersuchen; allerdings würde das nur im Lichte neuer Datierungsversuche sinnvoll sein.
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geschichtliche Analyse zeigt auch, daß Kant schon vor der Kritik der reinen Vernunft widersprüchlichen Gedanken über das Verhältnis von Freiheit und Moral anhängt; besonders die Vorlesungsmitschrift Metaphysik Lj ist dabei aufschlußreich. Auf spätere Schriften Kants (also Schriften nach 1785) werden wir nicht oder nur am Rande eingehen; in ihnen ist die Mehrdeutigkeit und begrifflich-terminologische Problematik des Freiheitsbegriffs weitgehend beseitigt. Freiheit wird dort stets identifiziert mit „der absoluten Spontaneität der Willkür" (Rel., 24), die nicht durch Erfahrung erkannt werden kann: „Ein Beweis von ihrer [sc. der Freiheit] Wirklichkeit kann schlechterdings nicht, weder in einer unmittelbaren noch mittelbaren Erfahrung, angetroffen werden" (GTP, 285, Anm). Erst nach diesen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen kann dann das eigentliche Kanonproblem angegangen werden. Zunächst geht es dabei um die Frage, was Kant denn nun unter praktischer Freiheit' im Kanon versteht (4). Der Grundgedanke besteht dabei darin, daß praktische Freiheit' im Kanon als ein Vermögen innerhalb und aus der Perspektive der Erscheinungswelt verstanden wird; wir sprechen daher von naturalisierter Freiheit'. Doch selbst wenn man diese Interpretation als eine plausible Lösung für den ersten Aspekt des Kanonproblems betrachtet, bleibt die Schwierigkeit des zweiten Aspekts: Das Verhältnis von Freiheit und Moral wird im Kanon anders bestimmt als in anderen Teilen der KrV. Das Kanonproblem, so wird sich zeigen, bleibt unauflösbar (5). Um die Lektüre zu erleichtern, sind fortlaufend immer wieder kurze Zusammenfassungen (Z plus entsprechender Numerierung) in den Text eingestreut. Im sechsten Kapitel (6) werden wir diese Hauptergebnisse unserer interpretatorischen Arbeit noch einmal im Zusammenhang vorstellen. Diese Zusammenfassungen haben einerseits den Zweck, unsere Resultate kurz und übersichtlich anzubieten. Gemeinsam mit der Auswertung der Sekundärliteratur - die an verschiedenen Stellen in den Text eingebaut wird - sollen sie außerdem einen Forschungsstand darstellen, der es zukünftigen Arbeiten erlaubt, zu wissen, was bisher zum Kanonproblem an Interpretationsleistungen vorliegt. Ein Hinweis zum Charakter des Buches sei noch gestattet: Dieses Buch dient weder als Einführung in noch als Überblick zu Kants Freiheitstheorie; es ist also nicht für Anfängerinnen und Anfänger geschrieben, sondern für alle, die sich mit einem speziellen Problem beschäftigen wollen und mit Kants grundsätzlichem Theorieansatz gut vertraut sind. Und insofern das Buch nur ein spezielles Problem behandelt, werden viele Dinge überhaupt nicht berührt oder stillschweigend vorausgesetzt. So müßte z.B. ein umfassendes Buch zur Freiheitstheorie Kants eine ausführliche Analyse der sogenannten , Auflösung der dritten Antinomie' leisten (auch eine solche Analyse ist übrigens ein Desiderat der Kant-Forschung); das kann und wird hier nicht geschehen,
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ebensowenig wie wir elementare Begriffe wie etwa den der ,Willkür' untersuchen werden. Sehr wichtig ist auch, daß die Lektüre dieses Buches nur sinnvoll sein kann, wenn es parallel zu dem jeweiligen Text gelesen wird, um den es gerade geht. Die Analysen sind zum Teil recht mühsam; sie ohne Bezug auf den Ursprungstext nachzuvollziehen oder gar zu kontrollieren, wird unmöglich sein. Und noch ein letzter Hinweis: Das Buch ist z.T. hervorgegangen aus der gemeinsamen Lektüre der Kantischen Texte. Geschrieben wurde es von mir; alle Mängel und Fehler sind daher auch allein von mir zu verantworten. Ich danke dem DAAD und Burkhardt Tuschling, die das anvisierte Forschungsprojekt interessant genug fanden, um es zwanzig Monate lang zu finanzieren; Yale University und seinem Department of Philosophy für die Anerkennung als Visiting Fellow; Karl Ameriks, Marie Göbel, Lui Jouay, Bernd Kraft und Wolfgang Malzkorn für die kritische und hilfreiche Durchsicht des Skripts; Annelies Aurich und Alexander Cotter für Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage; Ludger Honnefelder für die Kontaktherstellung nach New Haven und die damit verbundene Unterstützung; Stonehill College und namentlich Katie Conboy und Karen Talentino für eine Druckkostenbeihilfe; besonders danke ich Allen W. Wood, der nicht nur durch seine Mitarbeit am Projekt, sondern vor allem durch seine Offenheit für viele andere gemeinsame philosophische Aktivitäten den Aufenthalt in New Haven zu einem unvergeßlichen Erlebnis gemacht hat. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch dem Verlag de Gruyter und den Herausgebern der KantstudienErgänzungshefte für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe.
Easton, im Oktober 2005 Dieter Schönecker
Inhaltsverzeichnis Vorwort und Überblick
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1. Einleitung: Das Kanonproblem
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2. Freiheit in der Dialektik
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3. Transzendentale und praktische Freiheit: Der entwicklungsgeschichtliche Kontext des Kanonproblems 3.1 Metaphysik L! 3.2 Metaphysik Mrongovius 3.3 Schulz-Rezension 3.4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 3.5 Religionslehre Pölitz 4. Freiheit im Kanon 4.1 Kants naturalisierter Freiheitsbegriff 4.2 Der naturalisierte Freiheitsbegriff und Metaphysik Lj 4.3 Der naturalisierte Freiheitsbegriff und die Kritik der praktischen Vernunft 5. Freiheit und Moral im Kanon 5.1 Einige Vorbetrachtungen zum Kontext des Kanons 5.2 Was ist ,das Praktische' und wie ausgereift ist der frühe Autonomiebegriff? 5.3 Freiheit und Moral in A803f./B831f. 5.4 Die Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon
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19 21 50 63 68 70 77 78 96 102
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6. Zusammenfassung: Transzendentale und praktische Freiheit bei Kant
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7. Literaturverzeichnis
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1. Einleitung: Das Kanonproblem Die ,dritte Antinomie' gehört zu den berühmtesten Passagen der Kritik der reinen Vernunft. Das hat einen guten Grund: Wie man weiß, hat dieser ,Widerstreit' maßgeblich zur Entwicklung des transzendentalen Idealismus beigetragen. Diese Antinomie (A444/B472-A452/B480), ihre ,Auflösung' (A532/B560-A558/B586) und der erste Abschnitt des ,Kanons der reinen Vernunft' (A797/B825-A804/B832) sind diejenigen Stellen der KrV, in denen Kant sich mit der Freiheitsthematik auseinandersetzt. Alles, was in den späteren Schriften über den Begriff der Freiheit zu finden ist, fußt letztlich auf jenen Kapiteln seines philosophischen Hauptwerkes. Kant selbst ersucht die Leser der späteren Kritik der praktischen Vernunft, seine kritische Freiheitstheorie „nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen" (KpV, 8); man müsse sich „an das erinnern, was in der Kritik der reinen Vernunft gesagt war" (KpV, 97). Da der Begriff der Freiheit in gewisser Hinsicht den „Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus[macht]" (KpV, 3 f.), ist die Bedeutung jener Stellen aus der transzendentalen Dialektik' und dem ,Kanon der reinen Vernunft' also kaum zu überschätzen. Um so problematischer wäre es deshalb, sollte sich die Freiheitstheorie aus dem Kontext der Dialektik als unverträglich mit der Freiheitstheorie aus dem Kanon erweisen. Denn das würde ja nichts anderes heißen, als daß Kant innerhalb seines Hauptwerkes zwei verschiedene und sogar widersprüchliche Theorien propagiert. Genau dies scheint aber der Fall zu sein. Schon eine vorläufige Lektüre zeigt, daß Kants Verwendung der Begriffe praktische Freiheit', transzendentale Freiheit', ,Willkür', ,Vernunft' usw. so divergierend ist, daß man kaum glauben mag, hier sei nur ein Autor am Werk gewesen. In der Tat sind die Widersprüche prima facie so groß, daß einige seiner Interpretinnen und Interpreten sich zu der Annahme gezwungen sahen, Kant habe in die KrV (genauer: in den Kanon) eine Freiheitstheorie eingebaut, die noch aus vorkritischer Zeit stamme. Wir beginnen unsere Darstellung mit einer solchen, wenn man so will, vorläufigen Lektüre der Dialektik und des Kanons. Sie soll demonstrieren, daß es keiner Detailinterpretationen bedarf, um zu sehen, daß hier etwas nicht stimmt. Kant läßt den Antinomien unmittelbar ein Kapitel über das „Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite" (A462/B490) folgen. Darin geht es unter anderem um das praktische Interesse und damit auch um die „Grund-
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Einleitung
steine der Moral" (A466/B494). Obwohl die Beweise von Thesis und Antithesis nicht (oder jedenfalls nicht explizit) 1 von der Freiheit des Willens handeln, besteht das praktische Interesse der Vernunft ,bei diesem Widerstreite' unter anderem darin, die Freiheit des Willens als einen solchen ,Grundstein der Moral' vor den theoretischen Ansprüchen des Determinismus zu verteidigen; tatsächlich heißt es ja schon in der Anmerkung zur Thesis, daß man die ,,absolute[.] Spontaneität der Handlung [.] als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben" (A448/B476) verstehen müsse. Im Mittelpunkt der dritten Antinomie steht daher letztlich die Frage, „ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei" (A463/B491); oder anders gesagt, ob mein Selbst „in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei" (A466/B494). 2 Die Freiheit des Willens gehört, so Kant ausdrücklich, zu den „Stützen" (ebd.) der Moral. Besonders in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV läßt Kant daran nicht den geringsten Zweifel: „die Moral setze notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus" (BXXVffl). 3 Diese Freiheit des Willens, an welcher jeder Vertreter der „Thesis" (A466/B494) ein „praktisches Interesse" (ebd.) hat und die umgekehrt von einem Vertreter der ,/antithesis" (A468/B496) bestritten wird, ist ohne Zweifel die sogenannte „transzendentale Freiheit (A445/B473, u.H.) aus dem Kontext der dritten Antinomie. 4 Wie gesagt: In den eigentlichen ,Beweisen' von Thesis und Antithesis ist von der Freiheit des Willens oder der Freiheit handelnder Subjekte nicht (direkt) die Rede. Aber schon in der ,Anmerkung' zur Thesis können wir lesen, daß dasjenige „in der Frage über die Freiheit des Willens, was die spekulative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, eigentlich nur transzendental [ist] und lediglich darauf [geht], ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von sukzes-
' Vgl. aber Dimpker/Krafl/Schönecker (1996, S.224-232). Die Unabhängigkeit vom ,Naturzwang' ist bei Kant selbst wie auch in der Rezeption seiner Freiheitstheorie das entscheidende Moment. Wir werden allerdings noch sehen, daß die Unabhängigkeit vom ,Schicksal' - verstanden als die Unabhängigkeit von göttlicher Schöpfung und Prädestination - bei Kant ebenfalls eine große Rolle spielt. 3 Vgl. KpV, 29: Die völlige Unabhängigkeit von der Natur „heißt Freiheit im strengsten, d.i. transzendentalen Verstände". 4 Vgl. A446/B474 und A447/B475. Im Rahmen der dritten Antinomie wird diese transzendentale Freiheit außerdem als „Freiheit im transzendentalen Verstände" (A445/B473), als „transzendentale Idee der Freiheit" (A448/B476), als „transzendentales Vermögen der Freiheit" (A457/B479) oder häufig einfach auch als .Freiheit' bezeichnet. In der sogenannten .Auflösung der dritten Antinomie' nennt Kant diese transzendentale Freiheit auch Freiheit „im kosmologischen Verstände" (A533/B561); es sei daran erinnert, daß diese .Auflösung' gar nicht .Auflösung der dritten Antinomie' heißt, sondern „Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen" (A532/B560). :
Einleitung
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siven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen" (A448/B476). Die Frage ist deswegen transzendental', weil jene Freiheit des Willens selbst nichts anderes ist als eben dieses transzendentale ,Vermögen, einen Zustand ganz von selbst anzufangen'. Transzendentale Freiheit ist, wie es am Ende des Beweises der Thesis heißt, eine „Kausalität [...], durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen" (A446/B474). Diese Begriffsbestimmung von transzendentaler Freiheit' ist im Prinzip einfach und unumstritten; sie wird ja auch von Thesis und Antithesis gemeinsam vorausgesetzt. Nun wird im Kontext der dritten Antinomie zwischen der Freiheit eines „ersten Beweger[s]" (A450/B478) als „eines Ursprungs der Welt" (A448/B476, u.H.) und der Freiheit handelnder Subjekte „mitten im Laufe der Welt" (A450/B478, u.H.) unterschieden. Dabei wird das charakteristische Merkmal transzendentaler Freiheit - also das Vermögen, einen Zustand ,ganz von selbst' anzufangen - sowohl auf jenen außerweltlichen ,ersten Beweger' als auch auf innerweltliche Akteure angewendet. Die Notwendigkeit eines ,ersten Bewegers', der in einem Akt transzendentaler Freiheit die Welt hervorbringt, hält der Vertreter der Thesis für bewiesen. Er schließt dann (in der Anmerkung) von dieser Notwendigkeit auf die Möglichkeit, auch ,im Laufe' der Naturereignisse transzendental frei handeln zu können: „Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln" (A450/B478). Die Freiheit des Willens, von der im Kontext der dritten Antinomie geredet wird, ist also ohne jeden Zweifel die transzendentale Freiheit und damit das Vermögen, unabhängig von allen Naturursachen einen Zustand ,ganz von selbst' anzufangen. Um diese Freiheit geht es der Thesis und natürlich auch Kant. Denn es ist diese transzendentale Freiheit des Willens, die als .Stütze' und ,Grundstein' der Moral dienen muß. Was genau Kant mit dem praktischen Interesse' meint, wird in der A u f lösung' der dritten Antinomie deutlich. 5 Dort führt Kant mit ähnlichen Worten zunächst erneut die Idee der transzendentalen Freiheit ein. Demnach ist diese Freiheit „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache
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Allerdings ist der Begriff des .Interesses' insgesamt eher dunkel; vgl. Kleingeld (1998).
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Einleitung
steht, welche sie der Zeit nach bestimmte" (A533/B561). Dann bemerkt Kant, es sei „überaus merkwürdig, daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben" (ebd., Kants Hervorhebung getilgt, u.H.).
Wir werden später noch sehen, daß dieser Satz interpretatorische Schwierigkeiten mit sich bringt. Die Kernaussage besteht aber darin, daß die Freiheit des Willens (die praktische Freiheit) ohne die transzendentale Freiheit undenkbar ist; ist der Wille nicht transzendental frei, dann ist er überhaupt nicht frei, weil die praktische Freiheit des Willens sich auf die transzendentale Idee der Freiheit ,gründet'. Kant selbst scheint an dieser Interpretation keinen Zweifel zu lassen. Denn er schreibt in Erläuterung jenes Gründungsverhältnisses (,gründet sich'): „Man sieht leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre [...], so würde die Aufliebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgeη" (A534/B562).
Die Aussage der ,Auflösung' ist also eindeutig: Ohne transzendentale Freiheit gibt es auch keine praktische. Auch im ,Kanon der reinen Vernunft' scheint zunächst alles an diesen Grundgedanken der ,Auflösung' und das praktische Interesse' der Vernunft zu erinnern. Denn auch im Kanon stößt man auf das ,,praktische[.] Interesse" (A797/B825) der Vernunft und ihre „Endabsicht" (A798/B826): die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein Gottes und besonders „die Freiheit des Willens" (ebd.). Um so größer ist dann die Verwirrung, wenn Kant kurz darauf von der praktischen Freiheit behauptet, sie könne „durch Erfahrung bewiesen werden" (A802/B830, u.H.).
Wenn praktische Freiheit sich auf die Idee der transzendentalen Freiheit ,gründet', und wenn von dieser Idee wie von jeder Idee gilt, daß sie durch Erfahrung weder gegeben noch bewiesen werden kann, welchen Sinn ergibt dann die Behauptung, genau dies gelte für die praktische Freiheit - daß sie nämlich ,durch Erfahrung bewiesen' werden könne? Und welchen möglichen Sinn könnte dann erst recht die nur einige Zeilen später auftauchende und geradezu widersinnig anmutende These noch enthalten, wir erkennten „die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den (A803/B831, u.H.)?
Naturursachen"
Freiheit ,als eine von den Naturursachen' - was soll das bedeuten? In der ,Auflösung' werden transzendentale und damit auch praktische Freiheit doch
Einleitung
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geradezu dadurch definiert, keine ,Naturursachen' zu sein, weil sie ,ganz von selbst' Ereignisse bewirken. Dagegen suggeriert Kant im Kanon die Möglichkeit, daß die Vernunft selbst „wiederum Natur sein möge" (ebd., u.H.) und damit nicht transzendental frei, eine Möglichkeit, die aber für ,das Praktische' irrelevant sei und uns insofern „nichts an[gehe]" (ebd.). Die Vorstellung einer praktischen Freiheit und damit einer Vernunft, die gleichzeitig als frei und als ,Naturursache' zu verstehen ist, scheint aus der Perspektive der Dialektik in der Tat absurd und alles andere als transzendentalphilosophisch durchdacht. Schon an der Oberfläche scheinen also die Textpartien aus der Dialektik und dem Kanon in einem eklatanten Widerspruch zu stehen. 6 Das Problem hat, genauer betrachtet, zwei Aspekte, die allerdings zusammenhängen: 1. Der erste Aspekt betrifft die eben skizzierte Bestimmung des Freiheitsbegriffs selbst: In der Dialektik werden praktische Freiheit und praktische Vernunft als die Spontaneität transzendentaler Freiheit verstanden; in der Problempassage des Kanons wird praktische Freiheit dagegen als ,Naturursache' begriffen und (damit) als ein Vermögen, das ,durch Erfahrung' erkennbar und beweisbar ist. 2. Der zweite Aspekt betrifft das Verhältnis des Freiheitsbegriffs zum Begriff der Moralität. Es gehört zu den Grundthesen Kants, daß ohne einen ,strengen' Begriff von Freiheit und Zurechnungsfähigkeit moralische Gesetze sinnlos sind. Aber welcher Freiheitsbegriff ist dafür Voraussetzung? In der Dialektik ist der relevante Freiheitsbegriff transzendental: Moralität ist ohne praktische Freiheit unmöglich, und praktische Freiheit ist ohne transzendentale Freiheit unmöglich. Im Kanon scheint Kant dagegen etwas anderes zu behaupten, nämlich: Moralische Gesetze sind bereits auf der Grundlage von Freiheit als ,Naturursache' möglich, also auch ohne die Voraussetzung transzendentaler Freiheit. Ob wir wirklich transzendental frei sind, diese Frage gehe uns „im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an" (A803/B831, Kants Hervorhebung getilgt, u.H.); man könne die „Frage wegen der transzendentalen Freiheit [...] als ganz gleichgültig beiseite setzen" (ebd., u.H.). Dieses Grundproblem mit seinen zwei Aspekten soll uns hier beschäftigen. Nennen wir es das Kanonproblem. Es wurde natürlich schon früh bemerkt, daß es hier ein Problem gibt. So betont Erdmann (1878, S.72, Anm.), daß die Problempassage anderen Schriften Kants „vollkommen fern" liege (zum eigentlichen Problem sagt er nichts). - Gideon (1903)
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Die zentrale Passage im Kanon reicht von A801/B829 (,Und da ist denn zuerst anzumerken ...') bis zum Ende des ersten Kanonabschnittes, also bis zu A804/B832 (, ... schon hinreichende Erörterung zu finden ist'). Auf diese Passage beziehen wir uns im folgenden mit dem Ausdruck
,Problempassage'.
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schreibt: „Befremdend wirkt es allerdings, wenn Kant die praktische Freiheit, die in der Fähigkeit der Selbstbestimmung durch die Vernunft besteht, durch Erfahrung beweisen zu können behauptet; damit scheint alles auf den Kopf gestellt" (S.51). - Auch Baumbach (1929) rechnet die Problempassage zu den „scheinbar aus dem Zusammenhang der Kantischen Gedankenwelt ganz herausfallenden Stellen, in denen die praktische Freiheit geradezu als ein der unmittelbaren Erfahrung zugängliches Faktum beschrieben wird" (S.25); daß diese praktische Freiheit als ,Naturursache' bezeichnet wird, ignoriert er aber. - Heimsoeth (1971, S.752 f.), der einen ausführlichen Kommentar zur Dialektik vorgelegt hat, hat große Schwierigkeiten mit dem Kanonproblem. Er räumt dies auch ein und verweist vage auf den Entwicklungscharakter der Kantischen Philosophie: „Für Kenner von Kants Philosophie [...] ist diese Aussage über Freiheits-,Erfahrung' ein nicht leicht zu lösendes Auslegungsproblem. Schon hierfür gilt es, was auch für weitere Aussagen unseres ,Kanon'-Hauptstückes zu bedenken ist, daß Kants Philosophie nicht ein von bestimmtem Zeitpunkt an fertiges Gebäude darstellt, sondern ein ständig vorgreifendes Entwerfen und Versuchen, das auch in der Reifezeit [...] nicht zur Ruhe, geschweige zum endgültigen Abschluß gekommen war" (S.753, Anm. 169); Sala (2004, S.62, Fn. 54) schließt sich dieser Einschätzung an. Heimsoeth hält aber daran fest (S.752), daß auch die durch Erfahrung erkennbare Freiheit sich auf die ,transzendentale Idee gründe' und behauptet dann, die Rede vom Erfahrungscharakter der Freiheit bedeute nur das „Sichvorfinden des Menschen in Entscheidungsmöglichkeiten zwischen Forderungen, die seiner Vernunft enstammen und den bloß sinnlichen Reizen und Antrieben" (S.754). - Albrecht (1978, S.19, F. 15) schließt sich den Ausführungen Heimsoeths an; allerdings sei „nicht leicht einzusehen" (S.19 f.), wie dies mit der Dialektik vereinbar sei. Auch Carnois (1987, S.29, EA 1973) hält die Passagen aus dem Kanon und der Dialektik für eindeutig „not congruent". Und auch Kvist (1978) sieht, wie dann auch andere nach ihm, deutlich das Problem: Es scheint einen „Positionsunterschied innerhalb der KrV" (S.84) zu geben. - Es wurde schon bemerkt, daß die Literatur zum Kanonproblem nicht sehr umfangreich ist. Es sind nur wenige Autoren, die ausführlicher auf die Problempassage eingehen; und auch die Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Text beschäftigen, liefern keine wirklich detaillierte Analyse der Problempassage. Selbst ein Autor wie Ortwein (1983), der den problematischen Charakter von Kants Freiheitslehre behandelt (sein Buch heißt „Kants problematische Freiheitslehre"), geht auf das Kanonproblem so gut wie gar nicht ein; und auch Prauss (1983) in seinem Buch „Kant über Freiheit als Autonomie" beschäftigt sich nicht mit dem Problem. Es gibt eine Vielzahl von Autoren, die zwar auf die Problempassage eingehen, dabei aber den Begriff der praktischen Freiheit als ,Naturursache' entweder nur erwähnen, ohne ihn zu diskutieren, oder ihn völlig ignorieren, z.B.: Albrecht (1978), Altmann (1982), Baumbach (1929), Erdmann (1878), Funke (1981), Gideon (1903), Heimsoeth (1971), Kohl (1868), Meyer (1996), Ortwein (1983), Paton (1962), Recki (1998), Rosas (1996), Röttcher (1927), Sandermann (1989), Sala (1990; vgl. aber ders. 2004, S.62, Fn.54), Sommerlath (1917), Zeldin (1981). Andere Autoren wiederum erwähnen zwar die Pro-
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blempassage oder zitieren aus ihr, machen aber keine Vorschläge zu ihrem Verständnis, z.B. Effertz (1994, S.80, Fn.70), 7 Frierson (2003, S.172, Fn.18), Grunewald (1994, S.349), Kaulbach (1982, S.202) oder Wood (1999, S.172); und schließlich gibt es viele Autoren (ohne sie hier aufführen zu wollen), die zwar auf Kants Freiheitstheorie eingehen, aber das Kanonproblem ganz ignorieren, z.B. Sidgwick (1888) oder Potter (1974); (dabei gehen sowohl Sidgwick wie im Anschluß an ihn Potter gerade auf die Ambiguität des Kantschen Freiheitsbegriffs ein). Ein Autor wie Ertl (1998) wiederum widmet dem Verhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit in seinem Buch zwar ein eigenes Kapitel (S.124-139). Allerdings begnügt sich Ertl damit, die für diese ,Problemlage' relevanten Passagen einfach nur zu zitieren. Mit einer einzigen Ausnahme - Ertl weist darauf hin, daß Kant in A803/B831 schreibe, daß der Ausdruck Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnlichkeit' den transzendentalen Freiheitsbegriff nicht definiere, sondern daß dieser jene .Unabhängigkeit' nur ,fordere' - werden diese Passagen überhaupt nicht interpretiert; entwicklungsgeschichtliche Analysen fehlen, und auch die zwei Aspekte des Kanonproblems werden nicht deutlich. Ζ 1 Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung zeigt sich das Kanonproblem: In der Dialektik beschreibt Kant praktische Freiheit als transzendentale Idee, die nicht durch Erfahrung bewiesen werden kann; im Kanon heißt es dagegen, Freiheit sei eine ,νοη den Naturursachen' und ,durch Erfahrung beweisbar'. Das ist der erste Aspekt des Kanonproblems. Der zweite besteht darin, daß in der Dialektik die transzendental-praktische Freiheit als Grundlage der Moral verstanden wird; im Kanon heißt es aber, die Frage nach der transzendentalen Freiheit gehe uns ,im Praktischen nichts
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Effertz unterscheidet zwar zwischen einem empirisch-praktischen und einem moralischpraktischen Freiheitsbegriff, führt diese Unterscheidung aber nicht aus.
2. Freiheit in der Dialektik Naturkausalität wird im Kontext der dritten Antinomie genauso verstanden wie in der Analytik: Naturursachen sind Ursachen in der Zeit, die Wirkungen in der Zeit hervorbringen und die als Naturursachen selbst wieder durch vorhergehende Naturursachen bewirkt werden „usw." (A444/B472). Es ist auffällig, daß Kant im zweiten Absatz des Auflösungskapitels (hier wird der transzendentale Freiheitsbegriff erneut bestimmt) transzendentale Freiheit nicht nur ,positiv' als Vermögen absoluter Spontaneität bestimmt, sondern ausdrücklich auch ,negativ', nämlich in Absetzung von der Naturkausalität. Freiheit, so schreibt er, sei „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte" (A533/B561, zum Teil u.H.). Transzendentale Freiheit sei „die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen" (ebd., u.H.). Weil das negative Bestimmungsmoment - Unabhängigkeit von dem ,Gesetze der Kausal Verknüpfung' - mit dem positiven zwingend verbunden ist, muß die Disjunktion zwischen Natur und Freiheit vollständig sein, und das heißt: Wird eine Substanz oder eine Akteurin in ihrer Eigenschaft als transzendentale Freiheitsursache betrachtet, dann ist es, in dieser Perspektive, unmöglich, sie zugleich als Naturursache zu begreifen. 1 Schon bei unserem ersten Blick auf die dritte Antinomie hatte sich herausgestellt, daß die ,Frage über die Freiheit des Willens' daher eigentlich nur transzendental' sei, und zwar deswegen, weil der praktische Freiheitsbegriff sich auf der transzendentalen Idee der Freiheit ,gründe', so daß die ,Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen würde'. Aber gehen wir noch einmal genauer auf diese Stellen ein (A533/B561-A534/B562). Der dritte Absatz des Auflösungskapitels beginnt, wir erinnern uns, folgendermaßen: „Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese
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In den vorangehenden Abschnitten der Dialektik wurden die entscheidenden Begriffe vorab festgelegt: Die „unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung [heißt] die Freiheit, die bedingte dagegen [...] Naturursache" (A419/B447); Oberbegriff ist „Ursache", definiert als „Bedingung von dem, was geschieht" (ebd.). Und im Kontext der dritten Antinomie wurde Freiheit ausdrücklich als Unabhängigkeit von den Naturgesetzen bestimmt: Freiheit sei das „Vermögen, unabhängig von Gesetzen der Natur zu wirken" (A469/B497), ja Freiheit wird geradezu als „Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur" (A447/B475, u.H.) verstanden.
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transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben" (A533/B561). Es gibt einige Dinge in diesem Satz, die Kopfzerbrechen bereiten. Zunächst: Das Attribut ,merkwürdig' ist hier sicher nicht als ,komisch' oder eigenartig' zu verstehen, sondern in der veralteten Bedeutung von denkwürdig' oder bemerkenswert'. Aber was genau ist hier ,merkwürdig'? Es fällt auf, daß Kant von der transzendentalen Idee der Freiheit' zum praktischen Begriff der Freiheit' wechselt (als ,Idee' in dem bekannten Sinne hatte Kant den transzendentalen Freiheitsbegriff schon im zweiten Absatz charakterisiert). Allerdings braucht uns dieser Wechsel (zunächst) nicht weiter zu bekümmern. Denn kurz darauf (A534/B562) spricht Kant ja auch von der Aufhebung der transzendentalen Freiheit' und der ,Vertilgung der praktischen Freiheit', ohne dabei die Freiheit näher als Idee oder als Begriff zu qualifizieren. Nur so kann man sich auch erklären, warum Kant im obigen Satz schreiben kann, j e n e ' (sc. transzendentale Idee der Freiheit) mache in ,dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten aus'. Um Willes Konjektur (,diesem') zu vermeiden - die aber natürlich unvermeidlich wäre, wenn ,dieser' sich eigentlich auf ,der praktische Begriff' bezöge - , muß man ,dieser' auf die praktische Freiheit selbst beziehen. Entsprechend muß und kann dann auch das ,ihre' im Fortgang des Satzes nicht auf den praktischen Begriff' der Freiheit bezogen werden, sondern auf die praktische Freiheit selbst. 2 Die ,Frage über ihre Möglichkeit' ist demnach die Frage über die Möglichkeit der praktischen Freiheit; schon in der Anmerkung zur Thesis wurde ja die „Frage über die Freiheit des Willens" (A448/B476) erwähnt. Und genau wie in der Dialektik behauptet wurde, daß dasjenige, was uns bei dieser Frage ,νοη jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat', die Frage nach der transzendentalen Freiheit des Willens war, so behauptet Kant im Kanon, daß die Schwierigkeiten, welche die Frage nach ihrer (sc. der praktischen Freiheit) Möglichkeit von jeher umgeben haben', durch die transzendentale Freiheit ausgelöst werden, die ,m' der praktischen Freiheit enthalten ist. Wir können also den Satz folgendermaßen rekonstruieren: ,Es ist überaus denkwürdig, daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff der Freiheit gründe und jene transzendentale Freiheit in dieser praktischen Freiheit das eigentliche Moment der Schwierigkeiten aus-
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Wille hätte hier konsequenterweise noch eine weitere Konjektur machen müssen: ,ihre' müßte dann nämlich auch durch ,seine Möglichkeit' ersetzt werden (so daß man inhaltlich lesen müßte: ,...., welche die Frage über die Möglichkeit des praktischen Begriffs der Freiheit von jeher umgeben haben'); möglicherweise bezieht Wille das ,ihre' auf die transzendentale Idee der Freiheit'.
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mache, welche die Frage über die Möglichkeit der praktischen Freiheit (des Willens) von jeher umgeben haben.'
Aber was genau ist nun der Grund, weshalb sich der praktische Freiheitsbegriff auf den transzendentalen ,gründet'? Betrachten wir zunächst den vierten Absatz. Er beginnt mit folgendem Satz: „Man sieht leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, sofern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen" (A534/B562).
Kants Überlegung in diesem Satz läßt sich zunächst folgendermaßen wiedergeben: (1) Wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein. (2) Dies würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit bedeuten. (3) Daher gilt auch für diejenigen Erscheinungen der Natur, die die Willkür bestimmen, daß sie jede Handlung dieser Willkür nach notwendigen Gesetzen als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre. (4) Deshalb würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Ohne daß dies direkt zum Ausdruck gebracht würde, wird (2) als unmittelbare Konsequenz aus (1) verstanden: ,Wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, dann würde dies die Aufhebung der transzendentalen Freiheit bedeuten'. Auf den ersten Blick scheinen (1) und (2) merkwürdig schief. Denn unter dem Begriff der Sinnen weit versteht Kant ja sonst den Inbegriff der Erscheinungen, die durch das Naturgesetz der Kausalität bestimmt werden, und wie sollte ,in' dieser Sinnen weit nicht alles ,bloß Natur' sein? Aber natürlich will Kant nicht darauf hinaus, daß, als Erscheinung betrachtet, nicht jede Erscheinung auch tatsächlich eine Naturursache hat. Er will darauf hinaus, daß „in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne" (A536/B564, u.H.). Betrachtet man eine Wirkung als Erscheinung, und geht man davon aus, daß die Ursache dieser Wirkung ausschließlich wieder eine Ursache in der Erscheinungswelt sein kann, dann bleibt kein Raum für die Möglichkeit, daß die Ursache jener Wirkung eine freiheitskausale Ursache ist; die transzendentale Freiheit wäre dann ,aufgehoben'. Im Grunde genommen sagt Kant also nur: Wenn alle Kausalität bloß Naturkausalität wäre, dann gäbe es keine transzendentale Frei-
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heit, und das ist eine Implikation, die sich allein aus der Bedeutung der Begriffe ,Naturkausalität' und .transzendentale Freiheit' ergibt. Das .mithin' 3 verknüpft den ersten Teil des Satzes, also (1) und (2), sowohl mit (3) als auch mit (4): Wenn alle Erscheinungen in der Sinnen weit bloß naturkausal bestimmt wären, dann auch (,mithin') alle willkürlichen Handlungen; und wenn transzendentale Freiheit aufgehoben ist, dann auch (.mithin') praktische Freiheit. Man sieht aber, daß die eigentliche Begründung für (4) noch fehlt. Denn (4) folgt aus (1), (2) und (3) ja nur dann, wenn schon gezeigt ist, daß die praktische Freiheit der Willkür mit der transzendentalen Freiheit unauflöslich verknüpft ist. Welcher Art diese Verknüpfung zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit ist, zeigt Kant im nächsten Satz, der deshalb auch erst die eigentliche Begründung (,Denn ...') für (4) enthält: „Denn diese [praktische Freiheit] setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz, von selbst anzufangen" (A534/B562).
Der Grundgedanke (und grammatische Hauptsatz) dieser Passage lautet: ,Die praktische Freiheit setzt voraus, daß in unserer Willkür eine Kausalität liege, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'. 4 Nun ist dieses Vermögen, ,eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen', aber nichts anderes als die „absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit" (A446/B474). 5 Das wiederum heißt nichts anderes, als daß die praktische Freiheit der Willkür - und von deren Freiheit ist in diesem Satz eindeutig die Rede - transzendentale Freiheit ,voraussetzt'. Den besagten Grundgedanken kann man daher auch so formulieren: ,Die praktische Freiheit unserer Willkür setzt voraus, daß in unserer Willkür transzendentale Freiheit als eine Kausalität liege, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'.
Damit ist aber die Begründung für die These (4) gegeben, wonach ,die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit
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AA III, 364,6. Bemerkenswerterweise wird das ,ganz von selbst' von Kant eigens hervorgehoben; auf den Rest des Satzes kommen wir gleich zurück. Es ist natürlich kein Zufall, daß Kant häufig die Formel ,νοη selbst' oder ,ganz von selbst' benutzt. ,Von selbst handeln' bedeutet Selbsttätigkeit, und ,Selbsttätigkeit' ist die deutsche Übersetzung von .Spontaneität' bzw. ,spontaneitas'.
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vertilgen würde'. Denn praktische Freiheit ,setzt voraus', daß es transzendentale Freiheit gibt, weil sie selbst ein Fall transzendentaler Freiheit ist sie ist transzendentale Freiheit, wenn auch verstanden als Eigenschaft der Willkür (und nicht eines ,ersten Bewegers'). Und gibt es transzendentale Freiheit nicht, dann auch nicht praktische Freiheit. Dieses ,Voraussetzen' ist genau das, was Kant kurz vorher mit der Behauptung im Sinn hatte, daß sich die praktische Freiheit auf die transzendentale ,gründe'. In diesem Kontext ist die praktische Freiheit also nichts anderes als die transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft (der Willkür);6 nennen wir dies die transzendental-praktische Freiheit (TPF). Die ,Freiheit im praktischen Verstände' ist also die transzendentale Freiheit der Willkür. In diesem Sinne .gründet sich' die praktische Freiheit auf die transzendentale, und in diesem Sinne würde die Aufhebung' der transzendentalen Freiheit mit der .Vertilgung' der praktischen Freiheit gleichbedeutend sein. Ζ 2 In der Dialektik wird praktische Freiheit' verstanden als transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft (der Willkür). Wir nennen diese Freiheit transzendental-praktische Freiheit (TPF). Laut Dialektik ,gründet sich' daher die praktische Freiheit auf die transzendentale Freiheit, weil auch praktische Freiheit - verstanden als TPF - das Vermögen ist, eine Ursachenkette ,ganz von selbst anzufangen'. Dieses Vermögen ist nichts anderes als das Spontaneitätsvermögen transzendentaler Freiheit, und daher , würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen'. Wie wir bereits sahen, hat transzendentale Freiheit einen negativen und einen positiven Aspekt. Einerseits bedeutet sie die Unabhängigkeit vom Naturdeterminismus, andererseits und zugleich unauflöslich damit verknüpft das Vermögen absoluter Spontaneität. Auch der besagte ,Rest' des obigen Satzes (A534/B562) bringt diese doppelte Bestimmung des Freiheitsbegriffes zum Ausdruck. Denn es heißt darin ja nicht nur, daß ,in unserer Willkür eine Kausalität liege, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'; sondern genauer, daß ,in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'. Interessanterweise verbindet Kant dabei den negativen Bestimmungsaspekt (,unabhängig von jenen Naturursachen') mit dem positiven Aspekt (,ganz von
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Den Unterschied zwischen Wille und Willkür können wir hier vernachlässigen; in der KrV spielt er ohnehin keine Rolle.
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selbst anzufangen') durch ein ,mithin'. 7 In gewisser Hinsicht dreht er damit das Verhältnis zwischen diesen beiden Momenten um. Hatte er kurz vorher noch die Bewegung vom positiven zum negativen Aspekt der Freiheit vollzogen - transzendentale Freiheit, so hieß es da, sei ,das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze unter einer anderen Ursache steht' (A533/B561) - , so schlägt er jetzt die umgekehrte Richtung vom negativen zum positiven Aspekt ein (wie meistens). Darin liegt kein Problem, im Gegenteil, es zeigt nur, daß für Kant (in der Dialektik) der negative und positive Aspekt der Freiheit unzertrennlich verbunden sind. 8 Diese enge Verknüpfung des negativen und positiven Aspekts zeigt sich auch im zweiten Teil des dritten Absatzes. In ihm führt Kant den Begriff der „Freiheit im praktischen Verstände" (A534/B562) überhaupt erst ein. Er definiert diese praktische Freiheit zunächst in einem einzelnen Satz als „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" (ebd.). Die genaue Analyse dieser Begriffsbestimmung wird noch Schwierigkeiten bereiten; jedenfalls scheint aber klar, daß Kant damit auf den negativen Aspekt der Freiheit zielt. Daß sich praktische Freiheit aber nicht in dieser Unabhängigkeit' erschöpft (obwohl Kant sprachlich durch den besagten einzelnen Satz diesen Eindruck erwecken mag und in der Tat auch hervorgerufen hat), zeigt der übernächste Satz. Die menschliche Willkür ist nämlich praktisch frei (arbitrium liberum), „weil Sinnlichkeit ihre [der Willkür] Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe der Sinnlichkeit, von selbst zu bestimmen" (ebd., u.H.). Praktisch frei ist die menschliche Willkür also nicht (nur), weil sie u n a b hängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe' ist. Sie ist (auch) frei, weil sie das Vermögen besitzt, sich ,νοη selbst' zu bestimmen. Da dieses Vermögen, wie gezeigt, nichts anderes ist als das Vermögen absoluter Spontaneität und damit transzendentaler Freiheit, gehört es zum Begriff praktischer Frei-
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AA III, 364,15. Man beachte das ,also': Wenn wir wissen, daß ein Wesen das Vermögen hat, einen Zustand ,νοη selbst' anfangen zu können, dann wissen wir auch, daß dieses Wesen, sofern es einen Zustand von selbst anfängt, in dieser Aktivität nicht naturkausal bestimmt sein kann. Umgekehrt wissen wir, wenn wir wissen, daß ein Wesen nicht naturkausal bestimmt ist, nicht sicher, ob es freiheitskausal bestimmt ist, da es auch gar nicht bestimmt sein könnte. Dennoch ist es gewiß angemessen, zu sagen, daß das negative und positive Bestimmungsmoment zwei Seiten einer und derselben Medaille sind. Vgl. auch GMS, 446, wo Kant schreibt, aus der negativen Bestimmung der Freiheit „fließt" eine positive.
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heit, sie als einen Fall transzendentaler Freiheit zu begreifen. Der Begriff der praktischen Freiheit ist in der Dialektik also nicht einfach identisch mit der Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit'; der positive Aspekt der Selbsttätigkeit (,νοη selbst') gehört ganz wesentlich dazu und ist von jenem negativen Freiheitsaspekt nicht zu trennen. In den beiden Absätzen von A534/B562 wird dies von Kant zweimal festgehalten: Die praktische Freiheit ist das Vermögen, sich ,νοη selbst zu bestimmen', also ,eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'. Wenn man in diesem Kontext die praktische Freiheit nicht als einen Fall (eine Form) transzendentaler Freiheit versteht, ergeben Kants Thesen über das Verhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit überhaupt keinen Sinn. 9 Ζ 3 Negativ verstanden ist praktische Freiheit das Vermögen, , unabhängig von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit zu handeln'; positiv verstanden ist sie das Vermögen, ,ganz von selbst' zu handeln. Beide Momente gehören zusammen. Wenden wir uns nun noch dem verbleibenden ,Rest' des Satzes zu, mit dem Kant begründet, warum die ,Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen würde' (A534/B562). Die praktische Freiheit, sagt Kant, setzt voraus, daß in unserer Willkür eine Kausalität liegt, unabhängig von Naturursachen ganz von selbst etwas anzufangen. Diese Kausalität erlaube es uns, das, was wir tun sollen, wirklich zu tun (wenn es auch nicht immer geschieht). Was Kant hier meint, wird erst im späteren Teil der ,Auflösung' richtig deutlich, wenn er über das intelligible Vernunftvermögen spricht, das Sollensgebote aufstellt. Der entscheidende Gedanke ist leicht und durch wenige Zitate gut zu belegen. In theoretischer Perspektive besitzt der Mensch Verstand und Vernunft als intelligible Erkenntnisvermögen, die sich durch Spontaneität auszeichnen (A546f./B574f.). 10 Zugleich denken wir uns diese Vernunft aber auch als ein praktisches Vermögen. Die praktische Vernunft stellt Imperative auf, also Sollensgebote. Indem sie dies tut, werden Handlungen geboten (und vielleicht realisiert), die keine Ursachen haben, sondern Gründe: 1
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Wie wir später sehen werden, hat die Formulierung von der .Unabhängigkeit durch die Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' noch eine andere Bedeutung. In der empirischen Psychologie von MLi und sogar noch im Kanon ist damit bloß die .Unabhängigkeit durch die unmittelbare Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' gemeint. 10 Von welcher Art die „bloße Apperzeption" (A546/B574) ist, durch die wir dieser Vermögen gewahr werden, ist ein schwieriges Thema; es braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Zum Unterschied zwischen .Gründen' und .Ursachen' vgl. auch A821/B849.
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„Das Sollen drückt eine Axt von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt [...] ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können nicht fragen, was in der Natur geschehen soll [...]. Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. [...] Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen [...] Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen" (A547f./B575f.). Kants These lautet also, kurz gesagt, daß es falsch wäre, eine H a n d l u n g , die aus der Vorstellung eines Imperatives entspringt, als ein Naturereignis zu beschreiben. Solche Handlungen haben Gründe, nicht Ursachen, weil sie der V e r n u n f t entspringen. Die Vernunft aber ist kein N a t u r p h ä n o m e n : „Bisweilen aber finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und daß sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren. [A550/B578] Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen. [A551/B580] (...) wenn Vernunft Kausalität in Ansehung der Erscheinungen haben kann; so ist sie ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt. [A552/B580] Aber von der Vernunft kann man nicht sagen, daß vor demjenigen Zustande, darin sie die Willkür bestimmt, ein anderer vorhergehe, darin dieser Zustand selbst bestimmt wird. Denn da Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Kausalität, keine Zeitfolge statt, und auf sie kann also das dynamische Gesetz der Natur, was die Zeitfolge nach Regeln bestimmt, nicht angewandt werden." (A553/B581) Praktische Freiheit, so haben wir gesehen, ist die Freiheit der Willkür, sich unabhängig von sinnlichen Antrieben ganz von selbst zu bestimmen und damit ganz von selbst eine Reihe von Erscheinungen anzufangen. N u n ist der Wille oder die Willkür - der Unterschied ist hier, wie gesagt, noch nicht relevant - nichts anderes als praktische Vernunft. D a h e r ist es auch nicht überraschend, wenn Kant an einer Stelle den negativen und positiven Freiheitsbegriff auf die Vernunft selbst anwendet: „In Ansehung des intelligiblen Charakters, wovon jener [empirische Charakter, D.S.] nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, unangesehen der Zeitverhältnisse, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der
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reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Naturursachen, durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein, und diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen, (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein,) sondern auch positiv als Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen" (A553f./B581f., u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Die transzendentale Freiheit, auf die sich die praktische Freiheit der Willkür ,gründet', ist also nichts anderes als die transzendentale Freiheit der V e r n u n f t selbst. Die V e r n u n f t bestimmt die Willkür und in dieser B e s t i m m u n g , in 12
dieser Praktizität, heißt sie, oder vielmehr, heißen beide: praktisch frei. Ein Blick auf die Prolegomena bestätigt diese Interpretation. W i e in der K r V behandelt Kant dort die Freiheitsproblematik innerhalb der Diskussion der Dialektik der ,kosmologischen I d e e n ' (Prol, §§ 53-54). D i e „Freiheit des praktischen V e r n u n f t g e b r a u c h s " (Prol, 346) besteht in d e m V e r m ö g e n der Vernunft, durch objektive Gründe das Handeln zu bestimmen, „und sofern wir ein W e s e n (den M e n s c h e n ) lediglich nach dieser objektiv bestimmbaren Vernunft betrachten, kann es nicht als ein Sinnenwesen betrachtet werden, sondern die gedachte Eigenschaft [sc. Freiheit] ist die Eigenschaft eines Dinges an sich selbst" (Prol, 345). Durch die transzendentale D i f f e r e n z von D i n g an sich und Erscheinung „wird also die praktische Freiheit, nämlich diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität hat, gerettet, ohne daß der Naturnotwendigkeit in Ansehung ebenderselben Wirkungen als Erscheinungen der mindeste Eintrag geschieht. Ebendieses kann auch zur Erläuterung desjenigen, was wir wegen der transccendentalen Freiheit und deren Vereinbarung mit Naturnotwendigkeit (in demselben Subjekt, aber nicht in einer und derselben Beziehung) zu sagen hatten, dienlich sein" (Prol, 346, u.H.). W e n n Kant hier zwischen der praktischen und der transzendentalen Freiheit unterscheidet, dann nicht deshalb, weil die praktische keine transzendentale Freiheit wäre. Unter p r a k t i s c h e r Freiheit' bzw. ,Freiheit des praktischen Vern u n f t g e b r a u c h s ' versteht Kant in den Prolegomena ganz zweifelsohne die transzendentale Freiheit der praktisch werdenden V e r n u n f t (TPF). E r unterscheidet zwischen der praktischen und transzendentalen Freiheit nur wegen des kosmologischen Ursprungs der Freiheitsproblematik (Kant befindet sich j a in der Diskussion der ,kosmologischen Ideen' und behandelt das „Problem der M e t a p h y s i k " [Prol, 344]). Die t r a n s z e n d e n t a l e Freiheit' k a n n auch diejenige Freiheit sein, die b e i m „Anfang der W e l t " (ebd.) von Relevanz ist. I m ,Laufe der W e l t ' heißt diese Freiheit dann p r a k t i s c h e Freiheit', o b w o h l diese
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Darauf, was .Praktizität' hier bedeutet, gehen wir später noch genauer ein.
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praktische Freiheit genau wie die transzendentale Freiheit ein Vermögen der absoluten Selbsttätigkeit ist. Ζ 4 Auch in den Prolegomena versteht Kant unter praktische Fi'eiheit' die transzendental-praktische Freiheit der Vernunft (der Willkür), also TPF. Fassen wir jetzt die bisherigen Ergebnisse kurz zusammen, und versuchen wir dann noch einmal (immer noch vorläufig), die Dialektik mit dem Kanon zu vergleichen. Kant führt die Kausalität ,nach der Natur' und die Kausalität ,aus Freiheit' als entgegengesetzte Begriffe ein. Transzendentale Freiheit ist die Eigenschaft (eines Vermögens), unabhängig vom Determinismus der Natur handeln zu können - dies ist der negative Aspekt der Freiheit. Der positive Aspekt der transzendentalen Freiheit ergibt sich zwanglos aus dem negativen. Wer nicht naturkausal bestimmt ist, muß - wenn denn eine Bestimmung vorliegt - von selbst bestimmt sein, und dieses ,sich-ganz-vonselbst-Bestimmen' oder etwas ,ganz-von-selbst-Anfangen' nennt Kant absolute Spontaneität oder Selbsttätigkeit. Kant wendet dann diesen Freiheitsbegriff auf den Begriff der Willkür an. Der praktische Freiheitsbegriff ist also der transzendentale Freiheitsbegriff angewendet auf die Praktizität der Willkür und damit der Vernunft (TPF). Die praktische Freiheit der Willkür besteht, negativ betrachtet, in der Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit'. Positiv betrachtet ist sie die Eigenschaft der Willkür, sich durch Imperative bestimmen zu können. Da diese Imperative durch die Vernunft diktiert werden, und da es also die Vernunft ist, die die Willkür bestimmt und darin praktisch wird, muß die Vernunft selbst frei sein. Kant begreift sie als intelligibles Vermögen der Kausalität, die unabhängig von Zeitbestimmungen ist und daher (negativ) frei von Naturursachen sowie (positiv) frei zur Selbstbestimmung. 13 Der Widerspruch zwischen der Dialektik und dem Kanon erscheint im Lichte dieser Ergebnisse noch viel gravierender. Daß wir die praktische Freiheit, wie es im Kanon heißt, ,durch Erfahrung erkennen', scheint aus der Perspektive der Dialektik ausgeschlossen. Denn ihrzufolge ist die praktische Freiheit selbst nichts anderes als die transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft, und da diese transzendentale Freiheit eine „reine transzendentale Idee [ist], die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann" (A533/B561), wird man auch von der praktischen Freiheit nicht sagen dürfen,
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Freiheit ist also selbst (jedenfalls in der grundlegenden Kantischen Vermögenslehre; es gibt Ausnahmen, z.B. MM, 898) kein Vermögen, sondern Eigenschaft eines Vermögens (sc. der Willkür bzw. der praktischen Vernunft).
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daß sie ,durch Erfahrung bewiesen werden kann'. Es ist daher auch kein Zufall, daß Kant sich in der ,Auflösung' nur sehr zurückhaltend über die Wirklichkeit der freien Willkür und damit der praktischen Vernunft äußert. Die Wirklichkeit einer intelligiblen Kausalität, so schreibt er, könnte „bloß erdichtet" (A545/B573) sein; daß die Vernunft tatsächlich Kausalität habe (also praktisch frei sei), sei etwas, das wir uns zwar so „vorstellen" (A547/B575), das aber nicht notwendig so ist. Daher sei alles, was er in der ,Auflösung' zeigen wolle, dies, daß wir „es wenigstens als möglich annehmen: die Vernunft habe wirklich Kausalität in Ansehung der Erscheinungen" (A548f./B576f.). Der abschließende Absatz des ganzen Auflösungskapitels hat denn auch diese Vorsicht noch einmal zum Thema: „Man muß wohl bemerken: daß wir hierdurch nicht die Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten, haben dartun wollen [...] Die Freiheit wird hier nur als transzendentale Idee behandelt" (A557f./B585f.). Davon, daß Freiheit, wie es im Kanon heißt, ,durch Erfahrung bewiesen werden kann', ist in der Dialektik keine Rede, ganz im Gegenteil. Ζ 5 Die Transzendental-praktische Freiheit (TPF) ist laut Dialektik Idee und kann durch Erfahrung nicht bewiesen werden.
eine
Besonders die These aus dem Kanon, die Vernunft könne „in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen [...] wiederum Natur sein" (A803/B831, u.H.), scheint aus der Perspektive der ,Auflösung' geradezu widersinnig. Denn besteht der eigentliche Charakter der theoretischen wie der praktischen Vernunft nicht gerade darin, als Vermögen der Spontaneität transzendental frei zu sein? Da diese Freiheit mit der Naturkausalität inkompatibel ist, scheint die Vorstellung der Vernunft als ,Natur' oder ,Naturursache' abwegig. Wir finden also den Eindruck, den wir nach einem ersten Blick auf die Dialektik und den Kanon gewonnen hatten, nach einem genaueren Blick auf die ,Auflösung' bestätigt: Kant scheint die Freiheitsproblematik in der KrV auf eine Weise zu erläutern, die es seinen Interpreten unmöglich zu machen scheint, ihm nicht gröbste Widersprüche vorwerfen zu müssen. Aber bis jetzt haben wir noch keinen genaueren Blick auf den Kanon geworfen. Insbesondere haben wir bis jetzt völlig außer Acht gelassen, daß Kants Ausführungen über die praktische Freiheit im Kanonkapitel (A800/B828-A804/B832) ja tatsächlich innerhalb der Kanon-Thematik gelesen werden müssen. Doch bevor wir dies tun, müssen wir uns zunächst mit anderen Texten Kants beschäftigen. Im Lichte der nun folgenden Interpretationen wird dann auch der Kanon eine ganz andere Gestalt annehmen.
3. Transzendentale und praktische Freiheit: Der entwicklungsgeschichtliche Kontext des Kanonproblems Die nun folgenden Studien sollen belegen, daß Kants Begriff von ,Freiheit im praktischen Verstände' drei verschiedene Grundbedeutungen hat. Erstens meint ,Freiheit im praktischen Verstände' nichts anderes als die transzendental-praktische Freiheit des Willens (der Willkür, der praktisch tätigen Vernunft: TPF). Zweitens bezieht Kant sich mit diesem Ausdruck auf eine Form von Naturkausalität; auf diese naturalisierte praktische Freiheit (NPF) gehen wir erst später ausführlich ein. Drittens schließlich bezeichnet ,Freiheit im praktischen Verstände' die Notwendigkeit, so zu handeln, als ob man frei sei und als ob die objektive Realität der transzendental-praktischen Freiheit auch in theoretischer Hinsicht als bewiesen gelten könnte, obwohl sie es nicht ist (als-ob-praktische Freiheit: APF). Diese Differenzierung wird zwar im Prinzip von Kant so getroffen, oder vielmehr: sie wird von ihm vorausgesetzt und verwendet. Aber es handelt sich nicht um eine gewissermaßen offiziell oder namentlich von ihm eingeführte Begriffsunterscheidung, die in allen Fällen klar wäre (daraus resultiert ja gerade das Kanonproblem). Besonders APF ist ein schwieriger Fall. Eine gewisse Unschärfe (im einzelnen) wird daher nicht der Interpretation, sondern Kant anzulasten sein. TPF ist die transzendental-praktische Freiheit, die als solche bezeichnet und charakterisiert wird, unabhängig davon, ob sie beweisbar oder wie sie möglich ist. Wenn Kant in diesem Sinne von praktischer Freiheit' spricht, dann bezieht er sich auf ein Vermögen, das die Eigenschaft praktischer Freiheit hat und damit die Fähigkeit zu völlig spontanen Handlungen. Diese Spontaneität hat zwei Formen: Einerseits ist damit die Selbsttätigkeit eines geschaffenen Wesens in Unabhängigkeit von seinem Schöpfer (Gott) gemeint; andererseits beinhaltet Spontaneität die Unabhängigkeit von der Bestimmung durch Naturursachen. Im strikten Unterschied zu TPF ist die naturalisierte praktische Freiheit (NPF) nicht die Eigenschaft eines intelligiblen, sondern eines empirischen Vermögens als Teil der Erscheinungswelt. NPF ist die Fähigkeit, unabhängig von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe zu handeln. Sie ist 1
Melcherts Aufsatz („Kantian Freedom Naturalized", 1990) geht davon aus, daß Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung aufgegeben werden muß und interpretiert auf dieser Grundlage Kants Freiheitstheorie; es ist aber offenkundig, daß dies mit Kants Philosophie und Texten nichts zu tun hat (auf die Kanon-Stelle geht Melchert überhaupt nicht ein).
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also das Vermögen zu rationalen Handlungen. Die Vernunft selbst und ihre Freiheit wird dabei als empirisch erfahrbares und beschreibbares Vermögen in der Erscheinungswelt verstanden. Im Kanon nennt Kant dies, wie schon bemerkt, eine ,Naturursache'. Die schwierigste Verwendungsweise von praktischer Freiheit' ist APF. Während sich TPF und NPF inhaltlich strikt von einander unterscheiden TPF ist ein intelligibles, NPF ein empirisches Vermögen - , bezieht sich APF an sich auf TPF. Was sich bei APF ändert, ist also eigentlich nicht der Begriff von Freiheit, sondern der Kontext, in den dieser Begriff gestellt wird. Im Falle von TPF geht es um die Bestimmung, was praktische Freiheit ist, und zwar (zunächst) unabhängig davon, was wir über die Realität und Möglichkeit dieser Freiheit wissen können. APF findet man in einem anderen Kontext. Bei diesem Kontext geht es nicht primär um die Frage, was transzendental-praktische Freiheit ist, sondern darum, daß wir über diese Freiheit nichts wissen können und wir sie dennoch für unsere Praxis anzunehmen berechtigt sind. Da Kant selbst in der GMS von theoretischer' und praktischer Rücksicht' spricht, nennen wir den ersten Kontext den Theoriekontext, den zweiten Kontext nennen wir den Praxiskontext. Der Freiheitsbegriff im Theoriekontext ist ein anspruchsvoller Freiheitsbegriff. Er ist anspruchsvoll, weil Kant in diesem Kontext die praktische Freiheit als transzendentale Freiheit versteht, die sich nicht beweisen läßt (TPF). Dagegen ist der Freiheitsbegriff im Praxiskontext bescheiden. In diesem Kontext versteht Kant den praktischen Freiheitsbegriff als einen theoretisch nicht beweisbaren, aber praktisch hinreichenden Begriff (ein Ausdruck aus der Vorlesungsmitschrift MLi). Das Prädikat praktisch' ist also einerseits ein Attribut der Freiheit selbst: Die transzendentale Freiheit des Willens (der Willkür) wird praktisch' genannt, einfach nur deshalb, weil es um die Praxis des Willens geht. Andererseits charakterisiert das Attribut praktisch' in der Formulierung ,Freiheit im praktischen Verstände' nicht die Freiheit selbst, sondern die Perspektive, aus der über diese Freiheit geredet wird. Die Perspektive und damit der Kontext, aus dem heraus hier gesprochen wird, ist der Praxiskontext; es geht hier um den praktisch hinreichenden' und in diesem Sinne bescheidenen Freiheitsbegriff. ,Freiheit im praktischen Verstände' meint also einerseits die transzendental-praktische Freiheit des Willens; andererseits ist mit dieser Formulierung die Perspektive gemeint, aus der über genau diese Freiheit gesprochen wird. Soviel als erste Vorbemerkung. Wie gesagt, es kann keine Rede davon sein, daß Kant diese Begriffe oder verschiedenen Kontexte scharf und klar erkennbar voneinander unterschieden hätte. Dennoch zeigt sich diese doppelte Bedeutung von ,Freiheit im praktischen Verstände' einigermaßen deutlich in
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einer Vorlesungsmitschrift aus den späten siebziger Jahren, nämlich in Metaphysik Li (ML,). 2 Aber auch in der eigentlich kritischen Zeit (nach 1781) findet sich noch dieser Sprachgebrauch. Besonders deutlich wird die Ambiguität des praktischen Freiheitsbegriffs z.B. in der 1782/83 verfaßten Vorlesungsmitschrift Metaphysik Mrongovius (MM). Im Lichte dieses Textes sind dann auch weitere Texte Kants für das Verständnis seiner Freiheitstheorie sehr erhellend: Kants 1783 veröffentlichte Recension von Schulz's Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (RS); der dritte Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785); und die Vorlesungsmitschrift Religionslehre Pölitz (RP) zu einer der eher seltenen Vorlesungen Kants über Religionsphilosophie (Kant hat die Vorlesung zwischen 1783 und 1786 gehalten).
3.1 M e t a p h y s i k Li In der Metaphysik Li beschäftigt Kant sich mit der Kosmologie, der Psychologie und mit der Theologie. In allen drei Disziplinen findet der Freiheitsbegriff Erwähnung. In der Kosmologie wird er im Zusammenhang mit Zufall und Schicksal behandelt. Dagegen geht Kant sowohl in der empirischen als auch in der rationalen Psychologie eigens und ausführlich auf diesen Begriff ein; er unterscheidet dabei den praktischen vom transzendentalen Freiheitsbegriff. Auch in den verschiedenen Teilen der Theologie geht es um die Freiheit. Sie wird dort als die Freiheit der göttlichen Willkür verstanden und zugleich insofern problematisiert, als die Frage erhoben wird, ob, und wenn ja, wie Gottes Allmacht und die Spontaneität der menschlichen Willkür kompatibel sind. Die Interpretation von ML, ist schwierig. Es ist daher sinnvoll, sich vorab einen Überblick darüber zu verschaffen, worin die Gründe für diese Schwierigkeit bestehen. Sie sind zum Teil terminologischer Natur. Zum Teil entspringen sie daraus, daß sich die Problemlage für Kant in den späten 70er Jahren noch anders darstellt als dann in der ersten Kritik. 1. Es ist nicht klar, wie und aus welchen Gründen Kant den Terminus der praktischen Freiheit' gebraucht. Wie sich zeigen wird, hat dieser Begriff in MLi drei verschiedene Bedeutungen. Erstens bedeutet .praktische Freiheit' soviel wie Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit'; in diesem Zusammenhang und in dieser Vorlesung ist der Begriff gleichbedeutend mit psychologischer Freiheit'. Zweitens bedeutet .praktische Freiheit' soviel wie die Freiheit, von der wir, aus welchen Gründen auch
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Zur Textgeschichte und Datierung vgl. Ameriks/Naragon (1997, XXX ff.). Die genaue Datierung ist umstritten; vgl. Wood (1996, S.337 f.).
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immer, annehmen, daß sie für unsere Handlungen hinreichend ist. Die Freiheit wird in diesem Kontext nicht aufgrund ihres Wesens praktisch' genannt, sondern deshalb, weil sie, obwohl theoretisch unbeweisbar, praktisch hinreichend' ist; es liegt nahe, daß diese Verwendung des Begriffs praktische Freiheit' im Sinne von APF zu verstehen ist. Drittens wird in ML! aber auch die transzendentale Freiheit - die eigentlich in Abgrenzung zur praktischen Freiheit eingeführt wird - selbst wieder praktische Freiheit' genannt; daher ist .praktische Freiheit' auch im Sinne von TPF zu verstehen. Man sieht sofort, daß die oben angedeuteten Mehrdeutigkeiten des praktischen Freiheitsbegriffs in MLi bereits alle präsent sind. 2. Ein weiteres Problem besteht in dem Verhältnis von Moralität und Freiheit. Es ist sehr schwer auszumachen, welcher Begriff von Freiheit für Moralität hinreichend ist. Zuweilen hat man - ähnlich wie im Kanon - den Eindruck, ein psychologisch-praktischer Freiheitsbegriff reiche aus; dann wieder scheint es - ähnlich wie in der Dialektik als müsse der für die Moral grundlegende Freiheitsbegriff transzendental sein. Letztlich ist aus dem Text nicht klar zu entnehmen, was Kants Position ist. Das liegt aber nicht einfach an einer ungenauen Darstellung auf Seiten Kants oder an editorischen Fehlern des Transkribenten. In diesem Fall sollten wir die textuellen Schwierigkeiten als Ausdruck zugrundeliegender theoretischer Spannungen interpretieren. Kant war sich offenkundig (noch) nicht darüber im klaren, wie das Verhältnis von Freiheit und Moralität zu verstehen ist. 3. Zum Teil hängt diese Unklarheit aber auch mit einem weiteren, dem dritten Grund für die Interpretationsschwierigkeiten zusammen: Die Problematik, die für Kant mit der Idee der Freiheit verbunden ist, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. In der KrV besteht das Problem darin, wie Freiheit als Vermögen absoluter Spontaneität in begrifflichen Einklang mit dem Determinismus der Naturkausalität gebracht werden kann. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre steht aber noch ein anderes Problem im Vordergrund: Wie kann der Mensch absolut frei sein, wenn er zugleich als ein von Gott geschaffenes Wesen gedacht wird, das in seinen Gedanken und Handlungen von Gott bestimmt ist? In MLi gehört der Begriff der transzendentalen Freiheit zur Antwort auf diese Frage, insofern dieser Begriff - anders als in der KrV - die völlige Unabhängigkeit des Menschen von Gott beinhaltet. Verwirrenderweise wird .transzendentale Freiheit' in ML! zugleich aber auch als die völlige Unabhängigkeit von allen Naturursachen verstanden. 4
4
Ein weiterer Aspekt der Freiheitsproblematik besteht in der Frage, wie die transzendental freie Vernunft praktisch sein, d.h. handlungsbestimmenden Einfluß haben kann. Dieses Problem Kant hält es letztlich für unlösbar - ist schon in MLi aktuell und spielt dann auch in späteren Schriften (z.B. der GMS) eine wichtige Rolle. Allerdings ist der Grund, weshalb Kant jene Frage für unbeantwortbar hält, nicht immer der gleiche.
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Der Begriff der Psychologie in ML ι Da es sich in MLi (zumindest teilweise) um eine vorkritische Schrift handelt, ist es sinnvoll, daß wir uns zunächst einen Überblick verschaffen, wie Kant methodisch vorgeht. Das erste Kapitel ist überschrieben mit: „Einleitende Begriffe" (ML!, 221); Kant erläutert darin, was er unter ,Psychologie' versteht. Im Einklang mit seinen wissenschaftsphilosophischen Überlegungen aus den „Prolegomena" (MLi, 171) seiner Vorlesung unterscheidet er zwischen einer empirischen und rationalen Psychologie. Das Kapitel nach den Einleitenden Begriffen' lautet „Von der allgemeinen Eintheilung der geistigen Vermögen" (MLi, 228). Kant unterscheidet darin das Erkenntnisvermögen, das Vermögen der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen. Diese drei Vermögen werden dann nacheinander abgehandelt, wobei das Erkenntnisvermögen in mehreren kleineren Abschnitten erörtert wird. Jeweils ein Kapitel wird dem Vermögen der Lust und Unlust sowie dem Β egehrungs vermögen gewidmet. Das letzte Kapitel der empirischen Psychologie schließlich handelt „Vom commercio der Seele mit dem Körper" (ML,, 259). Danach beginnt die rationale Psychologie; in der Akademieausgabe reicht sie von Seite 262 bis Seite 301. Zu ihr gehören eine kurze „Uebersicht derselben" (MLi, 262), an die sich drei Hauptteile anschließen. Der erste Abschnitt handelt von der Seele selbst und ihren transzendentalen Prädikaten (in ihm spielt der Freiheitsbegriff eine wesentliche Rolle); der zweite vergleicht die Seele mit anderen Dingen; und der dritte Abschnitt der rationalen Psychologie betrachtet die Seele in ihrer Verknüpfung mit anderen Dingen. Das letzte Kapitel der Psychologie schließlich handelt vom Zustand der Seele nach dem Tod. Wo die empirische Psychologie beginnt, ist nicht ganz klar (klar ist nur, daß die Vorlesung bruchlos von der empirischen zur rationalen Psychologie übergeht). Das Kapitel, das uns zunächst beschäftigen wird, ist das Kapitel über das Begehrungsvermögen. In ihm findet man, was Kant die praktische oder psychologische Freiheit nennt. Was wir über diese Freiheit wissen, wissen wir aus Erfahrung, und deshalb wird diese Freiheit auch in der empirischen Psychologie diskutiert. Was Kant unter Psychologie und damit eben auch unter einer solchen empirischen Psychologie versteht, ist rasch gezeigt. Kant nennt die „Erkenntniß von den Gegenständen der Sinne [...] Physiologie" (ML!, 221); sie teilt sich auf in die Erkenntnis von Gegenständen des inneren und des äußeren Sinnes. Die Psychologie ist ein Teil dieser Physiologie: „die Physiologie des innern Sinnes ist Psychologie" (MLi, 222). 5 Der Gegenstand
5
Vgl. in abgewandelter (A347/B405).
Bedeutung die „Physiologie
des inneren
Sinnes" in der
KrV
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des inneren Sinnes ist das denkende (im Unterschied zum ausgedehnten) 6 Wesen: „Die allgemeine Bestimmung der Handlung, oder der allgemeine Charakter des Gegenstandes des innern Sinnes ist Denken" (ebd.); da die einzigen denkenden Wesen, die wir kennen, wir selbst als denkende Subjekte sind, ist der Gegenstand des inneren Sinnes „unsere Seele" (ebd.)· Dieser denkenden Seele liegt das Ich zugrunde: „Das substratum, welches zum Grunde liegt, und welches das Bewußtseyn des inneren Sinnes ausdrückt, ist der Begriff von Ich" (MLi, 224). Demnach ist das Erkenntnisobjekt der Psychologie also das Ich als Substratum der denkenden und wollenden Seele. Abhängig davon, wie nun dieser Gegenstand erkannt wird (also das denkende und wollende Subjekt als der Gegenstand des inneren Sinnes, das Ich), unterscheidet Kant zwischen der rationalen und empirischen Psychologie. Was Kant unter ,rational' und ,empirisch' versteht, hat er in den schon erwähnten ,Prolegomena' seiner Vorlesung klar gemacht: „In Ansehung des principii cognoscendi sind die Wissenschaften entweder: 1. Rationales, da wir die Erkenntnisse erlangen, indem der Verstand sich selbst thätig bezeigt, oder 2. Empirisch, wenn wir die Erkenntniss überkommen, indem wir uns leidend beweisen und von äussern Dingen afficiert werden" (ML!, 172 f.). Dieser Unterschied von Spontaneität (,selbst thätig') und Rezeptivität (,afficiert') ist in dieser Vorlesung der grundlegende Unterschied für alle drei geistigen Vermögen. Entsprechend heißt es dann in den .Einleitenden Begriffen' der Psychologie: „Psychologia empirica ist die Erkenntniß von den Gegenständen des innern Sinnes, so fern sie aus der Erfahrung geschöpft ist [...] Die rationale Psychologie ist die Erkenntniß der Gegenstände des innern Sinnes, so fern sie aus der reinen Vernunft entlehnt ist" (MLi, 222 f.). Etwas später heißt es dann: „Die denkenden Wesen betrachte ich entweder blos aus Begriffen, und das ist die psychologia rationalis; oder durch Erfahrung, die theils innerlich in mir selbst geschiehet, oder äußerlich, die ich an andern Naturen wahrnehme, und nach der Analogie, die sie mit mir haben, erkenne; und das ist die psychologia empirica, wo ich denkende Naturen durch Erfahrung betrachte" (ML;, 224). Verbindet man diese Bestimmung mit der obigen Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes, dann ergibt sich daraus folgendes Verständnis der empirischen Psychologie (auf die rationale kommen wir noch zurück): ,Empirische Psychologie ist die Erkenntnis vom Ich als dem Substratum der denkenden und wollenden Seele, sofern uns dieses Ich affiziert und infolge dieser Affektion von uns durch Erfahrung erkannt wird'. Mit dieser empirischen Psychologie müssen wir uns jetzt näher beschäftigen.
6
Vgl. noch MAN, Vorrede. - Zum Denken im weiteren Sinne gehört aber auch das Wollen; vgl. z.B. ML,, 226. Wir kommen darauf zurück.
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Freiheit in der empirischen Psychologie: Praktische Freiheit Die Freiheitsthematik wird in der empirischen Psychologie im Kapitel über das Begehrungsvermögen behandelt (ML!, 253 ff.)· Kant spricht dort vom „arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder practisch definirt wird" (ML!, 255). Wenn Kant in der späteren rationalen Psychologie auf die empirische Psychologie zurückblickt (MLi, 267), nennt er die dort (in der empirischen Psychologie) thematisierte Freiheit der Willkür ebenfalls „praktische oder psychologische Freiheit". 7 Kant ist also offenkundig der Auffassung, daß man die Freiheit der Willkür, von der die empirische Psychologie handelt, genausogut praktische' wie psychologische' Freiheit nennen kann. Dabei ist klar, daß mit .psychologisch' hier nur ,empirisch-psychologisch' gemeint sein kann. Der transzendentale Freiheitsbegriff, den Kant vom praktisch-psychologischen Freiheitsbegriff der empirischen Psychologie abgrenzt, wird ja ebenfalls innerhalb der Psychologie abgehandelt - aber eben in der rationalen Psychologie. Unklar ist aber, ob der Grund, weshalb diejenige Freiheit, von der die empirische Psychologie handelt, praktisch' genannt wird, der gleiche oder ein anderer Grund ist als derjenige, sie psychologisch' zu nennen, psychologisch' (empirisch-psychologisch) wird sie offenkundig mit Bezug auf die Erkenntnisquellen genannt. Die Freiheit, von der die Rede ist, ist die Freiheit, von der wir aufgrund unserer Erfahrung wissen und die deshalb in der empirischen Psychologie thematisch ist. Deswegen muß diese Freiheit ja auch ,empirisch-psychologisch' heißen, oder eben kurz: empirisch. Aber warum wird diese Freiheit auch praktisch' genannt? Man darf vermuten, daß die psychologische Freiheit einfach deshalb praktisch' genannt wird, weil sie mit der Willkür und deren Wollen und Handlungen, also kurz: mit der Praxis, zu tun hat. 8 Das wäre aber ein anderer Grund als derjenige, weshalb sie psychologisch' genannt wird; es ginge ja dann nicht mehr um die Erkenntnisquellen, sondern um das Erkenntnisobjekt selbst (die praktisch freie Willkür). Aber Kant schreibt ja auch, in der empirischen Psychologie gehe es um das ,arbitrium liberum, so fern es psycho-
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Er nennt sie sowohl in der empirischen als auch in der rationalen Psychologie auch bloß .praktische Freiheit' (ML,, 257,3; MLi, 257,7; MLi, 269,23). - An anderer Stelle von ML, (269,31) benutzt Kant ebenfalls den Begriff der praktischen Freiheit. Das hat aber, wie wir sehen werden, einen ganz anderen Hintergrund. Vgl. MLi, 254, wo Kant zwei Arten von Tätigkeiten unterscheidet: „die eine derselben ist mechanisch, und wird durch eine fremde Kraft hervorgebracht; die andere ist animalisch oder practisch." Etwas später wiederholt Kant diese Unterscheidung, die er dann aber noch weiter spezifiziert: „Alles, was in der ganzen Natur geschieht; das geschieht entweder nach physischmechanischen Gesetzen, oder nach Gesetzen der freien Willkühr. In der unbelebten Natur geschieht alles nach mechanischen Gesetzen, in der belebten aber nach Gesetzen der freien Willkühr. Was nach Gesetzen der Willkühr geschieht, geschieht entweder pathologisch oder practisch. Demnach ist etwas pathologisch notwendig oder möglich, nach Gesetzen der sinnlichen Willkühr" (MLi, 257).
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logisch oder practisch definirt wird'. Demnach wäre das Prädikat ,practisch' ein Prädikat, das zunächst die Erkenntnisquellen und die Herangehensweise bezeichnet und erst dann zum Prädikat des erkannten Objekts wird (also zum Prädikat von ,freie Willkür'). Kant unterscheidet, wie schon gesagt, drei Vermögen der Seele: das Vermögen der Vorstellungen (Erkenntnisvermögen), das Vermögen der Begierden (Begehrungsvermögen) und das Vermögen der Lust und Unlust. Von allen drei Vermögen gilt, daß das Ich, welches sie ausübt, sich dabei „entweder leidend, oder als selbstthätig" (MLi, 228) fühlt. Mit Bezug auf diese Rezeptivität (,Sinnlichkeit', ,Sensitivität') und Spontaneität (,Intellectualität') unterscheidet Kant jeweils ein ,unteres' und ,oberes' Vermögen. Hinsichtlich des Begehrungsvermögens heißt es daher: „Das Begehrungsvermögen ist entweder ein oberes oder ein unteres Βegehrungsvermögen. Das untere Begehrungsvermögen ist eine Kraft, etwas zu begehren, so fern wir von Gegenständen afficirt werden. Das obere Begehrungsvermögen ist eine Kraft, etwas aus uns selbst unabhängig von den Gegenständen zu begehren" (ebd.). Das Vermögen, Lust (Wohlgefallen) oder Unlust (Mißfallen) überhaupt zu empfinden, ist eines; das „Vermögen, nach Wohlgefallen oder Mißfallen zu handeln" (MLi, 254, u.H.), ist ein anderes. Es „ist das practische thätige Begehrungsvermögen" (ebd.). Kant kennt in ML! auch die ,untätige Begierde', aber das braucht uns hier nicht zu interessieren. Mit der tätigen Begierde oder eben mit d e m praktisch tätigen Β egehrungs vermögen' ist jedenfalls der Begriff der freien Willkür verbunden: „Die thätige Begierde aber, oder das Vermögen, zu thun und zu lassen, nach dem Wohlgefallen oder Mißfallen am Object, so fern es eine Ursache der thätigen Kraft ist, es hervorzubringen, ist die freie Willkühr (arbitrium liberum)" (ML,, 254). Es ist zunächst wichtig zu sehen, daß dieser Begriff der freien Willkür sowohl die praktisch freie als auch die transzendental freie Willkür umfaßt. Der Willkürbegriff ist also keineswegs für den praktischen Freiheitsbegriff der empirischen Psychologie reserviert, sondern er bezeichnet allgemein das Begehrungsvermögen. Da dieses in ein ,unteres' und .oberes' Begehrungsvermögen eingeteilt ist, ist es zwingend, auch die Freiheit, die mit diesem Begehrungsvermögen verbunden ist, entsprechend zu unterscheiden. Das tut Kant, auch wenn er in der rationalen Psychologie ausdrücklich festhält, es sei in ihr „nicht die Rede vom Willen" ( M L b 269), sondern vom Ich. Von der transzendentalen Freiheit dieses Ich ist die Rede, wenn auch das, was darüber gesagt wird, „hernach wohl auf den freien Willen angewandt werden" kann (ebd.). Kant unterscheidet also schon in der empirischen Psychologie
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In MLi wird zwischen .Wille' und .Willkür' zumindest terminologisch nicht unterschieden.
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zwischen dem „arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder practisch definirt wird" ( M L b 255) und dem „liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale" (ebd.); das erstere heißt auch „arbitrium sensitivum liberum" (ebd.)· Aber beide Formen der Willkür sind Formen der freien Willkür: „Das arbitrium humanum ist liberum, es mag seyn sensitivum oder intellectuale" (ebd.). Nachdem dies klar ist, können wir uns nun damit beschäftigen, wie der praktisch-psychologische Freiheitsbegriff in ML! tatsächlich eingeführt wird. Dabei sollten wir zwei Textpassagen und damit auch zwei Problemkreise auseinanderhalten: 10 1. Nach allgemeinen Überlegungen zum Begehrungsvermögen bestimmt Kant den Begriff der praktischen Freiheit. Sie ist, wie wir gleich sehen werden, die Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit (bes. MLi, 254,30-255,33). 2. Nach einigen Anmerkungen über verschiedene ,Grade der Freiheit' definiert Kant noch einmal den praktischen Freiheitsbegriff und grenzt ihn vom transzendentalen Freiheitsbegriff ab. In diesem Zusammenhang führt er dann den Begriff der praktischen Nötigung' ein und damit auch den Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen (bes. MLi, 257,3-258,30). Die entscheidende Frage bei dieser Passage besteht darin, ob Kant die Möglichkeit der Imperative an die praktische oder an die transzendentale Freiheit bindet. Anders gefragt: Wird insbesondere für die moralischen Imperative die psychologisch-praktische oder die transzendentale Freiheit vorausgesetzt? Diesen zweiten Problemkreis können wir erst dann angehen, wenn klarer geworden ist, was Kant in ML! überhaupt unter transzendentaler Freiheit versteht. Beschäftigen wir uns also zunächst mit dem ersten Problemkreis, d.h. mit Kants Bestimmung des psychologisch-praktischen Freiheitsbegriffs. Kant unterscheidet zunächst „stimuli" (MLi, 254) und „Motive" (ebd.). Beide sind „causae impulsivae" (ebd.), also diejenigen Gegenstände (im weiteren Sinne), von denen wir von Lust oder Unlust begleitete Vorstellungen haben, die handlungsrelevant sind. Entsprechend seiner grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der Sinnlichkeit' und der ,Intellektualität' der geistigen Vermögen sind die ,stimuli' diejenigen handlungsrelevanten Vorstellungen, die wir haben, sofern wir affiziert werden; und die ,Motive' sind diejenigen handlungsrelevanten Vorstellungen, die nicht sinnlich vermittelt, sondern begrifflich sind: „Wenn die causae impulsivae Vorstellungen des Wohlgefallens oder Mißfallens sind, die von der Art abhängen, wie wir von
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Vgl. auch Praktische aus d e m Jahre 1777.
Philosophie
Powalski
(PPP, 111 ff.); diese Vorlesung stammt vermutlich
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den Gegenständen afficirt werden; so sind das stimuli. Wenn aber die causae impulsivae Vorstellungen des Wohl- und Mißgefallens sind, die da abhängen von der Art, wie wir die Gegenstände durch Begriffe, durch den Verstand erkennen; so sind das Motive" (ebd.)· 11 Der psychologische oder praktische' Begriff der freien Willkür ist dann im Grunde einfach: eine psychologische oder praktisch freie Willkür' ist unabhängig von der Nötigung durch stimuli. Tiere werden durch stimuli genötigt, Menschen nicht. Menschen werden zwar wie Tiere von stimuli affiziert. Und wie bei den Tieren können auch für den Menschen solche affizierenden stimuli tatsächlich handlungsbestimmend sein. Aber die Art, wie sie handlungsbestimmend sind, ist grundverschieden. Während nämlich ein affizierender stimulus bei Tieren immer, direkt und unvermeidlich handlungsbestimmend ist, ist dies bei Menschen nicht der Fall. Das Begehrungsvermögen des Menschen kann affiziert sein, ohne daß diese Affizierang unausweichlich handlungsbestimmend wird. Deswegen haben stimuli für Tiere „vim necessitantem" (MLi, 255, u.H.), für Menschen aber nur „vim impellentem" (ebd., u.H.): „Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum: Dieses ist das arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder practisch definiert wird" (ebd., u.H.), oder wie es später heißt: „Diese practische Freiheit beruht auf der independentia arbitrii a necessitatione per stimulos" (ML h 257).
Auch in der rationalen Psychologie wird dieser praktisch-psychologische Freiheitsbegriff noch einmal rekapituliert: „Die praktische oder psychologische Freiheit war die Independenz der Willkühr von der Necessitation der stimulorum. Diese ist in der empirischen Psychologie abgehandelt" (ML 1; 267).
Von der praktischen Freiheit', die im Kanon der KrV thematisch ist, wird gesagt, sie könne ,durch Erfahrung bewiesen werden' (A802/B830). Das trifft auch auf die praktische Freiheit' zu, von der in MLi die Rede ist. Denn die praktische oder psychologische' Freiheit ist Gegenstand der empirischen Psychologie. Diese Psychologie heißt empirisch, weil ihr Wissen über das Ich als Gegenstand des inneren Sinnes, wie Kant sagt, ,aus der Erfahrung geschöpft ist'. Kant kommt bei der Behandlung des praktischen Freiheitsbegriffs nicht ausdrücklich auf diesen Punkt zurück. Er sagt nirgendwo: ,Die Erfahrung lehrt uns, daß wir einen praktisch freien Willen haben, da wir ....'. Aber er sagt, wie gezeigt, in der rationalen Psychologie ausdrücklich, daß der
" Vgl. auch M L i , 255: „Die causae impulsivae sind aber vel subjectivae vel objectivae; nach den Gesetzen der Sinnlichkeit und nach den Gesetzen des Verstandes. Die causa impulsivae subjectivae sind Stimuli, und die objectivae sind Motive".
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praktische Freiheitsbegriff in der empirischen Psychologie abgehandelt wurde. Die einzige Stelle, aus der der empirische Charakter der Überlegungen zum empirisch-praktisch-psychologischen Freiheitsbegriff ausdrücklich hervorgeht, findet man im Zusammenhang mit einem Beispiel: „Der Mensch hat also eine freie Willkühr; und alles, was aus seiner Willkühr entspringt, entspringt aus einer freien Willkühr. Alle Arten von Marter können nicht seine freie Willkühr zwingen; er kann sie alle ausstehen und doch auf seinem Willen beruhen. Nur in einigen Fällen hat er keine freie Willkühr; z.E. in der zartesten Kindheit, oder wenn er wahnsinnig ist, und in der hohen Traurigkeit, welches aber auch eine Art von Wahnsinn ist. Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus anderen Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu" (MLi, 255). ,Aus der Erfahrung geschöpft' ist die Behauptung, daß wir eine praktisch freie Willkür haben, also deshalb, weil wir empirische Beispiele dafür angeben können, daß wir nicht durch stimuli genötigt werden. Die Stärke des Arguments und sein empirischer Charakter besteht also einfach in dem Hinweis auf solche Beispiele. 12 Sowohl in MLi als auch im Kanon der KrV wird also von der praktischen Freiheit' behauptet, sie sei ,durch Erfahrung' erkennbar. Wenn wir auf den Kanon eingehen, müssen wir auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen. Die Frage wird dann unter anderem sein, ob Kant im Kanon seines kritischen Hauptwerkes nicht vielleicht einen praktischen Freiheitsbegriff verwendet, der sich - bezogen auf die Freiheitstheorie - noch auf vorkritischem Niveau befindet, nämlich auf dem Niveau der empirischen Psychologie von ML!. Ζ 6 Der Begriff der freien Willkür umfaßt in MLj sowohl die praktisch freie als auch die transzendental freie Willkür. Ζ 7 Die praktische oder psychologische Freiheit ist in MLj definiert als die Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit (,independentia arbitrii a necessitatione per stimulos'). Ζ 8 Da das Wissen der empirischen Psychologie (MLj) ,aus der Erfahrung geschöpft' ist und die praktische Freiheit in der empirischen Psychologie behandelt wird, ist auch das Wissen um die praktische Freiheit empirisches Wissen. Wir wissen, daß wir praktisch frei sind, weil wir Beispiele dafür angeben können, daß der Mensch nicht durch sinnliche Antriebe genötigt wird.
12
Vgl. auch das besonders klare Beispiel in MC, 267: „Die Thiere werden durch stimulos neceßitirt, so muß ein Hund eßen, wenn ihn hungert und er etwas vor sich hat; der Mensch kann sich aber in demselbigen Fall enthalten"; vgl. auch das Folterbeispiel in M M , 897.
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Freiheit in der rationalen Psychologie: Transzendentale Freiheit Es bedarf, wie oben bemerkt, innerhalb des zweiten Problemkreises noch weiterer Analysen des praktischen Freiheitsbegriffs. Dafür müssen wir aber erst auf die rationale Psychologie eingehen. - Nachdem Kant also in der empirischen Psychologie die praktisch-psychologische Freiheit als ,independentia arbitrii a necessitatione per stimulos' definiert hat, grenzt er davon (noch in der empirischen Psychologie) die transzendentale Freiheit ab. Er tut dies zweimal, in unmittelbarer Absetzung zum praktischen Freiheitsbegriff, und zwar folgendermaßen: „Allein dasjenige arbitrium, was durch gar keine stimulos necessitirt oder impellirt wird, sondern durch Motive, durch Bewegungsgründe des Verstandes determiniert wird, ist das liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale" (ML,, 255).
Etwas später heißt es entsprechend: „Diejenige Freiheit, die aber ganz und gar unabhängig von allen stimulis ist, ist die transscendentale Freiheit, wovon in der psychologia rationali geredet wird" (ML,, 257).
Es ist auffällig, daß Kant in beiden Formulierungen hervorhebt, daß die transzendental-freie Willkür völlig unabhängig von allen sinnlichen Antrieben ist (,durch gar keine stimulos necessitiert oder impelliert wird', ,ganz und gar unabhängig von allen stimulis ist'). Damit stimmt gut zusammen, daß die praktisch-freie Willkür nicht völlig unabhängig von sinnlichen Antrieben ist. Sie ist nur unabhängig von der immittelbaren Nötigung durch diese Antriebe, und genau so lautet ja auch ihre Bestimmung. Die transzendental-freie Willkür ist dagegen ,ganz und gar' unabhängig von allen sinnlichen Antrieben. Sie wird allein durch die Vernunft bestimmt. 13 Transzendentale Freiheit wird also in der empirischen Psychologie (im Vorgriff auf die rationale) an zwei verschiedenen Textstellen als völlige Unabhängigkeit von allen sinnlichen Antrieben definiert. Das stimmt überein mit dem negativen Aspekt des transzendental-praktischen Freiheitsbegriffs (TPF) in der Dialektik (A534/B562). Auch dort benutzt Kant noch die Formulierung
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Eine wichtige, auch an die kritischen Schriften Kants immer wieder zu richtende Frage lautet dann: Sind Handlungen, die nach der Vorstellung hypothetischer Imperative geschehen, praktisch-frei oder transzendental-frei? Einerseits werden solche Handlungen durch sinnliche Antriebe hervorgerufen, nämlich durch materiale Zwecke; andererseits ist die Bestimmung der Willkür sowohl bei der konsequenten Zweckverfolgung als auch bei der Wahl der adäquaten Mittel vernünftig und, in dieser Hinsicht, unabhängig von allen sinnlichen Antrieben. In der KrV - und zwar sowohl in der ersten wie auch in der zweiten Auflage - ordnet Kant zumindest an einer Stelle (A548/B576) die hypothetischen Imperative der transzendentalen Freiheit zu. In MM ist dies nicht der Fall. Erst in der KU ist dann endgültig klar, daß hypothetische Imperative der Naturphilosophie und damit nicht der Freiheit zugeordnet werden.
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von der Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit'. Im Unterschied zum praktisch-empirischen Freiheitsbegriff von MLi meint er damit (in der KrV) aber eine völlige Unabhängigkeit. Nur deswegen kann ja, wie oben gezeigt, die Kehrseite dieser Unabhängigkeit (und damit der positive Aspekt von TPF) als absolute Spontaneität verstanden werden (also als das ,Vermögen, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen'). Ζ 9 Noch innerhalb der empirischen Psychologie von MLj wird die transzendentale Freiheit als völlige Unabhängigkeit der Willkür verstanden (also nicht nur als Unabhängigkeit von der Nötigung). Was in der Dialektik der KrV als praktische Freiheit' bezeichnet wird, scheint demnach also identisch mit dem, was in ML! transzendentale Freiheit' heißt. Tatsächlich steht dann aber in der rationalen Psychologie, in welcher der Begriff der transzendentalen Freiheit ja offiziell verankert ist, eine andere Bedeutung im Vordergrund, und sie macht die Identifikation von praktischer und transzendentaler Freiheit unmöglich. Freiheit wird dort wiederholt als absolute Spontaneität verstanden, nämlich als Vermögen, nach dem „ich aus dem inneren principio, durch keine äußere Ursache determinirt, handele" (MLi, 269). Zunächst könnte man meinen, das sei doch gerade die Bestimmung transzendentaler Freiheit, wie sie schon in der empirischen Psychologie zu finden ist. Was sollte denn die ,völlige Unabhängigkeit von allen sinnlichen Antrieben' sonst sein als das Vermögen, ,durch keine äußere Ursache determiniert' zu handeln? Aber der Angelpunkt der Interpretation besteht darin, daß das, was Kant in der rationalen Psychologie ,äußere Ursache' oder auch „principium externum" (MLi, 267) nennt, etwas anderes ist als die ,stimuli'. Die ,äußere Ursache' ist Gott. Und das Problem ist: Wie verträgt sich die Freiheit des Menschen mit seiner Geschöpflichkeit? Diese Frage ist für die Kantische Freiheitstheorie wichtig. Um das zu sehen, müssen wir uns kurz mit Kants Überlegungen aus den 60er und 70er Jahren beschäftigen. Im Zusammenhang mit der Interpretation des Kanonproblems kommen wir dann auf jene Frage noch einmal zurück. Sie hat Kant immer wieder beschäftigt. 14 Kant ringt in MLi mit einem alten philosophischen und theologischen Problem: Wie, wenn überhaupt, lassen sich die spontane menschliche Handlungsfähigkeit (Freiheit) und göttliche Vorherbestimmung vereinigen? 15 Zu
14
Vgl. mit Bezug auf die von Kant veröffentlichten Schriften bes. KpV, 100-103; MS (280, Fn.); Rel (div.); in EF (361, Fn) unterscheidet Kant verschiedene Begriffe der göttlichen Vorsehung. Vgl. z.B. den Beitrag Spontaneität' im Historischen Wörterbuch der Philosophie (S.1425).
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Kants Zeiten hängt dieses Problem mit dem Spinozistischen Fatalismus und der intensiv diskutierten Frage nach der Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grande zusammen; beides wurde als Gefahr für die menschliche Freiheit und damit als Gefahr für die Moralität betrachtet. 16 In seiner Habilitationsschrift Nova dilucidatio (1755) ist Kant noch von der uneingeschränkten Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde überzeugt. Allerdings ist Kant sich bewußt, daß daraus ein großes Problem entspringt: „Die größte Schwierigkeit stekt darin: wie eine subiectiv unbedingte Willkühr könne gedacht werden [...] in [...] dem nexu causarum efficientum sive determinantium oder, wenn man davon abgeht, wie die imputabilitaet der Handlungen möglich sey" (R 3860). Das ist eine Schwierigkeit, weil Kant folgendes zu sehen beginnt: „Die Idee der Freyheit zeigt ein entstehen an ohne einen vorhergehenden bestimmenden Grund" (R 3922). Genauer gesagt resultieren aus dieser Idee zwei Probleme (und diese zwei Probleme spiegeln sich in der Doppeldeutigkeit des transzendentalen Freiheitsbegriffs von MLi): Wie ist eine spontane Handlung innerhalb einer geschlossenen Ursachenkette überhaupt sinnvoll denkbar? Doch selbst wenn eine Antwort auf diese Frage möglich ist, bleibt die Frage nach dem Verhältnis der freien Handlungen zum Schöpfergott als letztem, transzendental freiem Grund aller Gründe und Ursachen: Wie verträgt sich die Spontaneität der freien menschlichen Willkür mit der Geschöpflichkeit des Menschen? 17 Deswegen beschreibt Kant die Schwierigkeit' auch folgendermaßen: „Die Schwierigkeit, die menschliche Freyheit zu begreifen, liegt darin, daß das subiect dependent ist und doch independent von andern Wesen handeln soll" (R 4219). 18 ,Dependent' ist es von Gott, aber es soll independent, d.h. frei handeln: „Freyheit ist das Vermögen, originarie etwas hervor zu bringen und zu wirken. Wie aber causalitas originaria et facultas originarie efficiendi bey einem ente derivativo statt finde, ist gar nicht zu begreifen" (R 4221). In MLi heißt es ent-
16
Vgl. auch Kants Hinweis auf den „Spinozismus" in MLi, 342. Zum historischen Hintergrund vgl. auch Kawamura (1996); vgl. allerdings die kritische Rezension von Schönecker (1999b) und die darin vorgebrachten Einwände gegen Kawamura. 17 Noch in der KpV, 100 f., werden beide Schwierigkeiten unterschieden: „Wenn man uns nämlich auch einräumt, daß das intelligibele Subjekt in Ansehung einer gegebenen Handlung noch frei sein kann, obgleich es als Subjekt, das auch zur Sinnenwelt gehörig, in Ansehung derselben mechanisch bedingt ist, so scheint es doch, man müsse, sobald man annimmt, Gott als allgemeines Urwesen sei die Ursache auch der Existenz der Substanz [...], auch einräumen: die Handlungen des Menschen haben in demjenigen ihren bestimmenden Grund, was gänzlich außer ihrer Gewalt ist, nämlich in der Kausalität eines von ihm unterschiedenen höchsten Wesens, von welchem das Dasein des ersteren und die ganze Bestimmung seiner Kausalität ganz und gar abhängt". Vgl. auch die Reflexionen 1032, 3863, 4225, 4547, 4548, 4684, auf die wir gleich noch eingehen werden. 18 Vgl. auch R 1021: „Der Freyheit in aller Absicht ist nichts mehr entgegen, als daß der Mensch einen fremden Urheber hat".
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s p r e c h e n d : „Es wird durch den V e r s t a n d der Speculation n o c h s c h w e r einzusehen, w i e ein ens d e r i v a t i v u m actus originarios a u s ü b e n k ö n n e " ( M L b 270). N e n n e n wir dieses P r o b l e m das ens-derivativum-Problem. In M L ! b e g r e i f t K a n t die praktische Freiheit als ,independentia arbitrii a necessitatione per s t i m u l o s ' . D a v o n unterschieden ist die t r a n s z e n d e n t a l e Freiheit. Sie wird z w a r einerseits als völlige U n a b h ä n g i g k e i t von stimulos verstanden, andererseits u n d hauptsächlich aber als U n a b h ä n g i g k e i t von e i n e m ,principium e x t e r n u m ' , nämlich von Gott. D i e s e U n t e r s c h e i d u n g von praktischer vs. transzendentaler Freiheit u n d das d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e e n s - d e r i v a t i v u m - P r o b l e m hat K a n t nicht n u r in M L i b e s c h ä f t i g t , sondern schon in den g a n z e n 6 0 e r u n d 7 0 e r Jahren. D a s b e w e i s e n auch die f o l g e n d e n Reflexionen. „Freyheit von der brutalitaet (spontaneitas practice talis) [Absatz] Freyheit von der fatalitaet (transscendentalis) [Absatz] actus arbitrii vel originarii vel derivativi" (R 3863). „Wenn Gott die Bestimmungen der Willkühr regirt, so handelt er; wenn die reitze der Dinge sie nothwendig bestimmen, so nöthigen sie; in beyden Fällen entspringt die Handlung nicht aus mir, sondern ich bin nur das mittel einer andern Ursache [...] Die Frage, ob die Freyheit möglich sey, ist vielleicht mit der einerley, ob (der Mensch) eine wahre Persohn sey und ob das Ich in einem wesen von äußeren bestimungen möglich sey" (R 4225). „libertas arbitrii est practica [...] vel transscendentalis; prior est independentia a stimulis, posterior ab omni necessitatione externa, actus arbitrii simpliciter spontanei sund originarii, secundum qvid sunt derivativi. Necessitatio arbitrii est vel per stimulos et est pathologica, vel per motiva et est practica. [Absatz] Spontaneitas arbitrii simpliciter talis in ente originario est necessitas actuum arbitrii independens ab omni externo, ergo est libertas" (R 4547). „Die Freyheit der Willkühr (arbitrium liberum) ist independentia α stimulis und heißt practische Freyheit. Dagegen steht das arbitrium brutum necessitatum α stimulis. (Das arbitrium liberum [...] hat entweder spontaneitatem practicam oder transscendentalem.) [Absatz] Die necessitatio arbitrii bruti ist pathologisch, des arbitrii liberi ist [...] practisch. Jenes causa impulsivae sind Stimuli, dieses motiva. Die actus arbitrii liberi sind entweder originarii oder derivativi; ienes ist die transscendentale, dieses die blos practische Freiheit" (R 4548). „Spontaneitas vel practice vel transscendentaliter absoluta (Libertas), vel originaria vel derivativa. [Absatz] (Arbitrium vel est brutum vel liberum et libertas vel originaria vel derivativa; libertas opponitur vel necessitati brutae vel fatalitati, prior in sensu practico, posterior in sensu transscendentali; in sensu transscendentali itaqve est vel originaria vel derivativa.)" (R 4684).
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„Von der transßcendentalen Freyheit, die von der practischen unterschieden ist
und independentia ab omni causa externa necessitante ist" (R 1032). Die Hauptthesen sind schnell zusammengefaßt: 1. Praktische und transzendentale Freiheit sind zu unterscheiden. 2. Praktische Freiheit ist die Freiheit ,νοη der Tierheit', also von der nötigenden Bestimmung durch die ,Reize der Dinge'. Sie ist also die ,independentia a stimulis'. Zugleich beinhaltet sie aber die Abhängigkeit von Gott. 3. Transzendentale Freiheit ist die ,independentia ab omni causa externa necessitante', also vom Fatum, verstanden aber nicht im Sinne der sinnlichen Nötigung, sondern im Sinne eines durch Gott verursachten Kausalnexus. Nur eine Spontaneität, die in diesem Sinne frei ist, ist Spontaneität ,simpliciter quid talis' oder ursprünglich'; ansonsten ist sie ,secundum quid talis' oder ,abgeleitet'. Von Gott geschaffene und abhängige Wesen sind nicht transzendental frei. Wie wir bei der Diskussion der Vorlesungsmitschrift Metaphysik Mrongovius (1782/83) noch sehen werden, bleibt das ens-derivativumProblem auch in der kritischen Philosophie Kants aktuell. Zwar steht es in Kants kritischer Periode nicht mehr im Vordergrund. Aber es bleibt virulent, und so wundert es nicht, daß auch in der KpV diese „Schwierigkeit, die [...] der Freiheit [...] mit ihrem gänzlichen Untergange droht" (KpV, 100), immer noch diskutiert wird. Kant beseitigt in der KpV in der ,Kritischen Beleuchtung der Analytik' zunächst den scheinbaren Widerspruch von Naturkausalität und Freiheit. Dann geht er außerdem noch zu der Frage über, wie die Freiheit des Menschen mit der Möglichkeit kompatibel ist, daß die „Handlungen des Menschen in demjenigen ihren bestimmenden Grund [haben], was gänzlich außer ihrer Gewalt ist, nämlich in der Kausalität eines von ihm unterschiedenen höchsten Wesens, von welchem das Dasein des ersteren und die ganze Bestimmung seiner Kausalität ganz und gar abhängt" (ebd., u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Ohne den Unterschied von Ding an sich und Erscheinung wäre der Fatalismus unvermeidbar: „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, sowie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke,' 191 und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, bloße
19
Vgl. MLi, 267 f., wo Kant im Zusammenhang mit dem Beispiel von der Uhr und dem Bratenwender den „Künstler" erwähnt, „der das principium internum determinirt".
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Täuschung wäre, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird" (KpV, 101).
Wie gesagt, wir werden auf das ens-derivativum-Problem noch einmal kurz zurückkommen müssen. Es gibt nämlich eine Lesart des Kanonproblems, wonach Kant mit den ,höheren und entfernteren Ursachen' (A803/B831) nicht die Natur meint, sondern Gott.20 Betrachten wir nach diesem Exkurs jetzt noch einmal genauer den transzendentalen Freiheitsbegriff der rationalen Psychologie in MLi. Empirische Psychologie, so hatten wir gesehen, ist in MLi die Erkenntnis vom Ich als dem Substratum der denkenden und wollenden Seele, sofern dieses Ich uns affiziert und infolge dieser Affektion von uns durch Erfahrung erkannt wird. Die rationale Psychologie beschäftigt sich mit dem gleichen Gegenstand. Aber sie tut dies auf anderer Grundlage, weil sie eine „metaphysische Erkenntnis der Seele" (ML l5 263) ist. Das Ich wird in der rationalen Psychologie „aus Begriffen a priori" (MLi, 262 f.) erkannt, also „durch die Vernunft" (MLi, 263), und nicht durch Erfahrung. Alles, was in der rationalen Psychologie über das Ich gesagt wird, ergibt sich allein aus einer Analyse der Bedeutung dessen, was es heißt, ,Ich' zu sagen: „Wenn wir nun von der Seele a priori reden; so werden wir von ihr nichts mehr sagen, als sofern wir alles von dem Begriffe vom Ich herleiten können, und sofern wir auf dieses Ich die transscendentalen Begriffe anwenden können" (MLi, 266). Diese Strategie ist besonders für den Nachweis wichtig, daß das Ich transzendental frei ist, also „simpliciter spontan handelt" (ML], 267). Transzendentale Freiheit ist neben der Substanzialität, der Einfachheit und der Einheit der Seele das vierte transzendentale Prädikat, das Kant der Seele in ML] zuspricht. Es ist für Kant offenkundig von besonderer Wichtigkeit und Schwierigkeit. In der Akademieausgabe nimmt die transzendentale Freiheit ungefähr vier Seiten ein, im Unterschied zu den drei anderen Prädikaten, die zusammen nur auf etwas mehr als einer Seite behandelt werden. Kant leitet die Freiheitsdiskussion in der rationalen Psychologie mit folgender These ein: „Die Seele ist ein Wesen, welches simpliciter spontan handelt; d.h. die menschliche Seele ist frei in sensu transscendentali" (MLi, 267); transzendentale Freiheit bedeute „absolute Spontaneität" (ebd.). Diese absolute Spontaneität nennt Kant auch „spontaneitas [...] absoluta vel simpliciter talis" (MLi, 268), im Unterschied zur Spontaneität „secundum
Kants Lösung des ens-derivativum-Problems braucht uns hier nicht zu interessieren. Sie ist, zumindest in der KpV, 102, sehr schwach.
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quid talis" ( M L b 267). 21 Wie in ND und ganz im Sinne der Tradition versteht Kant auch in ML! Spontaneität allgemein als das Vermögen, aus einem „innern Princip" (MLi, 269, u.H.) zu handeln. Die entscheidende Frage ist aber, ob dieses „principium internum" ( M L b 267) selbst noch einmal „durch ein principium externum determinirt" (ebd.) wird oder nicht. Wenn ja, dann ist die Spontaneität nur ,secundum quid talis', also mit Einschränkung spontan. Bestimmt sich das spontane Subjekt aber ,ganz von selbst', ohne noch einmal durch ein ,principium externum' bestimmt zu sein, so ist seine Spontaneität ,simpliciter talis', also ohne Einschränkung spontan. Die Beispiele, die Kant für eine Spontaneität ,secundum quid talis' gibt, sind die Bewegung der Uhr oder - später berühmt geworden in der KpV - die eines Bratenwenders. 22 Beide Maschinen bewegen sich in gewisser Hinsicht von selbst; aber für beide gibt es ein äußeres Prinzip, das ihr „principium internum determinirt" (MLj, 267). Auch die praktische Freiheit wird als ,spontaneitas secundum quid' verstanden, oder genauer: Aus der Tatsache, daß eine Person praktisch frei ist und insofern spontan handelt, folgt nicht, daß sie nicht trotzdem von Gott abhängig ist, also „unter einer Bedingung spontan handelt" (MLi, 267,31). 23 Im Laufe seiner Argumentation (ML 1; 267 ff.) nennt Kant das ,principium externum' auch allgemein eine ,Ursache', ,Ursache außer mir', etwas ,Aeußeres', ,äußere Determination', ,äußere Ursache', ,fremde Ursache'. Im Lichte seiner späteren Texte ist man geneigt, diese ,äußeren Ursachen' als Naturursachen, genauer noch: als sinnliche Antriebe zu verstehen. 24 Dies um so mehr, als ja in der empirischen Psychologie, wie gezeigt, der transzendentale Freiheitsbegriff zunächst als Unabhängigkeit von allen Naturursachen' verstanden wird, und solch eine Unabhängigkeit könnte ja als Unabhängigkeit von einem ,principium externum' verstanden werden. Allerdings macht Kant vor dem eigentlichen Argument für die transzendentale Freiheit der Seele klar, daß die ,äußere Ursache', von der hier die Rede ist, Gott als Schöpfer der Welt und der menschlichen Seelen ist; und daß infolgedessen das Problem (in erster Linie) nicht darin besteht, wie Freiheit und
21
Den Begriff der .spontaneitas simpliciter talis' hat Kant vermutlich von Baumgarten übernommen, der in seiner Metaphysik schreibt: „ein Grund [...], welcher ausser sich keinen Grund weiter hat, ist der erste oder letzte Grund (ratio simpliciter talis [...])"; zitiert nach Kawamura (1996, S.88). Vgl. auch noch einmal die oben zitierten Reflexionen sowie R 3860. 22 Vgl. KpV, 97. Vgl. auch den Hinweis bei Klemme (1996, S.87, Fn. 40). Man kann also die praktische Freiheit nicht einfach mit der .spontaneitas secundum quid' gleichsetzen (obwohl Kant dies zuweilen zu tun scheint), weil ein Wesen ja zugleich transzendental und praktisch frei sein kann. In den siebziger Jahren benutzt Kant auch den Begriff der .praktischen Spontaneität' (R 3863, 4548, 4684). Darunter versteht er die .praktische Freiheit' im Sinne der empirischen Psychologie von MLi, die er aber mit der nichtursprünglichen (abgeleiteten) Spontaneität gleichsetzt: „Actus arbitrii simpliciter spontanei sunt originarii, secundum qvid sunt derivativi" (R 4547). 24 Vgl. etwa nur den negativen Freiheitsbegriff in der GMS.
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Naturnotwendigkeit vereinigt werden können, sondern Freiheit und Geschöpflichkeit. 25 Auch in der rationalen Psychologie von ML! geht es bei der Frage nach der transzendentalen Freiheit eindeutig um das ensderivativum-Problem. Nachdem Kant den Spontaneitätsbegriff eingeführt hat, wird das Problem von ihm folgendermaßen beschrieben: „Es fragt sich aber: kommen die Handlungen der Seele, ihre Gedanken, aus dem innern Princip, welches durch keine Ursachen determinirt ist; oder sind ihre Handlungen durch ein principium externum determinirt? Wenn das Letzte wäre; so hätte sie nur spontaneitatem secundum quid, aber nicht simpliciter talem, und also keine Freiheit im transscendentalen Verstände. Wenn angenommen wird (welches aber erst in der theologia rationali ausgemacht wird), daß die Seele eine Ursache hat, daß sie ein ens dependens, ein causatum alterius ist, so ist hier die Frage: ob der Seele, als einem Wesen welches eine Ursache hat, spontaneitas absoluta hat können beigelegt werden? Dieses ist eine Schwierigkeit, die uns hier festhält. Wäre sie ein ens independens; so könnten wir in ihr allenfalls spontaneitatem absolutam denken. Wenn ich aber annehme: sie sey ein ens ab alio; so scheint es sehr wahrscheinlich zu seyn, daß sie auch von dieser Ursache zu allen ihren Gedanken und Handlungen determinirt sey; also nur spontaneiatem secundum quid habe: daß sie zwar nach dem inneren Princip frei handele, aber durch eine Ursache determinirt werde. Nun ist die Frage: ob ich mich als Seele denken kann? Ob ich spontaneitatem transscendentalem oder libertatem absolutam [261 habe?" (ML 1; 268)
Auch Kants Hinweis auf die Theologie 27 und dann seine theologischen Ausführungen zeigen eindeutig, daß mit der Unabhängigkeit vom principium externum nicht die völlige Unabhängigkeit von allen Naturursachen gemeint ist, sondern die Unabhängigkeit von Gott als dem Schöpfer der Welt und der Menschen. So schreibt Kant in der natürlichen Theologie: „Allein die Schwierigkeit der Freiheit des Menschen beruht [...] darauf, daß wir nicht einsehen können: wie ein Geschöpf, welches seinen Grund in einem andern Wesen hat, Freiheit haben soll, aus dem innern Princip independent a causa
25
Vgl. auch die beiläufige Bemerkung in A206/B251. Von dieser ,absoluten Freiheit' - die mit der ,absoluten Spontaneität' identifiziert wird - ist auch später noch die Rede (MLi, 268,38). In der empirischen Psychologie wurde diese absolute Freiheit bereits erwähnt und mit der moralischen Freiheit identifiziert: Die Freiheit, die nur nach Motiven des Verstandes handelt, ist „die libertas absoluta, welches die moralische Freiheit ist" (MLi, 255). In der rationalen Psychologie wird aber die .absolute Freiheit' (vgl. auch MLi, 269,15) als die Freiheit der spontanen Handlung überhaupt verstanden, die nach kategorischen, aber auch nach hypothetischen Imperativen handelt. 21 Etwas später wiederholt Kant diesen Hinweis: „Diesen Satz [,die Seele hat absolute Spontaneität', D.S.] aber noch weiter zu examiniren, müssen wir noch ausgesetzt seyn lassen, bis dahin, wo von der göttlichen Freiheit in der theologia naturali geredet wird. Es wird durch den Verstand der Speculation noch schwer einzusehen, wie ein ens derivativum actus originarios ausüben könne" (ML,, 269 f.). 26
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externa necessitate zu handeln. - Weil die Freiheit eine Grundkraft ist; so können wir sie nicht einsehen, da die bestimmten Gründe derselben in dem Rathschlusse Gottes liegen" (ML), 332). Später heißt es dann, daß „alle praktischen Sätze Thorheiten" (ML], 346) wären, wäre Gott der Urheber auch der freien Handlungen: „Sollte Gott die freien Handlungen der Menschen determiniren; so wäre er der Urheber derselben. Da aber die Freiheit ein 28
Vermögen ist, aus dem innern Prinzip [ohne" ] eine äußere Ursache zu handeln, und da ein Geschöpf diese Kraft hat, unabhängig von allen Necessitationen sich selbst zu bestimmen; so ist Gott nicht der Urheber der freien Handlungen des Menschen" (MLi, 345 f.). Kant ist sich bewußt, daß hier ein Problem bleibt: „Nun ist das freilich nicht zu verstehen, daß Gott als ein Urheber des Geschöpfs seine Handlungen nicht sollte determinirt haben; allein der Begriff der Freiheit haut hier gleichfalls den Knoten ab" (MLi, 346). Dann folgt das praktische Argument, daß ohne die Voraussetzung der Freiheit alle praktischen Sätze ,Thorheiten' wären. Ζ 10 In der rationalen Psychologie bedeutet transzendentale Freiheit' eindeutig die Unabhängigkeit der menschlichen Willkür von Gott als einem ,principium externum'. Dieses Problem - wie kann ein geschaffenes Wesen freie Handlungen hervorbringen ? - nennen wir das ens-derivativum-Problem. Transzendentale Freiheit als praktische Freiheit: TPF und APF Bis jetzt ging alles relativ reibungslos. Aber wir hatten einleitend schon auf die Probleme hingewiesen, die die Interpretation von ML] belasten. Im Mittelpunkt all dieser Probleme steht letztlich die Frage, welche Art von Freiheit für die Moral oder Moralität hinreichend ist. Gehen wir jetzt also ins Detail, und machen wir uns dafür zunächst den Aufbau der relevanten Textpassage klar (MLi, 267,21-271,11). Kant beginnt mit einem Rückblick auf den Begriff der praktischen oder psychologischen Freiheit'. Er hält sofort fest, daß dieser Begriff für die Moralität auch ausreicht (ML b 267,26); etwas später wird diese These wiederholt (ML h 269,25). Danach folgt die Einführung des Begriffs der transzendentalen Freiheit', die als ,absolute Spontaneität' und damit als ,spontaneitas simpliciter talis' von der ,spontaneitas secundum quid talis' unterschieden wird.29 Wie wir gesehen haben, bedeutet transzendentale Freiheit in diesem Zusammenhang das Vermögen, aus dem ,inneren Prinzip, ohne äußere Determination' durch einen göttlichen Urheber, denken und handeln
28
Lehman liest ,durch'; das kann nicht sein. (Die Stelle gehört zu den von Ameriks und Naragon nicht übersetzten Passagen von MLi.) 29 Vgl. noch einmal R 3863 und R 4547.
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zu können. Dabei ist zu beachten, daß der Begriff der ,freien Willkür' (wie oben schon bemerkt) ein Oberbegriff ist, unter den sowohl das ,arbitrium sensitivum liberum' (praktisch-psychologisch freie Willkür) als auch das ,arbitrium intellectuale liberum' (transzendental freie Willkür) fallen. Aus diesem Grund wird die transzendentale Freiheit in der rationalen Psychologie zweimal auch als Selbsttätigkeit ,aus dem inneren Prinzip nach freier Willkür, ohne äußere Determination' definiert (MLi, 269,3; 267,28). 30 Zu beachten ist weiterhin (auch darauf wurde schon hingewiesen), daß sich die Bestimmungen des transzendentalen Freiheitsbegriffes in der empirischen und rationalen Psychologie unterscheiden. In der empirischen Psychologie bedeutet transzendentale Freiheit nämlich, daß die Willkür ,ganz und gar' unabhängig ist von allen stimuli. Diese Bestimmung taucht in dieser Form in der rationalen Psychologie nicht wieder auf. Wir müssen zwar davon ausgehen, daß transzendentale Freiheit sowohl die Unabhängigkeit von allen Stimuli meint wie auch die Unabhängigkeit von Gott als principium externum. Wirklich relevant ist in der rationalen Psychologie aber nur die letztere Bedeutung. 31 Nachdem Kant also betont hat, worin die Schwierigkeit liegt (sc. im ensderivativum-Problem), geht er zu dem Nachweis über, daß aufgrund des Selbstbewußtseins der Seele deren Spontaneität dennoch nicht sinnvoll bestritten werden kann. Allerdings wird dabei sofort hervorgehoben, daß die Spontaneität bei einem ,ens dependens' grundsätzlich nicht begriffen werden kann. Danach folgt eine kurze und extrem kryptische Beschreibung des Verhältnisses der beiden Freiheitsbegriffe zu den praktischen Gesetzen. Sie und der ganze Text werden abgeschlossen mit einer erneuten und ausführlichen Begründung der These, daß die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit nicht eingesehen werden kann.
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Die Bestimmung ,ohne eine äußere Determination' fehlt in MLi,267,28, muß aber ohne Zweifel hinzugedacht werden. Wie wir noch sehen werden, stößt man auf diese doppelte Bedeutung von ,transzendentaler Freiheit' sogar noch in MM (1782/83). Vgl. auch noch einmal die folgende Reflexion: „Da die Freyheit eine vollständige Selbstthätigkeit des Willens ist, ohne durch stimulos oder durch irgend etwas anderes, was das subiect afficirt, bestimmt zu seyn, so kommt es bey ihr nur auf die Gewisheit der Persohnlichkeit an: daß sie nemlich (sich) bewußt sey, sie handle aus eigner Willkühr, [...] der Wille sey thatig und nicht leidend, weder durch stimulos noch durch fremde Eindrüke. Sonst müßte ich sagen: ich bin getrieben oder bewegt, so oder so zu handien, welches so viel heißt als: ich bin nicht handelnd, sondern leidend. Wenn Gott die Bestimmungen der Willkühr regirt, so handelt er; wenn die reitze der Dinge sie nothwendig bestimmen, so nöthigen sie; in bey den Fällen entspringt die Handlung nicht aus mir, sondern ich bin nur das mittel einer andern Ursache [...] Die Frage, ob die Freyheit möglich sey, ist vielleicht mit der einerley, ob (der Mensch) eine wahre Persohn sey und ob das Ich in einem wesen von äußeren bestimungen möglich sey" (R 4225, u.H., Kants Hervorhebung getilgt).
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Soviel zum Aufbau des Textes. Nun bezieht sich, wie wir sahen, der Begriff praktische Freiheit' innerhalb der empirischen Psychologie von ML, auf die praktisch-psychologische Freiheit als die Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Antriebe'. Aber Kant kennt in ML) noch eine völlig andere Bedeutung des Begriffs praktische Freiheit'. „Aber wir müssen immer denken: wir sind in der psychologia rationali; hier müssen wir uns auf keine Erfahrung berufen, sondern aus Principien der reinen Vernunft die spontaneitatem absolutam darthun; wo ich also über das Practische hinaus gehe, und frage: Wie ist solche practische Freiheit möglich, nach der ich aus dem innern principio, durch keine äußere Ursache determinirt, handele?" (ML b 269,27-33, u.H., Kants Hervorhebung getilgt).
Zunächst könnte man meinen, praktische Freiheit' sei in diesem Satz gleichbedeutend mit der wenige Zeilen vorher erwähnten praktischen Freiheit' (ML!, 269,23), die in der empirischen Psychologie ,erwiesen' wurde. Aber das kann unmöglich zutreffen. Denn diese praktische Freiheit ist ja nur die (auch in diesem Kontext noch einmal erwähnte) Unabhängigkeit von der ,necessitatione a stimulis' (ML!, 269,24). Dagegen wird die praktische Freiheit, um die es jetzt geht, ausdrücklich dadurch definiert, daß ,ich aus dem innern principio, durch keine äußere Ursache determinirt, handeln kann'. Das aber ist, wie gezeigt, genau die Formel, mit der mehrmals die transzendentale Freiheit beschrieben wird; 32 folglich bezieht sich ,practische Freiheit' an dieser Stelle (MLi, 269,31) auf die transzendentale Freiheit im Kontext der rationalen Psychologie. Ähnlich wie im Kanon macht Kant auch hier den Bedeutungsumschwung nicht explizit deutlich, sondern nur indirekt. Man muß lesen (beziehungsweise in der Vorlesung hören): ,Wie ist solche practische Freiheit möglich, nach der ich ...'. Die praktische Freiheit' der empirischen Psychologie war eine Form praktischer Freiheit. Jetzt ist die Rede von einer ,solchen', die anders ist, nämlich der transzendental-^rakihchsn Freiheit des Willens. Das heißt aber, daß Kant in MLi den Terminus praktische Freiheit' tatsächlich mehrdeutig verwendet. Zunächst bezieht er sich damit auf diejenige Freiheit, die Thema der empirischen Psychologie ist und als Unabhängigkeit von der Nötigung durch Triebfedern verstanden wird (die psychologisch-praktische Freiheit). Und obwohl Kant diesen praktischen Freiheitsbegriff vom transzendentalen Freiheitsbegriff ausdrücklich abgrenzt, bezeichnet er diejenige Freiheit, die als transzendentales Vermögen absoluter Spontaneität verstanden wird (nach dem inneren Prinzip, ohne jede fremde Ursache, zu handeln), ebenfalls als praktische Freiheit; auch die transzendentale Freiheit wird also als praktische Freiheit bezeichnet.
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Vgl. M L i , 268,18-19; 268,33-34; 269,3-4.
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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Und es schwingt hier noch ein weiterer (dritter) Aspekt mit: APF. Um das zu sehen, müssen wir überlegen, was Kant mit dem im obigen Zitat erwähnten praktischen' meint. Gehen wir dafür zunächst auf die Strategie der rationalen Psychologie ein; Kant selbst betont ja ausdrücklich, daß „wir immer denken [müssen]: wir sind in der psychologia rationali" ( M L b 269). Kant will zeigen, daß das Ich transzendental frei ist. Sein Argument für diese These besteht, kurz gesagt, darin, daß aus dem Selbstbewußtsein des Ich denke und Ich handele folge, daß dieses Ich nicht anders denn als selbsttätig gedacht werden könne; das Ich könne dieses ,Ich' und damit sich selbst sonst gar nicht denken. 34 Wichtig ist die Reichweite dieses Argumentes. Kant beginnt seine Argumentation sofort mit dem einschränkenden Hinweis, daß die „spontaneitas absoluta in einem ente dependente durch die Vernunft nicht begriffen werden [kann]; die reine Selbstthätigkeit bei einem Wesen, das ein causatum [alterius, D.S.] 35 ist, kann nicht eingesehen werden. Allein obgleich die spontaneitas absoluta nicht kann begriffen werden; so kann sie doch auch nicht widerlegt werden. Mithin werden wir nur darauf zu sehen haben, ob dem Ich die Selbstthätigkeit kann zugeeignet werden" (MLi, 268). Das Ergebnis des darauf folgenden Spontaneitätsarguments lautet dann, daß die Seele tatsächlich als transzendental frei gedacht werden muß; nur wie sie das sein kann, ist unerkennbar. Mehr will Kant mit seinem einschränkenden Hinweis auch gar nicht sagen: „Nun können wir nicht einsehen, wie die Seele solche [transzendental freien, D.S.] Handlungen ausüben kann" (MLi, 270, u.H.). Deswegen schreibt er: „Allein weil die Möglichkeit solcher Freiheit nicht kann eingesehen werden; so folgt noch nicht daraus, daß, weil wir es nicht einsehen, es auch keine Freiheit geben könne" (ML l t 270). Und: „Dieses ist ein Grund, die Schranken des Verstandes einzusehen, aber nicht die Sache zu läugnen" (ML l5 271). Das eigentliche Argument für die eingeschränkte Reichweite (nicht: Gültigkeit) des Spontaneitätsargumentes lautet dann: „Es fehlen hier [bei transzendental freien Handlungen, D.S.] die Bedingungen, unter denen die Vernunft etwas einsehen kann; dieses sind die bestimmenden Gründe. Unsere freien Handlungen aber haben keine bestimmenden Gründe; also können wir sie auch nicht einsehen" (ML h 271). Das erinnert natürlich an die Antithesis der dritten Antinomie. Und obwohl das Stichwort hier nicht fällt, ist doch offenkundig, daß dieses Argument zugleich im Lichte der als-ob-Argumente zu lesen ist, die man, wie noch zu zeigen sein wird, an vielen anderen Stellen in Kants Schriften findet. Wir können die Freiheit nicht theoretisch erklären -
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Zur Begriffseinführung vgl. noch einmal den Anfang dieses Kapitels (S.19 f.). Dieses Argument findet sich in mehreren Texten Kants - vgl. R 4220, 4225, 4338 - und hat Spuren auch in seinen veröffentlichen Werken hinterlassen; vgl. RS,14 und GMS 448. 35 Vgl. ML,, 268,10. 34
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und in diesem Sinne nicht theoretisch beweisen weil eine solche Erklärung oder eben ein solcher Beweis nur durch den Rekurs auf eine Ursachenkette möglich wäre. Daher führt Kant einen ,,apagogische[n] Beweis" (MLi, 319), der zwar nur eine „nothwendige Hypothese" (MLi, 304) sei, 36 aber dennoch „practische Gewißheit" (ebd.) habe: „Was nun aber eine nothwendige Voraussetzung unserer Vernunft ist, das ist eben so, als wenn es nothwendig wäre" (ebd., u.H.). Entsprechend heißt es in der rationalen Psychologie: „Die Freiheit ist aber eine nothwendige Bedingung aller unserer praktischen Handlungen. So wie es auch andere Sätze giebt, die wir nicht einsehen, die aber eine nothwendige Bedingung voraussetzen;1371 so sind wir auch durch den Begriff der transscendentalen Freiheit independent" (MLi, 270). 38 Aber auch das ist noch nicht der entscheidende Punkt, auf den es hier ankommt. Wir wollen vielmehr darauf hinaus, daß die begründungstheoretische Frage, warum und inwiefern wir transzendentale Freiheit annehmen dürfen, bei Kant Einfluß auf die terminologische Frage genommen hat, wie man die zur Debatte stehende Freiheit bezeichnen soll. Ein Grundgedanke unserer Überlegungen besteht darin, daß in manchen Schriften und Stellen die praktische Freiheit nicht deshalb praktisch' genannt wird, weil sie die (praktische) Freiheit des Willens und seiner Praxis ist. Sie wird auch nicht etwa deshalb .praktisch' genannt, weil sie keine transzendentale Freiheit wäre. Sie ist an sich transzendentale Freiheit. Aber im Lichte der Tatsache, daß die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit nicht bewiesen werden kann, wird diese transzendentale Freiheit in einen anderen Kontext gestellt, den Praxiskontext. In diesem Kontext geht es nicht darum, die Frage zu klären, wie transzendentale Freiheit möglich ist. Es geht nur darum, daß Freiheit für Moral eine praktische Voraussetzung ist. In diesem Kontext, in dem Kant nicht nach der Eigenschaft transzendentaler Freiheit fragt und auch nicht danach, wie transzendentale Freiheit möglich ist, nennt er die Freiheit ,praktische Freiheit'. 39 In diesem Kontext ist die praktische Freiheit die transzendentale Freiheit, betrachtet als Idee, die aber praktisch hinreichend' ist und nur deswegen praktisch' genannt wird.
Zum Begriff der Freiheit als „nothwendige Hypothesis" vgl. auch Feyerabend, 1322,20. Kant bezieht sich hier auf die Sätze der Theologie (über Gottes Existenz und die Unsterblichkeit der Seele). 38 Zu diesem Argument vgl. auch besonders R 4338. Vgl. jetzt noch einmal die oben hervorgehobene Stelle: „Aber wir müssen immer denken: wir sind in der psychologia rationali; hier müssen wir uns auf keine Erfahrung berufen, sondern aus Principien der reinen Vernunft die spontaneitatem absolutam darthun; wo ich also Uber das Practische hinaus gehe, und frage: Wie ist solche practische Freiheit möglich, nach der ich aus dem innern principio, durch keine äußere Ursache determinirt, handele?" (MLi 269,27-33, letzte Hervorhebung D.S.).
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APF ist in ML! noch nicht voll präsent. Allerdings ist in diesem Sinne bereits folgende Stelle zu lesen: „Der Begriff der Freiheit ist practisch-hinreichend, aber nicht speculativ. Könnten wir die freyen ursprünglichen Handlungen aus der Vernunft erklären; so wäre der Begriff speculativ-hinreichend. Dies können wir aber nicht, weil freie Handlungen diejenigen sind, die aus dem innern Princip aller Handlungen ohne alle Determination einer fremden Ursache entspringen. Nun können wir nicht einsehen, wie die Seele solche Handlungen ausüben kann" (MLj, 270).
Eine genaue Betrachtung dieser Stelle ist überaus wichtig. Nur dann kann man nämlich sehen, daß der ,Begriff der Freiheit', der ,practisch-hinreichend' ist, nicht der in der empirischen Psychologie eingeführte praktisch-psychologische Freiheitsbegriff ist, sondern der Jransscendentale Begriff der Freiheit" ( M L b 267, u.H.). Der ,Begriff der Freiheit' im ersten Satz des obigen Zitats ( M L b 270,31) wird im nächsten Satz durch die ,freyen ursprünglichen Handlungen aus der Vernunft' erläutert (ML!, 270,32). Diese wiederum werden im folgenden Satz (MLi, 270,33-36) ausdrücklich charakterisiert als die Handlungen, die aus dem ,innern Princip aller Handlungen ohne alle Determination einer fremden Ursache entspringen'. Sie werden also, anders gesagt, als die transzendental freien oder absolut spontanen Handlungen identifiziert; denn wie wir gesehen haben, werden solche Handlungen in der rationalen Psychologie ja als Handlungen verstanden, die ,aus dem inneren Princip' entspringen, ohne durch ein ,principium externum' determiniert zu sein. Wenn Kant in MLi, 270 also schreibt: ,Der Begriff der Freiheit ist practisch-hinreichend, aber nicht speculativ', dann ist das folgendermaßen zu lesen: ,Der Begriff der transzendentalen spekulativ'.
Freiheit ist practisch hinreichend, aber nicht
Wie wir noch sehen werden, wird dieser Punkt in der späteren Vorlesungsmitschrift Metaphysik Mrongovius noch deutlicher: Wer der Idee der transzendentalen Freiheit gemäß handelt, ist frei im praktischen Verstände', obwohl dadurch die Freiheit im theoretischen Verstände' nicht bewiesen ist.41 In MLi geht die Engführung der Prädikate .transzendental' und .praktisch' (vielleicht) noch nicht so weit. Aber es ist naheliegend, daß es sich in MLi um eine Variante oder eher Vorstufe dieses Gedankens und seiner terminologischen Einkleidung handelt. Denn bereits in MLi wird gesagt, daß wir die tran-
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Vgl. auch R 4725: „Der practische Begriff der Freyheit ist, der zureicht, um Handlungen nach regeln der Vernunft zu thun, der also dieser ihren imperativen die Gewalt giebt; der speculative oder vernünftelnde Begrif der Freyheit ist, der zureicht, um [...] freye Handlungen nach der Vernunft zu erklären. Letzterer ist unmöglich, weil es das Ursprüngliche im derivative ist." 41 Vgl. MM, 898.
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szendentale Freiheit letztlich nicht erklären können. In diesem Sinne ist sie eine ,Idee', 42 wenn auch eine Idee, die ,practisch hinreichend' ist. Kant gibt uns ein Argument für die Annahme, daß wir transzendental frei sind. Da wir diese transzendentale Freiheit für das ,Practische' (also für die ,Moral', für die kategorischen Imperative) voraussetzen müssen, sind das Argument für die transzendentale Freiheit und damit auch der transzendentale Begriff der Freiheit ,practisch-hinreichend'. In spekulativer Hinsicht bleibt jenes Argument aber unbefriedigend. Es erklärt nicht, wie solche transzendentale Freiheit möglich ist. Nur wenn es das zu leisten imstande wäre, ginge das Argument ,über das Practische hinaus' und wäre auch ,speculativ-hinreichend'. Wie wir noch sehen werden, nennt Kant in späteren Schriften den transzendentalen Freiheitsbegriff, sofern er in diesem Sinne ,practisch-hinreichend' ist, selbst wieder praktische Freiheit'. In gewisser Hinsicht ist dies auch in ML] bereits der Fall. Wir sahen schon, daß Kant an einer Stelle die transzendentale Freiheit selbst wieder als ,practische Freiheit' bezeichnet (ML], 269,31). Er tut dies in dem eben diskutierten Kontext, in dem es um die ,practische' bzw. speculative' Reichweite des transzendentalen Freiheitsbegriffs geht Cpractisch hinreichend' usw.). Die hier als .praktisch' charakterisierte Freiheit ist also an sich die transzendentale. Aber sie wird gerade deshalb ,praktische Freiheit' genannt, weil der transzendentale Freiheitsbegriff nur ,practisch-hinreichend' ist, aber nicht ,speculativ-hinreichend'. Kants Oszillieren zwischen dem Theorie- und dem Praxiskontext ist jedenfalls deutlich erkennbar. Ζ 11 In der empirischen Psychologie von MLι bedeutet praktische Freiheit' soviel wie die Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe. In der rationalen Psychologie von ML] verwendet Kant den Terminus praktische Freiheit' aber auch, um sich auf die absolute Spontaneität der transzendentalen Freiheit zu beziehen. Außerdem versteht Kant in ML] den Begriff der transzendentalen Freiheit als praktisch hinreichend', aber nicht als spekulativ erreichbar. Auch in dieser Eigenschaft, ,praktisch hinreichend' zu sein, wird die transzendentale Freiheit selbst wieder praktische Freiheit' genannt. Moral und Freiheit in ML] Führen wir uns zunächst das oben schon angedeutete Problem etwas genauer vor Augen: Welchen Begriff von Freiheit müssen wir für die Moral voraussetzen? Wir sahen schon, daß diese Frage einen zentralen Aspekt des
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Obwohl Kant diesen Begriff in der rationalen Psychologie nicht verwendet; allerdings spricht er, wie gezeigt, in der rationalen Theologie von .notwendigen Hypothesen', und er sagt dort, eine „solche Hypothese, die nothwendig ist, wird Glaube genannt" (MLi, 304).
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K a n o n p r o b l e m s ausmacht. D e n n o b w o h l K a n t wiederholt die W i c h t i g k e i t transzendentaler Freiheit f ü r ,die M o r a l ' betont, heißt es j a i m K a n o n verwirr e n d e r w e i s e , o b wir wirklich transzendental frei seien, g e h e ,uns i m Praktischen nichts a n ' ( A 8 0 3 / B 8 3 1 ) . Gleich zu B e g i n n des Abschnittes über die transzendentale Freiheit e r w ä h n t K a n t n o c h einmal den praktischen Freiheitsbegriff der e m p i r i s c h e n P s y c h o logie u n d behauptet, d a ß „dieser Begriff der Freiheit auch zur Moralität hinreichend genug [war]" (ML,, 267,25). D i e s e T h e s e wird etwas später wiederholt: „Da wir aber in der empirischen Psychologie die practische Freiheit erwiesen haben, nachdem wir frei sind von der necessitatione a stimulis, so können schon dadurch die practischen Sätze statt finden; mithin ist in Ansehung dessen die Moral sicher, welches auch unser vornehmster Zweck ist" (ML!, 269). D a s P r o b l e m ist nun, d a ß dieses zweite Zitat in einen K o n t e x t eingebettet ist, in d e m g e n a u das Gegenteil von d e m zu stehen scheint, w a s in e b e n d i e s e m zweiten Zitat b e h a u p t e t wird. N a c h d e m K a n t sein o b e n skizziertes S p o n taneitätsargument f ü r die transzendentale Freiheit vorgetragen hat, fährt er n ä m l i c h f o l g e n d e r m a ß e n fort: „Ich thue, als actio, kann nicht anders als absolute frei gebraucht werden. Alle praktischen objectiven Sätze hätten keinen Sinn, wenn der Mensch nicht frei1431 wäre. Alle praktischen Vorschriften wären unnütz; man könnte alsdann nicht sagen: du sollst dies oder das thun. Nun giebt es aber solche imperativos, nach denen ich etwas thun soll; mithin müssen alle praktische Sätze sowohl problematisch, als pragmatisch und moralisch, in mir eine Freiheit voraussetzen; folglich muß ich die erste Ursache seyn von allen Handlungen. Da wir aber in der empirischen Psychologie die practische Freiheit erwiesen haben, nachdem wir frei sind von der necessitatione a stimulis, so können schon dadurch die practischen Sätze statt finden; mithin ist in Ansehung dessen die Moral sicher, welches auch unser vornehmster Zweck ist. Aber wir müssen immer denken: wir sind in der psychologia rationali; hier müssen wir uns auf keine Erfahrung berufen, sondern aus Principien der reinen Vernunft die spontaneitatem absolutam darthun; wo ich also über das Practische hinaus gehe, und frage: Wie ist solche practische Freiheit möglich, nach der ich aus dem innern principio, durch keine äußere Ursache determinirt, handele? [...] Die Freiheit1 1 ist aber eine nothwendige Bedingung aller unser practischen Handlungen. [Absatz] In Ansehung des Practischen aber können wir den Fatalismus nicht admittiren, indem wir bei uns finden, daß wir durch keine Ursache zu unsern Handlungen determinirt werden. [Absatz] Demnach bleibt Religion und Moral in Sicherheit." (ML b 269 f.).
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Aus dem Zusammenhang geht eindeutig hervor, daß Kant hier die transzendentale meint. Auch hier gilt wieder, daß Kant eindeutig die transzendentale Freiheit meint.
Freiheit
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Einerseits sagt Kant also innerhalb der rationalen Psychologie, daß schon praktische Freiheit im Sinne der empirischen Psychologie für Moral hinreichend ist: Der psychologisch-praktische Freiheitsbegriff ist ,zur Moralität hinreichend genug'; schon durch diese Freiheit können die ,practischen Sätze statt finden'; schon durch sie ist die ,Moral sicher'. Andererseits heißt es, daß praktische (moralische) Gebote ohne transzendentale Freiheit unmöglich sind: die praktischen Gebote hätten ohne diese Freiheit ,.keinen Sinn'; sie wären ,unnütz", für die praktischen Gebote muß man die transzendentale Freiheit .voraussetzen'', sie ist eine ,,notwendige Bedingung'45 Ergibt das einen nachvollziehbaren Sinn, oder handelt es sich hierbei um eine theoretische Spannung, die Kant erst später zu lösen vermochte? 46 Wir meinen: letzteres. Wir haben gesehen, daß Kant den transzendentalen Freiheitsbegriff in gewisser Hinsicht als ,practisch hinreichend' versteht. Daher könnte man folgenden, ersten Lösungsvorschlag machen: Kant sei sich bewußt, daß es einen umfassenden Beweis für die transzendentale Freiheit nicht geben kann. Das sei aber auch, so Kant in dieser Lesart, nicht weiter schädlich. Denn für ,das Praktische' reiche es aus, wenn man die transzendentale Freiheit als notwendige Voraussetzung der praktischen Gebote begreife. In diesem Sinne sind das Spontaneitätsargument und der damit verbundene transzendentale Freiheitsbegriff zwar nicht spekulativ befriedigend (es bleibt unerklärbar, wie absolute Spontaneität möglich ist). Aber für die Praxis und deren rationale Gebote sei der so verstandene praktische Freiheitsbegriff' dennoch hinreichend'. 4 7 - Nichts daran ist, für sich betrachtet, verkehrt, aber es ist damit für unser Problem auch nichts gewonnen. Denn der praktische Freiheitsbegriff, von dem Kant in MLi (267, 269) behauptet, er sei für die Moral hinreichend genug', ist nicht der transzendentale Freiheitsbegriff, von dem es heißt, er sei ,practisch hinreichend'. Der praktische Freiheitsbegriff, der angeblich für die Moral hinreichend genug' sei, ist der psychologische Begriff der empirischen Psychologie. An beiden Stellen wird eindeutig auf diese empirische Psychologie und deren praktischen Freiheitsbegriff Bezug genommen (ML!, 267,24; 269,22). Nun könnte man zurecht danach fragen, was das denn eigentlich bedeute: daß der psychologisch-praktische Freiheitsbegriff ,zur Moralität hinreichend genug', daß dadurch ,practische Sätze statt finden' können und die ,Moral sicher' sei. Was heißt hier ,Moral'? Die Wichtigkeit dieser Frage wird sofort
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Zur letzteren These passen auch folgende Bemerkungen aus der rationalen Theologie von MLi: „Denn alle practischen Sätze setzen solche Freiheit voraus" (ML], 332); und: „Nimmt man die Freiheit nicht an; so sind alle practischen Sätze Thorheiten" (MLi, 346). Auch hier gilt wieder eindeutig, daß Kant die transzendentale Freiheit meint. 46 Er hat sie eindeutig gelöst in der GMS bzw. KpV. 47 Vgl. in dieser Richtung Ameriks (1982, S.193-203).
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deutlich, wenn man an den Unterschied zwischen Handlungen aus Pflicht und pflichtgemäßen Handlungen denkt. Kant ist mit diesem Unterschied zur Zeit von ML! schon vertraut. Er hängt eng mit dem Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen zusammen (bloß pflichtmäßige Handlungen können als Handlungen gemäß hypothetischen Imperativen verstanden werden), und diesen Unterschied hatte Kant schon 1764 namhaft gemacht. 48 Außerdem spricht Kant an einer Stelle von MLi von der Vernunft als Triebfeder (MLj, 257,30-258,30). Nachdem er in der empirischen Psychologie die drei Imperativtypen eingeführt hat, kommt Kant auf die Frage zu sprechen, wie die Vernunft selbst eine Triebfeder sein kann, eine Frage, die er (jedenfalls zum Zeitpunkt von MLi) für nicht beantwortbar hält. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß Kant Handlungen aus Pflicht der Sache nach in dieser Vorlesung kennt: „Wenn die Erkenntniß des Verstandes eine Kraft hat, das Subject zu bewegen zu der Handlung, bloß deswegen, weil die Handlung an sich gut ist; so ist diese bewegende Kraft eine Triebfeder" (MLi, 257 f.). Daher warnt er auch ausdrücklich davor, daß die „motiva moralia [...] nicht mit den pragmatischen [motiva pragmatica] verwechselt werden" dürfen (MLi, 258). Auch wenn der Unterschied zwischen pflichtmäßigen Handlungen und solchen aus Pflicht nicht expressis verbis gemacht wird, ist klar, daß hier von Handlungen aus Pflicht (aus Achtung) die Rede ist. Und dann könnte man argumentieren, daß Kant folgendes im Sinn hat (das wäre der zweite Lösungsversuch): Solange es nur um bloß pflichtmäßige Handlungen geht, ist der praktisch-psychologische Freiheitsbegriff hinreichend; sobald aber von Handlungen aus Pflicht die Rede ist, muß man einen stärkeren Freiheitsbegriff zugrundelegen, nämlich den transzendental-praktischen. Trotzdem ist auch dieser Rettungsversuch aus zwei Gründen nicht überzeugend. Erstens legen die verschiedenen Formulierungen überhaupt nicht nahe, daß Kant den Unterschied zwischen pflichtmäßigen Handlungen und solchen aus Pflicht parallelisiert mit dem Unterschied zwischen psychologisch-praktischer und transzendentaler Freiheit. 49 Zweitens wird in ML,, 269,15-22 ausdrücklich auch von den hypothetischen Imperativen gesagt, sie setzten transzendentale Freiheit voraus. Folglich kann auch nicht behauptet werden, nur Handlungen aus Pflicht setzten transzendentale Freiheit
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Vgl. UDG, 298 f. Zum psychologisch-praktischen Freiheitsbegriff heißt es, er sei ,zur Moralität hinreichend genug'·, durch sie können die ,practischen Sätze statt finden'·, durch sie sei die ,Moral sicher'. Zum transzendentalen Freiheitsbegriff schreibt Kant, daß ohne ihn praktische Gebote ,keinen Sinn' machten und ,unnütz' seien; für die praktischen Gebote müsse man die transzendentale Freiheit voraussetzen'·, sie sei eine ,notwendige Bedingung'. Aus diesen Beschreibungen ist der besagte Unterschied nicht herauszulesen. Und es ist offenkundig, daß Kant terminologisch jedenfalls keinen Unterschied zwischen ,Moral' und ,Moralität' macht; beide Termini werden austauschbar verwendet (vgl. MLi, 267,26 und 269,26).
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voraus (pflichtmäßige Handlungen lassen sich, wie gesagt, als Handlungen nach der Vorstellung hypothetischer Imperative begreifen). Es ist also nicht zu sehen, wie man den besagten Widerspruch auflösen kann. Wenn es zutrifft, daß alle praktischen Sätze ohne die Voraussetzung transzendentaler Freiheit ,keinen Sinn' hätten und ,unnütz' wären, dann scheint die Behauptung, daß sie aber ,schon' durch die praktisch-psychologische Freiheit stattfinden' können, einfach widersprüchlich zu sein. Denn diese praktisch-psychologische Freiheit setzt ja transzendentale Freiheit nicht voraus und wird von ihr ausdrücklich unterschieden. Die Ähnlichkeit zu dem Widerspruch, der zwischen der Dialektik und dem Kanon besteht, liegt auf der Hand: Genau wie in der Dialektik behauptet wird, daß die Aufhebung der transzendentalen Freiheit alle praktische Freiheit und damit alle praktischen Sätze' aufheben würde, so behauptet Kant in der rationalen Psychologie von MLi, daß die praktischen Sätze ohne transzendentale Freiheit sinnlos seien. Und genau wie er dann im Kanon behauptet, schon durch die praktische (,durch Erfahrung beweisbare') Freiheit seien die .Vorschriften' der Moral gesichert, heißt es in MLi (wieder in der rationalen Psychologie), die praktischen Vorschriften könnten schon durch die praktische Freiheit Stattfinden'. Ζ 12 In der rationalen Psychologie von MLj behauptet Kant zweimal, der praktisch-psychologische Freiheitsbegriff sei ,zur Moralität hinreichend genug'; schon dadurch könnten ,die praktischen Sätze stattfinden' und sei ,die Moral sicher'. Gleichzeitig heißt es aber, ohne transzendentale Freiheit ,hätten alle praktischen Vorschriften keinen Sinn' und wären ,unnütz'. Dieser Widerspruch scheint nicht auflösbar. Bevor wir nun zur Metaphysik Mrongovius übergehen, müssen wir noch einmal kurz auf die Frage eingehen, wie Kant das Verhältnis zwischen Freiheit und den hypothetischen Imperativen bestimmt. Wie gezeigt: In MLi, 269,15-22 heißt es, daß .alle' Imperative transzendentale Freiheit voraussetzen. Noch in der empirischen Psychologie unterscheidet Kant die zwei Typen hypothetischer Imperative von kategorischen Imperativen. Aus der Stelle selbst läßt sich nicht deutlich entnehmen, ob Kant hier an die psychologisch-praktische oder an die transzendentale Freiheit denkt. 50 Im Lichte der späteren Stelle (MLi, 269) müssen wir aber annehmen, daß die in ML(, 257 erwähnten ,,Gesetze[.] der freien Willkühr" (also die hypothetischen
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Daß wir uns hier noch in der empirischen Psychologie befinden, ist kein triftiger Einwand; wie gezeigt spricht Kant ja auch an anderen Stellen der empirischen Psychologie bereits von der transzendentalen Freiheit.
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und kategorischen Imperative) die Gesetze der transzendental freien Willkür sind. Gegen die Annahme, daß transzendentale Freiheit auch für hypothetische Imperative vorausgesetzt werden muß, spricht allerdings eine Stelle, in der Kant die transzendentale Freiheit mit der moralischen Freiheit zu identifizieren scheint. 51 Klarheit ist hier wohl nicht zu gewinnen. Ζ 13 Die Frage, welche Freiheit (praktische oder transzendentale) für das Handeln nach der Vorstellung hypothetischer Imperative vorausgesetzt werden muß, ist in ML ι nicht klar beantwortet. Wir können nun die Hauptpunkte zu MLi noch einmal kurz zusammenfassen. Der Begriff der praktischen Freiheit' hat in ML! drei verschiedene Bedeutungen. Erstens ist damit innerhalb der empirischen Psychologie die empirisch-psychologisch-praktische Freiheit gemeint; darunter versteht Kant die Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Von dieser praktischen Freiheit unterscheidet Kant (in der rationalen Psychologie) die transzendentale Freiheit, die als absolute Spontaneität die völlige Unabhängigkeit von einem externen Prinzip bedeutet (also von Gott). Diese transzendentale Freiheit nennt Kant an einer Stelle aber auch wieder praktische Freiheit'; dies ist der zweite Gebrauch dieses Begriffs. Da Kant in diesem Kontext betont, daß die transzendentale Freiheit zwar nicht spekulativ-, aber ,practisch-hinreichend' ist, nennt er die transzendentale Freiheit auch in dieser Eigenschaft (,practisch-hinreichend' zu sein) praktische Freiheit'; das ist der dritte Bedeutungsaspekt von praktischer Freiheit'. Kants Ausführungen zu der Frage, ob die praktisch-psychologische oder die transzendentale Freiheit für die ,Moral' vorausgesetzt werden muß, bleiben undeutlich. Ein wichtiger Punkt ist noch zu ergänzen. Da MLi nicht früher als 1776 geschrieben ist, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, daß Kant bereits zwischen Ding an sich und Erscheinung unterscheidet, insofern er Raum und Zeit als „subjective Bedingungen der sinnlichen Anschauung der Dinge" (MLi, 178) versteht; „es wird dadurch kein Prädicat noch ein Ding an sich selbst gedacht" (ebd.). 52 Nun ist der praktisch-psychologische Freiheitsbegriff ein Begriff der empirischen Psychologie. Die Frage ist daher, ob und in welchem Sinne er auf menschliche Handlungen als Erscheinungen angewandt werden muß, oder anders gefragt: Ist der praktisch-psychologische Freiheits-
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Vgl. MLi 255,32: „Dieses ist die libertas absoluta, welches die moralische Freiheit ist"; an späterer Stelle (MLi 268,21) wird die .absolute Freiheit' dann auch ausdrücklich mit der transzendentalen Freiheit identifiziert. Damit ist nicht gesagt, daß Kant etwa in der Dissertationsschrift die Lehre von R a u m und Zeit als Anschauungsformen mit der These verbindet, objektive Erkenntnis sei auf Erscheinungen beschränkt.
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begriff identisch mit dem naturalisierten Freiheitsbegriff des Kanons (NPF)? Auf diese Frage müssen wir zurückkommen.
3.2 Metaphysik Mrongovius In Metaphysik Mrongovius (MM) wird der Unterschied zwischen dem anspruchsvollen und dem bescheidenen Freiheitsbegriff sowie die damit einhergehende Mehrdeutigkeit des praktischen Freiheitsbegriffs vielleicht am deutlichsten. Um das zu sehen, muß man sich allerdings auf komplizierte und mühsame Textanalysen einlassen. Freiheit im praktischen Verstände als TPF und eine Schwierigkeit Der Freiheitsbegriff wird in MM hauptsächlich in zwei aufeinander folgenden Abschnitten behandelt („Von der Freiheit", 896-901; „Von Gleichgültigkeit und Gleichgewicht", 901-903); beide Abschnitte finden sich im Kapitel über die empirische Psychologie. Im Abschnitt ,Von der Freiheit' unterscheidet Kant zunächst einen ,negativen' und ,positiven' Begriff der Freiheit „im practischen Verstände" (MM, 896). Der negative Aspekt dieses praktischen Freiheitsbegriffs 53 ist das „Vermögen, unabhängig von den sinnlichen Anreitzungen zu wählen in eben dem [sc. practischen] Verstände" (ebd.); der positive Begriff der Freiheit im praktischen Verstände ist das „Vermögen, nach Begriffen des Guten und Bösen zu handeln" (ebd.). 54 Mit diesem praktischen Freiheitsbegriff kann eindeutig nicht die ,practische Freiheit' aus der empirischen Psychologie von MLi und auch nicht die
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Kant unterscheidet (terminologisch) nicht zwischen .Freiheit im praktischen Verstände' und .praktischer Freiheit'. 54 In M M werden Handlungen nach der Vorstellung hypothetischer Imperative eindeutig nicht als absolut spontan freie Handlungen verstanden: „Die caußae impulsivae intellectuales sind entweder secundum quid oder simpliciter talis. Caußa impulsiva secundum quid ist, wenn ich bloß ein gutes Mittel wähle, um meinen Zweck zu erreichen, der von einem Stimulo herrührt" (MM, 898); daher heißt es kurz danach: „So ist Freiheit das Vermögen, das zu wählen, was an sich und nicht bloß als Mittel gut ist" (MM, 899). Und weiter: „Denn Moral ist Wissenschaft von dem was gut ist, sonst würde der Begriff der Freiheit überflüßig, wenn keine Moral wäre; und denn wäre auch die Vernunft überflüßig. Denn sie ist bloß um der Moralitaet der Gesetze willen da [...] Wir sind nur frei, um den Gesetzen der Sittlichkeit zu folgen" (MM, 900). Und: „Wenn wir beim Gebrauch unseres Willens bloß auf die empirische Glückseeligkeit Rücksicht nehmen, dann bestimmt die Vernunft nicht durch den Begriff des höchsten Guten, sondern durch den Begriff der höchsten Annehmlichkeit. D a regiert die Neigung, bestimmt den Zwek, und Vernunft ist der Sclave, der die Mittel herbei schaffen muß (MM, 901)". - Allerdings kennt Kant in dieser Vorlesung so etwas wie ,Grade der Freiheit': „Wir sind also frei, wenn wir unsere Handlungen ganz nach den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft einrichten, und ie mehr wir dies thun, desto freier sind wir" (MM, 899, u.H.); und etwas später: „Vernunft aber erhebt ihn [den Menschen] über die Thiere, und ie mehr er nach derselben handelt, desto moralischer und zugleich desto freier wird er" (MM, 900, u.H.).
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praktische Freiheit' aus dem Kanon der KrV gemeint sein (also auch nicht NPF). Denn in M M betont Kant ausdrücklich, die ,Freiheit im praktischen Verstände' sei „nicht eine Eigenschaft, die wir aus der Erfahrung erlernen" (ebd., u.H.). Dagegen ist die .praktische Freiheit' sowohl in ML! als auch im Kanon ja gerade dadurch charakterisiert, daß wir sie ,durch Erfahrung beweisen' können. Kant betont in M M zudem, daß wir „uns auch unmittelbar der Freiheit nicht bewußt" (MM, 897) seien. Diese beiden Charakterisierungen - wir kennen die praktische Freiheit (negativ bestimmt) weder aus der Erfahrung noch haben wir von ihr (positiv bestimmt) ein unmittelbares Bewußtsein - beweisen hinreichend deutlich, daß praktische Freiheit hier als transzendental-praktische Freiheit (TPF) verstanden wird; und in der Tat wird praktische Freiheit dann auch als „bloße Idee" (MM, 898) bezeichnet. Spätere Stellen in MM bekräftigen diese Interpretation. Auch in dem Kapitel ,Von Gleichgültigkeit und Gleichgewicht' spricht Kant über den Freiheitsbegriff. Er kritisiert dort verschiedene Freiheitsbegriffe (indifferentiae, aequilibrium, contrarietatis 56 ) und betont dann, man müsse „doch einen positiven Begriff von ihr [sc. der Freiheit] haben, sonst haben wir gar keinen Begriff. Der positive Begriff ist das Vermögen, nach Begriffen des Guten und Bösen zu handien. - Weil die Freiheit den physischen Gesetzen oder den Gesetzen der Sinnlichkeit nicht unterworfen ist, so glaubt man, sie sei keinem Gesetz unterworfen. Aber das ist zu weit geschloßen. Daß wir von den Gesetzen der Sinnlichkeit frei sind, ist unser praerogativ. Die Thiere sind es nicht, daher sind sie bloß paßiv. Denn sind wir nicht paßiv, wenn wir nach Gesetzen des Verstandes handeln, weil diese ia von uns selbst herkommen. Wir werden also von niemandem bestimmt, sondern bestimmen uns selbst und also haben wir Spontaneität" (MM, 902 f.).
Auch hier wird Freiheit negativ als die Unabhängigkeit von den ,Gesetzen der Sinnlichkeit' verstanden und positiv als ein Vermögen der .Spontaneität', nämlich als ,das Vermögen, nach Begriffen des Guten und Bösen zu handeln'. Von welcher ,Freiheit' hier überhaupt die Rede ist, geht aus dieser Stelle explizit nicht hervor. Aber es fällt natürlich sofort auf, daß der positive Aspekt der Freiheit an dieser Stelle identisch (und in der Tat sogar wortgleich beschrieben) ist mit dem oben skizzierten positiven Aspekt des praktischen Freiheitsbegriffs: ,das Vermögen, nach Begriffen des Guten und Bösen zu handeln' (MM, 896,21). Da aber dieser positive Freiheitsbegriff nichts anderes bedeutet als das Vermögen der Spontaneität' (simpliciter talis), und da diese Spontaneität der positive Aspekt des Begriffs der Freiheit ,im transzendentalen Verstände' ist, müssen der jeweils positive Aspekt des
55
Vgl. K p V , 29 f. L e h m a n n ediert in der A A fälschlicherweise ,contrarietalis' statt ,contrarietatis'; vgl. den Hinweis bei AmerikslNaragon (1997, S.269).
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praktischen und des transzendentalen Freiheitsbegriffs identisch sein. Der praktische Freiheitsbegriff zu Beginn des Kapitels ,Von der Freiheit' muß demnach also in der Tat im Sinne von TPF verstanden werden. 57 Aber es gibt eine Schwierigkeit mit dieser Interpretation. Nachdem Kant die Darstellung dieses Freiheitsbegriffs beendet hat, fährt er fort mit der Bemerkung, er habe bis dahin „von der Freiheit im practischen Verstände geredet. Die Freiheit aber im transcendentalen Verstände ist ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen unabhängig von allen entfernten oder Natur Ursachen" (MM, 900, u.H.). Das ist merkwürdig. Denn demnach wäre Freiheit ,im praktischen Verstände' nicht nur nicht als ,praktisch-psychologische' Freiheit (MLi) oder als N P F (Kanon) zu verstehen, sondern auch nicht als ,Vermögen, sich selbst zu bestimmen unabhängig von allen entfernten oder Natur Ursachen'. Sie wäre damit auch nicht als TPF zu verstehen. Es scheint, als würde Kant an dieser Stelle der Vorlesung den Freiheitsbegriff ,im praktischen Verstände' noch einmal von einem Freiheitsbegriff ,im transzendentalen Verstände' unterscheiden. Kant spricht in M M (896 f.) der ,Freiheit im praktischen Verstände' genau diejenigen Merkmale zu, die er in der Dialektik TPF zuspricht (sc. den bekannten ,negativen' und ,positiven' Aspekt, den Status bloß als ,Idee'). Trotzdem scheint diese ,Freiheit im praktischen Verstände' von TPF unterschieden werden zu müssen. Denn es heißt ja später (MM, 900) ausdrücklich, die ,Freiheit im praktischen Verstände' sei ,aber' von der ,Freiheit im transzendentalen Verstände' unterschieden. - Mit dieser Schwierigkeit im Blick können wir nun den Freiheitsbegriff von M M genauer betrachten (auf die Schwierigkeit selbst kommen wir noch einmal zurück). Ζ 14 Kant beschreibt in MM die ,Freiheit im praktischen Verstände' im Sinne von TPF. Trotzdem scheint er diese Freiheit zugleich von TPF zu unterscheiden, da es heißt, die ,Freiheit im praktischen Verstände' sei ,aber' von der,Freiheit im tranzendentalen Verstände' unterschieden. Freiheit im praktischen Verstände als APF Für die Interpretation des Freiheitsbegriffs von M M ist es entscheidend, den Aufbau des Kapitels ,Von der Freiheit' zu berücksichtigen. Kant beginnt, wie gesagt, mit dem Begriff der ,Freiheit im praktischen Verstände' und dessen negativem und positivem Aspekt (MM, 896,17-33). Er stellt dann sofort die folgende Frage: „Woraus wissen wir, daß der Wille frei sei?" (MM, 896,33 u.H.).
57
Es gibt noch einen weiteren Beleg für diese Interpretation, auf den wir später eingehen.
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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Die Freiheit, nach der hier gefragt wird, ist ohne jeden Zweifel wieder die Freiheit,im praktischen Verstände'. Die Frage lautet also: ,woraus wissen wir, daß der Wille frei sei im praktischen Verstände', oder kürzer: daß der Wille 58
praktisch frei sei. Wenn Kant dann im nächsten Satz ohne nähere Qualifizierung wieder den Freiheitsbegriff verwendet, indem er fortfährt mit der ersten Antwort („Freiheit ist nicht eine Eigenschaft, die wir aus der Erfahrung erlernen", MM, 896,34), meint er also wieder die ,Freiheit im praktischen Verstände'. Auch der nächste Absatz und damit die zweite Antwort auf jene Frage handeln wieder von dieser .Freiheit im praktischen Verstände', obwohl einfach nur von ,Freiheit' gesprochen wird („Wir selbst sind uns auch unmittelbar der Freiheit nicht bewußt", MM, 897,9). Der Text ist also folgendermaßen aufgebaut: Kant bestimmt zunächst die Freiheit ,im praktischen Verstände' negativ als das ,Vermögen, unabhängig von den sinnlichen Anreitzungen zu wählen' und positiv als das Vermögen, nach .Begriffen des Guten und Bösen zu handeln' (MM, 896,17-33). Er fragt dann, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei ist im praktischen Verstände' (MM, 896,33-34). Die ersten beiden Antworten auf die Frage sind negativ: Wir wissen es weder ,aus der Erfahrung' (MM, 896,34-897,8) noch sind wir uns dieser Freiheit unmittelbar bewußt' (MM, 897,9-898,9). Die Antwort auf jene Frage lautet vielmehr: „Die Freiheit ist eine bloße Idee, und dieser Idee gemäß handeln, heißt frei sein im practischen Verstände. Die practische Nothwendigkeit ist objectiv und nicht subieectiv. Hier muß ich etwas tun; aber die Natur Nothwendigkeit durch stimulos sagt nur; es wird geschehen. Practisch nothwendig ist das, ohne welches unsre Handlungen nicht statt finden, nehmlich ohne Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Die Freiheit ist also practisch notwendig - der Mensch muß also nach einer Idee von Freiheit handeln, und anders kann er nicht. Das beweist aber noch nicht die Freiheit im theoretischen Verstand. Hierdurch fallen alle Schwierigkeiten und Wiedersprüche weg, welche der Begriff der Freiheit verursacht hat. Man mag die Freiheit im theoretischen Verstände beweisen oder auch wiederlegen, wie man will, genug, man wird doch immer nach Ideen der Freiheit handeln. Es geben viele Leute gewisse Sätze in der Speculation nicht zu, aber sie handeln doch darnach" (MM, 898).
Was dann folgt, sind wieder Anmerkungen zur praktischen Freiheit als Vermögen, an deren Ende, wie oben schon bemerkt, Kants verwirrender Hinweis steht, er habe ,,[s]o lange" (MM, 900,29) nur ,νοη der Freiheit im praktischen Verstände geredet', die von der Freiheit ,im transcendentalen Verstände' unterschieden sei.
58
Dieser Zusammenhang kann nicht bestritten werden. Kant führt den Freiheitsbegriff ,im practischen Verstände' ein und stellt dann noch im selben Absatz die besagte Frage.
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Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
Die eben zitierte Passage ist schwierig, aber auch außerordentlich aufschlußreich. Aus ihr geht nämlich eindeutig hervor, daß die Formulierung ,Freiheit im praktischen Verstände' auch in MM von Kant in ganz verschiedener Weise verwendet wird. Um das nachzuvollziehen, ist es, wie gesagt, sehr wichtig, den Aufbau und Kontext des Freiheitskapitels zu beachten. Wir sahen, daß Freiheit ,im praktischen Verstände' zunächst als das „Vermögen" (MM, 896,20, u.H.) eingeführt wird, unabhängig von Naturursachen und selbstbestimmt (moralisch) zu handeln. In dieser Perspektive ist Freiheit also eine Eigenschaft, die man der Willkür zuspricht. 59 Kant erklärt also zunächst, was ,Freiheit' als ,Vermögen' (genauer: Eigenschaft) im praktischen Verstände' ist und was er darunter versteht. Dann aber verläßt Kant in MM diese Perspektive und nimmt eine neue ein, indem er fragt: ,Woraus wissen wir, daß der Wille frei sei?' In dieser neuen Perspektive geht es nicht mehr primär darum, was praktische Freiheit, streng und anspruchsvoll definiert, ist, sondern darum, was wir über diese praktische Freiheit wissen können. Die Frage ist jetzt, wie wir sinnvoll über diese Freiheit reden können, und ob - und wenn ja: inwiefern - wir uns diese Freiheit zusprechen können. In der ersten Perspektive ging es darum, den Begriff der ,Freiheit im praktischen Verstände' als Vermögen' (genauer: als Eigenschaft eines Vermögens) zu bestimmen. Jetzt geht es darum, die Legitimität dieses Begriffs, oder genauer: unser Wissen um diese Freiheit zu erörtern. In diesem Kontext fallen die ersten beiden Antworten negativ aus. Daraus ergibt sich ein Problem. Denn wenn wir nicht ,aus der Erfahrung' wissen, daß ,der Wille frei sei', und wenn wir uns dessen auch nicht,unmittelbar bewußt' sind, dann stellt sich die Frage, was wir überhaupt über die Freiheit ,im praktischen Verstände' wissen können. Kants oben zitierte Antwort lautet: ,Die Freiheit ist eine bloße Idee, und dieser Idee gemäß handeln, heißt frei sein im practischen Verstände' (MM, 898). Das ist, zumindest terminologisch, eine merkwürdige Antwort. Wie schon bei den vorhergehenden negativen Antworten spricht Kant zunächst wieder ohne nähere Qualifizierung von der ,Freiheit' (,Die Freiheit ist eine bloße Idee ...'). Aber nun ist ja die Freiheit, von der am Anfang dieses Satzes gesprochen wird - dies wurde aus dem Zusammenhang des Kapitels deutlich - , die .Freiheit im praktischen Verstände'. Da diese Freiheit dann als ,Idee' bezeichnet wird, braucht man nur entsprechend umzuformulieren, um zu sehen, daß Kants Antwort folgendermaßen ausfällt:
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Vgl. M M , 898: „Freiheit ist b l o ß das Vermögen, nach dem arbitrio intellectual! zu handeln, und nicht das arbitrium selbst".
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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,Die Freiheit im praktischen Verstände ist eine bloße Idee, und dieser Freiheit im praktischen Verstände gemäß handeln, heißt frei sein im praktischen Verstände'.
Hätte ,Freiheit im praktischen Verstände' nur eine und dieselbe Bedeutung, so wären dieser Satz und damit die Antwort Kants auf die Frage, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei sei', ganz offenkundig unsinnig. Die Antwort selbst besteht in dem Hinweis darauf, daß praktische Freiheit ,bloß eine Idee' ist. Aber in diese Antwort eingebaut ist oder vielmehr wäre eine zirkuläre Bestimmung dessen, was es heißt, frei zu sein ,im praktischen Verstände', weil die gleiche Formulierung (,frei im praktischen Verstände') in der Antwort enthalten ist (wäre): Frei sein im praktischen Verstände bedeutet der Idee der praktischen Freiheit gemäß zu handeln. Unsere Grundthese lautet nun: Nur wenn die zuletzt benutzte Formulierung von der ,Freiheit im praktischen Verstände' (,... heißt frei sein im praktischen Verstände') eine andere Bedeutung hat als die als ,Idee' bezeichnete ,Freiheit im praktischen Verstände', ergibt Kants Antwort auf jene Frage einen nachvollziehbaren Sinn. Daß dies in der Tat der Fall ist, erhellt aber daraus, daß Kant über Freiheit aus verschiedenen Perspektiven spricht. Zunächst (MM, 896) präsentiert er innerhalb des Theoriekontextes (,was ist Freiheit?') einen anspruchsvollen Begriff der ,Freiheit im praktischen Verstände' (TPF). Die Formulierung ,im praktischen Verstände' zeigt dabei an, daß hier vom Willen die Rede ist (also nicht mehr von einem bloß kosmologisch orientierten Freiheitsbegriff). Danach wechselt Kant zu einem anderen Kontext, indem er fragt, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei sei'. Die Antwort ist, daß wir darüber nichts ,aus der Erfahrung' oder aus einem unmittelbaren Bewußtsein' wissen, und daß (folglich) ein theoretisch-spekulativer Freiheitsbeweis (etwa auch im Sinne der Thesis der dritten Antinomie) unmöglich ist - die ,Freiheit im praktischen Verstände' ist also eine ,bloße Idee'. Wir müssen aber so handeln, als ob wir praktisch frei seien. Dieses als-ob-Handeln nennt Kant ebenfalls .Freiheit im praktischen Verstände'. Die Formulierung ,im praktischen Verstände' zeigt dabei also nicht mehr an, daß hier vom Willen die Rede ist. Sie zeigt vielmehr an, daß es jetzt im Praxiskontext um einen theoretisch unbeweisbaren (und insofern anspruchsvollen), aber für die Praxis hinreichenden und insofern bescheidenen Freiheitsbegriff geht (bescheiden deshalb, weil er keine Antwort auf die Frage geben will, wie Freiheit möglich ist). Hat man erst diesen Argumentationszusammenhang und den Unterschied zwischen den verschiedenen Diskussionskontexten im Blick, dann spricht der Text selbst eigentlich eine deutliche Sprache. Löst man sich nämlich zunächst einmal von den terminologischen Schwierigkeiten bezüglich der Formulierung »Freiheit im praktischen Verstände', so ist der entscheidende Gedanke in MM, 898,10-24, klar erkennbar: Es gibt Handlungen, deren Bestimmungsgrund
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moralische Gesetze (,des Verstandes und der Vernunft') sind. Damit solche Handlungen überhaupt möglich sind, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein (etwas ist ,practisch nothwendig' für solche Handlungen). 60 Eine dieser Voraussetzungen, die in diesem Sinne ,practisch noth wendig' für moralische Handlungen ist, ist die praktische (!) Freiheit als das vorher im Text (MM, 896,17-33) bestimmte Vermögen, unabhängig von den sinnlichen Anreitzungen', ,nach Begriffen des Guten und Bösen zu handeln': ,Die Freiheit ist also practisch notwendig - der Mensch muß also nach einer Idee von Freiheit handeln, und anders kann er nicht'. Das heißt aber: Wir müssen so tun, als ob wir frei seien, weil wir sonst überhaupt gar nicht in ethisch relevanter Hinsicht handeln können. Ob wir wirklich frei sind, oder vielmehr: wie Freiheit möglich ist, ist eine ganz andere Frage. 61 Daß praktische Freiheit eine ,practisch notwendige', und wie man sagen könnte: in der Praxis zu machende Voraussetzung ist, ,beweist aber noch nicht die Freiheit im theoretischen Verstände'. Die Wendung ,im theoretischen Verstände' bedeutet also soviel wie: ,in theoretischer Hinsicht', ,in theoretischer Perspektive'. Kants Behauptung besteht dann darin, daß ,in theoretischer Hinsicht' - also mit Blick auf unser (theoretisches) Wissen von der Realität der Freiheit durch die in der Praxis notwendig zu machende Voraussetzung der Freiheit noch gar nichts gewonnen ist, und daß dies auch nicht schadet - für die Praxis reicht der als-ob-Begriff der Freiheit (APF) aus. Daher schreibt er an jener Stelle (MM, 898): ,Man mag die Freiheit im theoretischen Verstände beweisen oder auch widerlegen, wie man will, genug, man wird doch immer nach Ideen der Freiheit handeln. Es geben viele Leute gewisse Sätze in der Speculation nicht zu, aber sie handeln doch darnach'. 62 Auch eine Bemerkung am Ende des Psychologiekapitels macht deutlich, was Kant im Sinn hat. Dort schreibt er: „Die Freiheit im speculativen Verstände können wir nicht begreifen. Sie ist ein practisches Postulat." (MM, 918)
60
Man beachte aber, daß an dieser Stelle (MM, 898,10-24) mit dem Begriff der .praktischen Notwendigkeit' zwei Bedeutungen verbunden sind: Zum einen ist .praktisch notwendig' einfach das, was ich tun ,muß', also das moralisch (,objectiv') Gebotene; zum anderen ist praktisch notwendig' das, was als Voraussetzung gegeben bzw. angenommen werden muß, damit solche Handlungen überhaupt möglich sind. 61 Wenn Kant in MLi und auch noch in der GMS von der Freiheit im als-ob-Modus spricht, dann ist damit nicht impliziert, daß er für die Realität der Freiheit keine Argumente hätte (tatsächlich findet man entsprechende Argumente in MLi, 268 f., und GMS, 448. Seine Bescheidenheit beschränkt sich darauf, (nicht) zu erklären, wie Freiheit möglich ist. 62 Vgl. auch folgende Reflexionen: „Wir können nicht beweisen, daß wir frey sind (physice); aber wir können doch nur unter der Idee der Freiheit handeln (practice)" (R 1021); „Die Freyheit ist (ein) practisch nothwendiger Grundbegriff" (R 3859); „Es ist ein anderes zu speculiren und practisch zu denken; ienes zum erklären, dieses zum handeln" (R 4223).
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Kant hätte hier auch schreiben können, daß wir 70die ,Freiheit im praktischen Verstände nicht begreifen können'. Denn die ,Freiheit im praktischen Verstände' ist ja innerhalb des Theoriekontextes als TPF definiert und damit als ,bloße Idee', die theoretisch unbeweisbar ist; es ist diese Freiheit (TPF), die wir ,nicht begreifen können'. Aber im obigen Zitat benutzt Kant die Formulierung ,im speculativen Verstände' nicht zur Charakterisierung der transzendental-praktischen Freiheit selbst, sondern zur Charakterisierung der Perspektive, aus der er über diese Freiheit spricht. Man muß die Termini nur ein wenig umstellen, um zu sehen, wie das zu verstehen ist: ,Die Freiheit können wir im speculativen Verstände (also im spekulativen Sinne) nicht begreifen. Sie ist ein practisches Postulat.'
Da mit der ,Freiheit' die transzendental-praktische Freiheit (TPF) gemeint ist, kann man also auch sagen: ,Die transzendental-praktische Freiheit (TPF) können wir im speculativen Verstände (also im spekulativen Sinne) nicht begreifen. Sie ist ein practisches Postulat'.
Die transzendental-praktische Freiheit heißt zu Beginn von Kants Erörterungen ,Freiheit im praktischen Verstände' (MM, 896). Die Schwierigkeit besteht darin, daß Kant diese Freiheit, sofern sie in ihrer Eigenschaft als .praktisches Postulat' betrachtet wird, ebenfalls ,Freiheit im praktischen Verstände' nennt. Die auf den ersten Blick bloß Verwirrung stiftende Antwort Kants auf die Frage, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei sei', muß also folgendermaßen gelesen werden (MM,898): .Die Freiheit im praktischen Verstände (Theoriekontext: TPF) ist eine bloße Idee, und dieser Freiheit im praktischen Verstände (Theoriekontext: TPF) gemäß handeln, heißt frei sein im praktischen Verstände (Praxiskontext: APF).'
Ζ 15 Ohne den Unterschied zwischen Theoriekontext (was ist Freiheit?) und Praxiskontext (was können wir über Freiheit wissen?) wären Kants Ausfiihrungen über Freiheit in MM verworren. TL 16 Innerhalb des Praxiskontextes besitzt Kant auch in MM einen ,praktisch hinreichenden' Begriff von Freiheit im Sinne von APF: Wir müssen so handeln, als ob wir praktisch frei seien. Die Freiheit, im praktischen Verstände' ist innerhalb des Theoriekontextes eine bloße Idee (TPF). Dieser Freiheit gemäß zu handeln heißt innerhalb des Praxiskontextes ebenfalls frei zu sein ,im praktischen Verstände' (APF).
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Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
Die Abgrenzung von praktischer und transzendentaler Freiheit Kommen wir nun noch einmal auf das oben schon angedeutete Problem zurück. Es besteht darin, daß Kant den praktischen Freiheitsbegriff zunächst als TPF charakterisiert (MM, 896), später aber diese (transzendentalpraktische) ,Freiheit im praktischen Verstände' von der ,Freiheit im transzendentalen Verstände' noch einmal abgrenzt (MM, 900). Wie gesagt: Nicht nur die Einführung des praktischen Freiheitsbegriffs zu Beginn des Kapitels ,Über die Freiheit' zeigt, daß Kant mit ,Freiheit im praktischen Verstände' tatsächlich TPF meint; wie wir schon sahen, unterstützt auch eine spätere Stelle im Text (MM, 902 f.) diese Lesart. Aber auch die Diskussion von APF bekräftigt diese Interpretation. Nach der einleitenden Fragestellung (,Woraus wissen wir, daß der Wille frei sei?', MM, 896,33) ist einfach nur von der ,Freiheit' die Rede. 63 Der Freiheitsbegriff, um den es hier geht, ist der Begriff der ,Freiheit im praktischen Verstände' vom Anfang des Kapitels (mit seinem negativen und positiven Aspekt). Deshalb sind aber auch die .Schwierigkeiten und Widersprüche' (MM, 898,19), die der ,Begriff der Freiheit verursacht hat' (MM, 898,20), - Kant bezieht sich hier unter anderem auf die dritte Antinomie - Schwierigkeiten und Widersprüche', die der ,Begriff der praktischen Freiheit verursacht hat'. Damit haben wir aber einen dritten Beleg für die These, daß der praktische Freiheitsbegriff, so wie er zu Beginn des Freiheitskapitels von M M bestimmt wird (also der Freiheitsbegriff im Theoriekontext), tatsächlich transzendentalen Charakter haben muß, also eigentlich TPF bedeutet. Nicht nur wird diese praktische Freiheit eine ,Idee' genannt und das ,Vermögen', nach Begriffen des Guten und Bösen zu handeln'; dieser Begriff der praktischen Freiheit verursacht genau die Schwierigkeiten und Widersprüche', welche TPF hervorruft. Da Kant also in M M 896,17-898,9 mit der ,Freiheit im praktischen Verstände' TPF meint, gibt es eigentlich keinen Grund, diese Freiheit noch einmal von der ,Freiheit im transzendentalen Verstände' abzugrenzen. Die besagte Stelle lautet: „So lange haben wir von der Freiheit im practischen Verstände geredet. Die Freiheit aber im transcendentalen Verstände ist ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen unabhängig von allen entfernten oder Natur Ursachen. Hier ist wieder eine Antinomie? 641 der Vernunft. Denn ich mag dies oder das Gegentheil annehmen, so verliere ich mich in Widersprüche. Die Sinnlichkeit ist durch Obiecte bestimmt; diese durch Gesetze der Natur und diese durch Gott. Daher bestimmt Gott unsere Sinnlichkeit und wir sind nicht transcendentaliter frei. Nehmen wir aber an, daß alles bloß nach Nothwendigkeit geschehe, so kommen wir nie zum ersten, und dann können wir auch fragen, wodurch ist
63
Vgl. MM 896,34; 897,9; 897,34; 898,10; 898,16; 898,17; 898,20; 898,23. Lehmann ediert in der Α Α fälschlicherweise .Autonomie' statt Ameriks/Naragon (1997, S.267).
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.Antinomie';
vgl.
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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Gott bestimmt. Alle diese speculative Betrachtungen der Widersprüche schaden aber nicht dem practischen Begriff der Freiheit. Denn dieser sieht nicht, wie etwas geschieht, sondern daß es geschehen soll, und sollen setzt Freiheit voraus." (MM, 900 f., u.H.)
Wir stehen also vor dem Problem, daß Kant an dieser Stelle den transzendentalen Freiheitsbegriff vom praktischen Freiheitsbegriff abzugrenzen scheint, obwohl doch dieser praktische Freiheitsbegriff selbst ein transzendental-praktischer Freiheitsbegriff ist (TPF). Aber die Lösung des Problems liegt jetzt auf der Hand. Denn Kant benutzt die Formulierung Freiheit im praktischen Verstände' nicht nur für die Bezeichnung von TPF. Er benutzt sie auch, um sich auf APF zu beziehen. Die Frage ist dann, auf welche Verwendungsweise er überhaupt Bezug nimmt, wenn er schreibt, daß er ,so lange von der Freiheit im praktischen Verstände geredet' habe, die ,Freiheit im transcendentalen Verstände aber' etwas anderes sei. Wenn er TPF meint, haben wir das besagte Problem. Wenn er aber APF meint, ist das Problem gelöst. Machen wir zunächst einen Hinweis. Genau wie in der Kritik der reinen Vernunft wird auch in MM der Freiheitsbegriff erstmals im Rahmen der kosmologischen Überlegungen relevant („De Cosmologia", MM, 848 ff.). Auch die Bestimmung des transzendentalen Freiheitsbegriffs ist die gleiche: „Freiheit ist das Vermögen, eine Reihe von Zuständen selbst anzufangen. Ist etwas Wirkung der Natur, so ist es schon Fortsetzung der Reihe von Zuständen; ists Wirkung der Freiheit, so ists ein neuer Zustand: das ist der Transcendentale Begriff von Freiheit [...] z.E. wenn ich etwas nach der Anleitung meines Verstandes thue, so ist dieses, sofern es aus dem Verstand entspringt, Freyheit" (MM, 861 f.). Transzendentale Freiheit ist also, wie gehabt, die Freiheit der Vernunft, „ex spontaneitate" (MM, 862) Handlungen hervorbringen zu können. Dieser transzendentale Freiheitsbegriff, so Kant, führt zu Widersprüchen, zu einer ,Antinomie'. 65 Dann aber heißt es, daß diese Widersprüche und die
65
Und wie in der KrV schreibt Kant auch hier, daß mit dieser transzendentalen Freiheit eine .Antinomie der Vernunft' einhergeht. Allerdings wird an dieser Stelle nicht ganz klar, worin diese .Antinomie' besteht. Kant schreibt: ,Denn ich mag dies oder das Gegentheil annehmen, so verliere ich mich in Widersprüche' (MM, 900,33). Aber worauf bezieht sich .dies' und worauf ,das Gegentheil'? Inhaltlich scheint es sich nur auf die .Freiheit im transzendentalen Verstände' beziehen zu können, also auf die .Unabhängigkeit von allen entfernten oder Natur Ursachen'; .das Gegentheil' dieser Freiheit wäre dann entsprechend die .Abhängigkeit von allen entfernten oder Natur Ursachen'. Demnach könnte man also meinen, es ginge um den Widerspruch von Freiheit und Natur (das wäre die klassische .Antinomie'). Nachdem Kant behauptet hat, daß es hier .wieder eine Antinomie' gibt, fährt er offenkundig fort mit der Erläuterung dieser Antinomie (.Denn ... Widersprüche. Die Sinnlichkeit ...'). Allerdings ist dann in dieser Erläuterung die klassische Antinomie zwischen Freiheit und Natur überhaupt nicht thematisch. Was hier gegenübergestellt wird (.Nehmen wir aber an ...'), ist die Bestimmung durch Gott und die Bestimmung
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Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
damit verbundenen spekulativen Betrachtungen dem praktischen Begriff der Freiheit ,nicht schaden'. Und Kant fährt fort: ,Denn dieser sieht nicht, wie etwas geschieht, sondern daß es geschehen soll, und sollen setzt Freiheit voraus'. ,Dieser' Freiheitsbegriff ist die ,Freiheit im practischen Verstände'. Die Antinomie schadet also dem praktischen Freiheitsbegriff deshalb nicht, weil (,Denn') dieser Begriff ohnehin bescheiden ist. Der praktische Freiheitsbegriff - und zwar der praktische Freiheitsbegriff im Sinne von APF - bescheidet sich nämlich damit, so zu tun, als ob wir frei seien, einfach deshalb, weil das moralische Sollen Freiheit voraussetzt. Die Frage, ,w/e' diese Freiheit möglich ist, ist - genau wie in MLi - eine andere Frage, die nur die ,Freiheit im transzendentalen Verstände' berührt. Diese These - daß die ,speculativen Betrachtungen der Widersprüche' dem praktischen Freiheitsbegriff nicht ,schaden' - war aber genau die These, die Kant bei der Einführung von APF in MM, 898,10-24, aufgestellt hatte (als Antwort auf die Frage, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei sei'). Auch dort argumentiert Kant so: Der Begriff von TPF ist theoretisch unbeweisbar, und er führt zu massiven Schwierigkeiten. Darum müssen wir uns auf einen bloß praktischen Freiheitsbegriff beschränken (APF): ,Hierdurch fallen alle Schwierigkeiten und Wiedersprüche weg, welche der Begriff der Freiheit verursacht hat.' Die moralischen Gesetze sagen: ,Hier muß ich etwas tun'. Deshalb ist die Freiheit ,practisch nothwendig - der Mensch muß also nach einer Idee von Freiheit handeln, und anders kann er nicht.' In MM, 901, schreibt Kant entsprechend: ,sollen setzt Freiheit voraus'. Wenn Kant in MM, 900, behauptet, er habe ,so lange' nur von der praktischen Freiheit geredet, von der er die transzendentale Freiheit abgrenzt, dann bezieht er sich dabei also auf die ,Freiheit im praktischen Verstände' im Sinne von APF. Es stimmt zwar nicht, daß er ,so
durch (Natur-)Notwendigkeit. Demnach könnte man das ,dies' auf die ,Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von den entfernten Ursachen' und ,das GegentheiF auf die .Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von den Naturursachen' beziehen. Dann aber bleibt unklar, warum Kant von einem ,Gegentheil' spricht. - Auffällig ist jedenfalls, daß die transzendentale Freiheit im ersteren Falle in dem Vermögen besteht, ,sich selbst zu bestimmen' (positiver Aspekt) und zwar ,unabhängig von Gott' (negativer Aspekt). Als .entferntere' Ursache wird Gott deshalb bezeichnet, weil er die menschlichen Handlungen nur mittelbar bestimmt (sc. vermittelst der naturgesetzlich bestimmten Objekte der Natur, welche die menschliche Sinnlichkeit bestimmen). Im zweiten Fall besteht die transzendentale Freiheit, positiv verstanden, ebenfalls in dem Vermögen, ,sich selbst zu bestimmen'; der negative Bestimmungsaspekt des transzendentalen Freiheitsbegriffes besteht aber darin, ,unabhängig' von der ,Nothwendigkeit' zu sein (womit klarerweise die Naturnotwendigkeit gemeint ist). Die .Widersprüche' oder besser: Schwierigkeiten bestehen also darin, daß sich transzendentale Freiheit nicht ohne weiteres mit der Existenz Gottes vereinbaren läßt noch mit der Naturnotwendigkeit. Es ist höchst interessant, daß Kant transzendentale Freiheit noch nach der KrV (nämlich in MM) als Unabhängigkeit von Gott versteht, wie er es vor der KrV noch in MLi getan hatte (dort wurde, wie gezeigt, transzendentale Freiheit sogar vornehmlich als diese Unabhängigkeit interpretiert). - Auch in der Problempassage (A801/B829-A804/B832) ist ja, wie gesagt, von .entfernteren Ursachen' die Rede.
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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lange' nur von A P F gesprochen hat (das Kapitel beginnt ja mit einer kurzen Bestimmung von TPF). Aber im wesentlichen ging es um die Frage, ,woraus wir wissen, daß der Wille frei sei' (MM, 896,33). Und diese Frage wurde mit dem Begriff von A P F beantwortet. Auf die spätere Passage, in der Kant Freiheit als ,practisches Postulat' bezeichnet, hatten wir schon hingewiesen (MM, 918). Es gibt noch eine weitere Stelle, die unsere Grundthese von der doppelten Bedeutung von ,Freiheit im praktischen Verstände' stützt. A m Ende des Abschnittes ,Von Gleichgültigkeit und Gleichgewicht' kommt Kant erneut auf die besagten .Widersprüche' zurück. Wieder argumentiert er für die Legitimität des praktischen Freiheitsbegriffs: „Alle diese Streitigkeiten über den transcendentalen Begriff der Freiheit haben auf das Practische keinen Einfluß. Denn da sehe ich nicht auf die oberste Ursache, sondern auf den letzten Zweck" (MM, 903, u.H.). Insgesamt finden wir in M M also drei Überlegungen für die These, daß ,der Mensch nach einer Idee von Freiheit handeln muß': 1. Ohne diese Voraussetzung kann es so etwas wie moralische Handlungen gar nicht geben; das widerspräche unserer tatsächlichen Praxis (MM, 898,1024). 2. Der praktische Freiheitsbegriff,sieht nicht, wie etwas geschieht, sondern daß es geschehen soll, und sollen setzt Freiheit voraus' (MM, 901,1-4). 3. Im praktischen' geht es nicht um ,die oberste Ursache, sondern um den letzten Zweck' (MM, 903,26-29). Ζ 17 Die in MM zunächst problematisch erscheinende Abgrenzung der praktischen von der transzendentalen Freiheit läßt sich im Lichte der Unterscheidung von Theorie- und Praxiskontext nachvollziehen: Bei dieser Abgrenzung bezieht Kant sich mit der Formulierung ,Freiheit im praktischen Verstände' auf APF. Wir können jetzt unsere Beobachtungen zu M M zusammenfassen. Kant beginnt mit der ,Freiheit im praktischen Verstände'; damit ist die transzendental-praktische Freiheit gemeint (TPF). 66 Genau diese Freiheit nennt Kant aber auch .Freiheit im transzendentalen Verstände'. Innerhalb des Theoriekontextes gibt es also letztlich keine Differenz zwischen der Freiheit ,im praktischen Verstände' und der Freiheit ,im theoretischen Verstände'.
66
Dies gilt allerdings mit der Einschränkung, daß im Unterschied zur Dialektik der KrV, in der, so scheint es, auch Handlungen nach der Vorstellung hypothetischer Imperative als transzendental freie Handlungen begriffen werden können, in MM solche Handlungen nach der Vorstellung hypothetischer Imperative (eindeutig) nicht mit dem Freiheitsprädikat belegt werden.
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Andererseits beziehen sich die Ausdrücke ,Freiheit im praktischen Verstände' und ,Freiheit im theoretischen Verstände' nicht auf die Freiheit selbst und deren Merkmale, sondern auf den Kontext, in dem wir über diese Freiheit reden. 67 Kant macht nicht nur nicht klar, in welchem Sinne er die besagten Ausdrücke gerade verwendet. Er wechselt so übergangslos zwischen den beiden Kontexten, daß man selbst im Wissen um diese beiden verschiedenen Kontexte zumindest an einer Stelle (MM, 900) nur mit Mühe zu entscheiden vermag, in welchem Kontext die Rede gerade steht. Also: Die Freiheit zu nichtdeterminierten, spontanen Handlungen nennt Kant sowohl ,Freiheit im praktischen Verstände' als auch ,Freiheit im transzendentalen Verstände'. Der Grund dafür liegt darin, daß der allgemeine transzendentale Freiheitsbegriff auf die Willkür angewendet wird (TPF). Im Kontext der Frage, ,woraus wir wissen, daß wir über TPF verfügen' (also im Praxiskontext), unterscheidet Kant zwischen Freiheit im praktischen' und Freiheit im theoretischen' oder auch transzendentalen' Verstände. Im Praxiskontext meint Kant mit ,Freiheit im praktischen Verstände' das Handeln, als ob wir transzendental-praktisch frei wären. Er bezieht sich zwar eigentlich auf TPF. Aber um die .Schwierigkeiten und Widersprüche' dieses Freiheitsbegriffs im Theoriekontext zu vermeiden (um also die Probleme der ,Freiheit im theoretischen Verstände' zu vermeiden, womit dann nicht TPF gemeint ist, sondern die Art und Weise, nach TPF zu fragen), beschränkt sich Kant auf einen theoretisch unbeweisbaren, aber ,praktisch notwendigen' Freiheitsbegriff. Er beschränkt sich auf den Begriff der ,Freiheit im praktischen Verstände', der aber nicht mit TPF selbst zu verwechseln ist (diese Freiheit heißt ja auch ,Freiheit im praktischen Verstände'). Es ist offenkundig, daß die Wurzeln zu all dem noch in den siebziger Jahren (MLj) zu suchen sind. Kawamura hat in seiner Arbeit (1996) eine entwicklungsgeschichtliche Studie zum Freiheitsbegriff in Kants Antinomielehre und seinen historischen Wurzeln vorgelegt. So argumentiert er u.a., daß Kant in Nova dilucidatio noch an den Wolffschen Freiheitsbegriff anknüpfe. Problematisch werde dann für Kant die Verträglichkeit zwischen der absoluten Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund und der menschlichen Freiheit. Gelöst werde dieses Problem durch die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, und in diesem Kontext entwickele Kant dann auch seinen Begriff der transzendentalen Freiheit (der in der Tat eine Neuschöpfung Kants darstellt). Bei der Herausbildung dieses Freiheitsbegriffs sei Kant durch folgende Faktoren beeinflußt worden: Erstens durch die wirkmächtige Kontroverse zwischen
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Deshalb kann Kant auch an einer Stelle einfach auf ,das Practische' (MM 903,28) Bezug nehmen, obwohl innerhalb des betreffenden Satzes dieser Begriff vom .transcendentalen Begriff der Freiheit' abgegrenzt wird und nicht vom .Transcendentalen'.
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Wolff und J. Lange über Freiheit und Fatalität (dieser Streit gipfelte in der Vertreibung Wolffs aus Halle). Der Pietist Lange warf Wolff Fatalismus bzw. Spinozismus vor. In Wolffs Philosophie sei die Welt nichts als ein unendlicher Ablauf von vorherbestimmten Ursachen, in der weder Gott noch menschliche Freiheit einen sinnvollen Platz hätten. In dieser vermeintlichen Position Wolffs sieht Kawamura ein „Muster der Antithesis der dritten Antinomie" (S.27); dagegen enthalte Wolffs Selbstverständnis Gott ist die schlechthin erste und freie Ursache der Weltbegebenheiten - „bereits einen Kerngedanken des Thesisargumentes" (S.28). Zweitens habe, so Kawamura, die Lehre Baumgartens und Meiers von der Unmöglichkeit eines unbegrenzten Rückgangs ins Unendliche Kants Freiheitstheorie beeinflußt (Kant hat bekanntlich Baumgartens Metaphysik seinen eigenen Vorlesungen zugrundegelegt). Baumgarten verstehe Gott als ,ens extramundanum', das das Vermögen habe, einen ersten Zustand der Welt von selbst anzufangen; mit Blick auf die Antinomie sei auffällig, daß Baumgartens Schüler Meier weder die Endlichkeit noch die Unendlichkeit des Weltablaufs für hinreichend beweisbar halte. Die Kontroverse zwischen Wolff und Lange sowie Baumgartens These seien maßgeblich gewesen für Kants Übertragung des Freiheitsproblems aus der Psychologie in die Kosmologie. Mitbestimmend sei, drittens, auch Ch. A. Crusius Ablehnung der unbeschränkten Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde; in seinem Begriff der ,tätigen Grundkraft' sieht Kawamura „ein Muster der transzendentalen Freiheit" (S.30). Und schließlich sei, viertens, auch der Freiheitsbegriff J.G.H. Feders nicht ohne Einfluß geblieben: Auch er lehnt die unbeschränkte Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde ab und plädiert dagegen für einen Freiheitsbegriff im Sinne absoluter Spontaneität. Feders metaphysischer Freiheitsbegriff - den er von einem psychologischen unterscheidet - sei ebenfalls als „Muster für die Freiheit im kosmologischen Sinne bei Kant zu verstehen" (S.30). - Diese historischen Ausführungen Kawamuras sind ohne Zweifel interessant und quellenreich. Sie leiden allerdings unter einem ganz entscheidenden Mangel, der dann auch für die eigentliche Analyse von Kants Freiheitstheorie zum Verhängnis wird: Kawamura interpretiert nicht; er läßt sich nie auf wirklich genaue und detaillierte Textinterpretationen ein. Kawamura reiht einfach nur ein Zitat an das andere und setzt dabei voraus, daß sich die Texte mehr oder weniger von selbst verstehen und nur in den richtigen Zusammenhang gebracht werden müssen. Aber es reicht nicht aus, zu wissen, wo man wichtige Textstellen findet; man muß auch etwas mit ihnen anfangen können. (Auf Kawamuras Antwort auf das Kanonproblem kommen wir zurück.)
3.3 Schulz-Rezension Nun könnte man einwenden, daß diese verwirrende Begriffsverwendung nur in Vorlesungsmitschriften wie MLi und MM zu finden sei (und vielleicht auf die Schreiber zurückzuführen sei). Tatsächlich aber findet man sie auch in der
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1783 veröffentlichten Recension von Schulz's Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (RS). Kant b e s c h ä f t i g t sich in dieser kleinen Schrift v o r n e h m l i c h mit S c h u l z ' T h e o r i e der Willensfreiheit. D i e Q u i n t e s s e n z dieser T h e o r i e formuliert K a n t so: „Es gibt also keinen freien Willen" (RS, 11). Sein „Urtheil ü b e r das G a n z e " (RS, 10) fällt f o l g e n d e r m a ß e n aus: „Gleichwohl wird jeder unbefangene und vornehmlich in dieser Art von Speculation genugsam geübte Leser nicht unbemerkt lassen: daß der allgemeine Fatalism, der in diesem Werk das vornehmste, alle Moral afficirende, gewaltsame Princip ist, da er alles menschliche Thun und Lassen in bloßes Marionettenspiel verwandelt, den Begriff von Verbindlichkeit gänzlich aufhebe, daß dagegen das Sollen oder der Imperativ, der das praktische Gesetz vom Naturgesetz unterscheidet, uns auch in der Idee gänzlich außerhalb der Naturkette setze, indem er, ohne unseren Willen als frei zu denken, unmöglich und ungereimt ist, vielmehr uns alsdann nichts übrig bleibt, als abzuwarten und zu beobachten, was Gott vermittelst der Naturursachen in uns für Entschließungen wirken werde, nicht aber was wir von selbst als Urheber thun können und sollen; woraus denn die gröbste Schwärmerei entspringen muß, die allen Einfluß der gesunden Vernunft aufhebt, deren Rechte gleichwohl der Herr Verf. aufrecht zu erhalten bemüht gewesen. - Der praktische Begriff der Freiheit hat in der That mit dem speculativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu thun. Denn woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun zu thun habe, und da ist die Freiheit eine nothwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann. Selbst der hartnäckigste Sceptiker gesteht, daß, wenn es zum Handeln kommt, alle sophistische Bedenklichkeiten wegen eines allgemeintäuschenden Scheins wegfallen müssen. Eben so muß der entschlossenste Fatalist, der es ist, so lange er sich der bloßen Speculation ergibt, dennoch, so bald es ihm um Weisheit und Pflicht zu thun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor und kann sie auch allein hervorbringen. Es ist schwer, den Menschen ganz abzulegen" (RS, 13). B e t r a c h t e n wir das Zitat zunächst bis z u m G e d a n k e n s t r i c h . K a n t kritisiert eindeutig den Fatalismus u n d b e h a u p t e t (wie in der Dialektik), d a ß moralische S o l l e n s g e b o t e o h n e die V o r a u s s e t z u n g der W i l l e n s f r e i h e i t u n m ö g l i c h u n d u n g e r e i m t ' sind. Freiheit wird dabei negativ verstanden als die U n a b h ä n g i g k e i t von der von Gott verursachten Naturkausalität, positiv als das V e r m ö g e n , ,νοη selbst' h a n d e l n zu k ö n n e n . Freiheit ist d a h e r eine ,Idee'. E s handelt sich bei dieser Freiheit also eindeutig u m T P F . A b e r worauf bezieht sich Kant mit der T h e s e nach d e m G e d a n k e n s t r i c h , d a ß der spekulative' mit d e m praktischen' Freiheitsbegriff ,gar nichts zu tun' h a b e ? W e l c h e r Freiheitsbegriff war d e n n vor d e m G e d a n k e n s t r i c h ü b e r h a u p t t h e m a t i s c h ? M a n k ö n n t e meinen, vor d e m G e d a n k e n s t r i c h w ä r e von e i n e m
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Freiheitsbegriff die Rede gewesen, der jetzt, nach dem Gedankenstrich, von einem anderen Freiheitsbegriff unterschieden würde und mit diesem ,gar nichts zu tun' hätte. Das ist nicht ganz verkehrt, aber sehr irreführend. Denn in einem bestimmten Sinne - im Sinne nämlich des Theoriekontextes - ist vor und nach dem Gedankenstrich nur ein einziger Freiheitsbegriff thematisch, und das ist TPF. Denn von der Freiheit wird ja auch nach dem Gedankenstrich - genau wie vor dem Gedankenstrich - gesagt, sie sei bloß eine ,Idee'; 68 genau wie vor dem Gedankenstrich besteht die Grundthese auch jetzt darin, daß man allein unter der Voraussetzung der Freiheit die ,Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann'. Die Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist die transzendental-praktische Freiheit, die bloß eine ,Idee' ist und die wir nur voraussetzen', so ,als ob' wir frei wären. Das heißt: Auch in der SchulzRezension gibt es im Theoriekontext überhaupt keinen Unterschied zwischen transzendentaler (spekulativer) und praktischer Freiheit, insofern die Freiheit im Theoriekontext ja als TPF verstanden wird. Genau wie vor dem Gedankenstrich heißt es ja auch danach, daß es „ohne [die Freiheit des Willens] keine Sitten giebt" (RS, 14). Aber Kants Unterscheidung des praktischen' Freiheitsbegriffs vom spekulativen' ist verwirrend. Die Freiheit, die tatsächlich und das heißt: an sich vorausgesetzt wird und ohne die der kategorische Imperativ ,unmöglich und ungereimt' ist, ist die transzendental-praktische Freiheit (TPF). Diese Freiheit nennt Kant in der Dialektik der KrV praktische Freiheit'. Obwohl nun der praktische Begriff der Freiheit' in der Schulz-Rezension an sich (im Theoriekontext) genau dieser Freiheitsbegriff ist (also TPF), ist die Verwendung dieses Terminus (praktischer Begriff der Freiheit') eine ganz andere: Der praktische Begriff der Freiheit' heißt in der Schulz-Rezension nicht deswegen praktisch', weil es um die transzendental-praktische Freiheit der Willkür geht; er heißt praktisch', weil in der Perspektive des Praxiskontextes ,die Freiheit (sc. TPF) eine nothwendige praktische Voraussetzung' ist. ,Spekulativ' wird der Freiheitsbegriff im Praxiskontext durch die Behauptung, man könne wissen, ,woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei'. In diesem Sinne besteht die Speculation' von Schulz darin, über dieses ,woher' etwas zu behaupten (sc. dieses, daß Gott der Ursprung aller menschlichen Handlungen sei und diese daher unfrei). 69 Was also auf den ersten Blick wie ein grober Widerspruch aussieht, erweist sich im Lichte der Differenz von Theorie- und Praxiskontext als
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RS: Seite 13, Zeilen 12, 25 und 31. Kant spricht auch von der „Kühnheit seiner [sc. Schulz'] speculativen Behauptungen" (RS 12, 33).
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verträglich. Vor dem Gedankenstrich behauptet Kant, ,ohne unseren Willen als frei zu denken', sei der kategorische Imperativ ,unmöglich und ungereimt'. Nach dem Gedankenstrich scheint Kant dieser Aussage radikal zu widersprechen, wenn er schreibt, es sei ,ganz gleichgültig, woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich handeln soll, gekommen sei'. Aber Kant behauptet damit nicht, es sei gleichgültig, ob der menschliche Wille frei ist. Wenn er wirklich nicht frei ist, dann verliert der kategorische Imperativ in der Tat jeden Sinn. Aber wir wissen nicht, ob wir frei sind und vor allem: wie diese Freiheit möglich ist, und alle Schwierigkeiten, die sich in der spekulativen Perspektive bei der Beantwortung dieser Frage ergeben, sind irrelevant, weil wir, so oder so, annehmen müssen, daß wir frei sind. TPF ist also im Praxiskontext eine praktische Voraussetzung' - der Mensch muß jederzeit so handeln, als ob er frei wäre' (d.h. als ob wir wüßten, daß wir frei sind). Nur in diesem Praxiskontext ist der praktische' Begriff der transzendentalpraktischen Freiheit von dem spekulativen' (theoretischen, transzendentalen) Begriff der transzendentalpraktischen Freiheit zu unterscheiden. Das Attribut praktisch' ist also auch hier kein Attribut der Freiheit selbst, sondern des Kontextes, in dem wir über diese Freiheit reden. Wie in M M besteht auch hier die Grundüberlegung darin, daß moralische Gesetze nur dann ,gültig' sein können, wenn man transzendental-praktische Freiheit voraussetzt. Wenn nun wiederum vorausgesetzt wird, daß moralische Gesetze gültig sind; und wenn das handelnde Subjekt kein angemessenes Selbstverständnis ohne die Möglichkeit zum moralischen Handeln gewinnen kann; dann kann es auch nicht anders handeln, denn so, ,als ob' es wirklich frei sei. Das eigentliche Argument, weshalb wir so handeln müssen, ,als ob wir frei wären', ist damit allerdings noch gar nicht angeführt. Es folgt ein wenig später im Text. „Er [der Fatalist] hat aber im Grunde seiner Seele, obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte, voraus gesetzt: daß der Verstand nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin nahm er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft giebt. Eben so muß er auch Freiheit des Willens im Handeln voraus setzen, ohne welche es keine Sitten giebt, wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenem Lebenswandel den ewigen Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instincte und Neigungen sein will" (RS, 14).
Es ist hier nicht möglich, den gesamten Hintergrund und die volle Tragweite dieses Argumentes zu berücksichtigen; wie wir gleich sehen werden, spielt es
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in abgewandelter Form auch in der GMS eine herausragende Rolle. 70 Zunächst ist klar, daß Kant hier noch betont, daß es ohne die ,Freiheit des Willens keine Sitten gibt'. Aber die Gründe, weshalb wir eine solche Freiheit ,voraus setzen' müssen, sind im strikten (Kantischen) Sinne keine theoretischen Gründe; es sind keine spekulativen Gründe ,im theoretischen Verstände'. Deshalb und in diesem Sinne hat der spekulative' Freiheitsbegriff mit dem praktischen' Freiheitsbegriff ,gar nichts zu tun' (obwohl der spekulative Freiheitsbegriff mit dem praktischen im Theoriekontext im Prinzip identisch ist). Das Argument hat in etwa folgende Form: Die ,Freiheit zu denken' ist eine Voraussetzung des Denkens selbst, ohne die Denken nicht möglich ist. Denn zu denken bedeutet, aufgrund ,objektiver Gründe' zu bestimmten Überzeugungen (,Urteilen') zu kommen, und nicht bloß aufgrund ,bloß subjektiv bestimmender Ursachen'. Wer denkt, erhebt Wahrheitsansprüche, die man mit guten Gründen einlösen können muß, also Gründe, zu denen man in einem freien Verhältnis steht, indem man sie aufgrund vernünftiger Überlegungen als Gründe akzeptiert oder verwirft. Wer, wie etwa ein physikalischer oder psychologischer Determinist, die ,Freiheit des Denkens' für eine Täuschung hält, wird genau für diese, seine These Gründe anführen; und dieses ,Anführen von Gründen' und der rationale Einsatz dafür, daß diese Gründe überzeugend sein können, nicht bloß überredend, ist eine Voraussetzung, die auch der Determinist machen muß. Der Determinist setzt also das voraus, was er bestreitet: die ,Freiheit zu denken'. 71 Den Übergang zur ,Freiheit des Willens' vollzieht Kant in diesem Text durch ein ,ebenso'. Aber die dadurch suggerierte Parallelität zum Argument für die .Freiheit zu denken' täuscht. Denn während jenes Argument ein echtes transzendentales Argument ist (wie überzeugend auch immer es sein mag), ist das Argument für die Willensfreiheit entweder von der Prämisse abhängig, daß es wahr ist, daß man moralisch handeln soll, und nur dann ,ist die Freiheit eine nothwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann'; oder es hängt ab von der Prämisse, daß man ,Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instincte und Neigungen sein will'. Wenn diese Prämissen nicht erfüllt sind, läßt sich die ,Freiheit zu handeln' sinnvoll bestreiten, weil im Akt des Bestreitens zwar die ,Freiheit zu denken', aber nicht die ,Freiheit zu handeln' vorausgesetzt werden muß.
70 71
Vgl. dazu Schönecker (1999). Kant kennt sachlich den Unterschied zwischen .Gründen' und .Ursachen', obwohl er ihn terminologisch nicht durchhält. Vgl. dazu u.a. auch diverse Passagen in der .Auflösung der dritten Antinomie', das Kanonkapitel zu .Meinen, Wissen, Glauben' und die Ausführungen zum Freiheitsbegriff in den Prol, 344 ff.
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Ζ 18 Auch in der Schulz-Rezension spielt der Unterschied zwischen dem anspruchsvollen Freiheitsbegriff des Theoriekontextes und dem bescheidenen Freiheitsbegriff des Praxiskontextes eine große Rolle. Auch in der SchulzRezension wird TPF an sich als Voraussetzung der Moral verstanden. Nur insofern der Begriff von TPF praktisch vorausgesetzt werden muß, obwohl er theoretisch-spekulativ ,nicht hinreichend' ist, hat der praktische Begriff der Freiheit (also der praktisch vorauszusetzende Begriff von TPF) ,mit dem spekulativen nichts zu tun'.
3.4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Zunächst eine Erinnerung: Der „Begriff der Freiheit" (GMS, 446), dessen Kant sich im dritten Abschnitt der Grundlegung bedient, ist ohne jeden Zweifel der transzendental-praktische Freiheitsbegriff (TPF). Auch in diesem Buch versteht Kant unter dem negativen Aspekt der Freiheit die Unabhängigkeit von der Naturnotwendigkeit und unter dem positiven Aspekt die Spontaneität als moralische Autonomie. Freiheit ist eine Kausalität „von besonderer Art" (GMS, 446). Von dieser Freiheit heißt es dann in der Überschrift der Sek.2, sie müsse „als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" (GMS, 447). 72 In diesem kurzen Abschnitt argumentiert Kant für zwei Thesen: Erstens gelten die moralischen Gesetze, die mit der Freiheit (als Autonomie) verbunden sind, auch dann, wenn diese Freiheit im strikt theoretischen Sinne nicht bewiesen werden kann. Zweitens muß jedes vernünftige Wesen im Denken und Handeln so verfahren, als ob es frei wäre. „Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille, auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde." [Dann als Anmerkung zu diesem Satz:] „Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn dieses letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei
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Mit der Sigle „Sek." beziehen wir uns auf die Unterabschnitte (Sektionen) des dritten Abschnittes der GMS.
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wäre, verbinden würden. Wir können uns hier also von der Last befreien, die die Theorie drückt" (GMS, 448).
Im Unterschied zu den bisher diskutierten Schriften macht Kant hier deutlich, in welchem Kontext er sich befindet - dem Praxiskontext. Nirgends wird in der GMS im Theoriekontext zwischen der ,Freiheit im praktischen Verstände' und der ,Freiheit im theoretischen Verstände' unterschieden. Immer ist einfach nur von der ,Freiheit' die Rede. Was Kant damit meint, ist, wie gesagt, TPF. Die zitierte Stelle ist nun deswegen so interessant, weil Kant deutlich zwischen einer praktischen Rücksicht' und einer theoretischen Absicht' unterscheidet. 73 Es geht Kant hier nicht darum, den Begriff der Freiheit und seine Bedeutung zu bestimmen (das ist ja schon in Sek.l geschehen). Kant spricht von TPF, und er nennt sie, wie immer wieder in GMS ΙΠ, eine ,Idee'. Die Frage ist, was wir von TPF wissen können. Kants Antwort lautet: In theoretischer Absicht', oder wie er es in M M nannte: ,im theoretischen Verstände', können wir von dieser transzendental-praktischen Freiheit gar nichts wissen und ihre Existenz nicht ,beweisen'. In diesem strengen Sinne etwas von ihr wissen zu können, würde bedeuten, sie erklären oder einen spekulativen Beweis der reinen Vernunft führen zu können. Beides ist nach den Grundprinzipien der KrV unmöglich. 74 Kants These besagt nur: Wenn wir so handeln müssen, ,als ob' wir frei seien, dann gelten auch die Gesetze, die mit dieser Freiheit verbunden sind. Ob das eine gut begründete These ist, braucht uns hier nicht zu interessieren. Worauf es ankommt, ist allein dies, daß unsere Grundthese - Formulierungen wie ,im theoretischen Verstände' und ,im praktischen Verstände' haben zwei verschiedene Bedeutungen (Kontexte) - durch die GMS noch einmal bestätigt wird. Diese Formulierungen bedeuten im Praxiskontext soviel wie ,in theoretischer Absicht' und ,in praktischer Absicht'. Der als-ob-Charakter bedeutet daher auch keine Abschwächung der Bedeutung des Freiheitsbegriffes selbst, sondern allein eine Charakterisierung hinsichtlich der Frage, was wir über diese Freiheit
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Vgl. kurz danach (448,21): „... in praktischer Absicht ..." und auch GMS, 455 f., wo Kant ebenfalls zwischen einer .spekulativen Absicht' und einer ,praktischen Absicht' unterscheidet. 74 Vgl. GMS, 459: „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit ist aber eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner möglichen Erfahrung dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel unterlegt werden mag, niemals begriffen oder auch nur eingesehen werden kann [...] Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf". Vgl. auch Kants Notiz in seinem Handexemplar der KrV: „Man könnte auch statt erklären den Ausdruck brauchen, etwas durch ein Beispiel belegen" (AA XXIII, 47). - Das heißt aber, wie bereits bemerkt, nicht, daß es kein Argument für die Freiheit gibt; das Argument findet sich (ähnlich wie das in RS) in GMS 448. Die Frage, ob wir über Freiheit ,im theoretischen Verstände' etwas sagen können, hängt für Kant offenkundig an der genauen Bedeutung von .Beweis', .Erklärung', .Beispiel' usw.
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wissen können (oder wie es in MM hieß: ,Woraus wissen wir, daß der Wille frei sei?'). Ζ 19 In der GMS wird der Unterschied zwischen dem Theorie- und Praxiskontext explizit gemacht. Er heißt dort der Unterschied zwischen der theoretischen' und der praktischen Absicht'.
3.5 Religionslehre Pölitz In der Religionslehre Pölitz (RP) wird die Freiheitsthematik vor allem innerhalb der Physikotheologie abgehandelt (RP, 1066 ff.). Kant beschränkt sich dabei allerdings nicht auf die Freiheit des göttlichen Willens. Er thematisiert zugleich die menschliche Freiheit, und auch in diesem Zusammenhang diskutiert er wieder einen Freiheitsbegriff im Sinne von APF. Seine Ausführungen beginnen folgendermaßen: „Der göttliche Wille ist frei. Die Freiheit des Willens ist das Vermögen, sich unabhängig von causis subjectis oder sinnlichen Antrieben zu Handlungen zu bestimmen, oder auch das Vermögen: a priori zu wollen. Da bei uns aber die Neigungen eben die subjektiven Bedingungen der Selbstzufriedenheit sind; so ist der Begriff von der menschlichen Freiheit vielen psychologischen Schwierigkeiten unterworfen" (RP, 1066).
Auffällig ist zunächst, daß die Definition von ,Freiheit des Willens' sowohl die göttliche als auch die menschliche Freiheit umfaßt. Kant beginnt zwar mit der Bemerkung, daß der ,göttliche Wille frei' sei, und dann wird die Freiheit des Willens von ihm begrifflich bestimmt. Aber diese ,Freiheit des Willens' ist nicht ausschließlich als die Freiheit des göttlichen Willens zu verstehen, sondern als die Willensfreiheit überhaupt. Auch von der menschlichen Willensfreiheit gilt also, daß sie das Vermögen ist, ,sich unabhängig von causis subjectis oder sinnlichen Antrieben zu Handlungen zu bestimmen'. Es gibt zwar Schwierigkeiten' mit diesem Begriff, aber der Begriff ist zunächst der gleiche. Diese Schwierigkeiten' resultieren daraus, daß der Mensch als „Glied der Natur [...] auch den Gesetzen der Erscheinungen unterworfen" (RP, 1066) ist. Diese Gesetze sind aber im Sinne des allgemeinen „Naturmechanismus" (ebd.) zu verstehen. Damit ist die Frage oder eben die Schwierigkeit' verbunden, wie der Mensch als Glied der natürlichen Erscheinungswelt zugleich als „unabhängig von den Naturbegebenheiten oder frei gedacht werden"
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(ebd.) kann. Es sind also genau die Schwierigkeiten', die Kant in der KrV im Rahmen der dritten Antinomie thematisiert. 75 Dagegen bereitet der Begriff der göttlichen Freiheit diese Schwierigkeiten' nicht. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist Gott nicht in Raum und Zeit und damit auch nicht den Naturgesetzen unterworfen („Gott ist ganz von der Welt unterschieden", RP 1067). Zweitens unterliegt Gott grundsätzlich keinen inneren Neigungen; als der „Selbstgenugsame" (ebd.) sind „in ihm Neigungen zur Veränderung seines Zustandes" (ebd.) unmöglich. Die Freiheit des göttlichen Willens ist daher „die völlige Unabhängigkeit seines [Gottes] Willens, sowohl von äußern Dingen, als von innern Bedingungen" (ebd., u.H.). Nachdem Kant kurz auf eine Schwierigkeit eingegangen ist, die nun wiederum durch den göttlichen Freiheitsbegriff entsteht (1067,11-27), geht er noch einmal auf die Frage ein, warum wir Gottes Freiheit ohne die Schwierigkeiten' verstehen können, die mit der menschlichen Freiheit verbunden sind: „Daß nun der göttliche Wille durchaus frei seyn muß, wird dadurch bewiesen, weil Gott sonst nicht ens originarium seyn könnte, d.h. mit andern Worten, nicht Gott seyn könnte. Denn als prima causa mundi muß sein Wille unabhängig seyn von allen Dingen, weil ja nichts war, das ihn als Triebfeder zu irgend etwas bestimmen konnte. Eben so wenig konnten, beim Besitze der höchsten Selbstzufriedenheit, Neigungen in ihm zu irgend etwas entstehen. Es kommt Gott also sowohl die transcendentale Freiheit, welche in einer absoluten Spontaneität bestehet, als auch die praktische Freiheit zu, oder die Unabhängigkeit seines Willens von sinnlichen Antrieben" (RP, 1067 f.).
Es ist klar, daß Kant hier im Prinzip nur noch einmal die beiden oben skizzierten Gründe für seine These anführt, der Begriff der göttlichen Freiheit sei frei von den besagten Schwierigkeiten' (der dritten Antinomie). Beim zweiten Grund ist das ganz eindeutig; wieder behauptet Kant, daß ,in ihm' (also in Gott) keine Neigungen entstehen (Gott ist ja im ,Besitze der höchsten Selbstzufriedenheit', oder wie es zuerst hieß: er ist der Selbstgenugsame'). Auch beim ersten Grund geht es wieder darum, daß der göttliche Wille nicht durch äußere Dinge als Triebfedern affiziert oder impelliert werden kann. 76 Auf den ersten Blick könnte man aber meinen, das Argument in der zweiten Formulierung bestünde (im Unterschied zur ersten Formulierung) darin, daß
75
Es ist nicht ganz klar, warum Kant hier von ,psychologischen Schwierigkeiten' spricht (RP, 1066,27 und 1067,12). Vermutlich einfach deshalb, weil es um die Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben' geht; Kant spricht dabei auch vom „psychologischen Mechanismus" (RP, 1066,34). Die .Schwierigkeit' selbst wird in der KrV ja im kosmologischen Kontext abgehandelt. 76 Zunächst hieß es, daß der göttliche Wille nicht „durch andere Dinge als Triebfedern" (RP, 1067,5) bestimmt werden kann; dann entsprechend, daß sein Wille „unabhängig [sei] von allen Dingen [...] als Triebfeder" (RP, 1067,31).
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Gott als ,prima causa mundi' - in KrV heißt das ,erster Beweger' - unabhängig von allen denkbaren Dingen (,'Triebfedern') ist, weil er in dieser seiner Eigenschaft als oberste Weltursache existiert, bevor überhaupt irgendwelche jener Dinge existieren (vor der Erschaffung der Welt - und damit der ,Dinge' - gibt es eben keine ,Triebfedern'). Tatsächlich findet man hier aber erst das eigentliche Argument. Zunächst (RP, 1067,1-6) behauptet Kant, daß Gott nicht in Raum und Zeit ist; für diese These wird kein Grund angeführt. Dieser Grund, so zeigt sich etwas später, liegt darin, daß es zu Gottes Wesen als einem ,ens originarium' gehört, unabhängig von der Welt zu existieren. Gott ist also nicht deswegen unabhängig von allen Dingen', weil er in seiner Eigenschaft als prima causa mundi zeitlich vor allen Dingen existiert. Vielmehr beweist die Tatsache, daß er prima causa mundi sein kann, daß er ens originarium und also wesentlich von äußeren Dingen unabhängig ist. Jedenfalls ist klar, daß Kant mit Bezug auf diese zwei verschiedenen Beweise für die Freiheit des Willens zwischen der .transzendentalen Freiheit' und der .praktischen Freiheit' unterscheidet (denn sofort nach der Formulierung der beiden Argumente fährt Kant ja fort: ,Es kommt Gott also sowohl die transcendentale ... als auch die praktische Freiheit zu'). Dem ersten Argument - Gott als ,ens originarium' ist unterschieden von der Welt' und daher keinen äußeren Triebfedern unterworfen - ordnet Kant die transzendentale Freiheit zu. Das zweite Argument - ,in' Gott sind keine Neigungen - parallelisiert er mit der praktischen Freiheit. Die transzendentale Freiheit, so Kant, ,bestehet' in einer ,absoluten Spontaneität', die praktische Freiheit in der .Unabhängigkeit des Willens von sinnlichen Antrieben'. Dazu zunächst zwei Beobachtungen. Was Kant hier .praktische Freiheit' nennt (RP, 1067,36), ist nichts anderes als die zu Beginn des Absatzes (RP, 1066,22) definierte ,Freiheit des Willens', also das ,Vermögen, sich unabhängig von causis subjectis oder sinnlichen Antrieben zu Handlungen zu bestimmen' (oder eben die Unabhängigkeit des Willens von sinnlichen Antrieben'). Kant nennt dieses Vermögen auch ,das Vermögen, a priori zu wollen'. Die zweite Beobachtung muß ein naheliegendes Mißverständnis ausräumen. Aufgrund der terminologischen Unterscheidung zwischen transzendentaler' und praktischer' Freiheit und der damit verbundenen Charakterisierung dieser verschiedenen Freiheitsbegriffe könnte man nämlich meinen, Kant bestimme allein die transzendentale Freiheit als .absolute Spontaneität', die praktische Freiheit aber nicht. Durch die von Kant selbst hergestellte Parallele zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit wird deutlich, daß dies so nicht stimmen kann. Doch auch unabhängig von dieser Parallele - wir kommen gleich darauf zu sprechen - kann man sich durch eine einfache Überlegung klarmachen, daß die praktische nicht weniger als die transzendentale Freiheit als .absolute Spontaneität' verstanden werden muß. Kant erläutert hier nicht, was er unter .absoluter Spontaneität' versteht. Wir sahen
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aber, daß es das Vermögen ist, ganz ,νοη selbst' zu handeln, oder anders gesagt, völlig unabhängig von sinnlichen Antrieben. Beide Argumente, die Kant für die Freiheit des göttlichen Willens anführt, laufen aber darauf hinaus, daß der göttliche Wille frei ist von sinnlichen Antrieben. Daher sagt Kant ja auch nach der ersten Formulierung der besagten Argumente (wir haben es schon zitiert): die göttliche Freiheit sei ,weiter nichts, als die völlige Unabhängigkeit seines Willens, sowohl von äußeren Dingen, als von innern Bedingungen'. Nur weil die praktische Freiheit die Unabhängigkeit von ,inneren Bedingungen' ist, ist sie nicht weniger eine Unabhängigkeit; die praktische Freiheit besteht daher auch nicht weniger in der ,absoluten Spontaneität' als die transzendentale Freiheit. Die Frage ist dann natürlich, warum Kant überhaupt zwischen der transzendentalen und der praktischen Freiheit unterscheidet. Kommen wir nun zu der Parallele, die Kant auch an dieser Stelle zwischen der göttlichen und menschlichen Freiheit zieht; wir sahen ja schon, daß der Begriff der ,Freiheit des Willens' sowohl auf den göttlichen als auch auf den menschlichen Willen angewandt wird (wenn er auch bei letzterem mit .Schwierigkeiten' verbunden ist). Nachdem Kant festgestellt hat, daß Gott sowohl die transzendentale als auch die praktische Freiheit zukommt, fährt er fort: „Jene,1771 nämlich die absolute Spontaneität der Handlungen, läßt sich in Ansehung der Menschen gar nicht beweisen, ja ihre Möglichkeit nicht einmal erkennen, weil wir Menschen mit zur Welt gehören, und von den Dingen afficiret werden, aber bei Gott kann sie ohne mindeste Schwierigkeit gedacht werden. Eben das gilt von der praktischen Freiheit, die auch schon bei den Menschen vorausgesetzet werden muß, wenn nicht die ganze Moralität aufgehoben werden soll. Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit,
als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei. Dieses Vermögen, stets nach Vernunft zu handeln, muß in Gott durchaus statt finden, weil alle sinnlichen Antriebe bei ihm umöglich sind" (RP, 1067 f.).
Kant macht also die Tatsache, daß ,wir Menschen mit zur Welt gehören' dafür verantwortlich, daß der Begriff der transzendentalen Freiheit (,die absolute Spontaneität der Handlungen') hinsichtlich des menschlichen Willens problematisch ist. Umgekehrt war die Tatsache, daß Gott ,ganz von der Welt unterschieden ist' (nicht zu ihr gehört), das erste Argument für die unproblematische Freiheit seines Willens. Schwierig ist der Bezug des ,Eben das' (RP, 1068,3). Es gibt zwei mögliche Lesarten: Entweder Kant will sagen, daß bei Gott (im Unterschied zum Menschen) die ,absolute Spontaneität der Handlungen' (also die transzendentale Freiheit) ,ohne mindeste Schwierigkeit gedacht werden' kann,
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Das Pronomen bezieht sich eindeutig auf die ,transcendentale Freiheit' (RP 1067,35).
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Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
und daß ,eben das' - daß es keine Schwierigkeiten gibt - auch mit Blick auf die praktische Freiheit des göttlichen Willens gelte. Oder er will sagen, daß sich die transzendentale Freiheit ,in Ansehung der Menschen gar nicht beweisen' läßt, und daß ,eben das' - daß es keinen Beweis gibt - auch von der praktischen Freiheit des menschlichen Willens gelte. Inhaltlich schließen sich beide Möglichkeit natürlich nicht aus (es ist ja in der Tat so, daß sowohl die transzendentale und praktische Freiheit des göttlichen Willens ,ohne Schwierigkeit gedacht werden' können, wie auch, daß sich die transzendentale und praktische Freiheit des Willens ,in Ansehung der Menschen gar nicht beweisen' läßt). Für die zweite Möglichkeit spricht aber, daß Kant dann von der praktischen 78 Freiheit des Menschen sagt, man müsse sie im Sinne eines als-ob voraussetzen, und das heißt ja umgekehrt: Sie läßt sich nicht beweisen, aber sie muß im praktischen Interesse (der Moralität) vorausgesetzt werden. Kant vergleicht die transzendentale und praktische Freiheit des göttlichen Willens auf der einen mit der Freiheit des menschlichen Willens auf der anderen Seite. Es geht dabei um die Frage, ob eben diese (transzendentale und praktische) Freiheit des menschlichen Willens überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden kann. Und dann besteht die Aussage Kants darin, daß ,eben das', was von der transzendentalen Freiheit des menschlichen Willens gilt, auch auf dessen praktische Freiheit zutrifft - sie läßt sich nicht beweisen. Für die praktische Freiheit gilt aber auch, daß sie dennoch im Sinne des ,als ob' vorausgesetzt werden muß (dazu gleich mehr). Wenden wir uns nun zunächst noch einmal dem Unterschied bzw. der grundsätzlichen Identität von transzendentaler und praktischer Freiheit zu. Wir haben gesagt, daß Kant den Eindruck vermittelte, als ob die transzendentale Freiheit ,absolute Spontaneität' wäre, die praktische Freiheit dagegen nur die Unabhängigkeit des Willens von sinnlichen Antrieben'. Wir sahen auch, daß Kant den Begriff der transzendentalen Freiheit mit dem Argument verknüpft, daß Gott als ens originarium und prima causa mundi ja überhaupt gar nicht durch (wenn man so will) weltliche Dinge beeinflußt werden kann. Wenn die transzendentale Freiheit genau darin bestünde, wäre die These, daß sich ,die absolute Spontaneität der Handlungen in Ansehung der Menschen gar nicht beweisen, ja ihre Möglichkeit nicht einmal erkennen läßt, weil wir Menschen mit zur Welt gehören, und von den Dingen afficiret werden', absurd; denn mit Bezug auf den Menschen würde diese Freiheitsbestimmung ja ohnehin sinnlos sein. Und wenn die transzendentale Freiheit allein in der kosmologischen Freiheit der freien Weltschöpfung bestünde, ergäbe die These natürlich auch keinen Sinn. Kant sagt, daß sich die transzendentale Freiheit des menschlichen
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Der Textzusammenhang macht deutlich, daß sich die ,Idee von einer Freiheit'auf die praktische Freiheit bezieht.
Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
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Willens ,nicht beweisen' läßt. Daraus folgt aber umgekehrt, daß ungeachtet aller Schwierigkeiten' zumindest der Begriff der ,absoluten Spontaneität der Handlungen in Ansehung der Menschen' nicht von vorneherein unsinnig ist. Die These von der Unbeweisbarkeit der menschlich-transzendentalen Freiheit ergibt also nur dann Sinn, wenn Gottes Schöpfungsakt ganz allgemein als ,absolute Spontaneität' verstanden wird; eine absolute Spontaneität, die dann auch - wie es im Kontext der dritten Antinomie hieß - „im Laufe der Welt" (A450/B478) auftreten kann, in welcher sie allerdings nicht mehr transzendentale', sondern .praktische Freiheit' heißt. Für Gott fallen die transzendentale und die praktische Freiheit letztlich zusammen, weil für Gott die praktische Freiheit transzendentale Freiheit ist, sc. die Unabhängigkeit seines Willens von sinnlichen Antrieben als .absolute Spontaneität der Handlungen'. 79 Sie werden offenkundig nur unterschiedlich benannt, weil es unterschiedliche Argumente für die Freiheit des göttlichen Willens gibt. Aber worin besteht dann der Unterschied zwischen der menschlich-transzendentalen und der menschlich-praktischen Freiheit? Man könnte vermuten, daß es sich um einen begrifflich bescheideneren Begriff von Freiheit handelte (etwa im Sinne von NPF). Aber dieser Begriff (NPF) läßt sich ja ,durch Erfahrung beweisen'. Dagegen läßt sich der praktische Freiheitsbegriff gerade nicht beweisen (,Eben das gilt von der praktischen Freiheit', daß sie sich ebensowenig wie die transzendentale Freiheit beweisen läßt). Liest man dagegen den besagten Unterschied im Lichte der Unterscheidung von Theorie- und Praxiskontext, dann scheint das Problem lösbar. Wie schon bei den anderen Texten (MLi, MM, RS, GMS) liegt der entscheidende Punkt darin, daß in einem bestimmten Sinne (oder Kontext) der transzendentale Freiheitsbegriff überhaupt nicht vom praktischen Freiheitsbegriff unterschieden ist. .Praktische Freiheit' ist dann nichts anderes als die transzendentale Freiheit des Willens. In RP (1068) schreibt Kant: ,Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei'.
Wenn transzendentale und praktische Freiheit, in einem bestimmten Sinne, das gleiche sind, wäre der Mensch nicht dadurch an sich frei, daß er so handelte, als ob er frei wäre; entweder ist er frei, oder er ist es nicht. Es ist sinnlos zu sagen: ,Der Mensch handelt nach der Idee der transzendental-praktischen Freiheit, als ob er transzendental-praktisch frei wäre, und eo ipso ist er transzendental-praktisch frei'. Wenn man allerdings zwischen einem
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Man beachte den Plural (,die absolute Spontaneität der Handlungen'), der anzeigt, daß es um die absolute Spontaneität von Handlungen überhaupt geht, nicht nur um den einen Schöpfungsakt Gottes als ,prima causa mundi'. Der diesbezügliche Gebrauch des Plurals ist auch in der dritten Antinomie auffällig; vgl. dazu ausführlich Dimpker/Kraft/Schönecker (1996).
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Entwicklungsgeschichtlicher Kontext
begrifflich anspruchsvollen und einem praktisch bescheideneren, aber hinreichenden Verständnis von praktischer Freiheit' ausgeht, ist jener Satz aus RP durchaus sinnvoll. 80 Der transzendental-praktische Freiheitsbegriff ist ,mit Schwierigkeiten' verbunden und läßt sich nicht beweisen. Trotzdem ist es die transzendental-praktische Freiheit, die wir für unsere Praxis voraussetzen. Sie ist, wie es in ML! heißt, ,practisch-hinreichend, aber nicht speculativhinreichend'. Ζ 20 Auch in der Religionslehre Pölitz findet sich der Unterschied von Theorie- und Praxiskontext. Im Theoriekontext wird die transzendentale von der praktischen Freiheit nicht unterschieden. Im Praxiskontext ist die praktische Freiheit im Sinne von APF zu verstehen.
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In M M hieß es ganz ähnlich und zunächst verwirrend: ,Die Freiheit ist eine bloße Idee, und dieser Idee gemäß handeln heißt frei sein im practischen Verstände'.
4. Freiheit im Kanon Nach diesen ersten entwicklungsgeschichtlichen Voranalysen können wir uns nun dem Kanonproblem und seinem näheren Kontext zuwenden. Das Kanonproblem, so haben wir gesagt, besteht darin, daß Kant in der KrV mit zwei widersprüchlichen Freiheitsbegriffen zu operieren scheint; der Freiheitsbegriff aus der Dialektik scheint mit dem aus dem Kanon inkompatibel. Genauer gesagt haben wir es mit zwei (zusammenhängenden) Problemen zu tun: 1. In der Dialektik ist der praktische Freiheitsbegriff transzendental und daher eine ,Idee'; diese transzendental-praktische Freiheit kann nicht durch Erfahrung bewiesen werden. Dagegen heißt es im Kanon, die praktische Freiheit könne sehr wohl,durch Erfahrung bewiesen werden'; sie sei ,als eine von den Naturursachen' durch Erfahrung erkennbar. 2. In der Dialektik wird die praktische Freiheit als transzendentale Freiheit verstanden; der Begriff des Sollens habe ohne diese transzendental-praktische Freiheit keine Grundlage. Dagegen heißt es im Kanon, die Frage nach der transzendentalen Freiheit der Vernunft ,gehe uns im Praktischen nichts an' und könne als ,ganz gleichgültig beiseite gesetzt werden'; für ,das Praktische' sei der durch Erfahrung beweisbare Freiheitsbegriff hinreichend. Wir werden uns zunächst dem ersten Problem zuwenden und behaupten, daß Kants These von der empirischen Erkennbarkeit der praktischen Freiheit im Sinne eines naturalisierten Freiheitsbegriffes zu verstehen ist: praktische Freiheit' ist eine Eigenschaft der Vernunft (der Willkür), sofern wir sie als Erscheinung betrachten. Danach geht es um den zweiten Problemkreis (er ist vom ersten nicht strikt zu trennen, aber in der Darstellung kann man nicht anders verfahren, um die Dinge nicht unnötig zu komplizieren). Eine mögliche Lösungsstrategie für den zweiten Aspekt des Kanonproblems lautet: Der transzendentale Freiheitsbegriff geht uns ,im Praktischen' nur insofern ,nichts an', als wir darin (und im Kontext des Kanons) nur nach pflichtgemäßen, nicht aber nach Handlungen aus Pflicht fragen. Relevant wäre demnach allein die Vernunft als principium diiudicationis, nicht aber als principium executionis. In der Dialektik werden der transzendentale und praktische Freiheitsbegriff sofort enggeführt. Wo Kant zum praktischen Freiheitsbegriff übergeht, heißt es schon im ersten Satz, daß dieser Freiheitsbegriff sich ,auf den transzendentalen gründe', und die ,Freiheit im praktischen Verstände' ist in diesem Kontext, wie wir gesehen haben, in der Tat als irarcszercdercta/-praktische Freiheit zu verstehen (TPF). In der Problempassage des Kanons (A801/B829A804/B832) wird der praktische Freiheitsbegriff dagegen vom transzenden-
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Freiheit im Kanon
talen Freiheitsbegriff direkt abgegrenzt. Kant bediene sich im Kanon ,des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstände', der transzendentale Freiheitsbegriff werde von ihm ,.beiseite gesetzt'. A m Ende der Passage wird diese Abgrenzung von Kant noch einmal deutlich wiederholt: Die praktische Freiheit sei eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, ,indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert'. Daß Kant hier eine Abgrenzung vornimmt, kann also überhaupt nicht bestritten werden. Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß es hier eine Spannung zwischen der Dialektik und dem Kanon zu geben scheint, oder eben ein Problem (das Kanonproblem). Allerdings ist damit noch nicht gesagt, wie praktische und transzendentale Freiheit in dieser kurzen Passage des Kanons überhaupt verstanden werden. Der Text ist sehr vielschichtig, ja zuweilen scheint er sogar mehrdeutig und aus verschiedenen Perspektiven lesbar. Angesichts der nachgewiesenen Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs in anderen Texten Kants ist das nicht überraschend. Im Grunde lassen sich alle bisher behandelten Momente des Freiheitsbegriffs auch in diesen zwei Absätzen wiederfinden: TPF, APF, praktisch-psychologische Freiheit, transzendentale Freiheit als Unabhängigkeit von Gott, die Unklarheit bezüglich des Verhältnisses von Freiheit und Moralität. Wir müssen daher auch den Text in verschiedenen Anläufen und aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Gehen wir dabei zunächst auf den ersten Aspekt des Kanonproblems ein: Inwiefern ist praktische Freiheit ein Erfahrungsbegriff? Wenn wir zum zweiten Aspekt kommen (wie verhält sich die ,durch Erfahrung erkennbare' Freiheit zur Moral?), müssen wir dann noch einmal auf die größeren Zusammenhänge des Kanons eingehen.
4.1 Kants naturalisierter Freiheitsbegriff Der Begriff der Freiheit ,im praktischen Verstände' - Kant spricht im folgenden auch einfach von praktischer Freiheit' - wird zunächst folgendermaßen bestimmt: „Eine Willkür nämlich ist bloß tierisch (,arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d.i. pathologisch bestimmt werden kann. Diejenige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird Praktisch genannt" (A802/B830). Bis hierhin scheint die Bestimmung des Begriffs der freien Willkür mit derjenigen aus der Dialektik übereinzustimmen. Erneut scheint Kant die
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Freiheit im Kanon
Bewegung vom negativen zum positiven Freiheitsaspekt zu vollziehen: Die freie Willkür sei diejenige, ,welche unabhängig von sinnlichen Antrieben' (negativer Aspekt), ,,mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden' (positiver Aspekt), bestimmt werden kann. Daß diese Bewegung aber in Wirklichkeit keineswegs die selbe wie diejenige in der Dialektik (A534/B562) sein kann, ergibt sich zwingend aus dem Fortgang des Textes. Unmittelbar nach der Bestimmung des Begriffs der freien Willkür heißt es nämlich: „Die praktische Freiheit (A802/B830, u.H.).
kann
durch
Erfahrung
bewiesen
werden"
Und etwas später: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung" u.H.).
(A803/B831,
Was auch immer die Lösung des Kanonproblems ist - schon hier wird deutlich, daß wir es im Kanon offenkundig mit einem völlig anderen Begriff der praktischen Freiheit zu tun haben. Warum? Der positive Aspekt des Freiheitsbegriffs im Kanon (also die Selbstbestimmung ,durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden') kann unmöglich identisch sein mit dem positiven Aspekt des Freiheitsbegriffs in der Dialektik. Denn in der Dialektik wird dieser positive Aspekt als absolute Spontaneität der Vernunft charakterisiert, also als das Vermögen, ,ganz von selbst' etwas anzufangen. Dabei wird dieses Vermögen der Naturkausalität strikt entgegengesetzt und ist also nicht ,aus Erfahrung beweisbar', sondern eine Jdee'. 1 Dann muß aber auch der negative Aspekt des praktischen Freiheitsbegriffs im Kanon von dem in der Dialektik unterschieden sein. Denn in der Dialektik bedeutet dieser negative Aspekt ja: Wenn jemand unabhängig von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' handelt, dann muß er sich zugleich ,ganz von selbst bestimmen', also als transzendental frei (A534/B562). Da diese Konsequenz im Kanon nicht gezogen wird - wenn jemand unabhängig von sinnlichen Antrieben' handelt, kann diese Handlung als eine solche Handlung trotzdem ,durch Erfahrung bewiesen werden', also ein Naturereignis sein und damit transzendental unfrei -, ist auch der negative Freiheitsbegriff anders zu verstehen. Der praktische Freiheitsbegriff der Dialektik und der praktische Freiheitsbegriff des Kanons sind also grundverschieden. Es führt kein Weg daran vorbei: Von diesem Befund muß man bei der Inter-
Es ist daher auch kein Zufall, daß die in der Dialektik so häufig auftauchende Wendung ,ganz von selbst' im Kanon im Zusammenhang mit der praktischen Freiheit keine Verwendung findet.
80
Freiheit im Kanon
pretation (zunächst) ausgehen. Die Frage ist dann, wie die ,durch E r f a h r u n g beweisbare Freiheit' verstanden werden kann. D o c h betrachten wir noch einige Einwände gegen die eben skizzierte Interpretationsstrategie. D e r erste E i n w a n d könnte darin bestehen, daß Kant bei der Behauptung, praktische Freiheit sei ,durch E r f a h r u n g b e w e i s b a r ' , keinen anderen Begriff praktischer Freiheit verwende, sondern einen anderen Begriff von Erfahrung. D e m n a c h wäre also mit p r a k t i s c h e r Freiheit' auch i m Kanon T P F gemeint. W e n n Kant schreibe, T P F sei ,durch E r f a h r u n g ' erkennbar, dann sei dies i m uneigentlichen Sinne zu verstehen. Betrachten wir dazu den ersten Teil des zweiten Absatzes; der eben genannte E i n w a n d erweist sich dann bereits als unhaltbar. „Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, beiseite setzen können. Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen,) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert, und sofern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint, und also ein Problem bleibt" (A803/B831, Kants Hervorhebung getilgt, u.H.). Kant schreibt also nicht nur, daß die praktische Freiheit ,durch E r f a h r u n g ' erkennbar sei. E r identifiziert hier die p r a k t i s c h e Freiheit' der Willkür ,als eine von den Naturursachen'. W e n n alles, was man ,durch E r f a h r u n g ' wissen kann, zur Natur gehört, ist es nur konsequent, auch die Freiheit als Teil der Natur, oder eben, sofern sie eine F o r m von Kausalität ist, als ,Naturursache' zu verstehen. Auch Funkes (1981) Strategie besteht darin, den ,Erfahrungsbegriff' umzudeuten: Wenn Kant behaupte, Freiheit sei durch Erfahrung beweisbar, dann meine er nicht Erfahrung im üblichen Sinne, weil ja von Freiheit ansonsten gesagt werde (Funke verweist auf die GMS), ihre .objektive Realität' sei eine ,bloße Idee': „Wenn hier von ,objektiver Realität' gesprochen wird, kann Erfahrung nicht gleich Erfahrung sein, solange daran festgehalten wird: praktische Freiheit könne durch Erfahrung bewiesen werden. Die Erfahrung des Phänomenbereichs bleibt also ausgeschlossen, jedoch an praktischer Freiheit' wird nicht gezweifelt" (S.213). Mit .Erfahrung' meine Kant ein unmittelbares Bewußtsein der Wirklichkeit der Freiheit (der Kausalität der Vernunft), oder vielmehr - Funke sieht hier bereits das Faktum-Theorem der KpV (S.215) - ein
Freiheit im Kanon
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unmittelbares Bewußtsein der Geltung moralischer Gesetze, von denen aus wir auf die Freiheit schließen. Abgesehen davon, daß Funke hier einen Theoriebaustein zur Interpretation heranzieht, den Kant 1781 noch gar nicht hatte, erklärt er nicht, warum Kant die praktische Freiheit eine ,Naturursache' nennt (tatsächlich zitiert er hier falsch, sc. ,Naturtafsachen'; cf. S.211); zudem diskutiert er nicht Kants indirekt vorgetragene These, praktische Freiheit könne im Unterschied zur transzendentalen als .Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden'. Vor der Veröffentlichung von Funke hatte schon Baumbach (1929) die These von der Erfahrbarkeit praktischer Freiheit so interpretiert, daß wir unmittelbar um die Freiheit wissen, genauso wie wir unmittelbar um die Geltung des moralischen Gesetzes wissen (da Funke mit der bis 1981 erschienenen Literatur zum Thema nicht vertraut ist, kennt er auch nicht die seiner Interpretation ähnelnde Interpretation Baumbachs). Auch Heidemann (1981, S.237) hat den Erfahrungsbegriff ähnlich wie Funke zu erklären versucht; wie bei Funke bleibt aber auch bei ihr die eigentliche Problematik ungeklärt (insbesondere die Frage, ob und in welchem Sinne der ,erfahrbare' Freiheitsbegriff für die Moralität ausreicht). Der Aufsatz von Funke ist in der späteren Literatur u.W. völlig unberücksichtigt geblieben; allein Effertz (1994, S.80, Fn.70) erwähnt ihn.
Jedenfalls scheint uns dies die richtige Lesart dieser Stelle, und wir möchten daher vorab zwei andere Lesarten ausschließen. Erstens könnte man lesen: ,Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine [Freiheit von] den Naturursachen ...\ 2 Grammatisch und rhetorisch ist diese Lesart nicht ganz unplausibel. Inhaltlich kann sie allerdings nicht überzeugen. Denn eine solche .Freiheit von den Naturursachen' wird ja im nächsten Satz als transzendentale, nicht als praktische Freiheit begriffen (nämlich als .Unabhängigkeit der Vernunft selbst von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt', was eben zu identifizieren wäre mit jener .Freiheit von den Naturursachen'). Zudem wird im Textfortgang durch ein .nämlich' eine Erläuterung des Begriffs der .Naturursache' angeschlossen, wobei die ins Spiel gebrachte ,.Kausalität der Vernunft' eben den Begriff der Natumrsache erläutert. Und schließlich wird im Satz vorher die Vernunft und ihre Freiheit indirekt als (mögliche) .Natur' diskutiert (,... nicht wiederum Natur sein möge'). Zweitens könnte man lesen: ,Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Ursachen der Natur ...' (also als eine von den Ursachen, durch die Natur hervorgebracht wird). Demnach würde Kant (wie in der ,Auflösung') sagen, daß die transzendental-praktische Freiheit Phänomene in der Erscheinungswelt hervorbringt. Da Phänomene der Erscheinungswelt als Natur verstanden werden, wäre die Freiheit also in diesem Sinne .eine von den Ursachen der Natur'. Aber erstens wirkt diese Inter-
2
Auf diese mögliche Lesart hat WlLLASCHEK (1992, S.308, Anm.l) hingewiesen.
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Freiheit im Kanon
pretation grammatisch-rhetorisch sehr gezwungen. Und zweitens wäre dann der Textfortgang nicht nachvollziehbar: Was könnte es heißen, daß die praktische Freiheit eine von den Ursachen der Natur ist, ,.nämlich" eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens? Auch (und besonders) für die zweite Lesart gilt also, daß sie die im Textfortgang erwähnte ,Kausalität' nicht plausibel machen kann. Kants Rede von der ,Erfahrbarkeit' der praktischen Freiheit und der Vernunft als ,Naturursache' stützen sich also gegenseitig. Aus dem Kontext geht hervor, daß hier im strikten Sinne von ,Erfahrung' die Rede ist: Die praktische Willkürfreiheit ist eine ,Naturursache', und sie wird daher auch ,durch Erfahrung erkannt'. Dagegen ist die transzendentale Freiheit ,dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider'. 3 Das heißt aber doch umgekehrt, daß die .praktische Freiheit' dem Naturgesetz nicht .zuwider' ist. (Natürlich kann man aus der Tatsache, daß die transzendentale Freiheit dem Naturgesetz .zuwider' ist, nicht logisch schließen, daß dies für die praktische Freiheit nicht gilt. Aber Kant will ja hier gerade die transzendentale von der praktischen Freiheit abgrenzen und begründen, warum er sich nur des praktischen Freiheitsbegriffs bedient, nicht aber des transzendentalen. Und ein Grund dafür besteht darin, daß der transzendentale Freiheitsbegriff dem Naturgesetz ,zuwider' ist ,und also ein Problem bleibt', der praktische Freiheitsbegriff aber eben nicht.) Auch in der Kritik der Urteilskraft gibt es einige Stellen, in denen es heißt, Freiheit sei in der ,Natur' und der ,Erfahrung' belegbar. Aber auch diese Stellen bilden keinen Einwand gegen unsere These, daß die ,durch Erfahrung beweisbare' Freiheit im Kanon nicht im Sinne von TPF zu verstehen ist. Betrachten wir zunächst jene Stellen aus der KU: „Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besonderen Art von Kausalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt. - Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden
3
Kant schreibt zwar, das .scheine' so zu sein, aber damit ist nur gemeint, daß unter Voraussetzung des Unterschiedes zwischen Ding an sich und Erscheinung das .Problem' (also die dritte Antinomie) lösbar ist. Innerhalb der Erfahrungswelt ist die transzendentale Freiheit der Erfahrung tatsächlich .zuwider'.
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muß" (KU 468, u.H., Kants Hervorhebung getilgt). 4 Auch etwas später heißt es, daß „das Übersinnliche [...] (die Freiheit) [...] als Tatsache seine Realität in Handlungen dartut" (KU, 474). Kant fährt dann fort: „Es bleibt hierbei immer sehr merkwürdig, daß unter den drei reinen Vernunftideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist" (KU, 474). 5 Auch in der KU sagt Kant also, daß die Freiheit sich ,als eine Tatsache in der Erfahrung dartun läßt'. Daraus allein folgt aber nicht, daß die Freiheit (in der KU) nicht im Sinne von TPF zu verstehen wäre, denn das ist sie in diesem Kontext der KU ohne Zweifel. Also, so könnte man argumentieren, sollte man auch im Kanon nicht aus der Tatsache, daß .praktische Freiheit durch Erfahrung erkennbar' sei, auf die Behauptung schließen, daß deshalb diese Freiheit als .naturalisiert' oder jedenfalls nicht im Sinne von TPF zu verstehen sei. - Nun ist aber klar, daß der Erfahrungsbegriff an dieser Stelle der KU tatsächlich nicht im engeren Sinne zu verstehen ist. Denn auch wenn sich die Freiheit ,in der Erfahrung dartun läßt', so ist sie dennoch, wie Kant zugleich schreibt, ,keiner Darstellung in der Anschauung' fähig. Sie ist also auch im engeren Sinne keine ,Tatsache', da von jeder Tatsache gilt (so Kant kurz vorher), daß sie „vermittelst einer ihnen korrespondierenden Anschauung [...] bewiesen werden kann" (KU, 468). Was Kant hier eigentlich genau sagen will, bleibt unklar. Klar ist nur, daß der Freiheitsbegriff als (uneigentliche) ,Tatsache' keinesfalls als ,Naturursache' verstanden wird. Denn alle „Tatsachen gehören entweder zum Naturbegriff, der seine Realität an der vor allen Naturbegriffen gegebenen (oder zu geben möglichen) Gegenständen der Sinne beweist; oder zum Freiheitsbegriffe, der seine Realität durch die Kausalität der Vernunft in Ansehung gewisser durch sie möglichen Wirkungen in der Sinnenwelt, die sie im moralischen Gesetze unwiderleglich postuliert, hinreichend dartut" (KU, 475). Auch wenn die Freiheit in gewisser, schwierig zu bestimmender Weise als ,Tatsache' zu verstehen ist, ist sie jedenfalls keine Tatsache der Natur und also keine ,Naturarsache'.
4
5
Kurz vorher KU, 467, hatte Kant die .scibilia' mit den Tatsachen' identifiziert, und von den .Sachen der Meinung (opinabile)' und den .Glaubenssachen (mere credibile)' unterschieden; in der jetzt zitierten Stelle erläutert Kant den Begriff der .Tatsache'. Vgl. auch EF, 416: „Nun gibt es doch Etwas in der menschlichen Vernunft, was uns durch keine Erfahrung bekannt werden kann und doch seine Realität und Wahrheit in Wirkungen beweiset, die in der Erfahrung dargestellt, also auch (und zwar nach einem princip a priori) schlechterdings können geboten werden. Dieses ist der Begriff der Freiheit und das von dieser abstammende Gesetz des kategorischen, d.i. schlechthin gebietenden, Imperativs." Diese Schrift stammt von 1796.
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Ζ 21 Der praktische Freiheitsbegriff in der Dialektik und im Kanon dürfen trotz zunächst ähnlicher Charakterisierungen nicht miteinander identifiziert werden. In der Dialektik ist praktische Freiheit als TPF zu verstehen. Sie ist damit eine ,Idee', die nicht,durch Erfahrung beweisbar' ist. Genau dies (daß sie ,durch Erfahrung beweisbar') und daß sie eine von den ,Naturursachen' ist, wird aber im Kanon von der praktischen Freiheit behauptet. Im Kanon wird die praktische Freiheit von der transzendentalen Freiheit scharf abgegrenzt. Die praktische Freiheit im Kanon kann also nicht als TPF interpretiert werden. Ζ 22 Das Kanonproblem läßt sich nicht mit dem Hinweis auflösen, daß Kant im Kanon mit einem anderen (uneigentlichen) Begriff von ,Erfahrung' operiere. Weder die Problempassage selbst noch ähnliche Stellen in der KU rechtfertigen diese These. Tatsächlich gibt es aber eine Stelle in der KU, die auf den richtigen Weg zu bringen vermag. In deren Einleitung betont Kant nämlich, wie wichtig es sei, nicht „das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe" (KU, 171) zu verwechseln. Das praktische nach Naturbegriffen' ist dabei eindeutig als das Gebiet hypothetischer Imperative zu verstehen, die Kant nun als „Korrolarien zur theoretischen Philosophie" (KU, 172) verstanden wissen will. Der Wille ist ein Begehrungsvermögen, das durch Begriffe (Regeln) bestimmt wird. Sofern nun der Wille durch hypothetische Imperative bestimmt wird - „sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln [den hypothetischen Imperativen] gemäß bestimmt werden kann" (ebd.) - rechnet Kant ihn in der KU zu den ,JVaturursachen in der Welt" (ebd., u.H.), begreift ihn als ,JVaturvermögen" (ebd., u.H.). Der Wille ist als Begehrungsvermögen (also durch seine Fähigkeit, durch Vorstellungen Gegenstände hervorzubringen) eine von den ,Naturursachen in der Welt', „nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt" (ebd., u.H.). Dagegen wird der Begriff der ,Freiheit' in der KU mehrmals und eindeutig als „das Übersinnliche" (KU, 175), als ein „übersinnliches Vermögen" (KU, 435) bezeichnet; damit ist ohne Zweifel TPF gemeint. 6 Sofern der Wille also durch moralische Gesetze bestimmt wird, ist er auch laut KU keineswegs ,Naturursache': „Moralität und eine ihr untergeordnete Kausalität nach Zwecken ist schlechterdings durch Naturursachen unmöglich; denn das Prinzip ihrer
6
Kant verweist auch in diesem Kontext noch einmal auf die .Auflösung der dritten Antinomie' in der KrV (vgl. KU, 175). - Auch in EF, 417, rechnet Kant die „technisch-praktischen" Gesetze zur Natur und unterscheidet sie von „der Spontaneität der Freiheit und ihren moralisch-praktischen Gesetzen".
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Bestimmung zum Handeln ist übersinnlich" (KU, 436, Anm.)· 7 Interessant an dieser Stelle ist, daß Kant den Willen als eine ,Naturursache' versteht. Versteht man den Willen (bzw. die Willkür) als Vermögen, vernunftbestimmt und absichtlich zu handeln, so könnte man im Lichte der KU argumentieren, daß Kant im Kanon den Willen als ,eine von den Naturursachen' und das praktische' als das praktische nach Naturbegriffen' begreift, obwohl er dann von praktischer Freiheit' spricht (was die KU ja gerade ablehnt). Wie wir sehen werden, ist dieser Weg so nicht gangbar. Allerdings können wir aus der Stelle Kapital schlagen. 8 Wir sahen, daß die praktische Freiheit der Vernunft in der Problempassage von der transzendentalen Freiheit abgesetzt wird. Diese transzendentale Freiheit wird zweifach charakterisiert: 1. In ,Absicht auf sinnliche Antriebe' nennt Kant die Freiheit der Vernunft praktische Freiheit. Hinsichtlich (,in Ansehung') anderweitiger Einflüsse'' und ,höherer und entfernterer wirkender Ursachen' heißt die Freiheit der Vernunft aber transzendentale Freiheit. Anders gesagt: Transzendentale Freiheit ist die Unabhängigkeit der Vernunft von .anderweitigen Einflüssen', die Unabhängigkeit von ,höher und entfernter wirkenden Ursachen' (zu den ,höheren und entfernterer wirkenden Ursachen' gleich noch mehr). 2. Die soeben getroffene Unterscheidung zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit ist an der ersten Stelle 9 nur indirekt; erst die zweite Stelle 10 zeigt eindeutig, daß sie in diesem Sinne zu lesen ist. Im zweiten Satz bestimmt Kant nämlich die transzendentale Freiheit - und nennt sie auch so beim Namen - als Unabhängigkeit der Vernunft selbst von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt'. Es ist naheliegend, diese bekannte Formel im Lichte der Dialektik zu lesen. Auch in ihr wird Freiheit als völlige Unabhängigkeit von den Naturursachen verstanden. (Tatsächlich verhält es sich auch so; auf eine alternative Lesart gehen wir noch ein.) Kant erläutert den Begriff der praktischen Freiheit als ,Naturursache' durch den Begriff einer ,Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens'. Diese Kausalität der Vernunft wird aber nur ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' praktische Freiheit genannt. Was also bis dahin ,Freiheit' hieß, wurde so
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Vgl. auch MS, 217 f., wo Kant seine Thesen kurz wiederholt und dabei selbst auf die KU verweist. Der Weg ist deswegen nicht gangbar, weil Kant in der Problempassage nicht nur von hypothetischen Imperativen spricht; letzteres ist aber in der KU eindeutig der Fall, wo Kant ja gerade davor warnt, das praktische nach Naturbegriffen' von dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe' deutlich zu unterscheiden. 9 Erster Satz in A803/B831. 10 Zweiter Satz in A803/B831.
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genannt ausschließlich ,in Absicht auf sinnliche Antriebe'; 11 in anderer ,Absicht' (also in anderer Hinsicht, in anderer Perspektive) kann diese Freiheit demnach trotzdem als ,Naturursache' und damit als Unfreiheit verstanden werden. Das ist eine wichtige interpretatorische Erkenntnis. Denn wir müssen uns ja fragen: Wieso nennt Kant die ,Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens' eine ,iVa?wrarsache', da er sie doch zugleich auch praktische Freiheit' nennt? Wieso nennt Kant die Vernunftkausalität eine ,.Naturursache', wenn diese Vernunft doch ,Gesetze der Freiheit' gibt, die von den ,Naturgesetzen' ausdrücklich unterschieden werden? Die Antwort kann nur lauten: Was in einer Hinsicht sinnvoll als Freiheitskausalität beschrieben wird, wird in anderer Hinsicht zugleich sinnvoll als Naturkausalität charakterisiert. Was also ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' treffend als praktische Freiheit' verstanden wird, wird in anderer Hinsicht treffend als ,Naturursache' verstanden. Wäre dieser Ausdruck nicht so mißverständlich (wir kommen gleich darauf zurück), könnte man sagen: Kant operiert im Kanon eindeutig mit einem kompatibilistischen Begriff praktischer Freiheit. Denn als kompatibilistisch bezeichnet man ja gemeinhin eine Freiheitstheorie, derzufolge der Begriff der Freiheit auch innerhalb eines lückenlosen Determinismus (,Natur') sinnvoll Anwendung finden kann. Kant beschreibt also in der Problempassage die praktische Vernunft (die Willkür) als zugleich ,frei' und natürlich'. Der entscheidende Punkt ist nun, daß im Unterschied zur ,Auflösung der dritten Antinomie' diese doppelte Charakterisierung nicht mit der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung erkauft wird. In der Dialektik versucht Kant, „Natur und Freiheit miteinander zu vereinigen" (A537/B565); aber er versteht dabei unter Freiheit TPF, und er setzt dabei jenen Unterschied voraus. Dagegen geht es Kant im Kanon nicht darum, daß wir mit Blick auf die Verstandeswelt freiheitskausal, mit Blick auf die Sinnenwelt aber naturkausal bestimmt sind. Jene doppelte Charakterisierung (,frei' und natürlich') wird im Kanon vielmehr innerhalb der Erscheinungswelt getroffen. Innerhalb dieser phänomenalen Welt, oder besser: aus der Perspektive der Erscheinungswelt nennt Kant die praktische Vernunft eine ,Naturursache'. Das muß er auch, denn innerhalb dieser Welt muß jede Ursache als ,Naturursache' begriffen werden; deswegen nennt Kant die praktische Vernunft ja auch ,eine von den Naturursachen'. 12 Er nennt sie aber zugleich .praktisch frei', und zwar nicht im Sinne der Dialektik, sondern in einem sehr eingeschränkten Sinn, nämlich nur ,in Absicht auf die unmittel-
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Tatsächlich heißt es ja bei der ersten Bestimmung des praktischen Freiheitsbegriffs, daß die freie Willkür .unabhängig von sinnlichen Antrieben' bestimmt werden kann (A802/B830). Vgl. A546/B574: „Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und insofern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen stehen muß" (u.H.).
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bare Nötigung der sinnlichen Antriebe'. Ob die Vernunft, wenn man sie nicht als empirisches, sondern als intelligibles Vermögen betrachtet, wirklich transzendental frei ist oder nicht auch ,wiederum Natur', ob es also, anders gesagt, so etwas wie transzendentale Freiheit überhaupt gibt, ist eine ganz andere Frage und ,bleibt ein Problem', das Kant,beiseite setzt'. Die „Frage wegen der transzendentalen Freiheit" (A803/B831) besteht also darin, ob es so etwas wie transzendentale Freiheit überhaupt gibt. Kant parallelisiert an dieser Stelle diese Frage eindeutig mit den Fragen „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?" (ebd.); man muß also fragen: ,Ist transzendentale Freiheit?' Das Problem, ob die Vernunft ,nicht wiederum Natur sein möge', darf man daher nicht so verstehen, als ließe Kant es offen, ob diejenige Vernunft, deren praktische Freiheit wir ,durch Erfahrung' bereits als ,eine von den Naturursachen' kennen, ,nicht wiederum Natur sein möge'. Denn in ihrer Eigenschaft, ,Naturursache' zu sein, ist sie ja ,Natur', und es wäre natürlich sinnlos, zu fragen, ob das, was bereits als Teil der Natur erkannt ist, nicht ,wiederum Natur sein möge'. Kant wechselt hier die Perspektive. Zwar bezieht er sich eindeutig auf dieselbe Vernunft (,Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt ...')· Aber die Frage, ob ,diese Handlungen' frei oder wiederum Natur sind, zielt darauf ab, ob diese Handlungen aus der transzendentalen Perspektive der intellligiblen Welt frei oder unfrei sind, oder eben kurz: ob es transzendentale Freiheit überhaupt gibt. Das Argument, mit dem Kant begründet, warum oder inwiefern praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden' kann und warum sie (also) eine ,Naturursache' ist, findet sich in der Passage, die mit einem begründenden ,Dennl beginnt (,Denn, nicht bloß das ...', A802/B830); aus ihr geht auch hervor, in welchem Sinne Kant nur ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' von Freiheit spricht: „Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden" (A802/B830, Kants Hervorhebungen getilgt).
Wie schon für die vorherige Bestimmung des Begriffs der praktischen Freiheit (A802/B830) gilt auch hier, daß alles, was allein in diesen Sätzen steht, genau so und ohne Reibungsverluste auch in die Freiheitstheorie der ,Auflösung'
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integrierbar ist. ,Imperative' sind ,objektive Gesetze der Freiheit', die auf der ,Vernunft beruhen' - so formuliert Kant auch in der Dialektik. 13 Was diesen ganzen Absatz so schwierig macht, ist die eingeschobene Bemerkung, man könne die in Frage stehende praktische Freiheit ,durch Erfahrung beweisen' und die im nächsten Absatz sich anschließende These, die Vernunft und damit praktische Freiheit seien als eine ,.Naturursache durch Erfahrung erkennbar'. Wie ist nun praktische Freiheit ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' genauer zu verstehen? Wir sahen, daß die transzendentale Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft selbst von allen bestimmenden Ursachen' definiert wird. In der oben zitierten Stelle (A802/B830) schreibt Kant nicht, daß die menschliche Willkür nicht bloß durch dasjenige, was die Sinne affiziert, bestimmt wird; er schreibt vielmehr, daß ,nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert', die Willkür bestimmt. Deswegen schreibt er auch, daß die freie Willkür das Vermögen beinhaltet, durch vernünftige Überlegungen über das, was ,auf entferntere Art nützlich oder schädlich' ist, die Handlungen zu bestimmen. Ganz offenkundig stellt Kant also die (transzendentale) Unabhängigkeit von allen Naturursachen der (praktischen) Unabhängigkeit von der unmittelbaren Reizbefriedigung gegenüber. 14 Mit praktischer Freiheit' ist demnach also einfach nur gemeint, daß der Mensch über praktische Vernunft verfügt: Wir können rational handeln, wir sind nicht einfach sinnliche Reiz-Reaktions-Maschinen. Sowohl die tierische als auch die menschliche Willkür werden affiziert. Aber die tierische Willkür (arbitrium brutum) wird in einer solchen Weise sinnlich affiziert, daß eine unmittelbare, nicht (absichtlich) verzögerte, den Reiz direkt befriedigende Reaktion erfolgt oder jedenfalls begehrt wird. 15 Für die menschliche Willkür ist die sinnliche Affizierung in diesem Sinne kein ,Reiz', sondern eine bloße Affizierung, die nicht unmittelbar zu einer Reaktion führen muß. Denn nicht nur kann die Reaktion (Handlung) verzögert werden. Die Reaktion auf eine bestimmte sinnliche Affizierung kann auch völlig ausbleiben, weil ,in Ansehung des ganzen Zustandes' (also mit Blick auf das Gesamtinteresse) die Reaktion ,schädlich' wäre; das ist es, was Kant - bloß negativ betrachtet - mit der Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' meint. Oder die Reaktion kann ausbleiben, weil sie als unmoralisch bewertet wird, also als nicht ,gut'. Was im Kanon praktische Freiheit' genannt wird, heißt so nur mit Bezug auf die ,unmittelbare Nötigung' durch .sinnliche Antriebe', nicht mit Bezug auf ,alle bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt'. Alles, was Kant hier unter praktischer Freiheit versteht', ist also zunächst: Wir können
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Es wundert daher auch nicht, daß in der Literatur der praktische Freiheitsbegriff des Kanons von dem der Dialektik nicht unterschieden wurde; vgl. z.B. Allison (1990, S.54 ff.). 14 Genau diese Differenzierung hatten wir schon in M L j (255 und 257) gefunden. 15 Vgl. R 1020: „Das arbitrium immediate determinatum per stimulos ist brutum" (u.H.).
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bei unseren Handlungen rationalen Regeln folgen. Die Frage ist dann, was das für Regeln sind, und worin genau die Regelbefolgung besteht. Wenn es auch moralische Regeln sind, stehen wir vor dem zweiten Aspekt des Kanonproblems: Wie kann eine Vernunft, die moralische Regeln aufstellt, als ,Naturursache' verstanden werden? Sieht man vom letztgenannten Problem zunächst einmal ab, so ist Kants These (daß wir durch sinnliche Antriebe nicht unmittelbar genötigt werden) geradezu trivial. Diese Trivialität spiegelt sich auch in dem Argument, das Kant für die Behauptung anführt, praktische Freiheit sei ,durch Erfahrung beweisbar'. Das Argument wird nämlich überhaupt nicht direkt vorgetragen. Kant stellt es vielmehr einfach als Tatsache hin, daß ,nicht bloß das, was reizt, die menschliche Willkür bestimmt', daß ,wir durch auf Vernunft beruhenden Überlegungen die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen überwinden' können, und daß ,die Vernunft objektive Gesetze der Freiheit (Imperative) gibt, welche sagen, was geschehen soll'. Genauer betrachtet und im engeren Sinne begründet Kant also überhaupt nicht, daß ,Freiheit durch Erfahrung bewiesen' werden kann. Er behauptet vielmehr, daß dies einfach und tatsächlich unsere elementare Erfahrung ist, daß wir und andere Vernunftwesen in diesem Sinne praktisch frei sind. Kant scheint also folgendermaßen zu argumentieren: Wenn wir unsere menschlichen Handlungen betrachten, stellen wir fest, daß unsere Vernunft Einfluß auf diese Handlungen hat. Wir verhalten uns nicht bloß wie Tiere, sondern wir handeln. 16 Wir verfolgen Zwecke, und dabei stellen wir vernünftige Überlegungen an, wie wir diese Zwecke am besten realisieren können. Wir wägen ab und versuchen, ein Gesamtbild unserer Interessen zu gewinnen und es im Blick zu haben. Wir haben, kurzum, die Fähigkeit, rational zu handeln, und wir brauchen keine ausgefeilte Theorie darüber, was das bedeutet und wie dies möglich ist. Unser Selbstverständnis als handelnde Wesen und damit unsere ,Erfahrung' besteht schlicht und einfach darin, uns für rational und in diesem Sinne (,in Absicht auf sinnliche Antriebe') für praktisch frei zu halten. Wenn wir das bezweifeln wollten, müßten wir de facto unser eigenes Selbstverständnis aufgeben, und das ist unmöglich, jedenfalls solange wir handeln. Offenkundig versteht Kant in diesem Zusammenhang die Begriffe ,Freiheit' und ,Vernunft' als empirische Begriffe, die wir ohne großen legitimatorischen Aufwand benutzen dürfen und die dazu dienen, bestimmte Phänomene der Erscheinungswelt zu erklären, nämlich Handlungen. Der Diskussionskontext des Kanons bestätigt diese These. Zu Beginn des ersten
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Vgl. VMK, 45: „Die Thiere werden per stimulos necssitirt; so muß ein Hund essen wenn ihm hungert und er was vor sich hat, der Mensch kann sich aber in demselbigen Fall enthalten"; vgl. auch MC, 267.
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Kanonabschnittes bemerkt Kant, daß die drei ,Kardinalsätze' nicht als „Erklärungsgrund" (A798/B826, u.H.) für Erscheinungen dienen können. „Der Wille mag auch frei sein, so kann dieses doch nur die intelligible Ursache unseres Wollens angehen. Denn, was die Phänomene der Äußerungen derselben, d.i. die Handlungen betrifft, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grundmaxime, ohne welche wir keine Vernunft im empirischen Gebrauche ausüben können, sie niemals anders als alle übrigen Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Gesetzen derselben, erklären" (A798/B826, u.H.). 17
Was nicht als ein ,Erklärungsgrund' dienen kann, kann natürlich auch nicht ,durch Erfahrung bewiesen' werden; umgekehrt kann, was ,durch Erfahrung bewiesen' werden kann und eine ,Naturursache' ist, sehr wohl als ein solcher ,Erklärungsgrund' dienen. Nun schreibt Kant etwas später, daß er sich nur des praktischen Freiheitsbegriffes bedienen werde und ,den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, beiseite setze' (A801f./B829f.). Wie schon oben folgt auch aus dieser (von uns kursiv gesetzten) Bemerkung natürlich nicht logisch, daß genau das, was vom transzendentalen Freiheitsbegriff nicht gelte, für den praktischen sehr wohl zutreffe - daß nämlich ,der Begriff der Freiheit im praktischen Verstände als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann'. Aber die Rhetorik des Satzes legt diesen Schluß nahe, und was dann folgt, ist ja in der Tat ein ,durch Erfahrung bewiesener' und das heißt ja: ,empirisch vorausgesetzter' Begriff praktischer Freiheit, in dem Vernunft als eine ,Naturursache' verstanden wird und damit als ,Erklärungsgrund' für Handlungen als .Erscheinungen'. Das heißt: Die praktische Freiheit ist im Kanonkontext ein Begriff, der als ein ,Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann'. Wie gesagt, auch die oben zitierte Stelle, wonach die transzendentale Freiheit der Vernunft die Unabhängigkeit von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert, und sofern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint, und also ein Problem bleibt' (A803/B831), erlaubt nicht den logischen Schluß auf die Verträglichkeit von praktischer Freiheit' und ,Natur'. Aber Kant hatte einleitend bemerkt, daß er sich im Kanon ,des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstände bedienen werde' und dagegen den transzendentalen Freiheitsbegriff als ,ein
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Vgl. A550/B578, wo Kant ausdrücklich bemerkt, man könne menschliche Handlungen „als Erscheinungen" bezeichnen; schon in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV spricht Kant vom „Wille[n] in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen)" (BXXVII f.). In seinem Aufsatz über die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" werden „die menschlichen Handlungen" ausdrücklich als „Erscheinungen" der „Freiheit des Willens" bezeichnet (IGA, 17).
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Problem für die Vernunft beiseite setze'. Das ,Problem', das Kant hier zweimal erwähnt, besteht darin, daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt' beinhaltet und ,sofern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint'. Transzendentale Freiheit ist also, oder .scheint' zumindest, der Natur und Erfahrung ,zuwider' und wird deshalb aus der Kanondiskussion ausgeschlossen. Dagegen wird der praktische Freiheitsbegriff vorausgesetzt. Das kann aber dann umgekehrt nur bedeuten: Die praktische Freiheit, so wie Kant sie im Kanon versteht, fordert keine Unabhängigkeit von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt' und ist dem Naturgesetz (der Kausalität) und damit der Erfahrung nicht ,zuwider'. Deswegen kann sie ja auch ,durch Erfahrung bewiesen werden', und deswegen bedient sich Kant ,nur' dieses Freiheitsbegriffs. Er bereitet eben kein ,Problem'. Der praktische Freiheitsbegriff in der Dialektik ist ein transzendentalpraktischer Freiheitsbegriff (TPF). Der praktische Freiheitsbegriff im Kanon ist dagegen überhaupt nicht transzendentaler Natur. Mit praktischer Freiheit' meint Kant im Kanon nur einen bescheidenen Begriff von Freiheit, wonach wir unabhängig sind von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe und fähig zu rational durchdachten Handlungen. Da dieser Freiheitsbegriff sich auf Handlungen als Erscheinungen bezieht - also auf Handlungen als Naturereignisse - nennen wir ihn Kants naturalisierten Freiheitsbegriff (naturalisiert-praktische Freiheit: NPF). 18 Stellt man die transzendentalpraktische Freiheit aus der Dialektik (TPF) der naturalisiert-praktischen Freiheit (NPF) aus dem Kanon gegenüber, so sieht man, daß es sich in der Tat um völlig verschiedene Dinge bzw. Begriffe handelt: 1) TPF ist eine Jdee, die nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält und nicht in der Erfahrung gegeben werden kann' (A533/B561) - dagegen kann NPF ,1durch Erfahrung bewiesen werden' (A802/B830). 2) TPF ist eine ,intelligible Ursache' (A537/B565) - dagegen ist NPF ,eine von den Naturursachen' (A803/B831).
18
Wenn klar ist, daß Kant die Abgrenzung von Freiheit und Natur innerhalb der Erscheinungswelt vornimmt, kann man auch (wie oben angedeutet) von einem kompatibilistischen Freiheitsbegriff sprechen. Allerdings ist das bekannte Begriffspaar ,kompatibilistisch' vs. ,inkompatibilistisch' eher irreführend. Denn es operiert ja ohne den Kantischen Unterschied von Ding an sich und Erscheinung, den Kant selbst aber bei seiner Freiheitstheorie - jedenfalls bei der kritischen der Dialektik - voraussetzt. (Wenn man die Begriffe verwenden will, so scheint klar, daß Kant letztlich einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff hat: Natur und ein strenger Begriff von transzendental-praktischer Freiheit sind zwar insofern kompatibel, als man die Natur als Erscheinungswelt, die Freiheit aber als intelligibel versteht; sie sind für den Fall, daß die Natur als Ding an sich verstanden wird, inkompatibel, weil dann Freiheit unmöglich ist.)
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3) TPF fordert eine Unabhängigkeit von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenweif (A803/B831) - dagegen fordert NPF dies nicht, sondern nur die Unabhängigkeit der Willkür .in Absicht auf die unmittelbare Nötigung durch sinnliche Antriebe' (A802f./B830f.)· 4) TPF ist oder scheint zumindest ,dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider' (A803/B831), ,kann nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden' (A801f./B829f.) und ,bleibt also ein Problem' (A803/B831) - dagegen kann NPF genau dies und ist daher auch kein Problem. Noch ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang wichtig; auch er stützt die vorgeschlagene Interpretation. Eine der zentralen Thesen Kants in der Auflösung' besteht darin, daß der Mensch als Naturwesen einen ,empirischen Charakter' hat und durch Naturgesetze vollständig beschreibbar ist. Dagegen ist praktische Freiheit die Eigenschaft des ,intelligiblen Charakters'. Woher weiß der Mensch um diesen Charakter? „Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und insofern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen stehen muß. Als eine solche muß er demnach auch einen empirischen Charakter haben, so wie alle anderen Naturdinge. Wir bemerken denselben durch Kräfte und Vermögen, die es in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen, oder bloß tierisch-belebten Natur, finden wir keinen Grund, irgendein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlungen desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft" (A546f./B574f.).
Auch aus dieser Stelle geht eindeutig hervor, daß die praktische Freiheit der Dialektik eine andere sein muß als die des Kanons. Denn die praktische Freiheit' wird in der Auflösung' als Eigenschaft des ,intelligiblen Charakters' verstanden, welcher gerade nicht ,durch Erfahrung' erkannt wird, sondern durch ,bloße Apperzeption'. Dagegen wird im Kanon behauptet, die praktische Freiheit (der Vernunft) sei eine von den ,Naturursachen' - also Eigenschaft des empirischen Charakters der Vernunft die ,durch Erfahrung erkannt' werde. 19
19
Wenn Kant im Kanon von transzendentaler Freiheit spricht, heißt es dagegen wieder: „Da wir uns nun notwendigerweise durch die Vernunft, als zu einer solchen [moralischen] Welt gehörig, vorstellen müssen, obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt von Erscheinungen darstellen..." (A811/B839).
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Wir müssen also die Möglichkeit in den Blick nehmen, daß Kant im Kanon - trotz einer an der Oberfläche ähnlichen Sprache - einen ganz anderen Begriff praktischer Freiheit hat als in der Dialektik. Dann sieht man auch, daß der naturalisierte Freiheitsbegriff des Kanons zwar inkompatibel ist mit dem transzendental-praktischen Freiheitsbegriff der Dialektik, daß NPF aber dennoch mit den allgemeinen Thesen der ,Auflösung' kompatibel sein könnte. Denn es ist ja dort eine der Hauptthesen Kants, daß die Vernunft, „so sehr sie auch Vernunft ist, dennoch einen empirischen Charakter von sich zeigen muß [...] So hat denn jeder Mensch einen empirischen Charakter seiner Willkür" (A549/B577, u.H.). In der Dialektik thematisiert Kant in erster Linie die (praktische) Freiheit als intelligibles Vermögen. Die Perspektive, die bei der Bestimmung des praktischen Freiheitsbegriffes eingenommen wird, ist die Perspektive der intelligiblen Welt. Von dieser Freiheit wird dann allerdings gesagt, daß sie in der sensiblen Welt erscheinen muß. Wenn Kant im Kanon über die praktische Freiheit der Willkür spricht, bezieht er sich (vielleicht) auf diese erfahrbare Freiheit als empirisches Phänomen der intelligiblen Freiheit. Gegenstand des Kanons ist die erscheinende Freiheit und der Begriff von dieser Freiheit folglich ein naturalisierter. Die Hypothese wäre demnach, daß der naturalisierte Freiheitsbegriff der Begriff der erscheinenden Vernunft und deren Freiheit ist. Naturalisierte praktische Freiheit ist der empirische Charakter der freien Vernunft (der Willkür). 20 Fassen wir nun zunächst noch einmal einige unserer Überlegungen und begrifflichen Unterscheidungen zusammen. Transzendentale Freiheit ist das Vermögen absoluter Spontaneität. Sie ist also das Vermögen, einen Zustand ,ganz von selbst' anzufangen. Praktische Freiheit aus der Sicht der Dialektik ist nichts anderes als diese transzendentale Freiheit bezogen auf die praktische Vernunft (Willkür, Wille). Wir nennen daher diese praktische Freiheit transzendental-praktische Freiheit (TPF) und verstehen darunter das Vermögen, völlig unabhängig von sinnlichen Antrieben und ganz von selbst Handlungen (Wirkungen) hervorzubringen. Es ist entscheidend, daß mit diesen Begriffen (mögliche, denkbare) Handlungen eines Wesens beschrieben werden, das als noumenale Substanz Gegenstand der Beschreibung ist, also als Ding an sich. Nun spricht Kant auch im Kanon von der ,Freiheit im praktischen Verstände', und wenn er damit TPF meinen würde, wäre das Kanonproblem auf keinen Fall aufzulösen. Das tut er aber nicht. Er benutzt im Kanon zwar den gleichen Terminus (sc. der ,Freiheit im praktischen
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Allerdings beschreibt Kant den ,empirischen Charakter' der Vernunft (im Falle einer verwerflichen Handlung) in der Dialektik mit solchen Begriffen wie .schlechte Erziehung', ,üble Gesellschaft', .unempfindliches Naturell', .Leichtsinn', .Unbesonnenheit' usw. (vgl. A554f./B582f); .Vernunft' und .Freiheit' werden als empirische (naturalisierte) Begriffe der Freiheit in der .Auflösung' nicht benutzt.
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Verstände', praktische Freiheit'), meint damit aber etwas ganz anderes, nämlich die praktische Freiheit von Wesen, die und deren Handlungen wir als Erscheinungen betrachten. Sie als Erscheinungen zu betrachten heißt aber, daß wir ihnen als Erscheinungen auf keinen Fall transzendentale Freiheit zusprechen können. Als Wesen, die in der Welt der Erscheinungen als Erscheinungen ursächlich Wirkungen hervorbringen, müssen sie wie alle anderen Ursachen in der Welt der Erscheinungen als Naturursachen beschrieben werden. .Praktisch frei' ist also ein Prädikat zur Beschreibung der Handlungen (verstanden als Erscheinungen) von Lebewesen, die durch sinnliche Antriebe nicht unmittelbar genötigt werden und rational handeln können. Ob diese Handlungen wiederum als Erscheinungen von transzendentaler Freiheit zu betrachten sind, ist eine ganz andere Frage, die Kant im Kanon offen läßt. Da die praktische Freiheit im Kanon eine Eigenschaft von Lebewesen ist, die als Erscheinungen betrachtet werden, hat sie - im Unterschied zur Dialektik, in der Freiheit als Eigenschaft noumenaler Subjekte betrachtet wird - nichts mit transzendentaler Freiheit zu tun. Wir nennen die praktische Freiheit als Eigenschaft der Handlungen als Erscheinungen naturalisierte praktische Freiheit (NPF). Ζ 23 Kant nennt die Freiheit der Vernunft, die ,durch Erfahrung beweisbar' ist, Freiheit nur ,in Absicht auf sinnliche Antriebe'. In dieser Perspektive bedeutet sie die Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe und die Fähigkeit zu rationalem Handeln überhaupt. Ζ 24 Transzendentale Freiheit ist die , Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt'. Es bleibt das ,Problem', ob die Vernunft tatsächlich transzendental frei ist. Ζ 25 Daß praktische Freiheit,durch Erfahrung beweisbar' ist, wird von Kant nicht wirklich bewiesen, sondern als basale Tatsache behauptet. Ζ 26 Die Vernunft ist .praktisch frei' und zugleich eine ,Naturursache'. Beide Charakterisierungen werden aber aus der Perspektive der Erscheinungswelt getroffen; ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' ist die Vernunft also ,praktisch frei' und bleibt doch als Glied der Erscheinungswelt eine ,Naturursache'. Als eine solche ,Naturursache' kann die praktische Freiheit ,als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden und ist daher kein .Problem'. Diese Freiheit heiße naturalisierte praktische Freiheit (NPF). Es ist zu vermuten, daß NPF als empirisches Phänomen der intelligiblen Welt zu verstehen ist und damit als erfahrbare Freiheit. Die grundsätzliche Idee, die praktische Freiheit in der Problempassage (irgendwie) im Sinne von NPF zu interpretieren, ist durchaus nicht neu; allerdings sind daraus keine weitergehenden Interpretationsanstrengungen entsprungen, insbesondere nicht mit Blick auf den zweiten Aspekt des Kanon problems. So legte Kohl schon 1886
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nahe, die Problempassage im Lichte des Unterschiedes zwischen ,automaton spirituale' und .automaton materiale' zu lesen. Dann aber weist er selbst darauf hin, daß die Problempassage trotzdem unklar bleibe, insofern es einen „unverständlichen Sprung" (S.15) in der Art und Weise gebe, wie Kant darin den Vernunftbegriff verwende (sc. einerseits im Sinne eines ,automaton spirituale', andererseits aber im transzendentalen Sinne). - Auch Cohen ( 2 1910) versteht die praktische Freiheit als „psychologische Tatsache" (S.239). Und wie wir meint er, in einem bescheidenen Sinne sei sie daher auch durch Erfahrung beweisbar: „Das ist niemals bezweifelt worden, dass nicht blos die momentanen Sinnenreize, sondern dass weit in die Ferne unserer künftigen Zustände vorausblickende Vorstellungen ebenso energisch unsereren Muskelapparat bestimmen können. Diese praktische Freiheit ist eine psychologische-, aber nicht die transzendentale" (S.239); Cohen unterscheidet daher (S.240 ff.) Gründe und Ideen - sie gehen mit der transzendentalen Freiheit einher von Vorstellungen (wohl im Sinne eines automaton spirituale). Doch insgesamt wird die Problempassage nicht wirklich analysiert. Auch Cohens diesbezügliche Ausführungen in seinem Kommentar zur KrV ( 4 1925) sind sehr kurz und nicht erhellend. - Sommerlath (1917) meint zunächst, daß die in der Problempassage erwähnten Imperative als ,Gesetze der Freiheit' „im Gegensatz stehen zur naturgesetzlichen Notwendigkeit" (S.31); sie seien also als Gesetze von TPF zu verstehen. Dann aber meldet er Zweifel an: „Wenn nämlich der Mensch von Vorstellungen des Guten und Nützlichen bestimmt wird und seien sie auch noch so .entfernter Art', so handelt es sich auf keinen Fall um eine Freiheitskausalität, ebensowenig wie um ein intelligibles Gesetz dieser Freiheit. Solange außerdem behauptet werden kann .die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden' [...], solange kann es sich nicht um die Freiheit handeln, deren Begriff in schwierigen Untersuchungen erörtert wurde, ohne daß doch die theoretische Vernunft von ihrer Tatsächlichkeit überzeugen konnte; d.h. es handelt sich nicht um Freiheit und ihren intelligiblen Charakter im strengen Sinne" (S.34 f.). Und auch Sommerlath hat dann den richtigen Gedanken: Mit Verweis auf die Einschränkung, daß die praktische Freiheit ,nur in Absicht auf sinnliche Antriebe' bestimmt wurde, will er diese Freiheit „relative Freiheit nennen, nämlich im Vergleich mit der naturgesetzlichen Bestimmung durch die im Augenblick gegebenen Reize" (S.35); allerdings ergebe dies nur mit Blick auf die hypothetischen Imperative Sinn. - Auch Kemp Smith (1918, S.570) versteht unter praktischer Freiheit in der Problempassage allein das Vermögen, sinnliche Reize zu überwinden. - Forschner (1974) versteht den Freiheitsbegriff in der Problempassage als .anthropologisch': „Von freier Willkür hingegen kann nur gesprochen werden, wenn Begehren und Handeln eines Lebewesens sich nicht aus seiner Triebkonstitution und der Reizgegebenheit der Objekte von selbst ergibt, sondern wenn Vorstellung und Überlegung den Mechanismus der Sinnlichkeit zu durchbrechen vermag [sie!], wenn der Verstand sich als eigene Kraft zum Kräftespiel des Lebens gesellt" (S.183). Unter Bezugnahme auf die Problempassage fährt Forschner dann fort: „Und diese Art der Freiheit, die lediglich die Kraft des Verstandes als eine von und neben vielen anderen Natur-
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Ursachen meint [...], ohne Rücksicht darauf, woraus die Ziele des Verstandes sich jeweils nähren, ist aus der konkret-alltäglichen Erfahrung menschlichen Denkens und menschlicher Willensentscheidungen bekannt. Durch diese anthropologische' bzw. .praktische Freiheit', wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft (abweichend von seiner späteren Terminologie) nennt, wird innerhalb der Natur vom Menschen als intelligentem Wesen die Unmittelbarkeit sinnlicher Nötigung durchbrochen" (ebd.). Bis dahin stimmt dies im Prinzip mit unserem Begriff von NPF überein. Allerdings heißt es dann, es bleibe „unausgemacht" (ebd.), ob dabei das anthropologisch-freie Handeln als Handeln gemäß hypothetischer Imperative zu verstehen sei, oder als moralisches Handeln, als „wahrhaft autonom" (ebd.). Irritierenderweise zitiert Forschner als Beleg für diese These aber aus der Bestimmung des praktischen', die vor der Problempassage zu finden ist (A800/B828). Die Frage, so schreibt er, „ob Vernunft für sich allein das Begehrungsvermögen zu bestimmen fähig ist, spielt für den anthropologischen Freiheitsbegriff keine Rolle" (S.184). Dann zitiert er fast die ganze Problempassage (wobei er den Satz über die ,Gesetze der Freiheit' ausläßt). Es bleibt aber bei Forschner ganz unklar, wie der zweite Aspekt des Kanonproblems zu lösen sein könnte; dies um so mehr, als Forschner dann betont, daß auf der Grundlage des anthropologischen Freiheitsbegriffs „keine Theorie der praktischen Autonomie erreicht werden kann" (S.187). - Wir werden später (Kap. 5, S. 142 ff.) noch auf weitere Literatur eingehen.
Kant hat also offenkundig im Kanon einen ganz anderen Begriff praktischer Freiheit als in der Dialektik. Die Frage ist nur, ob diese beiden verschiedenen Begriffe praktischer Freiheit kompatibel sind, oder nicht. Genauer gefragt: Ist mit der Erkenntnis, daß Kant im Kanon einen anderen Begriff praktischer Freiheit hat, auch das Kanonproblem gelöst? Wir meinen nicht. Denn selbst wenn der erste Aspekt des Kanonproblems mit dem Hinweis auf die andere Bedeutung des Begriffs ,praktische Freiheit' als gelöst betrachtet werden kann, bleibt das andere Problem zunächst unberührt. Es besteht darin, daß Kant in der Dialektik behauptet, TPF sei für die Ethik erforderlich, wohingegen es im Kanon heißt, dafür sei NPF ausreichend. Bevor wir darauf eingehen, müssen wir aber die vorgeschlagene Interpretation noch weiter unterstützen und ergänzen.
4.2 Der naturalisierte Freiheitsbegriff und Metaphysik Li Die Nähe von NPF zum praktisch-psychologischen Freiheitsbegriff der empirischen Psychologie von MLi ist ganz offenkundig. Sie ist in der Tat so groß, daß man die Schwierigkeiten des Kanonproblems kaum anders als dadurch zu erklären vermag, daß Kant im Kanon einen Begriff praktischer Freiheit' verwendet, der aus vor- bzw. semikritischer Zeit stammt, jedenfalls aus einer Zeit
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vor der Veröffentlichung der KrV. Wir scheinen, anders gesagt, tatsächlich einen klaren Beleg für die immer wieder aufgestellte patchwork-These gefunden zu haben. Dabei sollte man zwischen einer schwachen, einer gemäßigten und einer starken patchwork-These unterscheiden. Die schwache patchwork-These geht davon aus, daß auch die kritischen Texte Kants - also mindestens alle Texte ab 1781 - nicht als monolithischer Block behandelt werden dürfen, in denen es keine oder nur marginale Änderungen gegeben habe. Jedenfalls sollte man eine solche Einheitlichkeit nicht ohne weiteres voraussetzen, und nicht etwa einfach (zum Beispiel) Lehrsätze aus der Religionsschrift auf die GMS übertragen. 21 Der schwachen patchwork-These stimmen wir voll und ganz zu. Die starke und die gemäßigte patchwork-These beziehen sich beide auf die Kritik der reinen Vernunft, und in diesem Sinne wird die Rede von der patchwork-These auch meistens verstanden. Die starke patchwork-These geht davon aus, daß sich in der KrV Passagen finden, bei denen es sich tatsächlich um alte Schriftstücke Kants handelt, die er bei der Niederschrift der KrV in diese eingebaut habe bzw. Passagen (wie etwa der Kanon), die als Ganzes aus der Zeit vor der Schlußredaktion von 1780 stammen und nicht mehr verändert wurden; selbst bei der Überarbeitung für die zweite Auflage der KrV (1787) seien diese alten Passagen unberührt geblieben. 22 Dazu ist folgendes zu sagen: Grundsätzlich ist eine solche These nur als letzte Möglichkeit zu betrachten, um Kohärenzprobleme eines Textes zu lösen oder vielmehr zu erklären. Man kann eine solche Strategie nicht ausschließen, aber im Sinne des ,principle of charity' muß man zunächst andere Wege gehen. Zweitens ist (aber) die Tatsache, daß Kant in der zweiten Auflage große Passagen nahezu unverändert übernommen hat, kein Gegenargument gegen die patchworkThese; 23 denn wir müssen davon ausgehen, daß Kant sich bei der Überarbeitung tatsächlich auf einige Lehrstücke beschränkt hat. 24 Drittens ist
21
Vgl. dazu knapp und klar die Kritik Guyers (1992) an Allisons Buch zu Kants Freiheitstheorie „ ( b e s . S.100); vgl. auch die allgemeine Kritik bei Albrecht (1978, S.16 f.). " Motiviert wurde diese These auch durch Kants Behauptung, er habe die KrV in der extrem kurzen Zeit von „etwa 4 bis 5 Monathen" geschrieben (vgl. den Brief Kants an Moses Mendelssohn vom 16. August 1783, AA X, 345). Zur patchwork-These vgl. Kemp Smith ^ (1918, xix-xxv). 23 Ertl (1998, S.126) versteht die (von ihm offenkundig strikt verstandene) patchwork-These als einen von drei .Rettungsversuchen' für das Kanonproblem (vertreten etwa von Carnois, 1987, S.29), das er mit dem Argument „vollständig" zurückweist, daß Kant in der B-Auflage der KrV die kritischen Passagen unrevidiert übernommen habe. Ertl differenziert nicht zwischen verschieden ,starken' patchwork-Thesen, so daß er die Überlegungen zu einer gemäßigten ^ patchwork-These nicht in den Blick bekommt. Vgl. den Brief Kants an Johann Bering vom 7. April 1786: Er habe auch nach der Veröffentlichung der KrV „alle Sätze, die zum System gehören, wiederholentlich gesichtet und geprüft" (AA X, 441, u.H.); wir müssen also davon ausgehen, daß durchaus nicht alle Sätze geprüft wurden. Vgl. dazu auch Mohr/Willaschek (1998, S.13).
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die starke patchwork-These als Lösung des Kanonproblems mit fast völliger Sicherheit auszuschließen. 25 Innerhalb der entscheidenden Problempassage bezieht Kant sich zweimal ausdrücklich auf die ,Auflösung der dritten Antinomie': Er beschreibt den transzendentalen Freiheitsbegriff „als oben abgetan" (A802/B830); es sei diesbezüglich „in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden" (A804/B832). Will man diesbezüglich an der starken patchwork-These festhalten, so muß man also behaupten, daß der Kanon vor der Dialektik geschrieben worden ist,26 daß er zudem einer anderen Phase Kantischen Denkens entstammt, und daß Kant dennoch im Kanon schon an genau der richtigen Stelle auf die Dialektik verweist. Das ist nicht unmöglich, aber wenig plausibel. Nun bedeutet die Ablehnung der starken patchwork-These aber nicht, daß im Kanon nicht doch Überlegungen zu finden wären, die sehr wohl auf frühere Phasen von Kants Denken zurückgehen und die mit seinem Denken 1780/81 nicht lückenlos kompatibel sind; dies nennen wir die gemäßigte patchwork-These. Es ist zwar offenkundig, daß der Text, so wie er überliefert ist, kaum eine andere Annahme zuläßt als die, daß Kant selbst sich jedenfalls überhaupt keiner Spannungen zwischen dem Kanon und der Dialektik bewußt zu sein scheint. Die Tatsache, daß Kant selbst die Zusammenhänge auf diese Weise interpretiert, ist aber natürlich keine Gewähr dafür, daß es die richtige Interpretation ist. Wir vertreten also eine gemäßigte patchwork-These: Kant ist im Kanon durch eine ältere und eigentlich überwundene Phase seines Denkens beeinflußt, und zwar so stark, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt hat - zum Kanonproblem. 27 Betrachten wir jetzt die Ähnlichkeiten zwischen MLi und dem Kanon: 1. Genau wie in der KrV benutzte Kant schon in ML! den Terminus praktische Freiheit' nicht nur für die psychologisch-praktische Freiheit, sondern auch für die transzendental-praktische Freiheit. 2. Auch in ML! ist der praktische Freiheitsbegriff ein empirischer Begriff, der zur empirischen Psychologie gehört; er ist - wie NPF - ,aus der Erfahrung geschöpft'." Und wie in MLi wird diese These durch den einfachen Hinweis auf unsere tatsächliche Erfahrung begründet.
25
Ob die starke patchwork-These womöglich auf andere Textstellen zutrifft, ist hier nicht das Thema. Kvist (1978, S.91) etwa ist Anhänger der These, der Kanon sei früher geschrieben worden. Albrecht (1978, S.20, Fn.19) weist darauf hin, daß einige Teile der .Methodenlehre' nachweislich dem Einfluß von Arbeiten unterliegen, die auf eine Zeit noch (relativ) kurz vor ^ Erscheinen der KrV zu datieren sind. Auch Heimsoeth (1971, S.753, Anm.169) scheint die gemäßigte patchwork-Theorie zu vertreten. 28 Vgl. noch einmal ML,, 222.
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3. Auch in MLi wurde der psychologische oder praktische' Begriff der freien Willkür als Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit bestimmt (sinnliche Reize haben für Tiere ,vim necessitantem', für 29
Menschen aber nur ,vim impellentem')." Das entspricht der Bestimmung von NPF. 4. Auch in MLi wurde im Kontext des praktisch-psychologischen Freiheitsbegriffs die transzendentale Freiheit zweimal als völlige Unabhängigkeit der Willkür von allen sinnlichen Antrieben bestimmt, in unmittelbarer Absetzung zum praktischen Freiheitsbegriff, und zwar folgendermaßen: ,Allein dasjenige arbitrium, was durch gar keine stimulos necessitiert oder impelliert wird, sondern durch Motive, durch Bewegungsgründe des Verstandes determiniert wird, ist das liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale' (MLi, 255); und: ,Diejenige Freiheit, die aber ganz und gar unabhängig von allen stimulis ist, ist die transcendentale Freiheit' (MLi, 257). Im Kanon heißt es entsprechend, TPF fordere ,eine Unabhängigkeit von allen bestimmenden Ursachen der Sinnen weit'. (Zwar steht dann in der rationalen Psychologie von ML[ ein anderer Begriff transzendentaler Freiheit im Vordergrund; aber es geht dort um eine andere Fragestellung.) 30 5. In der rationalen Psychologie von MLi wird der transzendentale Freiheitsbegriff als Unabhängigkeit der menschlichen Willkür von Gott als principium externum verstanden; das ens-derivativum-Problem spielt in MLi eine ganz herausragende Rolle. Nun ist, wie wir sahen, dieses Problem auch in den nachkritischen Schriften Kants durchaus noch aktuell. Daher könnte man vermuten, daß es auch im Kanon noch virulent ist (dies natürlich um so mehr, als der Kanon, wie wir ja behaupten, tatsächlich noch deutliche Spuren von MLi trägt). Was Kant demnach mit den ,höheren und entfernteren Ursachen' meinen könnte, wären nicht die Natur und deren lückenlose Kausalität, sondern Gott in seiner Eigenschaft, Ursache auch der menschlichen Handlungen zu sein.31 Für diese Interpretation scheint gerade auch das Bild von den ,höheren und entfernteren' Ursachen zu sprechen, das in der Tat dazu einlädt, auf Gott angewendet zu werden. Auch in der oben schon zitierten Stelle aus der KpV, in der Kant ebenfalls auf das ens-derivativum-Problem eingeht, heißt es ja, das Spontaneitätsbewußtsein eines handelnden Subjekts könnte „bloße Täuschung" sein, wenn „die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen
29
Vgl. noch einmal ML,, 255. Allerdings darf man nicht übersehen, daß die Formulierung von der .Unabhängigkeit von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' von Kant auch benutzt wird, um die völlige Unabhängigkeit (also TPF) zu erfassen; vgl. z.B. MK 3 , 1016 und 1018. 31 Diese These wird z.B. von Klemme (1996, S.92 ff.) vertreten.
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hinauf zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer 32
fremden Hand angetroffen wird" (KpV, 101, u.H.)· So plausibel es erscheinen mag, dieses ens-derivativum-Problem auch im Kanon zu sehen, so unhaltbar erweist sich diese Interpretation doch bei näherem Hinsehen. Nicht nur werden Gott und das ens-derivativum-Problem nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Vielmehr wird die transzendentale Freiheit in A803/B831 eindeutig als Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt' bezeichnet. Die transzendentale Freiheit ,bleibt ein Problem', aber nicht aufgrund der Existenz Gottes (also nicht als ens-derivativum-Problem), sondern aufgrund der theoretischen Spannung zwischen Freiheit und Natur. Die Freiheit ist ,dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider', und sie bleibt ,also ein Problem'. ,Also', das heißt: Die transzendentale Freiheit ist ein Problem, nicht, weil sie Gott (und seiner Allmacht) ,zuwider' ist, sondern der Natur und dem ,Naturgesetze'. Kant weist in diesem Zusammenhang selbst ausdrücklich auf die .Erörterung' der ,Auflösung der dritten Antinomie' hin. In dieser ,Auflösung' geht es aber - wie schon vorher in der dritten Antinomie selbst eindeutig um den Widerspruch zwischen Freiheit und Natur. 33 Vom ensderivativum-Problem ist dort nicht die Rede. 34
32
Vgl. auch noch einmal MM, 900: „Die Freiheit aber im transcendentalen Verstände ist ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen unabhängig von allen entfernten oder Natur Ursachen" (u.H.). Wie wir schon sahen, wird dann in diesem Zusammenhang das Problem diskutiert, daß der Mensch vermittelst der Sinnlichkeit von Gott bestimmt wird: „Die Sinnlichkeit ist durch Obiecte bestimmt; diese durch Gesetze der Natur und diese durch Gott. Daher bestimmt Gott unsere Sinnlichkeit und wir sind nicht transcendentaliter frei" (ebd.); allerdings bleibt die Stelle insgesamt dunkel. Vgl. auch noch einmal RS, 13, wo ebenfalls das Problem erwähnt wird, daß „Gott vermittelst der Naturursachen in uns [...] Entschließungen wirken" könnte. Vgl. auch BJ, 152 f., wo Kant den „alten Streit über Freiheit und Nciturnothwendigkeit in Bestimmungen des Willens" erwähnt und folgendermaßen erklärt: „ob die Begebenheiten in der Welt (worunter auch unsere willkürlichen Handlungen gehören) in der Reihe der vorhergehenden wirkenden Ursachen bestimmt seien, oder nicht". Auch die Ausführungen in der KpV beziehen sich auf dieses Problem (Natur vs. Freiheit). Außerdem heißt es dort: „Ja, wenn ich gleich mein ganzes Dasein als unabhängig von irgend einer fremden Ursache (etwa von Gott) annähme, sodaß die Bestimmungsgründe meiner Kausalität, sogar meiner ganzen Existenz gar nicht außer mir wären, so würde dieses jene Naturnotwendigkeit doch nicht im mindesten in Freiheit verwandeln. Denn in jedem Zeitpunkte stehe ich doch immer unter der Notwendigkeit, durch das zum Handeln bestimmt zu sein, was nicht in meiner Gewalt ist, und die α parte priori unendliche Reihe der Begebenheiten, die ich immer nur nach einer schon vorherbestimmten Ordnung fortsetzen, nirgend von selbst anfangen würde, wäre eine stetige Naturkette, meine Kausalität also niemals Freiheit" (KpV, 94 f.). Der Einwand, dann könne man die Formulierung von den .höheren und entfernteren' Ursachen nicht erklären, zieht nicht. Denn wir sehen diese Begriffe j a in Absetzung zur Unmittelbarkeit der Nötigung. Mit den .höheren und entfernteren Ursachen' könnten z.B. auch die Ursachen innerhalb eines sozial-psychologischen Determinismus oder auch der Kausalnexus innerhalb eines physikalistisch-neurologischen Determinismus gemeint sein (etwa im Sinne eines Leibnizschen Automaton spirituale; dazu gleich mehr).
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Auch die Formulierung von den .höheren und entfernter wirkenden Ursachen' erlaubt keineswegs, dabei sofort an Gott zu denken. Kant verwendet diese Formulierung häufig und bezieht sich dabei allgemein auf eine Kette von Bedingungen, die logischer oder naturaler Art sein können; ,entfernt' heißt dabei nur soviel wie: ,in der Kette der Bedingungen oder Ursachen höher, weiter, früher zurückliegend'. In diesem Sinne heißt es z.B.: „... denn dieses bringt schon der Begriff des Bedingten so mit sich, daß dadurch etwas auf eine Bedingung, und, wenn diese wiederum bedingt ist, auf eine entferntere Bedingung, und so durch alle Glieder der Reihe bezogen wird" (A498/B526, u.H.). Auch der Hinweis auf die besagte KpV-Stelle ist kein schlagkräftiges Argument, im Gegenteil: Während nämlich in der KpV Gott als die ,letzte und höchste' aller Ursachen bezeichnet wird, ist im Kanon von ,höher und entfernter wirkenden Ursachen' die Rede. Kant spricht also im Plural von Ursachen, nicht von Gott als einer Ursache, und er spricht nicht superlativisch von der ,höchsten und entferntesten Ursache', sondern komparativisch von ,höheren und entfernteren' Ursachen. So verlockend es also auch unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive sein mag, hinter dem Kanonproblem das ens-derivativum-Problem zu vermuten - es fehlt dafür die textuelle Grundlage. 6. Schließlich und sehr wichtig: Die gleiche Unklarheit, die schon MLi auszeichnete, als es um die Frage ging, welche Freiheit für Moral vorausgesetzt werden muß, beherrscht auch den Kanon. Diesen Punkt werden wir, wie gesagt, noch ausführlich beleuchten. Ζ 27 Kant ist im Kanon der KrV durch sein Denken, wie es in ML] dokumentiert ist, noch so stark beeinflußt, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt hat (also zum Kanonproblem). Wir nennen dies die gemäßigte patchwork-These. Ζ 28 Die Einflüsse von MLj auf die Freiheitsdiskussion sind unverkennbar. In beiden Schriften ist der Begriff praktische Freiheit' auf die gleiche Weise mehrdeutig und der praktische Freiheitsbegriff empirisch, wobei er als Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Antriebe bestimmt wird; dies im Unterschied zum transzendentalen Freiheitsbegriff, der in beiden Schriften (u.a.) als völlige Unabhängigkeit der Willkür verstanden wird. Zudem ist sowohl in ΜLi als auch im Kanon das Voraussetzungsverhältnis von Freiheit und Moral unklar. Trotz der theologischen Bedeutung des transzendentalen Freiheitsbegriffs in ML; kann die Rede von
35
Vgl. in diesem Sinne A413/B440 (AA III, 285,37); A411/B438 (AA III, 284,24); MAM, 109; JL, 134,17. In der KrV, A519/B547 (AA III, 355,7) wird die .entferntere' Bedingung mit der .höheren' Bedingung identifiziert.
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den entfernteren Ursachen' im Kanon nicht im Sinne des Problems verstanden werden.
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4.3 Der naturalisierte Freiheitsbegriff und die Kritik der praktischen Vernunft Im nächsten Teil werden wir ausführlich auf das Verhältnis von Freiheit und Moral (im Kanon) eingehen. Zunächst aber sollten wir noch einen Blick auf die Kritik der praktischen Vernunft werfen. Wenn unsere These zum naturalisierten Freiheitsbegriff zutrifft, findet man nämlich in der KpV eine ausführliche Darstellung eben dieses Begriffs. Dies allerdings mit einer entscheidenden Änderung - der naturalisierte Freiheitsbegriff (Kant nennt ihn ,komparativ' und psychologisch') wird in der KpV nämlich heftig kritisiert. Schon aus dem zweiten Absatz der KpV geht eindeutig hervor, daß es der transzendentale Freiheitsbegriff ist, der für die Ethik vorausgesetzt werden muß; es ist also der Freiheitsbegriff in derjenigen „absoluten Bedeutung" (KpV, 3), die im Kontext der dritten Antinomie relevant war. So wird bei der ausführlichen Behandlung der Freiheitsproblematik innerhalb der ,Kritischen Beleuchtung der Analytik' (also in der KpV) die transzendental-praktische Freiheit als diejenige Freiheit verstanden, „die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß" (KpV, 96). Dieser Zusammenhang - TPF ist „ratio essendi des moralischen Gesetzes" (KpV, 4, Anm.) - ist hinsichtlich der KpV unbestritten; es erübrigt sich also, darauf näher einzugehen. Kant wendet sich in der KpV wiederholt gegen einen psychologischen' oder ,komparativen' Begriff von Freiheit. Zunächst merkt er mit Blick auf den Begriff der Freiheit „mit Befremdung" an, „daß noch so viele ihn ganz wohl einzusehen und die Möglichkeit desselben1371 erklären zu können sich rühmen, indem sie ihn bloß in psychologischer Beziehung betrachten, indessen daß, wenn sie ihn vorher in transzendentaler genau erwogen hätten" (KpV, 7), sowohl seine Unentbehrlichkeit als auch seine Unbegreiflichkeit verstanden hätten. Ähnlich in der ,kritischen Beleuchtung der Analytik': „Weil es indessen noch viele gibt, welche diese [transzendental-praktische] Freiheit noch immer glauben nach empirischen Prinzipien wie jedes andere Naturvermögen erklären zu können, und sie als psychologische Eigenschaft, deren Erklärung lediglich auf einer genaueren Untersuchung der Natur der Seele und der
Kant spricht in der KpV sehr oft allgemein von .Freiheit'. Diese Freiheit des Willens wird sowohl mit den Prädikaten .transzendental' (z.B. KpV, 29) als auch .praktisch' (KpV, 94; 97) qualifiziert. 37 1. Auflage: .derselben'.
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Triebfeder des Willens ankäme, nicht als transzendentales 38
Prädikat der
Kausalität eines Wesens [...] betrachten ..." (KpV, 94). Kant kritisiert den „komparativen Begriff von Freiheit [...] (nach welchem das bisweilen freie Wirkung heißt, davon der bestimmende Naturgrund innerlich im wirkenden Wesen liegt)" (KpV, 96), also zum Beispiel die Bewegung einer Uhr. Entsprechend nenne man fälschlicherweise „die Handlungen des Menschen, ob sie gleich durch ihre Bestimmungsgründe, die in der Zeit vorhergehen, notwendig sind, dennoch frei [...], weil es doch innere, durch unsere eigenen Kräfte hervorgebrachten Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungen sind" (ebd.). Dies sei falsch, weil es nämlich nicht darauf ankäme, „ob die nach einem Naturgesetze bestimmte Kausalität durch Bestimmungsgründe, die im Subjekte oder außer ihm liegen, und im ersteren Fall, ob sie durch Instinkt oder mit Vernunft gedachte Bestimmungsgründe notwendig sei; wenn diese bestimmenden Vorstellungen [...] selbst den Grund ihrer Existenz doch in der Zeit und zwar dem vorigen Zustande haben, dieser aber wieder in einem vorhergehenden usw., so mögen sie, diese Bestimmungen, immer innerlich sein, sie mögen psychologische und nicht mechanische Kausalität haben, d.i. durch Vorstellungen und nicht durch körperliche Bewegung Handlung hervorbringen: so sind es immer Bestimmungsgründe der Kausalität eines Wesens, sofern sein Dasein in der Zeit bestimmbar ist, mithin unter notwendig machenden Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subjekt handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt sind, die also zwar psychologische Freiheit (wenn man ja dieses Wort von einer bloß inneren Verkettung der Vorstellungen der Seele brauchen will), aber doch Naturnotwendigkeit bei sich führen, mithin keine transzendentale Freiheit übrig lassen, welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß, sie mag nun als Gegenstand des inneren Sinnes bloß in der Zeit, oder auch der äußeren Sinne im Räume und der Zeit zugleich betrachtet werden, ohne welche Freiheit (in der letzteren eigentlichen Bedeutung), die allein a priori praktisch ist, kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich ist. Eben um deswillen kann man auch alle Notwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der
38
Wie in der Dialektik der KrV betont Kant auch in der KpV immer wieder, daß der transzendentale Freiheitsbegriff ein „keiner empirischen Darstellung fähiger Begriff" (KpV, 15) und „leer (ohne darauf sich schickende Anschauung)" (KpV, 56) sei; der Begriff eines freien Willens sei „keiner empirischen Anschauung als Beweises seiner Realität fähig" (KpV, 55). Wir könnten uns der Freiheit „weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung gibt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanismus der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen" (KpV, 29); „aus dem Begriffe der Freiheit [könne] in den Erscheinungen nichts erklärt werden" (KpV, 30). Es sei „schlechterdings unmöglich", der Idee der Freiheit „gemäß ein Beispiel in irgend einer Erfahrung zu geben, weil unter den Ursachen der Dinge als Erscheinungen keine Bestimmung der Kausalität, die schlechterdings unbedingt wäre, angetroffen werden kann" (KpV, 48).
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Kausalität den Mechanismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein müßten. Hier wird nur die Notwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, sowie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen, man mag nun das Subjekt, in welchem dieser Ablauf geschieht, Automaton materiale, da das Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibniz spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseres Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und komparative, nicht transzendentale, d.i. absolute, zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet" (KpV, 96 f., u.H., Kants Hervorhebungen größtenteils getilgt). 39
Im Zusammenhang mit dem naturalisierten Freiheitsbegriff des Kanons ist diese Stelle aus mehreren Gründen sehr erhellend: 1. Was Kant hier über das ,Automaton spirituale' sagt, läßt sich problemlos auf ein Subjekt anwenden, das über NPF verfügt. Mit ,Vernunft gedachte Bestimmungsgründe', also bestimmende Vorstellungen', bilden innerhalb der Natur' eine Form von psychologischer Kausalität', die vom bloßen ,Instinkt' unterschieden ist und deswegen bereits Freiheit (wenn auch nur psychologische Freiheit) genannt werden darf. Sie ist aber von TPF strikt zu unterscheiden. Als psychologische Freiheit' hat Kant auch die Freiheit innerhalb der empirischen Psychologie von MLi bezeichnet. Deren Ähnlichkeit mit der naturalisierten Freiheit haben wir bereits herausgestellt. 2. Auch in der KpV betont Kant wieder, daß die transzendentale Freiheit im Unterschied zur psychologischen in der .Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt' besteht. 3. Außerdem wird auch hier wieder deutlich, daß die psychologische Freiheit transzendentale Freiheit nicht ausschließt. Sie kann ja zugleich' nämlich in der Perspektive der intelligiblen Welt - auch transzendentale Freiheit sein. 4. Schließlich wird in der KpV von Kant noch einmal betont, daß ohne die transzendental-praktische Freiheit ,kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich' ist. Dies geschieht in offenkundiger Abgrenzung zur diesbezüglichen Unzulänglichkeit des psychologischen Freiheitsbegriffs.
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Vgl. noch einmal MLi, 267, wo Kant von der „spontaneitas automatica" spricht, „wenn sich nemlich eine Maschine nach dem innern Princip von selbst bewegt; z.E. eine Uhr; ein Bratenwender". In R 3855 nennt Kant auch Tiere „automata spiritualia".
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Ζ 29 Was Kant in der KpV ,komparative' oder psychologische' Freiheit nennt, ist in wesentlichen Zügen mit dem naturalisierten Freiheitsbegriff des Kanons identisch. Ζ 30 Der psychologische' Freiheitsbegriff der KpV ist vom transzendentalen Freiheitsbegriff strikt unterschieden (auch wenn sie in anderer Perspektive ,zugleich' statthaben können). Nur der transzendentale Freiheitsbegriffist für die Moral ausreichend. Mit dem oben genannten vierten Punkt können wir zum zweiten Aspekt des Kanonproblems übergehen: Wie bestimmt Kant im Kanon das Verhältnis von Freiheit und Moral?
5. Freiheit und Moral im Kanon Die Problemstellung ist klar: In der Dialektik behauptet Kant, daß praktische Freiheit und damit praktische Imperative ohne die Voraussetzung transzendentaler Freiheit undenkbar sind. 1 Im Kanon heißt es dagegen, das ,Problem' der transzendentalen Freiheit ,gehe uns im Praktischen nichts an' und könne als ,ganz gleichgültig beiseite gesetzt werden'; für ,das Praktische' sei der durch Erfahrung beweisbare Freiheitsbegriff hinreichend. Was genau heißt das, und vor allem: Ist das kompatibel oder hoffnungslos widersprüchlich? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit mehreren Themenkomplexen beschäftigen. Zunächst müssen wir auf den Kontext des Kanons eingehen (5.1), um dann zu überlegen, wie das praktische' im Kanon überhaupt bestimmt wird und wie diesbezüglich der Kontext des Kanons zu verstehen ist (5.2). Im nächsten Abschnitt (5.3) geht es um die eigentliche Interpretation von A803f./B831f.. Und schließlich müssen wir noch eigens die Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon betrachten und damit zusammenhängend die Postulatenlehre (5.4).
5.1 Einige Vorbetrachtungen zum Kontext des Kanons Ein entscheidender Mangel der bisherigen Literatur zum Kanonproblem besteht darin, daß der Kontext, in dem diese Probleme auftauchen, nicht genügend oder sogar überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde - der Kontext des Kanons selbst. 2 Es sollte sich eigentlich von selbst verstehen, daß eine solch isolierende Betrachtungsweise große Gefahren in sich birgt. Wir werden also an verschiedenen Stellen auf diesen Kontext eingehen. Dabei müssen wir u.a. folgende Fragen im Blick behalten: Was versteht Kant überhaupt unter einem ,Kanon'? Wie verwendet Kant im Kanon den Freiheitsbegriff? Wie bestimmt Kant das Verhältnis von Freiheit und Moral? Hat Kant in der KrV einen unkritischen' Autonomiebegriff? Welche Rolle spielt die Freiheit innerhalb der Postulatenlehre? (Alle diese Fragen beziehen sich
1 Spätestens ab der GMS ist das durchgängig Kants These; vgl. z.B. auch die Vorlesungsmit^ schrift ML 2 , 582 (vermutlich aus dem Jahr 1790/91). Eine Ausnahme ist Allison (1990), dessen (wenn auch immer noch begrenzte) Berücksichtigung des Kanontextes dennoch nicht dazu geführt hat, daß die Interpreten (und seine Kritiker) ihm hierin gefolgt wären.
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zunächst auf die Passagen des Kanons, die nicht direkt das Kanonproblem bilden, also die Stellen vor und nach der eigentlichen Problempassage.) Betrachten wir zunächst den unmittelbaren Kontext des Kanonproblems: Was heißt ,Kanon', und was meint Kant mit dem ,letzten Zweck'? Kant beschäftigt sich mit dem „Kanon der reinen Vernunft" (A795/B823) im zweiten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre. Die Vernunft, so schreibt Kant, kann im „spekulativen Gebrauche" (ebd.) keine synthetische Erkenntnis a priori erlangen; dies ist, wenn überhaupt, nur im „praktischen Vernunftgebrauch" möglich (A797/B825). Aufgabe des Kanonkapitels ist es, den metaphysischen und epistemologischen Kontext eines solchen praktischen Vernunftgebrauchs zu untersuchen. Kant thematisiert zunächst den „letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft" (ebd.); in diesen ersten Abschnitt fällt auch seine erneute Behandlung der Freiheitsthematik und damit das Kanonproblem. Der zweite Abschnitt über das „Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft" (A804/B832) argumentiert für die Notwendigkeit, aufgrund der Vorstellung einer ,moralischen Welt' die Existenz Gottes und ein künftiges Leben zu postulieren. Der dritte Abschnitt schließlich über „Meinen, Wissen und Glauben" (A820/B848) beantwortet die Frage, welchen Erkenntnisstatus ein solcher moralischer Glaube an Gott und das ewige Leben hat (dieser dritte Abschnitt hat für das Kanonproblem nur geringe Bedeutung). Sowohl in der Überschrift des ersten Abschnittes als auch in der Überschrift des zweiten Abschnittes ist also von einem ,.letzten Zweck' die Rede. Was ist mit diesem ,letzten Zweck' gemeint? Betrachten wir zunächst den ersten Abschnitt. Kant spricht im zweiten Absatz sowohl vom „letzten Zweck" (im Singular) als auch von den „höchsten Zwecke[n]" der reinen Vernunft; zudem werden dort die „Aufgaben" und „alle anderen [Zwecke]" erwähnt, ohne daß die Bezüge all dieser Termini aufeinander sofort deutlich würden (A797/B825). Kant verwendet dabei ein Demonstrativpronomen {„Diese höchsten Zwecke", ebd., u.H.), ohne daß sich dieses Pronomen auf vorher direkt erwähnte ,höchste Zwecke' beziehen könnte (vorher ist ja nur vom ,letzten Zweck' im Singular die Rede). Erst im nächsten Abschnitt wird deutlich, was mit diesen ,höchsten Zwecken' (im Plural) gemeint ist: Es sind „die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes" (A798/B826). Kant nennt diese ,höchsten Zwecke' im Zusammen-
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Daß Kant diese metaphysischen Ideen im Sinn hat, wird auch durch seinen Hinweis deutlich, daß diese Zwecke „wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern" (A798/B826, u.H.). - Vgl. auch B395 (Anm.): „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit"; im weiteren Verlauf der Anmerkung werden Theologie, Moral und Religion als „die höchsten Zwecke unseres Daseins" bezeichnet. Auch
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hang des ersten Abschnittes auch die „drei Gegenstände" (ebd., u.H.), die „drei Kardinalsätze" (A799/B827, u.H.) und die „drei gedachten Probleme" (A800/B828, u.H.). Diese Kardinalsätze (höchsten Zwecke, Gegenstände, Probleme) der spekulativen Vernunft bezeichnet er insgesamt als die „Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft" (A798/B826, u.H.). 4 Man könnte daher vermuten, daß diese ,Endabsicht' (also die ,drei gedachten Probleme') genau und ausschließlich das ausmacht, was in der Überschrift des ersten Abschnittes der ,letzte Zweck' genannt wird. Nun geht es aber dort, wo im Text der ,letzte Zweck' erstmals erwähnt wird (im ersten Satz des zweiten Absatzes), um die ,reine Vernunft in spekulativer Absicht'. Die „Aufgaben, deren Auflösung ihren letzten Zweck ausmacht" (A797/B825), sind also die Aufgaben der ,reinen Vernunft in spekulativer Absicht'. Die Tatsache, daß die besagten ,drei Probleme' in spekulativer Hinsicht überhaupt nicht gelöst werden können (dies wird im dritten Absatz ja noch einmal ausführlich thematisiert) 5 und auch die Tatsache, daß „das bloß spekulative Interesse der Vernunft nur sehr gering" ist (B826, u.H.), 6 ändern nichts daran, daß die reine Vernunft auch in spekulativer Hinsicht diesen ,letzten Zweck' verfolgt. Daher schreibt Kant auch, daß die .Auflösung' der drei Probleme „ihren letzten Zweck ausmacht, sie mag diesen nun erreichen oder nicht (A797/B825, u.H.). Kurzum: Die ,höchsten Zwecke' der spekulativen Vernunft sind Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Die Auflösung' dieser ,Aufgaben' und .Probleme' macht insgesamt die ,Endabsicht' der spekulativen Vernunft aus und wird auch ihr ,letzter Zweck'
5
6
in dieser Anmerkung - sie fehlt in Auflage A - ist von der Verbindung der Ideen die Rede. Vgl. auch KU, 473. Vgl. auch das abschließende Kapitel der Dialektik, in dem von der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" (A669/B697) die Rede ist. Es heißt zusammenfassend: „Mit einem Worte, diese drei Sätze bleiben für die spekulative Vernunft jederzeit transzendent, und haben gar keinen immanenten, d.i. für Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin für uns auf einige Art nützlichen Gebrauch, sondern sind an sich betrachtet ganz müßige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft" (A799/B827). Das ist im Grunde genommen das Hauptergebnis der ganzen Dialektik und wird daher von Kant in der Einleitung zum Kanon auch noch einmal formuliert: „Nun ist alle synthetische Erkenntnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche, nach allen bisher geführten Beweisen, gänzlich unmöglich. Also gibt es gar keinen Kanon des spekulativen Gebrauchs derselben" (A796/B824). Allerdings heißt es ganz zu Anfang der Dialektik, die Ideen der spekulativen Vernunft könnten „doch im Grunde und unbemerkt dem Verstände zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen" (A329/B385, u.H.); es ist unklar, wie dies zu verstehen ist. In dem Abschnitt über das „Interesse" (A462/B490) der Vernunft bei den Antinomien wird ja ausdrücklich zwischen dem spekulativen und praktischen Interesse der Vernunft unterschieden (A466ff. /B494ff.).
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genannt. 7 Daß dies aber nur der ,letzte Zweck' der Vernunft ,in spekulativer Absicht' ist und nicht überhaupt der ,letzte Zweck' der Vernunft, macht der Fortgang des Textes deutlich. 8 Kant betont, wie schon gesagt, daß keiner der drei ,Kardinalsätze' - der Wille ist transzendental frei; die Seele ist (in einer künftigen Welt) unsterblich; Gott als höchste Intelligenz existiert 9 - als „Erklärungsgrand" (A798/B826) für die Erscheinungswelt dienen kann. Deswegen werde „ihre Wichtigkeit wohl nur das Praktische angehen" (A799f./B827f.). Da der Satz ,Der Wille ist transzendental frei' einer dieser drei Kardinalsätze ist, muß auch er von ,Wichtigkeit' für ,das Praktische' sein. 10 Angesichts dessen, was Kant bereits im Kontext der ,Auflösung' über das Verhältnis von Freiheit und Moralität gesagt hatte, ist diese Feststellung nicht überraschend. Man erwartet, daß die ,Wichtigkeit' des Kardinalsatzes über die transzendental-praktische Freiheit des Willens (TPF) auch im Kanon gerade darin bestehen wird, für ,das Praktische', und das heißt insbesondere: für die kategorischen Imperative, den Grand ihrer Möglichkeit zu bilden. Darin besteht ja gerade das praktische Interesse' der Vernunft, daß sie die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes als „Grandsteine der Moral" (A466/B494) verteidigen will: „Wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen gibt, wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frei und die Seele von gleicher Teilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so verlieren auch die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit" (A468/B496, u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Die Vernunft hat also ein „praktisches Interesse" (A466/B494) an den ,Kardinalsätzen' und damit auch an der transzendental-praktischen Freiheit des Willens. 11
Vgl. auch KpV, 5: „Es wäre allerdings befriedigender für unsere spekulative Vernunft, ohne diese Umschweif [sc. über das moralische Gesetz] jene Aufgaben [sc. Freiheit, Gott, Unsterblichkeit] für sich aufzulösen und sie als Einsicht zum praktischen Gebrauch aufzubewahren; allein es ist einmal mit unserem Vermögen der Spekulation nicht so gut bestellt" (u.H.); vgl. ähnlich KpV, 132. Die im ersten Satz des zweiten Absatzes erwähnten .anderen' Zwecke sind also nicht die besagten ,drei höchsten Zwecke', sondern wohl irgendwelche anderen .Zwecke', d.h. Ideen, Prinzipien usw. der Vernunft. Vgl. dazu noch einmal die Anmerkung in B395, in der, wie gesagt, ebenfalls Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als die .höchsten Zwecke' der Vernunft bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang heißt es dann: „Alles, womit sich diese Wissenschaft [sc. die Metaphysik] sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen" (u.H.). 9 Vgl. auch (A800/B828). - Daß die transzendentale Freiheit gemeint ist, geht schon allein daraus eindeutig hervor, daß Kant in Erläuterung dieses Satzes den freien Willen als „intelligible Ursache unseres Wollens" (A798/B826, u.H.) bezeichnet. Mit Bezug auf die Willkür bedeutet transzendentale Freiheit, wie gezeigt, transzendentalpraktische Freiheit. Bei der Diskussion um die drei Kardinalsätze meint die Freiheit des Willens also TPF. 11 Vgl. KpV, 7 f.: „Der Begriff der Freiheit ist [...] der Schlüssel zu den erhabendsten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten".
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Daher unterscheidet Kant im Kanon auch noch einmal die ,Endabsicht' und den ,letzten Zweck' der spekulativen Vernunft (Freiheit, Gott, Unsterblichkeit der Seele) von der „letzte[n] Absicht" (A801/B829) der Vernunft. Er sieht diese „entferntere Absicht" (A800/B828, u.H.) in der (Beantwortung der) Frage, „ was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist" (ebd.); im zweiten Abschnitt heißt die Frage entsprechend: „Was soll ich tun?" (A805/B833). 12 Der ,letzte Zweck' der reinen Vernunft ist also „eigentlich nur aufs Moralische gestellt" (A801/B829, u.H.). Das eigentlich' in diesem Satz macht deutlich, daß Kant sich sehr wohl bewußt ist, den .letzten Zweck' zunächst (in A798/B825) als die ,Auflösung' der ,drei gedachten Probleme' bestimmt zu haben. Da diese .Probleme' aber „wiederum ihre entferntere Absicht haben" (A800/B828, u.H.) - nämlich das ,Moralische' - , ist der in der Überschrift des zweiten Kanonabschnittes erwähnte ,letzte Zweck' also eigentlich' dieses ,Moralische'. Dieser Abschnitt handelt ,νοη dem letzten Zwecke', und das heißt: vom ,Moralischen' als dem ,letzten Zweck', der .letzten Absicht' des reinen Gebrauchs unserer Vernunft. 13 Ζ 31 Die höchsten Zwecke der spekulativen Vernunft sind Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Der in der Überschrift des ersten Abschnittes des Kanonkapitels erwähnte ,letzte Zweck' zielt aber auf die Frage, ,was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist'. Der ,letzte Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft' ist daher das Moralische'. Was versteht Kant nun überhaupt unter einem ,Kanon'? Er schreibt, daß die moralischen Gesetze „allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft" gehören und „einen Kanon [erlauben]" (A800/B828). Die offizielle Definition von ,Kanon' lautet: Er ist der „Inbegriff der Grundsätze a priori des
u
Auf den genauen Sinn dieser Frage kommen wir noch einmal zurück. Entsprechend heißt es im späteren Architektonikkapitel: „Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren [...] nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke [...] Der erstere [sc. der Endzweck] ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral" (A840/B868, u.H.). In der Vorrede zur zweiten Auflage (B) spricht Kant davon, daß „die Endabsicht [der Vernunft] im Praktischen gegeben" sei (BXXXVIII); vgl. KpV, 121: „Der spekulativen Vernunft aber untergeordnet zu sein und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist". Vgl. auch MLi, 301: „Die Hauptsache ist immer die Moralität: diese ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und diese ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Speculationen und Untersuchungen. Alle metaphysischen Speculationen gehen darauf hinaus. Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen, und wenn die Begriffe von Gott und von der andern Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, so wären sie nichts nütze."
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richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt" (A796/A824). Das .Erkenntnisvermögen', um das es an dieser Stelle geht, ist die reine praktische Vernunft. 14 Nur wenn die reine (nicht bloß logisch verstandene) Vernunft praktisch ist, macht sie einen ,richtigen Gebrauch' von sich. Dieser Gebrauch (die ,Praxis') besteht (u.a.) darin, moralische Gesetze (.Grundsätze a priori') aufzustellen. 15 Daher könnte man meinen, der Kanon der reinen praktischen Vernunft wäre nichts anderes als der ,Inbegriff' der moralischen Gesetze, also letztlich nichts anderes als die moralischen Gesetze selbst. 16 Dagegen sprechen aber drei Gründe: 1. Es heißt, daß die moralischen Gesetze einen Kanon ,erlauben'. Das legt nahe, daß diese Gesetze nicht selbst diesen Kanon bilden. 2. Im ganzen Kanon ist von den moralischen Gesetzen selbst nicht wirklich thematisch die Rede, im Gegenteil: Kant weist im ersten Abschnitt darauf hin, daß die praktische Philosophie der Transzendentalphilosophie „fremd ist" (A801/B829). Wie auch an anderen Stellen betont er, daß das ,Moralische' kein Gegenstand der Transzendentalphilosophie ist; die Elemente der praktischen Urteile gehören nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie (B829, Fn.). 17 Die Antwort auf die Frage ,Was soll ich tun?' wird also ausdrücklich aus der Transzendentalphilosophie, oder jedenfalls aus dem Kanonkapitel ausgeschlossen. Diese Frage sei „bloß praktisch. Sie kann als eine solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdann doch nicht transzendental, sondern moralisch, mithin kann sie unsere Kritik an sich selbst nicht beschäftigen" (A805/B833). Da die moralischen Gesetze die Antwort auf jene Frage sind, wird also die Diskussion der moralischen Gesetze (und das heißt die Ethik oder Metaphysik der Sitten) aus der Transzendentalphilosophie und damit auch aus dem Kanonkapitel ausgeschlossen. Folglich können die moralischen Gesetze und die Diskussion dieser Gesetze nicht den
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Kant weist in diesem Zusammenhang selbst auf die verschiedenen Kanones hin, die in der Analytik behandelt wurden: „So ist die allgemeine Logik in ihrem analytischen Teile ein Kanon für Verstand und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahiert von allem Inhalte. So war die transzendentale Analytik der Kanon des reinen Verstandes-, denn der ist allein wahrer synthetischer Erkenntnisse a priori fähig" (A796B824); vgl. A53f./B77f; A61/B85; A131f./B170f. Dieser Gedanke und die Verwendung des Terminus .Kanon' findet sich schon in A131f./ B170f.; ergänzt wird er dort durch den Hinweis auf den „Kanon für die Urteilskraft" (A132/B171). - Insgesamt ist Kants Verwendung des Kanonbegriffs nicht kohärent; das beweist auch die Auswertung der auffindbaren Fundstellen. .Unter anderem' deshalb, weil wir später noch zwischen der Vernunft als principium diiudicationis und executionis unterscheiden müssen. Die Vernunft hat nicht nur die Aufgabe, das Gute zu erkennen; sie soll es auch bewirken. 16 So z.B. Kvist (1978, S.85). - Vgl. in diesem Sinne EF, 420, oder SF, 22, wo .Kanon' mit .Gesetzbuch' identifiziert wird; so ist j a auch die formale Logik ein Kanon fiir den Verstand. 17 Das gleiche Argument für den Ausschluß der Ethik aus der Transzendentalphilosophie hatte Kant schon in A14f./ B28f. vorgetragen; vgl. auch A329/B386 und A569/B597. Wir kommen gleich darauf zurück.
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Kanon bilden. Man würde sonst den Kanon aus dem Kanonkapitel ausschließen, und das ergibt natürlich keinen Sinn. 3. Blickt man einmal genauer auf die Definition des Kanonbegriffs in A796/B824, so zeigt sich, daß das Aufstellen und Gebieten moralischer Gesetze selbst bereits Teil des ,richtigen Gebrauchs' der reinen praktischen Vernunft ist. Daher können die ,Grundsätze a priori' dieses Gebrauchs nicht mit den moralischen Gesetzen identisch sein. 18 Der ,Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft' ist also nicht die Summe der moralischen Gesetze. Er scheint vielmehr in der Erörterung desjenigen zu bestehen, was für den ,richtigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft' vorausgesetzt werden muß und was aus ihm folgt. Und so muß etwa, wie sich jetzt zeigen wird, der transzendentale Freiheitsbegriff nicht vorausgesetzt werden. Dagegen sind die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als Postulate mit dem reinen praktischen Vernunftgebrauch verbunden. Ζ 32 Der Kanon als ,Inbegriff der Grundsätze α priori des richtigen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft' ist nicht gleichzusetzen mit dem Inbegriff der moralischen Gesetze oder diesen Gesetzen selbst. Der Kanon ist die Erörterung der Voraussetzungen und Folgerungen jenes , Gebrauchs'. Der Gebrauch selbst besteht (u.a.) im Aufstellen der moralischen Gesetze der Vernunft (principium diiudicationis). Werfen wir nun hinsichtlich des ,letzten Zwecks' noch einen Blick auf den zweiten Abschnitt. Im ersten Absatz finden wir unsere bisherigen Analysen zunächst bestätigt, aber auch in einem wichtigen Punkt irritiert. Kant spricht dort über die „höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben" (A804/B832, u.H.). Der Bezug auf das, was er ,eben angeführt habe', kann nur auf die (im Text kurz vorher erwähnten) Ideen von Gott und der Unsterblichkeit sein. Denn am Ende der Problempassage sagt Kant ausdrücklich, im Kanon habe man es mit den Fragen „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?" (A803/B831) zu tun, und nur diese beiden Fragen bzw. Ideen werden dann ja auch im zweiten und dritten Abschnitt des Kanonkapitels thematisiert. Bei der kurzen Erläuterung der ersten Frage (,Was kann ich wissen'?) ist dementsprechend auch nur von den „zwei großen Zwecken" (A805/B833, u.H.) und den „zwei Aufgaben" (ebd., u.H.) die Rede, „worauf diese ganze [spekulative] Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich gerichtet war" (ebd.).
18
Daher heißt es j a auch kurz nach der Definition des Kanonbegriffs: „... wenn es überall einen richtigen Gebrauch der reinen Vernunft gibt, in welchem Fall es auch einen Kanon derselben geben muß ..." (A796f./B824f„ u.H., Kants Hervorhebung getilgt).
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Auch im dritten Abschnitt kennt Kant dann nur noch „zwei Glaubensartikel" (A830/B858, u.H.)·19 Auffällig, irritierend und für das Kanonproblem von großer Bedeutung ist dabei, daß die transzendentale Freiheit an dieser Stelle aus dem Kanon ausgeschlossen wird. Zu Beginn des Kanonkapitels und in völliger Übereinstimmung mit den bis dahin erfolgten Überlegungen zur Dialektik und zum .Interesse' der Vernunft wurden die ,höchsten Zwecke' der Vernunft - Gott, Freiheit, Unsterblichkeit - als .Grundsteine' der Moral und Religion bezeichnet. Jetzt heißt es plötzlich, die „Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist" (A803f./B832f.). Doch es ist schwer zu erkennen, warum die Idee der Freiheit innerhalb des Kanons ,für das Praktische ganz gleichgültig' sein soll. (Und selbst wenn dies plausibel gemacht werden könnte, wäre es immer noch rätselhaft, warum Kant schreibt, es seien nur ,zwei große Zwecke und Aufgaben, worauf die spekulative Bestrebung der reinen Vernunft gerichtet war'. Im ganzen Text der KrV war doch bis dahin stets von drei Ideen die Rede, ja auf dieser Trias beruht letztlich der ganze Aufbau der Dialektik. 20 ) Ζ 33 Es ist auffällig und verwirrend, daß Kant zum Ende des ersten Abschnittes die Frage nach der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon ausschließt; sie sei für das Praktische ,gleichgültig'. Denn diese Freiheit wurde andernorts als, Grundstein' der Moral und Religion beschrieben.
5.2 Was ist ,das Praktische' und wie ausgereift ist der frühe Autonomiebegriff? Was haben wir bisher gesehen? Der ,letzte' oder .höchste Zweck' der Vernunft ist, so Kant, ,das Moralische' (,was zu tun sei'). Der ,Kanon der reinen praktischen Vernunft' besteht in der Erörterung der Voraussetzungen und Folgen des ,richtigen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft'. Die Beschäftigung mit der Frage ,Was soll ich tun?' (,das Moralische') gehört dennoch nicht zur Aufgabenstellung der Transzendentalphilosophie (oder jedenfalls nicht zur KrV). Auch im Kanon vor der Problempassage versteht Kant zunächst die transzendentale Freiheit - neben der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes als ,letzte Zwecke' der Vernunft - als ,Grundstein der
19
20
Vgl. MLi, 301, wo es, wie schon zitiert, ebenfalls heißt, ,Gott und die einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen'. Vgl. z.B. das „System der transzendentalen Ideen" (A333/B390).
andere Welt'
seien ,das
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Moral'. Die Vernunft hat also ein praktisches Interesse' an den , KardinalSätzen' und damit auch an der transzendental-praktischen Freiheit des Willens. Trotzdem behauptet Kant aber, daß die Idee der transzendentalen Freiheit innerhalb des Kanons ,für das Praktische ganz gleichgültig' ist. Nun ist im Kanon sowie überhaupt in der ganzen KrV wiederholt und ganz allgemein vom praktischen' die Rede. Damit sind aber verschiedene Dinge gemeint. Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick: 1. In einem ganz allgemeinen Sinn meint Kant mit dem praktischen' alles, was mit Moralität und mit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in bezug auf Moralität zu tun hat. Im gleichen (allgemeinen) Sinne spricht er auch vom praktischen Gebrauch der reinen Vernunft'. 2. Etwas genauer meint Kant aber auch die praktische Philosophie, insofern sie als Theorie rationalen Handelns verstanden wird, also (für Kant) als Theorie hypothetischer und moralischer Imperative. In diesem Sinne ist z.B. Kants berühmte These aus dem Kanon zu verstehen: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist" (A800/B828). 21 3. Kant nennt die Frage, was man tun soll, „bloß praktisch" (A805/B833); einen Satz später wird diese Frage, eingeschränkt auf die reine Vernunft, als „moralisch" bezeichnet (ebd.). Entsprechend hieß es schon bei der Diskussion des ,höchsten Zweckes' und der ,letzten Absicht' der reinen praktischen Vernunft, diese Absicht ziele auf die Frage, ,was zu tun sei' und damit „aufs Moralische" (A801/B829). Manchmal meint Kant also mit dem Praktischen auch das Moralische. 22 4. Kant spricht sehr häufig vom praktischen Gebrauch der Vernunft'; der Kanon selbst, so Kant, beschäftigt sich ja in erster Linie mit dem „praktischen Vernunftgebrauch" (A797/B825). Damit können aber zwei Dinge gemeint sein: Die Vernunft als principium diiudicationis und die Vernunft als principium executionis. Dieser Unterschied hängt mit Kants Kritik der Theorie des ,moralischen Gefühls' zusammen (Shaftesbury, Smith, Hutcheson, Hume). Bekanntlich kritisiert er diese Theorie mit Vehemenz. Aber er kritisiert sie nicht rundherum: „Man könnte das moralische Gefühl noch zulaßen, wenn die Rede wäre von den Triebfedern des Gemüths zur Moral; aber nicht als ein Princip der Beurtheilung der moralischen Handlung. Die Receptivitaet unsres Willens, durch moralische Gesetz als Triebfedern bewogen zu
21
Vgl. in diesem Sinne auch PPP, 111: „Practisch ist was nach Gesezzen der Freyheit geschiehet". 22 In A805/B833 werden „das Praktische und das Sittengesetz" als Synonyme behandelt. Bei der Einleitung zu den ,Ideen überhaupt' schreibt Kant: „Plato fand seine Ideen vorzüglich in allem was praktisch ist, d.i. auf Freiheit beruht" (A314/B371). Daß dabei das Sittliche gemeint ist, macht der Kontext deutlich, z.B.: „... wobei die menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität zeigt, und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden, nämlich im [A: in] Sittlichen" (A317/B374).
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werden, kann es sein. Das Urtheil über Moral besteht in obiectiven Principien, die Triebfeder aber ist subiectiv: diese macht den Willen practisch" (MM Π, 625). Kant läßt also das moralische Gefühl (recht verstanden) als Motiv des Handelns zu. 23 Es darf aber nicht als Grundlage des Prinzips der Moralität selbst dienen: „Das moralische Gefühl gehört nicht zur Gesezgebung sondern ist das Fundament der Execution des Gesezes; aber Criterium des guten kann es nicht sein, denn bei iedem ist das Gefühl unterschieden und man kann darüber nicht streiten, weil einer dem andern nicht sein Gefühl communiciren kann. Das Gute aber soll allgemein gelten" (MM Π, 626). Genau das ist der erwähnte Unterschied zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis der Handlung. Der praktische Gebrauch' der Vernunft besteht einerseits darin, moralische Gesetze aufzustellen und zu gebieten (,Gesetzgebung'); es ist die Aufgabe der Vernunft (nicht des Gefühls), zu erkennen, was moralisch erlaubt, geboten und verboten ist. Andererseits hat sie die Funktion, eine Triebfeder zu moralischen Handlungen zu sein. 24 Ζ 34 Mit dem praktischen' meint Kant verschiedene Dinge: Ganz allgemein alles, was mit Moralität, und, damit zusammenhängend, mit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu tun hat; aber auch die praktische Philosophie, das Moralische sowie den praktischen Vernunftgebrauch. Ζ 35 Der praktische Vernunftgebrauch ist zweifach: Als principium diiudicationis erkennt die Vernunft, was moralisch ist; als principium executionis ist sie eine praktische Triebfeder.
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„Das moralische Gefühl ist die innre Achtung fürs Gesetz" (MM II, 626); das moralische Gefühl sei nur „per analogiam so genannt und soll nicht Sinn, sondern Gesinnung heißen" (R 5448). Auch im dritten Abschnitt der Grundlegung nennt Kant das moralische Gefühl die Grundlage der moralischen Triebkraft. Er identifiziert es mit dem Gefühl der Achtung: „Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaß unserer sittlichen Beurteilung von einigen ausgegeben worden, da es vielmehr als die subjektive Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objektiven Gründe hergibt" (GMS, 459 f.). 24 In diesem Sinne schreibt Kant schon in der Ethik-Vorlesung Kaehler: „Wir haben hier zuerst auf zwey Stükke zu sehen, auf das principium der Diiudication der Verbindlichkeit, und auf das principium der Execution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der Diiudication und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch. [Absatz] Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Diiudication, nach welchem ich die Bonitaet und Pravitaet der Handlung beurtheile. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das principium der Triebfeder" (VMK, 55 f.). - Eine Stelle in PPP (112,8-13) zum .principium diiudicationis' ist m.E. nicht rekonstruierbar. Andere Stellen in der Metaphysik der Sitten (Tugendlehre) stehen in einem größeren Zusammenhang und können hier nicht sinnvoll behandelt werden.
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Nach diesem Überblick müssen wir nun den Begriff des „Praktischen' noch genauer betrachten. Damit hängt auch die Frage zusammen, wie ausgereift Kants früher Autonomiebegriff ist (also der Autonomiebegriff vor der Veröffentlichung der GMS). Folgende Aspekte müssen berücksichtigt werden: a) Wie wird das Praktische im Kontext der ,Kardinalsätze' bestimmt? b) Wie wird das Praktische im Kontext der ,drei Fragen' bestimmt? c) Wie ausgereift ist der Autonomiebegriff in der Ethik-Vorlesung Kaehler? d) Wie ausgereift ist der Autonomiebegriff in der KrV? Ein entscheidender Gedanke bei all diesen Überlegungen lautet: Wenn Kant schreibt, daß die Frage nach der transzendentalen Freiheit für ,das Praktische' irrelevant sei, dann meint er damit vielleicht gar nicht das Praktische im Sinne des principium diiudicationis, sondern im Sinne des principium executionis. Er wäre demnach nur an pflichtmäßigen Handlungen interessiert, an den „Vorschriften'. Es ginge ihm aber nicht um Handlungen aus Pflicht. a) Das Praktische im Kontext der Kardinalsätze Innerhalb der Diskussion um die ,Kardinalsätze' und den ,letzten Zweck' bestimmt Kant im ersten Abschnitt an einer Stelle ausdrücklich, was überhaupt praktisch' ist (denn die ,Wichtigkeit' der ,Kardinalsätze' liege ja allein im praktischen'): „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z.B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit, und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäft der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine anderen als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reinen Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann. Dagegen würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon" (A800/B828). 25
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Vgl. R 3870: „Practisch wird etwas überhaupt betrachtet, so fern es nach den Gesetzen der freyen Willkühr erwogen wird. Geschieht es nach Regeln der guten Willkühr, so ist es
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Im zweiten Satz wird Freiheit als Eigenschaft der Willkür qualifiziert (,Ausübung unserer freien Willkür')· Den ersten Satz muß man daher folgendermaßen lesen: praktisch ist alles, was durch die Ausübung unserer freien Willkür möglich ist'. .Empirisch' sind die ,Bedingungen' der ,Ausübung dieser freien Willkür' dann, wenn unsere ,Neigungen' und ,Sinne' die Zwecke unseres Wollens und Handelns bestimmen. Wird dagegen der ,Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben', so ist es die reine Vernunft selbst, die unser Handeln bestimmt (insofern sie nämlich moralische Gesetze aufstellt). Kant weist diesen Gesetzen eindeutig das Merkmal zu, ,a priori' und ,empirisch unbedingt' zu sein; sie sind also ,Produkte der reinen Vernunft'. Das entspricht genau der These und dem Freiheitsbegriff aus der .Auflösung'. Es entspricht auch der Bestimmung der .letzten Absicht' der Vernunft, also der Beschäftigung mit der Frage, ,was zu tun sei, wenn der Wille frei' und das heißt: transzendental-praktisch frei ist. Der Satz von der transzendental-praktischen Freiheit des Willens ist als einer der drei Kardinalsätze ,νοη Wichtigkeit für das Praktische'. An dieser Stelle bestehen das .Praktische' und der .praktische Gebrauch der reinen Vernunft' also in der Eigenschaft der Vernunft, principium diiudicationis zu sein. Es geht hier allein um die moralischen Gesetze als Produkte' der reinen Vernunft; unmittelbar danach schließt sich ja auch, wie gesagt, die Frage an, ,was zu tun sei'. Da das praktische' aber genau dasjenige zu sein scheint, was durch diese transzendental-praktische Freiheit des Willens überhaupt erst möglich ist, ist der besagte Kardinalsatz sogar von besonderer Wichtigkeit. Denn das, wofür er wichtig ist, wird ja allererst durch das möglich, was er beinhaltet (sc. die transzendental-praktische Freiheit des Willens). Es ist allerdings sehr bemerkenswert, daß Kant in dieser langen Passage nicht erläutert, was der Begriff ,Freiheit' überhaupt genau bedeutet, er sagt nur, ,was durch Freiheit möglich ist', nämlich hypothetische und kategorische Imperative. Nun ist diese Passage aber mitten in der Diskussion um die .Kardinalsätze' zu finden. Da Kant sich, wie gezeigt, in diesem Diskussionskontext bis dahin (A800/B828) und auch direkt nach der Passage ohne Zweifel auf die transzendental-praktische Freiheit (TPF) bezieht, scheint auch in dieser Passage selbst dieser Begriff zugrundegelegt zu sein (jedenfalls müssen wir das annehmen). Anders gesagt: Vor dem Übergang zur Problempassage wird dasjenige praktisch' genannt, was durch transzendentalpraktische Freiheit möglich ist. Was durch diese Freiheit möglich ist, ist der regulative Gebrauch der Vernunft durch hypothetische Imperative und der moralische Gebrauch der Vernunft im Sinne des principium diiudicationis
moralisch, daher practisch und moralisch möglich oder nothwendig". Vgl. auch R 1028: „Denn alles, was unter den obiectiven Gesetzen der freyen Willkühr steht, heißt practisch".
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(Aufstellen der Moralgesetze); dieser moralische Gebrauch wird dann sofort als ,das Moralische' und als ,höchster Zweck' der Vernunft charakterisiert. 26 Dagegen wird, wie wir sahen, innerhalb der Problempassage das praktische' als dasjenige bestimmt, was durch die naturalisierte (praktische) Freiheit möglich ist (mit ihr ,als Grund oder Folge zusammenhängt'). 27 Ζ 36 Im Kanonkontext vor der Problempassage heißt dasjenige ,praktisch', was durch transzendental-praktische Freiheit (TPF) möglich ist, sc. hypothetische und kategorische Imperative. Die Vernunft wird dabei als principium diiudicatonis begriffen. b) Das Praktische im Kontext der drei Fragen zum Vernunftinteresse Mit den berühmten Fragen, was man wissen könne, was man tun solle, und 28
was man hoffen dürfe, setzt der zweite Kanonabschnitt ein.' Auch in ihrem Kontext spielt der Begriff des Praktischen' wieder eine Rolle. Die erste Frage sei „bloß spekulativ" (A805/B833). Dabei bestimmt Kant den theoretischen Gebrauch der Vernunft als denjenigen, „durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei" (A633/B661, u.H.). Die zweite Frage sei „bloß praktisch" (A805/B833), wobei der praktische Gebrauch der Vernunft im Sinne des principium diiudicationis zunächst als derjenige Gebrauch bestimmt ist, „durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle" (A633/B661, u.H.). Die dritte Frage schließlich sei „praktisch und theoretisch zugleich" (A805/B833). Sie ist insofern theoretisch', als das, was erhofft wird (Gott, Unsterblichkeit), ist: und sie ist insofern praktisch', als die Hoffnung, daß etwas sei, davon abhängt, daß etwas getan werden soll.
26
Unter der Annahme, daß die Freiheit, von der hier die Rede ist, im Sinne von TPF zu verstehen ist, scheinen die hypothetischen Imperative hier (wie schon in der Dialektik) als Gesetze des transzendental freien Verhaltens begriffen zu sein; sie werden als Gesetze des .freien Verhaltens' verstanden. Vgl. ähnlich (wie schon zitiert) die Dialektik: „Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen" (A548/B576). Wir gehen auf diese ^ Problematik nicht weiter ein. 27 Dieser entscheidende Unterschied in der Bestimmung dessen, was .praktisch und durch Freiheit möglich ist' (A800/B828 vs. A802/B830), wurde in der Literatur fast nicht bemerkt. So identifiziert z.B. auch Rech (1998, S.601) diejenige (transzendentale) Freiheit, durch die das Praktische .möglich ist', kurzerhand mit der Freiheit, die später als praktische Freiheit' definiert wird. Eine wichtige Ausnahme ist Gunkel (1989, bes. S.90-95), der denn auch zu dem kritischen Ergebnis kommt, der Kanon befinde sich noch „auf einem vorkritischen Reflexionsniveau" (S.95). Verwirrend ist allerdings, daß Gunkel Kant die Auffassung zuschreibt, es „könnte" (ebd., u.H.) sich bei der praktischen Freiheit um eine .Naturursache' handeln. 28 Vgl. auch JL, 25, den Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793 (AA XI, 429) und AMK, 1198.
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Die ,bloß theoretische' Frage hat Kant bereits im ersten Teil der KrV beantwortet. Dabei hat sich unter anderem herausgestellt, daß theoretisches Wissen mit Bezug auf die metaphysischen ,Kardinalsätze' nicht möglich ist. Die zweite Frage wird als ,bloß praktisch' (genauer: als bloß ethisch) aus der Transzendentalphilosophie und damit aus der Kanonthematik im Grunde ausgeschlossen. 29 Das heißt aber nicht, daß Kant überhaupt nicht auf diese Frage eingeht. Im Sinne seiner späteren Ethikschriften unterscheidet er (sachlich, nicht terminologisch) hypothetische von kategorischen Imperativen. Hypothetische Imperative haben (u.a.) zum Ziel, uns bei der „Befriedigung aller unserer Neigungen" (A806/B834) zu helfen. Im Unterschied dazu gebieten moralische Imperative kategorisch, also unabhängig davon, was wir (empirisch) begehren. Insofern es um Moral geht, darf die Erlangung der Glückseligkeit (als ,Befriedigung aller unserer Neigungen') nicht der Bewegungsgrund unseres Handelns sein; moralische Gesetze gebieten vielmehr, „wie wir uns verhalten sollen, um nur der Glückseligkeit würdig zu werden" (ebd.). Die Antwort auf die Frage, was man tun soll, lautet in diesem Kontext also: „Tue das, wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein" (A808f./B836f.). Ob hier wirklich schon ein Autonomiebegriff vorliegt (Handeln aus Pflicht), wird gleich zu untersuchen sein. Klar und unumstritten ist jedenfalls, daß Kant in der KrV und auch in der Ethik-Vorlesung Kaehler hinsichtlich des principium diiudicationis die wichtigsten Bestandteile seiner Ethik schon kennt. 30 Die dritte Frage („wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?", A805/B833) läßt sich auch folgendermaßen formulieren: „wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich dann auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?" (A809/B837). Die Frage ist nicht, ob ich dies in dem Sinne ,darf', daß überhaupt dieses Hoffen auf Glückseligkeit moralisch statthaft ist (es wird ja schon vorausgesetzt, daß ich moralisch will und handele, also der Glückseligkeit würdig bin). Die Frage ist, ob irgend etwas garantiert, daß mein moralisches Handeln mit Glückseligkeit „verbunden sei" (ebd., u.H.). Um diese Frage zu beantworten, führt Kant die „Idee einer moralischen Welt" (A808/B836) ein. Entscheidend ist, daß die Mitglieder dieser Welt als tatsächlich moralisch wollende und handelnde Wesen gedacht werden. Kant betont zweimal, daß in
29
Im Architektonikkapitel (A832ff./B860ff.) unterscheidet Kant zwischen dem spekulativen und dem praktischen Gebrauch der Vernunft. Die apriorische Wissenschaft vom praktischen Vernunftgebrauch heißt Metaphysik der Sitten und enthält „die Prinzipien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen. Nun ist die Moralität die einzige Gesetzmäßigkeit der Handlungen, die völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann" (A841/B869). Auch hier wird also wieder eindeutig der praktische Vernunftgebrauch im Sinne des principium diiudicationis verstanden. 30 Vgl. Allison (1990, S.68) und Schwaiger (1999, S.160 ff.)
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dieser Welt „von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben [sc. moralischen Welt, D.S.] (Schwäche oder 31 Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird" (ebd.). Die ,moralische Welt' wird also als eine Welt gedacht, die das Prädikat moralisch' verdient, weil ihre Mitglieder ausschließlich moralisch handeln. Und unter dieser „Bedingung [...], daß jedermann tue, was er soll" (A810/B838), wäre, so Kant, die Glückseligkeit aller Subjekte dieser Welt parallel zur Sittlichkeit aller Subjekte dieser Welt. 32 Er behauptet, daß die moralische Welt „selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher [moralischen] Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden" (A809/B837); es ist die Idee einer „sich selbst lohnenden Moralität" (ebd.). Natürlich ist aber die besagte Bedingung nicht erfüllt - „wenn man bloß Natur zum Grunde legt" (A810/B838), ist die Parallelität von Moralität und Glückseligkeit nicht garantiert. An dieser Stelle bringt Kant „das Ideal des höchsten Guts" (ebd.) ins Spiel, ein Begriff, dessen genaue Bedeutung in der Literatur sehr umstritten ist; wir können und müssen diesen Begriff aber hier auch nicht genau untersuchen. Kant unterscheidet das ,höchste ursprüngliche Gut' vom ,höchsten abgeleiteten Gut'. Letzteres ist nichts anderes als die oben skizzierte moralische Welt, die aufgrund der menschlichen Beschränktheit als „künftige Welt" (A811/B839) charakterisiert wird. Das .höchste ursprüngliche Gut' ist Gott, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens ist er die „Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille [.] mit der höchsten Seligkeit verbunden" (A810/B838) ist; zweitens ist er als eine solche Intelligenz „die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt [...], sofern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht" (ebd.). Da wir wissen, daß die moralischen Gesetze gelten und wir uns als Glieder einer intelligiblen Welt verstehen müssen, müssen wir auch die Bedingungen für möglich halten, unter denen allein jene Gesetze und diese Welt möglich sind - Gott und Unsterblichkeit.
31
Die zweite Stelle lautet: „Nun läßt sich in einer intelligiblen, d.i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der [Kirchmann: den] Neigungen,) abstrahieren ..." (A809/B837). 32 Vgl. auch Kants Diskussion der platonischen Republik am Anfang der Dialektik. Kant sagt dort, daß die Glückseligkeit bei einer „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann [...] schon von selbst folgen" (A316/B373) würde; solch eine Verfassung und freiheitliche Republik sei eine Idee, „wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muß" (ebd.), die sowohl aus der menschlichen Natur und vielleicht sogar mehr noch aus der schlechten Gesetzgebung entspringen.
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In der KpV verläuft die Grundüberlegung zum höchsten Gut sowie zu Gott und Unsterblichkeit als Postulaten folgendermaßen: Glückseligkeit kann nicht der Bestimmungsgrund der Sittlichkeit sein; umgekehrt bringt Sittlichkeit nicht zwangsläufig Glückseligkeit mit sich. Die Ethik hat also weder damit zu tun, wie wir durch Glückseligkeit tugendhaft sind noch durch Tugendhaftigkeit glückselig. Beide Momente zusammen, Glückseligkeit im angemessenen Verhältnis zur Sittlichkeit, machen aber das höchste Gut aus, nach dem die praktische Vernunft strebt und streben muß. 33 Damit dieses höchste Gut als möglich gedacht werden kann, ist es notwendig, zwei Postulate der reinen praktischen Vernunft aufzustellen: die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Die Unsterblichkeit der Seele ist ein Postulat, weil nur eine ins Unendliche fortdauernde Existenz der Seele es erlaubt, die für das höchste Gut notwendige moralische (approximative) Vollkommenheit der Seele zu denken. Das Dasein Gottes ist ein Postulat der reinen praktischen Vernunft, weil nur ein allwissendes, allmächtiges und heiliges Wesen garantieren kann, daß die dem moralischen Menschen zustehende Glückseligkeit tatsächlich möglich ist und auch wirklich sein kann. Ζ 37 Im Kontext der ,drei Fragen' wird praktisch' im Sinne von ,ethisch' verwandt. Dabei wird die Frage ,was soll ich tun?' als ,bloß praktisch' aus der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen. c) Autonomie in der Ethik-Vorlesung Kaehler Wir müssen jetzt zu der Frage übergehen, ob Kant in der KrV schon über einen kritischen (ausgereiften) Begriff der Autonomie verfügt. 34 Anders gefragt: In welchem Sinne und Umfange begreift Kant bereits in der KrV die praktische Vernunft als ein Vermögen, das nicht nur moralische Gesetze formuliert, sondern diese allein auch mit Geltung versieht und zugleich handlungswirksam macht? Oder noch einmal anders gefragt: Kann die Vernunft allein und als solche nicht nur principium diiudicationis, sondern auch principium executionis sein? Oder bedarf der Mensch, um moralisch zu handeln.
33 34
Vgl. auch die klare Bestimmung dieses Begriffs in DO, 139. Eine deutliche Stelle für einen ausgereiften Autonomiebegriff findet man z.B. im allerersten Satz der Religionsschrift: „Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, ebendarum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten [i.e. zu befolgen] [...] Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objektiv, was das Wollen, als subjektiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug" (Rel, 3). - Zum Autonomiebegriff wie überhaupt zu den Grundzügen von Kants Ethik vgl. auch Schönecker / Wood ( 2 2004).
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zusätzlicher Antriebe, wie etwa der Verheißung zukünftiger Glückseligkeit oder der Androhung von Strafen? Für unsere Frage nach der Vernunft als principium executionis ist zentral, daß Kant in der späteren KpV Gott und der Unsterblichkeit keine Triebfederfunktion zuweist. Das höchste Gut ist ein notwendiges Objekt der reinen praktischen Vernunft und setzt die Gültigkeit und Triebfederkraft des moralischen Gesetzes bereits voraus; es ist ein ,Faktum der Vernunft', aus dem die Postulate erst abgeleitet werden. Die Frage ist nun, ob das in der ersten ,Kritik' noch anders aussieht. Die Frage ist, ob Kant in der KrV Gott und die Unsterblichkeit der Seele als Triebfedern begreift, die wir zwar nicht brauchen, um das Gute zu erkennen (principium diiudicationis), aber doch brauchen, um hinreichend motiviert zu sein, das Gute auch zu wollen (zu tun). In der Forschung ist diese Frage bejaht worden; Allison etwa spricht in diesem Zusammenhang von Kants .„semi-critical' moral theory" (1990, S.67). 35 Als Grundlage für diese Behauptung wurde dabei besonders auch die EthikVorlesung Kaehler herangezogen, der wir uns jetzt zuerst zuwenden wollen. 36 Die für unsere Fragestellung wichtigste Passage ist überschrieben ,Vom obersten principio der Moralitaet' (VMK, 55); sie befindet sich im Kapitel Π (Obligantia, Sectio 1). Kant führt dort den Unterschied zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis ein. Alle Ausführungen zum moralischen Prinzip als principium diiudicationis haben dabei bereits das Niveau der späteren ethischen Schriften. 37
35
Vgl. schon Cohen (1925, S.210), der bereits bemerkte, daß der kritische Autonomiebegriff von Freiheit in der Problempassage „noch nicht erreicht" sei. In jüngerer Zeit hat auch Meyer (1996) wieder betont, daß Kants Moralbegriff in der KrV noch unkritisch sei: „Jenseitige Glückseligkeit wird somit in der KrV zum principium executionis moralischen Handelns" (S.47 f.). Auf diesen .theologischen Eudaimonismus' sei daher auch der praktische Freiheitsbegriff aus dem Kanon zugeschnitten: Er beinhalte zwar die völlige Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben, sei aber auf die theologisch verstandene Glückseligkeit ausgerichtet: „Zugunsten einer Glückseligkeit als göttlicher Belohnung in einer transzendenten Welt werden alle Anreize der Sinnlichkeit, alle irdischen Verlockungen distanzierbar" (S.49). Meyer bietet keine Textanalysen an; schon daher ist seine These nicht überzeugend (so schreibt er beispielsweise, die praktische Freiheit sei „immer schon über die Naturkausalität hinaus" [S.50], ohne auch nur zu erwähnen, daß Kant im Kanon die praktische Freiheit als .Naturursache' bezeichnet). 36 Mit der .Vorlesung Kaehler' (VMK) ist die erst 1997 wiederaufgefundene Abschrift J.F. Kaehlers gemeint, die 2004 von Werner Stark als „Vorlesung zur Moralphilosophie" herausgegeben wurde. Starks Ausgabe tritt an die Stelle der bis dahin maßgeblichen (auch durch die Ausgabe in Bd. 27 der Akademie-Ausgabe von 1974-1979 nicht ersetzten) Edition von Paul Menzer von 1924. Die Datierung der Kaehlers Abschrift zugrundeliegenden Vorlesung Kants ist nicht gesichert; Kant hat die Vorlesung aber wohl Mitte der 1770er Jahre gehalten (im Wintersemester 1773/74 oder 1774/75). Die Seitenangaben beziehen sich auf die originalen Seitenzahlen bei Kaehler. (Für alle hier zitierten Stellen aus VMK ergeben sich keine wesentlichen Abweichungen zu Menzers Edition.) 37 Vgl. besonders VMK, 55 ff.
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Daraus folgt aber schon etwas ganz Wichtiges: Es ist nämlich wenig plausibel, daß Kant 1781 die kategorische Bedeutung des moralischen Gesetzes schon voll erkannt hat und dennoch die Motivationsfrage mit dem Hinweis auf „Verheißungen und Drohungen" (A811/B839) beantwortet. 38 Der kategorische Imperativ ist ja gerade insofern kategorisch, als er nicht an ein vorausgesetztes Interesse gebunden ist. Klar ist für Kant 1781 auch, daß die moralischen Gesetze nicht deswegen gelten, weil sie Gottes Willen entspringen. Klassisch sokratisch argumentierend schreibt Kant, es seien umgekehrt die moralischen Gesetze deswegen auch Gottes Gesetze (wenn auch nicht Imperative), weil sie an und für sich gelten: „Es ist wahr, das moralische Gesetz ist ein Befehl und sie können Gebothe des göttlichen Willens seyn, aber sie fliessen nicht aus dem Geboth. Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt" (VMK, 61). Das heißt aber doch: Nicht nur können wir erkennen, was die moralischen Gesetze sind, ohne Gottes Willen zu kennen; die moralischen Gesetze gelten auch unabhängig davon, was Gott will oder gebietet (wenn auch Gott die moralischen Gesetze gebietet, gerade weil sie moralisch sind und weil sie gelten). 39 Dennoch trägt Kant in diesem Kontext Gedanken vor, die vom späteren Autonomiebegriff noch weit entfernt zu sein scheinen. Die ganze Passage (VMK, 61 ff.) beginnt mit dem eben skizzierten Argument, daß die moralischen Gesetze zwar mit dem Willen Gottes übereinstimmen, aber nicht aus ihm entspringen; es sei ein Fehler, die moralischen Gesetze aus Gott abzuleiten. Kant fährt dann fort: „Folglich müssen die Pflichten aus einem andern Quell entlehnt sein. Die Ursache dieser Ableitung der Moralitaet aus dem göttlichen Willen ist diese: weil die moralischen Gesetze lauten: du sollst das thun, so denkt man es muß ein drittes Wesen seyn, welches das verbothen hat. Es ist wahr, das moralische Gesetz ist ein Befehl und sie können Gebothe des menschlichen Willens seyn, aber sie fliessen nicht aus dem Geboth. Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt. Ferner so scheint alle Verbindlichkeit eine Beziehung zu haben auf einen obligantem. Wir haben keine Obligation als durch einen universaliter obligantem. Es scheint also Gott obligator der moralischen Gesetze zu seyn. In der Execution muß zwar freylich ein drittes Wesen seyn, das da nöthiget dasjenige zu thun, was moralisch gut ist. Allein zur Beurtheilung der Morali-
38
Zu diesen Formulierungen wie überhaupt zu dem ganzen Komplex vgl. auch R 6858. Wenn das ,moralische Gesetz' nur dasjenige wäre, das Gott will, dann müßte die Gotteserkenntnis der ethischen Erkenntnis vorangehen: „Wenn das wäre so müsten alle Völker erst Gott erkennen, ehe sie den Begrif von den Pflichten hätten; also müste folgen, daß alle Völker, die keinen rechten Begrif von Gott hätten, auch keine Pflichten hätten, welches aber falsch ist. Völker erkannten ihre Pflichten richtig, sie sahen ein die Häßlichkeit der Lügen ohne den rechten Begrif von Gott zu haben" (VMK, 61).
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taet brauchen wir kein drittes Wesen. Alle moralischen Gesetze können richtig seyn ohne ein drittes Wesen. Aber in der Ausübung wären sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nicht nöthigen möchte. Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntniß Gottes ist in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze nothwendig" (VMK, 61 f.).
Kant unterscheidet also zwischen dem principium diiudicationis und executionis. Für das moralische Gesetz als principium diiudicationis brauchen wir Gott als ,drittes Wesen' nicht.40 Für die ,Exekution' (also für das principium executionis) sieht das anders aus: Gott ,nötige' zum moralischen Handeln; ohne Gott wären die moralischen Gesetze ,in der Ausübung leer': Gott .nötige' uns also ,dazu\ d.h. zur Ausübung der moralischen Gesetze; ohne ihn wären alle moralischen Gesetze ,ohne Effekt'; ohne ihn ,wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung'. - Zunächst muß man sehen, daß Kant hier nicht seine eigene Position beschreibt, sondern eine andere Position referiert. Er bezieht sich nämlich auf die theologisch-moralischen Auffassungen der „Völker" (VMK, 61) über Gott und Moral. Er kritisiert diese Auffassungen bezüglich des principium diiudicationis, stimmt aber zu hinsichtlich des principium executionis (,Man hat also mit Recht eingesehen, daß ...'). Die Grundthese besteht offenkundig darin, daß ohne Gott die Menschen das moralische Gesetz nicht befolgen. Aber was genau ist damit gesagt? Von einem ,höchsten Gut' und von Gott als .Postulat' ist hier nicht die Rede. Vielmehr scheint es um eher archaische und ursprünglich religiöse Vorstellungen der ,Völker' von Gott als einem .obersten Richter' zu gehen, der .Belohnung und Bestrafung' austeilt; Menschen handeln moralisch, weil sie auf eine Belohnung Gottes hoffen oder weil sie eine Bestrafung durch ihn fürchten. Kant stimmt diesen Vorstellungen offenkundig zu, aber inwiefern? Man darf diese Thesen nicht als normativ mißverstehen. Kant will keineswegs sagen, daß man bloß mit Blick auf .Belohnung und Bestrafung' moralisch handeln soll. Er will auch nicht sagen, daß Menschen nur allein aus diesen Triebfedern überhaupt handeln können. Kant stimmt vielmehr der faktischhistorischen Erkenntnis der .Völker' zu, daß Menschen tatsächlich sehr oft, üblicherweise und unter den gegebenen Bedingungen der Hoffnung auf Belohnung oder der Angst vor Bestrafung als Triebfeder bedürfen. Das heißt aber nicht zwingenderweise, daß Menschen prinzipiell nicht autonom handeln könnten, d.h. allein aus Achtung vor einem Gesetz, dessen Gültigkeit nicht von Gottes Willen abhängt.
40
Mit dem .dritten Wesen' meint Kant offenkundig Gott (neben dem Adressaten des Gesetzes und dem Gesetz selbst).
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Diese relativierende Lesart jener Passage aus VMK (61 ff.) wird gestützt durch andere Passagen aus dem selben Abschnitt (,Vom obersten Principio der Moralität')· Schon im dritten Absatz heißt es: „Das oberste principium aller moralischen Beurtheilung liegt im Verstände, und das oberste Principium alles moralischen Antriebes, diese Handlung zu thun, liegt im Hertzen; diese Triebfeder ist das moralische Gefühl" (VMK, 57).
Kant kritisiert, wie gesagt, die Vorstellung, das moralische Gefühl könne als principium diiudicationis dienen; das kann nur die Vernunft. Und er warnt auch davor, das moralische Gefühl als „intellectuale Neigung" (ebd.) mißzuverstehen. Aber die Aussage ist dennoch eindeutig: Die Triebfeder zu moralischem Handeln ist das ,moralische Gefühl'. Zum Ende des Abschnitts kommt Kant noch einmal auf diese These zurück: „Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden. Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, die Handlung zu thun, so ist das das moralische Gefühl. Das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Krafft zu urtheilen haben. Urtheilen kann der Verstand freylich, aber diesem Verstandes-Urtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen" (VMK, 68 f.). 41
Es ist ein ,Stein der Weisen' für Kant geblieben (in der Tat ist ein ,Stein der Weisen' als alchimistischer Wunderstein ja etwas, das es gar nicht geben kann).42 Die Frage, wie die Vernunft durch das moralische Gesetz Triebfeder (principium executionis) sein kann, ist genau die Frage, auf die es schon in den Vorlesungsschriften und dann auch gemäß der Grundlegung prinzipiell keine Antwort geben kann. 43 Aus dieser (behaupteten) Tatsache, daß wir nicht wissen können, wie die Vernunft principium executionis sein kann, folgt aber nicht, daß die Vernunft dieses Vermögen nicht besäße. Erneut wird das 41
In diesem Zusammenhang erwähnt Kant übrigens auch den nicht systematisch verwendeten Unterschied zwischen der Autonomie und Autokratie. Autokratie bedeutet die Eigenschaft der Vernunft, als autonome Vernunft zugleich Triebfeder des Handelns zu sein: „Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie die Kraft einer Triebfeder, sie hat alsdenn nicht bloß Avtonomie sondern auch Avtocratie. Sie hat denn gesetzgebende und auch executive Gewalt. Die avtocratie der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl" (MM II, 626). 42 Vgl. auch die Hinweise von Stark zu jener Stelle (VMK, S.69, Anm. 47). 43 Nach Brandt (1988, S.190, Fn.17) hat Kant die Überzeugung, daß eine Antwort auf die Frage, wie reine Vernunft praktisch werden kann, nicht gefunden werden könne, „spätestens in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gewonnen". - Auch in MLi macht Kant deutlich, daß der Stein der Weisen überhaupt nicht zu finden ist. Das moralische Gefühl, so heißt es da, sei „etwas, was man nicht recht verstehen kann" (MLi, 258). Vgl. auch R 5351: „Obiective Ursachen sind nur im freyen Willen. [Absatz] Wie diese zugleich subjectiv, d.i. causae efficientes seyn können, ist nicht zu erklären, hypothesis der freyheit".
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,moralische Gefühl' als Vermögen begriffen, durch die moralischen Urteile der Vernunft ,affiziert zu werden'. Und genau wie am Anfang zweifelt Kant auch hier nicht an der Existenz dieses Vermögens (nur an seiner Erkennbarkeit). 44 Doch es wird nicht nur das moralische Gefühl (in der GMS heißt dieses Gefühl dann ,Achtung') als principium executionis verstanden; und nicht nur sind die Bemerkungen über ,Belohnung und Bestrafung' in erster Linie als Wiedergabe der theologisch-moralischen Vorstellungen der ,Völker' zu verstehen. Kant kritisiert diese Vorstellungen als ,korrupt'. Im direkten Anschluß an die oben zitierten Vorstellungen der Völker heißt es: „Alle Theologischen Begriffe sind desto corrupter, je corrupter die moralischen Begriffe sind. Wenn in der Theologie und Religion die Begriffe rein und heilig wären, so möchte man sich nicht bestreben auf eine Menschliche und Gott unanständige Art Gott zu gefallen" (VMK, 63, u.H.). Der Fortgang im Text zeigt dann, wann moralisch-theologische Begriffe ,rein' wären (sc. dann, wenn sie im Sinne der Autonomie verstanden werden): „Wenn aber ein sittlicher Mensch aus innerm Trieb, wegen der innern Bonitaet der Handlungen, sich bestrebt das moralische Gesetz auszuüben, und die göttlichen Gebothe gerne thut, der ehret Gott. Wenn wir aber seine Gebothe darum ausüben sollen, weil er sie befohlen hat und weil er so mächtig ist, daß er uns durch Gewalt dazu bringen kann, so üben wir sie aus Befehl, aus Furcht und Schrekken aus, und sehen gar nicht die Billigkeit der Vorschrifft ein, und wissen nicht, warum wir das thun sollen, was Gott befohlen hat, und warum wir ihm gehorsam seyn sollen. Denn die vis obligandi kann nicht in der Gewalt bestehn, wer da drohet, der obligirt nicht, sondern der extorquirt. Wenn wir also das moralische Gesetz aus Furcht für der Strafe und Gewalt Gottes ausüben sollen, das weiter keinen Grund hat, als weil es Gott befohlen, so thun wir es nicht aus Pflicht und Verbindlichkeit, sondern aus Furcht und Schrekken, dadurch aber wird das Herz nicht gebessert. Wenn aber die Handlung aus inneren principio entsprungen ist, wenn ich die Handlung darum, weil sie an sich selbst schlechthin gut ist, und also gern thue, so hat das einen wahren Wohlgefallen bey Gott. Gott will Gesinnungen haben und die müssen aus einem innern principio kommen." (VMK, 63 f., u.H.)
Schon bei der Darstellung der anderen moralisch-theologischen Vorstellungen hieß es, das moralische Gesetz dürfe „nicht ein principium externum seyn" (VMK, 70). Wenn es aber kein ,principium externum' sein darf, dann muß es wohl doch ein principium internum sein; und tatsächlich spricht Kant in dieser Passage ja zweimal von einem ,inneren Prinzip'. Dieses Prinzip besteht darin, dem moralischen Gesetz nicht wegen zukünftiger Belohnungen oder Bestraf-
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Tatsächlich versucht Kant dann noch über mehrere Seiten hinweg, das .moralische Gefühl' plausibel zu machen. In diesem Kontext heißt es dann: „Also stekt doch im Verstände vermöge seiner Natur eine bewegende Krafft" (VMK, 86). Aber es bleibt ein Problem.
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ungen Folge zu leisten, sondern um seiner selbst willen, also .wegen der inneren Bonität der Handlung'. Wer so handelt, der handelt ,aus Pflicht'. Aus Pflicht handeln ist aber nichts anderes als ,aus Achtung' zu handeln. 45 Es wird dem Text der Ethik-Vorlesung Kaehler also nicht gerecht, hier von einer ,semi-critical moral theory' zu sprechen. Nicht nur sind Kants Ausführungen zum principium diiudicationis bereits auf der Höhe der späteren ethischen Schriften. Auch was er zum principium executionis sagt, kommt dem Autonomiebegriff schon sehr nahe. Die Frage, wie reine Vernunft praktisch sein kann, oder anders gefragt: wie sie, als principium executionis, autonom sein kann, oder noch einmal anders gefragt: wie sie transzendentalpraktisch frei sein kann, 46 kann zwar nicht beantwortet werden (die Antwort bleibt ein ,Stein der Weisen'). Aber das heißt nicht, daß Kant nicht schon über einen Begriff der Autonomie verfügte. Ζ 38 Kants Ausführungen in der Ethik-Vorlesung Kaehler sind nicht eindeutig, lassen aber doch den Schluß zu, daß Kant bereits über einen weitgehend ausgereiften Autonomiebegriff verfügte: Die moralischen Gesetze gelten unabhängig von Gottes Willen. Hinsichtlich der Vernunft als principium executionis ist Kant zwar skeptisch; aber die reine praktische Vernunft kann Triebfeder sein, wenn es auch unerkennbar ist, wie dies möglich ist. d) Autonomie in der KrV Wie steht es nun um den Autonomiebegriff in der KrV? Die Ethikvorlesung Kaehler ist ja nur einer der Texte, auf die sich Allison mit seiner These von der ,semi-critical moral theory' bezieht; bloß ,semi-critical' seien auch die diesbezüglichen Ausführungen im Kanon. Genauer als bisher sollten wir zwei Aspekte des Autonomiebegriffs unterscheiden: Geltung und Motivation. Negativ betrachtet gelten moralische Gesetze im Rahmen einer Ethik der Autonomie unabhängig von Gott und unabhängig von subjektiven Interessen (Präferenzen). Die Antwort auf die Frage „Warum moralisch sein?" wird also in einer solchen Ethik nicht mit dem Hinweis beantwortet, diese Gesetze seien von Gott geboten, oder ihre Befolgung läge im eigenen Interesse. Nennen wird das den Geltungsaspekt. Der Motivationsaspekt hat mit der Frage zu tun, was uns dazu antreibt, moralische Gesetze zu befolgen, und wie wir moralische Handlungen verstehen sollen. Zunächst muß klar sein, daß Kant auch in der KrV die Geltung moralischer Gesetze nicht einfach ungeprüft voraussetzt; ein ,Faktum der Vernunft' gibt es
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Vgl. z.B. KpV, 81: „... aus Pflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz"; vgl. auch R 5448 zum moralischen Gefühl als Gesinnung. Auf diese sehr wichtige Gleichstellung kommen wir gleich zurück.
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dort nicht. 47 Das ist auch schon deswegen unwahrscheinlich, weil Kant in der vier Jahre später erschienenen Grundlegung ausdrücklich eine Deduktion des kategorischen Imperativs anstrebt und erst nach deren Scheitern dann in der KpV eine solche Deduktion für unmöglich erklärt; erst dann wird das sogenannte Faktum-Theorem aufgestellt. 48 Im Kanon wird die Gültigkeit der moralischen Gesetze an zwei Stellen thematisiert. Zunächst heißt es bei der Antwort auf die zweite Frage (,Was soll ich tun?'): „Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe [...]. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen, nicht allein, indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urteil eines jeden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will" (A807/B835). Kant liefert hier weder einen Beweis der Gültigkeit des moralischen Gesetzes (wie in der GMS) noch argumentiert er im Sinne des Faktum-Theorems der KpV. Er drückt sich betont vorsichtig aus (,Ich nehme an ...'), und diese Vorsichtigkeit zeigt sich dann auch noch einmal ganz am Ende des Kanonkapitels. Nachdem Kant für den ,moralischen Glauben' an Gott und die Unsterblichkeit der Seele plädiert hat, heißt es nämlich: „Das einzige Bedenkliche, das sich hierbei findet, ist, daß sich dieser
47
In der zweiten Auflage sieht das etwas anders aus; vgl. im revidierten Paralogismuskapitel die „Allgemeine Anmerkung, den Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie betreffend" (B428ff.). 48 Im dritten Abschnitt der Grundlegung äußert Kant sich zur Geltung und Autonomie folgendermaßen: Die Vernunft stellt als principium diiudicationis moralische Gesetze auf. Die Geltung dieser Gesetze (kategorischen Imperative) ist - im Unterschied zu hypothetischen Imperativen - nicht davon abhängig, daß die Adressaten ein subjektives Interesse verfolgen; wenn moralische Gesetze gelten, dann gelten sie notwendig und allgemein. Man kann zwar fragen, ob moralische Gesetze gelten; wenn das aber vorausgesetzt ist, ist die Frage: ,Aber warum soll ich mich an dieses Gesetz halten?', überflüssig, weil die Fragestellerin dann nur noch danach fragt, welches Interesse sie daran haben könnte, das moralische Gesetz tatsächlich zu befolgen, womit sie aber der wichtigsten Eigenschaft kategorischer Imperative widerspricht - daß sie nämlich ohne vorausgesetztes Interesse befolgt werden müssen. Der entscheidende Gedanke der Autonomie besteht aber nicht nur darin, daß die moralischen Gesetze ohne vorausgesetztes Eigeninteresse gelten; insbesondere ist ihre Geltung auch nicht von Gott und der damit verbundenen Vorstellung von Drohung und Verheißung verbunden. Das moralische Gesetz gilt nicht, weil Gott es aufgestellt hat. Es entspringt der Vernunft und der Freiheit selbst. Wir müssen uns aufgrund der Spontaneität unseres Denkens auch im Handeln für frei halten; der positive Aspekt der Freiheit besteht aber in der Selbstgesetzgebung der Vernunft (also der Autonomie). Das moralische Gesetz gilt also, weil es der Vernunft entspringt, einer Vernunft, über die jeder Mensch als Vernunftwesen verfügt und die als intelligibles Vermögen sein eigentliches Selbst ausmacht; was moralisch geboten ist, ist also das, was ich als bloß vernünftiges Wesen ohnehin will (das Sollen ist, wie Kant sagt, .eigentlich ein Wollen'). Die Vernunft stellt also autonom Gesetze auf, und sie gelten, weil diese Vernunft das eigentliche Selbst des Menschen ist. Wenn die Geltung des moralischen Gesetzes sichergestellt ist, dann wissen wir auch, daß die Vernunft als principium executionis vermittelst des Gefühls der Achtung handlungsbestimmend sein kann - wie aber die Vernunft praktisch, wie sie also tatsächlich handlungsbestimmend sein kann, ist eine unbeantwortbare Frage (vgl. auch DO,139). - Zur GMS III vgl. ausführlich Schönecker (1999a).
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Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet. Gehen wir davon ab, und nehmen einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze gänzlich gleichgültig wäre, so wird die Frage, welche die Vernunft aufwirft, bloß eine Aufgabe für die Spekulation, und kann alsdann zwar noch mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müßte, unterstützt werden" (A829/B857). Im Unterschied zur ersten Stelle scheint Kant hier die Gültigkeit des moralischen Gesetzes also sehr wohl für bezweifelbar zu halten; er hält es ja für durchaus ,bedenklich', die Postulatenlehre und den damit verbundenen Vernunftglauben einfach ,vorauszusetzen Aber Kant vertritt in der KrV nicht nur keine Faktum-Theorie. Er vertritt (wie bereits in VMK) auch keinen ethischen Supernaturalismus: Die moralischen Gesetze gelten nicht deshalb, weil sie Gottes Willkür entspringen. Diese Frage nach der Geltung des moralischen Gesetzes ist aber auf eine eigentümliche und verwirrende Weise mit der Frage verknüpft, ob und wie dieses Gesetz verbindende Kraft' haben kann. Blicken wir für diese Frage zunächst auf die ,Auflösung der dritten Antinomie', dann auf eine Stelle aus Kants Kritik der spekulativen Theologie und schließlich auf den zweiten Abschnitt des Kanons. In der Auflösung' analysiert Kant die Vernunft als ,Kausalität'. Sie ist nicht nur ein Vermögen, Gesetze aufzustellen (principium diiudicationis). Sie wird auch selbst als Ursache von Erscheinungen in der Sinnenwelt betrachtet (principium executionis); insbesondere als principium executionis ist die Vernunft also transzendental-praktisch frei. Allerdings darf man Kant hier nicht mißverstehen. Seine Analysen in der ,Auflösung' sollen nicht zeigen, daß es tatsächlich transzendental-praktische Freiheit gibt. Kants Beweisziel ist viel bescheidener: „Die Freiheit wird hier [sc. in der .Auflösung'] nur als transzendentale Idee behandelt" (A558/B586). Kant äußert sich in der .Auflösung', wie oben schon gesagt, nur sehr zurückhaltend über die Wirklichkeit der freien Willkür und damit der praktischen Vernunft. Ob es so etwas wie die Vernunft als principium executionis überhaupt gibt, bleibt nach der ,Auflösung' also offen. Sicher ist nur, daß es sie geben kann (sie also mit der Vorstellung eines durchgängigen Naturdeterminismus verträglich ist). Betrachten wir nun die folgende Passage innerhalb von Kants Kritik der spekulativen Theologie: „Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was da sein soll. Diesem nach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle. Wenn nun entweder, daß etwas sei, oder geschehen solle, ungezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt ist: so kann doch entweder eine gewisse bestimmte
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Bedingung dazu schlechthin notwendig sein, oder sie kann nur als beliebig und zufällig vorausgesetzt werden. Im ersteren Falle wird die Bedingung postuliert (per thesin), im zweiten supponiert (per hypothesin). Da es praktische Gesetze gibt, die schlechthin notwendig sind (die moralischen), so muß, wenn diese irgendein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, notwendig voraussetzen, dieses Dasein postuliert werden, darum, weil das Bedingte, von welchem der Schluß auf diese bestimmte Bedingung geht, selbst a priori als schlechterdings notwendig erkannt wird. Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch beiseite" (A633f./B661f.). O b w o h l in dieser Passage die V e r n u n f t als principium executionis nicht eigens thematisiert wird, ist ein G e d a n k e dennoch auffällig. Kant schreibt nicht, das Dasein Gottes sei die Bedingung der Geltung der moralischen Gesetze. E r behauptet vielmehr, daß es ,die B e d i n g u n g der Möglichkeit ihrer verbindenden K r a f t ' sei (Hervorhebung Kants!). Dies scheint eindeutig d e m A u t o n o m i e g e d a n k e n zu widersprechen: W e n n die V e r n u n f t alleine (und der Respekt vor ihrem moralischen Gesetz) nicht in der Lage ist, moralische H a n d l u n g e n hervorzubringen, dann hat die V e r n u n f t selbst keine .verbindende K r a f t ' ; sie ist dann in moralischer Hinsicht nicht .praktisch'. A u c h der zweite Abschnitt des Kanon läßt vermuten, Kants Theorie v o m ,principium executionis' sei ,semi-critical'; Kant selbst verweist ja an der eben zitierten Stelle (A633f./B661f.) auf den K a n o n und auf die postulatorische Schlußart von der Geltung des Gesetzes auf die Existenz Gottes als Bedingung ihrer v e r b i n d e n d e n Kraft'. 4 9 Ganz i m Sinne der von i h m später als heteron o m e Ethik kritisierten Moralphilosophie scheint Kant i m Kanon das moralische Gesetz mit .Verheißungen und D r o h u n g e n ' zu verknüpfen: „Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer, sofern sie der Moralität genau angemessen ausgeteilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten. Dieses können sie aber auch nicht tun, wo sie nicht in einem notwendigen Wesen, als dem höchsten Gut liegen, welches eine solche zweckmäßige Einheit allein möglich machen kann" (A811f./B839f.).
49
Er sagt ja dort, er wolle ,künftig' von den moralischen Gesetzen zeigen, daß aus ihnen das Dasein Gottes als Postulat folgt; er setze jetzt' diese Postulatenlehre ,noch beiseite'.
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Und wenige Zeilen später heißt es: „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen" (A813/B841). 50
Auf den ersten Blick scheinen die Aussagen in diesen beiden Passagen eindeutig: 1. Ohne die Existenz Gottes und das zukünftige Leben sind die moralischen Gesetze Hirngespinste'; sie haben dann keine Geltung. 2. Ohne die Existenz Gottes und das zukünftige Leben können die moralischen Gesetze nicht als ,'Triebfedern' wirken; sie sind dann keine principia executionis. Es ist in der Tat nicht leicht, diese Lesart und damit die These zu vermeiden, Kants Theorie sei hier noch ,semi-critical'. Allerdings gibt es im zweiten Abschnitt des Kanons auch Passagen, die ein ganz anderes Bild nahelegen. Ist mit diesen beiden Stellen also wirklich gezeigt, daß Kant der Vernunft moralische Autonomie abspricht? Oder genauer gefragt: Wird mit diesen Formulierungen die Geltung und Motivationskraft des moralischen Gesetzes auf supernaturalistische Weise an Gott gebunden? Und ist damit wirklich behauptet, daß die Vernunft grundsätzlich nicht für sich moralischpraktisch sein kann? Die Antwort auf die erste Frage muß lauten: Zumindest an einer Stelle knüpft Kant die Geltung des moralischen Gesetzes keineswegs an die Existenz und gebieterische Kraft Gottes: „Wenn aber praktische Vernunft nun diesen hohen Punkt erreicht hat, nämlich den Begriff eines einigen Urwesens, als des höchsten Guts, so darf sie sich gar nicht unterwinden, [...] um von diesem Begriffe auszugehen, und die moralischen Gesetze selbst von ihm abzuleiten. Denn diese waren es eben, deren innere praktische Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbstständigen Ursache, oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben, und daher können wir sie nicht nach diesem wiederum als zufällig und vom bloßen Willen abgeleitet ansehen, insonderheit von einem solchen Willen, von dem wir gar keinen Begriff haben würden, wenn wir ihn nicht jenen Gesetzen gemäß gebildet hätten. Wir werden, soweit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind,1511 sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbunden1521 sind" (A818f./B846f.).
50 51 52
Vgl. auch A815/B843. In Ausgabe Α ist die Stellung etwas anders, aber nicht sinnverändernd. .verbindlich'; wir übernehmen die Konjektur Erdmanns.
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Das ist - genau wie in der Mitschrift Kaehler - eine ganz klare Ablehnung des Supernaturalismus: Die moralischen Gesetze haben eine , innere praktische Notwendigkeit'; wir sind also unabhängig von Gott bereits ,innerlich verbunden'. Der Schluß verläuft also vom moralischen Gesetz auf Gott und nicht umgekehrt (es ist die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes selbst, die zu der Voraussetzung eines weisen Weltregierers führt'). 53 Genau diesen ,Schluß' hatte Kant bereits zum Anfang des zweiten Abschnittes als die Quintessenz seiner „Moraltheologie" (A814/B842) beschrieben: Das Hoffen, 54 so schreibt er dort mit Bezug auf die dritte Frage, „läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas geschehen soll" (A806/B834). Es ist Gott, dessen Existenz (.sei') hier angenommen wird; was hier geschehen soll', ist das durch das moralische Gesetz Gebotene. Doch wird im Kanon nicht nur die Geltung der moralischen Gesetze von Gottes Existenz losgelöst. Auch das Motiv, dieses Gesetz zu befolgen, hat eindeutig schon autonomen Charakter. Es gehört zur Bedeutung des kategorischen Imperativs, daß er nicht der subjektiven Interessenbefriedigung dient: Das moralische Gesetz „abstrahiert von Neigungen, und Naturmitteln sie zu befriedigen" (A806/B834). Direkt im Absatz nach der oben zitierten Passage, in der es heißt, moralische Gesetze könnten ohne Gott ,nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung sein', schreibt Kant: „Sittlichkeit allein, und, mit ihr, die bloße Würdigkeit, glücklich zu sein, ist aber auch noch lange nicht das vollständige Gut. Um dieses zu vollenden, muß der, so sich als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte, hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden. Selbst die von aller Privatabsicht freie Vernunft, wenn sie, ohne dabei ein eigenes Interesse in Betracht zu ziehen, sich in die Stelle eines Wesens setzte, das alle Glückseligkeit anderen auszuteilen hätte, kann nicht anders urteilen; denn in der praktischen Idee sind beide Stücke wesentlich verbunden, obzwar so, daß die moralische Gesinnung, als Bedingung, den Anteil an Glückseligkeit, und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich machte. Denn im letzteren Falle wäre sie nicht moralisch und also auch nicht der ganzen Glückseligkeit würdig" (A813f./B841f.).
Anders gesagt: Das, was uns an der von Gott garantierten Glückseligkeit in einer zukünftigen Welt zusteht, ist abhängig von unserer ursprünglich moralischen Einstellung, ,unserer moralischen Gesinnung'. Es ist nicht die ,Aussicht auf Glückseligkeit', die die ,moralische Gesinnung zuerst möglich macht'. Das heißt aber auch: Es bedarf nicht erst der .Verheißungen und
53
Daher heißt es auch, daß Gott eine „höchste Vernunft" sei, „die nach moralischen Gesetzen gebietet" (A810/B838, u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Vgl. auch ZF (350, 28-32). 54 Wir beziehen das Demonstrativpronomen .Jenes' (Jenes läuft zuletzt ...') auf das im Satz vorher erwähnte .Hoffen' (also nicht auf ,das Praktische und das Sittengesetz').
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Drohungen', damit moralische Gesetze .Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung seien'; es ist die moralische Gesinnung, die die Handlung hervorbringen muß. 55 Daher muß Gott auch „allwissend" sein, „damit er das Innerste der Gesinnungen und deren moralischen Wert erkenne" (A815/B843, u.H.)· 56 Im Lichte dieser Passagen lesen sich dann aber auch die oben zitierten Indizien für das angeblich ,semi-critical' Niveau des Kanons anders. Gewiß, Kant schreibt, daß man ohne Gott und das zukünftige Leben die moralischen Gesetze als ,leere Hirngespinste' ansehen müsse. Aber seine Begründung für diese These lautet: ,... weil der notwendige Erfolg derselben [sc. moralischen Gesetze], den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte' (A811/B839). Der ,Erfolg' ist aber nichts anderes als die angemessen zur Sittlichkeit verteilte Glückseligkeit. Die Vernunft ,verknüpft' mit den moralischen Gesetzen die Idee der Glückseligkeit. Insofern Gott und das zukünftige Leben die .Voraussetzung' (Garantie) für diese Hoffnung auf Glückseligkeit sind, und insofern wir die moralischen Gesetze als mit dieser Hoffnung verknüpft betrachten, sind diese Gesetze ,leere Hirngespinste', wenn es Gott und Unsterblichkeit nicht gibt. Wenn Kant fortfährt, daß die moralischen Gesetze nur dann ,Gebote' sein könnten, wenn sie mit angemessenen ,Verheißungen und Drohungen' verknüpft sind, dann bezieht sich diese Aussage also offenkundig nur auf die moralischen Gesetze, sofern sie in ihrer Verknüpfung mit der Idee der Glückseligkeit betrachtet werden. 57
5
In der Religionsschrift heißt es ausdrücklich, daß die „Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen, noch zu drohen" (Rel, 49). Vgl. auch AMK, 1038: „Eben so kommt es im Praktischen nicht darauf an, daß man eine gute Handlung einmal ausübt, sondern auf die Maxime. Der Mensch ist im pracktischen so viel werth, als er gute maximen hat: denn der böse Mensch thut wohl auch gutes, aber ohne maximen". Vgl. dazu auch noch einmal VMK, 79 f. (u.H.): „Wenn aber ein sittlicher Mensch aus innerm Trieb, wegen der innern Bonitaet der Handlungen, sich bestrebt das moralische Gesetz auszuüben, und die göttlichen Gebothe gerne thut, der ehret Gott. [...] Wenn wir also das moralische Gesetz aus Furcht vor der Strafe und Gewalt Gottes ausüben sollen, das weiter keinen Grund hat, als weil es Gott befohlen, so thun wir es nicht aus Pflicht und Verbindlichkeit, sondern aus Furcht und Schrekken; dadurch aber wird das Herz nicht gebessert. Wenn aber die Handlung aus inneren principio entsprungen ist, wenn ich die Handlung darum, weil sie an sich selbst schlechthin gut ist, und also gern thue, so hat das einen wahren Wohlgefallen bey Gott. Gott will Gesinnungen haben und die müssen aus einem inneren principio kommen." In dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) heißt es dann im Zusammenhang mit der Postulatenlehre schon deutlich: „Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchstes Gut und zum Behuf derselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut anzunehmen: zwar nicht um davon das verbindende Ansehen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung abzuleiten (denn sie würden keinen moralischen Werth haben, wenn ihr Bewegungsgrund von etwas anderem, als von dem Gesetz allein, das für sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde) ..." (DO, 139, u.H., Kants Hervorhebung getilgt): vgl. ähnlich VT (397, Anm.).
57
Auch die zweite Stelle (A813/B841) kann in diesem Sinne verstanden werden. Kant schreibt, daß die moralischen Gesetze ,nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen
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Ζ 39 Auch von der KrV darf gesagt werden, daß sie bereits über einen weitgehend ausgereiften Autonomiebegriff verfügt. Die moralischen Gesetze gelten unabhängig von Gott; die Vernunft ist principium diiudicationis; ob die Vernunft ohne Rückgriff auf Gott (und seine ,Verheißungen und Drohungen') auch principium executionis ist, wird nicht völlig deutlich. Allerdings benutzt Kant klar den Begriff der ,moralischen Gesinnung' im sachlichen Sinne von Achtung.
5.3 Freiheit und Moral in A803f./B831f. Machen wir uns noch einmal einige Hauptpunkte der bisherigen Analysen deutlich. Kant versteht im Kanon unter Freiheit zunächst (d.h. vor der Problempassage) die transzendental-praktische Freiheit (TPF). praktisch' wird zunächst dasjenige genannt, was durch TPF möglich ist (Imperative); Voraussetzung für ,das Moralische' ist demnach TPF. Dann aber schließt Kant die Frage nach der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon aus. Er beschränkt sich auf die .praktische Freiheit', von der es heißt, daß sie für die ,Vernunft im praktischen Gebrauche' hinreiche, selbst dann, wenn die Frage nach der transzendentalen Freiheit negativ beantwortet werden müßte. Aber dieser praktische Gebrauch der Vernunft' besteht in zweierlei: Die Vernunft soll principium diiudicationis sein, zugleich aber auch principium executionis. Trotz einiger gegenteiliger Stellen sollten wir davon ausgehen, daß Kant in der KrV im wesentlichen schon über einen ausgereiften Autonomiebegriff verfügt. Handlungen (Willensakte) sind dann und nur dann ohne Einschränkung moralisch wertvoll, wenn sie aus Pflicht, d.h. aus Achtung vor dem moralischen Gesetz geschehen. Wie solche Handlungen möglich sind - und das heißt: wie die reine Vernunft als principium executionis möglich ist - bleibt für Kant allerdings ein ,Stein der Weisen'. Nach diesen Vorarbeiten können wir jetzt zur näheren Interpretation von A803f./B831f. übergehen. 58 Die ,bloß spekulative Frage nach der transzendentalen Freiheit' wird, wie gesagt, vom praktischen' und damit von der Frage nach den .Vorschriften des Verhaltens' abgegrenzt; man könne sie, wie
natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen', oder anders gesagt: Die moralischen Gesetze allein machen noch nicht das höchste Gut aus. Nur sofern die moralischen Gesetze mit dem höchsten Gut verknüpft sind und dieses Gott und Unsterblichkeit voraussetzt, bedarf man eben dieser beiden Ideen als .Triebfedern'. 58 Eine wichtige Parallelstelle ist R 6859.
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es in A803f./B831f. heißt, ,,beiseite setzen\59 Auch zu Beginn der Problempassage bedient sich Kant dieser Wendung: Er wolle sich ,des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstände bedienen'; der transzendentale Freiheitsbegriff bleibe ein ,Problem' und werde daher ,beiseite gesetzt'. Nun haben wir bei der Analyse von MLi, MM, SR usw. gesehen, daß Kant die Formulierung praktische Freiheit' bzw. ,im praktischen Verstände' in verschiedenen Hinsichten benutzt. Er bezeichnet damit nicht nur, was eine bestimmte Art von Freiheit ist. Er charakterisiert damit auch die Perspektive, aus der über die Freiheitsproblematik gesprochen wird. Kant unterscheidet zwischen einem Freiheitsbegriff, der ,praktisch hinreichend' ist, und einem solchen, der spekulativ hinreichend' ist (oder vielmehr wäre). 60 In der ,Auflösung der dritten Antinomie' bedeutet praktische Freiheit' nichts anderes als ,transzendental-praktische Freiheit'; die Freiheit wird nicht deswegen praktisch' genannt, weil sie praktisch hinreichend' ist, sondern weil es um die Praktizität des Willens geht (statt um kosmologische Erstverursachung). An anderen Stellen jedoch heißt die Freiheit praktisch', weil sie genau dies ist: praktisch hinreichend'. Der Freiheitsbegriff, um den es geht, ist zwar immer noch die transzendental-praktische Freiheit. Sofern wir sie aber bloß als ,Idee' verstehen, und sofern wir sie aus bestimmten Gründen als praktisch notwendig' und zugleich als praktisch hinreichend' begreifen, heißt sie wiederum - in dieser theoretisch bescheidenen Eigenschaft - praktische Freiheit'. 61 Im ähnlichen Sinne benutzt Kant auch im Kanon die Wendung .Freiheit im praktischen Verstände' nicht, um die Freiheit in ihrer transzendentalen Eigenschaft als Praktizität der Vernunft zu bezeichnen, sondern um einen theoretisch begrenzten, aber dennoch praktisch hinreichenden' Begriff von Freiheit zu verwenden; praktisch' ist weniger ein Prädikat der Freiheit selbst, als vielmehr ein Prädikat des Kontextes, aus dem heraus über diese Freiheit gesprochen wird. Die Tatsache, daß Kant im Kanon einen anderen Begriff praktischer Freiheit' verwendet, ist also auch dadurch zu erklären, daß er, anders als in der Dialektik, von vorneherein auf einen bescheidenen Freiheitsbegriff abzielt, oder genauer: auf einen Freiheitsbegriff, dessen mit ihm verbundene Beweisansprüche schwächer sind. In MM, 901, schreibt Kant: „Alle diese speculative Betrachtungen der Widersprüche schaden aber nicht dem practischen Begriff der Freiheit. Denn dieser sieht nicht, wie etwas geschieht, sondern daß es geschehen soll, und sollen setzt Freiheit voraus". In diesem Sinne (aber nicht genau in diesem Sinne, wie wir gleich sehen werden) ist auch die Problempassage (bzw.
59
Die parallele .praktische Frage' wird zwar an dieser Stelle nicht explizit so benannt; es heißt aber, daß ,wir die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen'. Vgl. noch einmal MLi, 270. 61 Vgl. noch einmal MM, 898. 60
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A803f./B831f.) zu verstehen: Die spekulative Frage wegen der transzendentalen Freiheit' bleibt ein ,Problem'. Es geht ,im Praktischen' aber auch nicht darum, ,wie' eine moralische Handlung durch Freiheit möglich ist, sondern nur darum, ,daß sie geschehen soll', oder mit den Worten des Kanons: Es geht ,zunächst nur um die Vorschrift' und um die dazu zu machende Voraussetzung der Freiheit. 62 Trotzdem ist der Freiheitsbegriff der Problempassage nicht im Sinne von APF zu verstehen, und deshalb bleibt die eigentliche Problematik dadurch allein auch ungelöst. Wie APF ist auch der Freiheitsbegriff im Kanon ein Begriff, der bestimmte theoretische Schwierigkeiten' vermeiden will. Er will sich deshalb, so könnte man sagen, praktisch bescheiden. Bei APF bleibt der in Frage stehende Freiheitsbegriff aber an sich transzendental. Aus der Tatsache, daß der praktische mit dem spekulativen (transzendentalen) Freiheitsbegriff in gewisser Hinsicht ,gar nichts zu tun' habe (wie es in der Schulz-Rezension hieß), folgt ja keineswegs, daß diejenige Freiheit, von der die praktische Freiheit handelt, nicht doch als Idee die transzendentale Freiheit ist - ,gar nichts zu tun' hat der praktische mit dem spekulativen Freiheitsbegriff nur insofern, als der eine sich damit bescheidet, für praktische Belange hinreichend' zu sein, während der andere anspruchsvoll ist und zu Schwierigkeiten führt, die prinzipiell nicht auflösbar sind. Deswegen wird die transzendental-praktische Freiheit in M M ja auch als ,bloße Idee' bezeichnet, der gemäß zu handeln frei zu sein ,im praktischen Verstände' bedeutet. Im Sinne von APF ist die transzendental-praktische Freiheit ein praktisches Postulat' und wird in dieser Eigenschaft wiederum praktische Freiheit' genannt. Kant sucht im Kanon genau wie in den anderen Schriften ein Verständnis von Freiheit, das bescheiden ist und die Probleme vermeidet, die der transzendentale Freiheitsbegriff mit sich bringt. Was im Unterschied zu APF aber an die Stelle der transzendental-praktischen Freiheit tritt - sie wird ja ,beiseite gesetzt' - , ist ein naturalisierter Freiheitsbegriff. Deshalb haben APF und NPF zwar beide das gleiche Ziel - nämlich einen bescheidenen Freiheitsbegriff. Aber der naturalisierte Freiheitsbegriff ist als solcher völlig verschieden vom als-ob-Begriff der Freiheit. Während APF den Freiheitsbegriff aus einem Kontext (dem Theoriekontext) in einen anderen (den Praxiskontext) überführt, ohne dabei den substantiellen Inhalt (Begriff) der Freiheit selbst zu verändern, wird durch die Einführung von NPF nicht nur der Kontext, sondern der Begriff selbst an sich massiv verändert. Das ist auch der
62
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Rel, 144, Anm.: „Daher wir, was Freiheit sei, in praktischer Beziehung (wenn von Pflicht die Rede ist) gar wohl verstehen, in theoretischer Absicht aber, was die Kausalität derselben (gleichsam ihre Natur) betrifft, ohne Widerspruch nicht einmal daran denken können, sie verstehen zu wollen".
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Grund, warum er solche Probleme bereitet, unter anderem das Problem mit der Behauptung, NPF sei für ,das Praktische' hinreichend. Ζ 40 Auch im Kanon benutzt Kant einen praktisch hinreichenden' Freiheitsbegriff, der die theoretischen Schwierigkeiten des transzendentalen Freiheitsbegriffs vermeiden will. Im Kanon übernimmt NPF die Funktion dieses ,praktisch hinreichenden' Freiheitsbegriffs. Im Unterschied zu APF ist NPF aber auch an sich (inhaltlich) von TPF unterschieden. Die Tatsache, daß Kant selbst so ausdrücklich auf die ,Vorschrift des Verhaltens' 63 hinweist, bringt uns unweigerlich auf einen Gedanken, der mit dem Unterschied zwischen der Vernunft als ,principium diiudicationis' und als ,principium executionis' zusammenhängt. Was Kant im Kanon „untersuchen" (A797/B825) will, ist der .praktische Vernunftgebrauch'. Dieser Vernunftgebrauch - in einer der Bedeutungen also ,das Praktische' kann darin bestehen, daß die Vernunft als principium executionis vermittelst des Gefühls der Achtung moralische, an sich wertvolle Handlungen (aus Pflicht) hervorbringt; er kann aber auch ,zunächst' nur darin bestehen, daß die Vernunft als principium diiudicationis praktische Gesetze überhaupt aufstellt. 64 Die Frage ist also immer noch: Was genau ist in A803f./B831f. mit dem praktischen' gemeint? Und warum meint Kant, daß die ,bloß spekulative Frage wegen der transzendentalen Freiheit' irrelevant ist, solange ,wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens befragen' (Kants Hervorhebung!)? Machen wir zunächst eine philologische Beobachtung: Die Frage, ob die Vernunft transzendental frei sei, gehe uns ,im Praktischen', so heißt es, ,nichts an'. Diese These scheint mit dem Hinweis begründet zu werden, daß (im Text steht ,da') ,wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen'. Das ist nicht unrichtig. Allerdings ist das den Anschluß herstellende Partikel ,da' zunächst nicht unmittelbar im Sinne eines ,weil' zu verstehen, sondern vielmehr im Sinne von ,darin', ,in der', d.h. ,da\ also dm Praktischen' geht uns jene ,bloß spekulative Frage' nichts an. Daß dann in der Tat die Begründung darin liegt, daß wir ,im Praktischen nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen', wird durch den Fortgang des Textes deutlich, in dem es heißt, daß wir die spekulative Frage beiseite setzen können', ,solange', oder eben: weil ,unsere Absicht aufs Tun und Lassen gerichtet ist'. Daraus folgt, daß an dieser Stelle ,das Praktische'
63 64
A803/B831; AA III, 521,31 Vgl. z.B. auch DO, 139: „... der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze".
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dadurch bestimmt wird, daß es in ihm nur um die Forschrift des Verhaltens' geht (das .zunächst' macht aber zugleich deutlich, daß es noch einen weiteren Aspekt des ,Praktischen' gibt, der hier nicht relevant ist). Was hier relevant ist, ist nur die Forschrift des Verhaltens'; entsprechend setzt der Satz ja auch ein mit der Formulierung, daß die Vernunft durch bestimmte ,Handlungen Gesetze vorschreibt'. Dieses Interesse an den Forschriften des Verhaltens' wiederum wird gleichgesetzt mit der ,Absicht aufs Tun und Lassen'.65 Nun kann mit dem praktischen' in A803f./B831f. unmöglich gemeint sein, daß der naturalisiert-praktische Freiheitsbegriff für Handlungen aus Pflicht ausreiche. Handlungen aus Pflicht sind transzendental-praktisch-freie Handlungen; wer daran rütteln wollte, müßte einen Grundpfeiler der Kantischen Ethik umstürzen, den Kant 1781 sicher bereits errichtet hatte. Das ,Tun und Lassen' kann also nicht auf die Vernunft als ,principium executionis' bezogen werden. Wenn es Kants These wäre, daß NPF für Handlungen aus Pflicht ausreichte, könnte man weder aus dem Pflichtbegriff noch aus dem Zusammenhang von Dialektik und Kanon irgendeinen nachvollziehbaren Sinn machen. Wie schon bei der schwierigen Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Freiheit in MLi könnte man nun aber auch hier argumentieren, daß Kant mit dem praktischen' in der Tat nichts anderes meint als allein die F o r schriften'. Die Überlegung wäre dann folgende: Kant ist offenkundig überzeugt, daß die Frage nach der transzendental-praktischen Freiheit ein ,Problem' bleibt. Diese Frage ist aber im Grunde genommen identisch mit der Frage, wie reine Vernunft praktisch, d.h. wie reine Vernunft ein principium executionis sein kann. 66 Die Frage kann nicht beantwortet werden, ihre Antwort ist ein ,Stein der Weisen', oder eben ein ,Problem'. Das heißt aber erstens nicht, daß man diese Frage nicht begrifflich beantworten könnte (denn das tut Kant ja in der ,Auflösung', ohne dabei über den Realitätsgehalt dieser Begriffe zu entscheiden); und die theoretische Unbeantwortbarkeit jener Frage bedeutet zweitens nicht, daß die Vernunft als principium diiudicationis nicht sinnvoll thematisiert werden kann. Der Freiheitsbegriff, den wir dafür voraus-
65
Diese Formulierung wiederum taucht drei Seiten später erneut auf, wenn es heißt, daß moralische Gesetze „das Tun und Lassen, d.i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen" (A807/B835). M a n beachte aber, daß die praktische Freiheit j a auch hypothetische Imperative umfaßt. 66 Die Frage nach der transzendental-praktischen Freiheit lautet: Gibt es eine nichtnaturkausale Kausalität als Vermögen absoluter Spontaneität, Handlungen in der Sinnenwelt hervorzubringen, und wie ist dieses Vermögen möglich? Dieses (vermeintliche) Vermögen ist die Vernunft, und sie bringt als Vermögen absoluter Spontaneität Handlungen (sc. Handlungen aus Pflicht) in der Sinnenwelt hervor. - Diese Identifizierung wird ganz deutlich in der GMS, 458 ff., z.B.: „Aber alsdann würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei".
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setzen müssen, ist der bescheidene Freiheitsbegriff von NPF. Die Überlegung wäre also: Kant schließt die Frage nach der transzendentalen Freiheit und damit die Frage nach der Vernunft als principium executionis aus dem Kanon als unbeantwortbar aus. Das schade aber auch nicht weiter, so Kant in dieser Lesart, weil das Praktische in diesem Kontext allein als die Frage nach den Forschriften', d.h. als Frage nach der Vernunft als principium diiudicationis verstanden wird. Die These Kants (und unsere Interpretationshypothese) wäre dann: Solange es ,zunächst' und ,nur' um die Vernunft als principium diiudicationis geht und damit nur um pflichtmäßige Handlungen, reicht es aus, nicht mehr vorauszusetzen als NPF. 67 Wenn unsere Interpretation von praktischer Freiheit' als naturalisierter' Freiheit richtig ist, ist das sogar die einzig mögliche Interpretation. Als naturalisierte' Freiheit soll der praktische Freiheitsbegriff dazu dienen, menschliche Handlungen als Erscheinungen zu beschreiben. Und daß es pflichtmäßige Handlungen gibt, kann in genau dem (vagen) Sinne ,durch Erfahrung bewiesen' werden wie die These, daß es praktische Freiheit' gibt. Es gibt offenkundig menschliche Handlungen, die nicht durch sinnliche Antriebe unmittelbar erzwungen werden. Und wer wollte bestreiten, daß es so etwas wie pflichtmäßige Handlungen gibt? Nimmt man hinzu, daß Kant wenige Jahre später ,Geschichte' geradezu definiert als ,Erzählung der menschlichen Handlungen als Erscheinungen der Freiheit des Willens', 68 so scheint klar, daß Kant hier von pflichtmäßigen Handlungen als Erscheinungen spricht. 69
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Wir haben schon gesehen, daß es sowohl in VMK als auch im Kanon Stellen gibt, die zeigen, daß Kant es offenkundig für möglich hält, daß die Vernunft zwar principium diiudicationis, aber nicht executionis ist. (Ob das philosophisch haltbar ist, ist natürlich eine andere Frage.) 68 Vgl. IGA, 17: „Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt. Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt ...". Man beachte, wie Kant auch hier die .metaphysische Absicht' von der, wie es im Titel des Aufsatzes heißt, .weltbürgerlichen Absicht' unterscheidet. - In der Religionsschrift nennt Kant die „Tugend als Fertigkeit in pflichtmäßigen Handlungen (ihrer Legalität nach) virtus phaenomenon" (Rel, 14, Kants Hervorhebung getilgt); diese erscheinende Tugend hat einen „empirischen Charakter" (Rel, 47). Interessanterweise wird in der Religionsschrift die Formulierung vom ,Tun und Lassen' auf die sensible Tat' bezogen; es gehe dabei um die „Beurteilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung" (Rel, 39, Anm.). 69 Eine weitere Stelle im Kanon scheint diese Interpretation zu stützen. Nachdem Kant den Grundgedanken moralischer (kategorischer) Imperative eingeführt hat, schreibt er: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die dem sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten" (A807/B835). Dies scheint wirklich eine Bestätigung unserer Interpretation zu sein: In ihrem .moralischen Gebrauche' als principium diiudicationis stellt die Vernunft moralische Gesetze auf. Diese sind .Prinzipien der Möglichkeit der
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Aber diese These (daß Kant sich mit dem praktischen Freiheitsbegriff im Kanon bloß auf pflichtmäßige Handlungen beschränke) hat drei entscheidende inhaltliche Schwachpunkte; diese sind so groß, daß sie zu interpretatorischer Zurückhaltung mahnen. Der erste Einwand ergibt sich aus folgender Frage: Wie kann es sinnvoll sein, der Vernunft, wenn sie nur als principium diiudicationis zu verstehen ist, eine ,Kausalität' zuzusprechen? Die Antwort könnte lauten: Auch pflichtmäßige Handlungen werden ja durch die Vernunft verursacht, oder genauer: zumindest mitverursacht, sofern die Vernunft Handlungsprinzipien aufstellt, denen gemäß die Handlungen stattfinden, wenn auch die Motive dafür nichtmoralischer Natur sind. Auch daß hier von der Bestimmung des Willens' durch die Vernunft die Rede ist, zeigt also nicht, daß damit die Vernunft als principium executionis gemeint ist. Denn auch eine Vernunft, die ,zunächst' nur Forschriften' aufstellt, ,bestimmt' ja dadurch den Willen. Schon kaum mehr zu beantworten ist der zweite Einwand: Wenn mit der praktischen Freiheit' wirklich eine naturalisierte Freiheit gemeint ist, und wenn dieser praktischen freien Vernunft nur die Aufgabe zukommt, Forschriften' für ,pflichtmäßige' Handlungen aufzustellen, welchen Sinn ergibt dann Kants These, es sei irrelevant, ob die Vernunft nun gerade ,in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei'? Wenn die Vernunft als principium diiudicationis bei der moralischen Urteilsfindung zwar unabhängig ist von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe, aber nicht unabhängig ,νοη allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt', dann scheint sie eben überhaupt kein principium diiudicationis sein zu können. Sie wäre dann genau durch die empirischen Erwägungen beeinflußt, vor denen Kant z.B. in der GMS immer wieder warnt. 70 Der dritte und wichtigste Einwand gegen den vorgeschlagenen Rettungsversuch für die Problempassage besteht darin, daß grundsätzlich nicht zu sehen ist, was Kants Thesen, wenn sie denn auf diese Weise richtig verstanden wären, überhaupt an Gewinn einbrächten. Man kann auch fragen: Warum beschränkt sich Kant auf einen naturalisierten Freiheitsbegriff und schließt die transzendentale Freiheit aus dem Kanon aus, wenn doch die Probleme, die mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff verbunden sind, nicht größer sind als die, welche auch die ,Kardinalsätze' über Gott und die Unsterblichkeit der
Erfahrung, das heißt von pflichtmäßigen Handlungen in der Geschichte' (.Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß sind'). - Wir werden später (leider) sehen müssen, daß dieser Eindruck täuscht; diese Stellen (zumindest A807/B835) handeln nicht von praktischer Freiheit und pflichtmäßigen Handlungen, sondern von transzendentaler Freiheit und genuin moralischen Handlungen. 70 Vgl. z.B. GMS, 406-412.
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Seele belasten? Was bringt überhaupt die Einschränkung auf die praktische Freiheit und damit die (vermeintliche) Einschränkung auf pflichtmäßige Handlungen? 71 Ζ 41 In A803/./B83If. wird ,das Praktische' definiert als der Bereich, in dem es (,zunächst') nur ,um die Vorschrift des Verhaltens und das Tun und Lassen' geht. Um den problematischen Begriff von NPF zu entschärfen, drängt sich die Hypothese auf, daß dieser Begriff insofern ,praktisch hinreichend' ist (und TPF daher,beiseite gesetzt' werden kann), als es allein um pflichtmäßige Handlungen geht, deren zugrundeliegende Forschriften' von der Vernunft als principium diiudicationis vorgeschrieben werden. Solche pflichtmäßigen Handlungen würden dabei als Erscheinungen verstanden, die durch NPF als Erfahrungsbegriff erklärt werden können. Diese Hypothese erweist sich aber aus mehreren Gründen als unhaltbar. Abschließend müssen wir noch einmal auf die Frage eingehen, was Kant in A802/B830 eigentlich mit den ,Gesetzen' meint. Man könnte vermuten, daß Kant an dieser Stelle nur von hypothetischen Imperativen spreche, weil es ja um das gehe, was ,nützlich oder schädlich', was ,begehrungswert, d.i. gut und nützlich' sei.72 Dies werde geradezu durch die Interpretation von praktischer Freiheit' als NPF gefordert. Wenn Kant die praktisch freie Vernunft eine ,Naturursache' nenne, dann sei dies nämlich im Sinne der oben schon zitierten Stelle aus der KU zu verstehen, so daß Kant im Kanon wie in der KU „das Praktische nach Naturbegriffen" (KU, 171) meine. Das praktische nach Naturbegriffen' sei dabei eindeutig als der Bereich hypothetischer Imperative zu verstehen. Sofern der Wille als ein Begehrungsvermögen betrachtet wird, das durch hypothetische Imperative bestimmt wird, gehört er zu den „NaturUrsachen in der Welt" (KU, 172, u.H.) und ist ein „Naturvermögen" (ebd., u.H.). Genau in diesem Sinne, so könnte man argumentieren, verstehe Kant im Kanon die praktische freie Vernunft als ,eine von den Naturursachen', und daher meine er auch mit den Gesetzen nur die hypothetischen Imperative. Abgesehen von den Einwänden gegen die These, hier nur pflichtmäßige Handlungen behandelt zu sehen, und unabhängig davon, daß die hypothetischen Imperative in der Dialektik genau wie die moralischen Imperative der freien Vernunft und der praktischen Philosophie zugeordnet werden, 73 sprechen mehrere Argumente gegen die These, jene Stelle aus dem Kanon (A803/B830) handele nur von hypothetischen Imperativen: Erstens
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Dazu mehr im nächsten Abschnitt. So etwa Gideon (1903, S.51), Kvist (1978, S.84 ff.), Altmann (1982, S.34 f.), Ortwein (1983, S.82 f.) und Kersting (1984, S.23). 73 Vgl. A548/B576 und A800/B828. 72
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sind ,Imperative' und ,Gesetze der Freiheit' für Kant immer auch und sogar in besonderer Weise die moralischen Gesetze. 74 Zweitens spricht Kant im Sinne der hypothetischen Imperative zwar von der Nützlichkeit' und Schädlichkeit'; er spricht aber auch davon, was ,gut ist, und damit ist auch das moralisch Gute gemeint. Und drittens ist in diesem Zusammenhang mehrmals und ganz allgemein vom praktischen' die Rede sowie vom ,Tun und Lassen'; es gibt keinen Anlaß, dieses praktische' allein auf die instrumentelle Vernunft zu beziehen. 75 Genau daraus resultiert aber der zweite Aspekt des Kanonproblems: Denn die Frage ist ja dann, wie die praktische Freiheit der Vernunft als Naturkausalität mit dem Aufstellen und Befolgen moralischer Gesetze kompatibel ist. Ζ 42 In der Problempassage meint Kant mit den ,Gesetzen nicht nur hypothetische, sondern auch kategorische Imperative; das Kanonproblem kann nicht durch Verweis auf die KU gelöst werden. Kvist (1978, S.84 ff.) will das Kanonproblem lösen, indem er zwei Begriffe praktischer Freiheit unterscheidet: Praktische Freiheit als Vermögen, hypothetischen Imperativen gemäß zu handeln, und praktische Freiheit als Vermögen, gemäß kategorischen Imperativen zu handeln. Entsprechend behauptet er, allein die erstgenannte Bedeutung sei in der Problempassage relevant. Kvist hat also für den ersten Aspekt des Kanonproblems einen prinzipiell fruchtbaren Lösungsvorschlag: Kant habe eben zwei verschiedene Begriffe praktischer Freiheit, von denen einer ,als Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden' 7 6 könne (etwa im Sinne von NPF). Der zweite Aspekt des Kanonproblems wird von ihm aber ignoriert, da er, wie andere auch, stillschweigend davon ausgeht, es sei in der Problempassage nur von hypothetischen Imperativen die Rede; bei einer Bestimmung durch moralische Gesetze sei TPF vorauszusetzen (vgl. Fn.82 und S.89). Allerdings sei es eine „Inkonsequenz" (S.88) Kants, den transzendentalen Freiheitsbegriff überhaupt .beiseite zu setzen' und sich statt dessen des praktischen Freiheitsbegriffs zu .bedienen' (eine Zusammenfassung von Kvists Position findet man auf S.91 f.). - Auch Beck ( 3 1963) versteht die
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Man vergleiche nur die Einträge zu .Gesetze der Freiheit' oder .Freiheitsgesetze'. - Vgl. auch R 3872: „Der eine geistige Gebrauch [der Vernunft] ist, die thierische Empfindungen zu ordnen und nach thierischen Zweken Mittel zu dirigiren. Der andere ist, die Zweke selbst intellectualiter zu betrachten". 75 Tatsächlich wird die Formulierung .Tun und Lassen' in der Sprache des 18. Jahrhunderts j a gerade auf moralisch gebotene und verbotene Handlungen bezogen; vgl. den Hinweis von Guyer/Wood (1998, S.676, Fn.) sowie auch die Verwendung in A807/B835 und besonders in A841/B869, wo es heißt, daß die Metaphysik der Sitten die Prinzipien enthält, „welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen". Vielleicht abweichend dazu vgl. aber MS, 213. 76 Kvist (1978, S.88) zitiert diese Passage aus (A801f./B829f.), ohne das aber weiter auszuführen.
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Willkür in A802/B830 als „free from direct sensous necessitation"; das sei „an empirical fact" (S.178; vgl. ebd. Fn. 2). Doch die These, daß es sich bei der Problempassage um ein vorkritisches Theoriestück handele, weist er ausdrücklich zurück. Es gebe überhaupt keinen Widerspruch zwischen Dialektik und Kanon: A803/B831 „does not say that practical freedom could stand if transcendental freedom were not real; it says merely that this question does not concern us in the practical field or in a canon" (S.190, Fn. 40). Beck zitiert dann die entsprechenden Stellen über den Ausschluß der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon und schreibt weiter: „This does not say that it [d.h. das Problem transzendentaler Freiheit] is of no concern to a critical examination of practical reason; it says only that it is a theoretical, not a practical problem" (ebd.). Da Beck diese Argumentation nicht weiter ausführt, ist nicht zu erkennen, wie damit die von uns aufgeworfenen Probleme gelöst werden können (insbesondere nicht der zweite Aspekt). - Willaschek (1992) behauptet, daß es sich bei dem Kanonproblem nicht um einen Widerspruch, „sondern eher um eine gewisse Vagheit oder Zweideutigkeit im Kantischen Begriff der praktischen Freiheit" (S.92) handele. Seine Grundidee ist überzeugend und wird von uns geteilt: Bei Kants Begriff der .praktischen Freiheit' handele es sich um eine „der philosophischen Psychologie zuzurechnenden Theorie über den empirischen Phänomenbereich ,menschlichen Handelns'" (S.46). Was Willaschek in diesem Sinne als praktische Freiheit' versteht, haben wir als NPF bezeichnet: Die praktische freie Willkür ist demnach das Vermögen, rational ein Ziel zu verfolgen und absichtlich zu handeln. Doch auch abgesehen davon, daß Willaschek an mindestens zwei Stellen zu behaupten scheint, daß Kant in der ganzen KrV mit .praktischer Freiheit' das meine, was er in der KpV .psychologische Freiheit' nenne (S.46, S.294, Anm. 1; in einem privaten Schreiben betont er, dies sei nicht seine Intention gewesen), löst seine Interpretation nicht das eigentliche Kanonproblem mit seinen zwei Aspekten. Denn auch und gerade wenn wir die Rede von der .praktischen Freiheit' im Kanon als NPF verstehen, bleibt doch das Problem bestehen, daß Kant diesen Ausdruck (.praktische Freiheit') in der Dialektik als Bezeichnung für TPF verwendet. Vor allem aber hat Willaschek keine Erklärung dafür, daß die Form von praktischer Freiheit, die im Kanon thematisch ist, für das praktische' ausreiche. Er sagt nichts zu diesem Problem, behauptet aber zugleich, es bestehe der Sache nach „kein Widerspruch" (S.99) zwischen der Dialektik und dem Kanon; das eigentliche Problem hat Willaschek also nicht gelöst. Kawamuras (1996, S.164 ff.) Antwort auf das Kanonproblem besteht im wesentlichen darin, daß Kant - im Anschluß an die Tradition - unter .praktischer Freiheit' zweierlei verstehe: transzendental-praktische Freiheit, aber auch empirisch-psychologische. Das ist in der Tat richtig. Aber keines der damit verbundenen Probleme wird bei Kawamura erwähnt: Welcher Begriff von Freiheit ist für das Problem der Zurechnungsfähigkeit ausreichend? Was meint Kant damit, daß die praktische freie Vernunft ,wiederum Natur sein möge'? Was heißt es, daß die praktische Freiheit .eine von den Naturursachen' ist? Wieso schließt Kant die Frage nach der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon der reinen praktischen Vernunft als irrelevant aus, die Frage nach
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Gottes Existenz und der Unsterblichkeit der Seele aber nicht? Diese Fragen und viele mehr werden von Kawamura gar nicht gestellt. Bei der Antwort auf die Frage, warum Kant in der KrV zwei verschiedene Begriffe praktischer Freiheit verwende (S.167 f.), zeigt sich zudem, daß für Kawamura der nichtempirische (transzendentale) Freiheitsbegriff aus der ,Auflösung' noch gar nicht wirklich transzendental ist (insofern er nicht mit einem kritischen Autonomiebegriff zusammenhänge); das liegt aber daran, daß Kawamura irrigerweise meint, das Wesen transzendentaler Freiheit bestehe darin, „von gar nichts bestimmt" (S.167) zu sein (,gesetzlos' zu sein, wie er in falscher Bezugnahme auf A569/B597 meint). - Obwohl Ertl (1998) das Kanonproblem ausführlich behandelt, geht er nur auf wenigen Zeilen auf die Möglichkeit ein, daß Kant mit praktischer Freiheit' so etwas wie NPF im Sinn habe; seine These, daß bei dieser Interpretation unbeantwortet bleibe, „ob es Kant zufolge wirklich praktische Freiheit ohne transzendentale geben" (S.127) könne, wird von ihm nicht begründet, und die interpretativen Alternativen, die mit dem Begriff von NPF einhergehen, bleiben unbeachtet. Seine eigene Lesart (bes. S.130 f.) ist schwer verstehbar. Er scheint darauf hinauszuwollen, daß uns im unproblematischen (empirischen) Sinne klar werden kann, daß wir zwischen Handlungsalternativen wählen können (das stimmt wohl mit dem überein, was wir über NPF sagen), ohne daß uns dadurch das zugrundeliegende Vermögen selbst empirisch bewußt wäre. Da Ertl aber weder zwischen TPF in der Dialektik und NPF im Kanon unterscheidet noch das diesbezügliche Problem berücksichtigt, welche Freiheit denn für Moral vorauszusetzen sei, bleibt dieser Lösungsansatz unbefriedigend. Wie oben schon bemerkt, Ertl geht so gut wie gar nicht auf die Details der Problempassage ein (wie er übrigens auch die ,dritte Antinomie' überhaupt keiner Analyse unterzieht, obwohl doch deren A u f lösung' das zentrale Thema seines Buches ist); außerdem bezieht er sich bei seiner Interpretation auf die Thomassche Unterscheidung von .actus imperatus' und ,actus interior', die er aber vorher (S.122) nur in einer Fußnote ganz kurz erläutert hatte. Von Allison (1990) stammt eine der umfangreichsten Analysen der ganzen Problematik. Er sieht klar, daß „the main difficulties now are primarily exegetical" (S.54). Dennoch läßt er es an wirklich exegetischen Untersuchungen sowie an einer Berücksichtigung des gesamten Kanonkontextes fehlen (das gilt auch für seine Analysen zu M L h auf die wir hier nicht eingehen können). Allisons Interpretationsstrategie besteht darin (S.57 f.), erstens in der Dialektik nur eine „conceptual", nicht aber eine „ontological" Abhängigkeit der praktischen von der transzendentalen Freiheit zu erkennen; und zweitens im praktischen Freiheitsbegriff zwar, wie viele andere auch, eine „ambiguity" zu erkennen, die sowohl in der Dialektik als auch im Kanon vorliege, aber eine „ambiguity [...] between two incompatibilist versions". Es ist also Allisons zentrale Behauptung, daß Kant auch im Kanon mit praktischer Freiheit einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff meine („there is no contradiction between the two accounts", S.54). Durch diese Gleichsetzung ist Allisons Ansatz von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Seine Interpretation scheitert also schon an seiner Ausgangsthese, daß „both the Dialectic and the Canon operate with a shared
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conception of practical freedom" (S.55); auch die patchwork-These - wie sie etwa von Carnois (1987, S.29) vertreten wird - wird von Allison unter anderem mit dem Hinweis zurückgewiesen, „that practical freedom is described in essentially the same terms in both the Dialectic and the Canon" (S.57). Bevor Allison dann seine Überlegungen im einzelnen ausführt, geht er auf das Problem ein, das seiner Ansicht nach (und zu Recht) das „major obstacle to any incompatibilist interpretation of the Canon" (S.58) ist, nämlich die Tatsache, daß Kant von der praktischen Freiheit im Kanon behauptet, sie sei durch Erfahrung beweisbar; wenn er dieses Problem nicht lösen kann, kann seine Interpretationsstrategie nicht überzeugen. Allisons Antwort lautet: „what we experience is the ,appearance' or .sensible schema' of a capacity to determine ourselves to act on the basis of reason" (S.59); er sagt also, daß die praktische Freiheit, von der wir durch Erfahrung wissen, die transzendentale Freiheit als Erscheinung ist. Gleichzeitig sagt er aber auch, daß sei gar nicht entscheidend; entscheidend sei vielmehr der praktische Kontext, in dem Kants Ausführungen im Kanon stehen. - Ameriks (1982) behauptet (S.196 f.), daß die Problempassage genauso zu erklären sei wie das Problem in ML^ Er verweist (S.194, Fn.14) dabei auf die Problempassage und RS für die These, daß Kant auch in seinen reifen Schriften praktische Freiheit' (im Unterschied zur transzendentalen) für Moral als ausreichend betrachte. Diese These, so Ameriks, sei nun nicht so zu verstehen, daß Kant wirklich sagen wolle, praktische Freiheit reiche aus, transzendentale Freiheit sei nicht unbedingt erforderlich. Allerdings sei der Beweis für die transzendentale Freiheit nur ,praktisch hinreichend', weil nicht erklärt wird, wie Freiheit möglich ist; nur dies sei mit der These gemeint. Das Problem dieser Interpretation besteht darin, daß es um zwei verschiedene Begriffe von Freiheit geht, Ameriks aber nur über zwei verschiedene Leistungsstärken von Freiheitsbeweisen spricht. Für die Ersetzung von (3) durch (3') (Ameriks, S.196) fehlt daher die Grundlage. Es stimmt zwar, daß Kant in ML, die Freiheit ,practisch hinreichend' nennt. Aber es ist eindeutig die transzendentale Freiheit, von der hier die Rede ist; die transzendentale Freiheit ist also practisch hinreichend'. Genau das sagt Kant aber auch vom praktischen Freiheitsbegriff der empirischen Psychologie (sie sei zur Moralität hinreichend; ML!,267,26), und dieser Freiheitsbegriff ist eben ein ganz anderer als der transzendentale. Durch den Hinweis auf den in beweistheoretischer Hinsicht gemachten Unterschied von praktisch hinreichend' usw. („... what Kant really believes is that transcendental freedom is to be called merely practically sufficient", S.196) ist also leider nichts gewonnen. Praktische und transzendentale Freiheit werden ja ganz verschieden definiert: Erstere ist die Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Antriebe; letztere ist die Unabhängigkeit von (der Prädetermination durch) Gott. Es bleibt also dabei, daß Kant einmal schreibt, schon durch die praktische Freiheit könnte Moral stattfinden; andererseits aber, daß ohne transzendentale Freiheit moralische Sätze keinen Sinn ergäben. Und man kann ja praktisch frei sein, ohne transzendental frei zu sein. (In MM, RS, GMS und RP wird die transzendentale Freiheit, sofern sie ,practisch hinreichend' ist, wiederum praktische Freiheit' genannt. Dafür gibt es Ansätze in
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MLi; aber das besagte Problem bleibt bestehen). Ameriks behauptet (S.228, Fn. 23) außerdem, daß praktische Freiheit im Kanon ebenfalls transzendentale Freiheit bedeute. Das kann unmöglich zutreffen, weil praktische Freiheit als .Naturursache' bezeichnet wird, als etwas, das durch Erfahrung erkannt werde. In einem späteren Aufsatz schreibt Ameriks (1991, S.470), daß der praktische Freiheitsbegriff aus dem Kanon „requires only a lack of external determination of a certain kind, notably, the immediate determination by mere sensible and empirical conditions which occurs, supposedly, in animals"; entsprechend gebe es auch einen relativen Begriff von Spontaneität („,Minimal Positive Freedom'", ebd.). - Gideon (1903) versteht unter .praktischer Freiheit' TPF; er schreibt dann, daß der „Beweis der Freiheit durch Erfahrung nicht in aller Strenge gemeint" sei (S.52). Er scheint auf eine ähnliche Erklärung wie Ameriks hinauszuwollen (S.52); aber seine Ausführungen sind zu kurz und unklar. - Recki (1998, S.602) sieht in der Problempassage „nicht etwa den Gegensatz zweier unvereinbarer Freiheitsbegriffe"; im Gegenteil, sie identifiziert geradezu den praktischen Freiheitsbegriff aus dem Kanon mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff, da jener genau wie dieser das Vermögen beinhalte, etwas ,ganz von selbst' anzufangen. Sie sieht hier bloß eine „spezifische Differenz". Der praktische Freiheitsbegriff gründe sich auf die transzendentale Freiheit - sie verweist dabei auf A533f./B561f. und identifiziert damit den praktischen Freiheitsbegriff aus dem Kanon mit demjenigen aus der ,Auflösung' - und stelle lediglich „deren konkreten, erfahrungsgesättigten Aspekt dar". Abgesehen davon, daß keine Detailanalysen geleistet werden - und infolgedessen die besagten Identifizierungen eindeutig falsch, auf jeden Fall aber höchst problematisch und daher auch einer Problematisierung bedürftig sind - bleibt unklar, was die Rede von der praktischen Freiheit als einem .konkreten, erfahrungsgesättigten Aspekt' der transzendentalen Freiheit überhaupt bedeuten soll. Denn Recki sieht zwar richtig, daß Handlungen in diesem Kontext als .Phänomene' zu begreifen sind; Kants These, daß praktische Freiheit,durch Erfahrung bewiesen werde', bedeute, daß sich der transzendental freie Wille in den Handlungen „darstellt", „entäußert". Das ist aber nichts anderes als die These aus der .Auflösung', daß sich der intelligible Charakter im empirischen zeigen könne. Die problematischen Unterschiede zwischen Dialektik und Kanon (insbesondere auch bezüglich des Verhältnisses von Freiheit und Moral) werden damit ignoriert. - Auch Baumanns (2000, S.88 f.) identifiziert fälschlicherweise die praktische Freiheit' aus dem Kanon mit TPF. Diese Freiheit sei in dem Sinne ,durch Erfahrung beweisbar', daß „es die erfahrungs- und lebensweltlich konkrete Gewißheit des noumenal-phänomenal charakterbestimmten Handelns gibt" - doch was heißt das? - Und auch Hösle (1988, S.488) identifiziert die praktische Freiheit' im Kanonkontext mit der Bestimmung der praktischen Freiheit aus der Dialektik (.Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit'), von der er dann allerdings wiederum die transzendentale Freiheit unterscheidet, ohne dies zu erläutern. Timmermann (2003, S.140-144) widmet dem Kanonproblem zwar auch einen eigenen Exkurs, schließt sich aber ohne Zögern (und ohne interpretative Analysen) Allison's These an, daß .praktische
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Freiheit' im Kanon ,in essentially the same terms' verstanden werde wie in der Dialektik (S.141); eine „Mehrdeutigkeit" (ebd.) des praktischen Freiheitsbegriffs lehnt er daher ebenso ab wie eine patchwork-These. Er verweist dann zwar darauf, daß Kant im Kanon „aus der Perspektive der praktischen Philosophie" (S.142) spreche, interpretiert das aber so, als ginge es nur um die Pflichtmäßigkeit von Handlungen (nur um das principium diiudicationis). (Zudem behauptet er eine „Übereinstimmung mit der Verfahrensweise der Grundlegung" [S.143], ohne dies zu begründen.) Ähnlich wie all diese Autoren argumentieren auch eine ganze Reihe anderer Interpreten: So versteht Paton (1962, S.260 f.) die Problempassage im Sinne einer unbestreitbaren „Erfahrungstatsache, daß die Menschen ein Vermögen haben, sich über unmittelbare Sinneseindrücke und Antriebe zu erheben" und verweist dabei ausdrücklich auf den psychologisch-komparativen Freiheitsbegriff in der KpV; das daraus resultierende Kanonproblem diskutiert er nicht. Zeldin (1981) betont, daß die praktische Freiheit im Kanon bloß als „independence of immediate sensous coercion" (S.607) verstanden werden müsse; und auch sie identifiziert diese dann mit dem .komparativen' Freiheitsbegriff der KpV. Dieser praktische Freiheitsbegriff sei vom transzendentalen Freiheitsbegriff der Dialektik zu unterscheiden. Trotz dieser wichtigen Einsicht macht Zeldin keine Vorschläge zur Lösung der damit verbundenen Probleme. Altmann (1982, S.35, Anm.14) stimmt Forschners These vom anthropologischen Freiheitsbegriff' zu; bereits dem sinnlich affizierten Willen „kommt eine Art Freiheit zu" (S.34). Mit den ,Gesetzen' in der Problempassage seien allerdings allein hypothetische Imperative gemeint (diese These wird nicht begründet); ähnlich auch Kersting (1984, S.23). Auch Kaulbach (1982, S.202) begreift (ohne Begründung) die praktische Freiheit im Sinne Forschners; die daraus resultierenden Probleme werden nicht diskutiert; ähnlich wiederum auch Ritzel (1982, S.115, S.118). Sandermann (1989, S.143) zitiert aus der Definition des praktischen Freiheitsbegriffs (A802/B830) die Formulierung unabhängig von sinnlichen Antrieben' und versteht sie im Sinne von TPF. Das Kanonproblem nennt er „ebenso verwirrend, wie bei näherer Betrachtung konsequent" (S.143); letztere These wird aber nicht begründet. Und auch Rosas (1996) verweist auf die „Möglichkeit rationaler oder denkender Automaten" (S.149), die Kant in der KpV, aber eben auch im Kanon anerkenne; er spricht hier vom ,kompatibilistischen Freiheitsbegriff' Kants. Steigleder (2002, bes. S.4-8) teilt das naturalisierte' Verständnis des praktischen Freiheitsbegriffs. Allerdings sieht er nicht (oder diskutiert jedenfalls nicht) all die Probleme, die sich daraus ergeben; insbesondere beachtet er nicht, daß die praktische Freiheit in der Dialektik eine ganz andere ist als im Kanon (vgl. dazu auch bei ihm S.57 f. und S.92). Steigleder verweist nur ohne weitere Ausführung darauf, daß Kant in der KrV „noch nicht die voll entwickelte Moraltheorie" (S.5) der GMS habe. Ähnlich wie Steigleder interpretiert schließlich auch Steinvorth (1987, bes. S.179-184): Praktische Freiheit meine bei Kant immer nur Handlungsfreiheit, nicht aber Willensfreiheit (wobei Steinvorth fälschlicherweise diese Handlungsfreiheit bei Kant mit Spontaneität engführt); auch bei Steinvorth
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bleiben die eigentlichen Probleme unbehandelt. - Auch Rauscher (1996, 265) zitiert nur aus der Problempassage, ohne auf die Probleme einzugehen.
Damit kommen wir zum dritten und letzten Aspekt der Frage, was Kant im Kanon über das Verhältnis von Freiheit und Moral zu sagen hat.
5.4 Die Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon a) Das Problem Wie schon einmal bemerkt: Kant schreibt, daß ,das Moralische der Transzendentalphilosophie fremd sei' (A801/B829). Es sei daher in zweifachem Sinne „Behutsamkeit" (ebd.) nötig: Einerseits dürfe man innerhalb der Transzendentalphilosophie nicht in Bereiche ausschweifen', die nicht zu ihr gehören; andererseits aber dürfe man „von seinem neuen Stoffe" (ebd.) (also vom ,Moralischen') hier auch nicht „zu wenig" (ebd.) sagen. 77 Im Lichte dieser methodischen Einschränkung sind zunächst zwei Punkte zu beachten: 1. Die Frage ,Was soll ich tun?' gehört, wie gesagt, als ,bloß praktische' Frage nicht zur Transzendentalphilosophie; sie dürfe, sagt Kant, „unsere Kritik an sich selbst nicht beschäftigen" (A805/B833). Daraus folgt aber nicht, daß Kant überhaupt nicht auf diese Frage eingeht. Sie darf die KrV (und damit auch den Kanon) eben nur ,an sich selbst nicht beschäftigen', d.h. soviel wie: nicht als selbstständiger und ausführlich zu behandelnder Gegenstand der Transzendentalphilosophie. Und wie wir bereits sahen, gibt Kant tatsächlich eine kurze Antwort, die für die Zwecke des Kanons hinreichend ist (A806/B834-A808/B836). Diese Antwort besteht in einer Skizze der hypothetischen und moralischen Imperative sowie in der Einführung der ,Idee der moralischen Welt'. Die offizielle Antwort lautet dann, wie schon zitiert: ,Tue das, wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein'. Man sieht, das hat mit einer Ethik oder Metaphysik der Sitten im engeren Sinne wenig zu tun. Kant vermeidet es also, in das ,Moralische auszuschweifen1. Andererseits kann er von diesem ,Stoffe' auch nicht ,zu wenig sagen', weil die rein praktische Frage ,Was soll ich tun?' „als ein Leitfaden zur Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führt" (A805/B833). Mit dieser theoretischen' Frage meint Kant den theoretischen Teil der Frage ,Was darf ich hoffen?', die ja praktisch und theoretisch zugleich' ist, und die daher bedeutet: ,wenn ich nun tue, was ich soll, was darf
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Mit dem „neuen Stoffe" (A801/B829) bezieht sich Kant eindeutig ,aufs Moralische'. ,Neu' ist dieser ,Stoff' an dieser Stelle insofern, als Kant ihn beim Übergang zur Dialektik zunächst ausdrücklich außen vor gelassen hatte: „Unserer Absicht gemäß setzen wir aber hier die praktischen Ideen beiseite" (A329/B386).
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ich alsdann hoffen?' 7 8 Dieses Hoffen auf Glückseligkeit unter der Prämisse der Glückswürdigkeit und die sich daraus ergebenden Postulate von der Existenz Gottes und dem künftigen Leben sind das eigentliche Thema des (zweiten Abschnitts des) Kanons. U m sinnvoll darüber reden zu können, muß Kant kurz auf die eigentlich ,bloß praktische' Frage nach dem Sollen eingehen. Er tut dies aber nur soweit, als er jene Prämisse von der Glückswürdigkeit kurz skizziert. Kant ,schweift' also nicht aus, er sagt von seinem ,Stoffe' aber auch nicht ,zu wenig'. 2. Kant betont bei dem methodischen Hinweis in A801/B829, daß er sich bei der Kanondiskussion - dem vorangegangenen transzendental-praktischen Freiheitsbegriff in den Kardinalsätzen scheinbar ganz entsprechend - „so nahe als möglich am Transzendentalen halte[n] und das, was etwa hierbei psychologisch, d.h. empirisch sein möchte, gänzlich beiseite setzefn]" (A801/B829, u.H.) werde. U m so verwirrender scheint daher seine an diese methodische Vorbemerkung unmittelbar anschließende Behauptung, daß er sich „vorjetzt1791 des Begriffs der Freiheit nur im praktischen
Verstände bedienen
werde, und den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem f ü r die Vernunft ist, hier, als oben abgetan, beiseite setze" (A801f./B829f., u.H.).
Kant schreibt, er wolle das ,Empirisch-Psychologische' beiseite setzen. Was dann aber tatsächlich folgt, ist die Einführung des praktischen Freiheitsbegriffs, der ja ein empirischer (naturalisierter) Freiheitsbegriff ist. Obwohl Kant den Satz ,Der Wille ist transzendental-praktisch frei' als einen der drei ,Kardinalsätze' bezeichnet, deren ,Wichtigkeit' nur das praktische angehe', weil sie auf die Frage hinauslaufen, ,was zu tun sei', wenn sie wahr sind; und obwohl also die Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt ist' und genau dieses ,Moralische' (allgemein genommen) ,letzter Zweck' der reinen Vernunft und zugleich Thema des Kanons ist; und obwohl er das, was psychologisch, d.h. empirisch sein möchte, gänzlich beiseite setzen' will - setzt Kant statt dessen (so scheint es) diese nichtempirische, transzendental-praktische Freiheit ,vorjetzt', ,hier', und das heißt ja: für den gesamten Kanon ,beiseitei und schließt sie aus diesem Kanon also sofort wieder aus.m Denn er führt ja dann, wie wir sahen, seinen nicht-
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Sie ist, wie schon gesagt, praktisch, insofern sie im ersten Teil auf das abzielt, was sein soll, und sie ist theoretisch, insofern sie im zweiten Teil auf das abzielt, was ist (vgl. noch einmal die entsprechenden Begriffsbestimmungen von theoretisch' und .praktisch' in A633/B661). 79 Valentiner: „für jetzt". 80 Er schließt sie also nicht nur für den ersten Abschnitt des Kanons aus (wie man vielleicht wegen des ,hier' im ersten Satz der Problempassage denken könnte). Was nach dieser
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transzendentalen, naturalisierten Freiheitsbegriff ein, der für das praktische' dann plötzlich und überraschenderweise doch hinreichend sein soll (NPF). Der transzendentale Freiheitsbegriff,bleibe ein Problem': „Allein vor die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht, also haben wir es in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu tun, die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen, und in Ansehung deren ein Kanon ihres Gebrauchs möglich sein muß, nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben? Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist" (A803f./B831f.)·
Obwohl also, wie gezeigt, vor der Problempassage (also in A800/B828) das praktische' gar nicht anders als dasjenige verstanden werden kann, was durch die transzendental-praktische Freiheit möglich ist (sc. insbesondere moralische Gesetze), schließt Kant jetzt die Frage nach dieser Freiheit und damit einen der ,Kardinalsätze' aus dem Kanon wieder aus. Er setzt TPF ,hierbei" also bei der Behandlung des .Moralischen' im Kanon - ,beiseite'. Warum ist das so? Ζ 43 Kant betont unmittelbar vor der Problempassage (im Einklang mit seinen Ausführungen in der Dialektik) die Wichtigkeit der transzendentalen Freiheit fiir ,das Moralische'. Dennoch wird gerade der entsprechende Kardinalsatz (,Der Wille ist transzendental frei') als ,für das Praktische ganz gleichgültig' aus dem Kanon ausgeschlossen. Und obwohl er alles ,Psychologisch-Empirische gänzlich beiseite setzen' will, bedient er sich des nichttranszendentalen, naturalisierten Freiheitsbegriffs. Blicken wir zunächst etwas genauer auf den eben zitierten Schlußteil der Problempassage, und räumen wir dabei zwei mögliche Mißverständnisse aus. Erstens ist die Tatsache, daß TPF ,ein Problem bleibt', nicht die Begründung dafür, diesen Begriff ,beiseite zu setzen'. Wie sollte dies auch möglich sein? Der transzendentale Freiheitsbegriff bleibt zwar in der Tat ,ein Problem', aber das gilt ja auch für den Begriff Gottes und den der Unsterblichkeit. Wenn die Tatsache, daß der transzendentale Freiheitsbegriff ,ein Problem bleibt', der Grund für seine Exklusion wäre, dann hätte Kant ebenso den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriff aus dem Kanon ausschließen können, oder er hätte eben
Bemerkung folgt, ist ja die Erläuterung des praktischen Freiheitsbegriffes, und dieser erläuterte Begriff wird dann im weiteren benutzt (oder so sollte man jedenfalls erwarten). Der Kanon selbst wird erst im zweiten Abschnitt tatsächlich behandelt; der erste leistet Vorarbeit. Tatsächlich ist ja dann im zweiten und dritten Abschnitt (offiziell) nur noch von Gott und dem künftigen Leben, nicht aber von TPF die Rede (dazu gleich mehr).
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umgekehrt den Freiheitsbegriff nicht ausschließen müssen. Denn die bekannten Grundthesen Kants zur Dialektik und damit zu den Ideen der reinen Vernunft laufen ja alle auf den Gedanken hinaus, daß es kein theoretisches Wissen von jenen drei Ideen gibt. Ja, Kant beginnt den Kanon selbst mit dem erneuten Hinweis, daß man von allen drei ,Kardinalsätzen' „doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d.i. in der Naturforschung, seinen Nutzen bewiese" (A798/B826). Er geht die Sätze dann noch einmal durch und faßt, wie oben schon einmal zitiert, den Grundgedanken folgendermaßen zusammen: „Mit einem Worte, diese drei Sätze bleiben für die spekulative Vernunft jederzeit transzendent, und haben gar keinen immanenten, d.i. für Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin für uns auf einige Art nützlichen Gebrauch, sondern sind an sich betrachtet ganz müßige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft" (A799/B827). Hinsichtlich der grundsätzlichen Problematik der drei Kardinalsätze ist also der Satz zur Freiheit nicht mehr und nicht minder problematisch als die Sätze zu Gott und der Unsterblichkeit. (Tatsächlich hält Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den transzendentalen Freiheitsbegriff für weniger problematisch als den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriff; dazu gleich mehr). 81 Auch kann, zweitens, die Tatsache, daß das .Problem' der transzendentalen Freiheit ,als oben abgetan' und als ,schon hinreichend erörtert' gelten darf, nicht der Grund für dessen Exklusion sein. Denn eine solche hinreichende Erörterung' gibt es in der Dialektik ja auch zu den problematischen Begriffen von Gott und der Unsterblichkeit der Seele. Ζ 44 Der transzendentale Freiheitsbegriff wird nicht deswegen ,beiseite gesetzt', weil er ein ,Problem bleibt' oder weil er bereits ,erörtert' wurde. Denn mit dieser Begründung müßte man auch den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriffaus dem Kanon ausschließen. Der namhaft gemachte Grund für die Exklusion besteht vielmehr darin, daß das Freiheitsproblem ,nicht vor die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört' und ,bloß das spekulative Wissen betrifft', also ,ganz gleichgültig für das Praktische' ist. Nun wird diese These kurz vorher mit dem Hinweis erläutert, daß der transzendentale Freiheitsbegriff irrelevant sei, ,so lange als unsere Absicht aufs Tun und Lassen gerichtet ist', insofern wir ,nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen'; das haben wir
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Man beachte auch, daß Kant nach der These, daß TPF ,ein Problem bleibt', fortfährt mit dem Anschluß: Allein ...'. Denn das heißt ja: TPF bleibt ein Problem, aber das macht auch nichts, denn ...
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schon erörtert. Das Problem besteht aber darin, daß auch dies kein überzeugender Grund für die besagte Exklusion zu sein scheint. Zunächst: Kant schreibt zwar, daß er sich ,für jetzt' (d.h. innerhalb des Kanons) ,nur' des praktischen Freiheitsbegriffes ,bedienen' werde und den transzendentalen Freiheitsbegriff ,beiseite setze'. Tatsächlich ist es aber so, daß der praktische (also in unserer Interpretation: naturalisierte) Freiheitsbegriff im Fortgang des Textes überhaupt keine Rolle mehr spielt und Kant sich also dieses Begriffs keineswegs ,bedient'. Es gibt keine einzige Stelle im zweiten und dritten Abschnitt des Kanons, in der dieser naturalisierte Freiheitsbegriff (NPF) noch einmal auftauchte oder auch nur sachlich vorausgesetzt würde. 82 Vielmehr ist es sehr wohl der doch eigentlich ,beiseite' gesetzte transzendentale Freiheitsbegriff (TPF), dessen sich Kant ,bedient'. Selbst wenn es zuträfe, daß TPF für das praktische' irrelevant wäre, insofern dieses praktische' verstanden würde als Inbegriff bloß pflichtmäßiger Handlungen, so wäre (und ist tatsächlich) TPF in einem anderen Sinne von ,Praktisch' sehr wohl relevant. Um das zu sehen, braucht man sich nur die Grandüberlegung des zweiten Abschnitts sowie diejenigen Passagen im Kanon vor Augen zu halten, in denen von ,Freiheit' die Rede ist - die entsprechenden Aussagen ergeben alle nur Sinn, wenn dabei ein transzendental-praktischer Freiheitsbegriff vorausgesetzt wird. So wird vom Sittengesetz gesagt, es „betrachtet nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt' (A806/B834, u.H.); die moralischen Gesetze bestimmen „völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d.i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen, d.i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt" (A807/B835, u.H.). Die Vernunft habe „zwar in Ansehung der Freiheit überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesamten Natur Kausalität [...], und moralische Vernunftprinzipien [können] zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen" (A807f./B835f., u.H.). Auch der für den Kanon zentrale Begriff der .moralischen Welt' ist nur sinnvoll, wenn er mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff verknüpft wird: „Ich nenne die Welt, sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll,) eine moralische Welt" (A808/B836, andere Hervorhebungen getilgt); die Idee einer moralischen Welt ist die Idee einer Welt vernünftiger Wesen, „sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige syste-
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Sich eines Begriffes in einem Kontext zu .bedienen' muß mindestens heißen, ihn (stillschweigend) für die Argumentation vorauszusetzen (wenn auch nicht mehr tatsächlich von ihm Gebrauch gemacht werden sollte).
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matische Einheit an sich hat" (ebd., u.H.)· 83 Kurzum: Die für den Kanon alles entscheidende Frage ,Was darf ich hoffen?' kann nur im Kontext einer Theorie beantwortet werden, in der nicht nur die Idee Gottes und die der Unsterblichkeit einen Platz haben, sondern auch die Idee der transzendentalen Freiheit. Dies wird noch deutlicher, wenn man die bereits erwähnte Postulatenlehre berücksichtigt. Dann sieht man nämlich, daß Kant den transzendentalen Freiheitsbegriff entgegen seiner Ankündigung nicht nur nicht ,beiseite setzt', sondern ihn der Logik dieser Lehre zufolge sogar noch viel 84 stärker nutzen müßte, als er es ohnehin schon tut. Ζ 45 Obwohl Kant ankündigt, sich im Kanon nur des praktischen Freiheitsbegriffs zu bedienen und den transzendentalen auszuschließen, ist es genau umgekehrt: Der praktische Freiheitsbegriff (NPF) spielt nach der Problempassage überhaupt keine Rolle mehr, der transzendentale (TPF) wird dagegen systematisch verwendet. b) Die Rolle der Postulatenlehre im Kontext des Kanonproblems Gehen wir also zunächst etwas näher auf den Begriff des postulates' ein. Zwar wird der Begriff eines praktischen Postulates im Kanon selbst nicht benutzt. Es gibt aber innerhalb von Kants Kritik der spekulativen Theologie (A631ff./B659ff.) die oben schon erwähnte Stelle, in der eindeutig auf den zweiten Abschnitt des Kanons Bezug genommen wird und in der von einem ,Postulat' bzw. vom Akt des ,Postulierens' die Rede ist: „Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was da sein soll. Diesem nach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle. Wenn nun entweder, daß etwas sei, oder geschehen solle, ungezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt ist: so kann doch entweder eine gewisse bestimmte Bedingung dazu schlechthin notwendig sein, oder sie kann nur als beliebig und zufällig vorausgesetzt werden. Im ersteren Falle wird die Bedingung postuliert (per thesin), im zweiten supponiert {per hypothesin). Da es praktische Gesetze gibt, die schlechthin notwendig sind (die moralischen), so muß, wenn diese irgendein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, notwendig voraussetzen, dieses Dasein postuliert werden, darum, weil das Bedingte, von welchem der Schluß auf diese bestimmte Bedingung geht, selbst
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Man beachte auch, daß beim Begriff der .moralischen Welt' „von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird" (A808/B836; vgl. A809/B837). - Zum Freiheitsbegriff im Kanon vgl. auch weitere Stellen in A809/B837, A810/B838, A815/B843, A816/B844, A819/B847. 84 Wir kommen also auf jene Stellen aus dem zweiten Abschnitt des Kanons noch einmal zurück.
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a priori als schlechterdings notwendig erkannt wird. Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch beiseite" (A633f./B661f.). 85
Es ist unbezweifelbar, daß Kant hier auf den Kanon abzielt: Er sagt ja, er wolle ,künftig' von den moralischen Gesetzen zeigen, daß aus ihnen das Dasein Gottes als Postulat folgt; er setze Jetzt' diese Postulatenlehre ,noch beiseite'. Aber worin besteht diese ,Schlußart' des Postulierens? Kant argumentiert mit Bezug auf das moralische Gesetz folgendermaßen: Es ist (oder scheint jedenfalls) angezweifelt gewiß', daß das moralische Gesetz gilt. Das Dasein Gottes (als des höchsten Wesens) ist als Bedingung für das, was moralisch geschehen soll, genauso schlechthin notwendig' 6 wie die moralischen Gesetze schlechthin notwendig' gelten; daher müssen wir von dem moralischen Gesetz als dem Bedingten auf das Dasein Gottes als der Bedingung schließen, oder anders gesagt: wir müssen das Dasein Gottes postulieren. Bei der Interpretation dieser Postulatenlehre ist folgendes zu beachten. Erstens ist nicht klar, warum das Dasein Gottes nur ein Postulat, aber keine (theoretische) Erkenntnis ist. Auch mit Blick auf die gewissermaßen offizielle Definition der KpV stellt sich dieses Problem. Dort versteht Kant unter einem Postulat „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz [...], sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (KpV, 122). Aber was bedeutet es, daß ein Satz (das Postulat) dem moralischen Gesetze ,unzertrennlich anhängt' und trotzdem als ein theoretischer Satz ,nicht erweislich' ist? Sollte man nicht meinen, daß ein Satz gerade dadurch ,erwiesen' wird, daß er einem anderen, als bewiesen oder jedenfalls gültig vorausgesetzten Satz unzertrennlich anhängt'? 87 Sollte man 85
Wille schlägt bei diesem Satz folgende Konjektur vor: ,Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da ei [sc. das Dasein Gottes] in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig ist, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch beiseite.' Das ergibt inhaltlich keinen Sinn: Wenn das Dasein Gottes ohnehin ,in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig' ist, braucht Kant nicht zu betonen, daß man es postulieren muß. Kant will hier offenkundig sagen, daß die moralischen Gesetze gelten, und daß deswegen das Dasein Gottes (und die Unsterblichkeit der Seele) tatsächlich Postulate sind und nicht bloß Voraussetzungen, die mit dem Begriff des moralischen Gesetzes (begrifflich) verbunden sind. 86 Im zweiten Abschnitt des Kanons ist entsprechend von Gott als „einer schlechterdings notwendigen Voraussetzung" (A818/B846, u.H.) die Rede. 87 Kant weist im Kontext der Postulate des empirischen Denkens darauf hin, daß der Begriff des Postulates „eigentlich [der Mathematik] angehört" (A233/B285). Über die Postulate des empirischen Denkens bzw. die Grundsätze der Modalität sagt Kant daher auch ausdrücklich, daß er sie, genau wie in der Mathematik, „mit ebendemselben Rechte" (A234/B287, u.H.) postulieren könne. Wenn er „neuere philosophische Verfasser" (A232f./B285) dafür kritisiert, daß sie den Begriff des Postulates „wider den Sinn der Mathematiker" (A233/B285) benutzen,
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nicht folgendermaßen argumentieren können: Wenn ich weiß, daß die moralischen Gesetze gelten; und wenn ich weiß, daß diese Geltung nur unter der Bedingung möglich ist, daß x; dann weiß ich auch, daß x. - Darauf könnte man erwidern, daß ein Postulat ein theoretischer Satz ist, weil er mit dem zu tun hat, was ist und nicht mit dem, was sein soll. Daß ein solcher theoretischer Satz als ein solcher theoretischer Satz ,nicht erweislich' ist, heißt nur, daß er ohne die vorausgesetzte Gültigkeit des moralischen Gesetzes ,nicht erweislich' ist. Da diese Gültigkeit selbst nicht (theoretisch) beweisbar ist, 88 ist also das damit verbundene Postulat zwar unzertrennlich' mit dem moralischen Gesetz verbunden, aber letztlich nicht beweisbar (und eben deshalb auch nur ein Postulat). Es bleibt allerdings die grundsätzliche Frage, was überhaupt als .theoretisch' und als ,Beweis' bezeichnet werden sollte. Wenn die Gültigkeit des moralischen Gesetzes, wie es in der KpV heißt, ein unbestreitbares ,Faktum der Vernunft' ist, dann ist ein damit verbundenes Postulat auch unbestreitbar; und wenn ein solches Postulat unbestreitbar ist, dann sollte man es wohl auch als bewiesen verstehen dürfen. Zweitens müssen wir beachten, daß der in A633/B661 getroffene Unterschied zwischen einem Postulat und einer Hypothese bei Kant innerhalb kurzer Zeitspannen und sogar innerhalb eines Werkes verschieden interpretiert wird. 89 Gemäß A633/B661 muß man zwischen einer notwendigen und einer nicht notwendigen Bedingung unterscheiden; infolgedessen sind Gott und die Unsterblichkeit der Seele Postulate und keine Hypothesen, weil sie als Bedingungen des moralischen Gesetzes schlechthin notwendig' sind. 90 In der Vorrede der KpV (11) werden die Termini ,Postulat' und notwendige
sollte man daraus aber nicht schließen, er verwende den Postulatbegriff nun genau wie die Mathematiker, jedenfalls nicht in anderen Kontexten. Denn in der KpV (11, Anm.) schreibt Kant ausdrücklich: „Aber der Ausdruck eines Postulates der reinen praktischen Vernunft konnte [könnte? Hartensteins Konjektur] noch am meisten Mißdeutung veranlassen, wenn man damit die Bedeutung vermengte, welche die Postulate der reinen Mathematik haben". Hier (wie auch in KpV, 31) distanziert sich Kant also von dem Postulatbegriff der Mathematik; er räumt dann ein, für die Postulate der reinen praktischen Vernunft einfach „keinen besseren Ausdruck" (KpV, 11, Anm.) gefunden zu haben. Zu bedenken ist auch, daß der Postulatbegriff der Mathematik zu Kants Zeiten vom Postulatbegriff der modernen Mathematik unterschieden ist; zu all dem vgl. Beck ( 3 1963, S.251 ff.). 88 Vgl. KpV, 46 ff. 89 Die Begriffe .Postulat' und .Hypothese' werden an jener Stelle nicht explizit benutzt, ergeben sich aber zwanglos aus dem Kontext („ ... Im ersteren Falle wird die Bedingung postuliert (per thesin), im zweiten supponiert (per hypothesin)". 90 Von einem möglichen hypothetischen Charakter des moralischen Gesetzes selbst ist hier nicht die Rede. Es sind die Bedingungen des moralischen Gesetzes, die ,postuliert (per thesin)' oder ,supponiert (per hypothesin)' werden. - Es ist überlegenswert, ob Freiheit nicht vielleicht deswegen aus dem Kanon ausgeschlossen wird, weil sie nur eine Hypothese, aber kein Postulat der reinen praktischen Vernunft sein kann; wir kommen gleich darauf zurück.
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Hypothesis' zunächst identifiziert. 91 Im Kapitel über den Erkenntnisstatus des Vernunftglaubens („Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft", KpV, 142 ff.) werden dagegen Hypothesen von Postulaten ausdrücklich unterschieden: Als Gegenstände der spekulativen Vernunft sind Gott und die Unsterblichkeit der Seele bloße Hypothesen, als Gegenstände der praktischen Vernunft aber Postulate. 92 Drittens werden, wie gesagt, im Kanon nur Gott und Unsterblichkeit als .Postulate' behandelt. Schon am Ende des ersten Abschnitts behauptet Kant, der Kanon handele nur von ,zwei Fragen' (,ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?'); und in der Tat werden dann nur diese ,zwei großen Zwecke', ,Aufgaben' und ,Glaubensartikel' behandelt, obwohl im ersten Kanonabschnitt - wie ja auch sonst in der KrV - immer von den drei ,Zwecken' der Vernunft die Rede ist. 93 Auffälligerweise findet sich eine auf den ersten Blick ähnliche Unstimmigkeit in der Kritik der praktischen Vernunft, mit der wir uns daher kurz beschäftigen müssen. Die Postulatenlehre der KpV entwickelt sich aus der Antinomie und damit aus der Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes werden im vierten und fünften Abschnitt des Zweiten Hauptstücks der ,Dialektik der reinen praktischen Vernunft' behandelt, also jeweils in eigenen Kapiteln. Ein Kapitel mit der Überschrift ,Die Freiheit des Willens als Postulat der reinen praktischen Vernunft' gibt es auffälligerweise nicht. Nachdem Kant aber Gott und Unsterblichkeit als die zwei Postulate der reinen praktischen Vernunft eingeführt hat, heißt es dann in dem Kapitel ,Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt' überraschend: „Diese Postulate [der reinen praktischen Vernunft] sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, sofern es zur intelligiblen Welt gehört), und des Daseins Gottes" (KpV, 132). Auch kurz danach (KpV, 133) ist noch einmal von dem ,,Postulat[.] der Freiheit" die Rede und davon, „daß eine solche [Freiheit] sei, durch das moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert"; etwas später werden dann „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" (KpV, 142) als „Postulate ... [als] Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Guts" (KpV, 143) bezeichnet. 9 Von allen drei Begriffen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) wird behauptet, daß sie durch die spekulative Vernunft entstehen, aber im theore-
91
Abweichend von der grundsätzlichen Bedeutung des Postulatbegriffs werden in KpV, 46, auch die moralischen Gesetze als „praktische Postulate" bezeichnet. 92 Vgl. ähnlich auch DO, 141. 93 Kants oben schon zitierte Behauptung, die ,ganze Bestrebung der reinen Vernunft sei eigentlich auf die zwei großen Zwecke (Gott und Unsterblichkeit) gerichtet' (A805/B833), ist u.E. nicht sinnvoll rekonstruierbar; wir kommen aber noch einmal darauf zurück. 94 Vgl. auch KpV, 5 und KpV, 134 f.
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tischen Kontext problematisch bleiben und erst durch die praktische Vernunft an Bedeutung und Realität gewinnen (auch wenn sie nicht weiter erkannt werden können). Auch die Freiheit wird also eindeutig als Postulat der reinen praktischen Vernunft beschrieben. Allerdings kommt ihr eine Sonderstellung zu. Dies könnte plausibel machen, warum Kant zwar der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes, nicht aber der Freiheit (als Postulat) ein eigenes Kapitel widmet (und das ist ja immerhin eine bemerkenswerte Tatsache). Der Begriff der transzendental-praktischen Freiheit wird in der KpV nämlich von vorneherein als Begriff verstanden, „dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist" (KpV, 3). Wir wissen, daß das moralische Gesetz gilt; und wir schließen von der Gewißheit dieses Sollens 95
auf die objektive Realität der Freiheit als dem Können zum Sollen. Durch diesen ,Realitätsbeweis' bekommt die Idee der Freiheit einen besonderen Status. Denn „alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser [sc. spekulativen Vernunft, D.S.] ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d.i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz" (KpV, 4). Und weiter: „Hier ist nun ein in Vergleichung mit der spekulativen Vernunft bloß subjektiver Grund des Fürwahrhaltens, der doch einer ebenso reinen, aber praktischen Vernunft objektiv gültig ist, dadurch den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objektive Realität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit (Bedürfnis der reinen Vernunft) sie anzunehmen verschafft wird" (ebd.).
Freiheit (in ihrer Eigenschaft als ratio essendi) wird in der KpV also einerseits als ,objektiv real und bewiesen' charakterisiert. In dieser Perspektive hat sie eine Sonderstellung inne; andererseits gehört die Freiheit aber trotzdem zu den Postulaten. Dieses spezielle Verhältnis zwischen der Idee der Freiheit und den Ideen von der Unsterblichkeit und von Gott wird in der KpV tatsächlich überhaupt nicht mehr thematisiert.96 Sieht man einmal davon ab, so könnte ein 95
Vgl. auch die Metaphysikvorlesung Dohna: „Soweit haben wir es [sc. das Freiheitsproblem] theoretisch abgehandelt, aber practisch ist es anders, denn durch die moralischen Gesetze müßen wir annehmen absolute Spontaneität der Handlungen, denn sonst könnten sie uns nicht imputirt werden" (MD, 660); das ist klar im Sinne des Faktum-Theorems zu verstehen: „Die Moral nun lehrt uns daß wir frey sind, dies kann keine Erfahrung; das Bewustseyn des moralischen Gesetzes" (MD, 661); und: „ich soll, also kann ich, - durch keine Erfahrung können wir dies beweisen" (MD, 683). Ähnlich MK 2 : „Dass der Mensch Freiheit habe, wird psychologisch nicht bewiesen werden können, sondern moralisch" (MK 2 , 773). 96 In der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796) geht Kant ganz kurz noch einmal darauf ein: Durch die Idee der Freiheit „bekommen Ideen, die für die bloß speculative Vernunft völlig leer sein würden, ob wir gleich durch diese zu ihnen, als Erkenntnisgründen unseres Endzwecks, unvermeidlich hingewiesen
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Lösungsansatz zu diesem Problem folgendermaßen aussehen: Wir wissen, daß das moralische Gesetz gilt. Daher wissen wir auch, daß die ,Bedingung des moralischen Gesetzes' - also die transzendentale Freiheit des Willens als ,ratio essendi' - real ist. Dagegen sind die Ideen von Gott und Unsterblichkeit keine Bedingungen der Geltung des moralischen Gesetzes selbst. Sie folgen also nicht unmittelbar aus dieser Geltung. Sie kommen erst zum Tragen mit Bezug auf das höchste Gut. Und von diesem höchsten Gut und den damit verbundenen transzendentalen Ideen (und nicht von der Gültigkeit des moralischen Gesetzes; diese ist längst erwiesen bzw. vorausgesetzt) handelt die Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Deshalb schreibt Kant schon in der Vorrede: „Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung [als ratio essendi] des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind aber nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des notwendigen Objektes eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens, d.i. des bloß praktischen Gebrauchs unserer reinen Vernunft" (KpV, 4 f., u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Kurz: Gott und Unsterblichkeit sind keine Bedingungen des ,bloß' praktischen Vernunftgebrauchs. Oder anders gesagt: Für den Gebrauch der reinen praktischen Vernunft im Sinne der Gültigkeit des moralischen Gesetzes ist die Freiheit eine notwendige Voraussetzung, Gott und Unsterblichkeit sind es nicht. Diese Ideen werden erst relevant, wenn man zum höchsten Gut übergeht. Es ist eine Pflicht, sagt Kant, das höchste Gut „zum Gegenstande meines Willens zu machen" (KpV, 142). Aber diese „Pflicht gründet sich auf einem freilich von diesen letzteren Voraussetzungen ganz unabhängigen, für sich selbst apodiktisch gewissen, nämlich dem moralischen Gesetze" (ebd.). 97 Außerdem ist zu beachten, daß ohne Freiheit keine Zwecksetzung möglich ist, also auch kein höchstes Gut (und keine damit zusammenhängenden Ideen von Gott und Unsterblichkeit als .letzter Zweck' der reinen praktischen Vernunft). Die Freiheit ist also wie Gott und Unsterblichkeit ein Postulat, insofern sie theoretisch unbeweisbar ist, aber der Geltung des Gesetzes .anhängt'. Sie spielt aber eine Sonderrolle, insofern sie unmittelbar der Geltung des moralischen Gesetzes .anhängt' und selbst für die Zwecksetzung des höchsten Gutes Voraussetzung ist.
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werden, eine obzwar nur moralisch-praktische Realität: nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischen) Rücksicht postuliren darf, gegeben wären" (EF, 416, u.H., Kants Hervorhebung getilgt). Mit diesen Voraussetzungen ist auch die Idee der Freiheit gemeint. Wenn Kant schreibt, daß das moralische Gesetz von dieser Idee unabhängig ist, kann er sich nur auf Freiheit als ratio cognoscendi beziehen, welches die Freiheit nun gerade nicht ist.
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Ζ 46 Der Postulat- und Hypothesenbegriff ist in Kants Philosophie insgesamt eher unklar und mehrdeutig. Auch die Postulatenlehre in der KpV ist schwierig. Obwohl Freiheit - im Unterschied zu Gott und Unsterblichkeit als Postulat in der KpV nicht eigens behandelt wird, wird sie doch mehrmals als ein solches bezeichnet. Außerdem hat die Freiheit unter den Postulaten eine Sonderstellung: Ihre Realität als ratio essendi des moralischen Gesetzes wird durch die unbezweifelbare Geltung dieses Gesetzes direkt bewiesen; diese Realität wiederum verleiht den beiden anderen Postulaten Realität. Im Unterschied zur Freiheit sind Gott und Unsterblichkeit keine Bedingungen der Geltung des moralischen Gesetzes, solidem nur Bedingungen des höchsten Guts. c) Gibt es eine Lösung des Problems? Nach diesen Vorbereitungen können wir uns nun noch einmal dem Grundproblem zuwenden. Es besteht darin, daß Kant sich zwar auf den praktischen Freiheitsbegriff beschränkt, sich seines aber keineswegs ,bedient'; und darin, daß der transzendentale Freiheitsbegriff offiziell ausgeschlossen, tatsächlich aber benutzt wird. Um es klar zu sagen - für dieses Problem gibt es keine Lösung. Der Blick auf die KpV und die Sonderstellung der Freiheit verschärft sogar noch das Problem, anstatt es zu lösen. Das Postulat der Freiheit, so wie Kant es in der KpV präsentiert, besteht letztlich in nichts anderem als in dem Schluß von der (angenommenen) Geltung des moralischen Gesetzes auf die notwendige Bedingung, diesem Gesetz Folge leisten zu können (also in einem Schluß vom Sollen auf das Können). Kant nimmt im Kanon die Gültigkeit des moralischen Gesetzes zumindest hypothetisch an (,Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe ...', A807/B835). Statt die transzendentale Freiheit ,beiseite zu setzen', sollte man daher erwarten, daß Kant im Kanon die transzendentale Freiheit genauso postuliert wie Gott und die Unsterblichkeit der Seele; ja, man dürfte im Lichte der KpV sogar erwarten, daß TPF eine besondere (und zwar vorzügliche) Stellung innehat. Wir sahen bereits, daß der Begriff der transzendentalen Freiheit trotz der anderslautenden Ankündigung Kants (A801f./B829f.) im zweiten Abschnitt des Kanons tatsächlich vorausgesetzt wird. Aber noch mehr: Statt TPF ,beiseite zu setzen', vollzieht Kant schon im Kanon einen Schluß vom Sollen aufs Können, der es ihm dann in der KpV erlaubt, Freiheit als Postulat mit Sonderstellung zu verstehen. Nachdem Kant nämlich festgestellt hat, daß er von der Geltung moralischer Gesetze ausgeht und daß diese Gesetze „das Tun und Lassen, d.i. den Gebrauch der Freiheit
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eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen" (A807/B835), fort:
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fährt er
„Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn, da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische, möglich sein, indessen daß die
systematische Natureinheit nach spekulativen Prinzipien der Vernunft nicht bewiesen werden konnte, weil die Vernunft zwar in Ansehung der gesamten Natur Kausalität hat, und moralische Vernunftprinzipien zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen können. Demnach haben die Prinzipien der reinen Vernunft in ihrem praktischen, namentlich aber, dem moralischen Gebrauche, objektive Realität" (A807f./B835f.).
Wie oben schon einmal angedeutet: Zumindest der erste Satz aus dieser Passage legt die Vermutung nahe, hier gehe es um pflichtmäßige Handlungen (,Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß' sind). Daher scheint es, man könne sich darauf als Beleg für die These von der naturalisierten Freiheit beziehen. Doch das ist nicht möglich, und zwar aus folgendem Grund. Die ,Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung' sind die sittlichen Vorschriften', also die moralischen Gesetze. Nun heißt es, den moralischen Gesetzen gemäße Handlungen ,könnten' in der Erfahrung anzutreffen sein. Diese These (Kant selbst hebt das ,könnten' hervor) ergäbe aber überhaupt keinen Sinn, wenn es sich bei diesen Handlungen um pflichtmäßige Handlungen handelte; denn daß es pflichtmöß/ge Handlungen gibt, kann ja überhaupt nicht bestritten werden. Genauso ist auch die These, daß die Handlungen, die geschehen sollen', auch geschehen können müssen', nur dann sinnvoll, wenn es dabei nicht um pflichtmäßige Handlungen geht, sondern um Handlungen aus Pflicht - wie gesagt, daß pflichtmäßige Handlungen geschehen können', kann nicht sinnvoll bezweifelt werden. Und auch die These, daß die moralischen Gesetze eine ,besondere Art von systematischer Einheit' ermöglichen, beweist, daß es hier um die transzendentale Freiheit geht. Denn diese systematische Einheit' ist ja die dann im nächsten Absatz diskutierte „systematische Einheit" (A808/B836) der vernünftigen Wesen als Glieder der ,moralischen Welt', die als .intelligible Welt' (A811/B839) charakterisiert wird, in der die Glieder ein „corpus mysticum" (A808/B836) bilden. Daß die moralischen Prinzipien Möglichkeit der Erfahrung' (Kants Hervorhebung), ,nämlich' der Handlungen aus Pflicht sind, kann also nicht so verstanden werden, als ob
98 99
Schon hier zeigt sich, daß Kant TPF voraussetzt. Hervorhebungen im Original zum Teil anders.
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Handlungen aus Pflicht und damit TPF aus Erfahrung beweisbar wären. Damit ist nur gemeint, daß moralische Handlungen (als Handlungen aus Pflicht), da sie geboten sind, auch möglich sein müssen; daß man aus der Perspektive der Erfahrungswelt (als Welt der Erscheinungen) solche Handlungen nicht beobachten kann, wird damit nicht bestritten. 100 Man findet also an dieser Stelle des Kanons bereits jenen Schluß vom Sollen aufs Können, der in den späteren Schriften Kants eine so große Rolle spielt: ,Denn, da die Vernunft gebietet, daß Handlungen aus Pflicht geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können\101 Geschehen können sie aber nur unter der Voraussetzung der transzendentalen Freiheit vernünftiger Wesen'; folglich wird hier die transzendentale Freiheit nicht weniger 102
,postuliert' als Gott und die Unsterblichkeit der Seele. Ja, mehr noch: Statt die transzendentale Freiheit,beiseite zu setzen', hat sie sogar schon im Kanon jene exponierte Stellung, die sie dann offiziell auch in der KpV erhält. Denn der Schluß geht ja vom Sollen aufs Können, vom Können auf die moralische
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Vgl. A425/B453: „Die Moral kann ihre Grundsätze insgesamt auch in concreto, zusamt den praktischen Folgen, wenigstens in möglichen Erfahrungen geben und dadurch den Mißverstand der Abstraktion vermeiden"; und: „Dagegen, weil es im praktischen Gebrauche des Verstandes ganz allein um die Ausübung nach Regeln zu tun ist, so kann die Idee der praktischen Vernunft jederzeit wirklich, obzwar nur zum Teil, in concreto gegeben werden, j a sie ist die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft" (A328/B384f). Vgl. auch EF, 416: „Nun gibt es doch Etwas in der menschlichen Vernunft, was uns durch keine Erfahrung bekannt werden kann und doch seine Realität und Wahrheit in Wirkungen beweiset, die in der Erfahrung dargestellt, also auch (und zwar nach einem Princip α priori) schlechterdings können geboten werden. Dieses ist der Begriff der Freiheit und das von dieser abstammende Gesetz des kategorischen, d.i. schlechthin gebietenden, Imperativs. - Durch dieses bekommen Ideen, die für die bloß speculative Vernunft völlig leer sein würden, ob wir gleich durch diese zu ihnen, als Erkenntnisgründen unseres Endzwecks, unvermeidlich hingewiesen werden, eine obzwar nur moralisch-praktische Realität: nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischen) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären"; und dann zwei Seiten später (EF, 418): „Unter diesen Ideen [sc. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit] führt also die mittlere, nämlich die der Freiheit, weil die Existenz derselben in dem kategorischen Imperativ enthalten ist, der keinem Zweifel Raum läßt, die zwei übrigen in ihrem Gefolge bei sich; indem er, das oberste Princip der Weisheit, folglich auch den Endzweck des vollkommensten Willens (die höchste mit der Moralität zusammenstimmende Glückseligkeit) voraussetzend, bloß die Bedingungen enthält, unter welchen allein diesen Genüge geschehen kann"; man beachte aber, daß trotzdem alle drei Ideen als .Postulate' bezeichnet werden.
101
Etwas später heißt es: „Ich nenne die Welt, sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll,) eine moralische Welt" (A808/B836). 102 Vgl. noch einmal A815/B844: „Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber, intelligible, d.i. moralische Welt (regnum gratiae) genannt werden kann ..." (erste Hervorhebung D.S.).
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Welt, 103 und von der moralischen Welt folgt dann im nächsten Schritt (A809ff./B837ff.) der Schluß auf ,Gott und ein künftiges Leben'. Ζ 47 Kant schließt die transzendentale Freiheit explizit aus dem Kanon aus, bedient sich ihrer (und nicht des praktischen Freiheitsbegriffs) aber sehr wohl und vollzieht sogar den vorher angekündigten ,Schluß' von dem Bedingten (dem moralischen Gesetz) auf die Bedingung (TPF), ganz im Sinne eines Postulates und sogar in einer exponierten Weise. An dieser Interpretation führt kein Weg vorbei. Es ist auch nicht zu sehen, wie sich die damit verbundene Inkonsistenz auflösen ließe. Vielleicht aber können wir verstehen, welches Motiv Kant dazu bewogen hat, die transzendentale Freiheit aus dem Kanon auszuschließen. Daß der Freiheitsbegriff innerhalb der Postulatenlehre eine Sonderstellung innehat, ist, wie gezeigt, keine Lösung; denn es ist ja gerade die Freiheit, die im Kanon ,beiseite gesetzt' wird (statt daß ihr auch offiziell eine Sonderstellung eingeräumt wird). Nur eine Möglichkeit bleibt noch offen: Vielleicht folgt die Exklusion der transzendentalen Freiheit unmittelbar aus der Exklusion ,des Moralischen' aus der Transzendentalphilosophie. Nachdem Kant in einem eigenen Absatz den besagten methodischen Hinweis macht, daß ,das Moralische' kein Thema der Transzendentalphilosophie ist (A801/B829), fährt er im nächsten Absatz mit der oben schon zitierten Passage fort, in der er die .Freiheit in transzendentaler Bedeutung' aus dem Kanon ausschließt. Diese Passage beginnt folgendermaßen: „Und da ist denn zuerst anzumerken, daß ich mich vorjetzt des Begriffs der praktischen Freiheit nur im praktischen Verstände bedienen werde ..."
(A801/B829). Der Anfang dieser Passage ist bemerkenswert: ,Und da ist denn zuerst anzumerken, daß ...'. Ganz offenkundig stellt Kant eine Verbindung her zwischen der gerade erfolgten Exklusion des ,Moralischen' aus dem Kanon und der jetzt erfolgenden Exklusion der transzendentalen Freiheit; er sagt ja, er habe .da' - also ,dabei', d.h. in diesem Zusammenhang der methodischen Einschränkung - ,zuerst anzumerken' usw. Die Exklusion des transzendentalen Freiheitsbegriffs aus dem Kanon wäre demnach eine direkte Folge der
103
Es heißt in jenem Zitat ja ausdrücklich: ,Denn, da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische, möglich sein'; diese .systematische Einheit' ist aber die Einheit der vernünftigen Wesen in einer .moralischen Welt'; diese folgt (,also') aus der Tatsache, daß moralische Handlungen möglich sein können müssen.
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Exklusion des ,Moralischen' aus der Transzendentalphilosophie (und damit aus dem Kanon). Die Überlegung wäre folgende: Es ist zwar richtig, daß auch die transzendentale Freiheit letztlich die Voraussetzung der moralischen Gesetze ist. Aber die transzendentale Freiheit ist die transzendental-praktische Freiheit der Willkür,104 und der Begriff der Willkür kann nicht sinnvoll im Rahmen der transzendentalphilosophischen Überlegungen zum Kanon behandelt werden, weil er ein Begriff empirischen Ursprungs ist. An der entscheidenden Stelle der Einleitung (A) heißt es: „Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft [sc. der Transzendentalphilosophie] ist: daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgendetwas Empirisches in sich enthalten, oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei. Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität, und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten. Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft" (A14f., u.H.).
Als mögliche Antwort auf die Frage, was Kant dazu bewogen hat, TPF aus dem Kanon auszuschließen, könnte man mit Bezug auf diese Stelle darauf hinweisen, daß der Willkürbegriff ,empirischen Ursprungs' ist, auch wenn der mit ihm verbundene Freiheitsbegriff transzendental ist. Tatsächlich wird das Argument aus der Einleitung (A14f.) in der Fußnote zu jener Stelle aus dem Kanon, wo es heißt, das ,Moralische' sei der Transzendentalphilosophie ,fremd', wiederholt. 105 Man könnte also argumentieren, daß sich die drei Kardinalsätze in einem wichtigen Punkt unterscheiden: Während der Satz ,der Wille ist transzendental frei' einen Begriff enthält, der ,empirischen Ursprungs' ist (,Willkür' bzw. ,Wille'), trifft dies auf die anderen beiden Sätze (die Seele ist unsterblich; Gott als höchste Intelligenz existiert) nicht zu. Und deswegen hat man es, wie es am Ende des ersten Abschnittes heißt, ,in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu tun, die das praktische
104
Vgl. A817/B845. - ,Wille' und .Willkür' sind in diesem Zusammenhang (bzw. in dieser Entwicklungsstufe in Kants Denken) noch austauschbare Begriffe. 105 „Alle praktischen Begriffe gehen auf Gegenstände des Wohlgefallens, oder Mißfallens, d.i. der Lust oder Unlust, mithin, wenigstens indirekt, auf Gegenstände unseres Gefühls. Da dieses aber keine Vorstellungskraft der Dinge ist, sondern außer der gesamten Erkenntniskraft liegt, so gehören die Elemente unserer Urteile, sofern sie sich auf Lust oder Unlust beziehen, mithin der praktischen, nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat" (A801/B829, Anm.). Vgl. auch A569/B597: „Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zum Grunde liegt".
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Interesse der Vernunft angehen, und in Ansehung deren ein Kanon ihres Gebrauchs möglich sein muß: nämlich ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?' Damit hätte man vielleicht eine Lösung für das besagte Problem, daß Kant zwar ankündigt, dasjenige, was psychologisch' oder ,empirisch' ist, bei der Diskussion des ,Moralischen' innerhalb des Kanon ,gänzlich beiseite' zu setzen - nur um dann im nächsten Absatz nicht, wie demnach zu erwarten, den empirischen Freiheitsbegriff ,beiseite zu setzen', sondern den nichtempirischen, also den transzendentalen. Kant würde demnach folgendermaßen argumentieren: Unabhängig davon, ob man die Freiheit des Willens praktisch' (empirisch) oder transzendental' (nichtempirisch) versteht, der Willkürbegriff ist jedenfalls selbst ,empirischen Ursprungs'. Daher und insofern sind wir gezwungen, auf den Begriff der transzendentalen Willkürfreiheit im Rahmen des Kanons zu verzichten, um den apriorischen Charakter der Transzendentalphilosophie nicht zu verletzen. Nun ist zwar der praktische Freiheitsbegriff empirisch und scheint damit gerade das Aprioritätsgebot zu unterlaufen. Da wir aber die Freiheitsproblematik aus dem Kanon ausschließen, müssen wir uns dieses Begriffes nicht wirklich bedienen; er spielt theoretisch keine Rolle und bereitet daher auch keine Schwierigkeiten. Dieser Interpretation zufolge würde also der transzendentale Freiheitsbegriff aus dem Kanon ausgeschlossen, weil der mit dem Freiheitsbegriff verbundene Willkürbegriff empirischen Ursprungs ist und empirische Begriffe (und somit alle praktischen Begriffe', zu denen auch der Willkürbegriff gehört) keinen Bestandteil der Transzendentalphilosophie ausmachen dürfen. Doch auch dieser Lösungsvorschlag ist nicht befriedigend. Denn erstens bleibt dabei das Problem bestehen, daß Kant de facto sehr wohl den transzendentalen Freiheitsbegriff für seine Kanonüberlegungen heranzieht. Zweitens müßte eigens diskutiert werden, inwiefern der Willkürbegriff tatsächlich (auch für Kant) ,empirischen Ursprungs' ist.106 Und drittens sieht man leicht, daß damit für den zweiten Aspekt des Kanonproblems nichts gewonnen ist. Selbst wenn es plausibel erschiene, den Kardinalsatz von der transzendentalpraktischen Freiheit des Willens aus dem Kanon auszuschließen, weil der mit der Freiheit verbundene Willkürbegriff ,empirischen Ursprungs' ist, folgt daraus noch lange nicht, daß der empirische Freiheitsbegriff für das ,Tun und Lassen' hinreichend ist. Daher scheint Kant am Ende des ersten Abschnittes den transzendentalen Freiheitsbegriff auch gar nicht deswegen auszuschließen, weil der damit einhergehende Willkürbegriff ,empirischen Ursprungs' ist. Vielmehr setzt er ihn deswegen ,beiseite', weil dieser tran-
106
Es ist interessant und aufschlußreich, daß in der Auflage Β - in der ja bekanntlich die betreffende Passage abgeändert wurde (B28f.) - der Begriff der .Willkür' aus der Liste der empirischen Begriffe gestrichen wurde. Was diese und die anderen Änderungen genau bedeuten, kann uns aber hier nicht beschäftigen.
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szendental-praktische Freiheitsbegriff als solcher für ,das Praktische' (also für die moralischen Gesetze) ,ganz gleichgültig' ist. Es ist aber eine Sache, den Freiheitsbegriff aus der Transzendentalphilosophie und damit aus dem Kanon auszuschließen, weil der damit verbundene Willkürbegriff empirisch ist, und eine andere, ihn aufgrund mangelnder Relevanz für ,das Praktische' auszuschließen. Kurzum: Die Annahme, Kant schließe den transzendentalen Freiheitsbegriff im Zuge seiner methodischen Einschränkung aus, ist wenig überzeugend. Ζ 48 Kant schließt die Ethik aus der Transzendentalphilosophie mit der Begründung aus, daß einige der mit ihr verbundenen Begriffe ,empirischen Ursprungs' sind. Zu diesen Begriffen gehört (laut KrVA) auch der Begriff der Willkür. Daher könnte man argumentieren, daß TPF deswegen offiziell aus dem Kanon ausgeschlossen wird, weil der mit dem Freiheitsbegriff verbundene Willkürbegriff empirischen Ursprungs ist und solche Begriffe keinen Bestandteil der Transzendentalphilosophie ausmachen dürfen. Aber auch dieser Rettungsversuch scheitert aus mehreren Gründen. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als festzustellen: Ζ 49 Der zweite Aspekt des Kanonproblems bleibt ungeklärt. Es ist nicht einsichtig, wie und inwiefern der praktische, aus Erfahrung beweisbare Freiheitsbegriff des Kanons (NPF) für ,das Praktische' genügen könnte und warum umgekehrt der transzendental-praktische Freiheitsbegriff (TPF) für dieses praktische' keine Rolle spielen soll. Unklar bleibt daher auch, warum TPF offiziell aus dem Kanon ausgeschlossen wird (obwohl dieser starke Freiheitsbegriff tatsächlich dann im Kanon Verwendung findet).
6. Zusammenfassung: Transzendentale und praktische Freiheit bei Kant Im Rückgriff auf die diversen Einzelzusammenfassungen werden jetzt noch einmal die Hauptergebnisse zusammengestellt. Das Kanonproblem Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung zeigt sich ein erhebliches Problem, das die Einheit der Kantischen Freiheitstheorie zu bedrohen scheint. Dieses Problem - das Kanonproblem - besteht darin, daß Kant im Zusammenhang mit der Dialektik praktische Freiheit als transzendentale Idee' beschreibt, die nicht durch Erfahrung bewiesen werden kann, wohingegen es im Kanon heißt, Freiheit sei eine ,νοη den Naturursachen' und ,durch Erfahrung beweisbar'; das ist der erste Aspekt des Kanonproblems. Der zweite besteht darin, daß in der Dialektik die transzendental-praktische Freiheit als Grundlage der Moral verstanden wird. Im Kanon heißt es aber, die Frage nach der transzendentalen Freiheit gehe uns ,im Praktischen nichts an'. (Z 1) Freiheit in der Dialektik Wirft man einen genaueren Blick auf die relevanten Passagen der Dialektik, so verschärft sich das Kanonproblem nur noch weiter. Es wird dort nämlich eindeutig praktische Freiheit' verstanden als transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft (der Willkür); wir nennen diese Freiheit transzendental-praktische Freiheit (TPF). Laut Dialektik ,gründet sich' also die praktische Freiheit auf die transzendentale Freiheit, weil auch praktische Freiheit - verstanden als TPF - das Vermögen ist, eine Ursachenkette ,ganz von selbst anzufangen'. Dieses praktische Vermögen ist, positiv verstanden, nichts anderes als das Spontaneitätsvermögen transzendentaler Freiheit; negativ verstanden ist praktische Freiheit das Vermögen, unabhängig von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit' zu handeln (beide Momente gehören zusammen). Aufgrund dieses Zusammenhangs von transzendentaler und praktischer Freiheit ,würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen'. Da praktische Freiheit in der Dialektik als transzendental-praktische Freiheit verstanden wird, ist sie eine ,Idee', die keinesfalls durch Erfahrung bewiesen werden kann. Ein kurzer Blick auf die Prolegomena bestätigt diese Befunde. (Z 2-5)
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Der entwicklungsgeschichtliche Kontext des Kanonproblems Wie so oft bei Kant erweist sich auch im Zusammenhang mit dem Kanonproblem eine Analyse des entwicklungsgeschichtlichen Kontextes als fruchtbar. In der Vorlesungsmitschrift Metaphysik Li (MLi) umfaßt der Begriff der freien Willkür sowohl die praktisch freie als auch die transzendental freie Willkür. Die praktische oder psychologische Freiheit wiederum ist in MLi definiert als die Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Da die praktische Freiheit in der empirischen Psychologie behandelt wird und das Wissen der empirischen Psychologie ,aus der Erfahrung geschöpft' ist, ist auch das Wissen um die praktische Freiheit empirisches Wissen: Wir wissen, daß wir praktisch frei sind, weil wir Beispiele dafür angeben können, daß der Mensch nicht durch sinnliche Antriebe genötigt wird. Dagegen versteht Kant noch innerhalb der empirischen Psychologie von ML) die transzendentale Freiheit als völlige Unabhängigkeit der Willkür (also nicht nur als Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung). Doch in der rationalen Psychologie von MLi bedeutet transzendentale Freiheit' noch etwas anderes, nämlich die Unabhängigkeit der menschlichen Willkür von Gott als einem ,principium externum'. Dieses Problem - wie kann ein geschaffenes Wesen freie Handlungen hervorbringen? - nennen wir das ens-derivativum-Problem. MLi belegt eindeutig, daß Kant den Ausdruck praktische Freiheit' auf ganz verschiedene Weisen verwendet: Nicht nur bedeutet praktische Freiheit' in der empirischen Psychologie von ML! soviel wie die Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe, wohingegen Kant in der rationalen Psychologie den Terminus praktische Freiheit' auch verwendet, um sich auf die absolute Spontaneität der transzendentalen Freiheit zu beziehen. Kant versteht außerdem in MLi den Begriff der transzendentalen Freiheit als praktisch hinreichend', aber nicht als spekulativ erreichbar, und auch in dieser Eigenschaft, praktisch hinreichend' zu sein, wird die transzendentale Freiheit selbst wieder praktische Freiheit' genannt. Kants Ausführungen zum Verhältnis von Moral und Freiheit sind ähnlich verwirrend: In der rationalen Psychologie von MLi behauptet Kant zweimal, der praktisch-psychologische Freiheitsbegriff sei ,zur Moralität hinreichend genug'; schon dadurch könnten ,die praktischen Sätze stattfinden' und sei ,die Moral sicher'. Gleichzeitig heißt es aber, ohne transzendentale Freiheit ,hätten alle praktischen Vorschriften keinen Sinn' und wären ,unnütz'. Dieser Widerspruch ist wohl nicht auflösbar. Auch die Frage, welche Freiheit (praktische oder transzendentale) für das Handeln nach der Vorstellung hypothetischer Imperative vorausgesetzt werden muß, ist in ML! nicht klar beantwortet. (Z 6-13) Die Vorlesungsmitschrift Metaphysik Mrongovius ist ähnlich aufschlußreich, indem auch sie Kants mehrdeutigen Gebrauch des Ausdrucks praktische Freiheit' demonstriert. Wieder beschreibt Kant die .Freiheit im
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praktischen Verstände' im Sinne von TPF. Trotzdem scheint er diese Freiheit zugleich von TPF zu unterscheiden, da es heißt, die .Freiheit im praktischen Verstände' sei ,aber' von der ,Freiheit im tranzendentalen Verstände' unterschieden. Um Kants Ausführungen über Freiheit in M M nicht einfach als verworren abzutun, muß man zwischen einem Theoriekontext und einem Praxiskontext unterscheiden. Während es im Theoriekontext um die Frage geht, was Freiheit ist, geht es im Praxiskontext um die Frage, was wir über Freiheit wissen können. In diesem Praxiskontext bezeichnet ,Freiheit im praktischen Verstände' die Notwendigkeit, so zu handeln, als ob man frei sei und als ob die objektive Realität der transzendental-praktischen Freiheit auch in theoretischer Hinsicht als bewiesen gelten könnte, obwohl sie es nicht ist (dies nennen wir die als-ob-praktische Freiheit: APF). Während das Prädikat .praktisch' also einerseits ein Attribut der Freiheit selbst ist und die transzendentale Freiheit des Willens (der Willkür) bezeichnet, charakterisiert es andererseits in der Formulierung ,Freiheit im praktischen Verstände' nicht die Freiheit selbst, sondern die Perspektive, aus der über diese Freiheit geredet wird. Innerhalb des Praxiskontextes besitzt Kant auch in M M einen praktisch hinreichenden' Begriff von Freiheit im Sinne von APF: Wir müssen so handeln, als ob wir praktisch frei seien. Innerhalb des Theoriekontextes ist die Freiheit ,im praktischen Verstände' eine bloße Idee (TPF). Dieser Freiheit gemäß zu handeln heißt dann aber innerhalb des Praxiskontextes ebenfalls, frei zu sein ,im praktischen Verstände' (APF). Die in MM zunächst problematisch erscheinende Abgrenzung der praktischen von der transzendentalen Freiheit läßt sich im Lichte der Unterscheidung von Theorieund Praxiskontext also nach vollziehen: Bei dieser Abgrenzung bezieht sich Kant mit der Formulierung ,Freiheit im praktischen Verstände' auf APF. (Z 14-17) Auch in der veröffentlichten Schulz-Rezension spielt der Unterschied zwischen dem anspruchsvollen Freiheitsbegriff des Theoriekontextes und dem bescheidenen Freiheitsbegriff des Praxiskontextes eine große Rolle. Nur dann kann man nämlich nachvollziehen, daß Kant zwar TPF an sich als Voraussetzung der Moral versteht, dennoch aber meint, der praktische Begriff der Freiheit habe ,mit dem spekulativen nichts zu tun'. Dies ist nur insofern richtig, als der Begriff von TPF theoretisch-spekulativ ,nicht hinreichend' ist und dennoch praktisch vorausgesetzt werden muß. Schließlich findet sich der Unterschied zwischen dem Theorie- und Praxiskontext sogar explizit in der Grundlegung, und auch in der Religionslehre Pölitz taucht er auf. (Z 18-20) Kants naturalisierter Freiheitsbegriff Der praktische Freiheitsbegriff in der Dialektik und im Kanon dürfen trotz zunächst ähnlicher Charakterisierungen nicht miteinander identifiziert werden. In der Dialektik ist praktische Freiheit als TPF zu verstehen. Sie ist damit eine
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,Idee', die nicht ,durch Erfahrung beweisbar' ist. Genau dies (daß sie ,durch Erfahrung beweisbar') und daß sie eine von den ,Naturursachen' ist, wird aber im Kanon von der praktischen Freiheit behauptet. Kant nennt diese praktische Freiheit der Vernunft, die ,durch Erfahrung beweisbar' ist, Freiheit nur ,in Absicht auf sinnliche Antriebe'. In dieser Perspektive bedeutet sie die Unabhängigkeit von der unmittelbaren Nötigung durch sinnliche Antriebe und die Fähigkeit zu rationalem Handeln überhaupt. Daß praktische Freiheit ,durch Erfahrung beweisbar' ist, wird von Kant nicht wirklich bewiesen, sondern als basale Tatsache behauptet. Die Vernunft ist laut Kanon also praktisch frei' und zugleich eine ,Naturursache'. Es ist nun entscheidend zu sehen, daß diese Charakterisierungen beide aus der Perspektive der Erscheinungswelt getroffen werden; ,in Absicht auf sinnliche Antriebe' ist die Vernunft praktisch frei' und bleibt doch als Glied der Erscheinungswelt eine ,Naturursache'; diese Freiheit heiße naturalisierte praktische Freiheit (NPF). Als eine solche ,Naturursache' kann die NPF ,als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden' und ist daher kein ,Problem'. Es ist zu vermuten, daß NPF als empirisches Phänomen (Erscheinungsweise) der intelligiblen Welt zu verstehen ist und damit als erfahrbare Freiheit. Im Kanon wird also die praktische Freiheit von der transzendentalen Freiheit scharf abgegrenzt; die praktische Freiheit im Kanon kann nicht als TPF interpretiert werden. Im Unterschied zu NPF ist transzendentale Freiheit die Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt'. Es bleibt das ,Prob lern', ob die Vernunft tatsächlich transzendental frei ist. (Das Kanonproblem läßt sich nicht mit dem Hinweis auflösen, daß Kant im Kanon mit einem anderen Begriff von ,Erfahrung' operiere. Weder die Problempassage selbst noch ähnliche Stellen in der KU rechtfertigen diese These.) (Z 21-26) Der naturalisierte Freiheitsbegriff und Metaphysik Lj Es ist kaum zu übersehen, daß Kant im Kanon der KrV auf eine ähnlich unklare Weise mit dem Freiheitsproblem ringt wie in ML[; die Einflüsse von ML] auf die Freiheitsdiskussion sind unverkennbar. In der Tat ist Kant im Kanon durch sein Denken, wie es in MLi dokumentiert ist, noch so stark beeinflußt, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt hat (eben zum Kanonproblem). Wir nennen dies die gemäßigte patch workThese. In beiden Schriften ist der Begriff praktische Freiheit' auf die gleiche Weise mehrdeutig und der praktische Freiheitsbegriff empirisch, wobei er als Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Antriebe bestimmt wird; dies im Unterschied zum transzendentalen Freiheitsbegriff, der in beiden Schriften (u.a.) als völlige Unabhängigkeit der Willkür verstanden wird. Zudem ist sowohl in MLi als auch im Kanon das Voraussetzungsverhältnis von Freiheit und Moral unklar. Trotz der theologischen Bedeutung des transzendentalen Freiheitsbegriffs in MLi kann die Rede von den entfernteren
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Ursachen' im Kanon aber nicht im Sinne des ens-derivativum-Problems verstanden werden. (Z 27-28) Der naturalisierte Freiheitsbegriff und die Kritik der praktischen Vernunft Ein Blick auf die KpV ist insofern gewinnbringend, als er belegt, daß das, was Kant in der KpV Comparative' oder psychologische' Freiheit nennt, in wesentlichen Zügen mit dem naturalisierten Freiheitsbegriff des Kanons identisch ist. Es überrascht nicht, daß der .psychologische' Freiheitsbegriff der KpV vom transzendentalen Freiheitsbegriff strikt unterschieden ist (auch wenn sie in anderer Perspektive ,zugleich' statthaben können). Im Unterschied zur KrV läßt Kant in der KpV keinen Zweifel daran, daß allein der transzendentale Freiheitsbegriff für die Moral ausreichend ist. (Z 29-30) Einige Vorbetrachtungen zum Kontext des Kanons Die höchsten Zwecke der spekulativen Vernunft sind Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Der in der Überschrift des für uns maßgeblichen ersten Abschnittes des Kanonkapitels erwähnte ,letzte Zweck' zielt aber auf die Frage, ,was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist'. Der ,letzte Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft' ist daher das ,Moralische'. Der Kanon als ,Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft' ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Inbegriff der moralischen Gesetze oder diesen Gesetzen selbst. Der Kanon ist die Erörterung der Voraussetzungen und Folgerungen jenes ,Gebrauchs'. Der Gebrauch selbst besteht (u.a.) im Aufstellen der moralischen Gesetze der Vernunft (principium diiudicationis). Es ist besonders auffällig und verwirrend, daß Kant zum Ende des ersten Abschnittes die Frage nach der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon ausschließt; sie sei für das Praktische .gleichgültig'. Denn diese Freiheit wurde an anderen Stellen - und später dann ausdrücklich etwa in der KpV als .Grundstein' der Moral und Religion beschrieben. (Z 31-33) Was ist ,das Praktische' und wie ausgereift ist der frühe Autonomiebegriff? Der Begriff des praktischen' ist ein sehr weiter Begriff, mit dem sich Kant auf verschiedene Dinge bezieht: Ganz allgemein auf alles, was mit Moralität, und, damit zusammenhängend, mit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu tun hat; aber auch auf die praktische Philosophie, das Moralische sowie auf den praktischen Vernunftgebrauch. Im Kanonkontext vor der Problempassage heißt dasjenige praktisch', was durch transzendental-praktische Freiheit (TPF) möglich ist, sc. hypothetische und kategorische Imperative. Die Vernunft wird dabei als principium diiudicatonis begriffen, das heißt als ein Vermögen zu erkennen, was moralisch (geboten) ist; als principium executionis ist sie (vermittelst des Gefühls der Achtung) eine praktische Trieb-
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feder (der praktische Vernunftgebrauch ist also zweifach). Im Kontext der ,drei Fragen' (nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) wird praktisch' im Sinne von ,ethisch' verwandt. Dabei wird die Frage ,was soll ich tun?' als ,bloß praktisch' aus der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen. (Z 34-37) Diverse Stellen in der KrV haben vermuten lassen, daß Kant in der KrV einen noch nicht ausgereiften Autonomiebegriff habe (,semi-critical'). Blickt man zunächst auf die Ausführungen in der Ethik-Vorlesung Kaehler, so erweisen sich zwar die dort einschlägigen Stellen als nicht eindeutig. Sie lassen aber doch den Schluß zu, daß Kant bereits über einen weitgehend ausgereiften Autonomiebegriff verfügte: Die moralischen Gesetze gelten unabhängig von Gottes Willen. Hinsichtlich der Vernunft als principium executionis ist Kant in der Kaehler-Vorlesung zwar skeptisch; aber die reine praktische Vernunft kann Triebfeder sein, wenn es auch unerkennbar ist, wie dies möglich ist. Und obwohl auch die besagten Stellen aus der KrV nicht eindeutig sind, darf gesagt werden, daß die KrV bereits über einen entwickelten Autonomiebegriff verfügt. Ihr zufolge gelten die moralischen Gesetze unabhängig von Gott. Die Vernunft ist principium diiudicationis; ob die Vernunft ohne Rückgriff auf Gott (und seine ,Verheißungen und Drohungen') auch principium executionis ist, wird allerdings nicht völlig deutlich. Den Begriff der .moralischen Gesinnung' benutzt Kant klar im sachlichen Sinne von Achtung. (Z 38-39) Freiheit und Moral in A803f./B831f. Auch im Kanon benutzt Kant einen ,praktisch hinreichenden' Freiheitsbegriff, der die theoretischen Schwierigkeiten des transzendentalen Freiheitsbegriffs vermeiden soll. Im Kanon übernimmt der naturalisierte Begriff praktischer Freiheit (NPF) die Funktion dieses praktisch hinreichenden' Freiheitsbegriffs. Im Unterschied zu APF ist NPF aber auch an sich (inhaltlich) von TPF unterschieden, und eben darin besteht das Kanonproblem. Nun wird in A803f./B831f. ,das Praktische' definiert als der Bereich, in dem es (,zunächst') nur ,um die Vorschrift des Verhaltens und das Tun und Lassen' geht. Um den problematischen Begriff von NPF zu entschärfen, drängt sich die Hypothese auf, daß dieser Begriff insofern praktisch hinreichend' ist (und TPF daher ,beiseite gesetzt' werden kann), als es allein um pflichtmäßige Handlungen gehe, deren zugrundeliegende Forschriften' von der Vernunft als principium diiudicationis vorgeschrieben werden. Solche pflichtmäßigen Handlungen würden dabei als Erscheinungen verstanden, die durch NPF als Erfahrungsbegriff erklärt werden können. Diese Hypothese erweist sich aber aus mehreren Gründen als unhaltbar. Klar ist auch, daß Kant in der Problempassage mit den ,Gesetzen' nicht nur hypothetische, sondern auch kategorische Imperative meint; wieder gilt, daß das Kanonproblem nicht durch Verweis auf die KU gelöst werden kann. (Z 40-42)
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Die Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem Kanon Wie gesagt, Kant betont unmittelbar vor der Problempassage (im Einklang mit seinen Ausführungen aus der Dialektik) die Wichtigkeit der transzendentalen Freiheit für ,das Moralische'. Dennoch wird gerade der entsprechende Kardinalsatz (,Der Wille ist transzendental frei') als ,für das Praktische ganz gleichgültig' aus dem Kanon ausgeschlossen. Und obwohl er alles ,Psychologisch-Empirische gänzlich beiseite setzen' will, bedient er sich des nichttranszendentalen, naturalisierten Freiheitsbegriffs (NPF). Der transzendentale Freiheitsbegriff wird aber nicht deswegen ,beiseite gesetzt', weil er ein ,Problem bleibt' oder weil er bereits ,erörtert' wurde. Denn mit dieser Begründung müßte man auch den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriff aus dem Kanon ausschließen. Und obwohl Kant ankündigt, sich im Kanon nur des praktischen Freiheitsbegriffs zu bedienen und den transzendentalen auszuschließen, ist es genau umgekehrt: Der praktische Freiheitsbegriff (NPF) spielt nach der Problempassage überhaupt keine Rolle mehr, der transzendentale (TPF) wird dagegen systematisch verwendet. (Z 43-45) Um das Kanonproblem angemessen behandeln zu können, ist es unvermeidlich, Kants Postulat- und Hypothesenbegriff zu betrachten. Allerdings ist dieser Begriff in Kants Philosophie insgesamt und allgemein eher unklar und mehrdeutig, wie auch insbesondere die Postulatenlehre in der KpV schwierig ist. Denn obwohl Freiheit - im Unterschied zu Gott und Unsterblichkeit - als Postulat in der KpV nicht eigens behandelt wird, wird sie doch mehrmals als ein solches bezeichnet. Zudem hat die Freiheit unter den Postulaten eine Sonderstellung: Ihre Realität als ratio essendi des moralischen Gesetzes wird durch die unbezweifelbare Geltung dieses Gesetzes direkt bewiesen; diese Realität wiederum verleiht den beiden anderen Postulaten Realität. Im Unterschied zur Freiheit sind Gott und Unsterblichkeit keine Bedingungen der Geltung des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des höchsten Guts. Wie gesagt: Kant schließt die transzendentale Freiheit explizit aus dem Kanon aus, bedient sich ihrer (und nicht des praktischen Freiheitsbegriffs) aber sehr wohl und vollzieht sogar den vorher in A633f./B661f. angekündigten ,Schluß' von dem Bedingten (dem moralischen Gesetz) auf die Bedingung (TPF), ganz im Sinne eines Postulates und sogar in einer exponierten Weise. Nun schließt Kant die Ethik aus der Transzendentalphilosophie mit der Begründung aus, daß einige der mit ihr verbundenen Begriffe ,empirischen Ursprungs' sind. Zu diesen Begriffen gehört (laut KrV A) auch der Begriff der Willkür. Daher könnte man argumentieren, daß TPF deswegen offiziell aus dem Kanon ausgeschlossen wird, weil der mit dem Freiheitsbegriff verbundene Willkürbegriff empirischen Ursprungs ist und
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solche Begriffe keinen Bestandteil der Transzendentalphilosophie ausmachen dürfen. Aber auch dieser Rettungsversuch scheitert aus mehreren Gründen. Der zweite Aspekt des Kanonproblems bleibt also ungeklärt. Es ist nicht einsichtig, wie und inwiefern der praktische, aus Erfahrung beweisbare Freiheitsbegriff des Kanons (NPF) für ,das Praktische' genügen könnte und warum umgekehrt der transzendental-praktische Freiheitsbegriff (TPF) für dieses .Praktische' keine Rolle spielen soll. Unklar bleibt daher auch, warum TPF offiziell aus dem Kanon ausgeschlossen wird (obwohl dieser starke Freiheitsbegriff tatsächlich dann im Kanon Verwendung findet). (Z 46-49) Was bleibt, sind vor allem drei wesentliche Einsichten: 1. Im Kanon besteht die praktische Freiheit, die ,als eine von den Naturursachen durch Erfahrung erkennbar' ist, darin, nicht unmittelbar durch sinnliche Anreize zu Handlungen genötigt zu sein. Diese Freiheit wird aus der Perspektive der Erscheinungswelt interpretiert und ist insofern ,eine von den Naturursachen'. 2. Selbst wenn dies als eine Lösung des ersten Aspekts des Kanonproblems akzeptabel ist, bleibt der zweite Aspekt des Kanonproblems unlösbar: Aus kritischer Perspektive kann die naturalisierte Freiheit ,als eine von den Naturursachen' schlechterdings keine Grundlage für moralische Gesetze sein. 3. Kant verwendet den Terminus praktische Freiheit' auf drei grundlegend verschiedene Weisen, die auseinander gehalten werden müssen: Er bezieht sich damit (i) auf die transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft, (i) auf die praktische Freiheit im Sinne einer Naturursache als Glied der Erscheinungswelt und (iii) auf die transzendental-praktische Freiheit, sofern sie im Praxiskontext praktisch' angenommen werden muß. Diese Verwendungsweisen klingen noch in der KrV nach und sorgen für Spannungen. In diesem Sinne darf eine gemäßigte patchwork-These für den Kanon der KrV als belegt gelten.
7. Literaturverzeichnis Kants Werke Anthro AM AMK BJ DO EF Feyerabend Fort
GMS GTP IGA JL KpV KrV KU MAM MAN MC MD MKi MK, ML, ML 2 MM M M II MS MSV PPP Prol R Rel RP
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RS
SF UDG VMK VT ZF
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*Die „Vorlesung zur Moralphilosophie" (Nachschrift Kaehler) wird nach der von Werner Stark besorgten Ausgabe zitiert (Walter de Gruyter Berlin - New York, 2004). Andere Vorlesungen Kants werden nach der Akademie-Ausgabe (AA) zitiert. Die Hauptschriften (KrV, GMS, KpV, KU, MS, Rel.) werden nach diversen Ausgaben des Felix Meiner Verlags zitiert; offenkundige Druckfehler dieser Ausgaben wurden stillschweigend korrigiert. Das Kürzel „u.H." steht für „unsere Hervorhebung", „D.S." für Dieter Schönecker. Die Passage des Kanons, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht („Und da ist denn zuerst anzumerken ... - ... hinreichende Erörterung zu finden ist", A801/B829-A804/B832) nennen wir Problempassage. Die häufig gebrauchten Abkürzungen TPF, NPF und APF werden zu Beginn des dritten Kapitels erläutert (S.19 f.).
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