Kaleidoskop meines Jahrhunderts: Deutsch-tschechische Lebenserinnerungen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Nadia Meissnitzer 9783412218775, 9783412225094


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German Pages [284] Year 2015

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Kaleidoskop meines Jahrhunderts: Deutsch-tschechische Lebenserinnerungen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Nadia Meissnitzer
 9783412218775, 9783412225094

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:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag/Berlin) und Václav Petrbok (Prag)

Band 8

Bedřich Utitz

­K ALEIDOSKOP­ MEINES­ JAHRHUNTERTS­ Deutsch-tschechische Lebenserinnerungen

Aus dem Tschechischen übersetzt von Nadia Meissnitzer

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

Die Autobiographie von Bedřich Utitz erschien 2013 im tschechischen Original in Prag im Verlag Academia unter dem Titel »Kaleidoskop mého století«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bedřich Utitz (Foto: Petra Flath).

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Charlotte Bensch, Weimar Druckvorlage: Stepan Boldt, Carsten Wernicke Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22509-4

Im Gedenken an Irča

Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort Zur Einleitung .......................................................................................... 11 Mein Jahrhundert beginnt ... ................................................................... 13 Utitz oder Uttitz – wie heiße ich denn? ................................................ 14

2. Geburt und Kinderjahre in Wien Und nun der Reihe nach ... ..................................................................... 19

3. Jugend in Prag bis zur deutschen Besetzung Umzug nach Prag ..................................................................................... 27 Vaters Tod ................................................................................................. 33

4. Die erste Emigration und mein Militärdienst in der Exilarmee Das erste Exil ............................................................................................ 37 Frossula und die dreimonatige Irrfahrt auf hoher See ......................... 41 Ein Zwischenspiel .................................................................................... 47 Hollywood in Jerusalem .......................................................................... 53 In die Armee ............................................................................................. 57 Zurück in den Krieg ................................................................................ 72 In deutscher Gefangenschaft und Zeuge einer Hinrichtung ............. 77 Der Krieg geht zu Ende .......................................................................... 82

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Inhaltsverzeichnis

5. Die erste Heimkehr und das Leben bis zum „Prager Frühling“ Zurück ins Zivilleben .............................................................................. 89 Die Familie wird gegründet .................................................................... 91 Die Kommunistische Partei und ich ..................................................... 93 Arbeitseintritt bei der Tschechoslowakischen Presseagentur ............ 99 Berlin 1948/1949 ................................................................................... 101 Wodka und Missionare .......................................................................... 108 Telepress .................................................................................................. 114 Gastauftritt im Gesundheitswesen ...................................................... 118 Wie kommt man zum Rundfunk ......................................................... 120 Wie kommt man nicht nach London .................................................. 124 Wie kommt man nach Kuba ................................................................ 131 In Kuba .................................................................................................... 135 Kuba 40 Jahre später ............................................................................. 147 Wieder beim Prager Rundfunk ................................................................ 149 Die zweite Okkupation ......................................................................... 151

6. Die zweite Emigration Zum zweiten Mal ins Exil ..................................................................... 161 Weihnachten in Adelebsen .................................................................... 167 Meine Hörfunksendungen .................................................................... 171 Der Reichstagsbrand ................................................................................... 172 Persönliche Korrespondenz Albert Einsteins ................................................ 174 Nationalitätenproblem in Westeuropa ......................................................... 175 Pfeifen und Tabak ...................................................................................... 177 Zeugen der Revolution ................................................................................. 179 Übersetzungen ........................................................................................ 186 Wieder in Bonn und Köln .................................................................... 190 Index .......................................................................................................... 196 Opus Bonum .............................................................................................. 211 Ignis ........................................................................................................... 212 Mein Freund Gerold Benz .................................................................... 214 Allgemeine Jüdische Wochenzeitung ............................................................. 222 Die Welt .................................................................................................... 228 Weltreisen ................................................................................................ 230

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7. Zurück in die Heimat Die zweite Heimkehr ............................................................................. 237 Reisen durch das Heimatland ............................................................... 241 Lidové noviny, Přítomnost, Hörfunk ........................................................... 243 Autorentätigkeit ...................................................................................... 247 Freunde .................................................................................................... 248 Pfeifen ...................................................................................................... 254 Zusammenarbeit mit Dissidenten ....................................................... 258 Wandeln durch den tschechisch-deutschen Raum ............................ 262 Meine Familie ist ein Patchwork .......................................................... 266 Freud und Leid heute ............................................................................ 274 Und zum Schluss ... ................................................................................ 274

Anhang AUTOFAHREN AUF KUBA ............................................................ 277

1. Vorwort

Zur Einleitung Meine Erinnerungen sind kunterbunt, für ein einziges Menschenleben habe ich eigentlich mehr als genug erlebt. Ich wundere mich selbst darüber, was da alles in mein Leben hineinpasste: beinahe ein ganzes Jahrhundert, den Ersten Weltkrieg ausgenommen. Dennoch lässt sich das Ganze in nur einigen Hauptkapiteln zusammenfassen, allerdings mit mehreren Unterkapiteln, mit Intermezzos und kleinen Geschichten. Die Hauptkapitel sind übersichtlich gegliedert und zeugen, wie ich meine, von einem fast abenteuerlichen Verlauf dieses Lebens: zweimal emigrieren und zweimal heimkehren. Die chronologische Aufzählung der Daten lässt zwar einen ungewöhnlichen Lebenslauf erahnen, aber erst durch all das, was sich zwischen diesen Meilensteinen abgespielt hat – also die eingangs erwähnten Unterkapitel und die einzelnen kleinen Geschichten –, wurde meine Lebensgeschichte zu einem bunten Kaleidoskop. Es gab jede Menge Interessantes und Erfreuliches, aber auch weniger Erfreuliches und ebenso vieles, was besser hätte nicht geschehen sollen. Doch alles in allem war es ein reiches Leben, ja, man kann sogar sagen, dass es – trotz Leid und Verlusten – vorwiegend ein glückliches Leben war. Mag sein, dass es etwas spät ist, wenn ich erst jetzt, in der neunten Dekade meines Lebens, damit beginne, so etwas wie Memoiren niederzuschreiben. Ich habe damit lange gezögert, doch meine Familie und auch viele Freunde haben mich dazu gedrängt, bis sie mich schließlich überreden konnten. Und heute bin ich ihnen dafür dankbar! Das ­Schreiben ging nur schleppend voran, nicht aus Mangel an Stoff oder Zeit, sondern durch meine eigene Zerstreutheit. Zudem wurde die Arbeit am Manuskript durch das fortschreitende Augenleiden immer mühsamer, bis schließlich mein Sehvermögen endgültig verloren ging. Seither bin ich auf die Hilfe anderer angewiesen. Da der Text zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig war, konnte ich den letzten Teil meines Buches nur noch diktieren. Dabei bekam ich

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Vorwort

unschätzbare Hilfe von Frau Jana Hradílková. Nicht nur, dass sie nach meinem Diktat den kompletten letzten Abschnitt meiner Erinnerungen niederschrieb, durch ihre Rückfragen und Anmerkungen trug sie auch maßgeblich zur Endfassung dieses Buches bei. Ihr gebührt mein spezieller Dank für die Mitwirkung, aber auch für ihre freundschaftliche Zuwendung. Und nicht zuletzt bin ich meinem Sohn Pavel dankbar, der während der Entstehung dieses Buchs wertvolle Ergänzungen und kritische Anmerkungen beisteuerte.

Vorwort

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Mein Jahrhundert beginnt ... Bei näherer Betrachtung der einzelnen Etappen meines Lebens kann es einem kritischen Leser nicht entgehen, wie absurd dieser Lebenslauf ist, wie absurd eigentlich das ganze Jahrhundert war: Kindheit in der Tschechoslowakei, Flucht vor der deutschen Besatzung, Kampf in der Exilarmee gegen das nazistische Deutschland bis zu seiner Niederlage, Heimkehr, Zivilberuf in der neuen Republik, aber auch Entlassung aufgrund meiner jüdischen Herkunft und des Militärdienstes in der westlichen Exilarmee, Widerstand gegen das kommunistische Regime bis zum „Prager Frühling“, Sowjetokkupation, neue Emigration, diesmal nach Deutschland, und erst 20 Jahre später – nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – zunächst zum Teil und nach weiteren 17 Jahren die nun endgültige Rückkehr in die Heimat. Wenn ich insbesondere darü­ber nachdenke, was ich in den Jahren meiner deutschen Emigration gemacht habe, dann muss ich mich eigentlich selbst wundern. Erst anhand unzähliger Ordner und einer ganzen Reihe übersetzter wie selbst verfasster Bücher wird mir so richtig bewusst, was alles ich da geschafft und geschaffen habe, abgesehen von der Gründung und zum Teil auch Leitung des Exilverlages Index. Und davon möchte ich auch berichten. Mit Ausnahme der Kriegsjahre habe ich so gut wie nie ein Tagebuch geführt, so kann ich beim Schreiben nur noch auf meine Erinnerungen­ zurückgreifen. Und da mein Gedächtnis nicht gerade das beste ist, fallen­ meine Erinnerungen eher spärlich aus, manchmal sind sie auch etwas ver­schwommen, doch ich gebe mir Mühe, etwaige Dichtung oder Verschönerung zu vermeiden. Andererseits kann es auch reine Absicht sein, wenn ich dies oder jenes auslasse – eben, um damit eventuellen Drit­ten nicht zu nahe zu treten. Meine Erzählung ist kein vollständiger, chronologisch abgeschlossener Lebenslauf, vielmehr setzt sie sich aus Geschich­ten, Erlebnissen und Anekdoten zusammen. Sie gleicht eher einem mit Kommentaren versehenen Fotoalbum als einem Dokumentarstreifen. Nicht einmal mein Kriegstagebuch schrieb ich aus einem inneren Be­dür­fnis heraus, sondern vielmehr deshalb, weil wir beim Militär jedes Jahr einen Taschenkalender bekamen und es mir irgendwie leidtat, die­sen brach liegen zu lassen. Leider gingen diese nach der zweiten Emigration im Jahr 1968 verloren. Nur ein einziger tauchte hinterher wieder auf.

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Vorwort

Utitz oder Uttitz – wie heiße ich denn? Bevor ich damit beginne, mir meine Vergangenheit systematisch ins Gedächtnis zu rufen, will ich etwas genauer auf ein kurioses Problem eingehen, das mich durch einen beträchtlichen Teil meines Lebens begleitet – das Problem mit meiner Identität, meiner Namensidentität. Ich selbst hatte darüber niemals Zweifel, doch meinen Mitmenschen musste ich es immer wieder aufs Neue erklären. Wann die Schwierigkeiten mit meinem Nachnamen – Utitz oder Uttitz – angefangen haben, das weiß ich selbst nicht so genau. Jedenfalls besitze ich gleich zwei Geburtsurkunden. Jeder tschechoslowakische Bürger, der im Ausland zur Welt kam, bekam vom Magistrat in Brünn nachträglich eine eigene tschechische Geburtsurkunde ausgestellt. Die habe ich natürlich, und sie ist auf den Namen Bedřich Utitz ausgestellt. Im Geburtsschein meines Vaters steht ebenfalls Utitz als Familienname. Als ich im Jahr 1968 nach Deutschland auswanderte, hatte ich zwar gleich zwei Reisepässe dabei – einen Touristen- und einen Dienstreisepass –, beide auf den Namen Bedřich Utitz, aber keine Geburtsurkunde. Diese war jedoch für das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft zwingend vorgeschrieben. Da ich in Wien geboren wurde, hatte ich nicht das leidige Problem vieler Exilsuchender, denen die damaligen tschechoslowakischen Behörden grundsätzlich die Ausstellung jeglicher Dokumente verwehrten. Ich musste lediglich an die Behörde in Wien schreiben und bekam postwendend eine Geburtsurkunde, auf der allerdings der Name Friedrich Uttitz stand. Und allein dieses Dokument war für die deutsche Bürokratie maßgeblich. Hätte ich meinen Familiennamen mit jeweils Einfach-„t“ behalten wollen, wäre hierfür eine Namensänderung zu beantragen gewesen, und im Endeffekt hätte mich das einfache „t“ 500 DM gekostet. Für unsere damaligen Verhältnisse ein viel zu hoher Betrag. Offiziell wurde ich somit zu Friedrich Uttitz, privat und als Autor blieb ich jedoch nach wie vor Bedřich Utitz. Das Rätsel des doppelten „t“ habe ich 90 Jahre und neun Tage nach meiner Geburt endlich lösen können: Bei Durchsicht meiner persönlichen Dokumente fand ich auch meinen ursprünglichen Wiener Geburtsschein. Erst da ist mir aufgefallen, dass die Geburt eines Kindes namens Uttitz eingetragen war, während gleich in der Zeile darunter als

Vorwort

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Name des Vaters Utitz stand. Hätte ich es früher bemerkt, wäre mir der ganze Wirbel um die zwei „t“ erspart geblieben. Die kommunistische Regierung erkannte mir die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ab, und so blieb von Amts wegen nur noch Friedrich Uttitz übrig. Trotzdem führte ich den Namen Bedřich Utitz nach wie vor weiter, aber jetzt nur noch als eine Art Pseudonym. Dann wurde ich Chefredakteur der Wochenzeitschrift Allgemeine Jüdische Wochenzeitung und war somit für das Blatt im Sinne des Pressegesetzes verantwortlich. Dementsprechend musste im Impressum der Zeitung mein „echter“ Name stehen, also Friedrich Uttitz, während ich meine Leitartikel auf der ersten Seite weiterhin unter dem „Pseudonym“ Bedřich Utitz schrieb. Die Herausgeber bestanden jedoch darauf, dass nur einer von „uns beiden“ in der Zeitung genannt werden darf, nämlich der „amtlich bestätigte“ Uttitz. Das Phänomen zweier „t“ ist in der Tat rätselhaft, weil auf unserer Heiratsurkunde, ausgestellt 1951 vom Altstädter Rathaus zu Prag, ebenfalls das unglückselige doppelte „t“ herumgeistert. Keine Ahnung, wie es diesmal hineingeraten war. Nach der „Samtenen Revolution“ suchte ich mit der Heiratsurkunde und dem Geburtsschein in der Hand den Prager Magistrat für den 1. Bezirk auf. Obwohl ich ahnungslos außerhalb der Öffnungszeiten kam, stellte man mir binnen weniger als zehn Minuten eine neue Heiratsurkunde aus. Diesmal mit einem „t“. Kaum hilfreich, aber umso interessanter war ein unerwarteter Beistand, der mir einige Jahre nach meiner Kollision mit dem deutschen Amtsschimmel zuteil wurde. Die in Jerusalem lebende Gerda Hoffer gab ebendort ein Buch in englischer Sprache heraus unter dem Titel The Utitz Legacy (Das Vermächtnis des Stammes Utitz). Selbst Abkömmling einer Stammbaumlinie, verfolgt die Autorin darin ihre Familiengeschichte zurück bis ins 17. Jahrhundert. Und schon damals schrieb sich der Ur-Ur-Ur- ... -großvater Simon Utitz aus Votice (Wotitz – davon wurde vermutlich auch der Familienname abgeleitet) mit je einem „t“. Doch selbst dieser Hinweis bzw. dieses Argument hätte die Bürokratie in Bonn kaum überzeugen können, obgleich dieses Buch kurze Zeit später in deutscher Übersetzung auch in Deutschland erschienen ist. Gerda Hoffers Werk befasst sich bei Weitem nicht nur mit der Familiengeschichte der Utitz, es ist vielmehr eine interessante Studie über

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das Leben der Juden in den böhmischen Ländern, insbesondere später in Prag, im Laufe der vergangenen Jahrhunderte. In Tschechien wurde das Buch nie verlegt, obwohl der Verlag der jüdischen Gemeinde sein Interesse bekundete und das Buch sogar vorab rezensierte. Nachdem das kommunistische Regime zusammengebrochen war, teilte man mir mit, dass ich – rechtlich gesehen – meine Staatsbürgerschaft niemals verloren habe, und stellte mir einen neuen tschechoslowakischen (später dann einen tschechischen) Reisepass aus: auf den Namen Bedřich Utitz. Und so heiße ich tatsächlich. Nach der deutschen Rechtsprechung darf kein deutscher Bürger ausgebürgert werden, und so kommt es, dass ich jetzt neben dem tschechischen auch einen deutschen Reisepass besitze. In meinem deutschen Pass bin ich natürlich weiterhin Friedrich Uttitz, in dem tschechischen wiederum Bedřich Utitz und lebe daher weiter mit meinen zwei Identitäten. Mit dem gleichen Problem schlägt sich übrigens auch mein Sohn Pavel herum, der sich ebenso einmal mit „t“ und dann wieder mit „tt“ schreiben muss. Bei ihm waren aber die deutschen Behörden besonders „kreativ“. In Deutschland eingebürgert wurden wir als Familie. Pavel musste sich also auch mit „tt“ schreiben. Und das gut 20 Jahre lang, bis er beschloss zu heiraten. Der Standesbeamte verlangte kurz vor der Trauung Pavels Geburtsurkunde. Diese wurde im Jahr 1953 in Prag ausgestellt. Darauf stand „Utitz“. Für den Beamten eine klare Angelegenheit. Für ihn war die Geburtsurkunde entscheidend, nichts anderes. Pavel wurde wütend, weil er inzwischen mit dem Doppel-„t“ Frieden geschlossen hatte. Er argumentierte damit, dass vor 20 Jahren diese Geburtsurkunde die Behörden nicht interessiert habe und er deshalb weiterhin darauf bestehe, „Uttitz“ zu heißen. Der Standesbeamte ließ sich aber nicht erweichen. Der Streit eskalierte, und erst, als die Trauung zu scheitern drohte, gab Pavel nach. Seitdem führt auch Pavel ein „Namens-Doppelleben“. Auf seinem Diplom, seiner Promotionsurkunde und seinen Visitenkarten beim derzeitigen Arbeitgeber stehen weiterhin zwei „t“, in seinen Ausweisen, sowohl den deutschen als auch den tschechischen, steht jeweils „Utitz“. Und jetzt versuchen Sie mal, das Ganze jemandem, der wissen will, weshalb Ihr Name mal mit „t“ und ein anderes Mal mit „tt“ geschrie-

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ben wird, verständlich zu machen. Immerhin: Meine Enkeltochter heißt Kira Lea Utitz, und das sowohl in Deutschland als auch in Tschechien, denn auch sie besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft. In den letzten Jahren meldeten sich bei mir eine ganze Reihe Namensvetter, alle samt und sonders mit Einfach-„t“ – aus Südfrankreich, Lateinamerika, Tschechien, USA und auch aus anderen Ländern –, sie alle wollten wissen, ob wir nicht zufällig verwandt seien. Anhand des Buches von Gerda Hoffer und des von ihr erstellten Stammbaumes musste ich es in allen Fällen verneinen. Eine weitere Verwicklung, wenn auch eine unerhebliche, geht auf den Professor Emil Utitz zurück. Dieser weltweit anerkannte Philosoph, altersmäßig näher der Generation meines Vaters, lebte in Prag. Persönlich bin ich ihm nur ein einziges Mal begegnet und dies rein zufällig bei einer größeren Gesellschaft. Wir wurden einander vorgestellt, allein um festzustellen, dass wir keine Blutsverwandten sind. Trotzdem bringen mir Menschen Hochachtung entgegen – in Tschechien, aber auch in Deutschland, wo Emil Utitz ebenfalls bekannt ist –, in der Annahme, dass entweder ich selbst jener Professor oder aber zumindest sein Nachkomme sein müsse. Vermutungen dieser Art weise ich stets gewissenhaft zurück, nur der Mechanikermeister in meiner Autowerkstatt ließ sich den Professorentitel partout nicht ausreden. Ich erzähle dies nicht, um damit Eindruck zu schinden, diese Geschichte stimmt tatsächlich. Übrigens war es auch nicht nur das eine Mal, dass mir ein Akademikertitel „angehängt“ wurde, doch davon später mehr. Ein „verwandtschaftliches Problem“ anderer Art bescherte mir der als „rasender Reporter“ bekannte Prager Schriftsteller und Journalist Egon Erwin Kisch, wobei diesmal nicht der Familienname im Spiel war, sondern die indirekten Familienbande. Die Schwester meiner Mutter, meine geliebte Tante Julie, hat den Arzt Dr. Friedrich Kisch geheiratet, den Bruder des berühmten Reporters. Von einer Blutsverwandtschaft mit E. E. Kisch konnte da also keine Rede sein. Trotzdem höre ich hin und wieder die Leute sagen: „Na klar doch, dass er ein guter Journalist sein muss, bei dieser Familie liegt es doch im Blut!“ Nichts gegen E. E. Kisch, ich schätze ihn sogar sehr und habe auch nichts einzuwenden gegen die Behauptung, ich sei ein guter Journalist. Doch wenn dem

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tatsächlich so ist, so ist es allein mein Verdienst und mit Sicherheit keine vererbten Gene von Kisch. Natürlich lernte ich im Kreis der Familie auch E. E. Kisch gut kennen. Damals war er schon ziemlich krank, und so hatten ihm seine Ärzte jeglichen Kaffee- und Alkoholgenuss und ebenso das Rauchen strikt untersagt. Darauf reagierte er mit der Bemerkung: „Und weshalb sollte ich denn weiterleben, wenn ich weder trinken noch rauchen darf ?“ Er trank und rauchte weiter. Relativ bald darauf starb er, im März 1948, nur wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die Kommunisten. Ich denke, dass ich ruhig sagen kann, dass er gerade zur rechten Zeit gestorben ist. Von der Gesinnung her war Kisch zwar ein Kommunist, er bildete sich aber stets seine eigene Meinung und blieb dabei. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als ihn nach seiner Rückkehr aus dem Exil die Kommunistische Partei bedrängte, ein Jubelbuch über die Sowjets zu schreiben, lieferte er als Alibi ein Büchlein Karl Marx in Karlsbad ab. Die Ära der Politprozesse und Justizmorde der fünfziger Jahre hätte er als kritischer Geist nicht unbehelligt überstehen können. Falls überhaupt ...

2. Geburt und Kinderjahre in Wien

Und nun der Reihe nach ... Ich kam zur Welt am 20. November 1920, ziemlich genau zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und nur wenige Wochen nach Gründung der eigenständigen Tschechoslowakischen Republik. Mein Vater hat im Krieg gekämpft, wurde zweimal verwundet, eine Kugel traf ihn am Hals und die zweite seinen Bauch, wie ich später erfahren habe. Trotzdem war der Erste Weltkrieg für mich ebenso fern wie etwa die Napoleonischen Kriege, in mein Unterbewusstsein trat er erst viel später dank des Buchs Der Brave Soldat Svejk und Remarques Roman Im Westen nichts Neues. Mein Vater sprach über den Krieg nie, wir Kinder fragten auch nicht nach. Die nachfolgende Generation hatte bereits einen gänzlich anderen Bezug zu der Vergangenheit. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal am Mácha See (vormals Hirschberger Großteich) mit vier Kindern, den drei eigenen und meinem jungen Stiefschwager, Campingurlaub machte und den Kindern an jedem Abend von meinen Kriegserlebnissen erzählen musste. Damals waren sie zwischen sieben und 13 Jahren alt. Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind nur spärlich. Ich weiß noch, dass wir Kinder, mein Bruder und ich, sonntags zu den Eltern ins Bett schlüpfen durften. Und ich kann mich auch erinnern, dass mir mein Vater dabei das erste tschechische Lied beigebracht hat. Natürlich verstand ich damals kein einziges Wort. Meine Mutter hat mir allerdings verboten, dieses Lied vor anderen Leuten zu singen. Erst viel später, als ich schon die tschechische Sprache verstand, wusste ich auch, weshalb. Den nicht gerade stubenreinen Text des Liedes: „Dou voni vole, dou voni do prdele, dou voni vole, dou. Já sem tam byl loni, letos, dou tam voni, dou vole voni, dou“ könnte man in etwa übersetzen mit: „Geh Er, Ochse, geh Er zum Teufel, geh Er, Ochse, geh hin. Ich war dort im Vorjahr, geh Er heuer hin, geh Er in den Arsch, geh hin.“ Ich erinnere mich auch noch daran, dass uns die Eltern in die Sommerfrische auf einen Bauernhof zu schicken pflegten (unweit von

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Wien, um uns an den Sonntagen besuchen zu können), und wie wir dort barfuß herumlaufen mussten. Der ganze Hof war von Hühnerdreck übersät, und während mein Bruder unbekümmert herumtollte, stakste ich vorsichtig nur auf den Zehenspitzen umher, damit ich mir die Füße nicht dreckig mache.

Abb. 1: Vor dem Geburtshaus in Wien – 65 Jahre später.

Nach unserem Umzug nach Prag verbrachten wir dann unsere Ferien fast immer bei der Oma in Teplitz (Teplice), und wenn ich mich recht erinnere, waren wir nur ein einziges Mal mit den Eltern zusammen im Urlaub, und zwar in Klanowitz bei Prag (Klánovice u Prahy).

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Nach Vaters Tod spendierte Onkel Oskar Stern uns Kindern einen Aufenthalt im Ferienlager, das alljährlich vom österreichischen Ehepaar Onkel Otto und Tante Blanka geleitet wurde. Dort sollte der eine Teil der Kinder Tschechisch, der andere Deutsch lernen. Auch Onkels Sohn Hans war dabei. Das wunderschöne Ferienlager lag am Fuße der Prachauer Felsen (Prachovské skály) im Böhmischen Paradies (Český ráj). Das Jahr danach fuhr ich alleine hin, diesmal nicht mehr als zahlender Teilnehmer, sondern als Hilfsaufsicht, also gratis. Bei diesem Ferienjob blieb ich auch in den darauffolgenden Jahren. Unsere Mutter arbeitete in der Krankenkasse des Maschinenbauverbandes. Die Krankenkasse betrieb am Ufer des malerischen Großteichs in Zinkov bei Nepomuk jedes Jahr in den Sommermonaten ein hauseigenes Ferienlager für die Kinder ihrer Angestellten. Dort leitete ich bereits mit meinen knapp 16 Jahren eine der Kindergruppen. Für mein Alter sah ich damals wesentlich älter aus und wurde von den anderen Gruppenleitern gut aufgenommen. Tagsüber gab es sportliche Aktivitäten, Waldwanderungen oder Baden im Teich. An den Abenden übernahmen jeweils ein Mann und eine Frau die Kinderaufsicht, die anderen hatten frei und klapperten die Gasthäuser in der Gegend ab. Dabei entdeckte ich meine Vorliebe für Bier. Ich wurde Biertrinker, nicht Alkoholiker, sondern ein echter Bierliebhaber. Allerdings konnte ich schon damals ebenso viel Bier trinken wie ein Erwachsener. Dabei blieb es auch. Viele Jahre später besuchte ich mit meiner Mutter eine Feier in einem Gasthaus; als wir heimgehen wollten und ich sieben Bier zu zahlen hatte, wollte sie es kaum glauben. Mein Aufenthalt in Zinkov wurde jedoch im ersten Jahr von einem tragischen Ereignis überschattet. Eines Abends, die Kinder saßen gerade beim Abendessen, ging die Lagerärztin schwimmen. Als sie nach längerer Zeit immer noch nicht zurück war, machten wir uns auf die Suche. Wir riefen sie, tauchten nach ihr – bis wir schließlich im Schlamm ihre Leiche fanden. Es stellte sich heraus, dass sie nicht ertrunken, sondern am plötzlichen Herzstillstand verstorben war. Noch tragischer war der Vorfall im Jahr darauf. Ich beaufsichtigte die Jüngsten, eine Kindergruppe ab dem sechsten Lebensjahr. Die einzige Ausnahme war ein fünfjähriger Junge, der Liebling des ganzen Lagers. Eines Abends riefen mich die Kinder, weil der Junge eine

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25-Heller-Münze verschluckt hatte, ein recht großes Stück aus Aluminium. Wir brachten das Kind sofort ins Krankenhaus, doch der Junge war trotz aller Maßnahmen nicht mehr zu retten. Am Ende des Monats kehrte ich mit der Kinderschar nach Prag zurück, den zweiten Monat in Zinkov wollte ich nicht mehr mitmachen. Das Unglück wurde als Unfall klassifiziert und es folgte keine gerichtliche Untersuchung. Meine nächsten Ferien verbrachte ich mit einem Freund beim Zelten. Es waren nicht nur meine letzten Schulferien, für mich waren es die letzten Ferien überhaupt. Aus meinen Kinderjahren sind mir noch einige Gepflogenheiten von damals in Erinnerung. So zum Beispiel der Brauch, sonntagnachmittags unangemeldet gute Freunde zu besuchen. Dies war ohne Weiteres möglich, da sich die Familien stets eigene Köchinnen hielten, sodass sich die Dame des Hauses mit der Zubereitung des Essens nicht selbst beschäftigen musste. Selbstverständlich empfahl sich der Besucher wieder beizeiten. Für uns Kinder spielte sich immer das gleiche Ritual ab: Die Dame des Hauses war wie üblich mit „Rukulíbám“ (Küss die Hand) zu begrüßen. Noch bevor die Eltern die Glocke läuteten, wurden wir gefragt: „Und was sagt man?“, worauf wir beide „Küss die Hand“ flöteten. Sobald aber die Frau an der Tür erschien, platzten wir heraus: „Pozdrav Pán bůh“ (Grüß Gott). „Küss die Hand“ wollte uns einfach nicht über die Lippen kommen. Schließlich haben die Eltern resigniert. Und es war mit Sicherheit kein Vorzeichen für meinen späteren Eintritt in die Kommunistische Partei ... Ich erinnere mich außerdem, dass die Gäste nach einem festlichen Abendmahl für die Köchin auf dem Vorzimmertisch immer ein Trinkgeld hinterließen. Doch zurück zum Ersten Weltkrieg. Mein Vater kämpfte „für Kaiser und Vaterland“, vermutlich pflichtbewusst. Darüber wurde bei uns nie geredet, ich gehe jedoch davon aus – angesichts der Tatsache, dass sich mein Vater nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, als die Bürger die Möglichkeit hatten, ihre Staatsbürgerschaft frei zu wählen, für Österreich entschied und nach Wien zog. Seine proösterreichische Gesinnung manifestierte sich unter anderem auch darin, dass er seinem jüngeren Sohn den Namen Gerhard (Gerti) gab. Nach Prag, in seine Geburtsstadt, kehrte er erst 13 Jahre später zurück. Erst nach seinem Tod wurde ich tschechoslowakischer Staatsbürger.

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Vaters pro-österreichische Gesinnung war allerdings in keiner Weise antitschechisch. Als wir uns später, in den dreißiger Jahren, in Prag niederließen, achtete er vom ersten Augenblick an darauf, dass wir Kinder so schnell wie möglich Tschechisch lernten. Die Familienmitglieder meines Vaters mütterlicherseits waren „böhmische Juden“: Sie sprachen tschechisch, und ebenso tschechisch war auch ihr Umfeld. Unsere Beziehungen zu diesem Teil der Familie waren zwar nicht sonderlich gut, dies hatte aber mit dem „Tschechischen“ gar nichts zu tun. Dafür gab es ganz andere Gründe, die ich allerdings erst nach Vaters Tod begriffen habe. Meine erste Erinnerung an ein dramatisches, man könnte sogar sagen historisches Ereignis, das ich bewusst wahrgenommen habe, hängt mit dem Brand des Wiener Justizpalastes im Jahr 1927 zusammen. Ich war mit unseren Eltern in der Stadt und kann mich heute noch erinnern, wie meine Eltern plötzlich nervös wurden, sie zogen ihre Ringe von den Fingern, verstauten sie in der Manteltasche und eilten heim. Nur mehr vage erinnere ich mich daran (oder nehme ich es bloß an?), dass wir dann zu Hause ferne Schüsse gehört haben. Aus jener Zeit ist in meinem Gedächtnis noch eine weitere Erinnerung hängen geblieben, wenn auch nicht so dramatisch: ein starkes Erdbeben. Wir wohnten im vierten Stock eines Mietshauses, und dort war das Beben ziemlich stark zu spüren: Das Glas klirrte, die Gegenstände schwankten, die Möbelstücke erzitterten. In unserer Wohnung hielt sich gerade auch „Herr Max“ auf, der Freier unserer Köchin, der sie oft besuchte. Ich kann mich noch erinnern, wie er mit seinen langen Beinen einen großen Satz machte, er flog geradezu über das ganze Zimmer, um uns Kinder von den Fenstern weg und in Sicherheit zu bringen – für den Fall, dass die Scheiben bersten würden. Aber es passierte nichts. Noch weniger dramatisch sind meine nächsten Erinnerungen, zumindest nicht von weitreichender Bedeutung. Wenn unsere Mutter zu Hause war, hatte sie allem Anschein nach immer mit Teig zu tun – ich nehme es deshalb an, weil damit gleich zwei meiner spärlichen Erinnerungen zusammenhängen. Eines Tages fiel ich so unglücklich auf den Hintern oder auf den Rücken, dass mir die Luft wegblieb. Meine Mutter packte mich und rannte mit mir zum Doktor Konvalinka, der zwei Stockwerke unter uns wohnte. Der Arzt gab mir einen kräftigen Schlag

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auf den Buckel, ich konnte wieder atmen, und meine Mutter musste hinterher die ganzen eingetrockneten Teigklumpen von der Treppe kehren, die ihr von den Händen abgebröckelt waren, als sie Hals über Kopf mit mir hinunterlief. Sie war vermutlich dabei gewesen, den Teig für Knödel oder etwas in der Art zu kneten. Die nächste Geschichte ist noch eine Spur älter, damals war ich noch sehr klein, und so weiß ich es vor allem aus Erzählungen. An einige kleine Details kann ich mich immerhin noch erinnern, und jene Zimmerecke, in der es sich abgespielt hat, sehe ich geradezu plastisch vor mir. Ich saß im Wohnzimmer am Boden vor dem amerikanischen Dauerbrandofen und spielte. Gleich neben dem Ofen legte meine Mutter ein großes Brett mit Krapfen, damit der Hefeteig in der Wärme gut aufgehen kann. Vermutlich hatte ich nichts Interessanteres zu tun, und so fing ich an, die rohen, mit Marmelade gefüllten Teigkugeln fein säuberlich aufeinander zu stapeln – und als ich der Meinung war, dass der Turm hoch genug sei, drückte ich von oben alles schön fest zusammen. Was dann folgte, weiß ich nicht mehr, aber ich kann es mir denken ... Auch eine andere Geschichte sollte nicht unerwähnt bleiben – vor allem deshalb, weil sie mir für mein späteres Leben eine Lehre war. Mein innigster Wunsch war ein Tretroller. Die meisten Kinder hatten schon einen, bloß ich nicht. Ich hoffte so sehr, dass ich den Tretroller im November zu meinem Geburtstag bekommen würde. Dann musste ich allerdings eine schicksalhafte Entscheidung treffen. Zu jener Zeit hatten die Tretroller eisenbereifte Holzräder, die holperten und dabei einen Riesenlärm machten. Ein neues Modell mit Gummireifen kam gerade auf den Markt, welches natürlich um einiges teurer war. Wir waren keineswegs arm, aber offensichtlich auch nicht so richtig reich. Man stellte mich also vor die Wahl: Entweder bekomme ich den Tretroller bereits im November, dann aber den mit Eisenreifen, oder aber ich gedulde mich bis Weihnachten – und kriege einen Tretroller mit Gummireifen. Ich konnte es nicht erwarten und entschied mich für das alte Modell, Hauptsache: sofort! Damit habe ich zwar einen Monat gewonnen, dafür aber meine Ungeduld einige Jahre lang bereut. Wie alt ich wirklich war, als ich an akuter Blinddarmentzündung erkrankte, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls dürfte ich damals noch ziemlich klein gewesen sein. Meine Eltern saßen im Wartezimmer des

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Krankenhauses, hielten mich in den Armen, und eine Frau sah mich an und sagte: „Das ist aber ein hübsches Mädchen!“ Daran kann ich mich sehr wohl erinnern – es hat mich fürchterlich gekränkt. Ein Mädchen! Etwas später, als ich nur eine Spur größer geworden war, hätte es wahrscheinlich keiner mehr zu mir gesagt. Ich wurde operiert, und es stellte sich heraus, dass es höchste Zeit gewesen war: Der Blinddarm war bereits geplatzt und das Bauchfell entzündet. Mein Zustand muss überaus kritisch gewesen sein, das wurde mir aber natürlich erst viel später bewusst. Der Krankenhausdirektor war ein Studienfreund meines Vaters, ich bekam daher mein eigenes Zimmer und mit Sicherheit auch die bestmögliche Behandlung. Ich erinnere mich daran – und ich sehe es noch lebhaft vor mir – wie sich mein Vater und der Arzt im Türrahmen gegenüber standen und Doktor Glaser zu meinem Vater etwas sagte wie: „Wenn er bis morgen überlebt, dann wird alles gut.“ Ein dermaßen einschneidendes Erlebnis, das sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat, obwohl ich mich sonst kaum noch an etwas aus jenen Zeiten erinnern kann, zumindest nicht deutlich genug. Penizillin gab es damals noch nicht, und die Behandlung dürfte aus heutiger Sicht mehr als problematisch gewesen sein. Aber wie man sieht: Ich habe überlebt. Für den Ernst der Lage sprach außerdem die Tatsache, dass meine Tante Julie, die Schwester meiner Mutter und bis zu ihrem Tod meine herzallerliebste Verwandte, aus Prag nach Wien herbeigeeilt war. Während meiner Rekonvaleszenz bekam ich mehr Spielsachen geschenkt als je zuvor, bis heute denke ich gerne an den Zauberkasten „Der kleine Zauberer“. Zur Stärkung gab man mir Eisenwein zu trinken, ein alkoholfreies eisenhaltiges Tonikum – es schmeckte gut und wahrscheinlich wirkte es auch, ich jedenfalls war ungemein stolz darauf, dass ich „wie ein Großer“ Wein trinken durfte. Dann begann die Schulzeit. Ich wurde am 20. November geboren, also knapp ein Vierteljahr später, als es das österreichische Gesetz für das Schuleintrittsalter festlegt. Für meine Enkeltochter Kira, die am 13. November 1995 zur Welt kam, also 75 Jahre nach mir und nur eine Woche vor meinem Geburtstag, war es kein Problem mehr. Ihre Eltern meldeten sie ganz einfach in der Schule an. Für meine vorzeitige

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Einschulung mussten meine Eltern im Wien der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen Dispens (eine Sondererlaubnis) beantragen. Die Schule war in der Innenstadt, in der Johannesgasse, recht weit weg von unserer Wohnung. Heute noch denke ich in Liebe an Herrn Lehrer Hohlberger, meinen Klassenlehrer, zurück. Einmal war ich mit meinem Vater bei ihm zu Hause, irgendwo in der Wiener Vorstadt. Den Grund unseres Besuches kannte ich nicht, weiß aber noch, dass ich ins Nebenzimmer geschickt wurde, weil der Herr Lehrer mit meinem Vater Vertrauliches zu besprechen hatte. Dort konnte ich hören, wie mein Lehrer und mein Vater miteinander heftig stritten. Entgegen der Ansicht des Lehrers behauptete mein Vater, ich hätte nicht genug Ehrgeiz, um nach der vierten Klasse direkt das Gymnasium zu besuchen. Üblich war es damals, von der ersten bis zur fünften Klasse die Grundschule zu besuchen. Für einen Wechsel in die Mittelschule bereits nach der vierten Klasse war ebenfalls ein Dispens erforderlich. Mein Lehrer Herr Hohlberger hat sich damals durchgesetzt, und ich habe durch den vorzeitigen Schulwechsel ein weiteres Jahr gewonnen. Dies hatte zweierlei zur Folge: Erstens gehörte ich während beinahe meiner ganzen Gymnasialzeit zu den kleinsten Schülern in meiner Klasse, und zweitens konnte ich meine Reifeprüfung früher ablegen, und zwar im Jahr 1938, nur wenige Monate vor dem Einmarsch der Wehrmachtstruppen in die Tschechoslowakei. Bald darauf wurden alle jüdischen Kinder der Schule verwiesen. Ich habe es gerade noch geschafft, mich an der Tschechischen Technischen Universität einzuschreiben. Ich wollte Chemie studieren, dazu kam es aber nicht mehr. Ich kann mich kaum noch an etwas aus meiner Grundschulzeit erinnern, außer an meine derart miserable Handschrift, dass mir dafür eine Nachhilfe aufgebrummt wurde. Und an meine erste Liebe – genau genommen nicht an das Mädchen selbst, vielmehr an meine Phantasievorstellung, in der wir, wie damals durchaus üblich, in Zweierreihen die Treppe hinuntergehen, sie stolpert plötzlich, ich fange sie auf und rette sie vor dem Sturz. Doch sie stolperte niemals. Auf Hohlbergers Anraten kam ich nach der Grundschule an das prestigeträchtige Gymnasium Stubenbastei, und dort blieb ich bis zu unserer Übersiedlung nach Prag. An diese Zeit fehlt mir allerdings jegliche Erinnerung.

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Umzug nach Prag Kurz nach meinem elften Geburtstag ging die Wiener Firma Iklé & Reichenbach (mit Büro in der Herrengasse) pleite. Mein Vater war damals Prokurist dieser Firma. Er verlor seine Arbeit, und wir zogen nach Prag. Dort borgte er sich bei einem Verwandten Geld, um sich in die kleine Handschuhmanufaktur Hynek Mahlers, seines Onkels mütterlicherseits, als Gesellschafter einzukaufen. Hätte die ganze Sache nicht so ein tragisches Ende genommen, so hätte sie sogar einen heiteren Anflug. Zu jener Zeit existierte nämlich in Prag eine große angesehene Handschuhfirma „Die Gebrüder Utitz“. Verwandt waren wir nicht, wir kannten einander nicht einmal. Das Absurde war, dass sich mein Bruder ausgerechnet bei dieser Firma als Lehrling bewarb, als er nach dem deutschen Einmarsch im März 1939 aufgrund seiner jüdischen Abstammung keine Schule mehr besuchen durfte. Ich habe keine Ahnung, weshalb er sich gerade bei „Gebrüder Utitz“ vorstellte, noch weiß ich, ob er die Stelle tatsächlich bekommen hat. Zum Glück tauchte in Onkels kleiner Firma der Name Utitz nicht auf, sie lief unter Hynek Mahlers Namen. So wie ich es damals verstand, war mein Vater für die kaufmännische Leitung zuständig, während sich Onkel Hynek um die Produktion kümmerte. Nur knapp ein oder anderthalb Jahre nach Vaters Einstieg in Onkels Firma und Einbringung des geliehenen Kapitals wurde die Firma insolvent und musste Konkurs anmelden. Erst jetzt wurde offensichtlich, dass die finanzielle Lage der Firma bereits vor Vaters Eintritt äußerst kritisch gewesen sein muss, und es war vermutlich sein großer Fehler, dass er die Firmensituation nicht vorher eingehend überprüft hatte. Das war auch der Grund, weshalb er innerhalb so kurzer Zeit sein ganzes Geld verlor. Ich weiß nicht, was mein Vater unmittelbar nach dieser Pleite tat, was für Absichten oder Pläne er hatte, Mahlers Konkurs überlebte er jedenfalls nicht lange. Wir Kinder sprachen natürlich kein Tschechisch, als wir nach Prag umzogen. Darum besuchte ich das deutsche Realgymnasium in der

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Stephans-Straße (Štěpánská) im Herzen Prags. Wir wohnten praktisch um die Ecke in der Gerstengasse (Ječná), nur wenige Gehminuten von der Schule entfernt. Wie ich schon erwähnte, achteten unsere Eltern von Anfang an darauf, dass mein Bruder und ich Tschechisch lernen. Zu diesem Zweck wurde „das Fräulein“ engagiert – es ist mir bis heute schleierhaft, weshalb man sie „Fräulein“ nannte, denn sie war eine ältliche, dürre Frau, verheiratet war sie übrigens auch. Sie kam zu uns ins Haus und ging mit uns Kindern des Öfteren spazieren. Nach dem Ergebnis zu urteilen, trug sie offenbar wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) dazu bei, dass wir die tschechische Sprache bald und auch gut beherrschten. Ihr Mann war ebenso klein und dünn wie das tapfere Schneiderlein in Grimms Märchen und noch dazu wohnten die beiden in einem kleinen „Knusperhäuschen“ hinter dem Altstädter Ring (Staroměstské Náměsti). Dieser malerische Winkel und auch das Haus „Beim Rathaus“ Nr. 10D existiert heute noch. Das Häuschen sieht genauso aus, wie ich es schon aus meiner Kindheit kannte und wie es vermutlich auch schon zu Zeiten des berühmten Kaisers Karl IV. ausgesehen hat. Nur die Fassade wurde neu gestrichen. Der Platz davor trägt heute Franz Kafkas Namen, und in dem Haus ist jetzt ein kleines Hotel untergebracht. Für mich und meinen Bruder war es stets ein Erlebnis, wenn das „Fräulein“ etwas zu Hause zu tun oder abzuholen hatte und wir die Wendeltreppe hinaufklettern und uns ihre kleine Wohnung anschauen durften, die zugleich eine Schusterwerkstatt war. Ganz wie im Film oder wie im Märchen hockte der Schuster auf einem Hocker, zwischen den Zähnen hielt er feine Holzstifte, die er nach und nach in die Schuhsohlen einschlug. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, wie ich mein Tschechisch weiter perfektionieren konnte. In der Schule hatten wir einen hervorragenden Tschechisch-Lehrer, ich nehme an, dass ich vor allem ihm meine recht anständigen Kenntnisse in tschechischer Grammatik, Rechtschreibung, tschechischer Literatur und Kultur verdanke. Soweit ich mich erinnere, habe ich in der Schule kaum oder nur zum Teil das gesprochene Tschechisch lernen können.

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Abb. 2: Im Deutschen Gymnasium in der Štěpánská ulice (in der dritten Reihe, zweiter von rechts).

In Prag verkehrten wir in beiden Kulturkreisen. Ich besuchte gleichermaßen das deutsche wie das tschechische Theater. Selbstverständlich versäumte ich auch kein einziges Programm des legendären tschechischen Theaters Osvobozené Divadlo (Das befreite Theater), in dem die Ausnahmekomiker Voskovec und Werich wirkten. Ich ging ebenso gerne in die Nationaloper wie in das Deutsche Theater (heute die Staatsoper) und ebenso in Tyl’s Theater. Nach Vaters Tod hätte ich mir die unzähligen Theater- und Opernbesuche kaum leisten können, wäre da nicht ein guter Freund meines Vaters gewesen, der mir dieses Vergnügen ermöglichte. Als hoher Offizier bei der Prager Polizei sorgte er dafür, dass ich mir jederzeit einen Polizeiausweis abholen konnte, mit dem ich in allen Theatern Freikarten für einen Stehplatz bekam. Den Platzanweisern in den Theatern kam es manchmal spanisch vor – für einen Polizisten schien ich denen doch noch zu jung zu sein –, trotzdem machten sie mir keine Schwierigkeiten. Wollte ich eine besonders begehrte Vorstellung sehen, insbesondere in der Oper, so musste ich mich oft mehrere Stunden lang vor dem Theater anstellen, um nach dem Einlass einen guten Stehplatz

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direkt an der Brüstung zu ergattern. Dort gab es den besten Ausblick auf die Bühne und man konnte sich außerdem anlehnen, was das lange Stehen erträglicher machte. Mein Bruder und ich gingen nicht nur ins Theater, wir traten sogar selbst auf: bei Hannes Burger in der deutschen Aufführung von Erich Kästners Emil und die Detektive auf der Bühne des Befreiten Theaters und dann zur Abwechslung in Tom Sawyer und Huckleberry Finn in tschechischer Sprache. Später spielte nur noch mein Bruder Theater, er hatte von uns beiden das größere schauspielerische wie auch komödiantische Talent. Den Höhepunkt meiner eigenen öffentlichen Auftritte bescherte mir die Mitgliedschaft in einem Kindergesangsverein – in dem „Engelschor“ – und zwar in Gustav Mahlers Achter Symphonie. Heute noch könnte ich einwandfrei „Accende, accende lumen sensibus ...“ und andere Lieder singen. Als mein Mitschüler, zugleich mein bester Freund, und ich etwas „reifer“ wurden, gingen wir mit tschechischen Mädchen aus. Die beiden lernte ich während meiner kurzen Mitgliedschaft im Tschechischen Arbeiterturnverein kennen. Diesem Verein trat ich keineswegs des Turnens wegen bei, sondern allein, um einer jungen Krankenschwester näher zu kommen, die mir ausgesprochen gut gefiel. Sie war eine Arbeitskollegin meiner Mutter, und in ihrer Freizeit war sie im besagten Turnverein als Turnlehrerin tätig. Bei einem Fest tanzte ich den Eröffnungswalzer mit einem Mädchen namens Jarmila. Sie gefiel mir zwar auch, doch sie war einen halben Kopf größer als ich, weshalb ich sie meinem zehn Zentimeter größeren Freund überließ und mich Jarmilas Freundin Boženka zuwandte. Boženka war ein humorvolles und heiteres Mädchen, mit dem ich mich auf Anhieb gut verstand. Zu viert haben wir dann allerhand unternommen: Wir gingen spazieren, ins Kino, ins Schwimmbad und auch ins Theater, sowohl in die tschechischen als auch in die deutschen Vorstellungen. Diese Idylle währte bis zu meiner Flucht ins Exil Ende April 1939. Zweifelsohne trugen diese intensiven Beziehungen auch zur deutlichen Verbesserung meiner Sprachkenntnisse bei. Später beim Militär war die tschechische Sprache für mich kein Problem mehr, und es kam auch nicht vor, dass einer meiner Mitstreiter irgendeinen Verdacht

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schöpfte, dass die tschechische Sprache nicht meine Muttersprache sei. Hätten sie Zweifel gehabt, hätten sie keineswegs gezögert, es mich in der herben Soldatenmanier spüren zu lassen. In meinem späteren Leben habe ich erfolgreich viele Texte übersetzt, darunter auch Bücher, aus dem Tschechischen ins Deutsche und umgekehrt. Ich möchte hervorheben, dass ich in der Schule bis zu meinem Abitur im Jahr 1938 niemals mit Antisemitismus konfrontiert wurde, weder seitens der Mitschüler noch seitens des Lehrkörpers. Sogar der Geschichtsprofessor – von dem allgemein bekannt war, dass er unter dem Revers seiner Jacke das Abzeichen von Henleins Sudetendeutscher Partei trug – blieb mir bis zum Schulabschluss wohlgesonnen, und dies, obwohl sein Fach nicht gerade zu meinen Stärken zählte. Interessanterweise habe ich mich wegen des Judentums nur ein einziges Mal geprügelt, und zwar mit meinem entfernten Cousin Jiří Taussig. Er warf mir meine Freundschaft zu deutschen Mitschülern vor und zugleich rügte er meinen Widerwillen, mich in einer zionistischen Organisation zu engagieren. Anfangs versuchte ich ihm noch klarzumachen, dass ich an der zionistischen Bewegung so oder so nicht sonderlich interessiert war, abgesehen davon, dass mir die dort auferlegten Zwänge ausgesprochen zuwider waren. Das Gespräch endete in einer Rauferei. Über dieses Thema haben wir nie wieder gesprochen. Als ich mitten in der Arbeit an diesem Buch steckte, fand ich gleich in zwei Autobiografien Berichte über fast identische Erfahrungen, die auch die beiden Autoren (der Wirtschaftsprofessor Jiří Kosta und die deutsch-tschechische Journalistin und Schriftstellerin Lenka Reinerová) während ihrer eigenen Studienzeit am Stephansgymnasium gemacht haben. Nach dem Krieg hörte ich, dass dieses Gymnasium seine jüdischen Schüler noch lange nach der Machtübernahme durch die Nazis ausgesprochen gut behandelte. Sogar als die Restriktionen bereits in vollem Gange waren, ließ man hier immer noch Schüler mit jüdischer Herkunft ihr Abitur machen. Mein bester Freund besuchte mich oft, auch nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag – bis ihn meine Mutter warnte, dass er sich dadurch jede Menge Schwierigkeiten einhandeln würde. Trotzdem trafen wir uns weiter, bis zu meiner Flucht ins Exil. Zum Abschied schenkte er mir eine seiner Pfeifen, die ich noch heute habe und gerne rauche.

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Erst im Jahr 1968, als ich nach Deutschland kam, erfuhr ich, dass er den Krieg nicht überlebte – wie übrigens der Großteil meiner deutschen Schulkameraden. Ich traf lediglich drei Überlebende. Die meisten meiner jüdischen Mitschüler kamen in den Konzentrationslagern ums Leben, bis auf einige wenige, die es in die Emigration geschafft hatten. Abiturtreffen gab es keine.

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Vaters Tod Zehn Tage nach meinem 13. Geburtstag ließ mich Tante Julie mitten im Unterricht aus der Klasse holen und teilte mir behutsam mit, dass mein Vater plötzlich gestorben sei. Sie brachte mich nicht heim, sondern zu sich nach Hause, was mir ohnehin viel lieber war, weil ich daheim zu viele Menschen hätte treffen müssen. Man erklärte mir, dass nach Vaters Kriegsverletzung eine Narbe in der Magenwand zurückgeblieben sei, die jetzt aufgeplatzt und woran er gestorben sei. Für mich war es ein schwerer Schlag, ich hing an meinem Vater mehr als an meiner Mutter. Bei meinem Bruder war es gerade umgekehrt. Hinterher stellte sich heraus, dass unser Vater bei der Verwandtschaft einen Schuldenberg hinterließ, eben jenes Geld, das er sich borgte, um Anteile an Hynek Mahlers Handschuhmanufaktur kaufen zu können. Meine Mutter musste diese Schulden in regelmäßigen Monatsraten noch lange abstottern. Die Witwen- bzw. Waisenrente (falls uns überhaupt welche zustand) dürfte sehr niedrig gewesen sein, und so musste unsere Mutter bei der Krankenkasse des Maschinenbauverbandes als Krankenschwester arbeiten. Ich gab Nachhilfeunterricht in Mathematik, einem Fach, das ich sehr gut beherrschte, und konnte damit einen bescheidenen Beitrag zu unserem Haushaltsgeld beisteuern. Solange mein Vater lebte, hatten wir kaum Kontakt zu seiner Familie, die meisten Verwandten kannte ich nicht einmal. Die einzige Ausnahme war die alte Tante Hanni, die unsere Fortschritte beim TschechischLernen aufmerksam verfolgte. Mein Vater mochte sie, und sie wiederum liebte uns Kinder. Wir besuchten sie meist sonntagnachmittags, und jedes Mal bewirtete sie uns mit süßen Heidelbeeren oder anderen Kompotten und Säften. Die Bekanntschaft mit den übrigen Familienmitgliedern machte ich nach und nach erst nach Vaters Tod, und zwar bei Anlässen, die so gut wie immer peinlich waren. Aus irgendeinem Grund konnte meine Mutter eine der Monatsraten nicht rechtzeitig bezahlen. Sie schickte mich daher zum „Onkel“, Vaters Cousin, mit der Bitte um einen einmaligen Aufschub. Er ließ mich im Vorzimmer seines Büros lange warten, bis er mich endlich hereinwinkte, um mir dann mit eisiger Miene zu sagen, er hoffe bloß, dass sich so etwas nie mehr wiederholen würde. Danach sah ich ihn nie wieder.

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Dann war da noch ein Pärchen, vielleicht ein Cousin oder eine Cousi­ne, keine Ahnung, wer von den beiden unser Blutsverwandter war. Es wa­­ren relativ junge, elegante Leute, die es vermutlich für ihre Pflicht hiel­ten, die ach so armen Halbwaisen zum Mittagessen einzuladen. Sie bewohn­ten eine herrliche Villa. Zum Mittagessen ließ man uns Kindern – Rebhühner servieren. Zweifelsohne eine standesgemäße Deli­katesse, aber für uns zehn- und 13-jährige Jungs war es eher eine um­ständliche Speise, die außerdem nicht viel hergab. Offensichtlich dach­ten die beiden, mit dieser Nobelmahlzeit ihren familiären Pflichten Ge­nüge getan zu haben, sie luden uns kein zweites Mal ein und ließen nie wieder von sich hören. Vermutlich habe ich schon damals begriffen, wes­halb wir zu Vaters Zeiten zu diesem Teil der Familie keinen näheren Kontakt pflegten. Wir lernten noch einen anderen entfernten Vetter unseres Vaters kennen: Er hieß Arnold Marlé, war verheiratet und hatte zwei Kinder. Sein Name war zweifelsohne ein Pseudonym, er war nämlich Schauspieler und bis zu seiner Emigration nach England trat er in Deutschland auf. In Prag weilte er nur vorübergehend, kurz vor seiner Flucht nach England. Während dieser Zeit kam er mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter gelegentlich zu uns zum Mittag- oder Abendessen. Dabei fiel mir auf, dass die Eltern ihren Sohn auffallend fürsorglicher und liebevoller behandelten als die Tochter, die ich übrigens recht hübsch fand. Hinterher habe ich erfahren, dass die Tochter nicht ihr leibliches Kind gewesen ist, sie wurde adoptiert. Solche Unterscheidung machte diesen Teil der Familie auch nicht sonderlich sympathischer. Der Name Marlé tauchte dann während des Krieges im Nachspann einiger englischer Filme auf, in denen er kleinere Nebenrollen spielte. Gesehen habe ich ihn und seine Familie nie wieder. Ein ganz anderes Verhältnis hatten wir zu der Familie meiner Mutter. Meine Oma hatte fünf Geschwister, alle zusammen brachten es auf insgesamt elf Nachkommen. Typisch für diese Familie war, dass alle Frauen dieser Generation außergewöhnlich schön waren – und das kann ich wirklich objektiv beurteilen. Da einige der elf Sprösslinge nicht wesentlich älter waren als ich selbst, sind sie für mich eher wie Cousins und Cousinen gewesen. Zu vielen von ihnen hatte ich ihr Leben lang eine innige Beziehung.

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Nur ein einziger dieser elf Menschen, mein heißgeliebter Cousin Julius, überlebte die Nazis nicht und starb in einem Konzentrationslager. Julius war ein begeisterter Sportler, einmal wurde er sogar als Amateur in seiner Gewichtsklasse tschechoslowakischer Meister. Mit seiner „arischen“ Ehefrau hatte er zwei hinreißende Töchter, aber seine Frau fürchtete um ihr Leben und ließ sich daher von ihm scheiden. Dadurch verlor Jula den Mischehen-Status, der ihn zwar nicht vor einer Internierung, aber immerhin vor dem sicheren Tod in einem Vernichtungslager hätte schützen können. Er starb in Auschwitz. Alle anderen Verwandten aus dieser Generation konnten sich durch rechtzeitige Flucht nach England oder nach Palästina retten. Von der älteren Generation wäre da noch ein altes kinderloses Ehepaar, Karl und Selma Fischl, zu erwähnen. Karl Fischl war der einzige orthodoxe Jude in dieser Großfamilie, der sich strikt an alle religiösen Gebote hielt. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich nur einem Zufall zu verdanken war, dass die beiden in der noblen Pariser Straße wohnten – jedenfalls konnten sie aus ihren Fenstern direkt auf die Altneue Synagoge aus dem 13. Jahrhundert schauen. An den jüdischen Feiertagen traf sich bei Fischls immer die komplette Familie, dort lernte ich auch so manchen jüdischen Brauch kennen sowie einige der traditionellen jüdischen Speisen, die übrigens vorzüglich schmeckten. Auch ich musste an den Feiertagen in die Synagoge gehen, doch das Gottesdienstritual war nicht so meins – vorsichtig ausgedrückt. Diese Erfahrung beeinflusste offenbar meine spätere Einstellung zur Religion. Bei den Fischls habe ich auch meinen Großvater väterlicherseits angetroffen. Ich schreibe mit Absicht angetroffen, weil ich keineswegs behaupten könnte, ich hätte meinen Großvater kennengelernt. Er war – und ich denke, nicht nur in meinen Augen – ein wortkarger, mürrischer alter Herr. Ich hatte das Gefühl, dass nicht einmal mein Vater zu ihm einen Draht finden konnte. In der gegenüber liegenden Synagoge fungierte er als eine Art Wächter und Diener in Personalunion, und ich hatte den Eindruck, dass er vor allem von Tante Selmas Geld lebte. Vor seinem Tod sah ich ihn nur etwa zwei- oder dreimal. Tante Selma spielte im Leben von uns Kindern eine besondere Rolle. Die Fischls besaßen einen Textilgroßhandel auf dem Kohlmarkt (Uhelný Trh) in der Prager Innenstadt, die Firma nahm den ganzen

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ersten Stock des Mozarthauses ein. Mein Bruder und ich besuchten Tante Selma gerne jedes Mal, wenn wir in die Innenstadt kamen. Denn kaum sah sie uns, da drückte sie gleich jedem von uns 20 Kronen in die Hand, damit wir uns im Laden gegenüber ein Würstchen mit Gebäck kaufen konnten. Unsere Tante war selbstverständlich auch in einer jüdischen Wohlfahrtsorganisation tätig. In der Zweigstelle Am Kohlmarkt wurde damals abgetragene Kinderkleidung abgegeben, vorwiegend von reichen Familien. Tante Selma suchte sogleich die besten Stücke aus und legte sie für uns beiseite. Ich durfte mir dann meine Kleidung selbst aussuchen und fand dies keineswegs erniedrigend. Im Gegenteil: Dank Tante Selma war ich immer gut angezogen. Den ersten „gekauften“ Anzug bekam ich erst zum Abitur, als ich schon 18 Jahre alt war. Nachdem ich die Quarta (die vierte Klasse des Gymnasiums) mit Erfolg abgeschlossen hatte, wollte ich in eine tschechische Schule wechseln. Als Halbwaise war ich im Stephansgymnasium vom Schulgeld befreit, auch die Schulbücher bekam ich gratis. Die tschechische Schule auf den Königlichen Weinbergen (Vinohrady), in der ich mich anmelden wollte, konnte oder wollte sich da diesbezüglich nicht festlegen. Man teilte mir mit, dass eine Entscheidung erst nach dem Schulanfang gefällt werde, wobei man im Vorhinein nichts garantieren könne. Das war uns zu riskant, und so blieb ich weiter auf dem deutschen Gymnasium, an dem ich 1938 das Abitur ablegte. Irgendwann in den dreißiger Jahren zog Tante Julies Familie in eine (für die damaligen Verhältnisse) luxuriöse Neubauwohnung auf Letná (vormals Sommerberg) um, und wir bezogen ihre Wohnung in einem alten Haus auf den Königlichen Weinbergen (Vinohrady). Dort gab es ebenso vier Zimmer wie in unserer alten Wohnung, die allerdings um ein großes Vorzimmer angeordnet waren und nicht hintereinander wie in unserer alten Wohnung. So konnten wir eines der Zimmer vermieten. Die meisten unserer Untermieter kamen aus den Grenzgebieten, sie waren auf der Flucht vor den Henlein-Anhängern und später dann vor den Nazis. Man wusste zwar so manches oder man ahnte es zumindest, trotzdem wollten wir nicht alles glauben, was uns die Flüchtlinge über die Situation in Deutschland erzählten. Natürlich haben wir uns vor einem Angriff der Deutschen gefürchtet – doch so viel Angst, wie wir eigentlich hätten haben müssen, hatten wir damals noch nicht.

4. Die erste Emigration und mein Militärdienst in der Exilarmee

Das erste Exil „Das Leben ist bloß ein Zufall ...“, mit dieser Feststellung beginnt ein bekanntes tschechisches Lied aus meiner Jugend. Und das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Die Menschen (zumindest die meisten) bestimmen immerhin selbst, ob richtig oder falsch, wohin sie ihr Schicksal führen soll. Wahr ist jedoch, dass dabei oft der Zufall eine entscheidende Rolle spielt. Wenn ich über einige Scheidewege in meinem Leben nachdenke, war es bei mir auch nicht anders. Ich muss vorausschicken, dass bei uns zuletzt ein gewisser Hans Vogel zur Untermiete wohnte. Er war aus Cheb (Eger) geflüchtet und gab vor, ein jüdischer Flüchtling zu sein, was ich allerdings bezweifelte. In unserer Familie lebte er sich bald ein, und als es so weit kam, dass man ernsthaft über die Emigration nachdenken musste, kamen er und meine Mutter zur Ansicht, dass er alleine – ebenso wie eine Mutter mit zwei Kindern – kaum eine Chance hätte, ein Visum zu bekommen, wohin auch immer. Also beschlossen die beiden zu heiraten. Diese Heirat war reine Formsache, die jedoch dazu führte, dass Herr Vogel zusammen mit uns emigrierte. Das Schicksal hatte das erste Mal seine Hand im Spiel, als ich Anfang April 1939 Am Graben (Na Příkopech) zufällig meinen Mitschüler Hans Schneider traf. Knapp einen Monat zuvor waren die Nazis in Prag einmarschiert, und daher wollte Hans von mir wissen, wann und wohin wir emigrieren. Ich sagte ihm, dass es bei uns momentan noch an dem „Wohin“ scheitere. Hans packte mich an der Schulter, bugsierte mich in die nahe Kaufpassage „Die Schwarze Rose“, wo er mir ein Büro zeigte, in dem man sich gegen Bezahlung in die Passagierliste eines illegalen Transportes nach Palästina einschreiben konnte. Ich lief nach Hause, berichtete von dieser Möglichkeit, und meine Familie beschloss, diese Chance zu nutzen. Wir verkauften alles, was sich auf die Schnelle zu Geld machen ließ. Ich hatte keine Ahnung, wie die Finanzsituation

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meines frischgebackenen Stiefvaters aussah – eigentlich wusste ich auch nichts Genaues über die Finanzlage meiner eigenen Familie, bis auf die Tatsache, dass sie schlecht war. Mein Beitrag zu der Gemeinschaftskasse war damals meine Briefmarkensammlung. Es tat mir sehr weh, als ich sie verkaufen musste. Ich nehme an, dass die Sammlung nicht gerade unbedeutend gewesen ist, immerhin war sie dem Käufer einige Tausend Kronen wert. Wir meldeten uns also im Büro „Die Schwarze Rose“ (Černá Růže) für den gleichnamigen Transport an – meine Mutter, Hans Vogel, mein Bruder und ich. Hinter der illegalen Auswanderung stand allerdings keineswegs eine zionistische Organisation, und wie sich erst später herausstellte, ging es den Veranstaltern rein ums Geschäft, mit einem mehr als zwielichtigen Hintergrund. Da dahinter keine jüdische Initiative, sondern Geschäftemacherei steckte, konnte sich ebenfalls eine Reihe junger Nichtjuden melden, die auf diesem Weg das Weite suchen wollten. Wir kauften uns Rucksäcke, Sommer-, aber auch Winterkleidung (man sagte uns, dass die Nächte in Palästina sehr kalt seien), robustes Schuhwerk und was weiß ich, was sonst noch. Wir packten natürlich keine Koffer wie für einen Urlaub, sondern stopften alles in Rucksäcke – wie es sich für ein solches, gewissermaßen abenteuerliches Unternehmen gehörte. Am Abend des 30. April versammelten sich alle Teilnehmer der „Operation Schwarze Rose“ am Wilson-Bahnhof (heute der Prager Hauptbahnhof) und stiegen in den Sonderzug nach Wien ein. Es liegt mir fern, es vergleichen zu wollen, dennoch fällt mir da eine gewisse Parallele zu den Transporten jener Menschen auf, die später aus dem Sudetenland „abgeschoben“ wurden. Damals am Bahnhof warteten die gleichen stummen Gestalten, und ähnlich war auch das mitgeschleppte Hab und Gut: Koffer, Rucksäcke, Taschen, Decken, Säcke ... Man jagte uns zwar nicht mit Gebrüll und Schlägen davon, so wie man nach dem Krieg die Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieb, aber unser Fortgehen war im Grunde nicht minder unfreiwillig. Auch wir hatten Angst und keine Ahnung, was uns erwartete. Die rasche und formlose Abfertigung an den Grenzen zeugte von den anfänglichen Bestrebungen der deutschen Besatzungspolitik, vorerst so viele Juden wie nur möglich loszuwerden. Man ignorierte sogar,

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dass mein Reisepass bereits abgelaufen war, was ich erst hinterher mit Schrecken festgestellt habe. Es war der 1. Mai, und die Straßen Wiens, zumindest in jenem Stadtteil, den wir unterwegs zum Donauhafen vom Bus aus sehen konnten, waren mit roten Fahnen geschmückt. Man hätte denken können, wir wären noch in Prag, hätte nicht in der Mitte des roten Tuchs ein schwarzes Hakenkreuz geprangt. Im Donauhafen standen zwei Flussdampfer bereit – Zar Dusan und Kralitza Maria –, die uns zum rumänischen Hafen Sulina bringen sollten. Unsere Familie ging an Bord eines der Ausflugsschiffe, das für 80 Passagiere gebaut wurde. Wir waren jedoch 460. Die Liegen waren für ältere Frauen und Mütter mit kleinen Kindern vorgesehen und wie sich hinterher herausstellte, auch für gewisse „bessere“ Reisende. Erst auf hoher See kam ich nach und nach dahinter, dass es überhaupt so etwas wie „bessere Passagiere“ gab. Durchschauen, wer zu der „besseren Gesellschaft“ gehörte und worauf es dabei eigentlich ankam, konnte ich aber nicht. Doch vermutlich waren es ausgerechnet einige dieser Privilegierten, die nach der ewig langen Überfahrt die Machenschaften dieser Transportorganisatoren aufgedeckt haben. Quasi zum Abschied hatte ich noch ein pikantes Erlebnis auf dem Schiffspissoir. Beim Pinkeln sagte ich zu meinem Nachbar am Urinal: „So, und jetzt können uns die Nazis nichts mehr anhaben ...“ Er grinste mich an und meinte: „Da haben Sie recht! Ich bin vom deutschen Geheimdienst, aber hier sind Sie vor meinen Klauen sicher – Sie befinden sich bereits auf jugoslawischem Hoheitsgebiet.“ Die Donauschifffahrt betrachteten wir anfangs noch als ein mehr oder weniger lustiges Abenteuer. An den beiden Donauufern gab es allerhand Interessantes zu sehen: Pressburg (Bratislava), Budapest, Belgrad, die Schlucht „Eisernes Tor“ und die schöne Landschaft dazwischen. Unterwegs machten wir immer wieder einen Zwischenstopp, um Wasser- und Lebensmittelvorräte aufzufüllen. Nicht selten wurden wir in den Häfen von Delegationen dortiger jüdischer Gemeinden erwartet, die uns Obst und Süßigkeiten für die Kinder brachten. Irgendwann kam es mir allerdings sonderbar vor, dass einige der Mitreisenden den Fahrplan bereits vorher gekannt haben mussten. Wie sonst war es zu erklären, dass in dem einen oder anderen Hafen bereits ihre nahen Verwand-

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ten auf sie warteten, um sich zu verabschieden und ihnen Geschenke oder aber auch Lebensmittel zu überreichen. Vor allem aber waren es die dortigen Händler, die sich in jedem Hafen emsig tummelten und alles Erdenkliche feilboten: von Orangen bis zu Waffen. Am 13. Mai trafen wir nach zweiwöchiger Schifffahrt in Sulina ein, dem Hafen im rumänischen Teil des Donaudeltas direkt an der Mündung des Sulinaarmes ins Schwarze Meer. Dort lag schon das Frachtschiff Frossula vor Anker, das für die Überfahrt nach Palästina gechartert wurde.

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Frossula und die dreimonatige Irrfahrt auf hoher See Nur kurze Zeit später machten sich die ersten Anzeichen bemerkbar, die von einer äußerst mangelhaften Vorbereitung der ganzen Unternehmung zeugten. Ich weiß nicht, wie oft man uns versichert hatte, dass wir schon am nächsten Tag an Bord des Schiffes gehen würden. Es stimmte nie. Einmal behauptete man, dass noch keine ausreichende Menge Trinkwasser vorhanden sei, ein anderes Mal hat man angeblich immer noch auf das Eintreffen der Lebensmittelvorräte gewartet. Erst einige Monate später erfuhren wir (die weniger Informierten), dass zu jener Zeit noch nicht einmal die Anlegebedingungen in Palästina geklärt waren. Damit die Passagiere an Land gehen können, hätte das Schiff vor Tel Aviv stranden müssen, und dadurch wäre es als seeuntüchtig verloren gegangen. Der letzte Teil unserer Reise, die Landung in Palästina, sah dann ganz anders aus, als wir uns das vorgestellt hatten. Im Nachhinein betrachtet organisierten die Veranstalter zwar unsere Abfahrt aus der Tschechoslowakei, sie scherten sich aber nicht darum, wie wir in Palästina ankommen – und ob überhaupt. Untätig wartend fristeten wir unsere Tage auf dem Oberdeck des Binnenschiffes, bewacht von Soldaten. Diese achteten streng darauf, dass ja niemand von Bord ging, und nebenbei betrieben sie einen regen Handel mit den Passagieren. Sie boten uns sogar ihre eigenen Waffen zum Kauf an. Inzwischen wurde das Schicksal von Hunderten Passagieren publik, und die Gemeinden der europäischen Juden sowie die zionistischen Organisationen ließen uns Essen sowie Obst und sonstige Geschenke zukommen. Nach drei Wochen Aufenthalt im Donaudelta konnten wir uns endlich einschiffen. Die Frossula war ein mittelgroßes Frachtschiff der einfachsten Art und Ausstattung. Für einen primitiven Personentransport wurden im Schiffsbauch vier Holzverschlag-Etagen mit Trennwänden als Schlafgelegenheiten errichtet, die Schlafplätze waren schlichte Strohmatten von je einem halben Meter Breite. Die Schiffspapiere wiesen als offizielle Fracht eine Zitronenladung aus. Obwohl wir drei lange Monate auf der Frossula verbringen mussten, kann ich mich nur noch an einige wenige Einzelheiten aus dieser Zeit erinnern. Das Schiff schipperte kreuz und quer auf dem Mittelmeer

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umher, und wir Passagiere kannten weder den Zweck dieser Zickzackfahrt noch ahnten wir, was noch auf uns zukommen würde. Heute kann ich mir nur schwer vorstellen, wie solche Unsicherheit und die enormen Strapazen überhaupt zu ertragen waren. Dennoch habe ich noch einige Bilder geradezu plastisch vor Augen, trotz der erwähnten Gedächtnislücken. Keine Ahnung, was es zu essen gab und wie genießbar es war, ich denke aber, dass wir nicht direkt hungern mussten. Eines Tages bat der Kapitän die jungen Passagiere darum, Kohlensäcke von einem Ende des Schiffes zum anderen zu tragen. Als Belohnung winkte uns eine Sardinenbüchse und meerwasserlösliche Seife. Und gerade diese Seife fanden wir besonders verlockend. Wer noch nicht versucht hat, sich im Meer mit normaler Seife zu waschen, der kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie aussichtslos ein solches Unterfangen ist. Die Sardinen schenkte ich meiner Mutter, die Seife borgte ich ihr zwar jedes Mal, wenn sie sie brauchte, jedoch nur für einen Augenblick und beinahe „unter Aufsicht“. Schließlich hatte ich dafür auf meinem nackten Buckel die schweren Kohlesäcke auf dem glitschigen Schiffsboden schleppen müssen. Wenn uns als Belohnung für solche Schinderei eine Büchse Sardinen begehrenswert erschien, dürfte das Essen auf dem Schiff doch nicht der Rede wert gewesen sein. Ich kann mich außerdem noch an die weitaus primitiveren Seiten des Lebens auf dem Schiff erinnern, zum Beispiel an die „Toiletten“. Davon besitze ich sogar eine Fotodokumentation: eine schlichte Holzkonstruktion aus mehreren Kabinen nebeneinander. Im Boden waren schräg nach unten zum Meer verlaufende Blechrinnen eingelassen, neben den Kabinen hing an einem Seil ein Eimer, mit dem man Wasser aus dem Meer schöpfen und mit einem mächtigen Schwung den Rinneninhalt ins Meer spülen musste. Um den Eimer, der bei voller Fahrt auf den Wellen hin und her hüpfte, voll zu kriegen, war schon eine besondere Technik nötig. Außer mir beherrschten dieses Kunststück nur einige wenige. So schöpften wir das Wasser, reichten es weiter und ersparten uns dafür das Spülen der Fäkalien aus den stinkenden Kabinen ins Meer. Nun aber zu einem ganz anderen Erlebnis. Unter den Passagieren befand sich auch der weltbekannte Dirigent George Singer, der später zum Chefdirigenten des Jerusalemer Philharmonie-Orchesters ernannt

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wurde. Ein junger Mann führte ein großes Akkordeon mit, seinen größten Schatz. Wir baten George Singer, etwas für uns zu spielen. Der Akkordeonbesitzer legte das Instrument auf seine Knie, sodass es vor Singer wie die Klaviatur eines Flügels lag. Der Bursche drückte den Balg, und in der Tiefe des Schiffsbauches ertönten Melodien von Beethoven, Mozart und weiterer Klassiker, dargeboten von einem weltberühmten Dirigenten. Noch heute habe ich Tränen in den Augen, wenn die unzähligen jungen und alten Menschen vor meinem geistigen Auge wieder auftauchen – wie sie auf den Holzpritschen sitzen oder liegen und andächtig der Musik lauschen, die aus den Tiefen des rostigen Schiffes erklingt. Es war vielleicht der nachhaltigste Eindruck von der ganzen Schiffsreise. Vielleicht auch deshalb, weil mir dabei jedes Mal klar wird, dass wir damals trotz der misslichen Lage und der bedrückenden Unsicherheit zu den Glücklichen zählten, die den Konzentrationslagern und Gaskammern entkommen konnten. Eine kurze Ablenkung anderer Art bescherte uns der Zwischenstopp im libanesischen Hafen Tripoli (ohne „s“ am Ende, im Unterschied zu der Hauptstadt Libyens), wo das Trinkwasser nachgefüllt werden musste. Wir durften zwar nicht an Land gehen, aber die Ruhe – ohne den Höllenlärm der Maschinen – tat uns richtig wohl. Für eine willkommene Abwechslung sorgten die unzähligen kleinen Boote der Einheimischen, die lauthals ihr Obst und andere Waren anpriesen, die sie uns verkaufen wollten. Als die Schiffsvorräte aufgefüllt waren, ging die kopflose Irrfahrt auf dem Mittelmeer weiter. Einige Wochen später, wieder der Vorräte wegen, ging unser Schiff im Hafen von Libanons Hauptstadt Beirut vor Anker. Die Hygienekontrolleure der Hafenverwaltung kamen aufs Schiff und waren über die vorgefundenen Zustände dermaßen bestürzt, dass sie den Hafenkommandanten herbeiriefen. Nach kurzer Inspizierung ließ der Hafenkommandant das Schiff sofort räumen, reinigen und desinfizieren. Wir Flüchtlinge wurden in ein Quarantänelager gebracht – ins Paradies. So kam es uns zumindest vor. Saubere Zelte auf grünem Rasen, der Speiseraum überdacht, Waschräume mit fließendem Süßwasser! Und das Beste dabei war, dass wir endlich einen festen Boden unter den Füßen spürten. Das Essen war gut, und langsam fühlten wir uns wieder wie Menschen. So ging es mehrere Wochen lang. Eine Verbin-

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dung zu der übrigen Welt gab es auch, auf dem Postweg. Tante Julie, inzwischen in England angekommen, schickte uns etwas Geld. Ich und einige weitere Flüchtlinge durften sogar unter Aufsicht in die Stadt gehen, um einzukaufen. Meinen größten Einkauf machte ich in der Drogerie und Parfümerie, für die Mutter. Was ich dort damals kaufte, habe ich natürlich längst vergessen, doch ich kann mich heute noch sehr gut an das unbeschreibliche Glücksgefühl erinnern, das mich übermannte, als ich durch die Stadt spazierte – unter all den normalen Menschen. Autos fuhren vorbei, Leute auf der Straße unterhielten sich, sie lachten ... Beirut war zu jener Zeit wahrscheinlich die europäischste Stadt des Nahen Ostens. Eine Weile, nachdem ich wieder zurück im Quarantänelager war, hieß es plötzlich: „Alles zusammenpacken!“, und prompt fanden wir uns auf der Frossula wieder. Ohne Begründung, ohne Erklärung. Wir nahmen an, dass dies nur eines zu bedeuten hätte: Die letzte Etappe unserer Reise stünde uns bevor. Etwa eine Stunde später folgte ein anderer Befehl: alles retour, alles wieder zusammenpacken und zurück ins Lager. Erst später haben wir den Grund für dieses Manöver erfahren. Der Lagerkommandant wollte nämlich Hunderte von Flüchtlingen nicht länger aus der französischen Staatskasse durchfüttern. Unmittelbar nach unserem Einschiffen bekam er aber die Information, dass die Kosten für unsere Unterbringung und Verpflegung die jüdische Gemeinde von Beirut trägt, und daraufhin durften wir wieder in unsere Zelte zurück. Einige Zeit später schifften wir uns endgültig ein, diesmal nach einem herzlichen Abschied von unseren französischen Gastgebern. Die letzte Phase unserer Reise begann. Zwei oder drei Tage später trafen wir auf offenem Meer auf ein größeres Schiff, die Tiger Hill. Dieses Schiff, gechartert von der zionistischen Organisation Hagana, war mit 760 jungen polnischen Zionisten an Bord unterwegs nach Palästina und bekam den Befehl, uns aufzunehmen. In einer stürmischen Nacht mussten die knapp 700 Passagiere der Frossula, die Jungen wie die Alten, bei hohem Seegang mit ihrem Hab und Gut über Strickleitern und Seile in die Ruderboote klettern, um kurz darauf wieder auf gleiche Art und Weise ans Deck der Tiger Hill zu gelangen. Es grenzte an ein Wunder, dass das halsbrecherische

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Unternehmen glückte, ohne dass ein Mensch oder ein Gepäckstück über Bord ging. Erst wesentlich später wurde mir klar, dass gerade dieses Manöver die betrügerischen Absichten der Firma Lébl und Guttmann aus der Passage „Die Schwarze Rose“ bezeugte. Es musste nämlich schon von vornherein bekannt gewesen sein, dass das Ende der Reise zugleich den Verlust des Schiffes bedeutet. Das Schicksal der Tiger Hill hat meinen Verdacht bestätigt. Das unvermeidliche Ende der Reise kümmerte den Reiseveranstalter nicht im Geringsten, dafür aber sehr wohl den Kapitän, der sich weigerte, seine Frossula zu opfern. Damals wusste ich nicht, wie und welche Vereinbarung mit der Tiger Hill getroffen wurde, ich vermutete bloß, dass es auf die Vermittlung einer zionistischen Organisation zurückging. Für die Passagiere der Frossula gab es im Unterdeck der Tiger Hill natürlich keinen Platz mehr, so hausten wir auf dem Oberdeck. Irgendwie. Kurz vor Mitternacht erspähte uns ein britisches Küstenwachboot und forderte die Besatzung auf, sich zu ergeben. Dies lehnte der Schiffskommandant ab, worauf die Briten das Feuer eröffneten. Wir warfen uns zu Boden, doch nicht alle waren schnell genug – von den jungen Polen, die bisher kaum mit uns sprachen, hörten wir, dass es zwei Tote und mehrere Verletzte gab. Sie alle befanden sich auf der kritischen Seite des Schiffes, direkt in der Schusslinie der Küstenwache. In dieser Nacht schliefen wir kaum, so konnten wir im Morgengrauen sehen, wie der Kapitän der Tiger Hill mit seiner Mannschaft das Schiff verließ und in einem Motorboot zur Küste fuhr. Da wussten wir, dass nun die entscheidende Phase unserer Reise bevorstand. Vor dem Verlassen des Schiffes hatte der Kapitän noch einige junge Passagiere eingehend unterwiesen, wie sie Tel Aviv ansteuern müssen und wie sie sich beim geplanten Auflaufen am Sandstrand zu verhalten haben. Es ist anzunehmen, dass seine Instruktionen gut waren, denn die jungen Polen haben es tatsächlich geschafft, das große Schiff ohne größere Erschütterungen und relativ sanft auf den Sand zu setzen. Das meisterliche Manöver in den Morgenstunden wurde von einigen Menschen am Ufer beobachtet, die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und binnen kürzester Zeit strömten Menschenmassen zum Strand und jubelten uns zu. Die Ovationen begleiteten unsere Ausschif-

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fung bis zur Abfahrt in einer Buskolonne. Man brachte uns ins britische Militärlager Sarafant in der Nähe von Tel Aviv, wo wir registriert und mit palästinischen Ausweisen ausgestattet wurden. Dieser Tag war für uns gleich in zweifacher Hinsicht von großer Bedeutung: Nicht nur, dass unsere lange Reise voller Angst und Unsicherheiten nach vier Monaten und zwei Tagen zu Ende war, wir haben außerdem von der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Nazideutschland erfahren. Darin sah ich einen gewissen Anfang vom Ende meines Exils.

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Ein Zwischenspiel Während mein 15-jähriger Bruder gleich in einen Kibbuz ging, waren ich und meine Freunde arbeitslos. Damals trennten sich unsere Wege für immer. Nicht nur, dass sich mein Bruder im Kibbuz gut einleben konnte, nach und nach übernahm er auch die Ideologie dieses Gemeinschaftslebens und damit auch das zionistische Gedankengut. Ich dagegen sah mein Lebensziel nach wie vor in der Rückkehr in die Tschechoslowakei. In der weiteren Folge war das Schicksal meines Bruders nicht nur mit dem Leben im Kibbuz, sondern auch mit der Zukunft Israels verbunden. Wir haben unsere unterschiedlichen Ansichten und Ziele gegenseitig stillschweigend akzeptiert, an unserer Beziehung änderte sich nichts. Keiner von uns beiden hat je versucht, den anderen von der Richtigkeit seiner persönlichen Einstellung zu überzeugen. Solange mein Bruder lebte, riss unser Kontakt niemals ab, wir waren einander seit jeher sehr zugetan. Nachdem wir nach Deutschland kamen, flog ich sogar recht oft nach Israel, mal alleine, mal mit der Familie, aber auch dienstlich während meiner Tätigkeit bei der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. Später kam auch mein Bruder zu uns zu Besuch, alleine oder ebenfalls mit Familie. Zunächst nach Köln, später trafen wir uns auch in Prag. Mit seinem Wortwitz und seiner Liebenswürdigkeit konnte er bald die Herzen unserer Kinder erobern. In seinem Kibbuz wurde er erst Sekretär, dann Vorsitzender. Man schätzte nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch seinen ausgeprägten Sinn für Humor. Sehr bald bekam er den Spitznamen Boby, und als Boby Utitz wurde er etwas später sogar weit über die Grenzen seines Kibbuz bekannt. Es war durchaus üblich, dass sich die zugewanderten Europäer in „Israel“ einen neuen – einen hebräischen – Nachnamen zulegten. Mein Bruder (und ebenso seine Söhne) behielten jedoch den ursprünglichen Namen Utitz. Die Aktivitäten meines Bruders beschränkten sich bei Weitem nicht nur auf seinen Kibbuz, er widmete sich auch allen Belangen des öffentlichen Lebens in den Bereichen Wirtschaft und Außenpolitik des Staates Israel. Später machte er sich einen guten Namen als Publizist populärer Schriften und auch als begehrter Rhetoriker und Debattenredner. Schon als junger Mann wurde er aktiv in einer zionistischen

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Bewegung, die er dann auch in der Tschechoslowakei der 1946er, 47er Jahre repräsentierte – zu jener Zeit, als die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Palästina (dem späteren Staat Israel) noch intakt waren. Später trat er als aktives Mitglied der Arbeiterpartei bei und war mehrere Jahre im Zentralkomitee dieser Partei tätig. Man hat mich natürlich informiert, als er plötzlich an Krebs erkrankte. Es war eine aggressive Krebsart, die Metastasen breiteten sich schnell im ganzen Körper aus. Kurz vor seinem Tod wollte ich ihn noch besuchen, aber er ließ mich wissen, dass er auf meinen Besuch lieber verzichten möchte. Er wollte mir so in Erinnerung bleiben, wie ich ihn kannte – als vitaler, lebenslustiger Mensch. *** Um nach der Entlassung aus dem Internierungslager Sarafant bis zu meinem angestrebten Eintritt in die Armee über die Runden zu kommen, musste ich mich nach einer Arbeit umsehen. Ich tat mich zusammen mit meinem ehemaligen Mitschüler Hans Schneider, mit Paul Ries, den wir auf dem Schiff kennengelernt hatten, und zu uns dreien gesellte sich noch ein Mann aus Danzig (Gdansk). Er war fast doppelt so alt wie wir, seinen Namen habe ich längst vergessen. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er überhaupt zu uns gestoßen war. Bald stellte sich heraus, dass er ein ausgezeichneter Kumpel war, der über brauchbare Fähigkeiten verfügte: Unter anderem konnte er alles herbeischaffen, was immer benötigt wurde, angefangen bei Aschenbechern über Tischdecken bis zum Gartentisch. Man stellte uns in Petach Tikva (heute ein Nobelvorort von Tel Aviv) ein kleines Häuschen zur Verfügung, und wir bekamen auch etwas Arbeitslosengeld. Jeden Morgen pilgerten wir zu einem Stützpunkt, an dem Gelegenheitsarbeiten vergeben wurden – diverse Hilfsarbeiten am Bau, im Straßenbau, auf den Orangenplantagen (genannt „padres“, was so viel wie „Garten“ oder „Garten Eden“ bedeutet) und so weiter. Die Entlohnung war unterschiedlich, je nach Schwierigkeitsgrad, die Auszahlung erfolgte täglich jeweils nach Ende der Schicht. Meist konnte aber nur einer, gegebenenfalls höchstens zwei von uns einen Job ergattern und die übrigen hatten an diesem Tag frei, dafür aber nichts verdient. Melden mussten wir uns jedoch alle, und

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zwar an jedem Tag – wer mehrmals unentschuldigt fehlte, dem wurde die Arbeitslosenunterstützung gestrichen. Wir führten einen mehr oder weniger kommunistischen Haushalt: Das verdiente Geld landete in der Gemeinschaftskasse, und davon wurde neben den Lebensmitteln einfach alles gekauft, was sonst noch gebraucht wurde. Ab und an gab es zwar eine kleine Streiterei darüber, ob dies oder jenes wirklich nötig oder ob es schon ein Luxus wäre, aber im Großen und Ganzen kamen wir miteinander gut aus und ergänzten einander. Es ging uns gut. Unter uns Arbeitslosen war auch eine Gruppe österreichischer Emigranten. Sie alle waren dermaßen arbeitsscheu, dass sie uns gegen ein moderates Entgelt die zugeteilte Arbeit überließen – kurz und gut: Sie verkauften uns ihre Jobs. Vermutlich hatten sie diesen Lohn nicht so bitter nötig, was wiederum uns nur recht war. Wir vier haben nie darüber gestritten, wer gerade arbeiten musste und wer daheim bleiben konnte. Ich kann mich noch erinnern, dass sich unser Mann aus Danzig stets als erster bereitwillig zur Arbeit meldete. Bei der Arbeitszuteilung wurde man immer namentlich aufgerufen, und man hatte sich auch persönlich zu melden. Es wurde aber nicht mehr kontrolliert, wer dann tatsächlich am Arbeitsplatz erschien, Hauptsache, die Anzahl der Arbeiter stimmte. Eine gängige Praxis, die unseren österreichischen Genossen ihren Arbeitsschacher überhaupt erst möglich machte. Wie kunstvoll die Österreicher das Faulenzen auch dann zu pflegen wussten, wenn sie sich doch noch hin und wieder am Arbeitsplatz blicken lassen mussten, das merkte ich, als ich mit ihnen eines Tages die Holzhütten für ein Militärlager zimmern sollte. Kaum angekommen, zogen sie mich in eine bereits fertiggestellte Holzhütte hinein, von der sie wussten, dass dort niemand mehr reinkommen würde. Die ganze Schicht über haben wir Karten gespielt. Bei dieser Gelegenheit lernte ich das in Österreich beliebte Kartenspiel „Sechsundsechzig“ (oder auch „Schnapsen“ genannt). Diese Art von „Geschäftigkeit“ war richtig ansteckend, und so versuchte ich es auch einmal selbst. Die gleiche Baustelle, ein anderer Tag. Zufällig fand ich dort ein gelbes Metermaß, ein Zimmermannswerkzeug, das auf der ganzen Welt vermutlich gleich aussieht. Mit dem Zollstock in der Hand schlenderte ich den ganzen lieben Tag auf der Baustelle herum und ließ die anderen glauben, ich

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wäre irgendein Werkmeister, der am Kontrollieren ist. So konnte ich mich den ganzen Tag erfolgreich vor der Arbeit drücken. Auf den Orangenplantagen, wo wir meistens gearbeitet haben, wäre so etwas gar nicht möglich gewesen. Dort gab es nur zweierlei zu tun: entweder die noch grünen Orangen mit einer Zwickzange (ähnlich der, wie sie bei der Maniküre verwendet wird) abschneiden oder die vollgefüllten schweren Kisten schleppen. Vor Arbeitsbeginn mussten wir vor unserem Vorarbeiter antreten, der unsere Hände inspizierte – wie bei den Erstklässlern. Lange Nägel mussten sofort mit derselben Zange abgezwickt werden, damit die Orangenschalen nicht einmal den kleinsten Kratzer bekamen. Andernfalls würden beim Transport sämtliche Orangen in der Kiste verfaulen. Die Arbeit in den „padres“ war zwar besonders anstrengend, dafür wurde sie aber recht gut bezahlt. Dort ließen sich die Österreicher natürlich niemals blicken. So verbrachten wir miteinander fröhlich und zufrieden mehrere Monate, bis unsere kleine Kommune zerfiel. Weshalb, weiß ich heute nicht mehr. Wir gingen im Guten auseinander, jeder seinen eigenen Weg. Den Burschen aus Danzig sah ich nie wieder, Schneider und Ries traf ich später in der Armee. Ich ließ mich in Jerusalem nieder, wo bereits meine Mutter mit Herrn Vogel sowie einige unserer Wiener Verwandten lebten. Ich wohnte alleine, ziemlich schlicht, geduscht habe ich bei meiner Mutter. Meinen Lebensunterhalt bestritt ich, wie es nur ging, manchmal auf eine recht kuriose Art und Weise. Fritz Robitschek, meinem Wiener Cousin, genauer gesagt, dem Vetter meiner Mutter, fiel eines Tages auf, dass viele Markisen vor den Geschäften und über den Tischen von Straßencafés eingerissen oder löchrig und nicht selten auch regelrecht zerrissen waren. In diesem Klima ist ein Sonnenschutz allerdings schlicht unverzichtbar. Fritz besorgte sich Stoffreste von den wenigen Mustern, dicke Nadeln, Zwirn und Stehleiter, und bald klapperten wir zu zweit die Straßen ab auf der Suche nach Markisen, deren Reparatur wir nach unserem Dafürhalten bewerkstelligen könnten. Wir boten den Geschäftsleuten und Wirten unsere Dienste an, unser Angebot wurde meist sehr gerne angenommen. Fritz, der einen Kopf größer war als ich, reparierte die Schäden innerhalb seiner Reichweite, ich stand auf der Stehleiter und bearbeitete alles, was darüber lag. Ich

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weiß nicht mehr, wie lange wir dieser Beschäftigung nachgingen, vermutlich so lange, bis es auf der Hauptstraße keine einzige zerfledderte Markise gab. Ich kann mich nur noch erinnern, dass wir dabei jede Menge Spaß hatten. Die Arbeit gefiel uns – und bot uns ein bescheidenes Auskommen. Irgendwann versuchte ich mich auch als Kellner. Dieser Job wurde mir von einem Mädchen vermittelt, mit dem ich damals zusammen war. Sie war von Beruf Serviererin und verkaufte in diesem Lokal Zigaretten. Mein Intermezzo als Kellner dauerte bloß zwei Tage. Man verlangte von mir, dass ich die Teller nicht einzeln, sondern gleich drei auf einmal trage, auf einer Hand gefächert, eben wie ein echter Kellner. So etwas wollte ich nicht einmal versuchen, und nur deshalb ging auch nichts kaputt. Schon am nächsten Tag haben wir uns einvernehmlich getrennt (der Wirt und ich, das Mädchen habe ich behalten). Hans Vogel tüftelte für mich zwei meiner nachfolgenden Beschäftigungen aus. Nach seinem Entwurf ließ er eine Vorrichtung aus zwei gelochten Metallplatten mit Scharnieren bauen. Auf einer der Platten war ein Holzhebel befestigt und das Ganze wurde in einen Wassereimer gehängt. Zwischen die beiden Platten legte man einen nassen Wischmopp, drückte sie mit dem Hebel zusammen, und der Mopp war so gut wie trocken. Das Gerät hatte den Vorteil, dass die Hände beim Wischen nicht nass wurden, und außerdem konnte man damit wesentlich schneller arbeiten als auf herkömmliche Art und Weise. (Ein beinahe identisches Gerät, allerdings in einer weitaus eleganteren Ausführung als unsere damalige „Maschine“, findet man heutzutage in vielen Kaufhäusern und Versandkatalogen.) Da damals so gut wie alle Böden in den Geschäften, Wirtshäusern und Kaffeehäusern komplett gefliest waren, pilgerte ich jeden Tag vor den Öffnungszeiten von einem Lokal zum anderen und wischte mit meiner neuartigen Technik sämtliche Böden auf. Es ging flott voran, und meine Hände blieben dabei immer trocken und sauber. Später hat sich Hans Vogel etwas anderes einfallen lassen: Er kaufte vom britischen Heer ausrangierte 20-Liter-Kanister, befüllte sie mit Dieselöl und verkaufte sie an diverse Geschäfte und Haushalte. Ich musste die Löcher in den Kanistern zulöten und – was schlimmer war – die vollen Kanister an die Kunden ausliefern.

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Heute kann ich nicht mehr sagen, wie lange ich solche Jobs gemacht habe – es war eine bunte Palette von Gelegenheitsarbeiten. Jedenfalls denke ich, dass ich davon leben und ein einigermaßen sorgloses Leben führen konnte. Bis ich eine feste Arbeit fand, die mir obendrein richtig Spaß machte, von dem regelmäßigen Lohn ganz abgesehen. Ich wurde Barmann. Im Nahen Osten – in Palästina, Ägypten und vermutlich auch anderswo – betrieb die britische Firma Spinney’s in den zahlreichen großen wie kleinen Garnisonen der paramilitärisch organisierten Mandatspolizei eine dichte Kantinenkette. In den kleineren Garnisonen war es eine Art Imbissstube mit Getränken, während in den größeren ein richtiger Restaurantbetrieb herrschte. Meine Mutter arbeitete in einer großen Kantine in Jerusalem als Köchin. Als man dort eines Tages den Barmann wegen Betrügereien fristlos entlassen musste, stellte man auf Vorschlag meiner Mutter mich ein. Mein Englisch war gut, und die von mir polierten Trinkgläser glänzten tadellos. Alles andere lernte ich nach und nach „by doing“, also in der Praxis. Die Polizisten hatten keine besonderen Ansprüche: verschiedene Sorten Bier, Whisky, mal mit Soda, mal mit Wasser oder pur, Gin mit der oder jener Zutat. Mit der Zeit konnte ich auch diverse Cocktails mixen und fand an meiner Arbeit Gefallen. Kunden spendierten mir oft einen Drink, aber sehr bald kam ich darauf, dass ich sehr vorsichtig sein musste, wenn ich nicht zum Alkoholiker werden wollte. Offensichtlich vertraute die Firma auf meine Fähigkeiten, denn als eines Tages der Chef einer kleinen Zweigstelle (wieder wegen unlauteren Machenschaften) gefeuert wurde, betraute man mich vorübergehend mit der Filialleitung. Nachdem ein neuer Chef gefunden wurde, bekam ich eine schöne Belohnung und kehrte allzu gerne hinter meine Bartheke in Jerusalem zurück. Da ahnte ich noch nicht, was mich dort erwartete.

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Hollywood in Jerusalem Der Leiter der Jerusalemer Kantine war ein gewisser Fritz Volkmar, ein Deutscher, der mit einer Jüdin verheiratet und mit ihr und einer kleinen Tochter nach Palästina emigriert war. Er war ein sympathischer Mensch, und wir kamen gut miteinander aus. Die Bar und die Theke waren meine Domäne, Hauptsache, die Rechnungen stimmten und die Kunden waren zufrieden. In dieser Kantine arbeiteten auch Volkmars Frau und ihre Cousine, im Grunde lief es wie ein großes Familienunternehmen. Wie „familiär“, das zeigte sich allerdings erst hinterher. Eines Morgens ging ich wie immer in die Küche, um zu frühstücken, und da erfuhr ich, dass es diesmal gar kein Frühstück gab. Die Köchin (meine Mutter) und Fritz Volkmar hatten in der Nacht heimlich ihre Koffer gepackt und zusammen das Weite gesucht. Sie hatten sich von niemandem verabschiedet, niemand wusste, wohin sie entschwanden. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf diese Hiobsbotschaft wirklich reagiert habe, wahrscheinlich fiel ich zunächst aus allen Wolken. Jedenfalls kam niemand auf die Idee, dass ich von dieser Affäre gewusst haben könnte. Ich musste Hans Vogel, der bis zu diesem Zeitpunkt immer noch mit meiner Mutter zusammen wohnte, besuchen und mir sein Gejammer anhören. Das Kantinenleben ging weiter und meines ebenso. Lange Zeit wussten wir überhaupt nicht, wohin das Pärchen verschwunden war. Solange ich in Jerusalem lebte, blieb ich mit Hans Vogel in Verbindung, als ich zu Armee ging, riss der Kontakt aber ab, und danach hörte ich nur noch von seinem Tod. Wie es der Zufall wollte, veranstaltete ein Cousin meiner Mutter am Abend nach ihrem Verschwinden eine kleine Party, zu der auch einige tschechische Offiziere kamen. Nur wenige Wochen später hätte ich seine Einladung ausschlagen müssen – Cousin oder nicht, als einfacher Soldat hätte ich bei einer Offiziersfeier nichts zu suchen gehabt. Doch so weit war es diesmal noch nicht. Bemüht um Originalität, brachte ich statt des obligatorischen Weins eine Flasche Arrak mit. Das ist ein Anisschnaps, vergleichbar mit griechischem Ouzo oder mit dem französischen Pernod. Diese Getränke werden mit Wasser gemischt, wonach sich der ursprünglich klare Schnaps milchig weiß färbt. Doch man misstraute dem Gesöff, niemand wollte es trinken. Mich selbst hat

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aber just diese Verfärbung unglaublich fasziniert, sodass ich die ganze Flasche nach und nach im Alleingang geleert habe. Am Ende war ich so betrunken wie noch nie zuvor – und auch nicht danach. Ich sang aus voller Kehle und randalierte auf der Straße, bis ich schließlich von zwei britischen Polizisten aufgegriffen wurde. Sie zeigten sich nachsichtig und wollten mich lediglich nach Hause geleiten. Auf die Frage, wo ich hin müsse, lallte ich: „To the police station!“ (zur Polizeistation). Sie meinten lachend, dass dies doch nicht unbedingt notwendig sei, sie wollten mich nur heil heimbringen. Ich aber bestand darauf, dass ich zur Polizeistation will. Sie brachten mich also hin, und zu ihrer Überraschung meinte der herbeigerufene Wachdienst: „Den Kerl könnt ihr ruhig da lassen, er wohnt ja hier.“ Natürlich sprach sich mein Rausch in der tschechischen Kolonie herum, was mich nicht sonderlich juckte. Es ärgerte mich aber, dass es allgemein als eine Reaktion auf die Tat meiner Mutter gedeutet wurde. Vermutlich hatte ich damals eine milde Form von Alkoholvergiftung, noch Jahre später wurde mir bei Anisgeruch speiübel. Wie ich Mutters jähes Verschwinden innerlich verarbeitet habe, das weiß ich wirklich nicht mehr. Ich nehme an, dass ich das Ganze eher von der humorvollen Seite sah – wie in einer Operette, nur ohne Musik – und dies in meiner eigenen Familie! Bald meldete sich meine Mutter, und es stellte sich heraus, dass die Firma Spinney’s die Moralprinzipien sehr großzügig auslegte: Sie und Fritz kamen in einer nicht minder großen Kantine unter, bei der Raffinerie in Haifa. Sie bekamen sogar die gleichen Posten, die sie schon zuvor in Jerusalem bekleideten. Ich fand keine Gelegenheit mehr, sie dort zu besuchen, und so sahen wir uns erst nach langer Zeit wieder, als Mutter mit Fritz, den sie inzwischen geheiratet hatte, nach Prag zurückkehrte. Sie brachten Reiseschecks im Wert von einigen Hundert Pfund mit und als Kapitalinvestition auch eine tolle Fotokamera Marke Leica. Ich hatte schließlich die Aufgabe, die Leica an den Meistbietenden zu verkaufen. Bevor sich ein Käufer fand, benutzte ich den Fotoapparat selbst und machte damit sehr viele, gute Bilder. Die Qualität dieser Fotos rechtfertigte den hohen Preis der Leica. Mein Herz blutete, als ich die Kamera für gutes Geld an den Mann brachte.

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Eigentlich war es von den beiden ein waghalsiges Abenteuer: Meine Mutter konnte aufgrund ihres Alters nicht mehr ihrem Beruf nachgehen, und Fritz hatte im Grunde nichts Brauchbares gelernt, um in der neuen Umgebung Geld verdienen zu können. Noch dazu sprach er kein Wort Tschechisch. In der Tschechoslowakei der Nachkriegsjahre herrschte allerdings Vollbeschäftigung, und dies nicht nur infolge des Wiederaufbaus, sondern als Grundsatz der kommunistischen Beschäftigungspolitik, die keine Arbeitslosigkeit dulden und jeden Bürger arbeiten sehen wollte, koste es, was es wolle. Und so zog der Gentleman Fritz Volkmar die Arbeitermontur an und wurde von nun an Arbeiter in der namhaften Maschinenfabrik CKD. Mit deutscher Gründlichkeit erlernte Fritz das Handwerk so rasch, dass ihm der Ehrentitel „Verdienter Arbeiter“ verliehen wurde. Darüber hat er sich aufrichtig gefreut. Doch nicht einmal in der Fabrik verleugnete Fritz den Gentleman in sich. Sein Arbeitsgewand musste stets peinlich sauber und akkurat gebügelt sein. Als ich begriffen habe, wie grundlegend er dafür seinen bisherigen Lebensstil ändern musste, wurde mir auch klar, weshalb er auf diese Auszeichnung völlig zu Recht stolz war. Die beiden lebten in Prag bis 1965 und haben dann aus mehreren Gründen beschlossen, wieder nach Israel auszuwandern. Sie ließen sich bei meinem Bruder Gerti nieder. Danach sah ich sie leider nie mehr. Schon bald darauf, im Jahr 1967, starb meine Mutter, Fritz kehrte zu seiner Familie nach Deutschland zurück, und unser Kontakt riss ab. Bis dahin war mein Verhältnis zu Fritz sehr freundschaftlich, ich mochte ihn schon deshalb, weil er sich – anders als einst Hans Vogel – niemals als Familienoberhaupt aufspielen wollte. *** Inzwischen hatte ich mich als Barmann gut bewährt und wurde von der Firma Spiney’s in die Bar am Militärflughafen Lydda (heute der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv) versetzt. Für mich war es eigentlich eine erhebliche Beförderung, zu meiner Kundschaft zählten jetzt die Piloten und das Personal der britischen Luftwaffe. Ich freundete mich mit einigen Piloten an, insbesondere mit einem gebürtigen Armenier. Eines Tages lud er mich zu einem Übungsflug im legendären

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Spitfire ein und wettete mit mir, dass mir beim Fliegen speiübel werden würde. Mit mir an Bord führte er in der Luft allerhand halsbrecherische Manöver aus, und – wirklich wahr! – ich habe die Wette gewonnen. Der Kantinenleiter war ein polnischer Jude, er arbeitete dort zusammen mit seiner Frau. Und weil wir uns alle sehr gut verstanden, war es auch hier quasi ein Familienunternehmen, in dem ich mich ausgesprochen wohl gefühlt habe. Der Oberkellner war ein zwei Meter langer schwarzer Nubier, der stets ein langes weißes Gewand und auf dem Kopf einen roten Fez trug. Er hatte einen eigenwilligen Sinn für Humor und kommentierte auf seine schräge Weise so manchen Kundenwunsch. Wir beide passten gut zusammen. Jedes Mal, wenn unser Chef mit seiner Frau in Tel Aviv oder in Jerusalem zu tun hatte, was übrigens öfter vorkam, überließ er uns beiden die Herrschaft über die Kantine. Des Weiteren machte ich Bekanntschaft mit einem arabischen Fahrer, der mit seinem Traktor riesige Wasserzisternen zog. Das Lenken des Traktors erforderte ein besonderes Geschick. Bei unruhiger Fahrt würden die vielen Hektoliter Wasser in der Zisterne in Bewegung geraten, wodurch die Zisterne leicht umkippen und das Zugfahrzeug mitreißen könnte. Am Anfang fluchte der Araber wild und wollte mich vom Lenkrad jagen, aber mit der Zeit brachte ich das Kunststück doch noch fertig, sodass sich während der Fahrt das Wasser kaum mehr rührte. Noch ein interessantes Erlebnis fällt mir ein: Eines Tages kam Soraya, die wunderschöne Gattin des persischen Schah Reza Pahlavi, zu einem inoffiziellen Besuch nach Palästina. Keine Ahnung, wer oder was dahinter steckte, jedenfalls galt dieser Besuch als streng geheim, und daher fanden sich weder Journalisten noch Fotografen vor Ort. Meine Schwäche fürs Fotografieren war hinlänglich bekannt, und daher wurde ich gebeten, einige Fotos von Soraya zu schießen. Ich sah sie damals aus unmittelbarer Nähe, sie war zweifelsohne die schönste Frau, die ich bis dahin zu sehen bekommen hatte. Leider gingen nach meiner zweiten Emigration diese Fotos verloren, nur noch ein einziges davon ist mir geblieben. Meine Arbeit auf dem Flughafen und bei der Firma Spinney’s endete, als ich mich bei der tschechoslowakischen Exilarmee meldete und einrückte, was ich schon seit geraumer Zeit herbeigesehnt hatte.

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In die Armee Für gewöhnlich werden in Kriegszeiten alle jungen Männer einberufen, die nicht gerade schwer körperbehindert sind. Dem Militärdienst zu entkommen, ist in der Regel kaum möglich. Nicht so bei mir – um der Armee beitreten zu können, musste ich sogar einige Hürden überwinden und gleich mehrere Anläufe nehmen – trotz des Krieges und obwohl ich kein Invalide war. Für mich sollte die Emigration keineswegs zum Dauerzustand werden, ich sah darin nicht mein Lebensziel, sondern lediglich ein durch widrige Umstände erzwungenes Exil, sozusagen einen temporären Ausweg aus einer Notsituation. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass Deutschland diesen Krieg verlieren musste, und dazu wollte ich höchstpersönlich einen bescheidenen Beitrag leisten. Und nach dem Krieg wollte ich unbedingt wieder heimkehren nach Prag. Mein erster Versuch scheiterte bereits in der Tschechoslowakei im Jahr 1938: Die Mobilmachung wurde ausgerufen, ich meldete mich und wurde abgewiesen. Mit einer durchaus objektiven Begründung: Damals war ich noch nicht einmal 18 Jahre alt. Meinen zweiten Anlauf, mich an einem bewaffneten Befreiungskampf gegen die Deutschen zu beteiligen, unternahm ich knapp vor dem Kriegsausbruch. Auf dem Schiff Frossula traf sich die Jugend zum Plaudern und zum Singen. Die meisten dieser jungen Leute waren Zionisten, die hebräische Lieder sangen, diverse Vorträge hielten und sich auf ihren Daueraufenthalt in Palästina vorbereiteten. Die kleinere Gruppe waren Burschen wie ich, aber auch einige Nichtjuden, die ihren Aufenthalt in Palästina nur als eine Übergangslösung sahen und sich bei der erstbesten Gelegenheit einem bewaffneten Widerstand anschließen wollten. Wir sangen tschechische und slowakische Lieder, mit der Zeit lernten wir auch einige hebräische Lieder dazu. Zwischen den beiden Gruppierungen gab es weder Spannungen noch irgendwelche Feindseligkeiten. Während unser Schiff im Beiruter Hafen vor Anker lag, schlossen sich 30, 40 junge Männer zu einer Gruppe zusammen, auch ich war dabei. Wir gingen davon aus, dass der Krieg in absehbarer Zeit ausbrechen würde, und fassten den Entschluss, in die französische Fremden-

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legion einzutreten. Die französische Seite zeigte sich sogar gesprächsbereit, ein französischer Offizier kam an Bord unseres Schiffes, und wir trugen ihm unser Anliegen vor. Unseren beabsichtigten Eintritt in die Fremdenlegion knüpften wir allerdings an die Bedingung, dass wir als eine Art tschechischer Einheit beisammen bleiben. Der Franzose lehnte diesen Vorschlag entschieden ab mit dem Hinweis, dass so etwas auf gar keinen Fall infrage käme, und machte uns in aller Deutlichkeit klar, wer in der Fremdenlegion das alleinige Sagen hat. Daraufhin haben wir auf die Fremdenlegion dankend verzichtet, und damit scheiterte auch dieser Versuch, ein Kämpfer zu werden. In Sarafant angekommen, wurden die meisten Lagerinsassen von einer Krankheit heimgesucht, die man „Gelbsucht“ nannte, im Volksmund „Papadatschi“. Tatsächlich handelte sich um das Pappataci-Fieber, eine Virose, die durch Sandmücken übertragen wird und heute im Mittelmeerraum noch verbreitet ist. Die Symptome sind ein extrem hohes Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, aber schon nach einigen Tagen klingt die Krankheit ohne bleibende Schäden wieder ab. Der Verlauf unserer Erkrankung war heftig, manche konnten die Latrinen nur noch kriechend auf allen Vieren erreichen. Und so sahen wir auch aus: gelblichfahle Haut, ausgezehrte, gekrümmte Jammergestalten. Einige Tage nach unserer Ankunft in Sarafant kamen Offiziere der tschechoslowakischen Militärmission in Jerusalem ins Lager, sie stellten einen Tisch auf und machten sich daran, Freiwillige für die tschechoslowakische Exilarmee anzuwerben, die sich gerade in Frankreich formierte. Bei Ansicht unserer Trauergestalten winkten sie nur betrübt ab. Unsere Beteuerungen, in Kürze wieder auf den Beinen zu sein, halfen da nicht. Die „kurze Zeit“ wäre dennoch viel zu lang gewesen, das Schiff nach Frankreich sollte schon zwei Tage später ablegen. Und so wurde aus meinem Militärdienst auch diesmal nichts. Für mich bedeutete es wieder einmal eine verpasste Gelegenheit, möglicherweise war es aber eine glückliche Fügung des Schicksals. Die angeworbenen Freiwilligen kamen zu einer Truppe, die genauso miserabel ausgerüstet und bewaffnet war wie die meisten französischen Truppen – hoffnungslos veraltete Gewehre, falsche Munition und so weiter und so fort. Manche der damaligen Soldaten haben nicht einmal ihre ersten Kriegseinsätze überlebt. Einige Jahrzehnte später, nach der

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Wende, traf ich in Prag zwei Mitreisende von der Frossula, die mit dem ersten Transport in die Normandie kamen. Sie berichteten mir vom traurigen Schicksal ihrer Kameraden. Die tschechische Einheit wurde aufgelöst, und sie selbst überlebten den Krieg in Frankreich auf dem Land in der Illegalität. Ich blieb also weiterhin Zivilist und hielt mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Der britischen Armee beitreten wollte ich nicht, wohl wissend, dass dort Juden mit palästinischem Ausweis nur unbewaffneten Sonderhilfstruppen zugeteilt wurden, und just dort wollte ich doch nicht landen. Erst als die Royal Air Force ihr Mobilisierungsbüro aufmachte, sah ich endlich meine Chance gekommen. Als Brillenträger dachte ich zwar nicht daran, mich als Pilot zu bewerben, hoffte aber auf einen Job beim Bodenpersonal, wo meine Kurzsichtigkeit kein Hindernis sein sollte, umso mehr, als bei der Luftwaffe ein ganzes Heer von Hilfspersonal gebraucht wurde. Ich meldete mich prompt und füllte die entsprechenden Fragebögen aus. Meine Englischkenntnisse kamen mir beim Bewerbungsgespräch zugute – und ich scheiterte, als man mich nach der Dioptrien-Zahl meiner Brille fragte. So ging auch dieser Versuch in die Binsen. Mitte des Jahres 1940 rief die tschechoslowakische Exilarmee die nächste Mobilisierung aus, ich meldete mich erneut – und siehe da: Ich wurde endlich aufgenommen. Das bedeutete noch lange nicht, dass ich den Militärdienst sogleich antreten durfte. Meine Einberufung erfolgte erst ein Jahr später. Lange Zeit dachte ich, dass es in der Einheit im Nahen Osten bereits zu viele Juden geben müsse, eben weil wir so lange nicht einberufen wurden. Erst nach dem Krieg habe ich erfahren, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Angeblich existierte unter den Briten und Arabern eine Vereinbarung, mit der ein bestimmtes Jahreskontingent an Juden aus Palästina innerhalb der britischen Streitkräfte im Nahen Osten festgelegt wurde. Da das tschechoslowakische Bataillon unter der britischen Führung stand, setzten die Briten (wieder angeblich) diese Quotenregelung durch. Inwiefern es tatsächlich stimmte, das weiß ich nicht. Immerhin wurde ich Soldat im tschechoslowakischen Infanterieregiment – Ost unter der Führung von General (damals noch Oberstleutnant) Karel Klapálek.

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An die erste Zeit meiner Ausbildung kann ich mich nur in groben Zügen erinnern; der übliche Routinedrill eben wie: „Alles hört auf mein Kommando!“, „Habt acht!“, „Stillgestanden!“, „Rechts/links um, im Gleichschritt marsch!“, „Kompanie halt!“ Wir lernten den Umgang mit Infanteriewaffen (Gewehr, Maschinengewehr, Minenwerfer), rasches Zerlegen und Zusammenbauen der Waffen, machten Schießübungen und was weiß ich, was sonst noch.

Abb. 3: Als junger Soldat.

Von den damaligen Kameraden blieb mir vor allem der Dichter František Gottlieb in Erinnerung. Da es sich um eine Freiwilligenarmee handelte, galt für uns nicht das Mobilisierungsgesetz, das heißt: Wer nicht eingerückt war, der hatte auch mit keinen rechtlichen Konsequenzen nach

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dem Krieg zu rechnen. (Es war eine Ironie des Schicksals, dass vielen einstigen Kämpfern an der Westfront ausgerechnet diese Teilnahme am bewaffneten Widerstand später in der Tschechoslowakei der fünfziger Jahre zum Verhängnis wurde.) Gleichzeitig bedeutete es aber, wer sich zum Heer meldete und einigermaßen „tauglich“ war, der wurde auch einberufen. So kam ein kunterbunter Haufen aller Altersklassen zusammen: einige ehemalige Rekruten, einige Reservisten, junge Burschen wie ich, die vor dem Kriegsausbruch das Wehrdienstalter noch nicht erreicht hatten, aber auch ältere Männer, die in Friedenszeiten aus diesem oder jenem Grund keinen Wehrdienst abgeleistet hatten. Gerade zu den Älteren zählte auch František Gottlieb, Jahrgang 1903, damals ein etwa 40-jähriger Herr unter uns 20- bis 25-jährigen Rekruten. Er war das krasse Gegenteil von einem Soldaten, ausnehmend freundlich und zuvorkommend, auch gegenüber seinen manchmal allzu derben Kameraden, die ihn wegen seiner ausgesprochen unmilitärischen Haltung und seinem Auftreten ständig aufzogen, und ebenso gegenüber den Unteroffizieren, die ihn wegen seiner Unfähigkeit, die Befehle mit militärischem Schneid zu befolgen, vor der ganzen Mannschaft lächerlich machten. Er nahm ihnen den Spott nicht krumm, vielmehr quittierte er alles mit einem Lächeln. Ich teilte mit ihm ein Zelt, und mit der Zeit kamen wir uns näher. Seine „Ausrüstung“ bestand vor allem aus Büchern (wie denn auch anders), und er gab sie mir zum Lesen. Vor allem war es Lyrik, und da muss ich zu meiner Schande zugeben, dass ich daran kaum Gefallen fand. Doch auch diese Erinnerungen sind verschwommen. Genau weiß ich nur noch eines: Ich fand ihn sympathisch und fühlte jedes Mal mit, wenn er sich arg überwinden musste, um die physischen Belastungen der Ausbildung zu bewältigen. Damals wusste ich noch nicht, wie bedeutend Gottliebs Werk für die tschechische Dichtkunst ist, und hatte auch keine Ahnung, dass sein Werk im Lexikon der tschechischen Literatur gleich mehrere Seiten füllt. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Gottlieb die komplette Ausbildung zusammen mit uns absolviert und blieb in unserem Regiment bis zu unserer Verlegung nach Großbritannien. Seine Erlebnisse und Erfahrungen aus dieser Zeit hat er später literarisch verarbeitet. In England sahen die zuständigen Instanzen ein, dass seine Fähigkeiten anderweitig weitaus nützlicher wären, und so

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wurde Gottlieb schließlich dem Außenminister Jan Masaryk zugeteilt. Er blieb im Außerministerium auch nach der Rückkehr der Londoner Exilregierung in die Heimat. In weiterer Folge möchte ich nur nüchtern schildern, wie ich mit meinem Bataillon den Krieg erlebte. Die erste Phase bestand vorwiegend aus Truppenverschiebungen, deren Sinn und Zweck uns verborgen blieb. Ich denke, dass man uns auf diese Weise lediglich zu beschäftigen suchte, rein um etwaiges Sinken der Kampfmoral zu unterbinden. Selbstverständlich gab es auch Truppenübungen, die blutigen Kampfeinsätze lagen aber noch in weiter Ferne. Unser Bataillon war inzwischen von seinem ersten Kampfeinsatz in Tobruk zurück und wurde nun um einige Hundert Freiwillige jüdischer Herkunft aufgestockt. Damit bekam es den Charakter eines selbständigen Regiments, eben weil es kein Bestandteil einer größeren Streitkraft war – wie zum Beispiel einer Brigade oder einer Armee. Unsere Mutterbrigade war in England stationiert. Das Regiment wurde nach einer Umbildung offiziell zum Tschechoslowakischen Leichten Flugabwehrregiment 200 – Ost. Nach erfolgter Ausbildung wurden wir nach Tobruk abkommandiert, manche von uns bereits zum zweiten Mal. Die Truppenverschiebung verlief mühsam – mit Zug, per Lastwagen und mit Schiff. Am Zielort angekommen, nahmen wir die Feuerstellung ein. Wir stellten unsere Flugabwehrkanonen auf und warteten auf den ersten Alarm. Dann musste man innerhalb von wenigen Sekunden raus, in Stellung gehen und warten, bis die Flugzeuge in Sichtweite waren und der Befehl „Feuer!“ erteilt wurde. Vier Kanonen mit je zwei Richtschützen wurden zu einer Kanonenbatterie zusammengestellt, die ein einziges Flugzeug unter Beschuss nahm. Es bedeutete, dass sämtliche abgefeuerten Geschosse zusammen einen sogenannten Regenschirm bildeten. Dies war deshalb notwendig, weil es bei dem damaligen Stand der Technik höchst unwahrscheinlich war, dass eine einzige Flak tatsächlich ein Flugzeug treffen und zum Absturz bringen würde. Eine genauere Einschätzung der Entfernung war kaum möglich, da man schon beim Zielen die Geschwindigkeit des Geschützes wie auch die inzwischen zurückgelegte Flugbahn des Zielobjektes hätte berücksichtigen müssen. Das Ganze war ziemlich kompliziert. Erst später bekamen wir neue automatisierte Zielsysteme,

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bei denen das Geschütz direkt auf das Zielobjekt ausgerichtet wurde, wobei das System den korrekten Zielpunkt errechnete und mithilfe eines Zeigers anzeigte. Ich möchte nicht raten, wie viele Geschütze man abfeuern musste, um ein Flugzeug wirklich treffen zu können ... Die Deutschen wehrten sich natürlich, und im Gegenzug warfen sie ihre Bomben auf unsere Stellungen ab. Während des Einsatzes war es natürlich undenkbar, die Flak zu verlassen, davonzurennen und irgendwo einen sicheren Unterschlupf zu suchen – so blieb uns nur zu hoffen, dass die Treffsicherheit der deutschen Bomben genauso miserabel ist wie die unserer Flaks. Zum Glück war dem auch so. Die schlimmste Verletzung, die ich während des ganzen Krieges erlitten habe, zog ich mir selbst zu, und das gerade bei der Luftabwehr. Bei dem Höllenlärm war der Ohrenschutz ein absolutes Muss. Als eines Tages wieder der Alarm losging, habe ich in der Eile ganz vergessen, meinen Ohrenschutz aufzusetzen. Beim Kampfeinsatz explodierten mir dann die Geschosse die ganze Zeit in den Ohren. Die Folge davon waren unerträgliche Kopfschmerzen, eine Zeit lang war ich sogar vollkommen taub. Später renkte sich das Problem wieder einigermaßen ein, aber mein Hörnerv ist seither unwiederbringlich beschädigt. Mein Dienst bei den Flaks endete früher, als es bei den meisten meiner Kameraden der Fall war. Eines Tages traten wir zum Morgenrapport an, und der diensthabende Offizier forderte alle Männer mit Abiturabschluss auf, ihre Hand zu heben. Neben mir stand mein alter Schulkamerad Hans Schneider, der mit mir schon das Abitur gemacht hatte, mit mir zusammen zur Armee ging und mit dem mich eine langjährige Freundschaft verband. Er kniff mich und zischte leise: „Heb ja nicht die Hand, sonst wirst du zum Latrinenputzen verdonnert!“ Ich meldete mich trotzdem. Der Kommandant ließ uns hervortreten und sagte: „Packt eure Sachen, ihr kommt nach Haifa zu einer Offiziersausbildung!“ Und so habe ich mich von Hans Schneider und von Tobruk verabschiedet. Eine Offiziersausbildung in Friedenszeiten dauerte zwei Jahre, in Kriegs­zeiten wurde sie auf ein halbes Jahr gekürzt. Nach diesen sechs Monaten wurden wir Offiziersanwärter, was bedeutete, dass auf unseren Schulterklappen nebst den „Keksen“, dem Offiziersrangabzeichen, beiderseitig noch ein silberner Streifen angebracht wurde. Das sah im-

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posant aus und beeindruckte insbesondere die Soldaten der alliierten Armeen, denen die richtige Bedeutung unserer „Silbertressen“ nicht bekannt war und die deshalb einen so „dekorierten“ Aspiranten für einen hohen Offizier hielten­.

Abb. 4: In der Offiziersschule in Haifa.

Nach der abgeschlossenen Ausbildung bescherte mir dieses verwirrende Rangabzeichen einige amüsante Erlebnisse. Eines Tages, wir waren mittlerweile wieder zurück bei unserer Einheit, unternahm ich mit zwei weiteren Offiziersanwärtern einen Ausflug zu einer nahe gelegenen Burg. Vor der Burg waren Wachsoldaten postiert. Als wir näher kamen, rief der Wachposten etwas, prompt schwärmten aus der Wachstube einige Soldaten aus und schulterten beim Laufen ihre Gewehre. Wir nahmen an, dass man uns mit hohen Offizieren einer alliierten Armee verwechselte und uns eine ordnungsgemäße Ehrenbezeugung zollen wollte. Dann merkte ich aber, dass wir plötzlich nur zu zweit dastanden – mein Kamerad Josef Novak und ich. Den Namen unseres dritten Kameraden will ich aus verständlichem Grund nicht preisgeben. Der Kerl bekam es beim Anblick der ausschwärmenden Soldaten mit der Angst zu tun und machte sich flott aus dem Staub. Wir beide ließen uns nichts anmerken, salutierten und spazierten weiter, in die Burg hinein.

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Die Akteure der nächsten Episode waren diesmal ein bereits länger dienender Unterfeldwebel, der mir das Lenken gepanzerter Kettenfahrzeuge beibringen sollte, und ich als Aspirant. Wir fuhren auf einer Seitenstraße, ich sollte das Einbiegen in eine Hauptstraße üben. Nach einigen missglückten Anläufen blieben wir vor der Kreuzung stehen, eine ellenlange Kolonne der US-Armee zog gerade auf der Hauptstraße an uns vorbei. Auf den Schulterklappen eines Feldwebels der tschechoslowakischen Armee glänzten silberne Sterne, im Unterschied zu den goldenen Sternen eines Offiziers, der Unterfeldwebel hatte vier Sterne. Haargenau ein solches Abzeichen trug allerdings auch der ranghöchste General der US-Streitkräfte. Der Kommandant der ersten vorbeifahrenden amerikanischen Einheit bemerkte meinen Unterfeldwebel, brüllte etwas – worauf uns alle Soldaten vorschriftsmäßig grüßten. Wir salutierten und das Ganze wiederholte sich endlos, solange die ganze Kolonne an uns vorbeifuhr. Als die letzte US-Einheit endlich passiert hatte, habe ich es endlich geschafft, ordnungsgemäß in die Hauptstraße einzubiegen. Die Ausbildung in der Offiziersschule war im Grunde ein Vielfaches des üblichen Soldatendrills, sie war noch um einiges strenger, und zwar bis ins letzte Detail. Damals gab es kein so luxuriöses Schuhwerk wie beim heutigen Heer: Wir hatten schwere, mit Metall beschlagene Stiefel, die blank poliert werden mussten, nicht ein winziger Rest vom Dreck durfte da hängenbleiben, weder an den Nagelstiftköpfen noch an der Sohle. Die Offiziere kontrollierten das Schuhwerk mit der Spitze eines Taschenmessers. Einmal wurde mein Wochenendausgang gestrichen – wegen einiger Sandkörnchen, die an den Nagelköpfen meiner Schuhe hängen geblieben waren. Damals merkte ich, welche Auswirkungen eine Einschränkung der persönlichen Freiheit auf einen Menschen haben kann. Ich hatte in der Stadt eigentlich nichts zu tun – eine Freundin hatte ich zwar, aber im Grunde nur deshalb, weil ein waschechter Soldat ein Mädchen haben muss. Ich machte mir nicht besonders viel aus ihr und war auch nicht der Meinung, dass wir uns an jedem Wochenende unbedingt treffen müssten. Trotzdem konnte ich diese Unfreiheit nicht ertragen, sodass ich schließlich über den Zaun geklettert bin und klammheimlich die Kaserne verlassen habe und dabei ein enormes Risiko auf mich nahm: Für so etwas drohte eine weitaus höhere Strafe als

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bloß ein Ausgangsverbot für zwei Tage. Aber ich habe es einfach tun müssen ... Ich schlenderte ziellos durch die Stadt, habe nicht einmal nach „meinem“ Mädchen gesucht, und als der Abend angebrochen war, kehrte ich wieder in meine Kaserne zurück. Anderntags blieb ich dann schon freiwillig in der Kaserne. Ich wusste jetzt, dass ich – wenn auch verbotenerweise – die Kaserne verlassen könnte, wenn ich es nur wollte. Das reichte mir fürs Erste. Mein Freiheitstrieb war aber insgesamt so stark, dass ich es an diesem Samstag einfach riskieren musste. Es ging gut aus. Für mich war es immerhin eine derart intensive Erfahrung, dass ich es bis heute nicht vergessen habe. In der Offiziersschule gab es natürlich nicht nur Drill. Hinter der überaus harten Ausbildung steckte der Grundgedanke, dass ein Offizier mehr auszuhalten hat als ein einfacher Soldat. Es gab auch allerhand theoretische Schulungen, wir büffelten die Vorschriften, lernten Landkarten lesen – einfach alles, was ein Offizier kennen und beherrschen muss, auch Pistolenschießen. Wir mussten nicht nur unsere Muskeln stählen, sondern auch unsere grauen Zellen trainieren. Wie streng und mühevoll diese Ausbildung auch gewesen sein mag, alles in allem waren es eigentlich recht angenehme Zeiten. Ein halbes Jahr später folgten die Prüfungen, und danach kehrten wir, bereits als Offiziersanwärter, zu unseren Einheiten zurück. An meinem Dienstgrad änderte sich allerdings gar nichts, in die Schule ging ich als Gefreiter und als Gefreiter kam ich wieder raus, wenn auch als Aspirant. In der Exilarmee herrschte ein Überfluss an Offizieren, so mussten wir, die frischgebackenen Aspiranten, auf unsere Ernennung sehr lange warten. Bei mir war es erst so weit, als der Krieg zu Ende ging, und knapp vor meiner Heimkehr. Kaum dass ich wieder bei meiner Einheit war, brach unser Regiment nach England auf. Die 800 Männer sollten in ein 6.000-köpfiges Heer in Großbritannien eingegliedert werden. Ich selbst kam zu einer Einheit, die sich um die Liquidierung des verlassenen Militärlagers kümmern sollte. In Wirklichkeit bewachten wir verlassene Zelte und leere Lagerräume. Unsere Einheit wartete bereits auf die Einschiffung nach England. Unser Dienst war bequem: Wir schliefen lange und bewachten irgendwas, was ohnehin niemand haben wollte. Da das Kommando ei-

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nem Unteroffizier oblag, der zuvor in der Fremdenlegion gedient hatte, wo er sich gleich einige französische Gepflogenheiten zu eigen gemacht hatte, bestand unsere Verpflegung neben den üblichen Essensrationen vor allem aus Rotwein. Am Ende wurde das Militärlager von einem Hilfstrupp der britischen Armee komplett aufgelöst, und wir warteten nur noch auf den Abtransport zu unserem Regiment. Jeden Tag gingen wir zum Bahnhof in Jerusalem, und an jedem Tag bekamen wir dort das Gleiche zu hören: „Die Abfahrt wurde aufgeschoben, kein Zug verfügbar. Kommt morgen wieder.“ So ging es drei oder vier Tage lang. Schlussendlich kam unser Zug doch noch, wir konnten zu unserer Einheit stoßen und mit ihr an Bord der Queen Mary gehen. Die Queen Mary war das größte und luxuriöseste britische Schiff, zu jener Zeit zugleich das schnellste – sogar schneller als die deutschen U-Boote, und daher drohte keine Gefahr, versenkt zu werden. Trotzdem konnte man nicht den kürzesten Weg über das Mittelmeer einschlagen, da sich dort die deutschen U-Boote geradezu in Schwärmen tummelten. Bei der Umschiffung von Afrika bekam die Queen Mary in den kritischen Zonen einen Geleitschutz von Flugzeugen, die bei Gefahr den Kapitän rechtzeitig warnen konnten. Bei drohender Gefahr hätte die Queen Mary die Geschwindigkeit deutlich steigern und den deutschen U-Booten entkommen können. Selbstverständlich wurde vorher die komplette Prachtausstattung entfernt und das Schiff umgebaut für den Transport von zehntausenden Soldaten anstelle von einigen Hundert Elitepassagieren. Vom Luxus natürlich weit entfernt, doch wir hatten es einigermaßen bequem und vor allem sehr gutes Essen. Einige wenige Kameraden und ich konnten sogar beinahe luxuriös speisen, da wir – anders als gut 80 Prozent der Mitreisenden – nicht seekrank wurden. An jedem Tisch saßen 20 Mann, also wurden auch 20 Portionen ausgeteilt. Immer. Und wenn 18 von uns wegen ihrer Seekrankheit kaum etwas essen konnten, suchten sich die restlichen zwei alle Leckerbissen aus. Ich habe noch in bester Erinnerung, wie wir einmal je eine Dose Krebsfleisch gefasst haben. Wir Gesunden leerten jede Menge Dosen in unsere Blechschüssel, würzten das Ganze und löffelten es einfach so aus. Bei dem Platzmangel waren natürlich etwaige Militärübungen undenkbar, so lungerten wir die Tage auf dem Oberdeck herum, und mangels anderer Beschäftigung brachte

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ich es zur Perfektion in allen drei Spielvarianten von „Mariáš“, einem Kartenspiel, das man im weitesten Sinn mit Skat vergleichen kann. Wir waren rund sechs Wochen unterwegs, mit einem kurzen Zwischenstopp auf Madagaskar, wo unser Schiff im Hafen anlegte, wir aber nicht von Bord gehen durften. Einen etwas längeren Aufenthalt, und zwar drei Tage lang, gab es in Kapstadt. Dort konnten wir das Schiff tagsüber verlassen, um die Stadt zu besuchen. Man warnte uns, dass in Südafrika aufgrund von Apartheid eine strenge Rassentrennung herrsche, dass Farbige keine Lokale der Weißen besuchen dürften und manche Parkbänke nur für Farbige vorgesehen seien, auf die sich natürlich kein Weißer hinsetzen dürfe. Und so weiter und so fort. Die Offiziere forderten uns auf, diese Vorschriften strikt zu befolgen, ob es uns nun passte oder nicht, weil wir dagegen ohnehin nichts unternehmen könnten. Die weißen Einwohner Kapstadts schienen ein schlechtes Gewissen zu haben, weil das ganze britische Imperium Krieg führte, sie ausgenommen. Das dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb sie sich den Soldaten gegenüber überaus freundlich und großzügig zeigten. Wir wollten es erst nicht glauben, als man uns davon erzählte, aber vor Ort konnten wir uns selbst davon überzeugen. Wir waren in einem Lokal, und als wir die Zeche begleichen wollten, sagte der Kellner: „Ihre Rechnung haben schon die Herren dort bezahlt.“ Und „Dieherrendort“ lächelten uns freundlich zu. Einmal wurden zwei Kameraden und ich von wildfremden Menschen zum Essen eingeladen, zu ihnen nach Hause. Dabei blieb uns aber eine kleine Peinlichkeit nicht erspart: Unsere Gastgeber machten uns sofort darauf aufmerksam, dass sie strenggläubige Juden seien und dementsprechend Wert auf eine strikte Trennung von fleischigen und milchigen Speisen legten. Für Milch und Milchprodukte gab es anderes Geschirr und Besteck als für Fleisch und Fleischprodukte, und man zeigte uns gleich, wofür welches Besteck zu verwenden sei. Wir nahmen es zur Kenntnis und passten auf, dass wir ja nicht das falsche Besteck in die Hand nehmen. Bis die Eier auf den Tisch kamen. Was nun? Haben die Eier was mit der Milch gemeinsam, oder sind sie eher „fleischig“? Ziemlich verunsichert saßen wir stumm da und warteten darauf, was unsere Gastgeber machen. Sie bemerkten unsere Verlegenheit und

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meinten lächelnd: „Die Eier sind neutral, man kann dafür jedes Besteck nehmen.“ (Ein wertvoller Tipp fürs Leben!) Wir verbrachten drei interessante Tage im wunderschönen Kapstadt. Nach sechs Wochen Schifffahrt legten wir in Liverpool an, und von dort ging es weiter in den südlichen Teil Englands, zu unserer tschechoslowakischen Brigade. Diesmal wurde ich zu Panzerabwehrkanonen eingeteilt, vermutlich aufgrund meiner vorherigen Erfahrung mit den Flaks. Mangels Feinden vor Ort verbrachten wir den Krieg auf englischem Boden relativ ruhig. Die Deutschen warfen keine Bomben mehr ab, und Hitlers „Wunderwaffen“ V1 und V2 befanden sich erst in der Testphase. So zogen wir die ganze Zeit um, wiederholten Truppen- und hin und wieder auch Schießübungen. Wir von der Panzerabwehr hatten auch scharfe Munition zu verwenden. Dafür mussten wir quer durch Schottland bis zur Westküste fahren, zum offenen Meer, wo man scharf schießen konnte, ohne dabei etwas oder jemanden zu gefährden. Und nach erfolgten Schießübungen fuhren wir wieder retour. So lernten wir Schottland und England kennen, auch die Engländerinnen, und ich muss zugeben, dass wir eigentlich ein recht lockeres und sicheres Leben führten. Eine Weile hatte ich ebenfalls eine englische Freundin. Sie war beim Auxiliary Territorial Service (ATS). Die ATS waren weibliche Hilfstruppen der britischen Armee, die nicht in Kampfhandlungen einbezogen wurden. Zu meiner nächsten Geschichte muss ich Folgendes vorausschicken: Die meisten Soldaten unseres Regiments sprachen kaum englisch, trotzdem hatten sie englische Freundinnen, und da ging das Gerücht um, dass einige arme Teufel eine Frage, die sie gar nicht richtig verstanden haben, schlicht mit „Yes!“ beantworteten – und schon waren sie verheiratet. Keine Ahnung, ob es tatsächlich vorgekommen ist, jedenfalls haben es alle geglaubt. Mein ATS-Mädchen war aus gutem Hause. Eines Tages lud sie mich zum Tee ein, und bei der Gelegenheit stellte sie mich gleich ihren Eltern vor. Das Haus der Familie war sehr hübsch, ich saß mit ihr unten vor dem Kamin, wir tranken Tee und unterhielten uns. Plötzlich ging die Tür auf, im Türrahmen stand ihr Vater und winkte mich heraus. In diesem Moment blieb mir die Luft weg, ich dachte nur noch: „Jetzt

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kommt’s! Jetzt wird er mich nach meinen Absichten fragen ...“ Der Herr des Hauses deutete aber auf eine der Türen oberhalb der Treppe und meinte: „Für den Fall, dass Sie austreten müssen, die Toilette ist die Tür rechts.“ Mit Dank und Erleichterung ging ich wieder ins Zimmer zurück. Ich möchte auch eine andere Geschichte mit einer jungen Frau nicht unerwähnt lassen, weil ich mich da in besonders gutem Licht zeigen konnte. Diesmal war es in Schottland. In einem Städtchen wurden regelmäßig Tanzabende veranstaltet. Die Tanzfläche war auf einem Podest, auf der einen Seite standen die Frauen, auf der anderen die Männer. Die Musik legte los, die Männer gingen auf die Frauen zu und suchten sich eine Tanzpartnerin aus. Nach einiger Zeit tanzte ich immer mit derselben Partnerin. Die Sympathie dürfte gegenseitig gewesen sein, ich ging immer so flott auf sie zu, dass mich keiner überholen konnte, und sie kam mir entgegen. Nach Ende des Tanzabends wurde ich gebeten, die junge Frau nach Hause zu geleiten. Als wir vor ihrem Haus standen und ich mich verabschieden wollte, bat sie mich herein. Just in diesem Augenblick kam mir in den Sinn, dass sie mit einem Soldaten verheiratet ist, der gerade weiß der Teufel an welcher Front kämpft – und ich würde mich mit seiner Frau im Bett vergnügen. Also gab ich ihr nur einen Kuss und ging heim. Während wir auf den „heißen“ Krieg warteten, konnten wir uns durch diverse Tätigkeiten ablenken. Eine Möglichkeit bot zum Beispiel ein Spezialkurs, sehr ähnlich der Ausbildung der „Kommandos“ (Sondereinsatzeinheiten). Die Latte für körperliche Anforderungen lag weitaus höher als bei normalen Soldaten, jedoch war es nicht gar so anstrengend wie bei den „echten Kommandos“. Nachdem ich so einen Kursus (angepasst an moderatere Hochleistungen) absolviert hatte, war ich durchaus imstande, vier Stockwerke hinaufzulaufen, ohne dabei atemlos zu werden. Darüber hinaus konnte man sich mit dem Umgang mit Sprengstoffen und sogenannten „boobytraps“ vertraut machen. Letztere waren kleinere Gebrauchsgegenstände wie Füllfedern, Feuerzeuge, kleine Schachteln und Ähnliches, allerdings versehen mit einer Zündkapsel und einer kleinen Sprengladung. Mit diesen Dingern konnte man den Gegner zwar nicht töten, aber immerhin schwer verletzen. (Ähnlich

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hinterhältiges Zeug ist heute immer noch in Verwendung, und das trotz weltweitem Verbot.) Vor allem wurden wir aber geschult in der Handhabung weitaus gefährlicherer Sprengstoffe und lernten deren Wirkung kennen. (Hätte Graf Stauffenberg damals unseren Kursus belegt, wäre sein Attentat auf Hitler möglicherweise nicht gescheitert.) Und man brachte uns bei, die Blindgänger zu entschärfen – ähnlich, wie es später auch James Bond machte. Es gab natürlich auch andere Beschäftigungen, mit denen wir uns die Zeit bis zum Kampfeinsatz vertreiben konnten, die noch attraktiver waren. Die Universität von Cambridge bot den Mitgliedern ausländischer Armeen Englischkurse an, bei denen man, je nach Vorkenntnissen, verschiedene Diplome erwerben konnte. Ich bekam eine Erlaubnis, studierte dann eine Zeit lang in Cambridge und schloss mein Studium mit zwei Diplomen ab. Mit diesen beiden Diplomen bin ich dazu berechtigt, die englische Sprache auf der ganzen Welt zu unterrichten. Dies nutzte mir später allerdings kaum. Unmittelbar nach meiner Rückkehr ins Zivilleben im Oktober 1945 habe ich mich zwar als Englischlehrer versucht, musste aber gleich feststellen, dass Pädagogik nicht gerade zu meinen Talenten zählt. Auf den Punkt gebracht: Dazu fehlt mir die nötige Geduld. Die Zeit im Cambridge war herrlich. Den wahren Grund, weshalb ich problemlos so lange Zeit „vom Krieg freigestellt wurde“, erfuhr ich erst im Nachhinein. Meine regelmäßige Augenkontrolle war wieder einmal fällig, und so suchte ich den Augenarzt auf. Er untersuchte mich, erstellte eine Diagnose und verschrieb mir eine Brille. In seinem Befund stellte er fest, dass ich an einer progressiven Myopie leide (im Klartext: an einer fortschreitenden Kurzsichtigkeit) und binnen eines halben Jahres mit einer völligen Erblindung zu rechnen habe. Daraufhin verlor das Militär an meiner Person jegliches Interesse und ließ mich diese lange Zeit in Cambridge studieren. Hinterher stellte sich heraus, dass die Diagnose falsch war und jener Augenarzt mit seinen Fehldiagnosen noch mehr Schaden angerichtet hatte. Das habe ich bald darauf, als ich bereits in eine andere Einheit versetzt worden war, von einem jungen Augenarzt erfahren, der sein Nachfolger wurde.

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Zurück in den Krieg Im Juni 1944 startete die lang erwartete Invasion auf dem europäischen Kontinent. Für uns hieß es: zurück in den Krieg. Die Panzerbrigade der tschechoslowakischen Exilarmee war ein Teil der britischen Nachhut, sodass sich nach unserer Landung bereits ein breiter Landstrich in Hand der Alliierten befand, vom Meeresufer bis weit ins Hinterland. Wir rückten in kleinen Abschnitten gegen Osten vor, manchmal so weit, bis wir den Kanonendonner hören konnten, und von da an bewegten wir uns seitwärts weiter. Meine Kriegstagebücher gingen verloren, und so weiß ich heute nicht mehr genau, wie lange wir durch die geplünderten Lande Frankreichs gezogen sind. Wir schlugen unsere Zelte auf, und am nächsten Tag kletterten wir wieder auf die Laster und fuhren nur einige Kilometer weiter, bis wir wieder Halt machten und immer noch nicht die geringste Ahnung hatten, was weiter geschehen soll. Damals beging ich mit etwa sechs oder sieben weiteren Kameraden aus schierer Unwissenheit eine schwere Straftat. Beim Morgenrapport meldeten wir uns, einer nach dem anderen, um mit dem gleichen Wortlaut den Kampfeinsatz unserer Einheit zu fordern. Es kann einem vielleicht töricht vorkommen, hätten wir doch froh sein müssen, in Sicherheit zu sein, aber in unserem jugendlichen Idealismus wollten wir nicht bloß Zuschauer am Zaun der Geschichte sein, wir wollten auch selbst an der Niederlage Nazideutschlands mitwirken. Unser Kommandant, der überaus vernünftige und beliebte Oberstleutnant Vašica, nahm uns hinterher beiseite und machte uns klar, dass wir dafür eigentlich vor ein Kriegsgericht gestellt werden müssten. Wenn sich nämlich mehrere Soldaten zu einer gemeinsamen Sache verabreden, so gilt es als Aufstand oder ... (ich weiß nicht mehr, wie er das genau formulierte), und insbesondere während des Krieges wird man dafür vor das Kriegsgericht gestellt. Deshalb wolle er den Vorfall lieber gleich wieder vergessen, und genau das sollten auch wir schleunigst tun. „Wegtreten!“ Unser Kampfeinsatz ließ dennoch nicht lange auf sich warten: Wir wurden jenen Einheiten zugeteilt, die den Hafen von Dünkirchen einkesseln sollten. Laut Vereinbarung zwischen den Alliierten und der französischen Exilarmee unter Führung von General de Gaulle sollten zwei große französische Häfen nicht bombardiert werden, damit Frankreich nach

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dem Krieg zumindest zwei funktionierende Häfen verblieben. Man einigte sich darauf, diese Häfen nicht zu erstürmen, sondern durch einen engen Umzingelungsring zu isolieren. Einer der beiden Häfen war eben Dünkirchen. Im Westen stand eine kanadische Einheit, im Osten die Briten und mittendrin unsere Brigade. Damit sollte das Ausbrechen eingeschlossener deutscher Verteidiger verhindert und etwaige Angriffe von außen, zwecks Kontaktaufnahme mit den Eingeschlossenen, abgewehrt werden. Es war zwar kein Stellungskrieg, der Tod unzähliger Soldaten gibt jedoch ein trauriges Zeugnis davon, wie blutig dieser Krieg trotzdem war. Die Gegend war mittlerweile zur Gänze unter der Kontrolle der Alliierten, ein Angriff aus dem Hinterland drohte nicht mehr, der Feind versuchte aber immer wieder, vom Hafen aus auszubrechen. Die Nachtwachen in den Bunkern sowie die Nachtpatrouillen waren deshalb mehr als nur bloße Routine – sehr oft kam es zum Schusswechsel, manchmal griffen die Deutschen an, was mehreren Soldaten das Leben gekostet hat. Bei einem Nachtalarm mussten wir vorrücken bis zu der Feindeslinie, die sich unserer Stellung näherte. Dabei kam es zur Schießerei, und eine der Kugeln traf den Kopf meines Kameraden, einen der beiden Sudetendeutschen, die in unserem Regiment dienten. Nach seinem Tod fühlte sich sein Landsmann wie eine Vollwaise. Bei dem nachfolgenden nächtlichen Zusammenstoß marschierten wir im Schwarm los, neben mir ein Soldat, der um gut 20 Jahre älter war als die meisten von uns. Ein Österreicher, der Cech (Tscheche) hieß. Keine Ahnung, wie dieser Bursche ausgerechnet in die tschechoslowakische Einheit geraten war. Er sprach nur wenige Worte tschechisch und hielt sich deshalb stets in meiner Nähe auf, wohl wissend, dass ich ihm alles übersetzen konnte, und außerdem war er froh, dass er mit jemandem deutsch sprechen konnte. Wir rückten vor, und plötzlich merkte ich, dass er nicht mehr an meiner Seite ging. Ich suchte nach ihm und fand ihn tödlich verwundet. Um die Frontlinie zu verkürzen, sollten wir einmal einen von den Deutschen besetzten Bauernhof einnehmen. Am Vorabend des geplanten Angriffs warfen wir auf das Zielobjekt einige Minen zwecks genauer Anpeilung. In unserem Arsenal befanden sich erbeutete deutsche Minenwerfer, ein schweres Gerät von einem weitaus größeren Kaliber

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und Schussweite als unsere eigenen Handfeuerwaffen. Die Feuerwirkung glich beinahe einer kleinen Artillerie. Am nächsten Tag griffen wir an, von der gegnerischen Seite kam aber kein einziger Schuss. Es stellte sich heraus, dass die Deutschen den Bauernhof vermutlich unmittelbar nach unserem Minenbeschuss verlassen hatten. Dennoch hatten wir einen Toten zu beklagen: Einer der Soldaten wollte sicherstellen, dass das Anwesen tatsächlich leer war, sprang auf eine der Fensterbänke, und dabei lösten sich Schüsse aus seinem eigenen Maschinengewehr, die seinen Kopf zerschmetterten. Jeder Tod an sich ist tragisch, und doch gibt es Todesfälle, die es verdienen, gesondert erwähnt zu werden. In unserer Einheit war ebenfalls eine Gruppe ehemaliger Regierungssoldaten, die sich im Protektorat zum Militärdienst gemeldet hatten, um bei der ersten Gelegenheit in Italien, wo man solche Soldaten für gewöhnlich einsetzte, zu desertieren, um sich dann der tschechoslowakischen Exilarmee anzuschließen. Es waren Vollblutsoldaten, die allerdings weder unsere Vorschriften noch unsere Waffen kannten und daher erst unterwiesen werden mussten. Unsere (britischen) Handgranaten hatten einen mit einem Splint gesicherten Hebel. Man zog den Splint heraus, ließ den Hebel los, dadurch wurde die Sprengkapsel gezündet, und danach blieben noch neun Sekunden, um die Handgranate zu werfen. Sie sollte noch in der Luft explodieren. Der Brigadier Jindrich Mann führte diesen Soldaten den Mechanismus vor und lockerte dabei den Hebel versehentlich. Damit war die Explosion nicht mehr zu verhindern. Er sprang zum offenen Fenster, um die Handgranate hinauszuwerfen, aber dort marschierte gerade eine Kompanie vorbei. Draußen die Kompanie, drinnen die Soldaten, die er hätte instruieren sollen. Blitzschnell legte er die Handgranate auf das Fensterbrett und warf sich mit seinem ganzen Körper drauf. Unser nächster Waffeneinsatz war erfolgreich: Wir sollten einen vorgeschobenen Posten der Deutschen erobern. Es war wieder einmal ein Bauernhof. Einen Tag zuvor bereiteten wir den Angriff auf die gleiche Art und Weise vor wie den vorherigen. Wie sich am nächsten Tag herausstellte, war das Resultat für die Deutschen tragisch: Bei unserem Vorrücken waren keine feindlichen Schüsse zu hören, und als wir dann das Objekt einnahmen, fanden wir mehrere tote Soldaten, die von ih-

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ren offenbar Hals über Kopf fliehenden Kameraden zurückgelassen wurden. Man sollte anmerken, dass es für diesen Angriff keinen besonderen strategischen Grund gab (falls überhaupt). Wie ich erst später erfahren konnte, soll es sich hier um die reine Demonstration unserer Kampfbereitschaft gehandelt haben. Der Anlass dafür war eine Frontinspektion durch Jan Masaryk, den Außenminister der Exilregierung. Den „Oscar“ gab es dafür nicht, nicht einmal eine Beförderung. Es ist vielleicht interessant, kurz über die Angst zu schreiben. Ich kann nicht behaupten, dass man bei Bombardierung oder bei Kampfhandlungen, von denen ich sprach, keine Angst verspürt hätte. Aber es war eine Art Angst, mit der man noch irgendwie fertig werden konnte. Eine schiere Angst, richtige Todesangst, bekam ich allerdings, als die Deutschen bei einem ihrer Angriffe die „Katjuschas“ einsetzten, die sie an der Ostfront erbeutet hatten. Die psychologische Wirkung ist verheerend. Wenn man nämlich bei einem normalen Angriff am Boden liegt, hört man das Krachen links, rechts, vor oder hinter sich, und da weiß man, dass man diesmal davongekommen ist. Die Raketen der Katjuschas fliegen „langsam“, man hört sie schon von Weitem kommen und wartet nur noch, wo sie aufschlagen. In diesen langen Sekunden des Bangens verspürte ich die Angst wie sonst nie. Jetzt zur Abwechslung zwei eher heitere Begebenheiten. Als bereits weite Landstriche Frankreichs durch die Alliierten befreit worden waren und der Krieg in diesem Teil des Landes so gut wie vorbei war, formierten sich Franzosen scharenweise in einer Art Freiwilligenarmee, die sich für Partisanennachhut hielt. Es waren Einheiten, deren militärische Ausbildung sehr zu wünschen übrig ließ. Eine dieser Truppen wurde auch uns zugeteilt. Ich sollte einige der Soldaten zu dem üblichen Dienst einteilen, zum Beispiel als Nachtwachen in den Bunkern. Bei einer nächtlichen Inspektion stolperte ich in einem der Bunker über ein Gewehr, das am Boden lag. Der Soldat schlief seelenruhig angelehnt an einer Wand. Mit meiner Schreckschusspistole feuerte ich eine Rakete direkt in den Bunker ab, und wie sie von den Wänden abprallte, flog sie kreuz und quer durch den Bunker. In dem kleinen Raum war es natürlich die reinste Hölle. Der Soldat wachte jäh auf und drehte fast durch: Er wusste nicht, wo er sich gerade befand und was überhaupt los war. Immerhin fiel diese Strafe ausgesprochen milde aus – im Vergleich zu

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dem, was ihn vor dem Kriegsgericht erwartet hätte. Diese französischen Möchtegernsoldaten schickten wir bald wieder heim. Die nächste Episode hängt ebenfalls mit den Franzosen zusammen. Eines Tages rief mich der kommandierende Kompaniekapitän Holz zu sich und teilte mir mit, ich sei als Kontaktoffizier zu der verbündeten französischen Einheit eingeteilt. Ich wies darauf hin, dass ich nicht französisch spreche. Er stutzte kurz – offenbar rechnete er nicht mit einer solchen Möglichkeit – und sagte dann lakonisch: „Der Befehl lautet: Sie sprechen französisch! Morgen gehen Sie hin!“ Um mich bei den Franzosen gut einzuführen, schnorrte ich vorher noch einige Stangen amerikanischer Zigaretten und machte mich auf den Weg zu der französischen Einheit. Mein Besuch verlief ziemlich peinlich. Wie erwartet, sprachen die Franzosen weder englisch noch deutsch, mit der tschechischen Sprache habe ich es nicht einmal versucht. Wir grinsten einander verlegen an, ich übergab ihnen die Zigaretten, und das war’s. Es dauerte nicht lange und die Franzosen brachten mir die geschenkten Zigaretten dankend zurück. Sie wollten mich aber damit keineswegs beleidigen – das wurde mir klar, spätestens als ich mir eine französische Zigarette angezündet habe. Unsere amerikanischen Zigaretten dürften den Franzosen genauso geschmeckt haben wie eine abgestandene, lauwarme Limonade dem Biertrinker. Ich ging zurück zu meinem Regiment, und als ich dem Kapitän Holz einen Bericht über meine Mission erstatten wollte, winkte er nur ab, er wollte es nicht einmal hören. Und mir blieben zwei fast volle Stangen der begehrten Zigaretten.

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In deutscher Gefangenschaft und Zeuge einer Hinrichtung An der Front stand üblicherweise eine Einheit an der vordersten Linie, dem Feind gegenüber, während dahinter die zweite Einheit den Rückhalt bildete. Die Soldaten im Hinterland konnten in die nahe Stadt gehen, was sie dazu nützten, Gasthäuser, Bäder, aber auch einen Puff zu besuchen. In Frankreich entdeckte ich wider Erwarten meine Vorliebe für Gemüse auf französische Art. Wir verkehrten gerne in einem der Gasthäuser, schenkten dem Wirt hin und wieder unsere Fleischkonserven, und im Gegenzug bereitete seine Köchin für uns vorzügliche Gemüsegerichte. Eigentlich mag ich kein Gemüse, aber die französischen Gemüsespeisen schmeckten mir ausgesprochen gut. Eines Tages sollten wir den Trupp an der Front ablösen. Der scheidende Kommandant informierte mich über das Terrain, über die eigenen wie auch über die deutschen Stellungen, und unter anderem deutete er auf eine kleinere Siedlung, die sich zwischen den beiden Stellungen befand. „Die Häuschen dort stehen tagsüber leer“, sagte er noch, „zur Beobachtung wird nachts von unserem Regiment ein vorgeschobener Wachposten hingeschickt“. Sorglos gingen wir zur Mittagszeit hin, vor mir der Unterfeldwebel Bílek, den ich ablösen sollte. Ein Stück hinter uns schlenderten vier Soldaten, zwei aus seiner und zwei aus meiner Mannschaft. Wir waren gerade zwischen den Häusern angekommen, als die Türen plötzlich aufgerissen wurden und deutsche Soldaten in langen Mänteln sich von allen Seiten auf uns stürzten. Man riss uns so schnell zu Boden, dass ich nicht einmal meine Pistole ziehen konnte. Ein wilder Schusswechsel folgte, wir beide wurden von einigen Deutschen überwältigt und in die Stadt geschleppt. Was danach geschah, erfuhr ich erst nach dem Krieg aus den Aufzeichnungen des Verteidigungsministeriums. Auf beiden Seiten gab es Opfer, einer meiner Männer starb im Kugelhagel. Die zweite Rotte unter der Führung meines Freundes, des Zugführers Brown, kam uns zu Hilfe. Er selbst wurde verwundet, konnte aber trotzdem weiter kämpfen. Bílek und ich wurden voneinander getrennt, mich brachte man zu einem jungen deutschen Oberstleutnant, der mich verhören sollte. Ich behauptete, dass ich kein Deutsch spreche, und man holte einen Dolmetscher, einen Prager Deutschen. Ich war bereit, meinen Namen und

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Identifikationsnummer preiszugeben, da sie ohnehin auf der Erkennungsmarke eingestanzt waren, die jeder Soldat um den Hals trug. Mehr sagen wollte ich aber nicht. Der Offizier gab sich freundlich, stellte mir die vorgeschriebenen Fragen, aber übte keinen großen Druck auf mich aus. An sich schon das Stoffabzeichen „Czechoslowakia“, das auf unsere Uniformen aufgenäht war, würde uns aus deutscher Sicht eigentlich als „Landesverräter“ klassifizieren, aber darauf ging er nicht ein. Zum Schluss wollte er wissen, rein persönlich, ob ich ein Jude sei, auch wenn dies bei seinem Heer angeblich keine Rolle spielen würde. Ich bin und bleibe ein Jude, ganz egal, ob es jetzt eine Rolle spielt oder nicht, und das sagte ich ihm auch. Darauf reagierte er nicht. Ich war zwar nur ein einfacher Korporal, aber immerhin ein Offiziersanwärter, also ranghöher als mein Kriegskamerad, der Unterfeldwebel. Das Gefangenenlager war in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Außer uns beiden waren hier noch vier weitere tschechische Soldaten interniert. Der deutsche Oberleutnant fragte mich, ob ich ins Offizierszimmer wolle oder doch einen Raum mit meinen Landsleuten vorziehen würde. Ich wählte natürlich die tschechische Gesellschaft, und daraufhin brachte man mich in einen großen Raum, wo Bílek und ich von den vier Gefangenen begrüßt wurden. Einer der Gefangenen in unserem Gefängnis war ein britischer Offizier mit dem Dienstgrad eines Kommandanten. Ich stellte mich dem britischen Hauptmann vor, der allerdings die sprichwörtliche britische Zurückhaltung an den Tag legte. Während der folgenden Wochen sprachen wir lediglich hin und wieder ein paar Worte miteinander. Für ein etwas besseres Verhältnis sorgte mein Ersuchen an den Gefängniskommandanten, den deutschen Rundfunk in englischer Sprache hören zu dürfen. Und wir bekamen tatsächlich eine Erlaubnis. Der Empfänger stand im Zimmer des Briten. Wir stellten die Senderfrequenz der BBC ein, schalteten immer haargenau in dem Moment ein, als die Erkennungsmelodie der BBC bereits abgeklungen war und die englischen Nachrichten folgten. Ich war überzeugt, dass der Gefängniskommandant, der uns sehr anständig behandelte, unseren Trick durchschaute, aber er tat nichts dagegen. In einem großen hellen Raum standen auf der einen Seite vier Betten der „alten“ Gefangenen, auf der anderen Seite mein Bett und das von Unterfeldwebel Bílek. Wir alle haben uns gut verstanden und ka-

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men miteinander sehr gut aus. Zu essen gab es nur wenig, doch die Deutschen hatten selbst auch nicht viel mehr. Im Gefängnis bzw. in dem großen Innenhof konnten wir uns frei bewegen, einen Wärter sahen wir kaum. Eine besondere Bewachung war da auch nicht nötig, das Objekt war von einer hohen Doppelmauer umgeben, auf deren oberer Kante eingelassene Glasscherben zu sehen waren. Wir bekamen mit, dass in einem anderen Trakt noch rund 200 französische Gefangene untergebracht waren, genau jene Sorte von Möchtegernsoldaten, mit denen wir einst zu tun hatten. Sie waren ein willkürlich zusammengewürfelter Haufen von Männern, die von Soldaten weit entfernt waren. Sie alle blieben unter sich, und wir hatten zu ihnen keinen Kontakt. Man gab uns die Möglichkeit, freiwillig einer Arbeit außerhalb des Gefängnisses nachzugehen. Einer der Arbeitseinsätze war auf dem Friedhof, wo wir Gräber für gefallene oder verstorbene Soldaten gruben. Der Boden war sandig, die Arbeit dementsprechend leicht, und obendrein waren wir der Ansicht, dass die Beerdigung deutscher Soldaten unmöglich dem deutschen Reich zum Sieg gereichen könnte. Verlockend dabei war immerhin das Mittagessen in der Soldatenküche. Wir bekamen die Suppenreste, es waren eher Eintöpfe, die sehr gut schmeckten. Wie freiwillig unsere Arbeit tatsächlich war, das haben wir gemerkt, als man von uns verlangte, Soldaten zu exhumieren, die schon seit längerer Zeit unter der Erde lagen. Der ausströmende Leichengeruch machte uns dermaßen zu schaffen, dass wir uns weigerten, diese Arbeit fortzusetzen. Daraufhin haben wir ganz einfach einen anderen Job bekommen. Diesmal war es der große Gemüsegarten eines Altersheimes, in dem noch einige alte Menschen lebten, die nicht mehr evakuiert werden konnten. Dorthin gingen wir sehr gerne, die Alten steckten uns immer wieder etwas zu, manchmal sogar Schokolade. Noch dazu konnten wir unter unserer Uniform Gemüse hinausschmuggeln, vor allem Zuckerrüben, die wir entweder als Schnitzel auf dem Ofen brieten oder zu Brei zerkochten. Besonders gut schmeckte es zwar nicht, doch nahrhaft war es auf jeden Fall. Selbstverständlich nahmen die Alliierten den Hafen immer wieder unter Kanonenbeschuss, manche Geschosse gingen auch in unserer Nähe nieder, einmal direkt im Gefängnishof. Ich sagte dem britischen

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Hauptmann, dass die Lage der Kriegsgefangenen in keiner Weise der internationalen Konvention entspreche: Nicht nur die unzureichende Ernährung, vor allem sei aufgrund des britischen Kanonenfeuers unsere Sicherheit nicht gewährleistet. Ich wollte ihn dazu bewegen, das Internationale Rote Kreuz auf unsere missliche Lage aufmerksam zu machen und einen Gefangenenaustausch vorzuschlagen. Der Hauptmann zögerte und verweigerte seine Unterschrift mit dem Argument, dass wir immerhin anständig behandelt würden und ein solches Schreiben die Deutschen nur unnötig reizen würde. Kurz nach dieser Unterredung schossen die Deutschen ein britisches Flugzeug ab. Der Pilot, ein kanadischer Leutnant, konnte sich mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug retten, wurde gefangen genommen und zu uns ins Lager gebracht. Er war wesentlich umgänglicher als der Brite. Ich erzählte ihm von meinen Erfahrungen, worauf der Kanadier meinte, dass wir jetzt zwei gegen einen seien, sodass der Brite unser Gesuch wohl oder übel unterschreiben müsse. Wir setzten einen Brief auf – bis heute kann ich mich an diesen Tag erinnern. Ich werde das Datum wohl nie vergessen, was mir übrigens der Kanadier schon damals sagte. Es war der 12. März 1945. Die Deutschen hielten sich an die internationalen Vereinbarungen und leiteten unser Schreiben umgehend weiter. Etwa zehn Tage später kamen Vertreter des Roten Kreuzes ins Lager, prüften die Bedingungen und versprachen uns Lebensmittelpakete und auch eine Intervention hinsichtlich des Gefangenenaustausches. Einige Tage später trafen tatsächlich die ersten Päckchen mit Lebensmitteln und einem Päckchen Zigaretten ein. Die nächsten Pakete folgten dann in regelmäßigen Abständen. In den neunziger Jahren sprach ich mit einem Mitarbeiter des Heeresgeschichtlichen Instituts über meine Erlebnisse während der deutschen Kriegsgefangenschaft, und bei der Gelegenheit ist mir aufgefallen, wie penibel gründlich und genau die Deutschen gewesen sind. Das Institut hatte Zugang zu den damaligen Aufzeichnungen und Dokumenten, und deshalb konnte mir der Mitarbeiter alle Namen meiner Mitgefangenen nennen, inklusive die der britischen und kanadischen Offiziere und des Gefängniskommandanten. Bei einem Arbeitseinsatz außerhalb des Gefängnisses fiel mir zufällig ein leerer Notizblock in die Hände. Ich verspürte den gleichen Drang

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wie schon damals, als ich bei der Armee die Kalender bekam, und so fing ich an, die leeren Seiten mit Notizen zu füllen. Ich führte wieder ein Tagebuch. Meine Mitgefangenen sahen mich allabendlich schreiben und baten mich, es ihnen vorzulesen. Das tat ich gerne, aber seither führte ich nebenbei auf der Rückseite des Heftes auch ein privates Tagebuch. In tschechischer Sprache, aber in deutscher Kurzschrift, damit es niemand entziffern konnte. Dort schrieb ich meine Gedanken, Überlegungen und Erlebnisse nieder, die ich sonst nicht preisgeben wollte. Im Gefängnis gab es keine richtigen Toiletten, sondern nur eine Latrine, wo die Soldaten auf dem „Donnerbalken“ nebeneinander hockten und miteinander quatschten. Eines Tages brachte die deutsche Militärpolizei einen deutschen Soldaten, der seine Notdurft verrichten musste. Ich kam mit ihm ins Gespräch und erfuhr von ihm, dass er Österreicher war, der bei einer gescheiterten Fahnenflucht verhaftet und wegen Landesverrats zum Tode durch den Strick verurteilt wurde. Zu dieser Zeit bekamen wir bereits vom Roten Kreuz Pakete mit Lebensmitteln und einer kleinen Zigarettenration. Immer wenn ich mit dem Österreicher in der Latrine zusammentraf, ließ ich ihn mitrauchen. Eines Tages klappte es mit unserem Treffen nicht mehr, er hinterließ mir einen kurzen Abschiedsbrief, den er meinen Kameraden zusteckte. Auf einem Papierfetzen, mit Bleistift geschrieben, bedankte er sich für meine Freundlichkeit während der letzten Tage seines Lebens. Am nächsten Tag wurde er hingerichtet. Zwei Tage später gingen wir unserer Arbeit außerhalb des Gefängnisses nach und sahen ihn hängen – als Mahnung. Nur wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation! Ich legte seinen Brief zwischen die Seiten meines Tagebuches. Es tut mir unendlich leid, dass dieser Brief mit dem Tagebuch verloren ging.

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Der Krieg geht zu Ende Die letzten Tage meiner Gefangenschaft verbrachte ich auf eine unübliche Art und Weise: Ich bekam hohes Fieber und Halsschmerzen. Ich hielt es für eine Angina, aber der deutsche Militärarzt, der mich untersuchte, diagnostizierte Diphtherie. Man brachte mich in einem Pritschenwagen ins Militärhospital, wo ich genauso gut behandelt wurde wie ein normaler Patient und keineswegs als Häftling. Dort täuschte ich keine Unkenntnis der deutschen Sprache mehr vor, und so stand einer normalen Kommunikation nichts mehr im Wege. Das Fieber ließ eine Woche später nach, und ich landete wieder im Gefängnis, obwohl nach der Diphtherie eine längere Quarantäne erfolgen sollte. Mein Aufenthalt im Gefängnis war danach nur noch sehr kurz – wenige Tage später wurden wir dank des Roten Kreuzes ausgetauscht und kehrten zu unseren Einheiten zurück. Auch hier zeigte sich die deutsche Akkuratesse: Unsere Leute wurden vorab informiert, sodass ich und mein Bettnachbar Jeníček von einem Krankenwagen abgeholt und ins kanadische Krankenhaus gebracht wurden. Die anderen Gefangenen marschierten einfach durch das offene Gefängnistor hinaus in die Freiheit. Im Krankenhaus wurden wir wieder unter Quarantäne gestellt, was bedeutete, dass wir uns das Zimmer nur zu zweit teilten. Mit den Quarantänevorschriften nahm man es offenbar nicht so genau, täglich schaute jemand von unserer Einheit vorbei, die Kameraden brachten uns Essen und vor allem Getränke. Dementsprechend ging es in unserem Zimmer immer recht heiter zu, und eine Woche später hat man uns allzu gerne entlassen. Ich kann mich noch an ein kleines Missverständnis mit einer Nachtschwester erinnern. In der Nacht hatte ich oft Durst und habe sie daher um Wasser gebeten. Sie brachte es mir in einer „Universalschüssel“, in die alles hinein kam, was man nicht auf einem flachen Teller servieren konnte: Kaffee, Suppe und so weiter. In der Früh betrachtete die Schwester die Schüssel kurz und schnauzte mich an: „You’re a pig!“ (Sie sind ein Ferkel!) Erschrocken wunderte ich mich über eine solche Anschuldigung. „In der Nacht baden Sie Ihr Gebiss drin, und am Morgen trinken Sie dann das Wasser aus“, sagte sie. Daraufhin führte ich ihr sehr anschaulich vor, dass ich mit Sicherheit gar nicht imstande wäre, meine Zähne nachts in einer Schüssel aufzu-

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bewahren und daher in der Früh wirklich nur reines Wasser getrunken haben konnte. Bei den jungen Briten waren die Zähne tatsächlich ein sehr heikles Thema. In London bekam ich eines Tages starke Zahnschmerzen und suchte den erstbesten Zahnarzt auf, dessen Praxisschild ich beim Vorbeigehen an einem Haus gesehen hatte. Als er von meinen Zahnschmerzen hörte, legte er sich gleich eine Zange bereit und griff zur Spritze, ohne sich das Corpus Delicti auch nur anzusehen. Ich sprang auf und rannte davon. Eine Zahnbehandlung dürfte im damaligen England noch nicht weit verbreitet gewesen sein. Später fiel mir auf, dass viele britische Soldaten meines Alters am Morgen ihre Gebisse herausgenommen und oft in der gleichen Rinne geputzt haben, durch die das Waschwasser ihrer Kameraden floss. Nachdem ich zu meiner Einheit zurückkam, wurde ich zum Unterleutnant befördert – in die Heimat sollte ich schon als Offizier zurückkehren. Dies hatte zur Folge, dass ich mir eine Offiziersuniform kaufen musste, Zivilschuhe tragen durfte und mein eigenes Klappbett bekam, sodass ich nicht mehr auf dem Boden auf einem Strohsack schlafen musste. Aber vor allem wurde mir ein persönlicher Offiziersdiener zugeteilt. Dieses Überbleibsel aus der Zeit der K.-u.-k.-Monarchie wurde erst von dem kommunistischen Verteidigungsminister Alexej Čepička abgeschafft. Der Bursche musste mein Bettlager vorbereiten, meine Schuhe putzen, sich um mein Gepäck kümmern und ähnliche Aufgaben erledigen. Gerne tat er das nicht, aber er tat es. In unserer Armee herrschte eine große Entrüstung, als Prag während des Prager Aufstandes um Hilfe rief und unsere Brigade von General Eisenhower keine Erlaubnis bekam, der Hauptstadt zu Hilfe zu eilen. Eisenhower hielt sich strikt an die Demarkationsvereinbarung mit den Sowjets. Wie ich mir schon das Kriegsende mit der Diphtherie bereichert hatte, so verlief auch meine Rückkehr nach Tschechien nicht ohne ein dramatisches Finale. Kurz hinter der tschechoslowakischen Grenze fuhren wir auf einer steilen, kurvenreichen Landstraße. Ich stand neben dem Fahrer in einer offenen Dachluke, neben mir auf dem Fahrzeugdach saß der Militärarzt. Fünf weitere Männer saßen im Wagen. Hinter dem Wagen zogen wir eine tonnenschwere Haubitze auf zwei Rädern

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mit Munition, an die noch eine weitere schwere Panzerabwehrkanone gekoppelt war. Plötzlich sagte mir der Fahrer, dass die Bremsen versagen. Ich riet ihm, einen niedrigeren Gang einzulegen, aber auch das konnte keine Abhilfe schaffen, und so raste unser dreiteiliger Zug von mehreren Tonnen Gewicht die Serpentinen hinunter. Es war noch ein Glück, dass die Straße vor uns leer war. Bei dem ganzen Unglück kam es mir lachhaft vor, wie uns Menschen mit wildem Winken bedeuteten, dass wir das Tempo drosseln müssten. Der Fahrer tat das einzig Mögliche: Er fuhr zur Seite und riss die Meilensteine am Straßenrand mit. Sie fielen um wie von einem Maschinengewehr niedergemäht. Durch dieses Manöver konnte die Geschwindigkeit wenigstens etwas verringert werden, am Ende aber überschlug sich das Fahrzeug, und der Arzt und ich flogen in hohem Bogen in den Wald – wie durch ein Wunder glatt zwischen den Bäumen hindurch – und landeten relativ sanft auf dem weichen Nadelwaldboden. Wir standen auf, spürten keine Schmerzen und gingen zum Fahrzeug, um die Verletzten und Toten zu bergen. Der Unfall ging – wie durch ein Wunder – glimpflich aus, die Soldaten krochen nacheinander aus den Trümmern, alle unversehrt bis auf einen – die Nasenscheidewand meines Dieners war gebrochen. Die Rettungswagen waren inzwischen vor Ort, alarmiert durch die Unfallzeugen. Die Ärzte untersuchten uns, wunderten sich über alle Maßen, dass nichts Schlimmeres passiert war, und fuhren wieder davon. Und wir mussten an der Unfallstelle bis zum nächsten Morgen ausharren, ohne Zelt und ohne Essen. Was danach folgte, war nur noch wunderbar. Unsere Brigade zog in feierlicher Parade durch Prag, und ich genoss das Privileg, in einem Jeep die Kolonne unserer Panzerabwehrkanonen anzuführen. Als wir über die Letná fuhren, saßen auf unserem Jeep unzählige jubelnde Mädchen. Es war ein Siegeszug, der uns die unlängst erlittenen Strapazen und Gefahren vergessen ließ. Der Krieg war zwar vorbei, nicht aber mein Militärdienst. Unsere Kompanie war in Eisenstein (Železná Ruda) an der bayrischen Grenze stationiert, auf der anderen Seite der Grenze stand eine amerikanische Einheit. Ich wurde in der Zwischenzeit zum Leutnant befördert – die Armee holte nun die fälligen Beförderungen nach, die seinerzeit in der Exilarmee wegen des Überschusses an Offiziersanwärtern auf die lange

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Bank geschoben worden waren. Obwohl ich jetzt Nachrichtenoffizier war, hatten meine Aufgaben mit einem Nachrichtendienst im üblichen Sinne kaum etwas zu tun. Ich unterhielt Kontakte zu den Amerikanern jenseits der Grenze und sorgte für Ordnung, nicht nur in unserer Brigade, sondern auch im ganzen Gebiet, für das wir verantwortlich waren. Ein Problem, mit dem wir konfrontiert wurden, stellten jene Truppen dar, die aus Prag und aus dem Landesinneren ins Grenzgebiet kamen. Sie nannten sich „Revolutionsgarden“, auf ihren Ärmeln trugen sie rote Binden mit der Aufschrift RG. Es handelte sich da keineswegs um eine legale Organisation, sondern um Horden, die sich um selbsternannte Führer zusammengerottet hatten – wir nannten sie „Räubergangs“. Man wies mir eine Villa zu, die vorher reichen Leuten oder gar einem Nazibonzen gehört hatte. Sie war prachtvoll eingerichtet. Am meisten beeindruckte mich ein riesiger Spiegel, der schräg über dem Bett hing. Zwei junge Frauen hielten die Villa in Ordnung und kümmerten sich um das Frühstück, die eine war blond und die andere brünett. Meine damaligen Gefühle, oder besser gesagt, meine damalige Einstellung charakterisiert die Tatsache, dass es für mich schlicht undenkbar gewesen ist, eine deutsche Frau auch nur anzufassen, geschweige denn ..., so verlockend der Spiegel auch gewesen sein mag. Unvergleichlich markanter demonstrierte sich meine damalige Haltung bei einer anderen Gelegenheit. Unsere Kontakte zu der amerikanischen Einheit jenseits der Grenze waren ausgezeichnet. Wir tranken miteinander und zwar meistens bei den Amerikanern, weil sie unter anderem auch eine Schnapsbrennerei besetzt hielten, mit einer reichhaltigen Auswahl an verschiedenen Schnäpsen. Eines Tages veranstalteten sie eine kleine Feier, zu der sie auch Mädchen aus dem sogenannten DPLager (Displaced Persons Camp) einluden. Das Lager war eine Sammelstelle für Personen, die sich bei Kriegsende auf deutschem Gebiet befanden und aus verschiedenen Gründen nicht heimkehren konnten oder nicht wollten. Dort warteten sie auf die Einreisebewilligung in ein Land, das bereit war, sie aufzunehmen. Eines der Mädchen setzte sich zu mir, in gebrochenem Deutsch behauptete sie, Griechin zu sein. Wir haben uns bestens unterhalten und tranken immer mehr, bis sie sich schließlich vergaß und plötzlich akzentfreies Deutsch sprach. Ich fuhr sie an: „Du bist ja eine Deutsche!“ Von blinder Wut gepackt ließ ich sie

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einfach sitzen, stieg in den Jeep und fuhr davon. Ich wollte nur noch zurück in die Villa, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, dass noch zwei unserer Offiziere von mir bzw. von dem Jeep abhängig waren. Noch schlimmer: Ich dachte auch nicht daran, wie viel Alkohol ich inzwischen getrunken hatte. Ich konnte den Lichtschalter nicht finden und fuhr ohne Licht los, um wenige Meter weiter im Straßengraben zu landen. Der Jeep kippte um, aber mir passierte so gut wie gar nichts. Ich kroch aus dem Wagen heraus und kehrte zu der Feier zurück. Ich merkte gar nicht, dass ich eine kleine Wunde an der Stirn davontrug, die allerdings ziemlich blutete, sodass mein Gesicht mit Blut verschmiert war. Kaum dass mich mein amerikanischer Freund in diesem Zustand sah, sprang er auf, zog seinen Revolver und brüllte: „Wer hat dir das angetan? Wo sind diese Schweine?“ Ich konnte ihn beruhigen, erklärte ihm, was wirklich passiert war. Inzwischen war ich fast nüchtern. Gemeinsam stellten wir den Jeep wieder auf die Räder, und ich fuhr mit meinen Kollegen zurück nach Eisenstein auf der tschechischen Seite. Bis heute kann ich mir mein damaliges Verhalten nicht rational erklären, weil ich gar keinen fanatischen Hass auf die Deutschen bzw. auf alles Deutsche hegte. Und trotzdem kam es bei mir zu dieser Kurzschlusshandlung, noch dazu ausgerechnet bei Frauen ... Trotz der guten Beziehungen zu den Amerikanern gab es einige – sagen wir – Meinungsverschiedenheiten. Durch unsere Wälder streiften kleine Horden der „Revolutionsgarden“. Sie beraubten und terrorisierten die noch verbliebenen deutschsprachigen Mitbürger. Eine solche Horde machte „Jagd auf SS-Männer“: Sie fingen die Deutschen in den Wäldern ein, zwangen sie zum Ausziehen, und wenn sie unter der Achsel eine Tätowierung, wie sie bei der Waffen-SS üblich war, zu sehen glaubten, erschossen sie die Männer auf der Stelle. Diese Bande wurde von einer amerikanischen Patrouille dingfest gemacht, zwei Offiziere kamen zu mir, um mich darüber zu informieren. Ich bedankte mich und bat um die Übergabe der Gefangenen, damit ich ihre Überstellung nach Prag und die Bestrafung in die Wege leiten konnte. Die Amerikaner bestanden darauf, die Gefangenen selbst bestrafen zu wollen. Ich wusste, dass man sie auf tschechoslowakischem Territorium verhaftet hatte und pochte deshalb auf die Herausgabe. Die Gespräche wurden in aller Freundschaft geführt, wir tranken das eine oder andere

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Gläschen, wobei ich den Amerikanern auf eine sehr nette Art deutlich machte, dass sie bis zur Übergabe der „Gardisten“ meine Gäste seien bzw. bleiben müssten. Das Ganze mit einem Lächeln auf den Lippen. Beide Seiten haben mehrere Telefonate geführt, bis ich die Meldung bekam, dass sich die „Gardisten“ in unserer Gewalt befinden. Danach verabschiedeten wir uns freundlich und gingen im Guten auseinander. Ein anderes Mal geriet ich mit den Amerikanern in Konflikt auf der Demarkationslinie, die das amerikanische Einflussgebiet vom tschechischen trennte. Ich war gerade mit dem Zug von Prag nach Eisenstein unterwegs, in Begleitung meiner Freundin. Aus amerikanischer Sicht hatte das Mädchen gleich zwei Fehler: Zum einem war es ihr deutscher Nachname (sie hieß Himmelová), und zum anderen war sie auffallend schön. Unter dem Vorwand, dass es sich bei ihrem Familiennamen eindeutig um eine Deutsche handeln müsse, zogen sie sie aus dem Zug heraus und führten sie zum „Verhör“ ab. Als sie nach langer Zeit noch immer nicht zurück war, ging ich zu dem amerikanischen Offizier. Er teilte mir mit, dass der Zug weiterfahren dürfe, das Mädchen allerdings zwecks weiterer Befragungen zurückbleibe, da sie unter Verdacht stehe, eine Deutsche zu sein. Ich versuchte ihm klar zu machen, dass bei den Tschechen ein deutscher Nachname keine Seltenheit sei und ich mit Sicherheit sagen könne, dass das Mädchen eine Tschechin sei. Schließlich sei sie meine Freundin. Er ließ sich trotzdem nicht umstimmen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Respekt vor einer Uniform auszunutzen. Ich ließ den Zugführer holen und befahl ihm, den Zug so lange im Bahnhof festzuhalten, bis das Fräulein Himmelová eingestiegen ist. Diesen Befehl dolmetschte ich zugleich den Amerikanern, die sich tatsächlich beeindruckt zeigten und das Mädchen freiließen. Somit wurde die tschechisch-amerikanische Freundschaft wieder hergestellt. Heute ist mir bewusst, wie ein paar Sternchen auf der Schulterklappe das Selbstbewusstsein eines Menschen heben können. Mit meinen erst 25 Jahren brachte ich es fertig, zwei amerikanische Offiziere in meinem Büro und später einen Zug im Bahnhof festzuhalten. Wenn ich heute daran zurückdenke, muss ich mich selbst über meine Kühnheit von damals wundern.

5. Die erste Heimkehr und das Leben bis zum „Prager Frühling“

Zurück ins Zivilleben Nach Prag fuhr ich ausgesprochen gerne, selbst wenn dort kaum jemand aus meiner Familie oder dem einstigen Bekannten- und Freundeskreis mehr lebte. Ich ging tanzen und liebte das Gefühl, wieder in Prag zu sein. Eines Tages spazierte ich auf der Straßenseite gegenüber dem Innenministerium in Letná, entlang der Häuserzeile, in der einst meine Tante Julie gewohnt und wo ich sie des Öfteren auch besucht hatte. Aus purer Neugier betrat ich das Haus – und da ging plötzlich die Tür der Hausmeisterwohnung auf (ja, damals gab es noch Hausmeister), und die Hausmeisterin lief mir entgegen. Sie dürfte mich vorher durch das Guckloch gesehen und erkannt haben. Sie freute sich, mich zu sehen, drehte sich um, nahm einen Schlüsselbund in die Hand und sagte: „Ihre Wohnung ist frei, Sie können sie gleich übernehmen!“ Natürlich meinte sie damit die Wohnung meiner Tante. Ich ging in die Wohnung und merkte gleich, dass der letzte Bewohner ein hoher SS-Offizier gewesen sein musste, der sich offensichtlich in großer Eile davongemacht hatte. Er hatte sogar seinen Ehrendolch und sonstige Ehrenzeichen der Waffen-SS zurückgelassen. Von einem zerbrochenen Fensterglas abgesehen, war die Wohnung in tadelloser Ordnung. Ich wusste bereits, dass meine Tante und ihre Tochter bald aus England zurückkehren sollten, und so kümmerte ich mich bis dahin um die Wohnung. Die „Restitution“ war simpel, glücklicherweise haben die zuständigen Institutionen die Rückgabe nicht in Frage gestellt, und so bekam meine Tante ihre Wohnung ohne die üblichen bürokratischen Hürden bzw. Einwände zurück. Bei der Wohnung meiner Tante fällt mir noch ein weiteres Erlebnis aus dieser Zeit ein. Ich ging gerade auf dem Gehsteig vor dem Haus, als ein russischer Soldat auf mich zukam. Wahrscheinlich war ich im Dienst, jedenfalls steckte meine Pistole im Halfter. Der Russe bemerkte die Waffe und wollte sie mir unbedingt abkaufen, was ich ihm überaus freundlich, aber mit Nachdruck ausreden konnte. Daraufhin verlang-

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te er von mir, dass ich mit ihm wenigstens etwas trinke. Ich fand den Burschen sympathisch und nahm ihn mit in die Wohnung. Er setzte sich hin und zog sogleich aus den Taschen seines voluminösen Mantels eine Büchse, Messer, Löffel und eine Flasche heraus. Mit dem Messer öffnete er die Büchse mit Schweineschmalz, entkorkte die Flasche und bot mir zuerst seinen Löffel und das Schweineschmalz an. Ich lehnte dankend ab, und er reichte mir die Flasche. Ich genehmigte mir einen Schluck – noch nie im Leben habe ich so flott reagiert wie diesmal, als ich jetzt nach dem Löffel und Schmalz griff. In der Flasche musste reiner Alkohol gewesen sein. Da begriff ich, dass der Verdauungstrakt erst tüchtig mit Fett isoliert werden musste, bevor man überhaupt etwas von diesem reinen Gift zu sich nehmen konnte. Den nächsten Schluck habe ich dankend abgelehnt, wir verabschiedeten uns, er nahm das Schmalz und die Flasche an sich und ich behielt meine Pistole. Der Dienst in Eisenstein war keineswegs anstrengend, sogar recht bequem, und ich fand genug Gelegenheiten, um nach Prag zu fahren. In der Offiziersuniform einer westlichen Streitkraft konnte ich Eindruck schinden, was mir den Aufenthalt in der Hauptstadt noch angenehmer machte. Trotz alledem war ich irgendwie ruhelos. Viele meiner Freunde arbeiteten bereits und nahmen auch an dem Nachkriegsaufschwung des Landes teil – ich beneidete sie und wollte ebenfalls „etwas tun“. Deshalb quittierte ich den Militärdienst, in den ich erst nach langen Bemühungen aufgenommen worden war, und kehrte im Oktober 1945 ins Zivilleben zurück. Da fiel mir ein, dass ich mich vor dem Krieg an der Fakultät für Chemie immatrikuliert hatte. An der Uni fand man die alte Registrierung, stellte mir problemlos einen neuen Ausweis aus und machte mich darauf aufmerksam, dass ich mein Studium aufgrund des Kriegsdienstes in der Exilarmee als Vorzug innerhalb von drei statt den vorgesehenen vier Jahren absolvieren könnte. Unter der Voraussetzung, dass in diesem Zeitraum sämtliche Prüfungen abgeschlossen würden. Für den Anfang suchte ich mir das Leichteste aus – die Mineralogie. Bedauerlicherweise konnte ich mich auf mein Studium nicht konzentrieren und kam bald zu der Erkenntnis, dass aus dem Studium in meiner derzeitigen Situation nichts werden würde. Zu sehr sehnte ich mich nach dem Leben, das meine Freunde und Kollegen inzwischen führten.

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Die Familie wird gegründet In diese Zeit fällt auch der Beginn meines Lebens als Familienmensch. Ich heiratete ziemlich früh. Damals verkehrte ich in einer Gesellschaft, in der ehemalige Soldaten, heimgekehrte KZ-Häftlinge, aber auch Menschen, die den Krieg unbehelligt überstanden hatten, zusammen kamen. Man traf sich gerne in einer Wohnung in der Antonin-Straße (Antonínská) beim Strossmayerplatz (Strossmayerovo náměstíěč), in die man unangemeldet zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen konnte. Dort lernte ich auch meine erste Frau kennen. Vier Frauen lebten in dieser Wohngemeinschaft, eine von ihnen war Hanna Mautnerová. Ich heiratete sie, wir zogen zur Untermiete in die Veverka-Straße (Veverkova) oberhalb des Strossmayerplatzes, in der wir dann solange blieben, bis ich für uns eine eigene Wohnung besorgen konnte. Bald darauf wurden unsere Kinder Jana und Jiří geboren. Der damalige Prager Bürgermeister stellte den Journalisten unentgeltlich ein großes Grundstück zur Verfügung. Sie schlossen sich zusammen zu einer Wohnungsbaugenossenschaft, zahlten in den Gemeinschaftstopf ein und ließen sich ein Wohnhaus errichten und einen schönen Garten anlegen. Die Dreizimmerwohnungen waren für die damalige Zeit sehr modern und zweckmäßig konzipiert. Heute gehört die Wohnung meinem Sohn Jiří. Zunächst führten wir eine gute Ehe, im Laufe der Zeit wurde unsere Beziehung jedoch allmählich schlechter. Wir hatten uns auseinandergelebt, und es kam zu Streitigkeiten. Schließlich waren wir uns einig, dass eine friedliche Trennung das Vernünftigste wäre, und ließen uns scheiden. Wir wollten verhindern, dass unsere Kinder in einer spannungsgeladenen Atmosphäre aufwachsen. Ich suchte mir eine neue Bleibe, Hanna behielt die Wohnung und die Kinder, die damals zwei und drei Jahre alt waren. Nach der Scheidung konnte jeder für sich zur Normalität finden, und unsere Beziehung wurde freundschaftlich. Was aber weitaus wichtiger war: Die Entwicklung der Kinder wurde durch die Trennung kaum belastet. An unserer jetzt guten Beziehung änderte sich auch nichts, als ich wieder heiratete. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen war harmonisch. Die Kinder wuchsen praktisch in zwei Familien auf.

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Irčas Bekanntschaft machte ich beim Hopfenpflücken. Der Hopfen musste von Hand gepflückt werden, und dafür benötigte man viele Erntehelfer. Neben den freiwilligen Helfern wurden auch ganze Schulklassen und Erwachsenengruppen aus vielen Unternehmen und öffentlichen Institutionen zum Hopfenpflücken „abkommandiert“. Man nannte sie „Hopfenbrigaden“. Auf der Heimfahrt im Zug legte mir Irča Karten und stellte dabei fest, dass wir beide füreinander bestimmt seien. Irča, geborene Tellerová, war zwar noch verheiratet, aber sie lebte bereits mehr oder weniger in Scheidung. Sie verließ ihren Mann, und bald zogen wir zusammen. Wir wohnten in der Ziegengasse (Kozí), nur 100 Meter vom Altstädter Ring entfernt, hausten auf einer schmalen Couch, bis wir eine bessere Wohnung in der Clemensgasse (Klimentská) beziehen konnten. Wir heirateten 1951. Die gute Beziehung zu meiner geschiedenen Frau charakterisiert am besten die Tatsache, dass sie uns zur Hochzeit eine Torte schickte.

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Die Kommunistische Partei und ich Erst nach meiner Rückkehr in die Heimat im Mai 1945 erfuhr ich – genauso wie viele andere auch – von dem ganzen Gräuel und Leid, die uns dank unserer Flucht ins Exil erspart blieben. Wir hörten von Massenmorden in den Gaskammern, von Konzentrationslagern. Man erzählte uns von Schicksalen unserer Verwandten, Freunden und Bekannten, die dort umgekommen waren ... Nach und nach wurde uns erst jetzt das ganze Ausmaß unvorstellbaren Grauens bewusst – und da spreche ich nicht nur für mich, sondern auch für viele andere, die im Krieg das Gleiche erleben mussten wie ich selbst. Ich sah die grauenvollen Schlachtfelder der ersten Invasionsphase, die toten Pferde, zerschossene Holzpritschen (die von krassem Mangel an modernem Kriegsgerät zeugten). Unvorstellbar unerträglicher Leichengeruch hing in der Luft, selbst wenn die toten Soldaten inzwischen weggeschafft wurden. Später dann, als wir von Dünkirchen durch Deutschland nach Hause fuhren, sahen wir die zerbombten Städte in Schutt und Asche liegen. Ein Bild des Grauens auf der anderen Seite der Front. Ich muss dennoch zugeben, dass ich damals kein Mitleid verspüren konnte. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, akzeptierte ich einfach den Beschluss über die Abschiebung der Sudetendeutschen, nicht aber die Bestialität, die der Mob bei den „wilden Abschiebungen“ an den Tag legte. Dies alles hatte Einfluss auf meine Vorstellungen von der Zukunft. Mein Ideal war eine demokratische Republik nach den Vorstellungen von T. G. Masaryk1, dafür zog ich in den Kampf – auch wenn das vielleicht zu pathetisch klingen mag. Andererseits gab es wiederum einschneidende Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit – das Münchner Abkommen, der Verrat durch die demokratischen Verbündeten sowie persönliche Erlebnisse in der „Zweiten Republik“. Eine Zeit, in der ich schon mehr oder weniger an die Notwendigkeit zu emigrieren dachte. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich mein Studium doch nicht begonnen habe und eher nach einer Beschäftigung suchte 1 Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) war tschechischer Philosoph, Schriftsteller und Politiker. Er war Mitbegründer und erster Staatspräsident der Tschechoslowakei nach dem Zerfall der Monarchie im Jahr 1918.

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bzw. nach einer Ausbildung, die mir unter Umständen überall auf der Welt von Nutzen wäre. Ich fand sie in einer Autowerkstatt, die Arbeit dort machte mir sogar Spaß, und so wurde ich Automechanikerlehrling. Nach einer gewissen Zeit, als ich mich dort bereits heimisch fühlte, kam der Chef zu mir, nahm mir die Feile aus der Hand und meinte, dass ich doch lieber heimgehen solle. Diese Haltung war damals hierzulande leider typisch. Viele Institutionen und Verbände, vor allem die Ärzteund Rechtsanwaltskammern, aber auch viele Innungen entließen ihre jüdischen Mitglieder, und dies schon relativ lange vor dem Einmarsch der Deutschen. Es war einerseits der vorauseilende Gehorsam jener, die darin zugleich eine willkommene Möglichkeit sahen, ihre Konkurrenz loszuwerden. Später, unter Protektorat, gesellten sich dazu noch die Nazikollaborateure und selbsternannte „Arisierer“. Angesichts all dieser Umstände war ich nun offen für neue Gedanken und „neue Ideale“. Das Programm der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei (KSČ), so wie es sich uns zu jener Zeit präsentierte – Gleichheit aller Bürger ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, Religion und Hautfarbe, soziale Gerechtigkeit, nie wieder Krieg usw. usw. – klang äußerst attraktiv in den Ohren eines jungen Menschen mit unserer Erfahrung. Dabei spielte noch etwas anderes eine Rolle: In unserer Einheit waren auch einige sympathische Kameraden, mit denen man sich nicht nur über den Militäralltag im Soldatenjargon unterhalten, sondern auch über ernsthafte Themen diskutieren konnte – wie soll es nach dem Krieg werden, welche Pläne hatten wir und Ähnliches. Sie gaben mir diverse Broschüren zum Lesen, die ich wirklich interessant fand. Damals dachte ich in meiner Naivität, dass mir diese Schriften über Materialismus und Dialektik eine völlig neue Sicht der Welt eröffneten und ganz neue Erkenntnisse brächten. Der unvermeidliche Entwicklungsprozess der gesellschaftlichen Formen: von der klassenlosen Urgesellschaft, der Stammesgesellschaft über Sklaverei, Leibeigenschaft, Kapitalismus, Imperialismus bis zur Diktatur des Proletariats. Klingt doch logisch! Oder der Übergang von der Quantität zur Qualität: der Baum, die Bäume, der Wald. Und somit die vorbestimmte Entwicklung bis zur Revolution hin ... Das bedeutete keineswegs, dass ich sofort Kommunist wurde, doch diese Gedanken bekam ich nicht mehr aus dem Kopf. Und als ich dann

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Zivilist wurde und just diese sympathischen Kameraden mir vorschlugen, meine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zu beantragen, habe ich kurzerhand das Antragsformular unterschrieben. Jene Kameraden, jetzt Genossen, waren keineswegs eine Art Missionare – sie waren aufrechte Kommunisten aus Überzeugung, und viele von ihnen wurden später ebenso enttäuscht wie ich selbst. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich im Jahr 1945 der Kommunistischen Partei beigetreten bin. Die Umstände und Beweggründe wären für mich heute wie damals die gleichen. Was mich allerdings stört, ist die Tatsache, dass ich allzu lange dazu brauchte, um klar zu sehen, was wirklich los war. Nur eines kann ich zu meiner Verteidigung sagen, wohl wissend, dass es nicht gerade gut klingt – eben weil man damit schon allzu oft argumentierte, sowohl in Tschechien als auch anderswo: Das Schlimmste, was damals tatsächlich vor sich ging, das bekam ich erst gar nicht mit. Ich wusste weder von den Uranbergwerken in Joachimsthal (wo der Geheimdienst einen „tschechoslowakischen Gulag“ errichtete) noch von den Folterungen bei Verhören. Die meisten von uns waren ahnungslos. Das, was ich heutzutage über jene Zeit in den vielen Dokumentarsendungen des Tschechischen Fernsehens zu hören und zu sehen bekomme, ist mir neu. Damit will mich allerdings nicht reinwaschen. Als denkender Mensch konnte ich die politischen Prozesse der fünfziger Jahre natürlich kaum noch für glaubwürdig halten. Zweifelsohne dachten auch die meisten meiner Freunde und Bekannten genauso. Darüber redete man aber nie, nicht einmal mit seinen engen Vertrauten. Den Hintergrund der politischen Prozesse in der Sowjetunion kannte ich nicht, und so hatte ich bei den Prozessen mit Slánský2 auch keine Ahnung von den unmenschlichen Verhören, mit denen die Angeklagten zu den unglaublichsten Geständnissen gezwungen wurden. Ich hatte sehr wohl meine Zweifel, durchschauen konnte ich das herrschende System aber erst im Nachhinein. Als ich später darüber mit meiner Frau diskutierte, konnte ich weder ihr noch mir selbst erklären, weshalb ich damals nicht radikaler reagierte. Dabei stellte sich die Frage, weshalb ich nicht aus der Partei ausgetreten bin. Die Antwort war mehr 2 Ehemaliger Generalsekretär der KSČ, später stellvertretender Ministerpräsident, der schließlich des Landesverrats bezichtigt und hingerichtet wurde.

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als simpel: „Austritt aus der Partei“ gab es nicht, die Statuten sahen diese Möglichkeit gar nicht vor. Die einzig mögliche Vorgehensweise wäre gewesen, sich aus der Partei ausschließen zu lassen, was allerdings unweigerlich und unmittelbar zum Verlust der Grundlage für jede weitere Existenz geführt hätte. Mir persönlich ist kein einziger Fall bekannt, in dem sich irgendjemand freiwillig aus der Partei ausschließen ließ, wobei ich nicht behaupten will, dass so etwas nicht vorgekommen wäre. Es kam dennoch die Zeit, als wir anfingen, die Mitgliedschaft in der KSČ als Voraussetzung für eine Wende zum Besseren zu hinterfragen. Die reale Entwicklung zeugte vom Gegenteil, die Politik der KSČ führte offensichtlich in die entgegengesetzte Richtung. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal mit drei Freunden beisammen saß – dem Volkswirt Radoslav Selucký, dem Arzt des Zentralen Militärkrankenhauses Dr. Jan Háša und dem Politologen Rudolf Horák –, und wir fragten uns selbst, weshalb wir eigentlich noch immer bei der KSČ waren. Das war irgendwann anfangs der sechziger Jahre. Wir waren uns darin einig, und die spätere Erfahrung hat es bestätigt, dass sich nur dann etwas zum Besseren wenden könnte, wenn der Impuls dazu direkt aus der KSČ käme. Nur dort existierten nämlich die Foren, die Organisationen, in denen man sich treffen und austauschen konnte, wenn auch nicht immer offiziell. Jede Versammlung außerhalb der Partei, selbst die kleinste, war verdächtig und wurde als solche sofort gesprengt. Die spätere Entwicklung gab uns recht. Es waren die Universitätsfakultäten, Forschungsinstitute, Zeitungsredaktionen, manchmal sogar die Parteischulen und andere Foren, von denen Initiative und Handlungen ausgingen, die schließlich zum „Prager Frühling“ führten. Das heutige Institut für das Studium totalitärer Regime zeigt am Beispiel einiger Lebensläufe, dass das Studium an der Abenduniversität für Marxismus-Leninismus tatsächlich als „belastender Umstand“ galt, was von der damaligen kommunistischen Denkweise zeugt. Diese „Universität“ war im Grunde nichts anderes als eine Institution für die Schulung der Parteikader auf höherer Ebene, und ausgerechnet hier bildeten sich oftmals Zellen, die zum späteren Dissens führten. Ich selbst besuchte eine solche „Universität“, an der die Dozenten Eduard Novák, Klemet Lukeš und andere wirkten, die späteren Autoren des Programms des „Prager Frühlings“.

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Das Agieren vieler Kommunisten, wenn auch unter dem Mäntelchen der Parteizugehörigkeit, stand eindeutig im Widerspruch zu der Parteilinie. Dabei ging es dem überwiegenden Teil dieser Kommunisten nicht nur um die Vorbereitungen des Aktionsprogramms der KSČ im Zuge des „Prager Frühlings“, sondern auch um die alltägliche Arbeit. So war auch meine eigene Tätigkeit, und zwar sowohl meine Vorträge als auch meine Funktion als Leiter der deutschsprachigen Redaktion beim Tschechischen Rundfunk, ein Beispiel dafür. Ich will mich keinesfalls zum „kleinen Initiator“ des „Prager Frühlings“ hochstilisieren, kann jedoch reinen Gewissens behaupten, dass meine damaligen Vorträge nicht der offiziellen Parteilinie folgten. Bedauerlicherweise kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie diese Vortragsreihen organisiert wurden bzw. wer solche Auftritte initiierte. So wurde ich zum Beispiel als Ausbilder für das „Jahr der Parteischulung im Theater ABC“ bestimmt. Wer dieses Theater kannte, der kann sich leicht vorstellen, wie sich eine Parteischulung mit den Theater- und Filmschauspielern Miroslav Horníček und Stella Zázvorková und dem Artdirektor und Szenenbildner Karel Černý abspielte. Sie alle waren auf eine bissig-humorvolle Art kritisch und dafür bekannt, dass sie kein Blatt vor den Mund nahmen. Meine Sicht der Dinge sagte ihnen zu, und so wurde ich auch im folgenden Jahr als Instruktor angefordert – nur, dass im Jahr 1967 keine Parteischulungen mehr stattfanden (der Ordnung halber muss ich hinzufügen, dass der populäre Schauspieler Jan Werich an keiner meiner Schulungen teilgenommen hat). Einer meiner Vorträge, diesmal über die Außenpolitik, führte mich zum Hussiten-Kollegium3 im Prager Stadtteil Dejvice. Mit dem Ergebnis, dass man mich dort als ständigen Referenten haben wollte. Dabei hat man ganz sicher nicht von mir erwartet, dass ich die Gemeinschaft von der Richtigkeit der Linie der parteitreuen Hardliner zu überzeugen suche. ***

3 Gemeinschaft der christlichen tschechoslowakischen Hussitenkirche, die um 1920 durch Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche entstanden ist.

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Ein Parteimitglied zu werden gehörte allerdings nicht zu meinem Lebensprogramm. Ich wollte endlich etwas tun, ohne mir darüber im Klaren zu sein, was genau es sein sollte. Zu diesem Zeitpunkt meldeten sich die Genossen bei mir zum ersten Mal. Sie schickten mich zu einem hochgestellten Mitarbeiter eines Ministeriums, Bernášek hieß er, und genau wie ich war auch er aus einem westlichen Exil heimgekehrt. Und er wollte einem jungen Kommunisten helfen. Ich staunte über die Auflistung der Arbeitsstellen und Berufe, über die er disponierte, aber noch mehr verblüffte mich, was alles er mir anbieten wollte – trotz mangelnder Qualifikation. Es schien, als ob die Mitgliedschaft in der KSČ als Qualifikation so gut wie für jeden Posten völlig ausreichend war. Ich entschied mich schließlich für die Arbeit in der Tschechoslowakischen Presseagentur (ČTK), die immerhin Fremdsprachenkenntnisse verlangte. Dank meiner guten Deutsch- und Englischkenntnisse habe ich diesem Anforderungsprofil entsprochen, und so habe ich unbeabsichtigt den Grundstein meiner lebenslangen Existenz gelegt.

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Arbeitseintritt bei der Tschechoslowakischen Presseagentur Mit dem Eintritt in die Tschechoslowakische Presseagentur (ČTK) im Herbst 1945 begann für mich so etwas wie die hohe Schule des gehobenen Journalismus. Einige erfahrene Redakteure der alten Schule, insbesondere zwei von ihnen, lehrten uns das Handwerk von der Pike auf – wie man eine Zeitungsnotiz verfasst, wie ein Beitrag zu kürzen ist usw. usw. All diese Regeln kenne ich heute noch. Jahre später bildete ich beim Rundfunksender die neuen Journalisten aus und griff dabei gerne auf die alten Lehrsätze aus meiner Zeit bei der ČTK zurück. Und nochmals etliche Jahre später, im Jahr 2008, bedankte sich einer meiner einstigen Schüler in einem Zeitungsartikel bei mir dafür, dass ich ihm die Grundsätze der Journalistik beigebracht habe, und wiederholte die goldenen Regeln des Journalismus, so wie ich sie selbst in den Jahren 1945 bis 1947 in der Presseagentur ČTK gelernt und dann weitergegeben habe. Ebenso lobend erwähnte mich in seiner Ansprache auch Jiří Dienstbier.4 Auch er hatte beim Rundfunk unter meiner Leitung als „Lehrling“ angefangen. Ich erwähne es nicht, um mir selbst auf die Schulter zu klopfen, sondern um damit den professionellen Charakter der Presseagentur in der Nachkriegszeit zu unterstreichen. Allerdings auch, um aufzuzeigen, wie nach der Machtübernahme durch die Kommunisten alles Positive sinnlos zerstört wurde. Jetzt aber zurück zu meiner Anfangszeit bei der ČTK. Bald widmete ich mich nicht nur der simplen Berichterstattung, sondern begann auch meine Journalistenkarriere. In der Tageszeitung My (Wir), dem Vorgänger von Mladá Fronta5, brachte ich auf der letzten Seite eine Übersicht ausländischer Aktualitäten der letzten Woche. Und außerdem tat ich etwas, was ich heute für unseriös halte: Die Redaktion schickte mir diverse Reiseberichte, die der ausländischen Presse entnommen wurden, ich schrieb sie um und gab sie unter einem anderen Namen als meine eigenen Reportagen aus. Nach und nach kam ich immerhin zu einer seriösen Journalistenarbeit. Ich schrieb Berichte über die Lage in Deutschland für die Zeitschrift Světové Rozhledy (Weltrundschau) und gab in der 4 Unterzeichner der Charta 77, Weggefährte von Václav Havel und nach der „Samtenen Revolution“ Außenminister der Tschechoslowakei (1989–1992). 5 „Die Junge Front“ – das Sprachrohr des kommunistischen Jugendverbandes.

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verlagseigenen Bücherreihe zwei Broschüren mit Deutschland­thema­tik heraus. In der damaligen Redaktion der ČTK herrschte ein angenehmes Klíma – bis zum Februar 1948. Es war eine Zeit, die politisch sehr aufgeladen war, unser Umgang miteinander war aber trotz unbestrittenen politischen Spannungen und unterschiedlichen politischen Ansichten der einzelnen Redakteure stets freundschaftlich. Ich war, wie schon gesagt, Kommunist, neben mir saß der Kollege Rybička, ein Anhänger der Tschechoslowakischen Nationalsozialen Partei. Wir stritten, haderten, zankten uns – in aller Freundschaft. Dann kam der Februar 1948 und mit ihm der Umsturz. Die schicksalhaften Februarereignisse habe ich nicht direkt miterlebt, da ich gerade an einer schweren Grippe laborierte. Ich lag im Bett und war auf den Rundfunk angewiesen. Als ich nach meiner Genesung wieder ins Büro kam, war Rybička fort und mit ihm auch die alte Journalistenriege, die uns das Metier beigebracht hatte. Ihre Stellen nahmen jetzt andere ein, zwar ebenso alt, aber bei Weitem nicht so erfahren und kaum für diesen Beruf qualifiziert. Aber sie alle waren Kommunisten. Das Niveau war rapide gesunken, und in der Redaktion herrschte plötzlich ein ganz anderer Arbeitsstil. Man veröffentlichte nur noch die amtlich genehmigten Beiträge. Unter den neuen Bedingungen blieb ich in der Redaktion allerdings nicht mehr lange. Bald nach den Februarereignissen wurde ich nach Berlin als Korrespondent entsandt. Auch dies war ein Beispiel der neuen Vorgehensweise: Infolge der Politsäuberungen fehlte es an erfahrenen Journalisten, und so schickte man nach Berlin mich, und dies, obwohl ich eigentlich erst dabei war, das Metier richtig zu erlernen. Für einen selbständig agierenden Auslandsjournalisten war meine Lehrzeit von knapp anderthalb Jahren einfach zu kurz gewesen. Natürlich war ich hocherfreut, und diese „Kaderpolitik“ störte mich damals nicht im Geringsten. Und damit beging ich im Grunde meine erste „Verfehlung“ als Kommunist. Ich bedauerte zwar, dass Rybička und die anderen Kollegen „gegangen wurden“, aber zugleich akzeptierte ich das Argument der Kommunistischen Partei: „Wenn der Wald gerodet wird, fliegen eben Späne.“ Was da eigentlich der Wald, aber vor allem, was die Späne sein sollten, habe ich allerdings nicht verstanden.

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Berlin 1948/1949 Die Arbeit in Berlin gefiel mir, weil es in den Anfängen ein ganz normaler Journalistenjob war. Damals schrieb uns niemand vor, was man durfte und was nicht. Als Auslandskorrespondent konnte ich tatsächlich noch unabhängig arbeiten, und zwar sowohl in Westberlin als auch in Ostberlin, und lieferte Nachrichten aus allen zugänglichen Quellen. Inwieweit und ob überhaupt diese wirklich veröffentlicht wurden, das weiß ich natürlich nicht, jedenfalls kamen aus Prag keine Klagen. Ich erfuhr auch nichts von der Zensur, der zweifelsohne auch meine Nachrichten unterzogen wurden. Ich wohnte im russischen Sektor, akkreditiert war ich bei allen alliierten Besatzungsmächten, und dementsprechend besaß ich gleich vier Akkreditierungsausweise: den sowjetischen, britischen, amerikanischen und den französischen. Ich konnte mich in allen vier Zonen Berlins frei bewegen und unterhielt zu allen Büros der Alliierten gute Kontakte. Die Bezugscheine für Benzin (und was uns Auslandskorrespondenten sonst noch an Zuteilungsmarken damals zustand) erhielt ich von den Sowjets. Ich muss ehrlich sagen, dass unser Kontakt sehr freundschaftlich war, Meinungsverschiedenheiten gab es nie. Zwei der sowjetischen Kollegen kannte ich sogar näher, einen Korrespondenten und seine Kollegin. Sie hatten die gleichen Ansichten wie ich, und so haben wir uns sehr gut verstanden. Bei den Wahlen in Westberlin bekam ich die Weisung, nach irgendwelchen Beweisen von Wahlunregelmäßigkeiten zu suchen, meine sowjetischen Kollegen hatten ihrerseits den gleichen Auftrag. Wir alle kannten die Westberliner Situation sehr gut und mussten über das Wunschdenken der Obrigkeit herzhaft lachen. Über den Wahlausgang lieferte ich einen wahrheitsgetreuen Bericht ab. Ein Kapitel für sich waren meine Dienstautos. Ohne Auto ging es damals überhaupt nicht, es gab einfach keine andere Möglichkeit, sich in Berlin zu bewegen. Außerdem musste ich auch zwischen Berlin und Prag pendeln. Man stellte mir sogar einen in Vollzeit beschäftigen Chauffeur bei, zu dessen Aufgaben neben dem Fahren auch diverse Erledigungen außerhalb der Redaktion und Beschaffung von Arbeitsunterlagen gehörten. Nach Prag fuhr ich meistens alleine, manchmal ließ

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ich mich auch hinfahren, vor allem, um meinem Chauffeur, dem Herrn Burmeister, einen netten Pragbesuch zu ermöglichen. Das erste Auto, das ich als Dienstwagen bekam, war ein Aero Praga. Welches Modell genau, das habe ich längst vergessen. Jedenfalls war es ein stärkeres Fahrzeug mit lang gezogener Motorhaube, die ihm ein durchaus sportliches Aussehen verlieh. Ich freute mich und fuhr fröhlich nach Berlin. Ich kam bis zu meinem damaligen Wohnort im Bezirk Hohenschönhausen – und ausgerechnet an der Ecke, in Sichtweite meiner Wohnung, krachte es plötzlich, und ich saß „eine Etage tiefer“. Die Halbachse war gebrochen. Ich ließ es reparieren, doch der Wagen hielt nicht mehr lange. In Prag erfuhr ich, dass mein Vorgänger stets ältere Autos kaufte, die er instand setzen ließ. Man wusste allerdings nicht, wo, und erwartete von mir, dass ich es selbst herausfinde. Tatsächlich fand ich gleich zwei der Autowerkstätten. In einer stand ein Auto, dessen Umbau noch mein Vorgänger in Auftrag gab: ein Mercedes Benz, vorher war er ein kleiner Lieferwagen gewesen. Auf Wunsch des Kollegen Popper wurde die Ladefläche einfach entfernt und die beiden Vordersitze (Hintersitze gab es keine) mit einer schrägen Blende mit Hinterachse überdacht, sodass daraus am Ende ein verhunzter Zweisitzer mit starkem, Benzin fressendem Motor wurde. Ich fuhr diesen Wagen mehrere Monate lang, zur Gaudi der ganzen tschechoslowakischen Kolonie in Berlin. In der anderen Werkstatt entdeckte ich Poppers nächste Beute, wieder mal einen Mercedes, diesmal ein ordentliches Modell 170. Das Auto hatte die Form eines Bügeleisens, nicht unähnlich der tschechischen Praga. Allerdings hatte der Wagen einen kleinen Defekt: Im Schlauch für die Benzinzufuhr war ein kleines Loch, ein neuer Schlauch war nicht zu bekommen. Ich klebte das Loch mit Leukoplast zu, immer wieder. Wie hinlänglich bekannt, löst sich Klebstoff in Benzin auf, und so fing der Motor an, schon nach einigen Kilometern zu husten. Ich musste jedes Mal anhalten, herausspringen, die Motorhaube hochreißen, das „Pflaster“ tauschen und flott die nächsten Kilometer in Angriff nehmen. Irgendwann gelang es dem Herrn Burmeister doch noch, einen neuen Schlauch aufzutreiben. Aus der Automobilmisere konnte ich mich schließlich aus eigener Kraft befreien. Offizielle Handelsbeziehungen mit der sowjetischen

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Zone existierten zwar noch nicht, aber beiderseitiger Bedarf an Güteraustausch war sehr wohl vorhanden. Diesen deckten in der späteren DDR die „Handelsvertreter“ ab, d. h. Repräsentanten tschechoslowakischer (selbstverständlich nunmehr staatlicher) Firmen, die Handelsgeschäfte mit ihrer deutschen Gegenseite (die offiziell als Privatpersonen galten) betrieben. Die Handelsvertreter vor Ort, manchmal mit ihrer Familie, waren für die kleine tschechoslowakische Kolonie eine Bereicherung. Sie bezogen, ähnlich wie auch ich, ihr Gehalt in Dollars. Mit einem dieser Burschen freundete ich mich an. Irgendwann erhielt er mehrere Monate lang kein Gehalt, und wohl wissend, dass es sich nur um einen vorübergehenden Engpass handelte, borgte er sich von mir einige Hundert Dollar. Dazu muss ich vorausschicken, dass er meinen Ärger mit den Autos allzu gut kannte und mir daher als Gegenleistung für mein Entgegenkommen sein Privatauto lieh, während er selbst seinen Dienstwagen fuhr. Als sein Geld endlich eingetroffen war, machte er mir folgendes Angebot: Entweder bekomme ich mein Geld zurück, oder aber ich behalte seinen Wagen. Ich entschied mich für das Fahrzeug, einen Zweiliter-Opel Kapitän in einwandfreiem Zustand. Sobald ich das Auto übernommen hatte, schickte ich Herrn Burmeister damit zu Opel nach Rüsselsheim zur Generalüberprüfung. Burmeisters Reise nach Rüsselsheim verlief jedoch nicht ohne Zwischenfall. Einige Stunden nachdem er Berlin verlassen hatte, rief mich eine sowjetische Patrouille an, um mir mitzuteilen, dass sie den Dieb meines Autos in Gewahrsam hätten. Ich versicherte ihnen, dass Herr Burmeister ganz sicher kein Dieb sei, und dass ich selbst ihn mit sämtlichen Dokumenten ausgestattet habe, damit er die Grenze nach Westen passieren kann. Nach Überprüfung meiner Angaben ließ man sich von mir zwar überzeugen, bestand aber darauf, dass ich sowohl den Wagen als auch den Fahrer höchstpersönlich abhole. Ich fuhr am nächsten Tag hin. Man erklärte mir, dass der Fahrer die ganze Nacht eingesessen habe und ihm deshalb jetzt ein Frühstück zustehe, sodass man ihn erst danach entlassen werde. Und so geschah es. Ich fragte den diensthabenden Offizier, was genau zu tun sei, damit Herr Burmeister die Zonengrenze überschreiten und den Wagen endlich ins Werk bringen könne. Der Offizier antwortete: „Soll er doch fahren, die Papiere hat er ja. Mit ein bisschen Glück wird sich der Grenzposten auskennen und lässt ihn

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durch.“ Burmeister hatte das „bisschen“ Glück und wurde nicht mehr verhaftet. In Rüsselsheim wurde dann der tadellose Gesamtzustand des Gefährts allseits bewundert. Ich fuhr den Wagen bis zum Jahr 1954, bis ich ihn verkaufen musste, nachdem ich bereits seit einem halben Jahr arbeitslos war. Neben solchen im Nachhinein recht lustigen Erlebnissen gab es selbstverständlich die alltägliche Arbeit. Eine Sekretärin und ein einheimischer Mitarbeiter, ein Sudetendeutscher, gingen mir dabei zur Hand. Der Mann, aus meiner damaligen Sicht schon ein älterer Herr, war ein äußerst netter und angenehmer Mensch. Einmal hat er mich richtiggehend geschockt, indem er mir zum Geburtstag einen Blumenstrauß schenkte. Hinterher ließ ich mich belehren, dass es bei gewissen Anlässen in Deutschland durchaus üblich sei, einen Blumenstrauß auch einem Mann zu schenken. Zum Thema Blumen fällt mir noch eine andere Geschichte ein. Die Gattin eines der Handelsvertreter feierte einen runden Geburtstag, und man lud auch mich zu der Feier ein. Ich kaufte einen großen Strauß roter Rosen. Als ich ihr das Bouquet samt Gratulation feierlich übergab, fielen mir plötzlich die verlegenen Gesichter einiger Gäste auf. Nachher erklärte man mir, dass in der deutschen „Blumensprache“ rote Rosen als Liebeserklärung gelten. In der Prager Redaktion brachte ich einmal zur Sprache, dass ich – wenn ich über Deutschlands Hauptstadt berichten soll, und zwar über Ost- wie auch Westberlin – auch die Situation im Westdeutschland kennen sollte. Daraufhin genehmigte man mir erstaunlicherweise eine einmonatige Dienstreise nach Westdeutschland und stellte mir die notwendigen Geldmittel in westlichen Währungen zur Verfügung. Mein erstes Abenteuer erlebte ich schon an der Demarkationslinie, die den sowjetischen Sektor von dem amerikanischen trennte. Jede der vier Besatzungsmächte hatte ihre eigene Währung, sodass man in den Geschäften, Hotels usw., in denen die Angehörigen der Besatzungsmächte (Soldaten, Beamte und sonstiges Personal) verkehrten bzw. verkehren durften, mit eigenem Besatzungsgeld – Dollars, Pfunde oder französische Franken – zahlen konnte. Als akkreditierter Auslandskorrespondent gehörte ich ebenfalls dieser Kategorie an. Darum führte ich all diese Besatzungswährungen mit, und darüber hinaus bekam ich zur

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Sicherheit noch die Originalgeldscheine, also die echten Dollars, Pfunde und französische Franken. Des Weiteren hatte ich noch D-Mark dabei, und weil ich in Berlin wohnte, so fehlte auch nicht die spezielle Westberliner Währung, die sogenannte B-Mark. In meiner riesigen Geldtasche, etwa wie sie die Oberkellner benützen, befanden sich außerdem noch einige tschechoslowakische Kronen. Knapp vor dem Grenzübergang hielt ich kurz an und machte ein Foto von einer Tafel mit dem imposanten Hinweis, dass ich soeben „die Sowjetische Besatzungszone verlasse“. Ein kardinaler Fehler. Als erstes wollte der Grenzsoldat meine Kamera konfiszieren – eben weil ich an der Grenze fotografierte. Ich habe mich tausendmal entschuldigt, ich hatte ja keine Ahnung, dass die Sektorengrenze als Staatgrenze galt. Immerhin konnte ich erreichen, dass ich die Kamera behalten durfte und nur den Film hergeben musste. Der Offizier setzte sich dann mit mir an einen Tisch und prüfte eingehend meine zahlreichen Dokumente, Akkreditierungen und den Reisepass, sogar die Mitgliedsausweise diverser Journalistenverbände. Dann kam das Geld an die Reihe. Ich musste ihm jede Währung einzeln erklären und begründen, und dabei teilte er die Geldscheine sorgfältig in separate Häuflein, die Ostmark, B-Mark, D-Mark, Besatzungsdollars, echte Dollars und Besatzungsfranken und so weiter und so fort. Bei jeder einzelnen Währung musste ich ihm sagen, wozu ich diese benötige. Als letzte nahm er die tschechoslowakischen Kronen in die Hand und stellte wieder die obligate Frage: „Und wozu brauchen Sie diese?“ Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich diese Scheine eigentlich gar nicht brauche, worauf er die ganzen Geldscheine wütend zu einem großen Haufen zusammen schob und mich anschnauzte: „Nehmen Sie DAS und fahren Sie fort!“ Also fuhr ich weiter. Das erste Ziel meiner Reise war Frankfurt am Main. Es war damals die wichtigste Stadt Westdeutschlands, aber vor allem befand sich dort das Alliiertenhotel, in dem unser zuständiger Korrespondent für die westliche Besatzungszone, Vladimír Veselý, mit seiner Gattin Marie untergebracht war. Ich hatte dort eine Übernachtung gebucht und wollte mir von ihm vor der Reise noch einige Informationen geben lassen. In Frankfurt kam ich gegen Abend an, bezog das Zimmer und erkundigte mich nach Veselý. Man sagte mir, dass er mit Gattin im Kino

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sei und so gegen 22 Uhr zurück sein müsste. Ich ging essen, und als ich wieder zurück war, ließ ich ihm von der Rezeption ausrichten, dass ich ihn sprechen möchte. Ein Weilchen später kam Frau Veselá, begrüßte mich halbherzig und fragte nach dem Grund meines Besuches. Ich erklärte es ihr, sie taute ein wenig auf und ging ihren Mann holen. Wir redeten dann fast bis Mitternacht und gingen im Guten auseinander. Nachher stellte sich heraus, dass, als die Veselýs von meiner Ankunft hörten, sie befürchteten, dass ich mich „in den Westen absetzen“ möchte, und sie wollten dadurch nicht in Schwierigkeiten geraten. Ich bereiste Westdeutschland kreuz und quer und sah dort u. a. große Werke, deren Maschineneinrichtungen von den westlichen Alliierten demontiert wurden. Ansonsten kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich dort damals gesehen und erlebt habe. Nach einiger Zeit traf ich die Veselýs in Prag, und wir wurden gute Freunde. Als ich dann stellvertretender Direktor bei Telepress war, konnte ich Marie Veselá in unserer Redaktion einstellen. Im Jahr 1957 wurde ich vom Hörfunk zur Leipziger Mustermesse entsandt. Veselý war inzwischen ein bekannter Journalist, arbeitete beim Tschechoslowakischen Fernsehen, und auch er war zur gleichen Zeit in Leipzig. Eines Tages sollten wir zu dritt ein Interview mit dem tschechoslowakischen Wirtschaftsminister führen – Veselý für den Fernsehsender, Vladimír Tosek und ich für den Rundfunk. Wir wollten uns vorher treffen und gemeinsam hingehen. Tosek und ich warteten vergebens auf Veselý. Nach einer Weile kam ein unbekannter Deutscher auf uns zu, teilte uns lakonisch mit, dass Herr Veselý nicht mehr kommen werde, und verschwand wieder. Grußlos und schnell, ohne dass wir ihn überhaupt nach dem Grund fragen konnten. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass Veselý am Vorabend von der Staatsicherheit verhaftet und noch in der gleichen Nacht den tschechoslowakischen Sicherheitsorganen übergeben wurde, die ihn nach Prag brachten. Nach einer gewissen Zeit stand Veselý vor Gericht. Die Prozesse waren damals zwar öffentlich, von der Öffentlichkeit wurden sie jedoch mit Misstrauen verfolgt. Aus diesem Grund beschlossen Kollege Alois Svoboda und ich, diesen Prozess gemeinsam genauestens zu beobachten. Veselý wurde wegen Spionage angeklagt, und obendrein legte man ihm zur Last, Kontakte zu emigrierten Sozialdemokraten, für die er

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Geldbeträge nach Deutschland verschoben haben sollte, zu unterhalten. Er wurde zum Tode verurteilt, das Urteil wurde hinterher auf 25 Jahre Gefängnis „abgemildert“. Im Verlauf der Gerichtsverhandlungen, aber auch durch das Auftreten von Veselý selbst, gewannen wir beide den Eindruck, dass die Anschuldigungen nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, was jedoch nach unserem Dafürhalten keineswegs ein Kapitalverbrechen darstellte. Das Urteil war ein Paradebeispiel der kommunistischen Willkür. Veselý wurde gegen Ende der sechziger Jahre vorzeitig aus der Haft entlassen. Wir haben unseren alten Kontakt wieder belebt, und als wir uns später in der Emigration erneut trafen, arbeiteten wir in alter Freundschaft weiter zusammen (er für das Fernsehen, ich für den Rundfunk) – bis zu seinem vorzeitigen Tod. Aus den Quellen der deutschen Staatssicherheit konnte ich später in Erfahrung bringen, dass dieser Prozess der damaligen kommunistischen Rechtsprechung entsprach und die Kontakte mit den im Exil lebenden Sozialdemokraten tatsächlich existierten. Ein Todesurteil, herabgesetzt auf 25 Jahre Haft, war allerdings durch diese Argumente nicht zu rechtfertigen.

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Wodka und Missionare Während meiner Korrespondententätigkeit in Berlin waren meine Beziehungen zur Leitung der Presseabteilung der sowjetischen Besatzungsverwaltung, dem Sowjetischen Nachrichtenbüro (SNB), ausgesprochen gut. Dort war ich akkreditiert, und von dort erhielt ich auch die Bezugsscheine für Kraftstoff und sonstige Waren, über die das SNB verfügte. Der Kommandant war ein älterer Major, ein überaus jovialer und netter Herr. Als ich einmal meine Zuteilungsscheine abholen wollte, bat mich seine Sekretärin, noch einen Moment zu warten, da der Herr Major mit mir noch sprechen wolle. Einige Minuten später rief er mich in sein Büro, und die „Unterredung“ entpuppte sich als eine Einladung zum Essen. Am Mittagstisch saßen wir dann zu dritt: er selbst, sein Stellvertreter und ich. Der Stellvertreter, ebenfalls Major, war ein jüngerer Mann von typisch russischem Aussehen, untersetzte Statur, rundes Gesicht, im Grunde sehr sympathisch und humorvoll. Noch bevor wir mit dem Essen anfangen konnten, stand schon vor jedem von uns ein Glas Wodka auf dem Tisch –das sind bei den Russen 100 Gramm. Der Stellvertreter fragte mich: „Trinken Sie Wodka?“ „Na, klar tue ich das!“ Und darauf er: „Bei uns trinkt man den Wodka so!“, und er nahm das Glas und kippte es hinunter. Ich sagte „Leider wird der Wodka bei uns nicht so getrunken, so trinken wir Slibowitz. Kennen Sie Slibowitz?“ „Aber selbstverständlich!“ Ich nahm das Glas, leerte es in einem Zug und erklärte: „So wird bei uns der Slibowitz getrunken!“ Was das Trinken anbetraf, war ich damals richtig gut in Form. Ohne zu übertreiben: Seit diesem Augenblick war ich „ihr Mann“. Die Trinkfestigkeit spielte bei den Russen wirklich eine große Rolle, vermutlich bis heute. Zum Thema Wodka kann ich noch ein Erlebnis zum Besten geben. Zu jener Zeit gab es noch keine offiziellen Kontakte zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland. Sämtliche Kontakte, Anfragen, Entscheidungen und so weiter liefen über die Sowjetische Militärverbindungsmission (SSM). Vor Unterzeichnung des ersten Handelsabkommens zwischen der Tschechoslowakei und der deutschen Zone unter russischer Verwaltung liefen die Verhandlungen über die Sowjets, wobei die deutschen Vertreter zwar ihre Meinungen und Anliegen vorbringen und begründen konnten, das

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Sagen hatten jedoch die Vertreter der Sowjets und der Tschechoslowakei. Damit hängt auch die folgende Geschichte zusammen, und ich schwöre, dass sie tatsächlich so passiert ist. Die Sowjets, mit denen ich mich mittlerweile sehr gut verstanden habe, sagten mir ganz im Vertrauen: „Bitte sagen Sie Ihren Leuten, dass sie selbstbewusster auftreten und ihre eigenen Interessen besser wahren sollten. Sie setzen rein gar nichts durch und warten immer erst unsere Stellungnahme ab.“ Genauso verhielten sich die Tschechen schon damals. Dies bestimmte später auch die Politik der tschechischen und slowakischen kommunistischen Machthaber. Nach dem Motto: „Wir spannen den Regenschirm erst dann auf, wenn es in Moskau regnet!“ Der Vertrag wurde unterzeichnet, und der obligate tschechoslowakisch-sowjetische Empfang folgte – ohne Anwesenheit der deutschen Seite. Und jetzt komme ich auf den Wodka zurück. Ich hatte schon einige russische Empfänge und Abendfestmahle hinter mir, und deshalb wusste ich, dass der Wodka aus Gläsern mit einem besonders dicken Boden getrunken wird. Diesmal nahm mich aber jemand beiseite und warnte mich: „Seien Sie vorsichtig! Sie kennen ja diese Gläser mit dem dicken Boden, aber dieses Mal gibt es Gläser mit einem dünnen Boden, und deshalb wird mehr Wodka drin sein als sonst.“ Keine Ahnung, ob die Russen damit die tschechische Unentschlossenheit bestrafen wollten. Bei den Empfängen wurde regelmäßig auf das Wohl des Genossen Stalin, des Genossen Gottwald und einer endlosen Reihe sonstiger Genossen, auf die sowjetisch-tschechoslowakische Freundschaft und so weiter und so fort angestoßen. Und das Glas musste bei jedem Trinkspruch geleert werden! Eine tschechoslowakische Delegation kam in Berlin an, geleitet von Professor Brügel, dem damaligen Chef der Militärmission in Westberlin (der einzigen offiziellen Vertretung der Tschechoslowakei in Deutschland). Brügel nahm mich beiseite und sagte mir: „Sie wissen wohl, wie es bei den Sowjets zugeht, bei ihnen wird immer viel getrunken. Also passen Sie bloß auf, dass Sie sich nicht betrinken!“ Nachdem der Empfang vorbei war, mussten wir ihn von beiden Seiten stützen, um ihn in vertikaler Haltung in seinen Wagen zu verfrachten. Ein anderes Erlebnis, in dem der Wodka allerdings keine Rolle spielte: Es war gerade der Internationale Tag der Presse, und das SNB ver-

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anstaltete für die westlichen wie östlichen Journalisten einen Empfang. Man kannte mich bereits, ich war zwar „der Osten“, aber irgendwie doch ein bisschen „mittig“, und deshalb wurde ich bei dieser Gelegenheit um eine festliche Ansprache gebeten. Ich war einverstanden und dachte mir eine Überraschung aus: Ich verfasste meine Rede und bat eine perfekt russisch sprechende Mitarbeiterin der tschechoslowakischen Wirtschaftsabteilung darum, meine Rede ins Russische zu übersetzen und für mich in lateinischer Schrift aufzuschreiben. Wunschgemäß hat sie gleich die korrekte Betonung der Wörter markiert und mit mir den Text samt Aussprache eingeübt. Ich ging zum Podium und schmetterte ein fließendes Russisch. Während meiner Rede wurde ich zunehmend nervöser, als ich merkte, dass die Gesichter der Sowjetbonzen immer düsterer und ihre Blicke immer böser und böser wurden. Blitzartig erkannte ich: Sie dachten, dass ich meine Unkenntnis der russischen Sprache stets vorgetäuscht hätte, damit sie sich vor mir ungezwungen unterhalten können und ich alles Gesagte stets mitbekomme. Völlig entnervt beendete ich meine Rede und ergriff die erstbeste Gelegenheit, um „meinen“ Major zu suchen und ihm meinen „Spickzettel“ zu zeigen. Nach längerer Überzeugungsarbeit konnte ich sein Vertrauen wieder gewinnen. Und jetzt gebe ich noch zwei Vorfälle zum Besten, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. General Dastych, der erste Chef der Militärmission, war ein waschechter Soldat. Ich war der einzige Auslandskorrespondent in Berlin, den er jemals zum Essen eingeladen hat. Gegen Abend fuhr ich zur Mission und meldete, dass ich jetzt zum Abendessen bei Dastychs fahre, auf persönliche Einladung des Generals. „Nirgendwohin wirst du fahren! Der General und seine Gattin haben sich heute Nacht in den Westen abgesetzt“, lautete die trockene Antwort. Der neue Missionschef, Dastychs Nachfolger, war Doktor Brügel, ein deutsch schreibender Dichter, gebildet, kultiviert und durch und durch unmilitärisch. Seine Frau war attraktiv und liebenswürdig. Und nun muss ich erneut beteuern, dass dies nichts als die reine Wahrheit ist: Kurz vor Heiligabend luden mich die Brügels zum Abendessen ein. Wiederum fuhr ich zur Mission, meldete den bevorstehenden Besuch bei Brügels – und wieder bekam ich zu hören, mit praktisch identischen

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Worten, dass auch dieses Abendessen ins Wasser fällt. Auch Herr Doktor Brügel und seine Gemahlin hatten sich in der Nacht nach Westdeutschland abgesetzt. Dies zu meinen Erfahrungen mit den ersten Kommandanten der tschechoslowakischen Militärmission in Westberlin, die es für besser hielten, in den Westen zu wechseln, als weiterhin eine kommunistische Republik zu repräsentieren. In Ostberlin gab es zu jener Zeit noch keine offizielle Vertretung, nicht einmal ein Konsulat, und deshalb diente mir als „Stützpunkt“ die Westberliner Militärmission. Damals arbeitete dort als Stellvertreter Professor Antonín Šnejdárek (Historiker und Germanist, der später als Professor an der Pariser Sorbonne unterrichtete). Nach Dr. Brügels Abgang stieg er zum dritten Missionschef auf. Mit ihm und mit einem weiteren Mitarbeiter der Mission verband mich eine innige Freundschaft, und ich muss zugeben, dass wir in Westberlin ein frohes und lockeres Leben führten. Šnejdárek tauchte in meinem Leben noch bei einigen anderen Gelegenheiten auf. Dank der Tatsache, dass ich im Grunde die einzige „offizielle Person“ in Ostberlin war, hatte ich genug Gelegenheiten, eine ganze Reihe wichtiger und zum Teil auch interessanter Menschen kennenzulernen, sowohl Tschechen als auch Deutsche. Von der tschechoslowakischen Seite waren es Politiker und Kulturschaffende, die zu offiziellen Anlässen nach Berlin kamen. Ich begleitete sie nicht nur als Journalist, um darüber in Prag berichten zu können, sondern diente zugleich als eine willkommene Informationsquelle. Vor Ort gab es außer mir niemanden, der sie mit Informationen hätte versorgen können. So lernte ich den stellvertretenden Ministerpräsidenten Zdenek Fierlinger6 und den Ministerpräsidenten Antonin Zápotocký7 kennen. Zu Zápotockýs Gefolge gehörte auch Marie Koťátková, die Gattin des Landwirtschaftsministers. Ich erwähne sie deshalb, weil sie in meinem weiteren Berufsleben eine recht bedeutende Rolle spielte. In der Sowjetzone lebten als Minderheit die Lausitzer Sorben, die sich damals um Eingliederung ihrer Region in die Tschechoslowakei 6 Erst sozialdemokratischer, dann kommunistischer Politiker, im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Exilregierung in London, nach dem Krieg zweimaliger tschechoslowakischer Ministerpräsident. 7 Später zweiter Staatspräsident der Tschechoslowakei, von 1953 bis zu seinem Tod 1957.

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bemühten. Einige ihrer Vertreter suchten mich immer wieder auf und baten um meine Fürsprache in Prag. Sie haben meine Einflussnahme und meine Möglichkeiten krass überschätzt. Unter den Führungspersönlichkeiten der Sozialistischen Einheits­ partei Deutschlands (SED) befanden sich auch einige Menschen tschechischer Herkunft, zu denen ich besonders gute Kontakte hatte. Sie konnten so manchen meiner Wünsche sogar bis in die Parteispitze weiterleiten. So war es auch, als der weltberühmte Komponist Hanns Eisler aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte und Wilhelm Pieck8 noch am gleichen Abend zu seinen Ehren ein Festessen gab. Sie baten Eisler, den Saal kurz zu verlassen, um mir für die Tschechoslowakische Presseagentur ein Interview zu geben. Er kam, und wir führten ein längeres Gespräch – bis Wilhelm Pieck persönlich dazwischen platzte, mir recht unwirsch erklärte, dass Hanns Eisler sein Gast sei und nicht meiner, und den Komponisten wieder in den Saal führte. Auf gutem Fuß stand ich sogar mit Walter Bartel, dem persönlichen Referenten von W. Pieck. Später fiel er in Ungnade, möglicherweise gingen unsere Ansichten doch nicht so sehr auseinander. Jedenfalls half er mir in einer etwas peinlichen Situation. Nach der Währungsreform in der Sowjetzone wurden die Banknoten der einstigen Reichsbank praktisch über Nacht wertlos. Mein Gehalt wurde in Dollars ausbezahlt, für die Begleichung der anfallenden Kosten wie Büromiete, Gehälter des Bürogehilfen, der Sekretärin und des Fahrers, Benzin und sonstige Ausgaben ließ mir die Tschechoslowakische Nationalbank den entsprechenden Betrag Monat für Monat in Reichsmark zukommen. Damit wollte man natürlich die alten Bestände abbauen. Dies war jetzt allerdings nicht mehr möglich, und so löste die Bank das Problem wahrlich salomonisch: Die Banknoten waren zwar ungültig, nicht aber die Münzen. Diese kleinen Alumünzen stammten noch aus den Kriegszeiten, und vermutlich waren noch zu viel davon im Umlauf. Eines Tages wurde an meine Berliner Adresse eine riesige, schwere Kiste von der Nationalbank angeliefert. Darin befanden sich einige Tausend Mark – samt und sonders in kleinen Münzen! Man schickte sie einfach nach Berlin 8 Mitbegründer der SED und seit 1949 bis zu seinem Tod 1960 der erste und zugleich der einzige Präsident der DDR.

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und ließ es meine Sorge sein. Ich ging zu Bartel und erzählte ihm, was mir gerade passiert war. Er lächelte nur, machte ein kurzes Telefonat, half mir, die Kiste in den Wagen zu verfrachten, und fuhr mit mir zur Zentralbank. Dort warf man die Münzen in die automatischen Zählmaschinen und zahlte mir anschließend den entsprechenden Betrag in der neuen Währung aus. Ich bedankte mich bei ihm, indem ich ihn zu mir auf ein Pilsner Bier einlud.

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Telepress Rund anderthalb Jahre später wurde ich plötzlich aus Berlin abberufen und kehrte nach Prag zurück. Über den Grund schwieg man sich aus, man sagte mir nicht einmal, weshalb ich nicht mehr meinen alten Posten in der ČTK zurückbekam und stattdessen – vermutlich auf Weisung des Zentralkomitees der KSČ – in die Presseagentur Telepress versetzt wurde. Die Direktorin der neuen Presseagentur war jene Marie Koťátková, die ich während ihres Besuches in Berlin (bzw. sie mich) kennengelernt hatte und die mich jetzt als ihren Stellvertreter haben wollte. Für mich war es zwar ein schöner Karrieresprung, noch dazu mit einem höheren Gehalt verbunden, dennoch hatte ich dabei ein bisschen mulmiges Gefühl. Ich fragte mich, was hinter der plötzlichen Abberufung steckte und warum ich nicht mehr in der ČTK arbeiten sollte. Die Arbeit bei Telepress war relativ bequem. Die Leute arbeiteten, ich kümmerte mich um den reibungslosen Betrieb und leitete die Redaktion. Die Direktorin Koťátková war meist abwesend, sie hat sich hundertprozentig auf mich verlassen. Diese Agentur unterstand direkt dem Zentralkomitee der KSČ, und ihr Schwerpunkt waren vor allem Entwicklungsländer, denen sie ihre Dienste kostenlos zur Verfügung stellte. Unsere Kunden waren Zeitschriften, Tagespresse sowie Rundfunksender jener Länder, die sich ein Abonnement der namhaften Presseagenturen wie Reuters, APF, AP oder ähnlichen finanziell nicht leisten konnten. Wir dagegen hatten diese Dienste abonniert und konnten daher unseren Abnehmern einen perfekten Service bieten. Darüber hinaus hatten wir natürlich auch unsere eigenen Quellen und Korrespondenten, was ich für sehr vernünftig hielt. Ich zweifelte nie daran, dass diese Agentur einem guten Zweck dient. Unsere Korrespondenten kannte ich allerdings nicht und wusste auch nicht, wo sie tätig waren, persönliche Kontakte gab es keine. Ebenso unbekannt waren mir auch unsere Quellen. Der Kontakt zum Zentralkomitee lief ausschließlich über die Genossin Koťátková. Ich hatte nie den Eindruck, dass sich das Zentralkomitee in unsere Arbeit einmischte, bis auf eine Ausnahme – ein Vorkommnis, dessen Hintergrund und wahre Bedeutung ich erst einige Jahre später erkannte.

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Eines Abends, es war schon ziemlich spät, wurde ich ins Büro des Zentralkomitees zitiert, zu Bedřich Geminder. Er übergab mir eine Notiz, die ich umgehend in allen unseren Nachrichtensendungen bringen sollte. Es handelte sich um ein angebliches Treffen der Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Ich weiß nicht mehr, worum es in dieser Meldung genau ging, nur dass sie die Entwicklungsländer betraf. Ich las die Nachricht und sagte ihm: „Das muss ein Irrtum sein! Am besagten Tag befand sich der französische Außenminister gerade in ... XY. Das weiß ich mit Sicherheit.“ Geminder brüllte mich wütend an, ich solle mich da nicht einmischen (oder etwas in diesem Sinne), die Meldung sei verbürgt, und ich habe sie genauso zu senden, wie ich sie von ihm bekommen habe. Ich ließ mich durch sein Gebrüll richtig einschüchtern, verabschiedete mich und tat wie befohlen. Gerade diese Nachricht hatte für mich eine Schlüsselbedeutung, wenn auch wesentlich später. In meiner späteren Emigration bekam ich ein Buch von Ladislav Bittman in die Hand, einem ehemaligen Agenten des tschechoslowakischen Geheimdienstes.9 In seinem Buch beschreibt Bittman die Desinformationstechniken diverser Nachrichtendienste (nicht nur des tschechoslowakischen), und anhand seiner Enthüllungen über diese Institutionen und deren Arbeitsweise wurde mir klar, dass Telepress offenbar eine Agentur für Desinformation gewesen sein muss. Den überwiegenden Teil unserer Arbeit machten durchaus normale und seriöse Nachrichten und Beiträge aus. Allerdings reichten schon einige Falschmeldungen, deren Herkunft wir nicht kannten und deren wahren Zweck wir aufgrund der spezifischen Lage in den Entwicklungsländern nicht deuten konnten, um uns ohne unser Wissen als Werkzeug der Desinformationsdienste zu missbrauchen. Die einzige Nachricht, die ich als Falschmeldung erkannt habe, war eben jene über das Treffen dreier westlicher Außenminister, die mir von Bedřich Geminder aufgedrängt wurde. Für mich viel zu wenig, um das ganze System durchschauen zu können. Außerdem bekamen wir Berichte von unseren eigenen Korrespondenten, von denen wir ledig9 Bittman machte seit 1954 Karriere im Auslandsgeheimdienst, als Befürworter des „Prager Frühlings“ suchte er 1968 Zuflucht in der amerikanischen Botschaft in Bonn und lebt heute in den USA.

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lich den Namen wussten, wie auch aus anderen Quellen, deren Wahrhaftigkeit wir nicht überprüfen konnten – und wir hatten auch kein Bedürfnis, sie überprüfen zu müssen. Erst aufgrund diverser Gespräche, die ich in den neunziger Jahren führte, konnte ich mir nach und nach ein Bild über den Charakter der Telepress, ihren Zweck und ihre Praktiken machen. In einigen biografischen Beiträgen anderer Autoren wird mit der Formulierung: „Nach seiner Rückkehr aus Berlin trat Utitz in die Agentur für Desinformation Telepress ein“, häufig der Eindruck erweckt, dass ich mich auf diese Tätigkeit wissentlich eingelassen hätte. Tatsächlich konnte ich mir erst 25 Jahre später zusammenreimen, was dort damals tatsächlich gelaufen ist. Vom Schicksal eines Kollegen von Telepress erfuhr ich übrigens Jahre später auf indirektem Wege. Irgendwann in den Sechzigern trat ein britisches Gericht in London an mich heran mit der Frage, ob ich einen gewissen Mitarbeiter der Telepress kenne. Ich sah keinen Grund, es zu leugnen. Aus dem nachfolgenden Schriftwechsel ging hervor, dass es sich hierbei um kommunistische Aktivitäten dieses ehemaligen Kollegen handelte. Er stammte aus Griechenland, über seine Tätigkeit wusste ich gar nichts, aber ich konnte mir immerhin vorstellen, womit er das Missfallen der Briten erwecken konnte. Nach dem Krieg regte sich innerhalb der Kommunistischen Partei Griechenlands ein starker Widerstand gegen die britischen Befreier, und daher war auch nicht auszuschließen, dass gerade diese Tatsache einer der Gründe gewesen sein mag, die ihn vor das britische Gericht brachten. Die Briten wollten meine Reise- und Übernachtungskosten in London übernehmen, mir sogar den Verdienstausfall abgelten, ich lehnte die Einladung aber ab, als mir klar wurde, dass man von mir offenbar eine Aussage im Sinne der Anklage erwartete. Als die politischen Schauprozesse in der Tschechoslowakei der fünfziger Jahre begannen, war Geminder unter den ersten Verhafteten. Er wurde des Landesverrats angeklagt und 1952 hingerichtet. Die Agentur Telepress wurde aufgelöst. Eine Gruppe Agenten der Staatssicherheit besetzte die Redaktion, befahl uns, unsere persönlichen Sachen an uns zu nehmen, überprüfte sie – und forderte uns auf, die Räumlichkeiten auf der Stelle zu verlassen. Innerhalb von knapp einer Stunde war Telepress nur noch Geschichte. Für mich bedeutete es, dass ich mit einem

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Schlag arbeitslos wurde – und so etwas durfte im Sozialismus gar nicht existieren. Ich meldete mich beim Arbeitsamt an und pilgerte ein halbes Jahr lang regelmäßig hin, um nach Arbeit zu fragen. Für mich fand sich nichts. Ich suchte auch selbst, doch für einen Menschen mit meiner Herkunft gab es keine Arbeit, nicht einmal in einer Fabrik.

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Gastauftritt im Gesundheitswesen Nach etwa einem halben Jahr hörte Professor Bohumil Spacek, Leiter des Instituts für experimentelle klinische Chirurgie, von meinem Schicksal und stellte mich als Bibliothekar und Dokumentalist an. Ich bekam ein kleines, helles Büro im Untergeschoss des Instituts, mit angrenzendem, riesigem Sitzungssaal, in dem Sitzungen, Besprechungen und Vorträge stattfanden, aber auch Partys. Und an all den Wänden standen leere Bücherregale, vom Boden bis zur Decke. Meine Aufgabe war es nun, mich in die Thematik des Instituts zu vertiefen und sämtliche Buchläden und Antiquariate Prags abzuklappern, um Fachliteratur zu besorgen, die einen Bezug zur Arbeit des Instituts hatte. Dafür stellte man mir Finanzmittel zur Verfügung, die oft höher waren, als ich eigentlich gebraucht hätte, da das Angebot an entsprechenden Fachschriften (neu wie alt) meist kleiner war, als man sich gewünscht hätte. In den knapp zwei Jahren, die ich im Institut verbrachte, ist es mir immerhin gelungen, das Gros der Bücherregale im Sitzungssaal zu füllen. Neben meiner Tätigkeit als Bibliothekar arbeitete ich auch als Dokumentalist. Das bedeutete, dass ich jedes einzelne Buch zwar nicht unbedingt lesen, doch zumindest soweit durchblättern musste, um festzustellen, welches Thema es behandelt. Auf der dazugehörigen Karte vermerkte ich die wichtigen Informationen wie: Autor, Ausgabe, Inhaltsangabe und sonstige Details. Die Arbeit machte mir viel Spaß, und nach rund einem Jahr schrieb ich bereits unter Spaceks fachlicher Beratung populärwissenschaftliche Beiträge für diverse Zeitschriften. Dafür zollte mir das Institut Anerkennung. In dieser Tätigkeit sah ich jetzt meine nächste Zukunft, entschied mich daher für ein externes Studium des Bibliothekwesens und der Dokumentalistik und wollte mich an der Hochschule anmelden. Professor Špaček war eine eigenartige Persönlichkeit. Er war Mitglied des Zentralkomitees der KSČ, was ihn jedoch keineswegs daran hinderte, mich und später auch meinen Cousin einzustellen, der ebenfalls von seinem Arbeitgeber rausgeworfen worden war. Unter anderem half er auch meinem Kollegen Jiří Lederer, dem im Zuge der Schauprozesse eine Verhaftung drohte. Um Lederer vor der Verhaftung zu bewahren, ließ ihn Špaček in seinem Krankenhaus stationär aufnehmen.

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Von Špaček konnte ich schließlich den Grund für meine vorzeitige Abberufung aus Berlin erfahren. In meiner Beurteilung stand genau das, was man mir auch später vorwarf: meine „bürgerliche“ Herkunft und mein Dienst in der westlichen Exilarmee. Die Arbeit in Špačeks Institut war besonders angenehm, zudem das dortige Kollektiv aus Jungärzten bestand. Es waren durch die Bank Assistenzärzte, die Erfahrungen sammeln sollten. Ich freundete mich mit einigen an und war natürlich bei ihren Gesellschaftsabenden immer dabei. Einer dieser Ärzte und seine ganze Familie zählen heute noch zu unseren besten Freunden. Diese, ich würde fast sagen: Idylle, nahm ein unerwartetes Ende auf eine interessante oder eher unglaubliche Art und Weise, und es kam genauso, wie ich es jetzt schildern werde.

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Wie kommt man zum Rundfunk Eines Tages rief mich eine unbekannte junge Frau an und fragte mich, ob ich nicht für den Rundfunk arbeiten möchte. Ich sagte ihr, dass ich es sogar liebend gerne tun würde, sie solle mir nur sagen, was von mir erwartet werde. Einige Wochen lang herrschte Funkstille, dann rief mich mein Freund Vladimír Till an, der damals beim Rundfunk arbeitete, und sagte mir wortwörtlich: „Man sagte dem Mädchen bzw. der Frau, die dich angerufen hat, sie solle dich nicht mehr anrufen, weil deine Mitarbeit unerwünscht sei!“ Er riet mir gleich dazu, das Zentralkomitee der Partei aufzusuchen und eine Erklärung zu verlangen, weshalb meine Mitarbeit unerwünscht sei. Ich könne mich da ruhig auf ihn berufen, er sei ja dabei gewesen, als man es jener Frau nahelegte. Sein Verhalten damals fand ich ziemlich mutig. Ich ging also zum ZK und wollte mit jemandem aus der Presse- und Rundfunkabteilung sprechen. Der Leiter dieser Abteilung war damals Karel Hoffmann, der spätere Minister für Kultur und Information, der im August 1968 den Tschechoslowakischen Rundfunk abschalten ließ, um das Verlesen des „Aufrufs an das Volk der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik“ zu verhindern.10 Wie von meinem Freund empfohlen, fragte ich Hoffmann nach dem Grund für die Ablehnung meiner Mitarbeit. Er antwortete sinngemäß: „Na ja, Genosse, das musst du doch verstehen. Bürgerlich-ausbeuterische Herkunft, westliche Armee, es ist halt schwierig!“ In diesem Moment habe ich nur noch rotgesehen und die Selbstbeherrschung verloren. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte: „Meine ausbeuterische Herkunft bestand darin, dass ich seit meinem 14. Lebensjahr mit Nachhilfeunterrichtsstunden zum Familienunterhalt beitragen musste. Und die Tatsache, dass ich in der westlichen Exilarmee kämpfte, macht mich stolz. Ja, ich bin verdammt stolz darauf, dass ich gegen die Nazis kämpfte und keiner von diesen Kollaborateuren war, die Sie jetzt in Ihrer Partei aufnehmen!“ Der Genosse Hoffmann schreckte ein bisschen zurück, stand auf und ging 10 Dieser Aufruf des ZK der KSČ richtete sich an alle Bürger des Landes. Die Invasion des Warschauer Paktes wurde darin als Völkerrechtsbruch bezeichnet und die Bürger darüber informiert, dass die „Brüderarmeen“ soeben ohne Wissen und gegen den Willen der Verfassungsorgane das tschechoslowakische Gebiet besetzen.

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wortlos raus. Ich rechnete mit einem Debakel und mit dem Rauswurf aus dem Krankenhaus. Eine Weile später kam Hoffmann wieder zurück und fragte: „Möchtest du wirklich beim Rundfunk arbeiten?“ Ich antwortete, dass ich es sehr gerne tun würde. „Gut, du kannst im Mai anfangen. Fülle diesen Fragebogen aus und füge deinen Lebenslauf bei“, worauf ich meinte: „Sie haben von mir bereits unzählige Fragebögen bekommen und ebenso viele Lebensläufe, ich kann ja gar nichts Neues hinschreiben.“ Ich ging nach Hause, und sechs Wochen später bekam ich die Nachricht, dass ich beim Rundfunk anfangen soll. Ich habe um einen Monat Aufschub gebeten, damit sich mein Nachfolger im Krankenhaus noch einarbeiten konnte. Dank meiner Deutschkenntnisse kam ich zum Auslandsfunk, in die deutsche Redaktion. Unsere Sendungen waren für die BRD bestimmt und sollten unser politisches System propagieren. Zu meiner Zeit war es eine ziemlich fade Sache: Senden konnten wir lediglich die offiziellen Darstellungen von dem, was sich gerade ereignete, wer was gesagt hat, eine Übersicht der offiziell genehmigten Pressemeldungen und Ähnliches. Dieser Zeitraum war relativ lang, und erst Anfang der sechziger Jahre machten sich gewisse Vorzeichen dessen bemerkbar, was dann als „Prager Frühling“ in die Geschichte einging. Bald kamen wir darauf, dass wir jetzt nicht mehr ganz so getreu nach Richtlinien und Willen der Partei zu dienen hatten, sondern auch gewisse Eigeninitiative ergreifen durften. In Anbetracht dessen, dass unsere Sendungen vor allem in der DDR beliebt waren, wurden jetzt die ostdeutschen Bürger zu unserem bevorzugten Zielpublikum. Wir hoben insbesondere jene Aspekte des Lebens in unserem Land hervor, die von einer gewissen Lockerung zeugten und im Gegensatz zu der Situation in der DDR standen. Diese Tendenz setzte sich während der folgenden Jahre in unseren Sendungen immer mehr durch, und so wurde unsere Arbeit schließlich von Überlegungen geprägt, wie wir unsere ostdeutschen Hörer beeinflussen könnten. Dieser Trend erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 1967 und 1968. Die DDR schickte uns regelmäßig einen ihrer Journalisten, der uns als „fachlicher Berater und Helfer“ zur Seite stehen sollte. Diese Praxis hielt sich bis zum „Prager Frühling“. Selbstverständlich war uns klar,

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dass diese Männer keinesfalls Journalisten waren, sondern Spitzel, die nach Berlin über die jeweils aktuelle Situation in unserer Redaktion sowie über die Tendenz der Sendungen zu berichten hatten. Jene „Fachleute“ haben niemals selbst etwas verfasst und wurden von uns mehr oder weniger ignoriert. Wir haben nicht einmal versucht, unsere Ansichten und unseren Arbeitsstil vor ihnen zu verbergen. Das Ganze war ein Paradebeispiel für die Unsinnigkeit der üblichen kommunistischen Praxis – jeder wusste ganz genau, worum es ging, aber keiner sprach es laut aus. Als sich in den Jahren 1967–68 unser Ton grundlegend änderte, konnte der Beobachter aus der DDR nichts anderes tun – als eben bloß beobachten. Die DDR-Funktionäre hätten vor Ort auch niemanden gebraucht, der sie über den Inhalt unserer Sendungen informierte, sie selbst hätten die Sendungen auch zu Hause verfolgen können. Eine besonders kuriose Episode bescherte uns Walter Ulbrichts Besuch in Karlsbad im August 1968. Bei der anschließenden Pressekonferenz, die im TV übertragen wurde, zeigte er sich auf ironische Art und Weise verwundert über die Abschaffung der Zensur in der Tschechoslowakei. „Wir“, so sagte er, „müssen die Zensur erst gar nicht abschaffen, wir haben nämlich keine, und jeder kann bei uns schreiben, was immer er möchte“. Wir brachten diesen Ausspruch prompt in unserer Sendung und wiederholten ihn gleich mehrere Male mit einem Hinweis, dass dies auf ausdrücklichen Wunsch unserer Hörer geschehe, da sie diesen Satz beim ersten Mal nicht verstanden hätten. Nachdem unser Außenminister Jiří Hájek im Juni 1968 einen offiziellen Besuch in der DDR absolvierte, machte ich mit ihm ein Interview über die Ergebnisse seiner Reise. Hinterher beklagte er sich bei mir unter vier Augen darüber, dass er die meiste Zeit seines Besuches damit verbrachte, sich allerhand Beschwerden über unsere Sendungen anhören zu müssen. Der DDR-Führung war ich zweifelsohne ein Dorn im Auge – und was für einer, das erfuhr ich erst viele Jahre später, im Jahr 1988, als ich bereits in der BRD lebte und in die DDR reisen wollte. Zur Zeit des „Tauwetters“ unter Chruschtschows Regierung änderten sich auch die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Man schickte mich nach Moskau, wo ich eine Reportage machen sollte. Der Anfang meiner Reise war für die sozialistischen Zustände typisch: In Moskau kam ich ohne russisches Bargeld an und wur-

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de um Mitternacht ins Hotel gebracht. Ich hatte natürlich Hunger und bestellte den Zimmerservice. Ich wählte vor allem die schmackhaften russischen Spezialitäten aus, die mir in Kürze auf einem großen Tablett ins Zimmer gebracht wurden. Ich bedankte mich, die Kellnerin wollte aber Geld sehen. Ich erklärte ihr, dass ich kein Bargeld bei mir habe, dieses aber gleich morgen in der Früh bekommen werde. Sie nahm das Tablett wieder an sich und wollte gehen. Ich konnte sie schließlich doch noch überzeugen, dass ich einen Riesenhunger hatte und am Morgen ganz sicher bezahlen würde. Sie erbarmte sich meiner. Beim sowjetischen Rundfunk wurde ich ausgesprochen herzlich aufgenommen, die Kollegen taten alles Erdenkliche, um mir den Aufenthalt angenehm zu gestalten. Unter anderem bestellten sie bei mir auch zwei Beiträge, damit sie mir Honorare zahlen konnten. Einer davon betraf die landwirtschaftliche Ausstellung, die gerade in Moskau stattfand. Die russischen Kollegen wünschten sich jedoch keinen Bericht über die Ausstellung selbst, sondern eine Schilderung der Eindrücke von diversen Teilen des Landes. Ich sollte also eine Reportage schreiben – wie ein Journalist, der diese Regionen tatsächlich besucht hatte, so ähnlich wie einst in der Zeitschrift My. Für das Honorar kaufte ich mir einen Elektrorasierer, eine getreue Nachbildung der Marke Philips, und fand zu meiner Überraschung in einem auf ausländische Publikationen spezialisierten Buchladen eine ganze Reihe tschechischer Bücher, die in Prag längst vergriffen waren. Darunter zum Beispiel auch Reiseberichte der beiden Weltreisenden Zikmund und Hanzelka. Ein anderer Kollege, der ähnlich wie ich nach Moskau entsandt wurde, kehrte sogar mit einem Fernsehapparat zurück.

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Wie kommt man nicht nach London Anfang der sechziger Jahre sollte ich als Rundfunkkorrespondent nach London gehen. Alle notwendigen Formalitäten waren bereits erledigt, meine Englischprüfung im Außenministerium endete gleich nach einem halben Satz – als die Prüferin meine erste englische Antwort hörte. Danach folgte nur noch die obligate Unterredung mit dem Vize-Außenminister Hajdů. Miroslav Galuška, unser Botschafter in London, weilte zufällig gerade in Prag. Bei dieser Gelegenheit sprach er unter anderem auch beim Generaldirektor des Tschechischen Rundfunks vor. Anschließend schaute er noch kurz bei mir vorbei. Zum Abschied sagte er mir, dass wir uns ohnehin bald in London sehen würden. Zwei Tage darauf suchten mich in der Redaktion zwei Männer auf – hinterher erfuhr ich von meiner Sekretärin, dass man sie ausdrücklich gebeten hatte, niemanden herein zu lassen, solange sie bei mir waren. Ich weiß nicht mehr, wie sich die zwei vorgestellt haben und ob überhaupt. Das Gespräch eröffneten sie mit der Mitteilung, dass ihnen meine Ernennung zum Auslandskorrespondenten in London sehr wohl bekannt sei und sie sich darüber freuten. Sie selbst würden es begrüßen, von mir ebenfalls Berichte zu bekommen, allerdings nicht solche, wie ich sie für den Rundfunk schreiben würde. Ich unterbrach sie, noch bevor sie ins Detail gehen konnten – ich ahnte bereits, worum es ging –, und erklärte ihnen, dass ich nach England als Rundfunkkorrespondent ginge und meine Berichte daher dem Rundfunk und sonst niemandem liefern würde. Sie versuchten mich eine ganze Weile zu überreden, bis sie sich endlich mit einer versteckten Drohung verabschiedeten: „Überlege es dir gut, Genosse!“ Nach zwei Tagen waren sie wieder da und fragten nach, ob ich es mir überlegt hätte. Ich verneinte es und beharrte darauf, bei meiner Entscheidung zu bleiben, und dass sie sich somit jeden weiteren Besuch ersparen könnten. Daraufhin ließen sie sich nicht mehr blicken, dafür kam zwei oder drei Tage später der Mitarbeiter der Presseabteilung beim ZK der KSČ Jiří Kmoch und sagte mir unter vier Augen, ich solle mich gleich drauf gefasst machen, dass aus London nichts werde, die offizielle Mitteilung folge in Kürze. Also wurde ich doch kein Korrespondent in London.

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Ein ähnlicher Vorfall wie mit Geminder bei Telepress wiederholte sich auch in der deutschsprachigen Redaktion des tschechoslowakischen Hörfunks. Der Zusammenhang wurde mir aber erst bewusst, als ich Bittmans Buch über Desinformationsdienste las. Eines Tages brachte mir der Hörfunkdirektor Karel Hrabal einen umfangreichen Bericht, den er selbst bekommen hatte und den ich senden sollte. Dies war an und für sich schon ziemlich ungewöhnlich – und als ich den Bericht gelesen hatte, konnte ich nur noch lachen: Der Text hätte aus einem miesen Groschenroman stammen können. Es ging um abgeschobene Deutsche, die jetzt in der BRD lebten und einen Komplott gegen die Tschechoslowakei geschmiedet haben sollten. Ich sah da allerdings noch keine Parallele zu dem angeblichen Treffen dreier Minister, das ich zuvor bei Telepress seltsam fand. Diesmal war ich aber überzeugt, dass es sich hier um eine Fälschung handeln musste. Die politische Situation war mit jener der fünfziger Jahre nicht mehr zu vergleichen. Ich gab Hrabal den Bericht zurück und empfahl ihm, er solle sein Glück in der Redaktion „Humor und Satire“ versuchen, ich jedenfalls würde dieses Machwerk ganz bestimmt nicht senden. Hrabal hatte vermutlich auch schon seine Zweifel bezüglich der Seriosität des Textes, jedenfalls hat er nicht einmal versucht, mich zu überreden. Als ich wesentlich später begriffen habe, dass es sich da offenbar um eine Schöpfung des Desinformationsdienstes gehandelt haben musste, fiel mir wieder die alte Nachricht über das angebliche Treffen der Minister ein. Ich kam zu der Ansicht, dass die Qualität der tschechischen „Desinformationsexperten“ offensichtlich sehr zu wünschen übrig ließ.

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Abb. 5: Im Rundfunk zu Beginn der 60er Jahre.

Im Laufe der darauffolgenden Jahre bekleidete ich beim Rundfunk verschiedene Positionen – ich war Leiter der deutschsprachigen Redaktion, später dann Chef der Auslandsredaktion und zum Schluss Chefredakteur der Hauptredaktion für den Auslandshörfunk. In dieser Funktion hatte ich eine schwere Kollision mit der Parteiobrigkeit. In der Aus-

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landsredaktion arbeitete Frau Olga Králová, die Tochter des weltbekannten Epidemiologen Professor Schillig. Der Professor war als überzeugter Antikommunist bekannt, und diese Gesinnung offenbarte er ganz unverhohlen. Sein weltweiter Ruhm als Wissenschaftler machte es der Obrigkeit aber unmöglich, gegen ihm vorzugehen, und deshalb wollte sich die Partei wenigstens an seiner Tochter rächen. Vom Bezirkskomitee der KSČ kam der Befehl, Olga Králová zu entlassen. Auf die erste Aufforderung reagierte ich erst gar nicht, die zweite lehnte ich ab mit dem Hinweis, dass Olga Králová eine ausgezeichnete Mitarbeiterin sei, eine kluge Redakteurin, und ich daher nicht den geringsten Grund für ihre Entlassung sehe. Daraufhin wurde ich zur Plenarsitzung des Bezirkskomitees der KSČ zitiert, zusammen mit dem Vorsitzenden der Parteiorganisation beim Auslandshörfunk, der meine Haltung und meine Ansichten teilte. Man versuchte uns klarzumachen, dass es undenkbar sei, ausgerechnet im Tschechoslowakischen Rundfunk die Tochter eines Parteifeindes zu beschäftigen. Ich konterte mit dem Argument, dass ich nicht ihren Vater beschäftige und jegliche Diskriminierung aufgrund von Sippenhaftung ablehne. Mit ähnlich harten Worten wies auch mein Kollege Jan Chejlava die grundlose Entlassung zurück. Jeder der Anwesenden war der Ansicht, seine eigenen Überredungskünste beisteuern zu müssen, und so haben wir gut zwei Stunden lang dem geballten Druck erbitterten Widerstand geleistet. Wir gingen und Olga Králová blieb, sie verließ den Rundfunk erst nach der sowjetischen Invasion im August 1968. Sie emigrierte in die USA. In meinen Abteilungen wirkten Persönlichkeiten wie Jiří Dienstbier, der nach seinem Studienabschluss in meiner Redaktion als Lehrling anfing und viele Jahre später, nach der Wende im November 1989, tschechoslowakischer Außenminister wurde. Ein weiterer Redakteur war Luboš Dobrovský, Lehrer aus dem Grenzgebiet, der bei uns in den Sommerferien ein Praktikum absolvierte. Er erwies sich als fähiger Journalist, und ich habe ihn deshalb als regulären Mitarbeiter angefordert. Das durchzudrücken war zwar nicht einfach, aber es klappte am Ende doch. In der ersten Regierung nach der Wende 1989 wurde Dobrovský Verteidigungsminister. Auch František Černý (der spätere Botschafter Tschechiens in Deutschland) arbeitete einst in der deutschsprachigen Redaktion des

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Hörfunks. Er war einer der wenigen parteilosen Journalisten und machte aus seiner kritischen Haltung keinen Hehl. In der Auslandsabteilung arbeitete ebenfalls Jiří Hanák, nach 1989 einer der bis heute prominentesten und besten Journalisten des Landes. Diese Redaktion war in der Tat eine echte Eliteschmiede. Es ist durchaus nicht meine Absicht, mir dieses Verdienst zuzuschreiben – ich will nur zeigen, in welchem Arbeitsklima und mit welchen Persönlichkeiten ich damals arbeiten konnte. Und damit meine ich nicht nur die Journalisten. Jetzt (wir schreiben das Jahr 2010) treffen wir uns in meiner Prager Wohnung: Jiří Hanák, František Černý, Jiří Dienstbier, Lubomir Dobrovský, der Historiker Jan Křen und der frühere Generalkonsul in Bonn, Jan Horn. Nicht, um uns an die „alten Zeiten“ zu erinnern, sondern, um vor allem über das aktuelle politische Geschehen zu diskutieren und uns auszutauschen. In diesem Buch möchte ich ebenfalls zwei meiner Mitarbeiterinnen gedenken. Die erste ist Marie Radkovská, die in meiner Redaktion für die Hörerzuschriften zuständig war. Neben ihrer eigentlichen Arbeit war sie auch in der Gewerkschaft aktiv, was unter anderem bedeutete, dass man bei ihr vor jeder Auslandsreise den Gewerkschaftsausweis deponieren musste. Bevor ich 1968 ins deutsche Exil ging, händigte ich ihr auch meinen Mitgliedsausweis aus. Jahre später trafen wir uns wieder, und sie gab mir den Ausweis zurück. Die ganzen Jahre klebte sie sorgfältig die Beitragsmarken ein, die sie selbst bezahlte, damit „ich nach meiner Rückkehr die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nicht verliere“. Die zweite unvergessene Kollegin war meine Sekretärin Věra Šlahounková. Eine treuere und loyalere Mitarbeiterin kann man sich gar nicht vorstellen. Ich hatte die Angewohnheit, mir einen Kaffee zu kochen, sobald ich in die Redaktion kam und ebenso vor einer Sitzung. Ich pflegte meinen „türkischen Kaffee“ mit dem verkehrten Ende vom Druckbleistift umzurühren. Eines Tages kam Věruška zu mir. Mit der Erklärung, sie könne sich das nicht länger ansehen, drückte sie mir einen silbernen Kaffeelöffel in die Hand. Ich besuchte des Öfteren die tschechischen Glashütten, weil mich diese Arbeit faszinierte. Einmal bekam ich einen schweren Aschenbecher geschenkt, der vermutlich mehr als zwei Kilo wog. Da Irča der Meinung war, dass unsere Wohnung für das Ding eindeutig zu klein sei,

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brachte ich das gute Stück in die Redaktion. Dort ließ ich es zurück, als ich nach Deutschland emigrierte, doch Veras Silberlöffel begleitete mich überall auf der ganzen Welt. Im Jahr 1990 wurde ich zu einem Empfang in der deutschen Botschaft in Prag eingeladen. Inzwischen wusste ich, dass dort Vera als Übersetzerin beschäftigt war, und in der Hoffnung, sie zu treffen, steckte ich den silbernen Löffel ein. Ich traf sie tatsächlich, zeigte ihr stolz den Löffel, und sie nahm mich am Ärmel, lotste mich in die Garderobe. Sie wiederum hatte den Aschenbecher mitgebracht. Als ich seinerzeit fortging, hat sie das Ding nämlich an sich genommen – in der festen Überzeugung, ich würde eines Tages wieder zurückkommen. Ab 1962 leitete den Auslandshörfunk Karel Hrabal, der auf den Direktorenposten Bohumil Svec gefolgt war. Svec war ein durch und durch anständiger und auch politisch offener Mensch. Als sich die politische Haltung innerhalb der Partei bereits allmählich lockerte, wurde er in die Presseabteilung des ZK der KSČ berufen. Hrabal war zuvor Direktor der Presseagentur ČTK, und zur Zeit der politischen Säuberungen in den fünfziger Jahren warf er die „politisch unverlässlichen Elemente“, vor allem die jüdischen Redakteure, aus der ČTK hinaus. Natürlich hatten wir gegen ihn allerhand Einwände, als er zu uns in den Rundfunk kam, doch in der damaligen Situation ließ sich seine Ernennung zum Direktor noch nicht verhindern. In den Sechzigern begann sich die politische Orientierung der Redaktion im Geiste des „Prager Frühlings“ zu ändern. Hrabal tolerierte diese Entwicklung und mischte sich in die Redaktionspolitik gar nicht ein. Ende der sechziger Jahre kam es zu „gemäßigten Säuberungen“, nicht nur beim Rundfunk, sondern auch in anderen Redaktionen des Landes: Jene Genossen, die in den fünfziger Jahren als radikale Kommunisten für die Entlassung vermeintlicher „Reaktionäre“ und insbesondere der Journalisten jüdischer Herkunft verantwortlich waren und jetzt immer noch in leitenden Positionen saßen, wurden keineswegs hinausgeworfen, sondern nur versetzt und mit etwas weniger wichtigen Funktionen bedacht. Entlassen wurde niemand. Mit zwei weiteren Redakteuren, die Hrabal sowohl aus den fünfziger als auch aus den sechziger Jahren gut kannten, suchten wir ihn auf und erklärten ihm, dass wir in Anbetracht der jetzigen im Grunde

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guten Zusammenarbeit weder eine Diskussion über seine Rolle in der ČTK der fünfziger Jahre noch eine Forderung seines Rücktritts als Direktor anstreben. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 saßen wir beisammen in der Wohnung einer Kollegin beim Glas Rotwein, und Hrabal versicherte mir mit bewegter Stimme: Sollte ich irgendwann hören, er hätte etwas Böses getan, so solle ich dem Gerede keinen Glauben schenken, er habe seine Lektion gelernt. Für immer. Einige Jahre später hörte ich allerdings, dass er sich während der sogenannten „Normalisierung“11 genauso niederträchtig verhielt wie schon in den fünfziger Jahren. Nach meiner Rückkehr aus der Emigration konnte ich ihn nicht mehr zur Rede stellen, er war inzwischen verstorben. Ebenso tot war auch Vladimír Vipler, mein Nachfolger als Chefredakteur, mit dem ich einst mit Begeisterung eine gemeinsame Reise frei nach Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ plante. Es sollte eine Serie von Reportagen werden. Nach meiner Rückkehr habe ich gelesen, dass Vipler im Auftrag des ZK der KSČ eine antisemitische Verleumdung über den Auslandshörfunk verfasste, in dem er mich eines Komplotts gegen die Partei bezichtigte. In seinem Pamphlet schrieb er: „Bedřich Utitz – der geistige Führer einer rechtsorientierten Gruppierung, Organisator aller rechtsorientierten Veranstaltungen, Autor von antisozialistischen Schriften, unterhielt Kontakte zu diversen antisozialistischen Organisationen in der BRD, Zionist, emigrierte in die BRD.“

11 Die Periode nach August 1968, in der die Verhältnisse wieder hergestellt wurden, die vor den Reformversuchen des „Prager Frühlings“ herrschten.

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Wie kommt man nach Kuba In den sechziger Jahren, konkret im Frühjahr 1963, als bereits das im Gange war, was man in Moskau als „Tauwetter“ bezeichnete, berief der Generaldirektor des Tschechoslowakischen Rundfunks Karel Hoffmann eine einwöchige Anhörung bezüglich der angeblich ideologisch verwerflichen Programme ein. Während dieser Woche versammelten sich die Chefredakteure aller Rundfunkabteilungen, ihre Stellvertreter sowie die Vertreter des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei tagtäglich in seinem Büro. Ich hatte gleich dreierlei auf dem Kerbholz. Das erste Vergehen war mein Artikel über den ersten Bundeskanzler der BRD, Konrad Adenauer, in dem ich ihn trotz aller Vorbehalte als einen großen europäischen Staatsmann würdigte. Die zweite Sünde war ein ähnlich gehaltener Beitrag über den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei und späteren Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Damals war Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin und spielte sowohl in Deutschland als auch in der europäischen Politik eine bedeutende Rolle. Er setzte sich vor allem für die Annäherung von Ost und West ein. Auch dieser Artikel wurde als „verwerflich“ eingestuft. Das dritte und schwerwiegendste „Delikt“ beging ich nicht mit einem eigenen Werk, sondern als verantwortlicher Sendeleiter. Damals fanden diverse Treffen, Sitzungen, Vorträge und Ähnliches statt, die Gespräche und Diskussionen waren jetzt offener als je zuvor – und mittlerweile auch erlaubt. Im Mai 1963 fand eine internationale Tagung des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes statt, die sich mit dem damals in den Ostblockländern weitgehend verbotenen Schriftsteller Franz Kafka und dem Phänomen der Entfremdung in seinem Werk befasste. Der Initiator und Hauptredner war der spätere Präsident des Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker, der in seiner Rede unter anderem erklärte, dass „die in Kafkas Werken beschriebene Entfremdung nicht auf kapitalistische Gesellschaften beschränkt“ sei, „sondern in Zeiten des Übergangs zum Sozialismus noch viel intensiver sein“ könne. Darüber informierte mich unser Berichterstatter, der vor Ort anwesend war, umgehend per Telefon. Fast zeitgleich wurde die Ausstrahlung dieser Rede untersagt. Dies alles passierte gegen 10 Uhr,

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und unsere Sendung fing Punkt 10 Uhr an. Ich ließ den Bericht trotzdem zu und argumentierte hinterher damit, dass mich das Sendeverbot erst während der Ausstrahlung erreichte, die daher nicht mehr rückgängig zu machen war. Man schenkte dieser Behauptung keinen Glauben. Bei jener Anhörung war ich Zeuge eines unglaublichen ... nun weiß ich nicht, ob ich es als „Vorkommnis“ oder doch eher als „Farce“ bezeichnen sollte. Mitten in der Besprechung läutete plötzlich das Telefon. Die Sekretärin hob den Hörer ab und bedeutete dem Genossen Hoffmann, er müsse die Sitzung sofort unterbrechen, um den Anruf entgegenzunehmen. Am Telefon war der Genosse Antonin Novotný, Generalsekretär des ZK der KSČ und Staatspräsident. Der Genosse Novotný bemühte sich höchstpersönlich, den Generaldirektor des Tschechoslowakischen Rundfunks darauf hinzuweisen, dass es absolut unangebracht sei, das damals populäre Lied „Malé kotě spalo v botě“ (Ein kleines Kätzchen schlief im Schuh) zu senden. Der Stein des Anstoßes war das alte Sprichwort „Was dich nicht brennt, das blase nicht!“ im Refrain des Liedes. Dies sollte angeblich eine demobilisierende Wirkung auf das Volk haben. Soviel zum Niveau des Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik und Generalsekretärs des ZK der KP in Personalunion – und ebenso des Generaldirektors des Tschechoslowakischen Rundfunks, der diese Absurdität widerspruchslos hinnahm und „Das Kätzchen“ aus dem Repertoire streichen ließ. Eine der „verwerflichen“ Sendungen wurde von der Redaktion „Humor und Satire“ gesendet. In der „anstößigen“ Sendung warfen die Autoren dem Urvater Čech12 spaßeshalber vor, er hätte nicht vor dem Berg haltmachen dürfen, sondern noch einige Kilometer weiter marschieren müssen – nämlich bis zu Adria, und damit würde Böhmen am Meer liegen. Es war widersinnig, wie ein Regime, das den National12 Eine Sage aus dem 12. Jahrhundert spricht von einem Anführer namens Boemus, der auf der Suche nach einer neuen Heimat mit seinem Gefolge bis zum Berg Říp (Raudnitzer Berg oder auch St.-Georgs-Berg) kam und sich hier niederließ. Aus Dankbarkeit wurde das Land nach ihm Boemia benannt. Rund zwei Jahrhunderte und unzählige Umarbeitungen später hieß jetzt jener Stammesführer Čech (Tscheche) und kam mit seinen sechs Brüdern hierher, in das Land, „wo Milch und Honig fließen“, besiedelte es mit seiner Sippe, während seine Brüder weiterzogen. Im 19. Jahrhundert wurde die Sage weiter ausgeschmückt, und Čech stieg zum definitiven Urvater der Tschechen auf.

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stolz brechen wollte und praktisch alle historischen Verdienste und Errungenschaften des Volkes laufend verfälschte und in den Boden trat, plötzlich die Parodie auf eine alte Volkssage als Beleidigung der eigenen Ideologie verteufelte. Diese Anhörung, die wir „Festival der Anschisse“ nannten, hatte zur Folge, dass mehrere Chefredakteure und stellvertretende Chefredakteure den Rundfunk verlassen mussten. Immerhin verliefen diese „Abgänge“ verhältnismäßig human. Die Betroffenen sind relativ weich gefallen: Keiner wurde dazu verdonnert, als Fensterputzer oder Heizer in einem Keller zu arbeiten, wie es dann während Husáks13 „Normalisierung“ gang und gäbe wurde. Sie alle bekamen einen anderen Job außerhalb des Rundfunks, der immerhin ihren Fachkenntnissen entsprach. Alois Svoboda wurde Produzent von Dokumentarfilmen, Jiří Neděla ging in die USA als Repräsentant der Tschechoslowakei in der Presseabteilung bei der UNO, Jiří Ruml wurde in das Bezirkspressereferat in Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) versetzt, Svejkovský kam bei Zemědělské noviny (Die Landwirtschaftszeitung) unter – vom Rundfunk wurden alle formal entlassen. Meinen Fall behandelte man etwas anders. Etwa ein oder zwei Monate vor der schicksalhaften Anhörung kam vom kubanischen Rundfunk ein Angebot für einen Mitarbeiteraustausch. Die Kubaner wollten einen ihrer Journalisten zum einjährigen Praktikum nach Prag schicken, und im Gegenzug sollte der Tschechische Rundfunk einen englischsprachigen Redakteur als Instruktor nach Havanna entsenden. Ich fand das Angebot äußerst interessant und sagte Hrabal, dass ich liebend gerne hinfahren würde. Hrabal tat es ab mit den Worten: „Bist du verrückt geworden! Ich werde doch keinen Chefredakteur im Austausch gegen einen simplen Redakteur schicken.“ Nach der besagten Anhörung über die „verwerflichen“ Programme rief mich Hrabal zu sich und meinte: „Also gut, du kannst nach Kuba fahren. Erledige so schnell wie möglich alles Erforderliche, Reisepass und so weiter.“ Ich freute mich darüber, dass die zu erwartende Bestrafung eigentlich die Erfüllung meiner Wünsche bedeutete, trotzdem 13 Gustáv Husák war seit 1971 der Erste Sekretär, danach Generalsekretär der KSČ und ab 1975 14 Jahre lang Präsident der Republik. In seine Amtszeit fällt die sogenannte „Normalisierung“, die umfangreiche Säuberungswellen in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen mit sich brachte.

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machte ich noch meinen Urlaubsanspruch geltend. Hrabal sagte, ich solle den Urlaub noch nehmen, aber gleich danach nach Kuba fliegen. Weshalb ich damals als einziger von den betroffenen Redakteuren nicht gefeuert wurde, das weiß ich selbst nicht. Meine Entsendung nach Kuba verglich ich im Geiste mit dem Exil von Karel Havlíček Borovský.14 Damals konnte ich noch nicht einmal ahnen, dass ich für meine Verdienste als Journalist eines Tages mit einem Preis ausgezeichnet würde, der ausgerechnet seinen Namen trägt. Wir fuhren in Urlaub zum Zelten an einem der Teiche Südböhmens. Dafür musste man allerdings vorher eine Genehmigung der Wald- oder Wasserverwaltung beantragen, und damit war ich dort gewissermaßen amtlich gemeldet. Ich saß am Teich mit einem Spanischlehrbuch in der Hand, um noch schnell ein bisschen Spanisch zu lernen. Eines Tages kam ein Motorrad zum See, auf dem Rücksitz saß Hrabals Sekretärin. Sie brachte mir Formulare, die für meine Ausreise aus der Tschechoslowakei sowie die Einreise nach Kuba erforderlich waren – und die ich auf der Stelle auszufüllen hatte, damit ich nach dem Urlaub sofort abreisen konnte. So sehr wollte man mich auf die Schnelle loswerden! Und tatsächlich: Kaum war ich aus dem Urlaub zurück, ging es ruckzuck. Meine Frau Irča bekam unbezahlten Urlaub, und für unseren Sohn Pavel war bereits ein Platz in der tschechischen Schule in Havanna reserviert. Ganz im Gegensatz zu den Behörden sorgte diesmal die Natur selbst für eine Verzögerung: Just zu dieser Zeit wütete auf Kuba ein mächtiger Hurrikan, so gewaltig und anhaltend, dass der Flugverkehr in Kuba fast eine ganze Woche lahmgelegt wurde. Drei Tage lang fuhren wir täglich zum Flughafen und warteten, zu Mittag bekamen wir einen Teller mit Schinken und fuhren wieder ab – allerdings nicht nach Hause, wo bereits der kubanische Gast mit seiner Gattin wohnte. Wir übernachteten bei den Kindern und Freunden. Am vierten Tag konnten wir endlich abfliegen.

14 K. H. Borovský (1821–1856), tschechischer Dichter, Journalist und Politiker. Er war ein überaus kritischer und aufmüpfiger Geist, der mit spitzer Satire kämpfte. Seine publizistische Tätigkeit und seine Zeitungen wurden der Reihe nach mit Verboten belegt, bis er schließlich nach Brixen in Tirol verbannt wurde. K. H. Borovský gilt als Begründer des tschechischen Journalismus und der tschechischen Satire.

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In Kuba Es war Oktober. Wir landeten in Havanna, stiegen aus dem klimatisierten Flieger aus und erlitten einen richtigen Schock. Es fühlte sich an, als ob man im winterlichen Europa plötzlich vom eisigen Unwetter draußen direkt in eine Sauna eintreten würde. Wir wurden gut untergebracht. Am nächsten Tag ging ich zum Funkhaus, um mich vorzustellen. Ich war der englischsprachigen Redaktion für die Vereinigten Staaten zugeteilt. Laut Weisung sollte ich den Kubanern unsere Methoden vermitteln, mit denen wir die Zuhörer in der BRD von den „Vorteilen des tschechischen Kommunismus“ zu überzeugen suchten. Ich wurde überaus herzlich aufgenommen. Neben den Kubanern arbeitete in der Redaktion noch eine Amerikanerin, die mit einem kubanischen Zahnarzt verheiratet war und perfekt spanisch sprach, weiter eine Kubanerin, die in den Staaten aufgewachsen war (ihr Spanisch war ebenso perfekt wie ihr Englisch), und ein Kanadier, dessen Spanisch nur eine Spur besser war als meins. Sehr bald erwies sich der Auftrag, den ich nach Vorgabe aus Prag zu bewältigen hatte, als schier unerfüllbar­. Im kubanischen Hörfunk für die USA existierte keine Redaktionsarbeit, es wurde auch in keiner Weise darüber nachgedacht, wie man die Sendungen tauglich für den amerikanischen Hörer gestalten könnte. Wir bekamen Reden, Kommentare, Nachrichten und sonstiges Material, und alles wurde wortgetreu ins Englische übersetzt und gesendet, ohne jegliche redaktionelle Aufbereitung. Fidel Castro pflegte bei den Feierlichkeiten mitunter auch vierstündige Reden zu halten. Diese Reden wurden stets wortwörtlich übersetzt und in acht halbstündige Blocks aufgeteilt, die täglich der Reihe nach ausgestrahlt wurden. Ich wies darauf hin, dass es unvorstellbar sei, dass die Amerikaner tagtäglich ein Stück von Castros Rede hören würden, und dies auch noch acht Tage hintereinander. Ich scheute keine Mühe, und während die Kollegen dabei waren, die zerstückelte Rede blockweise zu senden, fasste ich alle konkreten Gedanken, Argumente und Fakten in einem halbstündigen Bericht zusammen. Nachher wollte ich von den Kollegen wissen, ob ich auch nur einen einzigen wichtigen Fakt oder Gedanken ausgelassen hätte. Sie lächelten mich nur an und antworteten: „Die Rede muss komplett ausgestrahlt werden!“ Ich gab auf,

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verzichtete auf weitere Versuche und fügte mich in mein Schicksal als netter Kollege mit begrenzten Spanischkenntnissen. Ich wurde Teil des freundlichen Kollektivs – bis auf einen Vorfall. Als uns die Nachricht von der Ermordung von Präsident Kennedy erreichte, fingen meine kubanischen Kollegen an zu jubeln und zu klatschen. Ich fuhr sie wütend an und versuchte ihnen klar zu machen, was dieser Mord tatsächlich bedeutete. Sie winkten nur ab und lächelten mir freundlich zu. Es packte mich solche Wut, dass ich auf der Stelle davonging und hinter mir die Tür mit einem lauten Knall zuschlug. Am nächsten Tag waren wir wieder Freunde, als ob nichts geschehen wäre. Ein Kollege, der sich seit meiner Ankunft redlich um mich kümmerte, teilte mir eines Tages freudestrahlend mit, dass er für mich einen besonderen Ausflug organisieren konnte. Das Ziel unserer Reise war die Guantánamo-Bucht im Südosten der Insel, besser gesagt eine Stelle, von der es eine Aussicht auf den Stützpunkt Guantánamo der US Navy gab. Erst fuhren wir mit dem Wagen, dann gingen wir zu Fuß durch einen Wald, und das letzte Stück krochen wir wie Indianer. Der Kollege hatte zwei starke Feldstecher mit, damit wir alles gut beobachten konnten. Wir sahen eine mittelgroße Hafenstadt und den üblichen lebhaften Hafenbetrieb mit einigen Schiffen vor Anker. Ich fühlte mich dabei wie ein kleiner James Bond. Trotzdem wirkte auf mich alles stinknormal, und ich hatte das Gefühl, dass wir ohne Weiteres hätten aufstehen und den Menschen da unten hätten zuwinken können, und sie würden uns auch freundlich zurückwinken. Mein netter Rundfunkkollege wünschte sich nichts so sehr wie eine Pistole. Eine echte Pistole, mit der man auch schießen könnte. Zu meiner Überraschung fand ich heraus, dass man über Tuzex15 eine Waffe samt Munition absolut problemlos bestellen (und auch bekommen) konnte. Ich besorgte die Pistole – und als mein Freund die Waffe bekam, war seine Freude unbeschreiblich.

15 Tuzex war in der ehemaligen Tschechoslowakei eine Handelskette, in der man nicht mit tschechischen Kronen, sondern mit frei konvertierbaren Währungen bezahlen musste. Die Handelskette führte westliche, aber auch qualitativ hochwertige inländische Exportwaren und diente dazu, von Privatpersonen harte Währungen abzuschöpfen (ähnlich wie die Läden unter den Namen Intershop in der DDR).

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Eine interessante Erkenntnis bescherte mir die Einladung meiner amerikanischen Kollegin, der Ehefrau des kubanischen Zahnarztes. Es war anlässlich einer Familienfeier, zu der außer mir nur noch jene Kubanerin eingeladen war, die in den Staaten aufgewachsen war. Bald wurde mir klar, weshalb man nur uns „Exoten“ eingeladen hatte. Ein dermaßen reiches Angebot an luxuriösen Delikatessen wäre auch in der BRD oder in den USA bemerkenswert gewesen. Die Tafel bog sich förmlich darunter: Lachs, Kaviar, Erdbeeren und unzählige andere Leckerbissen, die in Kuba so gut wie gar nicht zu bekommen waren. So etwas konnte man natürlich nur uns beiden präsentieren, nicht aber den übrigen Kollegen aus der Redaktion. Eine gewissermaßen konträre Erfahrung machten wir, als wir die kubanischen Kollegen, manchmal auch mit Familie, zu uns zum Abendessen einluden. Wir tischten natürlich ganz andere Speisen auf. Im Gegensatz zu den Einheimischen stand uns zwar eine (mehr oder weniger) reichere Auswahl an Lebensmitteln zur Verfügung, die jedoch nur aus kubanischen Quellen stammten, und so konnten wir natürlich nicht mit einem gleichen Festschmaus aufwarten wie der Zahnarzt. Und da merkten wir, wie konservativ die Kubaner im Grunde waren. Damals war das Fleisch in Kuba rationiert, etwa so wie nach dem Krieg 1945 in Europa. Rund ein halbes Pfund Fleisch und ein Pfund Huhn pro Kopf, jeweils alle zwei Wochen – falls das Fleisch überhaupt ins Geschäft gelangte. In den sonst leeren Geschäften türmten sich jedoch ganze Pyramiden sowjetischer Konserven mit Schweinefleisch – die gleichen, die auch in der Tschechoslowakei verkauft wurden. Selbstverständlich war das Fleisch nach dem sowjetischen Geschmack gewürzt: vor allem mit Lorbeerblatt und sonstigen Lieblingsgewürzen der Russen. Es schmeckte einfach anders, als es die Kubaner gewöhnt waren, und deshalb waren diese Konserven absolute Ladenhüter. Trotz des herrschenden Fleischmangels. Irča bereitete daraus Fleischbällchen zu, schön auf die böhmische Art gewürzt, und die Kubaner ließen sich ihre Frikadellen gut schmecken. Sie wollten gar nicht glauben, dass sie aus den verschmähten sowjetischen Dosen zubereitet wurden. Irča besuchte einen Spanischkurs für Frauen verschiedenster Nationalitäten, die meisten von ihnen waren Ehefrauen ausländischer Fachkräfte und Diplomaten. Die Lehrerin sprach ausschließlich spanisch,

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und dadurch waren alle Teilnehmerinnen gezwungen, nur spanisch zu sprechen und sich in spanischer Sprache zu verständigen. Es war offensichtlich eine sehr gute Methode, sie alle konnten sich schon binnen relativ kurzer Zeit spanisch unterhalten. In diesem Kursus freundete sich Irča mit der Frau des sowjetischen Chargé d’affaires an. Wir fanden einander sympathisch und besuchten uns gegenseitig. Einmal, es war der Morgen des 24. Dezember, tauchte der Sowjetdiplomat plötzlich bei uns auf – mit einem riesigen Fisch in der Hand, der gut fünf Kilogramm wog. Er sagte, dass er von dem tschechischen Brauch, am Weihnachtsabend einen Fisch zu essen, gehört habe, also bringe er uns den Fisch. In Kubas heißem Klima hätte der Fisch nicht einmal im Dezember lange gehalten, und so musste ich prompt sämtliche Familien in der tschechischen Kolonie abklappern, um das Fischfleisch zu verteilen. Alle freuten sich darüber, nicht ein einziges Stück musste vergammeln. Irča wollte auch selbst arbeiten, natürlich in einer Apotheke. Eine Halbtagsbeschäftigung zu finden, war nicht schwer – in Kuba waren die Halbtagsjobs gang und gäbe. Die Menschen hier hatten meist zwei davon, sodass sie zu Mittag die Arbeitsstelle wechselten. Es war nicht unpraktisch, man konnte auf diese Art und Weise etwaige Ermüdung durch monotone Arbeit über einen längeren Zeitraum vermeiden und am Nachmittag anderswo mit neuem Schwung an die Arbeit gehen. Eine Praxis, die ursprünglich von den Amerikanern übernommen wurde, und die ich als gestandener Kommunist eigentlich für eine raffinierte Ausbeutungsmethode hätte halten müssen. Irča arbeitete nur halbtags. Die Arbeit machte ihr Spaß, sie brachte den Kubanern das Apothekenwesen bei, während sie selbst dabei die Küche und die Gepflogenheiten des Landes kennenlernte. Die zwei Jahre auf Kuba waren die interessantesten und sorglosesten Jahre unseres Lebens. Eine Ironie des Schicksals war, dass die Machthaber in Prag ausgerechnet diese „Verbannung“ als Bestrafung für meine „politischen Verfehlungen“ betrachteten. Im ersten Jahr hat mir die Redaktion des kubanischen Rundfunks genau das ermöglicht, was eigentlich von Anfang an mein Hauptanliegen gewesen war: Kuba und seine Einwohner kennenzulernen. Im zweiten Jahr, als das Austauschprojekt zu Ende ging, ernannte mich der Prager Rundfunk zu sei-

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nem Korrespondenten auf Kuba. So konnte ich die Insel noch besser kennenlernen und noch intensiver erforschen. Kuba wurde vor allem berühmt durch seine Zigarren, die von den Feinschmeckern auf der ganzen Welt hochgeschätzt werden. Meine Neugier galt also zu allererst diesem Thema, angefangen mit dem Tabakanbau bis zur Herstellung von verschiedenen Zigarrenmarken. Deshalb besuchte ich Vinales, Kubas wichtigstes Tabakanbaugebiet. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich die gigantischen weißen Felder sah, wie vom Schnee bedeckt. Und das unter der Tropensonne! Erst aus unmittelbarer Nähe konnte ich auf den Feldern die grünen Pflanzen sehen, die mit riesigen weißen Netzen zugedeckt waren. Diese Gazestoffbahnen schützen die überaus empfindlichen Tabakpflanzen vor der tropischen Sonne. Die Blätter fühlen sich wie Seidentücher an, und genauso sind sie zu behandeln. Sie hängen in dichten Reihen in langen Holzschuppen, in denen die Temperatur und Luftfeuchtigkeit streng überwacht werden. Nur so kann die Qualität des Deckblattes für die besten Zigarren erreicht und gewährleistet werden. Hinterher besuchte ich in Havanna die Herstellerbetriebe der weltberühmten Zigarrenmarken wie Partagas, Romeo & Juliette, Cohiba und andere. Mit ihren Tischreihen ähneln die Fabrikhallen großen Schulklassen. An den Tischen sitzen tabacaleros und tabacaleras, Männer und Frauen, die mit Spezialmessern Stücke in Form der künftigen Zigarren aus den seidenen Tabakblättern schneiden – die Deckblätter, die dann mit Tabakmischungen gefüllt und gerollt werden. Von Hand, Stück für Stück, eines wie das andere, millimetergenau gleich. Die Ähnlichkeit mit einer Schulklasse wird noch dadurch verstärkt, dass auf der Stirnseite des Raumes ein Podest mit einem Tisch steht, an dem ein Vorleser sitzt. Seine Arbeit beginnt allmorgendlich mit dem Vorlesen der Tageszeitung, danach werden Romane in Fortsetzungen vorgelesen. Dieser Brauch stammt aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, und seither gelten die tabacaleros als die Gebildetsten unter den kubanischen Arbeitern. Obwohl die Zigarren als der bekannteste Exportartikel Kubas gelten, der Devisenbringer Nummer 1 ist immer noch der Zucker. Kuba wird praktisch von Zuckerrohr ernährt. Fidel Castro zog den Anbau des Zuckerrohrs allen anderen Pflanzenarten vor, was zu einem katastrophalen Mangel an Getreide und anderen Nutzpflanzen führte. Von

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der Ernte bis zur Verarbeitung des Zuckerrohres vergeht gut ein halbes Jahr. Mit dem Lohn muss man das ganze Jahr auskommen – und in bescheidenem Maße geht das auch. Die Zuckerrohrpflanze wird anderthalb bis zwei Meter hoch, die fleischigen Halme lassen sich relativ einfach mit einer leichten Spezialmachete knapp über dem Boden abschneiden. Einmal schneiden, zweimal, dreimal, eine Viertelstunde lang – und man hat das Gefühl, die Hand fällt gleich ab. Die Kubaner machen es acht bis zehn Stunden am Tag. Auf Kuba wird zum Teil noch die spanische Tradition gelebt. Dazu gehört auch die corrida – der Stierkampf, allerdings ohne Degen und unblutig. Die brutale spanische Kampfart wurde hier schon 1901 verboten und durch das Bullenreiten ersetzt. Dabei muss sich der Reiter auf dem Rücken des Stieres so lange wie nur möglich halten (meist sind es nur wenige Sekunden) und sein Können im Lasso-Werfen und sonstigen Fertigkeiten beweisen, und das alles ohne Blutvergießen. Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, dass die Kubaner den blutigen Kampf nicht kennen bzw. ihm nicht frönen würden – wenn auch in einem bescheideneren Maße. Wer an einem Sonntagvormittag durch die sonst menschenleeren Straßen der Stadt flaniert, der kann auf eine auffällige Prozession von Männern treffen, die meisten davon in mittleren Jahren. Die einen tragen gut verhüllte Käfige, die anderen haben ausgebeulte Jacken. Folgt man diesen Männern, kommt man zu einem großen Hofplatz, auf dem sich in der Mitte eine kleine Arena befindet – ein Sandkreis von fünf bis sechs Metern Durchmesser. Die Männer versammeln sich um die Arena, und zwei von ihnen stellen ihre Hähne auf. Es handelt sich hier um keine normalen Tiere, sondern um gut trainierte Kampfhähne. Ihre Hälse sind rasiert, und hinten auf den Krallen sind messerscharfe Metallsporen angebracht. Die Besitzer hetzen ihre Tiere aufeinander, der Kampf beginnt. Die Hähne versuchen, den Gegner mit den Metallkrallen zu treffen, vorzugsweise am nackten Hals, aber auch anderswo. Die Männer feuern die Tiere lauthals an, und zwei oder drei sammeln von den Umstehenden die Pesos ein, die Wetteinsätze. Der Kampf endet entweder mit dem Tod eines der beiden Kampfhähne, oder aber der Besitzer des schwächeren Tieres greift ein und holt es aus der Arena heraus, um ihm das Leben und für sich selbst das teure Kampftier zu retten. Er pflegt es dann sorgfältig, bis die

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Wunden geheilt und das Tier für den nächsten Einsatz fit ist. Die Wetten werden ausbezahlt – alles wird nur mündlich vereinbart, dennoch gibt es niemals Streit über die Wetten. Und die nächste Runde fängt an. Es ist kein schönes Schauspiel und im Grunde auch nicht weniger brutal als ein Stierkampf. Der Ordnung halber muss hinzufügen, dass die Hahnenkämpfe in Kuba ebenfalls verboten sind. Von einem Fall, in dem man einen solchen Kampf verhindert hätte, habe ich allerdings nie gehört – obwohl diese sonntäglichen „Männeraufmärsche“ jeden Gesetzeshüter schnurstracks zum Tatort führen würden. In den sechziger Jahren befanden sich auf Kuba Hunderte tschechische und slowakische Berater für alle möglichen Bereiche, angefangen mit dem Gesundheitswesen über Geologie bis zur Herstellung von Fleischwaren. Dank dieser Landsleute bekam ich die Möglichkeit, viele Bereiche des kubanischen Lebens näher kennenzulernen. Eine Nation zu charakterisieren ist immer problematisch. Die Kubaner machten auf uns stets einen außerordentlich positiven Eindruck. Sie waren herzlich, gastfreundlich und unglaublich reinlich. In jener Zeit, als wir auf Kuba weilten, mussten die Kubaner zwar nicht hungern, dennoch mangelte es ihnen an allem, von Lebensmitteln bis zur Bekleidung. Sooft ich mit ihnen persönlich zu tun hatte, das heißt: wenn wir sie zu Hause besuchten, auf dem Land in ihren kleinen Häuschen mit Dächern aus Palmenblättern, sooft wurden wir auch bewirtet. Hätten wir es dankend abgelehnt, so wäre das einer Beleidigung gleichgekommen. Auf dem Land besteht der Boden ihrer Hütten meist nur aus festgestampfter Erde. Er ist trotzdem beinahe so sauber und blitzblank, dass man davon essen könnte. Die Reinheitsliebe schlägt sich natürlich auch in der persönlichen Hygiene nieder. Zu unserer Zeit gab es in Kuba kaum Kriminalität. Die Sicherheit auf den Straßen, sogar in den entlegenen Winkeln der Insel, war mit den europäischen Verhältnissen nicht zu vergleichen. In der Millionenstadt Havanna konnte auch eine Frau spät in der Nacht quer durch die Stadt gehen, ohne belästigt oder gar überfallen zu werden. Am Rande der Stadt waren einige Puffs angesiedelt, ein Straßenstrich existierte nicht. Fidel Castro traf ich persönlich nie, aber immerhin konnte ich ihn einmal aus nächster Nähe sehen. Bei einer seiner feierlichen Reden saß ich auf der Tribüne, die für uns ausländische Journalisten reserviert

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war, direkt unter seinem Rednerpult. Ilona, das elfjährige Töchterchen meines Freundes Dr. Nejedlo, wollte Castro unbedingt ganz aus der Nähe sehen, ich ließ mich erweichen und nahm sie zu der Veranstaltung mit. Als Castro das blonde Mädchen auf der Tribüne unter ihm erblickte, schickte er seinen Adjutanten los, um mich zu fragen, ob das Mädchen kurz zu ihm kommen dürfe. Natürlich stimmte ich zu – und etwa 20 bis 25 Minuten lang konnten Millionen Kubaner sehen, wie der Große Fidel während seiner Rede die Arme an Ilonas Schulter hielt. Nachher brachte man mir das Kind dankend wieder zurück. Che Guevara habe ich dafür persönlich getroffen. Einer von Guevaras Beratern war Valtr Komárek, der nach der „Samtenen Revolution“ zum ersten Vizevorsitzenden der tschechoslowakischen Regierung wurde. Hin und wieder besuchte ich Komárek, wir saßen im Sekretariat, und manchmal kam Guevara aus seinem Büro, setzte sich auf den Schreibtischrand und unterhielt sich mit uns. Vergebens versuchten wir ihn davon zu überzeugen, dass jedem Menschen so etwas wie materielles Interesse eigen ist, und dass die Leistung eines Menschen von entsprechender Belohnung abhängig ist. Solche Argumente wies er strikt zurück. Man müsse die Menschen überzeugen, aus innerer Begeisterung für das Allgemeinwohl zu arbeiten und nicht zum Eigennutz. Es war sein tiefster Glaube, der so fest saß wie etwa das Dogma der unbefleckten Empfängnis bei den Katholiken. Auch in anderen Fragen war er nicht zu überzeugen. So ließ er zum Beispiel eine kostenaufwendige Fabrik errichten, die Zündkerzen herstellen sollte. Auf unsere Einwände – nämlich, dass man den Jahresbedarf an Zündkerzen für sämtliche Kraftfahrzeuge im Lande mit dem Import von zwei Kisten Zündkerzen locker abdecken würde – wollte er nicht eingehen. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Produktionsstätte von Schreib- und Bürowaren, die er mithilfe der tschechischen Firma Koh-i-noor errichten ließ. Mit der Kapazität seiner Fabrik hätte man ganz Lateinamerika beliefern können – ausgerechnet zu einer Zeit, als sich all diese Länder (mit Ausnahme von Mexiko) bereits am US-Embargo gegen Kuba beteiligten. Che Guevara war dennoch eine faszinierende Persönlichkeit von einem unglaublichen Charme. Sein tragisches Ende war letztendlich nur eine Folge seiner unerbittlichen, ja sturen ideologisch-revolutionären Haltung.

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Neben den Sandstränden und Korallenriffen verfügt Kuba auch über mannigfaltige andere Naturschönheiten. Die Ausflüge in das große Tal Soroa waren typisch für uns Tschechoslowaken, diese grüne Landschaft erinnerte uns an unsere Heimat – wir suchten die Idylle Mitteleuropas sogar in den Tropen. Bemerkenswert war das einmalige Orchidarium mit mehr als 700 Orchideenarten aus der ganzen Welt, wobei 200 davon auf Kuba heimisch sind. Man konnte dort stundenlang diese Formen- und Farbenpracht bewundern. Ein trauriges Zeugnis der nachfolgenden sozialistischen Misswirtschaft bot sich unseren Augen 40 Jahre später – nur noch wenige der resistentesten Orchideenarten vegetierten hier vor sich hin.

Abb. 6: Auf Kuba mit Irča und Pavel (1964).

Die Musikalität der Kubaner muss man wohl nicht sonderlich hervorheben. Der Rhythmus liegt ihnen tatsächlich im Blut: Wenn man an einer Bushaltestelle wartet, ist da immer jemand, der rhythmisch auf den Mast einer Straßenlaterne trommelt. Deshalb gibt es auch unzählige Musikgruppen, von denen manche Weltruhm erlangten. Isla del Tesoro – Schatzinsel nennen sie manchmal auch die Kubaner. Ihr eigentlicher Name Isla de Pinos (Kieferninsel), wurde im Jahre 1978 in Isla de la Juventud (Jugendinsel) umbenannt, es ist die größte Nebenin-

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sel Kubas und siebtgrößte Insel der Karibik. Die Insel diente angeblich Robert Louis Stevenson als Inspiration für sein weltberühmtes Buch Die Schatzinsel. Ich besorgte mir das Buch, las es durch, notierte mir sämtliche Beschreibungen und Anmerkungen über die Natur der Insel und machte mich dann auf den Weg, um die Insel zu erkunden. Als Vorwand für meine Reisereportage gab ich an (im Grunde nicht unwahr), dass ich den östlichen Ausläufer der Insel deshalb besuchen wollte, weil sich dort im 16. bis 18. Jahrhundert ein geheimer Piratenhafen befand, das Rückzugsgebiet berühmt-berüchtigter Männer wie Francis Drake oder Henry Morgan. Dort sollten heute noch ihre Nachkommen leben. Zum einen fiel mir auf, dass die Naturschilderungen in Stevensons Buch in keiner Weise der vorhandenen Natur entsprachen. Zum anderen fand ich aber heraus, dass in diesem Teil der Insel tatsächlich hochgewachsene, blonde Nachfahren der einstigen Freibeuter lebten. Einige ziemlich alte Frauen sprachen sogar noch englisch. Die blonden Inselbewohner ernährten sich jetzt allerdings vom Fischfang. In Kuba erlebte ich nacheinander zwei tschechoslowakische Botschafter, beide haben mich sehr beeindruckt, sowohl durch ihre Persönlichkeit als auch durch ihre politischen Ansichten. Was man von den übrigen Botschaftsangestellten nicht behaupten konnte. Einmal wurde eine tschechoslowakische Regierungsdelegation erwartet und ein Besuchsprogramm für sie vorbereitet. Ich suchte den Botschafter auf, um mich über den geplanten Verlauf des Besuches zu informieren und um zu erfahren, an welchen der Veranstaltungen ich teilnehmen könnte. Der erste Botschaftssekretär kam und stellte mir allerhand Fragen zu einigen Punkten des Programms. Seine Fragen waren mehr als peinlich. Der Botschafter wandte sich schließlich an mich, winkte ab und meinte: „Und mit solchen Menschen muss ich arbeiten!“ Seine Bemerkung ließ den Betroffenen offensichtlich kalt. Bei einer anderen Gelegenheit unterhielten wir uns über Literatur. Der ebenfalls anwesende Kulturattaché wollte sich an unserer Debatte beteiligen und überraschte uns mit der Wortmeldung: „Ich habe auch ein paar Bücher zu Hause!“ Damals gastierte auf Kuba der tschechische Regisseur Otomar Krejča. Er inszenierte eine revolutionäre Fassung von Romeo und Julia, die Protagonistin wurde von einer dunkelhäutigen Schauspielerin dargestellt. Bouček, Korrespondent der Tageszeitung Rudé právo, und

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ich sowie unsere Ehefrauen wohnten dieser bedeutenden Aufführung selbstverständlich bei. Von unserer Botschaft ließ sich dort niemand blicken, nicht einmal der Kulturattaché. Diese Haltung war für die tschechoslowakische Botschaft leider ganz typisch. Nach der Vorstellung gingen wir in Krejčas Garderobe, gratulierten ihm zu der gelungenen Premiere und luden ihn zum Abendessen ein. In Kuba habe ich auch Dr. František Kriegel kennengelernt. Damals leitete er die Gruppe tschechoslowakischer Mediziner, die beim Aufbau von Kubas Gesundheitswesen mitwirkten. Wir haben Kriegels oft abends besucht. František widmete sich dabei oft seiner Passion – der Zubereitung eines Gemüsesalats. Auf seinem Schoß ruhte eine riesige Schüssel, er schnitt Unmengen von verschiedenen Gemüsesorten auf, die in das Gefäß wanderten. Bei dieser Beschäftigung haben wir uns unterhalten, selbstverständlich vor allem über Politik. Für unsere Reformpläne zeigte Kriegel zwar Verständnis, gab aber zu bedenken, dass wir unsere Gegner unterschätzten und noch dazu keine Vorstellung hätten, wie solche Reformen zu realisieren wären. Darüber diskutierten wir stundenlang, und dabei lernte Irča das Rezept seines persönlichen Salates kennen. Kriegel kehrte früher als wir nach Prag zurück. Er wollte mir zum Abschied etwas Persönliches schenken. Ich bekam eine seiner gut eingerauchten Pfeifen, die ich bis heute habe. Während des „Prager Frühlings“ war Kriegel Vorsitzender der Volksfront und wurde unmittelbar nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, zusammen mit Alexander Dubček und weiteren Mitgliedern der tschechoslowakischen Führung, nach Moskau entführt. Als einziges Mitglied dieser „Regierungsdelegation“ wider Willen verweigerte er seine Unterschrift auf der „Kapitulationsurkunde“. In der „Normalisierungs“-Periode nahm er wieder seine Tätigkeit als Arzt auf. Nach der Wende feierte ich in Prag mit seiner Witwe, Frau Riva, ihren 90. Geburtstag. Ich kann mich noch lebhaft an eine Pressesitzung erinnern. Damals ermahnte uns Kriegel, dass über unseren Köpfen ein riesiges Damokles-Schwert schwebe und dieses nur an einem seidenen Faden hänge. Nur kurze Zeit darauf war dieser Faden gerissen. Während meiner zwei Jahre auf Kuba machte ich unzählige Reportagen, manche wurden vom Hörfunk ausgestrahlt, manche blieben in

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der Schublade. Wieder in Prag, fasste ich die Reportagen zu einem Buch zusammen, fügte noch einige Kapitel hinzu und übergab das Manuskript dem Staatlichen Verlag für die Tschechoslowakische Literatur, der damals von Tomás Kosta geleitet wurde. Das Buch war bereits druckreif, als im August 1968 die Invasion des Warschauer Paktes kam. Ich ging ins Exil, und mein Buch durfte nicht mehr verlegt werden.

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Kuba 40 Jahre später Mein Sohn Pavel, der in den sechziger Jahren mit uns in Kuba lebte, erzählte mal seinen Freunden, dass er gerne nochmal mit seinem Vater hinfahren würde. Pavel hat sehr viele Freunde, und so kam es, dass sie Geld zusammenlegten und ihm zu seinem 50. Geburtstag eine „Reise mit Vater nach Kuba“ schenkten. Ohne mein Zutun hatte ich nun nach 40 Jahren Gelegenheit, die Insel noch einmal zu besuchen. Einige Jahre zuvor hatte einer von Pavels Freunden Kuba besucht und von seiner Reise jede Menge Fotos mitgebracht. Deshalb wusste ich über den mittlerweile jämmerlichen Zustand von Havanna inzwischen Bescheid. Fidel Castro hat das Leben auf der Insel nicht liberalisiert, aber er erlaubte den ausländischen Unternehmern, Hotels zu bauen und die Schönheit der kubanischen Sandstrände kommerziell zu verwerten. Der wesentliche Teil der Erlöse aus der Touristenbranche floss in die Rekonstruktion und Restaurierung der über die Jahre sträflich vernachlässigten und nun halb zerfallenen historischen Gebäude der einst florierenden Insel. Darüber hinaus gestattete Castro den USKubanern, ihren Verwandten in Kuba Dollars zu schicken. Dies hatte zur Folge, dass sich die kubanische Gesellschaft in zwei Schichten teilte: Auf der einen Seite stehen nun die Bürger, die von ihren Verwandten mit Dollars versorgt werden, sowie die Hotelangestellten, die Zugang zu Devisen haben. Auf der anderen Seite stehen die „dollarlosen“ Normalbürger. Die ersteren können in Geschäften einkaufen, die ein Warensortiment führen, das nur gegen Dollars zu haben ist und von dem die anderen nur träumen können. Diese Gesellschaftsteilung sowie die wachsende Tourismusbranche führten schließlich zu negativen Veränderungen der kubanischen Wesensart. „Zu unserer Zeit“, also in den sechziger Jahren, waren die Menschen durch die Bank wissensbegierig, sie plauderten gerne mit Fremden und hatten Spaß an der Unterhaltung. Ganz ohne Hintergedanken. Bei unserem jetzigen Besuch sprach man uns ebenso oft an, doch diesmal nur, um uns Markenzigarren zum günstigen Preis anzubieten (wir wussten, dass es Fälschungen waren), uns in ein bestimmtes Restaurant bzw. Hotel zu lotsen oder gegen Bezahlung die Stadt zu zeigen. In den

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zehn Tagen unseres Aufenthaltes wurden wir lediglich von zwei Studenten angesprochen, die sich mit uns tatsächlich nur unterhalten wollten. Zu unserer Zeit existierte hier kein Straßenstrich, weder am Tag noch in der Nacht, die Freudenhäuser waren am Stadtrand, und die Stadt war sauber. Nach unserer Ankunft checkten wir im Hotel ein und gingen um 4 Uhr nachmittags auf der beliebten Promenade spazieren – und als erstes bot man uns prompt Sexdienste an – und das auf der Hauptstraße am helllichten Tag. Die meisten Touristen zieht es natürlich nach Varadero auf der Halbinsel Hicacos, gut 120 km nördlich von Havanna. Ein kubanisches Territorium, das allerdings mit dem übrigen Kuba kaum etwas gemeinsam hat. Tausende Besucher von Varadero schwärmen dann von „Kuba“, das sie gar nicht kennengelernt haben. Varadero hat einen der schönsten Strände der Welt, eine ganze Reihe großer Hotels wurde hier gebaut, vornehmlich vier und fünf Sterne. Es ist eigentlich ein Sperrgebiet (Territorio especial), das man nur über eine Brücke erreichen kann, vor der eine Art „Grenzposten“ stehen. Zutritt haben nur Dollarausländer und jene Kubaner, die dort arbeiten und sich als solche ausweisen müssen. Die typischen Lokale in Havanna, die wir einst gerne besuchten, um dort Mojito, Cuba Libre und andere Drinks zu genießen, wurden inzwischen dermaßen amerikanisiert, dass wir jetzt lieber vorbeigingen. Am Ende muss ich zugeben, dass mein Wiedersehen mit Kuba nach fast 40 Jahren eine herbe Enttäuschung war. Wenn ich mein unveröffentlichtes Buch über meinen ersten Aufenthalt auf Kuba wieder in die Hand nehme und meine alten Erlebnisse und Eindrücke mit den jetzigen vergleiche, muss ich mit Bedauern feststellen, wie viel sich seither verändert hat, und dass diese Veränderungen keineswegs von einer guten Entwicklung des Landes zeugen.

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Wieder beim Prager Rundfunk Nach zwei Jahren minus acht Wochen (meinen Urlaubsanspruch für zwei Jahre hatte ich durchsetzen können) kehrten wir im Sommer 1965 nach Prag zurück. Ich war wieder beim Rundfunk, wo inzwischen ein ganz anderer Wind wehte. Der Chefredakteursposten, von dem ich zuvor abgesetzt wurde, war natürlich nicht mehr frei, ersatzweise trug man mir die Leitung einer der fremdsprachigen Redaktionen an. Drei standen zur Auswahl, ich habe mich für die deutsche Redaktion entschieden, die ich bereits kannte und in der hervorragende Mitarbeiter tätig waren. Und damit habe ich, ohne es zu ahnen, schon meine zweite Emigration vorausbestimmt. Bereits vor meinem Antritt wollte die Redaktion ihre westdeutschen Hörer nicht mehr unbedingt von den Vorteilen des Kommunismus überzeugen. Den Schwerpunkt der Sendungen bildeten jetzt Informationen über die positiven Veränderungen im sozialistischen System der Tschechoslowakei, die an die Hörer in der DDR gerichtet waren. Die Reaktionen waren enorm, die Korrespondenzabteilung des Rundfunks war großenteils mit der Bearbeitung von Zuschriften unserer Hörer beschäftigt. Bald musste ich deshalb in meiner Redaktion dafür eine eigene Mitarbeiterin einstellen. Manche Hörer schauten bei ihrem Pragbesuch auch im Funkhaus vorbei, um mit jemandem von uns zu sprechen. In meinem Schrank hing ein Sakko, das ich immer anzog, sobald mir von der Rezeption ein Besuch aus Deutschland gemeldet wurde. Die Hörer brachten uns hin und wieder auch Geschenke mit. Für eine tragikomische Situation sorgte eine Dame aus Deutschland, die uns einen Koffer voll mit Mehl, Zucker und sonstigen Lebensmitteln mitbrachte – damit wir nicht hungern müssten. Offenbar hat sie den Sinn und Zweck unserer Sendungen missverstanden. Die Gabe eines anderen westdeutschen Hörers erwies sich als wahres Danaergeschenk: ein Papagei im Käfig. Vermutlich dachte er, dass wir zwar genug Mehl und Zucker haben, dafür aber an krassem Mangel an Papageien leiden. Den Vogel brachte ich in meinem Büro unter. Alle Mitarbeiter des Rundfunks kamen zu mir, um ihn zu bewundern. Doch der Papagei hatte eine furchtbare Eigenart: Auf Pfeifen reagierte er sofort mit einem fürchterlichen Geschrei. Es sprach

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sich sehr schnell herum, und jeder, der an meiner Tür vorbeiging, konnte sich einen munteren Pfiff nicht verkneifen. Mit der Folge, dass der weitere Aufenthalt des Papageien in meinem Büro schier unerträglich wurde. Keiner wollte ihn haben, also musste ich den Vogel zu mir nach Hause nehmen.

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Die zweite Okkupation Im Jahr 1967 benutzte ich ein ähnliches Argument wie schon 20 Jahre zuvor, als ich noch Auslandskorrespondent der tschechischen Presseagentur ČTK in Berlin war. Ich erklärte der Leitung des Auslandshörfunks, dass es von Vorteil wäre, wenn ich die Situation nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD kennen würde. Wie schon damals, auch jetzt wurde eine vierwöchige Reise durch die BRD genehmigt. Meine Absichten gingen allerdings darüber hinaus. Ich hatte bereits mit dem Verlag des Journalistenverbandes vereinbart, dass ich für sie ein Abbild der heutigen Bundesrepublik in Form von Gesprächen skizziere würde. Aufgrund meiner Erfahrungen setzte ich voraus, dass meine Schilderungen ein ganz anders Bild ergeben würden als jenes, das uns die offizielle tschechoslowakische Propaganda präsentierte. Dafür habe ich mir die Unterstützung des deutschen Vereins Inter Nationes (der später mit dem Goethe-Institut fusionierte) gesichert, der gute Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Ländern unterstützte, insbesondere zu den Ostblockstaaten. Das Vorstandsmitglied des Vereins war der aus České Budějovice (Böhmisch Budweis) stammende Kunsthistoriker Götz Fehr. Obwohl er nach dem Krieg die Republik gezwungenermaßen verlassen hatte, war er unserem Land nach wie vor sehr zugetan. Auch seine Gattin teilte seine Sympathie, nach seinem Tod förderte sie aktiv die Tschechoslowaken im deutschen Exil und durch sie auch die Dissidenten daheim. Dafür wurde sie später mit dem Tschechoslowakischen Verdienstorden geehrt. Inter Nationes konnte mir vor allem Interviews mit Persönlichkeiten vermitteln, an die ich normalerweise kaum herangekommen wäre, darunter auch ein Gespräch mit dem damaligen Bundesfinanzminister und Vorsitzenden der CSU Franz Josef Strauß, einem der bedeutendsten Politiker der damaligen BRD. Aus den geplanten 30 Minuten wurde schließlich ein zweistündiges Gespräch, an dessen Ende ich offiziell beauftragt wurde, unserem Finanzminister auszurichten, dass er sich jederzeit an F. J. Strauß wenden könne, sollte die Tschechoslowakei seine Unterstützung benötigen. Strauß, der für seine scharfe und rüde Art bekannt war, legte zum Abschied seinen Arm um meine Schultern und sagte: „Gell, ich bin doch nicht so bös, wie man von mir behauptet ...“

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Eine herausragende Persönlichkeit war der Richter und hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen der Frankfurter Auschwitzprozesse spielte. Es waren die ersten Prozesse dieser Art, und die Tatsache, dass sie überhaupt stattfanden, war weltweit eine Sensation. Mit seinem hartnäckigen Engagement leitete Fritz Bauer die öffentliche Auseinandersetzung mit der Holocaust-Thematik ein und damit auch die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Ich sprach ebenso mit Vertretern diverser politischer Parteien und Organisationen des öffentlichen Lebens, der Gewerkschaften, Jugendorganisationen und selbstverständlich auch mit vielen Kollegen aus verschiedenen Rundfunksendern. Das Gespräch mit Gerhard Frey16 erinnerte mich irgendwie an das Treffen mit Stolypin (von dem ich später noch berichten werde): Auch Frey kam zu unserem Treffen in Begleitung einiger schweigsamer Männer und nahm unser Gespräch auf Tonband auf. Ich interviewte auch den Vorsitzenden des größten kommunistischen Jugendverbandes, seine Äußerungen waren zwar pro-sowjetisch, dennoch äußerst diplomatisch formuliert. Ich muss zugeben, dass meine Verwunderung darüber, dass der Vorsitzende einer kommunistischen Organisation zu unserem Treffen ausgerechnet in einem großen schwarzen Mercedes kam, ziemlich naiv war. Es tut mir sehr leid, dass alle meine Unterlagen verloren gingen, die Notizen wie auch die Tonbandaufnahmen. Ich beendete meine Reise, als der „Prager Frühling“ gerade seinen Höhepunkt erreichte. Zu diesem Zeitpunkt widmete ich mich den brandaktuellen Themen, die weitaus wichtiger waren als die Auswertung des gesammelten Materials. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen. Die Kontakte, die ich während dieser Reise knüpfen konnte, erwiesen sich aber bei meinem späteren erzwungenen, langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik als sehr nützlich. Im Sommer des Jahres 1968 arbeitete ich in Bonn als Urlaubsvertretung des Korrespondenten des Tschechoslowakischen Rundfunks. Vor meiner Rückreise wurde ich zum Internationalen Frühschoppen eingeladen, 16 Frey war Journalist und Politiker, Herausgeber der Deutschen National-Zeitung und später Bundesvorsitzender der von ihm gegründeten rechtsextremen Deutschen Volksunion.

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einer wöchentlichen Fernsehsendung, in der unter der Moderation von Werner Höfer deutsche und ausländische Journalisten über aktuelle politische Themen diskutierten. Das Thema an jenem Sonntag war der „Prager Frühling“ und die sowjetische Haltung dazu. Zum Abschluss wurde jeder der Teilnehmer gefragt, ob seiner Meinung nach die Sowjetunion die Tschechoslowakei besetzen würde. Ich war damals der Ansicht, dass die Sowjetunion über ausreichende Mittel verfügt, um den Druck auf die Tschechoslowakei steigern zu können und daher nicht auf einen bewaffneten Angriff angewiesen wäre. Als ich wieder zurück in Prag war, sollte ich einen Vortrag über die Bundesrepublik Deutschland vor rund 200 Zuhörern halten. Ich fing mit dem Vorlesen meines sorgfältig vorbereiteten Referats an, aber schon nach der ersten Seite rutschten mir die Blätter aus der Hand und fielen zu Boden. Die verstreuten Blätter mühsam einzusammeln und zu ordnen war nicht gut möglich, also sprach ich in meinem ersten Referat vor so vielen Zuhörern aus dem Stegreif, gut anderthalb Stunden. Seitdem habe ich meine Referate nie wieder schriftlich vorbereitet. Ich habe mich um eine wahrheitsgetreue Darstellung der Bundesrepublik bemüht, so wie ich sie im Jahr 1968 wahrnehmen konnte; genau das wollte ich auch mit meinem Buch vermitteln. Mit all ihren positiven wie negativen Aspekten, allerdings, wie schon gesagt, anders formuliert, als es in bestimmten Kreisen gerne gehört wurde. Zwei oder drei Tage später erschien in Rudé právo eine kritische Notiz, in der die Redaktionen dazu aufgefordert wurden, Menschen, die sie ins Ausland schicken, sorgfältiger auszuwählen. Zehn Tage nach meinem Auftritt im deutschen Fernsehen, Irča und ich schliefen bereits fest, läutete kurz vor Mitternacht das Telefon – und erst jetzt hörten wir das Dröhnen der Motoren. Unsere damalige Wohnung lag in der Nähe der Einflugschneise des Prager Flughafens Ruzyně. Am Apparat war Irčas Kollegin Zdena Benešová, die uns gleich mit der aktuellen Meldung des staatlichen Rundfunks schockierte: Die Sowjets und die übrigen verbündeten Nachbarstaaten waren gerade dabei, unser Land zu besetzen, ihre Flugzeuge landeten im Minutentakt am Flughafen Ruzyně, die Panzer hatten die tschechoslowakischen Grenzen bereits passiert und rückten aus allen Richtungen gegen die Hauptstadt vor. Nach dem ersten Schreck war mein erster Gedanke,

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sofort zum Funkhaus zu fahren. Da mein Wagen in der Werkstatt war, hat mich Zdena Benešová dorthin gebracht. Überall im Rundfunk tummelten sich bereits viele Redakteure, die spontan hergekommen waren – aber auch schon sowjetische Soldaten, die offensichtlich keine blasse Ahnung hatten, was sie da zu suchen hatten. Sie verwehrten uns also lediglich den Zutritt zu den Redaktionsräumen. Wir versammelten uns auf den Gängen. Nach Ankunft der höheren Chargen änderte sich die Lage. Als erstes wollte man die Telefonzentrale besetzen. Dort saß aber eine geistesgegenwärtige und scharfsinnige Telefonistin, die behauptete, dass von dieser Zentrale die Zustellung von Milch und Gebäck von ganz Prag gesteuert würde und das Abschalten einen argen Versorgungsengpass in der ganzen Stadt zur Folge hätte. Daraufhin ließen die Russen die Zentrale Zentrale sein und griffen zu primitiven Mitteln: Sie gingen Stockwerk für Stockwerk von einem Raum zum anderen und rissen dort die Telefonkabel aus der Wand. Es fiel uns schnell auf, dass sie aber nicht versuchten, die versperrten Türen aufzubrechen. Um nicht aufzufallen, sperrten wir einige Räume auf unserem Gang zu und ließen die anderen offen. Das Funkhausgebäude war beinahe ein halbes Jahrhundert alt, seine Kapazität reichte für den Rundfunkbetrieb längst nicht mehr aus, und deshalb existierten einige auswärtige Rundfunkstudios, die in ganz Prag verstreut waren. Nachdem die Soldaten aus Unwissenheit die Zentrale nicht ausgeschaltet hatten, konnten wir, genauso wie die übrigen Redaktionen, auf die Studios außerhalb des Funkhauses ausweichen und von dort aus unsere Arbeit fortsetzen. Diese kleinen Studios spielten für die historisch bedeutsame Leistung des Tschechoslowakischen Rundfunks in der ersten Woche der Okkupation eine entscheidende Rolle. Das Hauptverdienst für die Aufrechterhaltung des Sendebetriebs nach der Besetzung gebührt den Technikern. Ähnlich wie bei der Telefonzentrale wollten die Soldaten auch die ganzen Sendeanlagen stilllegen, was die Techniker mit ihrer Spitzfindigkeit zu verhindern wussten. Sie redeten den Russen einfach ein, dass man durchs Kappen sämtlicher Leitungen eine Explosion mit Bränden auslösen würde und genau aus diesem Grund bestimmte Anlagen nicht abgeschaltet werden dürften. Unter der Aufsicht der Soldaten schalteten sie tatsächlich einige

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der Anlagen ab, nicht aber die Hauptanlagen, die landesweit eine ganze Kette von Studios und Sender untereinander verbanden. Den Soldaten gegenüber behaupteten sie, dass diese Anlagen aus Sicherheitsgründen stündlich kontrolliert werden müssten. Die Räume wurden von den Russen versperrt, und die Techniker führten dann einmal pro Stunde „Kontrollen“ durch, wobei sie unter den Augen der nichts ahnenden Soldaten jedes Mal die Sendezeiten der einzelnen Studios geändert haben. Die Aktivitäten des Rundfunks und des Fernsehens in den ersten Tagen der Okkupation waren in ihrer Art und Weise einzigartig. In der Zwischenzeit sprachen wir uns mit den Kollegen per Telefon ab. Die wichtigsten Fragen wurden so noch vor dem unfreiwilligen Verlassen des Funkhauses geklärt. Vor dem Rundfunkgebäude stellte ich mit Überraschung fest, dass es die Prager innerhalb dieser kurzen Zeit geschafft hatten, eine Barrikade quer über die Weinbergstraße (Vinohradská třída) zu errichten, sodass wir jetzt mühsam darüber klettern mussten. Ich fuhr mit einigen Mitarbeitern zur Wohnung eines Kollegen, der in der Nähe wohnte. Seine Frau machte uns Frühstück, und danach trennten wir uns, um in den auswärtigen Sendestudios in verschiedenen Stadtteilen Stellung zu beziehen. Ich bezog den Posten in einer Villa Na Květnici in Prags Außenbezirk Pankrác, in der das Studio Italien B eingerichtet war, ein „illegaler“ Sender der italienischen Kommunistischen Partei, der unter dem Schutz der KSČ stand. Man täuschte vor, die Sendungen kämen aus Italien. Es war, wie so manches in jener Zeit, ein bewusstes Kasperltheater. Jeder wusste Bescheid, aber alle taten so, als ob sie den Unfug glauben würden. Das Studio war mit allen erforderlichen Apparaturen ausgerüstet. Auch der Empfang von internationalen Presseagenturen war gewährleistet – die Italiener überließen uns großzügigerweise außerdem ihren Koch, der uns mit seiner Kochkunst die Woche „im Exil“ angenehmer machte. Für die gesamte Republik wurde ein Sendeplan erstellt, nach dem die verdeckten Studios abwechselnd gesendet haben. Es funktionierte einwandfrei, auch ohne zentrale Koordination. Ebenso problemlos haben sich die Kollegen in den einzelnen Studios den Dienst untereinander aufgeteilt. Wir im Stützpunkt Na Květnici sendeten außer in tschechischer Sprache auch in drei Hauptweltsprachen: abwechselnd deutsch, englisch und

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französisch. An Mitarbeitern mit entsprechender Qualifikation mangelte es nicht. Das Studio arbeitete reibungslos ohne Leitung. Ab und zu kam der Direktor des Auslandshörfunks Hrabal vorbei. Er störte aber nur. Einmal gab es während seiner Anwesenheit Alarm, da im Vorgarten der Villa plötzlich ein russischer Soldat gesichtet wurde. Wir verschwanden vom Fenster und warteten ab, was weiter passieren würde. Bald stellte sich heraus, dass der Soldat im Garten nur seine Notdurft verrichten wollte. Ein anderes Mal bemerkte ich zwei Männer, die in unserer damals noch kaum frequentierten Straße in bestimmten Zeitintervallen auf und ab gingen. Nach einer kurzen Beratung ging ich hin und fragte mit aufgesetzter Unschuldsmiene die beiden, ob sie etwas suchen und ob ich ihnen vielleicht behilflich sein könnte. Sie lächelten und sagten: „Wenn Sie uns hier sehen, dann können Sie sich sicher sein, dass alles in bester Ordnung ist.“ Die Menschen in der Umgebung wussten natürlich, dass sich in unserer Villa ein Sender befand, und sie ahnten auch, was wir dort machten. Es war rührend, wie sie uns mit Essen und Süßigkeiten versorgten und danach fragten, was wir sonst noch bräuchten. Nur dadurch, dass wir uns beim Dienst im Sender abwechselten, waren solche Unmengen an Brötchen, Wurst, Kuchen und Sonstigem überhaupt zu bewältigen. So brisant die Lage war, es gab auch weniger ernste Situationen. Als ich an einem Nachmittag nach Hause ging, um zu duschen und Wäsche zu wechseln, läutete plötzlich das Telefon. Ich hob den Hörer ab, und der Mann in der Leitung meldete sich als Jirka. Ich kannte mehrere Jirkas, so fragte ich „Jirka wer?“ Er wiederholte „JIRKA eben ...“ Als ich immer noch nicht wusste, mit wem ich es zu tun hatte, flüsterte er ins Telefon seinen Nachnamen. Es folgte ein nächster Anruf, diesmal war es eine Kollegin, die ich an der Stimme erkannte. Sie erklärte mir, dass sie jetzt an einem anderen Ort arbeite, mit mir etwas zu besprechen habe und schlug ein Treffen beim „Hundertzwanziger“ vor. Ich stand auf der Leitung. Sie wunderte sich, dass ich nicht wusste, was „Hundertzwanziger“ bedeutet, und sagte: „Also bei ...“ (und nannte einen Namen). Auch das sagte mir gar nichts, ich verlor die Geduld und meinte: „Weißt du was? Wir treffen uns um 11 Uhr im Hotel Graf am Petr-Osvoboditel-Platz!“ Konspiration hin Konspiration her, wir trafen uns im Garten des Café Graf und besprachen alles Notwendige. Wir

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tranken unseren Kaffee aus und machten uns auf den Weg. Da fiel mir am Nebentisch ein Mann auf, der gleichzeitig mit uns aufstand und uns folgte. Ich machte meine Kollegin Marie Drozdová auf ihn aufmerksam und schlug ihr vor, getrennt weiter zu gehen. Wir gingen jeder in eine andere Richtung, um zu sehen, was der Kerl hinter uns vorhat. Er ging hinter mir, beschleunigte seine Schritte, und als er mich eingeholt hat, sagte er: „Du bist Utitz, ich bin ... (er sagte seinen Namen) von der Presseagentur ČTK, und wir würden gerne wissen, wie wir euch unsere Meldungen zukommen lassen können.“ Das haben wir auch gleich vereinbart. Der Ausweis eines Rundfunkjournalisten wirkte wie ein Zauberstab. Wir gingen öfter in das nahegelegene Gasthaus Na Paloučku zum Essen. Eines Tages traf ich dort auf junge Burschen, die sich gerade anschickten, antisowjetische Parolen an die Wand zu malen. Ich zeigte ihnen meinen Rundfunkausweis, erklärte ihnen, dass unser Team in diesem Gasthaus immer zu Mittag isst und wir keine Aufmerksamkeit brauchen könnten. Sie packten ihre Farben sofort zusammen und entfernten flink das bereits angefangene Graffiti. Ein anderes Mal ging ich auf der Straße, als die Russen gerade vom Flugzeug ihre Flugblätter abwarfen. Es waren jene berüchtigten Flugblätter, in denen von „40.000 Konterrevolutionären“ die Rede war, die ausfindig und unschädlich gemacht würden. Diese Drohgebärde löste in der breiten Öffentlichkeit Empörung und Alarmstimmung aus, bis zu den höchsten Stellen. Als die Flugblätter zu Boden fielen, wurden sie von Passanten mit Füßen getreten. Ich aber brauchte zumindest eines dieser Flugblätter, um darauf in unserer Nachrichtensendung gegebenenfalls reagieren zu können. Ich bückte mich, um ein sauberes Blatt vor den Fußtritten der Menschen zu retten – und wurde von allen angeschnauzt: Ich solle diesen Mist im Dreck liegen lassen. Wieder zückte ich meinen Rundfunkausweis und erklärte, dass ich den Text für unsere Arbeit benötige. Innerhalb von Sekunden hatte ich eine Handvoll sauberer Flugblätter. Aus Sicherheitsgründen und auf Drängen guter Ratgeber schlief ich nicht mehr zu Hause. Erst übernachtete ich sehr unbequem in der Redaktion, später dann bequem im Militärkrankenhaus, das mir ein Ärztezimmer zur Verfügung stellte. Eines Morgens wurde ich benachrichtigt,

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dass soeben General Dr. František Engel, der Direktor des Krankenhauses, eingetroffen sei. Er nahm als Delegierter an dem Sonderparteitag17 der KSČ teil, der in den Fabrikhallen des Maschinenherstellers ČKD, ohne Wissen der Besatzer, stattfand. Um darüber in unserer Sendung berichten zu können, bat ich ihn um ein Gespräch über den Verlauf. Ein Tonbandgerät gab es nicht, ich musste mir schriftliche Notizen machen. Anschließend wurde mir ein Krankenwagen bereitgestellt, der mich zu meinem Sendestudio in Pankrác brachte. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich gerade durch die Stadt fuhr, als vom Rundfunk ein Alarm ausgerufen wurde. Um es besser verstehen zu können, muss ich die damalige Situation kurz erläutern: In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Truppen sprachen viele Menschen die Russen auf den Panzern an. Sie versuchten ihnen klar zu machen, dass wir ein friedfertiges Volk sind, das auf Völkerverständigung setzt, und dass uns durch die gewaltsame Besetzung unseres Landes grobes Unrecht geschieht. Jedenfalls konnte man durch die Gespräche erfahren, dass die russischen Soldaten – ausgenommen die Kommandanten – durch die Bank ganz einfache Burschen waren. Oft völlig ungebildet und angesichts der unerwarteten Konfrontation mit einem entsetzten Volk auch ziemlich verängstigt. Manchen von ihnen wurde eingetrichtert, dass die Tschechoslowakei von den Westdeutschen überfallen wurde, andere wussten nicht einmal, wo sie sich tatsächlich befanden und dachten, sie wären im feindlichen Deutschland. Diese Situation nutzten die Tschechoslowaken, um sich durch passiven Widerstand den Okkupanten entgegen zu stellen. Punkt Mittag heulten die Sirenen auf, der ganze Verkehr kam zum Stehen, alle Menschen verließen die Straßenbahnen, Busse und Autos und liefen Hals über Kopf in die Hauseingänge, in denen sie sofort verschwanden. Binnen einer Minute waren sämtliche Straßen men17 Für den 22. August 1968 wurde als Reaktion auf die Okkupation ein Sonderparteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei einberufen. Die Delegierten waren bereits gewählt worden, da im September ein ordentlicher Parteitag stattfinden sollte. 1.219 Delegierte, d. h. 79 % aller gewählten Vertreter, nahmen teil. Der Parteitag verabschiedete Grundsatzdokumente, die eine ablehnende Position gegenüber der Okkupation einnahmen, wählte eine neue, reformorientierte Parteiführung und rief zu einem einstündigen Generalstreik auf.

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schenleer. Die Russen gerieten völlig in Panik. Unser Krankenwagen setzte natürlich die Fahrt fort, und so konnte ich beobachten, wie die Russen kopflos auf die Panzer sprangen, ratlos die Panzertürme in alle Richtungen drehten und abwarteten, was weiter geschah. Fünf Minuten später heulten wieder die Sirenen, die Menschen verließen in aller Ruhe die Häuser, gingen ganz einfach weiter oder stiegen in ihre Autos oder in die öffentlichen Verkehrsmittel ein; alles lief weiter, als ob es diese fünf Minuten gar nicht gegeben hätte. Es war ein Musterbeispiel einer unglaublichen Organisation und Disziplin und zeugte natürlich von dem immensen Einfluss des Fernsehens und Hörfunks. In Na Květnici angekommen, brach ich den obersten Grundsatz des Rundfunks und trat während der Sendung ins Studio. Sobald der Nachrichtensprecher Jan Petránek eine Meldung beendet hatte, unterbrach ich ihn mit der Ankündigung eines brandaktuellen Gesprächs mit General Engel. Anhand meiner Notizen berichtete ich dann über den Sonderparteitag der KSČ, so wie es mir vorher General Engel geschildert hatte. Eine Woche später, nachdem die „Kapitulationsvereinbarung“ durch die Parteiführung unterschrieben war, räumten die Russen das zen­trale Funkhaus. Das bedeutete gleichzeitig das Ende unserer Sendungen von der Villa Na Květnici. So paradox es auch klingen mag, durch die Solidarität der Menschen, die sich bei jeder Gelegenheit zeigte, zählte jene Woche, die ich quasi „im Untergrund“ verbrachte, trotz all ihren tragischen Folgen, dennoch zu den schönsten Erlebnissen in meinem Leben.

6. Die zweite Emigration

Zum zweiten Mal ins Exil Ende Oktober 1968 wurde ich zum Rundfunkdirektor gerufen. Hrabal und mein damaliger Chefredakteur Igor Kratochvíl erwarteten mich schon. Die beiden teilten mir mit, dass ich mit sofortiger Wirkung auf die Dauer eines Jahres ohne Bezüge beurlaubt sei, und dass ich binnen 24 Stunden die Tschechoslowakei verlassen solle. Sie rieten mir, nach Westdeutschland zu gehen, die Sprache beherrsche ich ja, und so sei anzunehmen, dass ich dort keine Probleme mit meinem Lebensunterhalt haben werde. Gleichzeitig versicherten sie mir, dass mir meine Familie so schnell wie nur möglich nachfolgen werde. Für mich war es natürlich ein gehöriger Schock. Inzwischen ging die Angst um, hervorgerufen durch die Drohungen der Russen gegenüber den „40.000 Konterrevolutionären“, sodass man die Gefahr, verhaftet oder sogar nach Sibirien verschleppt zu werden, nicht mehr ausschließen konnte. Der Hörfunkdirektor Zdeněk Hejzlar befand sich bereits in der Botschaft in Wien, der Fernsehdirektor Jiří Pelikán in Rom. Einige hochrangige Beamte, zum Beispiel vom Außenministerium, setzten sich nach Schweden ab. Nach Deutschland geschickt zu werden und auch die offensichtliche Bestrebung, mich als mögliche Zielscheibe einer Verfolgung aus der Schusslinie zu bringen – das alles schien mir in meiner Situation trotzdem etwas übertrieben. Die Tatsache, dass ich meine Familie jetzt so plötzlich verlassen sollte, hat mich selbstverständlich erschüttert, dennoch: Ich muss zugeben, dass ich auch eine gewisse Abenteuerlust verspürte. Ich beschloss, dieser Anweisung zu folgen und gleich am nächsten Tag nach Bonn zu reisen. Dafür fehlte mir allerdings das Einreisevisum für Deutschland. Ich bat meine deutschen Kollegen in Prag um Hilfe, doch sie sahen sich außerstande, die Erteilung der deutschen Einreisegenehmigung derart zu beschleunigen, dass ich gleich am nächsten Morgen hätte abreisen können. Sie rieten mir, nach Wien zu fahren, wo die deutsche Botschaft meine Einreisegenehmigung prompt erledi-

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gen würde. Per Zufall hatte ich in meinem Reisepass ein noch gültiges österreichisches Visum. Nach fieberhaften Vorbereitungen und einem schmerzlichen Abschied von meinen Lieben setzte ich mich in der Früh in meinen Fiat 600 und machte mich auf den Weg nach Wien. Eine Kollegin aus der Redaktion nahm ich gleich mit. Der Grenzübertritt sollte noch problemlos sein – man fertigte zwar normal ab, aber die Zoll- und Grenzbeamten waren tolerant und ließen die Reisenden ohne Weiteres passieren. Ich suchte mir einen kleinen Grenzübergang aus, bei dem ich nur wenig Verkehr vermutete – und tatsächlich: Vor dem Grenzbalken stand nur ein einziges Fahrzeug. Ich sagte noch: „Na fein, wir werden gleich fertig sein“, stellte mich hinten an und wartete. Ich führte viele Briefe und Dokumente mit. Auf dem Rücksitz lag unter einem Stoß Zeitungen das Schwarze Buch. Ich dachte, dass es unter diesem Haufen nicht auffallen würde. Das heikle Buch war ein Bericht über die erste Woche der Okkupation, auf die Schnelle von tschechischen Historikern verfasst. Es hatte tatsächlich einen schwarzen Umschlag. Man hatte mir zwar geraten, die schwarze Hülle abzunehmen, aber irgendwie tat es mir leid, also lag jetzt das Buch in seiner ganzen schwarzen Pracht unter den Zeitungen. Ich beobachtete, wie die Zöllner den Wagen vor uns buchstäblich auseinandernahmen und alles peinlich genau kontrollierten. Der Fahrer musste sogar seine Jacke ausziehen und die Taschen leeren. Allmählich rutschte mir das Herz in die Hose. Das ganze Unternehmen konnte ordentlich ins Auge gehen! Es dauerte eine ganze Weile, die Zöllner kontrollierten offensichtlich mehr als nur genau und konnten immer wieder etwas finden. Plötzlich kam ein hochgewachsener Mann im Trainingsanzug auf unser Auto zu und sagte: „Hören Sie, das dort wird noch eine Ewigkeit dauern. Ich bin auch Zöllner, also wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich in Zivil bin, könnte ich Sie abfertigen.“ Es lag mir fern, auf eine korrekte Dienstuniform zu pochen. Ich zeigte ihm bereitwillig unsere Dokumente, er sah sie flüchtig durch und meinte: „So, jetzt können Sie weiterfahren.“ Es ließ mir einfach keine Ruhe, also anstatt mich sofort aus dem Staub zu machen, fragte ich noch: „Würden Sie mir bitte verraten, warum der Herr dort so gründlich kontrolliert wird?“ „Weil er ein Trottel ist!“, antwortete der Zöllner. „Er wollte eine komplette Briefmarkensammlung hinausschmuggeln und hat alles im ganzen Wagen

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so idiotisch verteilt, dass wir es einfach finden mussten. Wir konnten nicht mehr so tun, als ob wir nichts bemerkt hätten.“ Ich verabschiedete mich von dem Zöllner im Trainingsanzug, fuhr um den „Trottel“ mit der Briefmarkensammlung herum, setzte unsere Reise fort und kam glücklich in Wien an. Dort konnte ich bei Frau Santner-Cyrus wohnen, die als Korrespondentin für die Schweizer Zeitschrift Weltwoche und das deutsche Wochenblatt Der Spiegel arbeitete. Wir kannten uns vorher nicht, ich kontaktierte sie auf Empfehlung meiner Kollegin Irena Petřinová. Frau Santner-Cyrus erwies sich als phantastische Gastgeberin. Jeden Morgen, kaum dass ich aufgestanden war, rief sie fröhlich: „Doktor, das Frühstück steht bereit!“ Gleich am nächsten Tag machte ich sie darauf aufmerksam, dass ich gar keinen Doktortitel habe. „Macht nichts, Doktor“ lautete die Antwort. Wenn nämlich in Österreich einer schreiben und lesen kann, so muss er einfach ein Doktor sein, mindestens – wenn nicht gar ein Professor. In Wien traf ich viele Tschechen, die auf der Durchreise waren und nicht so recht wussten, ob sie hier bleiben oder doch lieber heimfahren sollten. Einer meiner Journalistenkollegen meinte: „Zurückfahren ist ein Blödsinn. Hier bleiben ist auch ein Blödsinn. Also fahre ich zurück.“ Und er fuhr heim – um die nächsten Jahre in einem Heizkeller schuften zu müssen. Im Dezember 1989 wurde er Außenminister – er hieß Jiří Dienstbier. Von Wien fuhr ich weiter nach Bonn und hatte dabei nicht die leiseste Ahnung, was ich dort eigentlich sollte. Ich wusste nicht, wo ich wohnen sollte und welche Kontakte ich zuerst knüpfen musste. In Bonn blieb ich an der erstbesten Telefonzelle stehen und rief meinen Freund David Binder an, den Korrespondenten der New York Times. Ich machte seine Bekanntschaft seinerzeit in Prag, als er über den „Prager Frühling“ berichtete. Er gehört zu jenen Menschen, mit denen ich mich auf Anhieb angefreundet habe und deren Freundschaft bis heute währt. Am Telefon stellte er keine Fragen, er sagte nur: „Komm her, du wirst bei uns wohnen!“ David war ein typischer Amerikaner. Seine Frau Helga stammte aus der DDR, sie war nicht nur sehr nett und klug, sie war außerdem eine vorzügliche Köchin. Bei Binders aß ich zum ersten Mal in meinem Leben Hamburger, die allerdings von David persönlich ge-

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macht wurden. Er schätzte und liebte seine Frau, aber die Zubereitung dieser rein amerikanischen Angelegenheit wollte er ihr doch nicht überlassen. Ich blieb etwa sechs Wochen lang, bis ich eine geeignete Untermiete bei einem Journalistenkollegen fand. Es mag wie ein Klischee klingen, aber auch aus diesem Mietverhältnis wurde eine Freundschaft – bis zu seinem tragischen Tod. Husemann war ein großer Kerl, außerordentlich intelligent und humorvoll. Wir waren bei ihm oft zu Gast, und die Nachricht von seinem Tod traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Als bekannt wurde, dass er sich das Leben genommen hatte, konnte es niemand fassen. Erst später hörten wir von den tiefen Depressionen, unter denen er immer wieder zu leiden hatte und die er vor uns allen verbergen konnte. Solange ich bei Binders wohnte, kümmerte ich mich tagsüber um meine künftige Existenz und an den Abenden, wenn die Binders ausgingen, um deren drei Töchter im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. Wir hatten viel Spaß, und bis heute nennen mich die Mädchen, inzwischen mehrfache Mütter, immer noch Onkel Ucu. Am ersten Tag meiner Ankunft in Bonn parkte ich den Wagen auf der Straße vor Binders Haus. Am nächsten Morgen musste ich feststellen, dass das Fahrzeug aufgebrochen und leer geräumt wurde – im Auto waren weder Wertsachen noch Dokumente. Lediglich eine hübsche Decke und eine Aktentasche mit einigen Kleinigkeiten. Insgesamt nichts Wertvolles. Wir machten sofort eine Anzeige bei der Polizei. Dort war man richtig unglücklich darüber, dass es ausgerechnet einem tschechischen Bürger auf der Flucht vor den Russen passieren musste. Eines Abends kam ich heim und fand dort eine Nachricht, dass ich Marion Gräfin Dönhoff anrufen solle. Sie lud mich auf Kosten der Redaktion nach Hamburg ein. Marion Gräfin Dönhoff entstammte einem bekannten ostpreußischen Adelsgeschlecht. Nach der Flucht ließ sie sich in Hamburg nieder und schlug eine journalistische Laufbahn ein. Sie wurde eine der herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Journalismus. Im Jahr 1968 war sie bereits Chefredakteurin der Zeitschrift Die Zeit, später auch Mitherausgeberin. Ich lernte sie – wie viele andere deutsche Kollegen – in Prag kennen, wo sie nach Informationsquellen für ihren Artikel über den „Prager Frühling“ suchte. In Hamburg sprachen wir über meine beruflichen Möglichkeiten in Deutschland. Ich berichtete ihr, dass ich auf der Suche nach einer

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Beschäftigung bereits selbst einiges unternommen habe. Die Gräfin erklärte mir, dass sie mit einigen Kollegen einen Fonds zur Unterstützung von tschechischen und slowakischen Journalisten, die nach der sowjetischen Invasion nach Deutschland fliehen mussten, errichtet habe. Sie sagte, dass mir aus diesem Fonds monatlich 800 DM ausbezahlt würden, und zwar so lange, bis ich eine reguläre Arbeit gefunden hätte. Damals konnte man von diesem Betrag noch recht gut leben. Kurz nachdem ich wieder zurück in Bonn war, erhielt ich vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik einen Vertrag als externer Mitarbeiter. Dieses Institut wurde von Karl Carstens geleitet, dem späteren Bundespräsidenten. Bei meinem Antritt sprach ich bei ihm vor. Er ließ sich von mir dabei ausführlich über die Situation in der Tschechoslowakei informieren. Meine Aufgabe im Institut war die Ausarbeitung einer umfassenden Analyse der geschichtlichen Entwicklung tschechisch-deutscher Beziehungen, und zwar von Anfang an bis zur heutigen Zeit. Ich bekam ein Stipendium und einen Schreibtisch in einem der Büros, hatte jedoch keine fixe Anwesenheitspflicht und konnte daher auch zu Hause arbeiten­. Mit diesem Thema beschäftigte ich mich mehrere Monate, bis ich schließlich ein umfangreiches Manuskript in der Hand hatte, von einem wirklich guten Niveau, wie ich dachte. Voller Stolz übergab ich mein Werk dem stellvertretenden Direktor, der mich betreute und mit dem ich mich ausgezeichnet verstand. Und erst jetzt zeigte sich ein tragischer Mangel: Aus der Sicht des Instituts wies meine Arbeit einen Kardinalfehler auf. Sie enthielt keine Quellenverweise! Ich wusste damals noch nicht, dass bei Arbeiten dieser Art dies absolut unumgänglich ist, wobei selbst eine unumstrittene Tatsache mit einem Nachweis zu belegen ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Beruft man sich darauf, dass es bei einer Begebenheit geregnet hat, so ist in der Fußnote mindestens eine Zeitung mit entsprechendem Wetterbericht anzuführen. Mein Werk hätte vermutlich Hunderte von derartigen Hinweisen enthalten müssen. Der für meine Arbeit zuständige Vertreter des Bundesministeriums erbarmte sich meiner und sah ein, dass es ein beinahe übermenschliches Pensum an Arbeit erfordern würde, all diese Quellen im Nachhinein einzufügen. Das Manuskript, das ihm sonst gut gefiel, akzeptierte er mit dem Vorbehalt, dass es vom Forschungsinstitut nicht

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als institutseigene Arbeit publiziert werden konnte. Das tat mir natürlich leid, und so suchte ich nach anderen Wegen, um die Arbeit doch noch veröffentlichen zu können. Relativ bald fand sich ein Bonner Verlag, der gewillt war, das Buch herauszugeben, allerdings erweitert um eine Abhandlung über die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR. Diesen Teil steuerte ein Politologe bei, mein Freund Adolf Müller. Das Werk wurde dann oft und gerne als Quelle zitiert, bis dieses Thema von jungen deutschen Historikern neu aufgegriffen wurde.18 Zu jener Zeit war ich schon fleißig als Journalist tätig. Vilém Fuchs und ich waren die einzigen tschechischen Journalisten in Bonn. Bei dem damaligen Interesse an allem, was gerade in Prag passierte, gab es mehr Anfragen, als wir einzeln bewältigen konnten: Artikel, Kommentare und Vorträge. Deshalb trafen wir uns regelmäßig, um uns die Aufgaben aufzuteilen. Als man noch einigermaßen frei reisen durfte, besuchte uns in Bonn auch meine treue Sekretärin Věra Šlahounková. Nach einem Treffen mit dem Kollegen Fuchs, etwa zwei oder drei Tage später, kam sie ganz verstört zu mir und wollte wissen, was daran wahr wäre, was Fuchs über mich herumerzählt. Angeblich hätte ich viel Geld, von dem er gerne wüsste, woher es kommt. Wie ich unmittelbar darauf erfahren konnte, erzählte Fuchs die gleiche Lügengeschichte auch dem Redakteur des Süddeutschen Rundfunks Gerold Benz, der zu meinem Freundeskreis zählte. Ich konfrontierte Fuchs mit diesen Behauptungen, er leugnete alles und war beleidigt. Ich hielt es für meine Pflicht, einen Herausgeber auch für das Schwarze Buch zu finden, das ich so abenteuerlich über die Grenze geschmuggelt hatte. Dies gelang mir unerwartet schnell – nicht nur dass ich einen Verlag fand, ich wurde gleich mit der Übersetzung des Buches betraut und machte mich sofort mit enormem Elan an die Arbeit. Der Verlag war daran interessiert, das Buch so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen. Jahre später emigrierte einer der Autoren nach Deutschland, und der Verlag zahlte ihm umgehend seinen Honoraranteil aus. 18 Es handelt sich hier um die Publikation Deutschland und die Tschechoslowakei – Zwei Nachbarvölker auf dem Weg zur Verständigung von Adolf Müller und Bedrich Utitz, EurobuchVerlag, Freudenstadt 1972.

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Weihnachten in Adelebsen Irča und Pavel sollten am 23. Dezember endlich zu mir stoßen – und da schaltete sich wieder Gräfin Dönhoff ein. Sie rief mich zwei oder drei Tage vor Ankunft meiner Familie an. Sie habe davon gehört und es ihrer Freundin Gräfin von Metternich erzählt. Die Gräfin lade uns alle herzlich ein, die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage bei ihnen auf Schloss Adelebsen zu verbringen. Diese Nachricht überraschte mich. In meiner ersten Reaktion wollte ich diese Einladung dankend ablehnen, da wir nicht als Fremdkörper in eine Familienfeier reinplatzen wollten. Marion Dönhoff erklärte mir, dass meine Ablehnung die Metternichs zutiefst kränken würde. Das konnte ich wiederum nicht zulassen, also blieb mir nichts anderes übrig, als die Einladung anzunehmen. Pavels Reaktion war interessant. Nicht die Aussage an sich erfreute mich, sondern der Beweis für seine gute Bildung. „Dafür mussten wir emigrieren – von Breschnew zu Metternich!“ Sein historischer Vergleich hat mir in der Tat imponiert. Später, als wir uns bereits gut kannten, habe ich diese kleine Geschichte dem Grafen Metternich erzählt. Daraufhin versicherte er meinem Sohn, dass seine Stammbaumlinie mit dem gefürchteten Staatskanzler der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nichts Gemeinsames habe. Wir hatten keine Vorstellung davon, was uns in Adelebsen erwartete, und so deckten wir uns ein mit Proviant für das Festessen am Heiligen Abend. In der Früh machten wir uns auf den Weg und erreichten gegen Mittag das Schloss. Die aus dem 13. Jahrhundert stammende Burg liegt in Niedersachsen, in der Renaissance- und Barockzeit wurde sie zum Schloss umgebaut und erweitert. Als wir uns dem Tor näherten, kam uns eine hübsche junge Frau entgegen, die sich als Maria Cristina Metternich vorstellte. Sie hieß uns herzlich willkommen und brachte uns zu einem kleinen Einfamilienhaus in unmittelbarer Nähe des Schlosses. In der komplett eingerichteten Wohnung war schon alles vorbereitet. Einschließlich einer Schüssel mit Weihnachtsgebäck und einem herrlich geschmückten Weihnachtsbaum. Die Gräfin machte uns darauf aufmerksam, dass das Bäumchen nicht von den Bediensteten, sondern von ihren Kindern geschmückt wurde. Danach ließ sie uns alleine. Wir packten aus und bereiteten das Abendessen vor. Plötzlich klopfte es

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an der Tür und ein groß gewachsener, eleganter Herr trat ein, in jeder Hand trug er einen Eimer mit Koks. „Guten Abend“, sagte er, „ich bin Graf Metternich und bringe Ihnen Koks zum Heizen für die Nacht“. Am nächsten Tag lud uns die Gräfin ins Schloss zum Mittagessen im Familienkreis ein. Beim Abendessen war auch schon ein Diener zugegen – wir bedienten uns aus den Schüsseln, die er uns zu unserer Linken bereithielt. Die Metternichs hatten vier Kinder: drei Mädchen und einen Jungen. Nach und nach legten sich zu beiden Seiten die anfänglichen Hemmungen, und die Kinder verstanden sich ganz gut, obwohl Pavel noch kein Wort Deutsch sprach. Mit den Kindern konnte er sich aber doch irgendwie verständigen. Wir blieben auf Schloss Adelebsen bis Silvester. Die Silvesterfeier fand im Kreise der Familie statt. Auch die Mutter der Gräfin kam – sie selbst war allerdings nicht Gräfin, sondern Fürstin. Später war ich zu Gast auf ihrem eigenen Schloss, das eigentlich eine Wasserfestung ist. Das Schloss ist von einem tiefen Wassergraben umgeben, der untere Teil des Schlosses ist der Öffentlichkeit zugänglich. Ich weilte dort zu Besuch, wir tranken Kaffee, plötzlich ging der Alarm los. Ich schreckte zusammen, aber Fürstin Metternich meinte nur: „Das ist nichts! Mein Mann kommt gerade. Er nimmt immer eine Abkürzung durch das Museum und löst damit jedes Mal den Alarm aus.“ Wenige Minuten später erschien tatsächlich der Fürst selbst. Am Neujahrstag haben wir uns auf das Herzlichste verabschiedet und fuhren wieder nach Bonn. Gräfin Metternich spielte später eine unschätzbare Rolle sowohl bei der Gründung des Exilverlages Index als auch als wichtiges Bindeglied zwischen den Dissidenten in der Tschechoslowakei und im Ausland. Zur Zeit des „Prager Frühlings“ lernte sie in Deutschland meine Kollegin Irena Petřinová kennen und schloss sie gleich ins Herz. Sie fuhr regelmäßig nach Prag, um Irena zu besuchen – als Gräfin Metternich hatte sie keinerlei Probleme, ein Visum zu bekommen. Durch Irena Petřinová machte sie in Prag Bekanntschaft mit einer ganzen Reihe tschechischer Dissidenten, darunter vor allem mit Stanislav Budín, einem der ersten Unterzeichner der Charta 77, um den sich eine der Dissidentengruppierungen gebildet hatte. Dank dieser Kontakte war die

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Gräfin stets bestens informiert und stellte die Verbindung zu uns im Ausland her: In Prag sammelte sie sorgfältig Informationen, und kaum war sie wieder in Adelebsen, rief sie mich an und diktierte mir alles, was sie in Erfahrung bringen konnte. Ich fragte sie einmal, wie sie es schaffe, sich so viele Informationen samt Namen und Details zu merken. Sie sagte: „In Prag schreibe ich mir alles auf, dann lerne ich es auswendig, und zwar bis zum letzten Moment vor dem Rückflug. Danach vernichte ich meine Notizen. Sobald wir in der Luft sind, schreibe ich es wieder auf, zu Hause ergänze ich es noch und rufe Sie sofort an.“ So rief sie mich auch an, als der an TBC erkrankte Journalist Jiří Hochmann im Gefängnis saß und keine Medikamente bekam. Diese Meldung leitete ich telefonisch an die Presseagentur DPA weiter. Gleich am nächsten Tag erschien sie in mehreren Zeitungen. Zwei Tage später wurde Hochmann aus dem Gefängnis entlassen. In den Dissidentenkreisen war die Gräfin inzwischen bekannt, sie galt insgeheim als eine Protagonistin des Widerstands. Der Name Maria Cristina Metternich war einfach zu lang, von ihr als von der „Gräfin“ sprechen wollte man auch nicht unbedingt, also kreierte man auf die typisch tschechische Art aus den Initialen ihrer Vornamen, denen man eine weibliche Endung verpasste, den Namen Emcka (eMCka). Und dabei blieb es – bis heute. Im Jahr 1995, am Staatsfeiertag der Tschechischen Republik, bekam Gräfin Metternich von Präsident Václav Havel die Verdienstmedaille II. Grades verliehen. Durch die Gräfin Metternich blieb unser Schicksal weiterhin mit dem Adel verbunden. Doch keine der adeligen Damen, mit denen wir es später noch zu tun hatten, lebte mehr in einem Schloss. Die Gräfin zu Guttenberg war Maklerin, sie hatte ein eher schlichtes Büro. Sie verhalf uns zu einer schönen Dreizimmerwohnung und verzichtete dabei auf ihre Provision. Wir mussten auch nicht die übliche Kaution in Höhe von zwei Monatsmieten hinterlegen. Die nächste Dame war Frau von Feldheim, die in einer bescheidenen Wohnung lebte, allerdings direkt im Zentrum von Bonn. Sie empfing uns ausgesprochen herzlich. Als erste Wohnungseinrichtung stellte sie uns einige ihrer Möbel von ihrem Dachboden zur Verfügung.

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Die Baronin von Fürstenberg war Malerin. Von ihr bekamen wir keine Möbel, dafür aber regelmäßige Einladungen zu ihren „Salons“, wo sich Künstler und bekannte Persönlichkeiten trafen. Dort hatten wir ein interessantes Erlebnis. An einem dieser Abende stürzte sich eine Dame mittleren Alters auf uns, die ihre Freude über unser Kommen in tadellosem Tschechisch zum Ausdruck brachte. Sie sagte, dass sie schon das letzte Mal gehofft habe, uns hier zu treffen. Sie stellte sich als Barbara Coudenhove-Kalergi vor. Sie sei als Journalistin und Osteuropaexpertin tätig, unter anderem auch für den Österreichischen Rundfunk. Ihre Kindheit verbrachte sie in der Tschechoslowakei, bis die Familie 1945 vertrieben wurde. Sie erzählte mir, dass sie fast jedes Jahr nach Westböhmen fahre, zu dem ehemaligen Stammsitz ihrer Familie, wo sie immer bei ihren „Untertanen“ wohne – und nur dort fühle sie sich richtig zu Hause. Für mich begann nun der Alltag. Ich musste mir eine regelmäßige Beschäftigung suchen, auch wenn dies auf absehbare Zeit nur mit freiberuflicher Tätigkeit möglich war. Das Interesse an meiner Mitarbeit als Journalist war zwar groß, aber die Aussicht auf eine feste Anstellung nur minimal. Es half mir auch nicht, dass ich inzwischen mit etlichen prominenten Persönlichkeiten bekannt war.

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Meine Hörfunksendungen Immerhin hatte ich mittlerweile ausreichend Kontakte zu verschiedenen Hörfunkstationen, da jedes Bundesland seinen eigenen Sender unterhält. Ich schrieb Kommentare, verfasste Notizen, zeichnete Gespräche auf, aber vor allem machte ich sogenannte „Features“. Dieses Format bedient sich oft der Elemente des Hörspiels, mit denen man Wissenswertes, Dokumentation, Reportagen und Originalinterviews verbindet. Für mich als freier Journalist waren solche langen Sendungen eine solide Existenzgrundlage, weil sie auch gut honoriert wurden. Die Recherchen zum jeweiligen Thema waren oft mit vielen Reisen zu den jeweiligen Gesprächspartnern und Fachleuten verbunden. Ich reiste gerne, und dank der damaligen Wirtschaftslage des ausklingenden „Wirtschaftswunders“ übernahmen die Sender großzügig auch aufwendige Reisespesen. Nachstehend die Kurzfassung einiger Beiträge, die einen Querschnitt meiner Tätigkeit für den deutschen Rundfunk darstellen. Viele der Sendungen betrafen die Lage sowohl in der Tschechoslowakei als auch in den übrigen Ostblockländern. Schwerpunktmäßig handelte es sich meist um politische oder wirtschaftliche Themen. Meine Gesprächspartner waren tschechische, slowakische und deutsche Fachleute. Die folgenden Features halte ich insofern für interessant, da sie Themen außerhalb der damals üblichen Berichterstattung behandelten.

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Der Reichstagsbrand Im Jahr 1933 brannte das Reichstagsgebäude beinahe aus. Bis heute konnte nicht einwandfrei geklärt werden, ob der am Tatort festgenommene holländische Kommunist Marinus van der Lubbe für die Brandstiftung allein verantwortlich gewesen ist, oder ob die Nationalsozialisten selbst den Brand gelegt hatten, um einen Vorwand für die Massenverhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten zu haben. Ich sprach mit einigen Personen, die für diese Frage kompetent waren, sei es aufgrund ihrer Funktion oder ihrer Forschungen. An erster Stelle mit dem deutschen Juristen Robert M. W. Kempner, der bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson fungierte. Vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten arbeitete Kempner unter Hermann Göring im Preußischen Innenministerium, er wurde jedoch wegen „politischer Unzuverlässigkeit in Tateinheit mit fortgesetztem Judentum“ bereits aus dem Staatsdienst entlassen, noch bevor der Brand ausgebrochen war. In Begleitung einiger Journalisten traf er auf der Treppe des brennenden Reichstags zufällig auf Hermann Göring. Später verhörte er während der Nürnberger Prozesse die Hauptkriegsverbrecher im Gefängnis, darunter auch Göring. In Holland traf ich mich mit einem Schulkollegen van der Lubbes. Er kannte van der Lubbe sein Leben lang, kannte seinen Charakter, wusste von seinen Aktivitäten als radikaler Revolutionär und ebenfalls von einigen erfolglosen, aber auch gelungenen Brandstiftungen zu berichten. Darum war er nicht sonderlich überrascht, als er von der Täterschaft van der Lubbes hörte. Außerdem konnte ich mit einem Mitglied der Sonderkommission sprechen, die unmittelbar nach dem Brand das Gebäude besichtigte. Ich diskutierte darüber ebenfalls mit deutschen Historikern, die geteilter Meinung waren, ob van der Lubbe der alleinige Brandstifter war oder ob es sich um ein Werk der nazistischen Konspiration handelte. Wie es der Zufall wollte, gab es relativ kurz nach meiner Sendung eine Pressekonferenz zum Buch eines Historikers, der die These alleiniger Täterschaft van der Lubbes für durchaus möglich hielt. Die meisten

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Teilnehmer an dieser Konferenz sprachen sich dagegen aus und warfen dem Historiker vor, die Nazis zu verteidigen.

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Persönliche Korrespondenz Albert Einsteins Die Inspiration für eine andere interessante Sendung, die mich in die USA führte, bekam ich zufällig beim Besuch meines Freundes Alexander Zemánek in New York. Er nahm mich mit zu Professor Nathan, der sein Leben dem Nachlass des großartigen Einstein gewidmet hat. Ursprünglich wirkte Nathan als Professor der Volkswirtschaft in Berlin, und in dieser Zeit verfasste er einige Bücher, in denen er Nachweise erbrachte, dass Hitlers Wirtschaftspolitik unweigerlich zum Krieg führen müsse. Doch man schenkte seinen Büchern erst dann Aufmerksamkeit, als die Realität die Richtigkeit seiner Thesen bestätigte. Er emigrierte in die USA, wo er an der Princeton University Albert Einstein traf und von seiner Persönlichkeit derart überwältigt war, dass er seine eigene wissenschaftliche Laufbahn aufgab und fortan nur noch Einstein dienen wollte. Er und Einsteins Sekretärin wurden später von Einstein testamentarisch zu seinen Nachlassverwaltern bestimmt. Als ich Nathan kennenlernte, musste ich feststellen, dass er inzwischen ein starrköpfiger alter Mann war. Er war über 90 Jahre alt und prozessierte mit der amerikanischen Universität bezüglich der Veröffentlichungen aus Einsteins Nachlass – bloß weil ihm der Mann, der damit betraut werden sollte, nicht gefiel. Auch jeden weiteren Vorschlag lehnte er ab und zog die Verhandlungen in die Länge, sodass man den Nachlass erst nach seinem Tod sichten und studieren konnte. Als nach seinem Ableben Einsteins Nachlass an der Princeton University endlich zur Verfügung stand, griff der Westdeutsche Rundfunk meinen Vorschlag auf, eine Sendung über Einsteins Privatkorrespondenz zu machen. Daraufhin verbrachte ich 14 Tage in der Universitätsbibliothek, sichtete Einsteins Korrespondenz mit wissenschaftlichen wie politischen Größen dieser Welt, unter anderem mit Albert Schweitzer und mit der niederländischen Königin. Einstein war zweifelsohne ein genialer Wissenschaftler, aber als Mensch war er gefühlskalt, insbesondere seiner eigenen Familie gegenüber.

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Nationalitätenproblem in Westeuropa Üblicherweise befasste sich die europäische Publizistik mit Nationalitätenproblemen in den osteuropäischen Ländern, im Besonderen dann auf dem Balkan, wo solche Probleme oft zu Zwistigkeiten führten, die zu bewaffneten Konflikten eskalierten. Den Nationalitätenproblemen in Westeuropa wurde damals dagegen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Frage widmete ich mein nächstes Feature, in dem ich die Situation in Belgien, Spanien und Großbritannien untersuchte. Belgien ist seit dem 19. Jahrhundert von einer innerer Zerrissenheit geprägt, die als flämisch-wallonischer Konflikt bezeichnet wird. Die Lage hat sich seit meiner Sendung nicht verändert, tendenziell nehmen die Spannungen eher zu. Heute, im Jahr 2010, als ich diese Zeilen diktiere, wurde eben aus diesen Gründen eine Regierungskrise ausgelöst. Auch nach dem Beispiel einer friedlichen Trennung von Tschechien und Slowakei konnten die Belgier bisher keine vernünftige Lösung finden. Und so ist in Belgien das Nationalitätenproblem nach wie vor ungelöst. In Spanien konzentrierte ich mich auf die Spannungen zwischen den Spaniern und Katalanen sowie Spaniern und Basken. Darüber sprach ich in der Hauptstadt Madrid mit dem Ministerpräsidenten, dem ersten nach General Franco. Ich musste ihn allerdings immer wieder unterbrechen und dezent darauf hinweisen, dass mein Spanisch nicht gut genug sei, um seinem schnellen Redefluss und seiner etwas undeutlichen Aussprache folgen zu können. Seine Ansichten zur Lösung der Nationalitätenfragen schienen mir gemäßigt und durchaus vernünftig. Die Erfahrung späterer Jahre gab mir recht, auch wenn gegenwärtig diese Konflikte wieder aufbrechen. Die interessanteste Erfahrung machte ich in Bilbao, der Hauptstadt des Baskenlandes. Xabier Arzallus, der Vorsitzende der Baskisch-Nationalistischen Partei PNV, die sich von der aggressiven ETA abgrenzt, hatte in Berlin studiert, und sein Deutsch war perfekt. Er sprach sich gegen die Abspaltung des Baskenlandes von Spanien aus und plädierte für eine weitgehende Autonomie. Xabier Arzallus war ein sehr angenehmer und freundlicher Gesprächspartner. Sein Ziel konnte er schließlich erreichen und wurde zum ersten Ministerpräsidenten der Autonomen Region Baskenland innerhalb des Königreiches Spanien.

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Das nächste Land, das ich bei meiner Untersuchung der Nationalitätenspannungen unter die Lupe nahm, war Großbritannien. Schottland wollte damals mehr Macht des schottischen Parlaments durchsetzen, was auch mit der Forderung nach größerer Beteiligung am Erlös aus der Erdölgewinnung vor der Küste Schottlands zusammenhing. Auch hier wurden die Verhandlungen kultiviert abgewickelt. In dieser Sache sprach ich mit einem Abgeordneten, der mir von der nationalistischen Opposition empfohlen wurde. Seine Äußerungen waren logisch und vernünftig, die im Gespräch erwähnten Unterlagen bekam ich aber nicht. Als ich ihn bat, diese am nächsten Tag abholen zu dürfen, bekam ich zu hören, dass dies leider ausgeschlossen sei. Der nächste Tag war ein Samstag, und am Samstag arbeitete der Abgeordnete niemals – er ging in die Synagoge.

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Pfeifen und Tabak Eines Tages saß ich im Büro „meines“ Redakteurs beim Deutschlandfunk, dem ich die Themen meiner Sendungen vorzuschlagen pflegte. Sie wurden von ihm auch meist angenommen. Diesmal kam ich aber mit einer Idee, von der ich eigentlich gar nicht dachte, dass er sie akzeptieren würde. Ich meinte, ich hätte ein interessantes Thema, das ihm allerdings als Nichtraucher nicht unbedingt gefallen würde. Es handelte sich um eine Abhandlung darüber, was an Pfeifenrauchern so Besonderes ist. Er schaute mich kurz an, lächelte und sagte: „Dann machen Sie’s doch!“ Ich packte die Arbeit mit Elan an und stieß dabei auf die Erzählung eines Indianerhäuptlings über den Ursprung der Friedenspfeife: Eine Kuh war vom Himmel auf die Erde herabgestiegen, verwandelte sich in eine wunderschöne Jungfrau und übergab den Indianern eine Pfeife, die sie zum Zeichen des Friedens und der Freundschaft rauchen sollten. Tatsache ist, dass sich das Ritual des Pfeifenrauchens als Symbol für die Streitschlichtung schon jahrhundertelang hält, zum Teil sogar bis heute. Zu diesem Ritual gehörte auch der Brauch, dass ein Junge die Friedenspfeife das erste Mal anlässlich seines 14. Geburtstages rauchen durfte und von da an als erwachsen galt. Die Friedenspfeife, ursprünglich „die heilige Pfeife“ genannt, wurde beim Gebet und auch bei Friedens- und Verhandlungsabschlüssen, zur „Besiegelung“ von Freundschaften, Geschäften und Verträgen geraucht. Daher prägten die Siedler Amerikas den Begriff „Friedenspfeife“. Der Schwerpunkt meiner Sendung bildete jedoch nicht die historische Erforschung des Pfeifenrauchens, sondern diverse Gespräche über das Thema selbst, also die Bedeutung des Pfeifenrauchens in heutiger Zeit. Zu meinen Gesprächspartnern gehörte auch Sir Harold Wilson, der damalige britische Premierminister. In meinem Brief teilte ich ihm ausdrücklich mit, dass es bei dem beabsichtigten Gespräch keineswegs um Politik, sondern allein um das Pfeifenrauchen gehen sollte. Seine Zustimmung kam postwendend. Ich fuhr nach London und ging in das historische Parlamentsgebäude, wo ich von seinen vier Referenten und Sekretären im Vorzimmer verhalten beäugt wurde. Sie waren neugierig, wem der Premierminister seine kostbare Zeit schenken wollte – um lediglich über das Rauchen einer Pfeife zu sinnieren. Sir Harold, wie die

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korrekte Anrede lautete, empfing mich, und als ich ihn als „Pfeifenraucher des Jahres“ begrüßte, stellte er prompt richtig: „Ich bin nicht der Pfeifenraucher des Jahres, sondern des ganzen Jahrzehnts!“ Es war ein gutes, langes Gespräch, in dem Wilson unter anderem meinte, dass er ohne das Pfeifenrauchen nicht zum zweiten Mal zum Premierminister gewählt worden wäre: „Wenn man mir eine knifflige Frage stellt, geht gerade meine Pfeife aus. Da muss ich sie selbstverständlich nachstopfen und die Glut neu entfachen – und damit gewinne ich genug Zeit, um mir eine gescheite Antwort zu überlegen.“ Danach redete er über seinen Freund, den deutschen Kanzler Helmut Schmidt, den Zigarettenraucher, der gerade sein Amt verlor. Wir plauderten ausgiebig über das Pfeifenrauchen, aber über Politik haben wir kein einziges Wort verloren. Ein prominentes Mitglied dieser Rauchergilde war auch Ernst Benda, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Er war einer der einflussreichsten Männer in der Bundesrepublik. Auch mit ihm habe ich ein Gespräch ausschließlich über das Pfeifenrauchen geführt. Er gab sich zwar weniger euphorisch als der britische Premierminister, mein Thema „Bedeutung des Pfeifenrauchens“ sagte ihm aber zu. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das Rauchen einer Pfeife Besonnenheit und Ausgeglichenheit mit sich bringt, oder aber ob erst ein besonnener und ausgeglichener Mensch zum Pfeifenraucher werden kann. Dass das eine zu dem anderen gehört, bleibt jedoch unbestritten. Dem stimmte auch Richter Benda zu. In London interviewte ich auch Richard Dunhill, den Hersteller der berühmtesten Pfeifen, in Zürich den Zigarrenkönig Davidoff. Zu Wort kamen in meiner Sendung auch ein Schweizer Professor der Kriminologie, ein Mitglied der Berliner Philharmonie und viele andere. Interessant dabei war, dass gerade diese unpolitische Sendung, die ich für den Deutschlandfunk machte, auch weitere Sendeanstalten übernommen haben und ich anschließend vom internationalen Verband der Pfeifenraucher (Internationales Tabak Kollegium) in Miltenberg eingeladen wurde.

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Zeugen der Revolution Streng genommen gehört dieses Thema nicht hierher, da es sich nicht um ein eigenständiges Feature gehandelt hat. Angedacht war eine Serie von Gesprächen, die ursprünglich für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) als eine Reihe eigenständiger Features konzipiert wurde. Knapp vor Fertigstellung dieser Serie, die vorerst noch im Archiv des Senders lagerte, starb der zuständige Redakteur. Der Nachfolger wollte sein Programm nicht mit Sendungen seines Vorgängers, die sich praktisch über das ganze Jahr ziehen würden, „besetzt“ wissen, und so blieben die aufgezeichneten Gespräche weiterhin im Archiv. Erst wesentlich später kam mir der Gedanke, dass diese zwölf Gespräche in ihren Zusammenhängen eine komplexe Aussage bilden und es sich daher lohnen würde, sie in Buchform zu veröffentlichen. Wie bei etlichen meiner Themen, auch hier weiß ich nicht mehr, wie ich überhaupt auf die Idee kam, nach bekannten Altkommunisten zu suchen, nach denjenigen, die früher oder später von dieser Ideologie abgekommen sind. Viel später, als diese Gespräche längst aufgezeichnet waren, kam mir in den Sinn, dass diese unterschiedlichen Lebenswege, Erfahrungen und Auslösemomente, all diese Schicksale und Gedankengänge, dennoch in einem Zusammenhang stehen – wie verschieden sie auch gewesen sein mögen. Deshalb bin ich überzeugt, dass das Buch nicht nur aktuell, sondern sehr interessant ist, und zwar sowohl für die alte wie vor allem für die junge Generation, die den Kommunismus nicht mehr erlebte, weder aktiv noch passiv. Das Buch erschien in deutscher Sprache im Kölner Bund-Verlag, später dann tschechisch im Exilverlag Index und nach der Wende ebenfalls tschechisch im Prager Verlag Orbis. Einige Wochen lang rangierte es in Prag sogar unter den fünf meistverkauften Buchtiteln. Erst wesentlich später, nach Durchsicht der einzelnen Kapitel, kam ich zur Ansicht, dass dieses Buch auch in meinem Lebenslauf erwähnenswert ist. Erst jetzt konnte ich nämlich richtig erkennen, wie bedeutsam dieses Werk ist, nicht zuletzt auch für die Bewertung mancher Phasen meines eigenen Lebens. Und nicht nur meines Lebens. Zugang zu den betreffenden Personen zu finden war nicht immer einfach. Ich musste oft erst einen langwierigen Schriftverkehr führen,

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Überzeugungsarbeit leisten, und manchmal war ich dabei auf die Hilfe Dritter angewiesen. Wenn ich jetzt darauf näher eingehe und diverse Motive und verschiedene Zeiträume analysiere, in denen es zum Umbruch kam oder zumindest Zweifel an der kommunistischen Wahrheit aufkamen, führt es mich zum Nachdenken über die Wandlung meiner eigenen Denkweisen und Werte. Damit ist dieses Sonderkapitel in diesem Buch durchaus gerechtfertigt. Eine besondere Gruppe bildeten die alten russischen Exilanten: jene Menschen, die während oder nach der Russischen Revolution 1917 aus Russland geflohen sind und sich vor allem in Paris niedergelassen haben. Und da musste ich feststellen, dass diese Menschen noch immer über alle Maßen verängstigt waren, Angst vor gezielten Provokationen hatten, aber noch mehr fürchteten sie sich vor tätlichen Angriffen und Entführung. Sie ließen niemanden an sich heran. Ohne Hilfe meines Landsmannes Pavel Tigrid hätte ich nicht die geringste Chance gehabt, auch nur einen von ihnen als Interviewpartner zu gewinnen. Dieser bedeutende tschechische Schriftsteller und Publizist lebte bereits seit Jahren in Paris, verkehrte unter anderem auch in den russischen Exilkreisen und genoss ihr Vertrauen. Auf seine Empfehlung hin erklärten sich einige von ihnen mit einem Interview einverstanden. Ich fange mit einem Gespräch an, das bisher nirgends veröffentlicht wurde, auch in meinem Buch nicht. Ich war hell begeistert, als ich erfuhr, dass der mittlerweile 90-jährige Stolypin, Sohn des russischen Innenministers und späteren Premierministers des zaristischen Russlands, gesprächsbereit war. Pjotr Arkadjewitsch Stolypins Laufbahn als Staatsmann war von tief greifenden Reformen gezeichnet, aber auch von brutalen Repressalien gegen alle, die sich ihm in den Weg stellten. Sein grausames Vorgehen gegen seine Gegner in allen politischen Lagern, insbesondere gegen die linksradikalen Kräfte im Lande, unterschied sich kaum von der nachfolgenden Blutherrschaft der Bolschewiken. Seine Reformen schwächten allerdings erheblich den Einfluss der Bolschewiken gerade in den unteren Gesellschaftsschichten. Im Gegenzug prägten die Bolschewiken unter Lenins und Stalins Führung die Parole „Stolypinscher Reaktionismus“. Es ist nun fraglich, was den Bolschewiken mehr zu schaffen machte: Stolypins Wüten als Innenminister oder seine Reformen, durch die ihre Einflussnahme auf das Proletariat in

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Stadt und Land zusehends schwand. Mit seiner progressiven Modernisierungspolitik nahm Stolypin praktisch den Wind aus den Segeln der Bolschewiken, deren Parteiprogramm gerade von der Unzufriedenheit der Industrie- und Landarbeiter profitieren wollte. Im Jahr 1911 fiel er einem Attentat der Linken zu Opfer. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde sein Sohn Pjotr Stolypin verhaftet und verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. Jetzt in Paris war er bereit, mit mir zu sprechen. Wir saßen in dem kleinen Raum nicht alleine: Drei oder vier Männer ungefähr seines Alters versammelten sich um ihn, sie selbst sagten kein Wort und beschränkten sich darauf, Stolypins Worte mit zustimmendem Nicken zu bestätigen. Diese stummen Gestalten, die mir da gegenüber saßen, der halbfinstere Raum – das hatte etwas Gespenstisches an sich. Naturgemäß war zu erwarten, dass sich Stolypin zu allem, was die Bolschewikenrevolution und das kommunistische Regime betraf, überaus kritisch äußern würde, mitunter auch mit einem durchaus verständlichen Quantum Hass. Mir war von Anfang an klar, dass von einem Menschen, der von den Bolschewiken jahrelang eingekerkert wurde, weder Objektivität noch Unbefangenheit zu erwarten sei. Was aber tatsächlich folgte, waren nur wütende Hasstiraden und wüste Schimpfkanonaden. Unterbrechen ließ er sich nicht, ein Gespräch zu führen war gar nicht möglich – obwohl ich mich redlich darum bemühte, ihm mein größtes Verständnis zu zeigen. Auf eine normale Diskussion wollte er sich nicht einlassen. Angesichts des Schicksals seiner Familie, seiner persönlichen Erlebnisse und seines Alters fand ich zwar seinen grenzenlosen Hass durchaus verständlich, doch eine etwaige Veröffentlichung seines zornigen Monologs hätte ihm eher geschadet. Es war ganz sicher nicht meine Absicht, die Interessen des kommunistischen Regimes zu verteidigen, aber Stolypins Äußerungen in dieser Art und Weise würden sich nur gegen ihn selbst wenden. Das wollte ich vermeiden. Ich verabschiedete mich mit einigen Worten großen Bedauerns und ging. Das Gespräch habe ich nicht veröffentlicht. Mein nächster Interviewpartner sollte ein alter russischer Emigrant sein, der sich keineswegs versteckt hielt. Ganz im Gegenteil: Er war politisch aktiv und hochgeschätzt, und diesen Eindruck machte er auch. Seinen Namen habe ich leider vergessen. Er wollte sehr wohl mit mir

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reden, in einem Schriftwechsel konnten wir schließlich einen passenden Termin vereinbaren, leider starb er kurz bevor ich ihn in Paris aufsuchen konnte. Am Ende blieb von den Emigranten, die ich um ein Gespräch gebeten hatte, nur noch Boris Baschanow übrig, Stalins ehemaliger Sekretär. Seine damalige Funktion versprach ein interessantes Interview. Doch ich wurde herb enttäuscht. Er schilderte mir nur seine abenteuerliche Flucht über Persien bis nach Paris, über seine Tätigkeit als Stalins Sekretär sagte er aber kaum etwas Brauchbares. Nachdem er die Auswüchse des Stalinkommunismus miterleben musste, war er aus schierer Angst vor Stalin aus Russland geflüchtet. Wäre Stalins Willkürherrschaft nicht schon hinlänglich bekannt, würden seine Aussagen wie üble Nachrede klingen. Nach einer Ideologie suchte er nicht und er sah auch keine, ihm ging es alleine darum, sein eigenes Leben zu retten – was man ihm natürlich nicht vorwerfen kann. Der Besuch bei Baschanow war seltsam. Er wohnte im Durchgang eines alten Hauses, in einem kleinen Seitenzimmer, rechts ein großes Regal mit Gegenständen, die an einen Trödlerladen erinnerten, eine Stufe höher ein länglicher Raum mit Tisch, zwei Stühlen, einem Polstersessel und einem Bett mit einer riesigen Bettdecke, und das war’s auch. Baschanow wollte mit mir nur französisch sprechen, eine Unterredung in Russisch lehnte er vehement ab. Als sich meine Dolmetscherin in den Sessel setzen wollte, hielt er sie davon ab: Sie könnte sich an der kaputten Federung verletzen. Es ist mir schleierhaft, wie und wovon der Mann überhaupt lebte, eine armseligere Bleibe habe ich wahrscheinlich noch nie gesehen. Der aus Galizien stammende österreichisch-französische Schriftsteller, Sozialpsychologe und Denker Manès Sperber verkörpert den intellektuellen und – wenn man es so sagen kann – den ideologischen Höhepunkt meines Buches. Auch er erkannte die Monstrosität des Systems, die menschenverachtende und zerstörende Politik. Allerdings hat sich Sperber in das System vertieft und untersuchte eingehend seine Ideologie, die bereits Elemente der späteren Praxis in sich barg. Dabei wurde er nicht zum blinden Kommunismus-Hasser, sondern zu seinem nüchtern-intellektuellen Interpreten. Sperber analysiert außerdem die Beweggründe jener, die sich von diesem System wesentlich länger blenden ließen als er selbst. So gut wie kaum ein anderer erläutert Sperber

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den geradezu religiösen Charakter der kommunistischen Ideologie: ein strenges Dogma sowie die Schwierigkeit, sich aus dieser Geiselhaft zu befreien. Sperbers Analyse erklärt gewissermaßen auch das Weiterbestehen der kommunistischen Parteien – sogar nachdem die Bestialität des Systems bereits allgemein bekannt und der Machtapparat zusammengebrochen war. Ein interessanter Gegensatz zu Sperber war der jugoslawische Kommunist österreichischer Herkunft Karlo Stajner (geboren in Wien als Karl Steiner). Der kommunistischen Bewegung schloss er sich schon als junger Mann an. Durch seine revolutionären Aktivitäten geriet er immer wieder in Konflikt mit der Polizei, und so befand er sich ständig auf der Flucht. Schließlich gelangte er nach Moskau, wo er seine Ideale zu verwirklichen glaubte. Doch Stalins Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) konnte er nicht mehr entkommen und landete für sieben Jahre im Gulag. Nach der Versöhnung zwischen Chruschtschow und Tito wurde Stajner rehabilitiert und kehrte mithilfe der jugoslawischen Botschaft in Moskau nach Jugoslawien zurück. Bis an sein Lebensende hielt er dann Tito und Chruschtschow für Apostel des wahren und gerechten Kommunismus. Zwei Persönlichkeiten, die man in einem einzigen Absatz zusammenfassen muss, sind der spanische Revolutionär und Schriftsteller Julián Gorkin, der sich vom Anhänger des Sowjetkommunismus zu dessen Gegner wandelte, und der italienische Politiker und überzeugte Stalinist Vittorio Vidali. Die beiden kämpften 1936 im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco, Gorkin als Vizevorsitzender und späterer Vorsitzender der nichtkommunistischen sozialistischen Bewegung POUM. Nach Zerschlagung des Parteibüros wurde der Parteivorsitzende Andreu Nin unter Vidalis Beteiligung vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt, gefoltert und ermordet – dies alles geschah während des Kampfes um die Rettung der spanischen Republik vor Francos Faschismus. Vidali und weitere Sowjetfunktionäre waren nicht nur für die Hinrichtung von Andreu Nin verantwortlich, sondern auch für den Tod vieler Republikaner, die der Ideologie der Sowjetkommunisten im Wege standen. Sie alle starben nicht im Kampf gegen Francos Faschismus, sondern durch sowjetische Hinrichtungskommandos. Gorkin wurde Vorsitzender der POUM, seine Bestrebungen, Vidali und die Sowjets zur Verantwortung

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zu ziehen, schlugen fehl. Bei unserem Gespräch nannte mir Gorkin eine Reihe von Zeugen, die seine Behauptungen bestätigen könnten, durch die Bank Personen, die damals noch am Leben waren. Auch Senator Vidali zeigte sich gesprächsbereit – man sah ihm zwar sein fortgeschrittenes Alter an, beim Interview war er jedoch sehr schlagfertig. Man legte mir nahe, dass ich ihn nicht aufregen dürfe, und sobald er ärgerlich werde, müsse ich das Gespräch sofort abbrechen. Nicht aber beenden. In der Tat musste die Diskussion zweimal unterbrochen werden. Wie zu erwarten war, wies Vidali jegliche Schuld von sich und führte ebenfalls eine Reihe von Zeugen an, die Gorkins Anschuldigungen widerlegen würden. Doch schließlich musste er zugeben, dass Gorkins Zeugen großenteils noch lebten, indes alle von ihm erwähnten Personen bereits tot waren. Wie schon angenommen, endete das Gespräch ohne Fazit. Bis zu seinem Tod blieb Vidali ein Kommunist aus tiefster Überzeugung. Ein interessanter „Fall“ war Leopold Grünwald: ein sudetendeutscher Kommunist und Freidenker jüdischer Herkunft, Mitbegründer der tschechischen und später auch der österreichischen Kommunistischen Partei. Vom Kommunismus wandte er sich erst nach der Invasion des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ab. Bis dahin glaubte er fest an die Richtigkeit der kommunistischen Ideologie – und dies, obwohl er die Wahrheit über die Prozesse der Stalinära (darunter auch den Schauprozess gegen Slánský und seine Genossen in der Tschechoslowakei) kennen musste. Zumindest musste er aber von Chruschtschows Enthüllungen des Personenkultes gewusst haben. Auch die Publikationen über den Gulag dürften ihm nicht unbekannt gewesen sein. Trotz alledem war er überzeugt, dass die Ideologie des Kommunismus die einzig wahre sei. Erst die russischen Panzer auf den Straßen Prags konnten ihn von seinem Irrtum überzeugen. Margarete Buber-Neumann, die deutsche Kommunistin und politische Publizistin, war in zweiter Ehe mit dem Journalisten und Politbüromitglied der deutschen KP Heinz Neumann verheiratet, und zusammen mit ihm war sie nach Moskau emigriert. Dort wohnten die beiden in dem berühmt-berüchtigten Hotel Lux, aus dem so mancher kommunistische Emigrant für immer verschwunden war. So wurde eines Morgens auch Heinz Neumann abgeholt. Seine Frau sah ihn nie wieder,

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die Gründe für seine Hinrichtung erfuhr sie nie. Sie selbst wurde verhaftet und zu sechs Jahren Straflager verurteilt. Nach Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Stalin und Hitler wurde sie zusammen mit anderen deutschen Kommunisten, die in sowjetischen Straflagern interniert waren, nach Deutschland ausgeliefert, sodass BuberNeumann von einem kommunistischen KZ (in Russland) in das andere (im Nazideutschland) wanderte. Von der kommunistischen Ideologie sagte sie sich los, schon lange vor ihrer ersten Gefangennahme. Doch dafür wurde sie nicht verhaftet: „Es war nur eine innerliche Trennung, mit der ich mich niemandem anvertraut habe“, wie sie später schrieb. Heinz Neumanns Ehefrau zu sein, reichte schon für die Verbannung aus. Margarete Buber-Neumann überlebte die beiden KZ, das russische wie das deutsche. Nach dem Krieg arbeitete sie als Publizistin. Die deutschen Linken warfen ihr eine antikommunistische Haltung vor! Das Gespräch mit Frau Buber-Neumann fand ich persönlich noch aus einem anderen Grund sehr interessant: Im KZ Ravensbrück lernte sie die tschechische Journalistin und enge Freundin von Franz Kafka, Milena Jesenská, kennen und blieb bei ihr bis zu ihrem Tod. Von Milena Jesenská war ich schon immer fasziniert, und deshalb war ich froh, mit einer Zeitzeugin zu sprechen, die sie persönlich gekannt hatte. Die Betrachtung dieser Persönlichkeiten mit all ihren Schicksalen und Denkweisen ist zweifelsohne von besonderer Bedeutung für die Generationen, die den Kommunismus noch erlebten und erst recht für jene, denen solche Erfahrungen – sei es am eigenen Leib oder aus Erzählungen – bereits völlig fremd sind. Sie sollten diese Gedankenfallen und deren Gefährlichkeit unbedingt kennen.

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Übersetzungen Zu einem weiteren Beruf neben meiner Tätigkeit als Journalist kam ich durch reinen Zufall: Ich wurde Übersetzer. Im Auftrag des Spiegels übersetzte ich das Feuilleton „Verhör bei einer Schale Kaffee“ des tschechischen Schriftstellers Ludvík Vaculík. Meine Übersetzung fand offensichtlich Gefallen, das Feuilleton erfreute sich auch in Deutschland großer Beachtung, und so wurde ich nach und nach mit weiteren Übersetzungen der tschechischen Literatur in die deutsche Sprache beauftragt. Das erste wichtige Buch, das man mir anvertraute, waren die Memoiren von Eduard Goldstücker. Der tschechische Literaturhistoriker und Publizist war in Deutschland wie in Tschechien gleichermaßen bekannt. Deshalb war die deutsche Ausgabe seiner Erinnerungen von Bedeutung. Und es lief so ab: Goldstücker, der zwar fließend deutsch sprach, zog jedoch vor, seine Autobiografie in tschechischer Sprache zu verfassen, und diktierte seine Erinnerungen dem Schriftsteller Jiří Gruša. Dieser schrieb alles auf und schickte jedes in sich abgeschlossene Kapitel mir, dem Verlag und natürlich auch dem Autor. Ich wiederum schickte meine fertigen Übersetzungen des tschechischen Originals dem Autor, Gruša und dem Verlag, wobei ich Goldstücker ausdrücklich darum bat, mir seine Anmerkungen und eventuelle Änderungswünsche möglichst postwendend mitzuteilen. Wochenlang passierte gar nichts, bis plötzlich ein riesiges Paket mit meinen gesammelten Übersetzungen zurückkam, ergänzt durch eine Menge handschriftlicher Notizen. Zum einen war Goldstückers Handschrift nur äußerst schwer entzifferbar, und zweitens, was die Sache nur noch komplizierter machte, bezogen sich so gut wie alle Änderungswünsche auf seinen eigenen Text, nicht aber auf die Übersetzung. Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, kam der Autor aus Prag zu Gruša nach Deutschland, und zu dritt haben wir dann die ganzen Anmerkungen durchgearbeitet. Wir legten Goldstücker nahe, seine künftigen Änderungswünsche auf meine Übersetzungen zu beschränken, uns diese in kürzeren Intervallen zu liefern, allerdings nicht in seiner kaum leserlichen Handschrift. Er sah unser Anliegen ein, und wir trennten uns in aller Freundschaft. Seit diesem Moment, bis zur Fertigstellung der Übersetzung, habe ich von ihm keine einzige Notiz mehr erhalten. Selbstverständlich bekam er

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weiterhin laufend Grušas Niederschriften sowie meine Übersetzungen. Endlich war die deutsche Fassung fertig, und der Verlag schickte jetzt nach und nach die Korrekturen. Der Verleger ging davon aus, dass es sich hier um eine wichtige Publikation handelte, die äußerst sorgfältig zu behandeln sei, und schickte zu mir nach Köln seinen Lektor, einen Germanisten, der mit mir Seite für Seite bearbeitete. Wir legten jedes Wort auf die Waagschale, und ich kann mich damit brüsten, dass es nicht allzu viel zu ändern gab. Mitten in der Arbeit wurden wir vom Verlag plötzlich aufgefordert, die Arbeit abzubrechen und die „Korrektur“ zurückzugeben – weil der Autor den Text nicht genehmigen wollte. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Daraufhin bekam Jiří Gruša einen Herzanfall. In weiterer Folge schrieb Goldstücker sein Buch weitgehend um und schickte die neue Fassung dem Verleger zu, diesmal in deutscher Sprache. Als Übersetzer wurde ich nun vom Verlag gebeten, die Textkorrekturen vorzunehmen. Dies lehnte ich resolut ab und verbat mir, im Buch als Übersetzer angeführt zu werden. Doch der Verleger bedrängte mich mit dem Argument, dass die Herausgabe des Buches durch meine Zurückweisung scheitern würde. Ich gab nach, habe den Text doch noch korrigiert, und das Buch wurde in dieser überarbeiteten Fassung gedruckt. Goldstücker hat über seine negative Entscheidung weder mit Jiří Gruša noch mit mir je gesprochen. Den Kontakt zu ihm haben wir für einige Jahre unterbrochen und trafen ihn erst an seinem 80. Geburtstag wieder. Gruša war bereits Botschafter in Bonn und lud zu Goldstückers Ehren zu einem Abendessen ein. Unsere gegenseitige Beziehung pendelte sich als „freundlich zurückhaltend“ ein. Über das Buch sprachen wir nie wieder. Das Thema des nächsten Buches war die Entführung der tschechoslowakischen Führung (Regierungs- und Politbüromitglieder) nach Moskau unmittelbar nach Beginn der Invasion. Der Autor Zdeněk Mlynář war zu jener Zeit einer der Sekretäre des ZK der KSČ und wurde nachträglich nach Moskau abkommandiert, um den Sowjetmachthabern einen Bericht über die Situation im Lande zu erstatten. Seine Erlebnisse hat er in diesem Buch verarbeitet, das ich übersetzen sollte. Das Werk war unter dem Titel Nachtfrost im Bund-Verlag erschienen. Obwohl in ziemlicher Eile verfasst, war das Buch sehr gut und ver-

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ständlich geschrieben, verband die trockenen Fakten einer Politreportage mit den Elementen des Kriminalromans und ließ sich ausgezeichnet übersetzen. Nur an einigen Stellen hatte ich gewisse Vorbehalte, selbst wenn ich als Übersetzer dazu gar nicht befugt war. Noch dazu folgten nach einem sehr spannenden und packend erzählten „Politthriller“ typisch langatmige politische Überlegungen mit einer politischen Analyse des vorherigen Textes. Ich suchte Tomáš Kosta auf, den Geschäftsführer des Bund-Verlages, und sagte ihm, dass mir zwar als Übersetzer das Kommentieren des Textes nicht zustehe, trotzdem würde ich ihm gerne einige meiner Einwände unterbreiten. Tomás Kosta hörte mir zu und fragte dann, ob ich zwei oder drei Tage Zeit hätte, um nach Wien zu fahren und es mit Mlynář persönlich zu besprechen. Zdeněk Mlynář, ein überaus selbstbewusster Autor, hörte sich meine Bedenken an, insbesondere meinen Einwand, dass ein sehr umfangreiches analytisches Nachwort den Eindruck eines ansonsten außerordentlich fesselnden und spannenden Buches praktisch totschlagen würde. „Würde dir Kosta noch einen oder zwei zusätzliche Tage in Wien bezahlen?“, fragte er anschließend. Ich antwortete, dass ich davon ausgehe. „Na gut, dann amüsiere dich in Wien ein bisschen, und ich schaue mir das inzwischen an.“ Zwei Tage später waren alle meine Einwände akzeptiert, bzw. der Text entsprechend abgeändert, die komplette Zusammenfassung flog raus und wurde durch ein kurzes Nachwort ersetzt. Solche Reaktion war nicht gerade üblich, und das machte mich stolz. Das Buch hatte großen Erfolg und erschien in mehreren Auflagen. Eigenartig gestaltete sich dagegen die Übersetzung des Buches Mein Polen aus der Feder meines Kollegen und Freundes Jiří Lederer. Dank seiner polnischen Gattin hegte er für dieses Land eine besondere Vorliebe. Der Verlag nahm das Buch an und betraute mich mit der Übersetzung. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, rief ich den Autor an: „Jiří, ich habe noch nie erlebt, dass jemand sich seiner Arbeit dermaßen schlampig entledigt! Der Inhalt ist zwar interessant, aber die Ausarbeitung ist unter aller Kritik.“ Er lachte nur und meinte: „Weiß ich doch, deshalb ist es auch bei dir gelandet, und jetzt mach, was du kannst. Du wirst mich doch nicht im Stich lassen!“ So blieb mir nichts anderes üb-

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rig, als sein Buch praktisch umzuschreiben, damit das Interessante und Packende nicht untergeht. Das Buch wurde verlegt, die tschechische Version erschien im Exilverlag Index. Der deutsche Historiker und Publizist Wolfgang Leonhard und seine Gattin Elke, eine Bundestagabgeordnete, gründeten einen Verein der Übersetzer von Sprachen jener Länder, in denen Autoren mit Publikationsverbot belegt wurden. Der Verein gab die Buchreihe „Europäische Zeitzeugen“ heraus. Als Vertreter für die Tschechoslowakei übersetzte ich „Begegnungen und Zusammenstöße“ des tschechischen Außenministers Jiří Hájek und das Manuskript des Pädagogen und Bürgerrechtlers Vladimír Kadlec Steinigen Sie nicht die Volkswirte. Das Letztere ging allerdings nicht mehr in Druck, das Thema wurde durch die „Samtene Revolution“ hinfällig. Die nachfolgende politische Entwicklung hat die Arbeit an weiteren geplanten Buchtiteln beendet, die Buchreihe wurde eingestellt und der Verein aufgelöst.

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Wieder in Bonn und Köln Mittlerweile war ich mit Arbeit für den Hörfunk komplett beschäftigt, und auch Irča sah sich nach einer Beschäftigung um. Ein Bekannter konnte ihr einen Apothekerjob in einer Kleinstadt bei Bonn vermitteln. Irča hatte zwar einen Führerschein, doch das Autofahren war nicht gerade ihr Ding. Noch dazu musste man unterwegs den Rhein überqueren, also: mit dem kleinen Fiat auf eine Fähre rauf und am anderen Ufer wieder runter. In den ersten Tagen fuhr ich mit ihr noch hin, danach schaffte sie es schon alleine, wenn auch äußerst ungern. Zum Glück dauerte diese „Qual“ nicht allzu lange: Dank unseren adeligen Bekannten bekam sie bald einen Job in der Krankenhausapotheke an der Uniklinik Köln. Sie hatte jetzt praktisch den gleichen Posten, den sie in Prag verlassen musste. Trotz anfänglicher Sprachschwierigkeiten konnte sie sich schnell einarbeiten, wozu nicht zuletzt auch ihre neuen Kolleginnen und Kollegen durch ihre freundliche Unterstützung beigetragen haben. Auch hier war Irča auf den Wagen angewiesen, zwar musste sie nicht mehr mit einer Fähre über den Rhein, aber doch gut 30 km von Bonn nach Köln über die Autobahn fahren. Damals hatten wir zwei Autos, ich einen Skoda MB (noch im Tuzex gekauft), und Irča fuhr ihren kleinen Fiat. Eines Tages wollte Irča auf dem Rückweg von Köln nach Bonn noch unsere Freunde, die Müllers, besuchen. Dazu musste sie von der Hauptstraße nach links abbiegen, und dabei hat sie das entgegenkommende Fahrzeug übersehen. Die Folge war ein ziemlich schlimmer Unfall. Für mich war es ein gehöriger Schock, als mich die Polizei anrief, um mich zu informieren, dass meine Frau nach einem Autounfall im Krankenhaus lag. Ich ließ alles liegen und stehen und fuhr zum Krankenhaus. Glücklicherweise war die Verletzung nicht gar so schlimm, wie ich befürchtet hatte, selbst wenn ein gebrochenes Handgelenk und eine Platzwunde auf der Stirn nicht gerade harmlos sind. Leider dürfte der dortige Orthopäde nicht unbedingt ein Meister seines Faches gewesen sein. Irčas Handgelenk war seither schief, aber immerhin konnte sie die Hand normal bewegen. Ich nahm ihren Führerschein und fuhr zur Polizei, um die Angelegenheit zu regeln. Damals war man den Emigranten gegenüber be-

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sonders nachsichtig, und als die Polizisten hörten, dass Irča noch im Krankenhaus lag, waren sie damit einverstanden, dass ich an ihrer Stelle alles erledige. Das Unfallprotokoll wurde aufgenommen, die Schuld lag eindeutig bei Irča, trotzdem hatte sie keine Konsequenzen zu tragen. Nebenbei stellte sich auch noch heraus, dass Irčas tschechischer Führerschein eigentlich nicht mehr gültig war. Sie hätte nämlich den Ausweis binnen eines Jahres gegen einen deutschen Führerschein austauschen müssen – und die Jahresfrist war inzwischen abgelaufen. „Lassen wir’s gut sein“, lautete der Kommentar. Und damit war die Angelegenheit erledigt, weder eine Gerichtsverhandlung noch eine Geldstrafe folgten. Der Fiat war zwar schrottreif, aber Irča meinte: „Das Auto hatte ja keine Seele.“ (Da war ich mir nicht so sicher.) Hauptsache, Irča war wieder in Ordnung. Zu meinem Bekanntenkreis zählte auch Christian Schmidt-Häuer. Ich lernte ihn noch als akkreditierten Auslandskorrespondenten in Prag kennen. Jetzt wohnte er in einem hübschen Einfamilienhaus in Köln, wo wir ihn öfter besuchten. Eines Tages saßen wir wieder mal bei ihm, diesmal in einer größeren Gesellschaft. Beim Abschied flüsterte er mir zu: „Ich will es noch nicht herumposaunen, aber Ihnen kann ich es schon verraten: Ich gehe als Korrespondent nach Wien.“ Ich beglückwünschte ihn, und wir gingen. Auf dem Heimweg auf der Autobahn stutzte ich plötzlich, trat auf die Bremse – nur moderat – und sagte zu Irča: „Wenn er nach Wien geht, dann wird doch sein Häuschen frei!“ Gleich am nächsten Morgen rief ich ihn an und erfuhr, dass das kleine Haus von ihm nur gemietet wurde. Der Hauseigentümer selbst lebte nicht in Köln, sein Verwalter vor Ort kümmerte sich um alles. Ich bekniete Schmidt-Häuer, er möge uns als seine Nachfolger vorschlagen. „Die Entscheidung liegt beim Verwalter“, meinte er, „und der ist Arbeiter und Handwerker, sein Sohn geht ins Gymnasium, was hierzulande eher eine Ausnahme ist. Der Junge lernt gut, Probleme hat er nur mit Englisch, meine Frau gibt ihm Nachhilfeunterricht“, fügte er noch hinzu. „Ja, dann sagen Sie bitte diesem Verwalter, dass ich ein Diplom von der Universität Cambridge habe, das mich dazu befähigt, die englische Sprache zu unterrichten. Ich kann seinem Sohn so viele Unterrichtstunden geben, wie er brauchen wird.“ Wir bekamen den Zuschlag, und der Bursche schaffte das Abitur auch in Englisch.

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Wir hatten sogar das Glück, dass die Wohnung in Köln nur rund fünf Autominuten von der Krankenhausapotheke entfernt war. Mit dem Aufstehen tat sich Irča ihr Leben lang schwer, also fuhr ich sie an jedem Morgen die kurze Strecke zur Arbeit. Wir zogen also nach Köln, richteten uns ein und führten ein ausgesprochen zufriedenes Leben.

Abb. 7: Mit Irča (zweite von rechts) 1972 in Köln.

Ich weiß nicht mehr, wie es wirklich dazu kam, dass unser Haus sehr oft den neu ankommenden Emigranten als erster Zufluchtsort diente. Wir waren die Ersten, die vom Ehepaar Pachman kontaktiert wurden. Luděk Pachman war tschechischer Schachgroßmeister, seine Frau hochrangige Sportfunktionärin. Noch Anfang des Jahres 1968 war Pachman eher ein konservativer Kommunist, danach mutierte er recht bald zum radikalen Antikommunisten. Seine Frau hatte in Sportlerkreisen den Ruf einer eingefleischten Kommunistin. Nach 1968 wurde Pachman für seine regimekritische Haltung anderthalb Jahre lang inhaftiert und 1972 nochmals zu einer Haftstrafe verurteilt. Durch Vermittlung des Weltschachbundes durfte er aber nach Deutschland auswandern. Wir trafen uns oft und konnten immer damit rechnen, dass bei Pachmans stets vorzügliche Weine aufgetischt wurden. Luděk wandte sich immer mehr der Politik zu, bis er mir eines Tages eröffnete, für

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ihn wäre es jetzt an der Zeit, sich zwischen Schach und Politik zu entscheiden. Ich kannte seinen ideologischen Rechtsruck und empfahl ihm daher mit Nachdruck, sich weiterhin dem Schach zu widmen, seinem Fachgebiet, wo er sich bereits einen guten Namen gemacht hatte und jetzt die Möglichkeit hatte, auch den internationalen Ruhm zu erweitern (Pachman war Autor einiger Fachbücher, die auch im Ausland Anerkennung fanden). Auf meinen Rat reagierte er mit der Beteuerung, dass ihn die Politik über alle Maßen reizen würde. Schließlich entschied er sich tatsächlich für die Politik und engagierte sich vorerst in der bayrischen CSU unter Franz-Josef Strauß. Die Christlich-Sozialen fanden ihn jedoch viel zu rechtslastig und distanzierten sich von ihm. Daraufhin gründete er, zusammen mit einem deutschen Journalisten, den politischen Verein Konservative Aktion, der durch seine rechtsradikalen Kampagnen unangenehm auffiel und nach acht Jahren aufgelöst wurde. Sein starker tschechischer Akzent hinderte Pachman keineswegs daran, als Deutschnationaler aufzutreten. Zusammen mit seinen Mitstreitern verschickte er an deutsche Schulen eine Schallplatte mit der ersten Strophe Deutschland, Deutschland über alles, die aus der offiziellen deutschen Hymne entfernt worden war, was Pachmans „neue deutsche Seele“ offensichtlich nicht ertragen konnte. Nach 1989 sahen wir uns hin und wieder in Prag, wo er sich ebenfalls als Rechtsradikaler etablieren wollte. In irgendeinem Zusammenhang erwähnte ich in meinem Artikel für Lidové noviny, dass Pachman auch in Deutschland als radikaler Deutschnationalist verschrien war. Pachman drohte der Zeitung mit Klage. Vorsichtshalber ließ ich diese Aussage vom Archiv des Spiegels überprüfen, auf einen Prozess freuten wir uns allerdings vergeblich, da Pachman schließlich von einer Klage abgesehen hat. Nach einiger Zeit traf ich ihn auf der Straße in Prag, und wir plauderten wieder in alter Freundschaft. Zu jener Zeit war er nicht mehr politisch aktiv. Unsere Tür stand aber auch weiteren Exiltschechen und -slowaken offen. Ihre ersten Nächte im Exil verbrachten bei uns z. B. Jaroslav Hutka (Folksänger und Komponist) und seine Frau. Als Gäste haben wir aber auch den Dichter und Liedermacher Karel Kryl, das Ehepaar Beneš, den slowakischen Schriftsteller Vladimír Kalina mit Gattin Agnesa und Tochter Tereza und viele andere beherbergt. Von der Kunst-

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gewerblerin Benešová kauften wir einen Gobelin, den sie in einer neuartigen Technik hergestellt hatte und der bis heute unsere Wand ziert. Der Umzug nach Köln brachte mir noch einen zusätzlichen Vorteil. In Köln waren gleich drei große Rundfunkanstalten beheimatet: der Deutschlandfunk, die Deutsche Welle, die im Rahmen ihres Auslandsfunks auch tschechische und slowakische Programme ausstrahlte, und Deutschlands größter Sender WDR. Damit konnte ich gleich drei Stützpunkte für meine Arbeit gewinnen. Die Kontakte zu diesen und weiteren Rundfunkanstalten machten es möglich, meine Sendungen mal in Bayern, mal in Bremen und das nächste Mal in Frankfurt usw. anzubieten. Natürlich konnte ich dieselbe Sendung nicht gleichzeitig an mehrere Radiostationen verkaufen, es mussten stets Originale sein. Manchmal kam es aber vor, dass ein Beitrag von einem weiteren Sender übernommen wurde. In einem solchen Fall musste jedoch die Initiative von dem Sender selbst ausgehen. Dafür stand mir ein zusätzliches Honorar in halber Höhe zu. In der ersten Zeit war der wahre Grund meines Aufenthaltes in Deutschland den tschechischen Behörden noch nicht bekannt. Ich lieferte daher auch dem Prager Hörfunk diverse Beiträge, von denen anfangs tatsächlich einige gesendet wurden. Mein letzter Beitrag, der in der Tschechoslowakei noch veröffentlicht wurde, war eine Reportage über den Parteitag der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), einer der wenigen Bruderparteien, die die sowjetische Invasion als „brüderliche Hilfe“ guthießen. Diese Reportage ließ ich jedoch nicht dem Tschechischen Rundfunk zukommen, sondern dem neuen Wochenblatt Politika (Politik), das von meinem ehemaligen Hörfunkkollegen Alois Svoboda gegründet und geleitet wurde. Hätten es die Okkupation und damit der spätere Verbot von Politika nicht vereitelt, wäre ich dort stellvertretender Chefredakteur geworden. Svoboda wollte meinen Betrag in der nächsten Ausgabe bringen, aber Čestmír Císař, damals Mitglied des Politbüros und Sekretär für Bildung, Wissenschaft und Kultur, ließ meine Reportage wie auch einige andere Beiträge streichen. Svoboda machte sich Císařs Reise nach Moskau zunutze und fügte in seiner Abwesenheit alle zensierten Beiträge samt meiner Reportage wieder in die kommende Ausgabe ein. Es war die letzte Ausgabe und zugleich auch mein letzter Beitrag, den ich bis zum Jahr 1989 in der Tschechoslowakei

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veröffentlichen durfte. In diesem Bericht zog ich die Bedeutung des besagten Parteitags und der DKP eher ins Lächerliche, indem ich die Stimmenanteile bei den Wahlen nicht in Prozent, sondern in Promille angab. Es war übrigens nicht schwer, die bei dieser Tagung vorgetragenen Argumente so wiederzugeben, dass sie vielmehr humoristisch anmuteten – auch ohne gefälscht zu werden. Zu einem besonders delikaten Vorfall bei diesem Parteitag kam es am Tisch der ausländischen Journalisten. Auf der einen Seite saßen Jan Chejlava, der bereits „ehemalige“ Korrespondent des Tschechoslowakischen Fernsehens in der Schweiz, und ich, damals immer noch akkreditiert für das politisch-kulturelle Wochenblatt Zítrek (Die Zukunft). Uns gegenüber saß der parteitreue Korrespondent von Rudé právo Stanislav Moc, und den „tschechischen Vierer“ ergänzte noch Fojtík von der Presseabteilung des ZK der KSČ, der als Beobachter anwesend war. Chejlava und mir war klar, dass uns etwas Schlimmeres als die Emi­ gration nicht mehr drohte. Wir leiteten also eine durchaus provokante Diskussion ein. Moc versuchte, seine Haltung bzw. das Parteidogma zu verteidigen, das ZK-Mitglied Fojtík, der uns zuerst ignorierte, verlor schließlich die Nerven, sodass sich zwischen ihm und mir eine scharfe Polemik entwickelte. Chejlava bemühte sich indes redlich, die hitzige Stimmung einzudämmen, um einer internationalen Blamage vorzubeugen.

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Index Adolf Müller und ich waren damals ein gutes Gespann. Es war allgemein bekannt, dass wir uns während des „Prager Frühlings“ in großem Maße politisch engagierten. Nun wurden wir immer wieder aufgefordert, aktiv zu werden. Wir sollten zum Beispiel eine politische Partei, eine Organisation oder sonst etwas in der Art gründen. Wir waren allerdings klug genug, uns darauf nicht einzulassen. Vermutlich brachten uns aber solche Aufforderungen doch zum Nachdenken darüber, ob bzw. was man tatsächlich tun könnte oder sollte. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie wir überhaupt auf die Idee kamen, einen Exilverlag zu gründen. Es war wie eine Erleuchtung. Möglicherweise kam dieser Geistesblitz, als uns klar wurde, dass die Lage in der Tschechoslowakei zusehends ernster und die Zensur immer schärfer wurde. Die Werke der heimischen wie auch der im Exil lebenden Autoren durften in der CSSR nicht mehr publiziert werden. Trotzdem (oder gerade deshalb) war es besonders wichtig, dass ihre Bücher die Leser erreichen – daheim wie im Exil. Der Grundgedanke dabei war, dass die Exilanten die Bücher regulär kaufen sollten, während man die Leserschaft in der Heimat kostenlos beliefern wollte, natürlich illegal auf diversen Schleichwegen. In unserem Hinterkopf dachten wir da bereits als künftige Verleger. Im Grunde lief es dann auch so ab. Bei unseren Planungen zogen wir auch Tomáš Kosta zu Rate, den einst erfolgreichen tschechischen Verleger, der inzwischen einen großen deutschen Verlag leitete. Von ihm bekamen wir wertvolle praktische Ratschläge, obwohl deutlich zu spüren war, dass er unserem Vorhaben keine großen Chancen gab. Unser nächster Ratgeber war Pavel Tigrid, der bereits auf langjährige Erfahrungen als Herausgeber der Exilzeitschrift Svědectví (Zeugnisse) zurückblicken konnte. Ihn suchten wir in seiner Pariser Redaktion auf. Er war überaus freundlich und lobte uns dafür, dass wir dem Ruf nach einer organisierten politischen Aktivität widerstehen konnten. Zusammen mit ihm verfassten wir ein Schreiben an das Schriftstellerehepaar Škvorecký, das im kanadischen Exil lebte. Zufälligerweise waren die beiden gerade dabei, den Exilverlag 68 Publishers zu gründen, und wussten von unseren Plänen ebenso wenig wie wir von ihren. In diesem

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Brief schlug Tigrid eine Koordinierung der geplanten Aktivitäten vor, ohne dass davon die Eigenständigkeit beider Unternehmen betroffen wäre. Doch vor allem war es Frau Škvorecká (als Autorin bekannt unter ihrem Mädchennamen Zdena Salivarová), die alle Vorschläge einer möglichen Zusammenarbeit ausschlug. Ich gab auf, die weitere Korrespondenz mit ihr führte Adolf Müller, wobei der Umgangston immer harscher wurde, bis Frau Škvorecká schließlich eine gehässige und verleumderische Art an den Tag legte. Mit Škvorecký selbst, der mich in Köln besuchte, verstand ich mich dagegen sehr gut. Ich hatte das Gefühl, dass eine vernünftige Absprache durchaus möglich gewesen wäre. Die Korrespondenz, die ich in der ersten Phase noch mit Frau Škvorecká führte und die ohne den erhofften Erfolg blieb, wurde im Jahrbuch des Tschechoslowakischen Dokumentationszentrums zur Förderung der unabhängigen Literatur (in Scheinfeld-Schwarzenberg) veröffentlicht. Der Mitbegründer und Leiter des Dokumentationszentrums war der tschechische Historiker Vilém Prečan. Jetzt noch einige Worte zu Pavel Tigrid: Er hielt uns die Daumen, unterstützte uns, aber seine Stellungnahme fiel in etwa so aus: „Jungs, es ist gut, dass ihr es angehen wollt. Selbst wenn es wenigstens zwei bis drei Jahre lang klappen sollte, wäre es immerhin die ganze Arbeit wert.“ Wie sich herausstellte, sogar der weise Tigrid konnte sich irren – Index hielt sich über gut zwei Jahrzehnte lang. Mehr als 200 Buchtitel wurden verlegt. Der Verlag stellte seine Tätigkeit selbst ein, als sein Zweck erfüllt und sein weiteres Bestehen gegenstandslos wurde. Bei der Gründung des Verlags haben wir uns auch mit anderen Kollegen beraten, vor allem mit Schriftstellern – unseren potenziellen Autoren. Das Echo war enorm, man bot uns jede Hilfe an – außer finanzieller Unterstützung. So schoben wir diese Frage immer wieder auf die lange Bank. Inzwischen informierten wir uns über die einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften. In unserem Fall bedeutete es, dass wir einen „eingetragenen Verein“ (e. V.) mit sieben Vorstandsmitgliedern gründen mussten, darunter einem Vorsitzenden und einem Vizevorsitzenden. Die letzteren sind im Sinne des Gesetzes verantwortlich, während die übrigen Mitglieder keinerlei Risiken zu tragen haben. Der Verein benötigt zwar keine weiteren Mitglieder, zwingend vorgeschrieben

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ist nur der siebenköpfige Vorstand. So machten wir uns auf die Suche nach fünf Personen, die mitmachen wollten, wobei sie entsprechend der gängigen Praxis dem Verein lediglich ihren Namen zur Verfügung stellen mussten. Man fand sie problemlos, und der Index e. V. für Veröffentlichung tschechischer und slowakischer Bücher im Ausland war geboren. Für den Anfang planten wir die Herausgabe eines einzigen Buches, wollten dieses den potenziellen Käufern außerhalb der Tschechoslowakei anbieten, und wenn genug Exemplare verkauft wären, um aus den Einnahmen die Kosten für die erste Ausgabe abzudecken, sollte das nächste Buch in Druck gehen. Dafür brauchten wir selbstverständlich zuallererst ein Stammkapital – und da kam uns das Schicksal entgegen, auf eine unerwartete Art und Weise und noch dazu sehr schnell. Ich erzählte Gräfin Metternich von unseren Absichten, sie war sofort von dieser Idee begeistert, meinte aber gleich: „So geht es nicht! Sie müssen erst das Stammkapital haben. Ich werde mit meinem Mann darüber reden.“ Zwei oder drei Tage später rief sie an, um mir zu sagen, dass sie demnächst mit ihrem Gatten nach Köln kommen werde. Gemeinsam sollten wir dann in eine Kleinstadt fahren, die zwischen Köln und Bonn liegt. In der dortigen Bankfiliale hatten die beiden nämlich ein Konto. In der Bank unterzeichneten wir einen Vertrag, mit dem uns das Ehepaar Metternich ein Darlehen von 25.000 DM für die Gründung von Index zur Verfügung stellte. Dieses Darlehen wurde später in eine Spende umgewandelt. Damals war es noch eine unglaublich hohe Summe, die das sofortige Verlegen unserer ersten Bücher möglich machte. Als weiterer Glücksfall erwies sich die Freundschaft eines unserer Bekannten mit dem Inhaber einer Schweizer Druckerei. Die Druckerei kam uns sehr entgegen und gewährte uns einen Vorzugspreis, sodass wir dort jahrelang unsere Bücher drucken lassen konnten. Später sogar manchmal auf Kredit. Allmählich lief unsere Arbeit an, das Interesse war immens. Unser erstes Buch war Hochmanns satirischer Roman Jelení Brod, das bereits druckreif war und teilweise sogar in einer Zeitschrift in Prag publiziert wurde. Das Buch hatte einen großen Erfolg und ist später auch in deutscher Sprache unter dem Titel Böhmisches Happening erschienen. Nach und nach kontaktierten wir tschechische Schriftsteller, die im Ausland lebten, und durch Mittelsmänner auch Autoren in der Tsche-

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choslowakei. Wir fragten nach, ob sie fertige Manuskripte in der Schublade hätten oder zumindest etwas zu schreiben beabsichtigten und an einer Publizierung im Ausland interessiert wären. Plötzlich ging alles viel schneller als erwartet und als wir es überhaupt schaffen konnten. Jetzt mussten wir uns rasch mit den trivialeren Dingen befassen: nach einer versandgerechten Verpackung suchen, die leicht zu öffnen war, damit die Bücher kostengünstig als Drucksache verschickt werden konnten. Des Weiteren mussten wir alle uns bekannten Exilanten in der ganzen Welt anschreiben und sie um Kontakte zu potenziellen Interessenten an tschechischer Literatur bitten. Damit waren nicht nur wir, Müllers und Utitz, beschäftigt, sondern gleich eine ganze Reihe freiwilliger Helfer aus unserem Freundeskreis. Sobald eine Sendung neuer Bücher ankam, wurde Alarm ausgerufen, und alle kamen zusammen, packten die Bücher ein und schrieben Adressen. Die meiste Arbeit blieb an Marie Müller hängen, die als einzige von uns keinen festen Job hatte. Die Kundenkartei wuchs zusehends, aus den anfänglichen zig Adressen wurden Hunderte, ja Tausende. Wir konnten die Bücher nicht mehr in unseren Wohnungen stapeln, fanden im Innenhof eines Hauses einen Anbau mit zwei Räumlichkeiten, ohne Wasseranschluss und ohne Sanitäreinrichtung. Wir bauten einige Regale zusammen, stellten dort einen Tisch hin, dazu einen Stuhl und Karteikästen – und fertig war Marie Müllers Arbeitsplatz. Die externe Arbeit wie Kontakte zu den Autoren außerhalb von Köln, zu der Druckerei und vieles mehr, erledigte ich in unserer ersten Zeit praktisch im Alleingang. Als Freischaffender konnte ich mir meine Zeit gut einteilen und somit nach Bedarf reisen. Ich suchte Autoren auf, deren Manuskripte bereits fertig waren, und verhandelte die Vertragsbedingungen. Im Prinzip wurden zehn Prozent vom Erlös des Buchverkaufs vereinbart, dies galt gleichermaßen für die heimischen Autoren wie auch für jene, die im Ausland lebten. Ich musste auch öfter in die Druckerei, die natürlich keinerlei Erfahrungen mit tschechischen Texten hatte. Rund zwei Jahre später hatte sich bei der Druckerei ein Schuldenberg von mehreren zigtausend DM angehäuft. Bis dahin hatten wir allerdings schon eine ganze Reihe von Büchern herausgegeben, und der Druckereiinhaber zeigte sich uns gegenüber äußerst großzügig. Es war

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klar, dass wir uns jetzt etwas bremsen mussten: die Neuerscheinungen in längeren Intervallen drucken lassen und die Schulden nach und nach von dem Buchverkauf tilgen. Es stimmt, dass ich es in der Hitze des Gefechtes versäumt habe, auch nur eine einzige Vorstandsitzung innerhalb der zwei Jahre einzuberufen. Adolf Müller, mit dem ich mich oft traf, um alles zu besprechen, machte mich allerdings niemals darauf aufmerksam, dass eine solche Sitzung stattfinden muss. Stattdessen schickte er eines Tages per Post ein formales Schreiben an alle Vorstandsmitglieder (mich inbegriffen), in dem er schroff bemängelte, dass bisher keine Vorstandsitzung stattgefunden habe, und mich zugleich dafür verantwortlich machte. Bei der Sitzung kritisierte er dann die Verschuldung, die ihm natürlich längst bekannt war und über die wir (vorerst noch in aller Freundschaft) auch öfter miteinander diskutierten. Jetzt nahm er dieses Problem zum Vorwand, um einen Wechsel in der Leitung von Index herbeizuführen und meinen Posten als Vorsitzender zu übernehmen. Die Ablösung war ohnehin längst vereinbart, aber jetzt und ausgerechnet in dieser Form kam es einer Misstrauenserklärung gleich. Es war das erste Anzeichen des kommenden Bruchs zwischen uns beiden und ein handfester Verrat an unserer Freundschaft. Für mich war sein Vorgehen unbegreiflich, da ich bis dahin fest an unsere wahre Freundschaft glaubte. Selbstverständlich fühlte ich mich betroffen, aber eines war für mich klar: Ich wollte mich ganz sicher nicht aus Index hinaus drängen lassen. Trotz aller Hindernisse konnte ich mich im Verlag halten und blieb Vizevorsitzender. Es war das erste Anzeichen des kommenden Bruchs zwischen uns beiden und ein handfester Verrat an unserer Freundschaft. Für mich war sein Vorgehen unbegreiflich, da ich bis dahin fest an unsere wahre Freundschaft glaubte. Selbstverständlich fühlte ich mich betroffen, aber eines war für mich klar: Ich wollte mich ganz sicher nicht aus Index hinaus drängen lassen. Trotz aller Hindernisse konnte ich mich im Verlag halten und blieb Vizevorsitzender.

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Abb. 8: Mit Adolf Müller vor dem Eingang zum Indexverlag in Köln.

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Es war das erste Anzeichen des kommenden Bruchs zwischen uns beiden und ein handfester Verrat an unserer Freundschaft. Für mich war sein Vorgehen unbegreiflich, da ich bis dahin fest an unsere wahre Freundschaft glaubte. Selbstverständlich fühlte ich mich betroffen, aber eines war für mich klar: Ich wollte mich ganz sicher nicht aus Index hinaus drängen lassen. Trotz aller Hindernisse konnte ich mich im Verlag halten und blieb Vizevorsitzender. Eine von diesen Publikationen war der Gemeinschaftsbericht von vier führenden Persönlichkeiten der Gruppe Listy19: Zdeněk Mlynář, Jiří Pelikán, Zdeněk Hejzlar und Adolf Müller, die sich als ideelle Nachfahren des „Prager Frühlings“ verstanden. Das Thema dieses Buches war ihre Reise nach China. Die Tatsache, dass die einstigen Galionsfiguren des „Prager Frühlings“ ausgerechnet nach China reisten, um dort den Kommunismus zu studieren, hielt ich nicht unbedingt für zweckmäßig, die Herausgabe hätte ich deshalb aber nicht vereiteln wollen. Vermutlich ging Adolf Müller davon aus, dass das Buch nicht meinem Geschmack entsprach, eine Auseinandersetzung somit vorprogrammiert wäre und der entstandene Unmut den ganzen Vorstand des Index-Verlages beschäftigt hätte. Kurz nach seiner Gründung war Index auch regelmäßig auf der Frankfurter Buchmesse vertreten – was Pavel Tigrid zu verdanken war, der für uns einen Messestand mietete und sämtliche Kosten übernahm. Der Stand lief zwar unter dem Logo von Index, aber neben den eigenen stellten wir auch Bücher einiger kleinerer Verlage aus, daneben die Publikationen des kanadischen Exilverlages von Škvorecký und dazu noch diverse Exilzeitschriften, darunter vor allem Svědectví und Listy. Wie schon gesagt, ich war Freiberufler. Der Messestand war daher praktisch allein meine Sache. Adolf ließ sich dort nur selten blicken, einen Tag nur, und schon war er wieder fort. Meiner Meinung nach war sein jeweils kurzes Erscheinen durch die zwiespältige Beziehung zu Pavel Tigrid bedingt: Ihn hatte Müller nämlich stets im Verdacht, dass er seine ganzen Aktivitäten inklusive des Messestandes aus amerikani19 Die „Gruppe Listy“ war eine lose Gruppierung von Protagonisten des „Prager Frühlings“, die sich um die Zeitschrift Listy versammelten und sich dem demokratischen Sozialismus verpflichtet sahen. Die Zeitschrift Listy (Blätter) wurde in Rom herausgegeben und gehörte zu den bedeutendsten oppositionellen Zeitschriften des tschechoslowakischen Exils nach 1968.

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schen Geldern finanzierte. Die beiden verband eine Freundschaft mit allerhand Vorbehalten. Unser Stand erfreute sich großer Beliebtheit bei den tschechischen Exilanten wie auch bei den Besuchern aus der Tschechoslowakei. Die letzteren waren leicht zu erkennen, da sie in den ausgestellten Büchern blätterten, sich alle Buchtitel ansahen, aber kaum jemand traute sich, mit uns zu sprechen. Eine amüsante Geschichte erlebten wir mit dem Buch Nachtfrost (der tschechische Buchtitel lautete: Der Frost kommt aus Kreml). In seinem Buch berichtet der Augenzeuge Zdeněk Mlynář von Erlebnissen jener Mitglieder der tschechischen Regierung und des ZK der KSČ, die von den Sowjets im August 1968 gewaltsam nach Moskau entführt wurden. Entgegen aller vorherigen Zusagen hatte es unsere Druckerei nicht mehr geschafft, dieses Buch rechtzeitig zum Beginn der Buchmesse fertigzustellen, und lieferte uns lediglich einige Attrappen, die dem Format und Umfang des Buches entsprachen. Zusammen mit Pavel Tigrid packten wir die Bücher sorgfältig ein in eine durchsichtige Folie und stellten sie als Blickfang ins Regal. Die Besuchszeit endete um 18 Uhr, danach tummelten sich in den Hallen nur noch die Verlagsangestellten. Wir selbst blieben meist bis halb acht, um sicherzugehen, dass keine verirrten Besucher das eine oder andere Buch mitgehen lassen. Am folgenden Tag, nachdem wir das besagte Buch ausgestellt hatten, ließen wir in der Früh unseren geübten Blick über die Regale gleiten und stellten fest, dass nichts abhandengekommen war – außer zwei oder drei Attrappen von Mlynářs Buch. Es lag auf der Hand, dass sie nur von tschechischen Agenten entwendet werden konnten, die am tschechischen Stand offiziell als Verlagsmitarbeiter auftraten – und wir freuten uns ungemein bei der Vorstellung, wie enttäuscht sie sein mussten, als sie im Inneren des Buches nur weiße Seiten fanden. Ein nettes Erlebnis war für mich der Besuch des offiziellen tschechoslowakischen Messestandes. Bei Durchsicht der dort ausgestellten Bücher fand ich eines davon besonders interessant und fragte die Mitarbeiterin, ob ich das Buch gleich bestellen könnte. Sie bemerkte das Namensschild mit Index-Logo am Revers meiner Jacke, schaute sich unauffällig um und flüsterte mir zu: „Drehen Sie sich einfach um und gehen Sie weiter!“ Ich ging also weiter – mit dem Buch in der Hand.

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Die vielen Stunden in der Ausstellungshalle waren natürlich recht ermüdend, die Messe bot mir aber eine ausgezeichnete Gelegenheit, um mit vielen interessanten Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen. So zum Beispiel mit dem tschechischen Schriftsteller Ota Filip, der in einem deutschen Verlag arbeitete und dessen Messestand betreute. Unser Treffen fand ich recht amüsant. Einer unserer gemeinsamen Bekannten hatte seine Autobiografie verfasst und bot das Manuskript sowohl unserem als auch dem deutschen Verlag an. Leider eignete sich das Buch nicht für eine Veröffentlichung. Ich hatte den Vorteil, dass ich das Manuskript „mit Bedauern“ zurückweisen konnte – unter dem durchaus plausiblen Vorwand, wir hätten bereits so viele Manuskripte aus der Tschechoslowakei auf der Warteliste, dass unsere Kapazität mittlerweile ausgeschöpft sei. Als ich an Otas Stand saß, kam ausgerechnet dieser Autor vorbei. Ota versicherte ihm freimütig, dass sein Werk interessant sei und sein Verlag es ganz sicher drucken werde. Hinterher wollte ich von Ota wissen, wie er so etwas überhaupt behaupten konnte. Er lächelte und meinte: „Ich wollte dem Kerl ganz einfach nur Freude machen.“ Ota Filip hatte in der Tat eine eigenartige Art, „Freude zu machen“. Eine tschechische Autorin trug ihm ihr Manuskript an. Dieses Buch war im Index erschienen und nach der Wende ebenfalls bei einem tschechoslowakischen Verlag. Obwohl das Buch gar nicht in deutscher Übersetzung publiziert wurde, schrieb Filip für die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine vernichtende Kritik. In seinem Brief an die Autorin, dessen Kopie er auch uns zukommen ließ, behauptete er, seine Kritik wäre die beste Methode, um auf das Buch aufmerksam zu machen und das Interesse eines potenziellen Verlegers zu wecken. Wie zu erwarten war, erschien die deutsche Ausgabe nie. Mittlerweile übernahm Index auf Adolfs Initiative den Druck von Listy sowie weiteren Exilpublikationen. Eines Tages wandte sich Jiří Pelikán an mich mit der Bitte um eine Intervention bei Adolf – er solle für den Druck von Listy nicht so horrende Beträge in Rechnung stellen. Ich selbst hatte Adolf bereits einige Zeit zuvor schriftlich darüber informiert, dass ich meine Funktion als Vizevorsitzender von Index niederlege werde, weiterhin aber Mitglied und Mitherausgeber des Verlags bleibe. Einer der Gründe für die Aufgabe meiner Funktion war die Tatsache, dass Adolf keine Steuererklärungen machte. Ich hatte bereits

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zu Beginn der Verlagstätigkeit einen Steuerberater konsultiert, der mir erklärte, dass Steuererklärungen selbst dann zwingend sind, wenn ein Nullgewinn vorliegt, und habe darüber auch Adolf informiert. Er tat es trotzdem nie, und es war nur ein Wunder, dass diese Unterlassung bis zur Auflösung von Index ohne Folgen blieb. Ich musste auch noch die offizielle Bekanntgabe der Liquidierung des Vereins mitunterschreiben – in meiner Funktion als Vizevorsitzender, wie mir Adolf sagte. Erst jetzt stellte sich nämlich heraus, dass Adolf meine Demission ganz einfach ignorierte, sodass ich für das Finanzgebaren von Index die ganze Zeit mitverantwortlich gewesen war. Ohne es gewusst zu haben. Das, was mich persönlich besonders betroffen machte, kam aber erst nach der Wende. Damals fuhr ich öfter nach Prag als Adolf. Er bat mich vor einer der Reisen, zwei Verlagshäuser (Orbis und Práce) aufzusuchen, mit denen er über die Herausgabe einiger Index-Bücher verhandelte. Die beiden Verlage überraschten mich mit der Frage, weshalb mein eigenes Werk Die Zeugen der Revolution in unserem Programmangebot fehle. Gerade dieses Buch würde man gerne als erstes auflegen. Sie zeigten mir Adolfs Auflistung, die rund 15 Titel enthielt – Die Zeugen waren tatsächlich nicht dabei. Ich sagte, dass ich dazu als Autor selbstverständlich meine Zustimmung geben könne und fragte nach der Drucklaufzeit. Da mir Orbis eine kürzere Frist anbieten konnte, übertrug ich die Rechte diesem Verlag. Mein Buch ist dann als das erste Werk eines Exilautors erschienen, das von Orbis nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Tschechoslowakei gedruckt wurde. Aber jetzt zurück zum Index. Ungeachtet der Abkühlung der persönlichen Beziehungen redigierte ich weiterhin die Bücher und habe manchmal, stets nach jeweiliger Rücksprache mit dem Autor, auch Änderungen im Text vorgenommen. Ich verhandelte mit den entfernt lebenden Autoren, so zum Beispiel auch mit Dr. Karel Steinbach in den USA, dem Arzt und engen Freund vieler bekannter Persönlichkeiten der tschechoslowakischen Zwischenkriegsgesellschaft, oder mit dem slowakischen Schriftsteller Ladislav Mňačko, der leider verstarb, noch bevor er die versprochene Autobiografie beenden konnte. Ich weiß nicht mehr, wann wir mit den Autorenlesungen begonnen haben, wer beim Index zum ersten Mal aus seinem Werk gelesen und darüber mit den Lesern diskutiert hat. Diese Lesungen im Saal eines

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Gasthofes entwickelten sich mit der Zeit zu einer festen Institution: Autoren aus der ganzen Welt kamen zu uns, um vorzulesen und zu debattieren – sobald sie ihre Wege in die Nähe von Köln geführt haben. Je nach Bekanntheitsgrad des Autors kamen zu unseren Veranstaltungen einige zig, manchmal sogar mehr als 100 Zuhörer. Nicht nur aus Köln oder Bonn, sondern auch aus der Ferne wie z. B. aus Holland. Es tut mir heute leid, dass diese Tätigkeit nie dokumentiert wurde, sodass ich mich jetzt nur noch vage an Namen jener Autoren erinnere: So kamen und diskutierten bei uns unter anderen Radoslav Selucký, Gabriel Laub, Pavel Kohout, Ladislav Kalina, Jiří Gruša, Ladislav Grossmann, Ota Filip, Ivan Sviták, Pavel Tigrid und Zdeněk Mlynář . Ich bitte all jene um Entschuldigung, deren Name mir jetzt nicht mehr einfällt. Die Tageszeitung Rudé právo und der Tschechoslowakische Rundfunk haben Index übereinstimmend als Brutstätte der Konterrevolution bezeichnet und damit unsere Rolle krass überschätzt. Doch immerhin waren wir ein kleines Kulturzentrum, wenn auch in einem bescheidenen Rahmen. Unter den 200 Buchtiteln, die wir im Laufe der Zeit publizierten, fand sich kein einziger, für den wir uns hätten schämen müssen, einige davon verdienen sogar eine besondere Erwähnung. Zwei der Bücher wären nie zustande gekommen, wenn Index nicht die Autoren zum Schreiben animiert hätte: die Erinnerungen von Julius Firt und Dr. Steinbach. Der erstere war eine herausragende Persönlichkeit des tschechischen Kulturlebens. Firt war unter anderem Herausgeber und Mitglied der legendären Masaryks Freitagsrunde, in der sich zwischen den Kriegen die Elite der tschechischen Kultur und Politik versammelte. Zu diesem Kreis gehörte ebenfalls Dr. Steinbach. Die beiden brachten ihre Erinnerungen zu Papier auf Betreiben und mit Unterstützung von Index. Es war ihnen leider nicht mehr gegönnt, die Zeit noch zu erleben, in der sie ihre Memoiren hätten frei publizieren können. Ohne Index wäre dieses Zeugnis einer wichtigen Epoche der tschechischen Geschichte für die kommenden Generationen für immer verloren gegangen. Zu den Ausnahmebüchern gehört zweifelsohne auch der Sammelband Všechny krásy světa (Alle Schönheit dieser Welt) des Dichters Jaroslav Seifert. Der Band zählt zu den Juwelen der tschechischen Lyrik, seine Einzigartigkeit liegt außerdem darin, dass der Band als Gemein-

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schaftsprojekt von Index und 68 Publishers erschienen ist. Sogar Frau Škvorecká gab dazu ihre Zustimmung, zweifelsohne nur aufgrund einer Subvention, an die allerdings eine Bedingung geknüpft wurde: und zwar, dass 68 Publishers ein kostengünstiges (und somit leichter verkäufliches) Taschenbuch, während Index die gebundene Version herausgeben sollte. Ich nehme an, dass wir an dieser Sache nichts verdient haben, doch die Schönheit des Buches ist bis heute die Zierde unserer einstigen Verlagstätigkeit. Des Weiteren möchte ich das Buch von Pavel Kohout Kde je zakopán pes (Wo der Hund begraben liegt) erwähnen. Dieses Buch zusammen mit Ludvík Vaculíks Snář (Tagträume), das bei 68 Publishers erschien, gibt nach meinem Dafürhalten ein gesellschaftliches Sittenbild des ganzen tschechischen Dissidentenmilieus wieder. Pavel Kohouts Haltung gegenüber Index war in der Tat außergewöhnlich. Seine erste Reise in den Westen (anlässlich der Annahme eines Literaturpreises) wurde unter der Auflage genehmigt, dass ein Zusammentreffen mit Emigranten strikt verboten war. Trotz dieses Verbotes konnten wir uns in der Wohnung eines deutschen Journalisten treffen und bei dieser Gelegenheit unter anderem auch die Herausgabe von Katyně (Die Henkerin) vereinbaren. Kohout versicherte uns, dass er keine Klage gegen uns anstreben werde – was im Grunde einer inoffiziellen Copyright-Genehmigung gleichkam. Als Kohout später im deutschen Fernsehen die Neuerscheinungen seiner Werke in deutscher Sprache vorstellte, zeigte er stets die Bücher von Index mit dem Hinweis, dass das jeweilige Buch zuallererst in der tschechischen Sprache (und zwar bei uns) gedruckt wurde. Damit standen wir natürlich ordentlich unter Druck – um zu gewährleisten, dass unsere Ausgabe noch vor der deutschen Version auf den Markt kam. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt – auf der Frankfurter Buchmesse wurde so gut wie jedes Mal ein Abend mit Pavel Kohout veranstaltet, unter Anwesenheit der Verlagshäuser aus allen Ländern, in denen seine Bücher erschienen waren. Er selbst bestand darauf, dass ich an jedem dieser Abende teilnehme, und pflegte mich als „seinen tschechischen Verleger“ vorzustellen. Auf unserem Verlagsprogramm standen darüber hinaus Werke von Ludvík Vaculík, Eda Kriseová, Gabriel Laub, Eva Kantůrková, Bohu-

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mil Hrabal sowie weiterer Protagonisten der zeitgenössischen tschechischen Literatur. Keiner dieser Autoren dachte je daran, dass wir der erste Herausgeber ihrer Bücher waren, und vermutlich hatten sie auch von der Existenz des Copyrights keine Ahnung. Pavel Kohout war dagegen der einzige, der uns nach der Wende um die Rückgabe des Copyrights bat. Von Anfang an war es natürlich unser Anliegen, dass ein Teil unserer Bücher in die Heimat gelangt – dieses Bestreben wurde zum Teil vom Verkauf der Bücher an Exilanten finanziert. Daneben gab es noch diverse Fonds in Amerika sowie in Europa, die immer eine gewisse Anzahl der Bücher kauften und in die Tschechoslowakei weiterleiteten. Außergewöhnliche Hilfe bekamen wir von einer Mitarbeiterin des Handelsministeriums. Diese Dame überreichte mir eines Tages 1.000 DM, die für die Unterstützung verfolgter Dissidenten in Prag gedacht waren, und stellte dabei als einzige Bedingung, dass ihr Name nirgends aufscheint. Heute kann ich wohl ihren Namen verraten: Es war Frau Große-Schware. Sie erklärte mir, dass sie neben ihrer regulären Beschäftigung auch als Übersetzerin arbeite und ihre Honorare solange beiseitelegen wolle, bis der Betrag wieder die Höhe von 1.000 DM erreicht, den sie mir dann jeweils als Spende überreichen wolle. Über eine lange Zeit hat es gut geklappt. Auch Spenden aus anderen Quellen trafen bei mir zusammen, da ich für den Geldtransfer nach Prag über einen zuverlässigen Kanal verfügte. Als „Geldbote“ diente uns die bereits erwähnte Gräfin Metternich, die zwar niemals Schriftstücke, dafür aber oft große Geldsummen mit sich führte. Jene Kontaktperson in Prag, die diese Beträge in Empfang nahm, bekam zugleich Anweisungen für die Geldaufteilung. Die Gelder stammten teils aus Honoraren von Index, von der Zeitschrift Svědectví, aber auch aus sonstigen Quellen, nicht selten waren es private Spenden an bestimmte Personen in der Tschechoslowakei. Es funktionierte recht lange – bis ich eines Tages feststellen musste, dass die Distribution vor Ort nicht unbedingt den Weisungen hinsichtlich der Auszahlung je nach Honoraranspruch oder Spenderwunsch entsprach. Die Witwe von Egon Hostovský übergab mir einmal einen Geldbetrag zur Weiterleitung an Jiří Hochmann, der gerade aus der Haft entlassen wurde. Etwas später schrieb sie mir, dass das Geld bei Hochmann nicht

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angekommen sei. Ich ging der Sache nach und fand heraus, dass das ganze System nicht so funktionierte, wie es tatsächlich sollte. Daraufhin gab ich die Geheimhaltung auf und teilte Frau Hostovská den Namen jener Person mit, der ich den Betrag zwecks Weiterleitung zukommen ließ. Nach dieser ernüchternden Erfahrung lehnte ich jede weitere Vermittlung der Geldzuwendungen nach Prag ab. Um die Bücher in die Tschechoslowakei zu bringen, brauchten wir selbstverständlich viele geeignete Helfer. Meist waren es junge Franzosen oder Engländer, die als Touristen mit kleinen Kombis oder PKWs mit doppeltem Boden nach Prag reisten. Auch Herbert Kalter, ein Freund unseres Sohnes, nahm ein solches Risiko auf sich, und dies mit Erfolg. Die jungen Leute schmuggelten die verbotenen Zeitschriften, aber auch diverse Schriftstücke und machten für gewöhnlich einen Abstecher nach Köln, wo sie von uns Drucksachen und vor allem unsere Bücher übernahmen. Nur Adolf Müller und ich wussten von der jeweiligen Fahrt, wobei ich mir sicher bin, dass sich keiner von uns je verplappert oder die nötige Vorsicht unterlassen hätte. Trotzdem passierte es, dass einer der Wagen abgefangen, die Sendung beschlagnahmt und zwei junge Leute, die das Schmuggelgut mitführten, verhaftet wurden. Unglücklicherweise befanden sich ausgerechnet in diesem Auto einige persönlich adressierte Sendungen. Wir haben lange nachgedacht, von wem wohl die Staatsicherheit den Wink bekommen hatte. Erst viel später stellte sich heraus, dass die undichte Stelle eine unserer Kontaktpersonen in der Heimat war. Ich fürchte, dass der Mut und die Opferbereitschaft der jungen Franzosen und Engländer nur unzureichend gewürdigt wurden. Interessant war, dass in der Tschechoslowakei selbst die Rolle von Index stark überbewertet wurde. Davon zeugten unzählige Artikel in Rudé právo, und auch Hörfunk und Fernsehen wetterten in zahlreichen Sendungen gegen Index, den man als die „Zentrale der Exilanten“ oder ähnlich bezeichnete. Andererseits wussten wir, wie gut die Staatsicherheit über unsere Aktivitäten und Kontakte informiert war – der Informant bzw. die Informanten mussten demnach aus unserem näheren Umfeld stammen. Bei einer anderen Gelegenheit bekamen wir einen Einblick in die Arbeitsweise der Staatssicherheit. Wir hatten einen schönen Garten und

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luden gerne die tschechische Gesellschaft ein, zum Beispiel zu einer Grillparty. Eines Tages brachte einer unserer Freunde zwei tschechische Studenten mit, die gerade in Köln zu Besuch weilten. Von ihnen haben wir dann später erfahren, dass sie nach ihrer Rückkehr von der Staatssicherheit vorgeladen und verhört wurden. Man wusste schon, dass die beiden bei uns waren und wer sonst noch dabei war. Die gestellten Fragen gingen ins Detail: „Waren Sie auch im Wohnzimmer? Haben Sie dort dieses oder jenes Bild gesehen?“ Dies allein nur, um zu demonstrieren, dass man tatsächlich über alles und jeden Bescheid wisse. Nach 1989 verlangte ich vom tschechoslowakischen Innenministerium die Herausgabe meiner Personalakte. Ich bekam zur Antwort, dass kein Dossier über mich vorhanden sei. Nun komme ich zur letzten Notiz betreffend Index und seine Auflösung: Als ich 1990 wieder einmal in Prag war, kam gerade aus Deutschland ein Lieferwagen mit Büchern von Index an. Die Bücher sollten in zwei Buchläden verkauft werden, einer davon befand sich in dem Stadtviertel An den Weinbergen. Ich war neugierig, wie groß das Interesse tatsächlich war, und fuhr deshalb schon zeitig in der Früh hin. Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtete ich eine lange Schlange, die sich vom Geschäftseingang bis um die Hausecke zog, schätzungsweise 80 bis 100 Menschen standen da. Es waren vorwiegend junge Menschen, die hier warteten, bis der Laden öffnete und sie die angekündigten Bücher von Index kaufen konnten. Die Herauskommenden zeigten einander ihre Bücher, blätterten darin ... Ich wollte zu ihnen gehen und mit ihnen reden, aber meine Kehle war vor Rührung wie zugeschnürt, ich hätte kein Wort herausbringen können. Und so geht es mir bis heute, jedes Mal, wenn ich an diese schönen Momente zurückdenke. Die Gründung des Exilverlages und seine Tätigkeit seit 1970 bis zur Wende 1989 – als der Verlag nicht weiter gebraucht wurde – halte ich für das Nützlichste von alldem, was ich in meinem Berufsleben je tat. Auch wenn es ursprünglich gar nicht mein eigentliches Fachgebiet war.

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Opus Bonum Wenigstens kurz möchte ich noch die katholische Laienvereinigung Opus Bonum und ihren Gründer Anastáz Opasek, den Abt des Klosters Břevnov in Prag, erwähnen. Eine überaus weltoffene Vereinigung, die keineswegs im Sinne hatte zu bekehren, sondern um einen regen Meinungsaustausch bemüht war. Bei ihrem alljährlichen Symposium in Franken trafen Mitglieder verschiedener Organisationen mit unterschiedlichen politischen Orientierungen aufeinander. Häufig vertraten sie durchaus kontroverse Ansichten. Auf dem Programm standen Vorträge und Diskussionen mit diversen Persönlichkeiten und Gruppierungen. Als Grenzfall würde ich das Treffen mit slowakischen Separatisten bezeichnen, das in scharfen Polemiken verlief, stets aber im Rahmen des Anstandes blieb. In unseren Kreisen betraf es vor allem die linksorientierte Gruppierung um Listy und die „Konservativen“. Es war bezeichnend, dass Jiří Pelikán und Pavel Tigrid trotz ihrer oft gegensätzlichen Ansichten eine echte Freundschaft verband. Die Zusammenkünfte fanden jeweils am Samstag und am Sonntag statt, am Sonntagmorgen wurde dann von Abt Opasek in der örtlichen Kirche die Heilige Messe gefeiert. Seine Predigten waren immer dermaßen interessant, dass diese Gottesdienste nicht nur von den Gläubigen besucht wurden, sondern ebenso von etlichen, nicht christlichen Teilnehmern dieses Symposiums, unter denen sich zum Beispiel auch Jiří Pelikán, Zdeněk Hejzlar und Zdeněk Mlynář fanden. Es war jedes Mal ein Erlebnis. Pater Opasek war eine wunderbare Persönlichkeit, ich hatte die Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Nach 1990, kurz bevor er starb, konnte ich ihn noch im Kloster Břevnov in Prag besuchen. In Zusammenarbeit und mit finanzieller Beteiligung von Opus Bonum erschien im Index die Publikation Křesťané a Charta 77 (Christen und die Charta 77) – eine Sammlung von Dokumenten über die Mitwirkung der Christen in der Charta 77.

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Ignis Ohne zuerst davon gewusst zu haben, wurde ich zum Mitbegründer von Ignis, dem gemeinnützigen Verein zur Förderung von Kunst und Kultur der Völker Mittelosteuropas in Köln. Seine Initiatorin war die Polin Jadwiga Andrzejewska, eine Frau von unglaublichem Elan. Sie schaffte es, eine ganze Reihe namhafter Persönlichkeiten als Gründungsmitglieder zu gewinnen, auch wenn diese kaum (eigentlich überhaupt nicht) im Verein selbst tätig wurden. Dies störte Frau Andrzejewska nicht im Geringsten, da sie ihren Hauptzweck so oder so erfüllten – nämlich, wenn Frau Andrzejewska bei diversen Institutionen, sei es bei staatlichen oder privaten, wegen Spenden bzw. Unterstützung vorsprach, so haben diese wohlklingenden Namen ihren Bittgesuchen das nötige Gewicht verliehen. Ignis hatte sich in Köln in eine Villa eingemietet, in der man Sitzungen, diverse Treffen, Konzerte, Gesellschaftsabende und Kunstausstellungen veranstaltete. In regelmäßigen monatlichen Intervallen wurden auch Mitarbeiter der zuständigen Gemeinde- wie auch staatlichen Institutionen eingeladen, die den neuen Emigranten nützliche Informationen und Ratschläge erteilten. Ignis konnte sich nach und nach als offizielle Institution etablieren, und erst da erfuhr ich, dass ich und ein weiterer Repräsentant des tschechischen Exillebens auf der Liste der Vorstandsmitglieder figurierten. Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, auch hier aktiv zu werden, und bemühte mich darum, die tschechischen Autoren und Künstler bei Ignis einzubinden. Für die Teilnahme an den von Ignis veranstalteten Vorträgen und Diskussionen konnte ich einige der tschechischen Autoren gewinnen, darunter zum Beispiel Jiří Gruša (den späteren Botschafter in der BRD), den Schriftsteller Pavel Kohout, die populären Schauspieler Pavel Landovský und Miroslav Horníček oder den Mimen Milan Sládek, der in Köln seine eigene Pantomimenschule betrieb. Das erste Stockwerk der Villa war zur Gänze für Ausstellungen reserviert, jeden Monat stellten ein oder mehrere Maler aus dem Ostblock ihre Werke aus. Diese Expositionen erfreuten sich großer Beliebtheit. Unter den tschechischen Gästen fanden sich stets einige junge Künstler, die hier ihre eigenen Werke ausstellen durften. Für manche von ihnen war es

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sogar ihre erste Ausstellung überhaupt. Wie zum Beispiel die mittlerweile anerkannten Maler Milan Knížák, Rudolf Sikora, Antonín Málek, Jan Koblasa, Jan Vrálík, Milan Kunc, František Kyncl oder Jindřich ­Zeithaml. Doch mit der Zeit wurden es immer weniger, sodass ich schließlich zum Aushängeschild der tschechischen Präsenz wurde. Ebenso ließ das Interesse an den Vorträgen deutlich nach, und es wurde auch immer schwieriger, Autoren zu finden, die kommen wollten. Es lag möglicherweise auch daran, dass diese Autoren viel mehr an einem Auftritt bei den Autorenlesungen in der tschechischen Kulturinstitution Index interessiert waren, die ebenfalls ziemlich oft stattfanden. Dank der unglaublichen Betriebsamkeit von Frau Andrzejewska, die später sogar gute Beziehungen zu den offiziellen Institutionen in Polen knüpfte, konnte Ignis noch etliche Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bestehen. Die weitere Tätigkeit beschränkte sich allerdings vorwiegend auf polnische und russische Landsleute.

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Mein Freund Gerold Benz Wenn man um die Fünfzig ist, kommt es selten vor, dass man einen neuen Freund gewinnt – einen wahren Freund, dem man sich bedingungslos anvertrauen, auf den man sich vollkommen verlassen, auch gegenteiliger Meinung in der einen oder anderen Frage sein und mit ihm darüber streiten kann, wohl wissend, dass dadurch die Beziehung niemals getrübt wird. Während meiner Zeit im Exil fand meine Freundschaft in zwei Fällen ein abruptes Ende. In dem einen Fall war es eine herbe Enttäuschung, in dem anderen der Tod. Gerold Benz war Korrespondent des Süddeutschen Rundfunks in Bonn und zur Zeit des „Prager Frühlings“ 1968 einige Male beruflich in Prag. Damals unterhielt ich Kontakte sowohl zu den deutschen Auslandskorrespondenten wie auch zu einigen deutschen Journalisten, die nur für eine kurze Zeit nach Prag kamen, um über die neuesten Entwicklungen berichten zu können. So lernte ich auch Gerold Benz kennen. Von Anfang an lagen wir auf der gleichen Wellenlänge. Ich vermittelte ihm Interviews mit einigen hochrangigen Funktionären, unter anderen auch mit Josef Smrkovský (dem Mitglied des Parteipräsidiums), Bohumil Sucharda (Finanzminister) oder Dr. Vladimír Kadlec (Kulturminister). Was uns vom ersten Augenblick an verband, war der gleiche trockene Humor, mitunter fast schon an der Grenze des Sarkasmus – was bei den Deutschen eher eine Ausnahme zu sein scheint. Es war also klar, dass nach meiner Flucht ins deutsche Exil Gerold Benz unter den Ersten gewesen ist, die ich damals kontaktierte. Bonn war eine kleine Hauptstadt eines großen Landes. Eine landesweit koordinierte zentrale Sendeanstalt existierte nicht, was auf den deutschen Föderalismus zurückzuführen ist. Die großen Hörfunkstationen befanden sich in Köln, München, Frankfurt, Hamburg und ebenso in anderen Bundesländern. Die einzelnen Sendeanstalten unterhielten in Bonn ihre Korrespondenten, die meisten von ihnen hatten ein Büro in einem gemeinsamen Gebäude, nicht unähnlich einer großen, aber nicht allzu großen Villa. Wie schon Bonn durch seine geografische Größe eine bescheidene Hauptstadt war, so bescheiden waren auch die Büros. Das schlichte Büro von Gerold Benz war der erste Fixpunkt in meinem Exilleben. Soweit es um einige materielle Dinge des Lebens

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ging, stand ich unter Fürsorge von Fräulein Helch, Benz’ Sekretärin. Sie versorgte mich mit dem benötigten Büromaterial, im Rundfunklager für ausrangiertes Mobiliar suchte sie für mich die am besten erhaltenen Stücke aus, Teppiche inbegriffen. Sie steuerte damit die Einrichtung für unsere erste Wohnung bei, die zwar hübsch, aber komplett leer war – nur die Betten und ein Telefonapparat, der auf einem Koffer stand. Obwohl ich erst am Anfang meiner neuen Existenz stand, drehten sich unsere Gespräche an erster Stelle keineswegs um die materiellen Fragen. Benz bemühte sich vor allem darum, dass ich mich in der neuen Umgebung möglichst bald zurechtfinde. Was allerdings nicht heißen soll, dass er nicht nach Kontakten suchte, die mir eine Lebensgrundlage absichern könnten. Durch die jüngsten Ereignisse war die Tschechoslowakei in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Da ich selbstverständlich Deutsch sprach, konnte ich mir die Arbeit damals sogar aussuchen und musste mich vorerst nicht um unseren Unterhalt sorgen. Benz war jedoch kein 08/15-Korrespondent: In Bonn gehörte er zur Elite, wenn auch sein Heimsender Süddeutscher Rundfunk nicht zu den größten zählte. Als Mitglied der CDU hatte er ausgezeichnete Kontakte zu hochrangigen Politikern, und dies nicht nur in seiner eigenen Partei. Meiner Meinung nach verdankte er seine Autorität und Popularität der Tatsache, dass er stets seine eigene Meinung vertrat – selbst dann, wenn er wusste, dass er damit anecken würde. Als er sich später für die politische Laufbahn entschied und für den Bundestag kandidierte, wurde er über die Landesliste Baden-Württemberg in den Deutschen Bundestag und vier Jahre später bei der Bundestagswahl 1976 im Wahlkreis Karlsruhe direkt gewählt. Bei der anschließenden Wahl kandidierte er nicht mehr – obwohl er sich sicher sein konnte, dass er auch diese Wahl gewinnen würde. Er war nämlich mittlerweile zu der Überzeugung gekommen, dass die ganze Anstrengung, die er an den Tag legte, sich bei den eingeschränkten Möglichkeiten eines simplen Abgeordneten nicht lohnt. Seine Aktivitäten als Abgeordneter verfolgte ich aus nächster Nähe. Ich verbrachte in seinem Büro viel Zeit – ähnlich wie zuvor in seinem Hörfunkstudio –, und so bekam ich auch seine gründlichen Vorbereitungen zu jedem einzelnen Problem mit, das in seinem Ausschuss verhandelt werden sollte. Die jeweiligen Gesetze wurden stets in den

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Gremien aufbereitet, und dem ist auch heute so, die Plenarsitzungen waren und sind bis heute eigentlich nur noch eine Show. Benz besorgte sich jedes Mal die einschlägige Fachliteratur, lud die Experten zu sich ein oder suchte sie selbst auf. Ich durfte ihn hin und wieder begleiten und dabei weitere Persönlichkeiten kennenlernen. Benz war unter den ersten Politikern, die im Bundestagsplenum den eigenen Kanzler Helmut Kohl kritisiert haben. Ich ging mit ihm öfter ins Parlamentsrestaurant, an unserem Tisch wechselten die Abgeordneten und Minister einander ab, und es waren nicht nur seine eigenen Parteigenossen. Als Ohrenzeuge etlicher Debatten merkte ich manchmal, mit welchem Unverständnis die Diskutierenden auf Benz’ direkte und zuweilen auch sarkastische Ausdruckweise reagierten. Dabei wurde offensichtlich, weshalb er von den einen hoch und von den anderen eben nicht geschätzt wurde. Er nutzte auch andere Gelegenheiten, um mich in die Gesellschaft der mehr oder weniger wichtigen Persönlichkeiten einzuführen. Damit bereitete er mir den Weg zu meinen künftigen Kontakten und Gesprächen. In diesem Zusammenhang bemühte er sich immer darum, das Interesse an der Situation in der Tschechoslowakei zu wecken, brachte dabei meine Tätigkeit bei Index zur Sprache und warb um finanzielle Unterstützung. Mit dem Letzteren hatte er allerdings weniger Erfolg, besser gesagt: überhaupt keinen. Interesse ja – aber Unterstützung lediglich auf moralischer Ebene. Bei unseren Gesprächen erzählte ich ihm natürlich auch von mir, von meinen Erlebnissen und Lebenserfahrungen, unter anderem auch über meine Zeit auf Kuba und von meinen Treffen mit Che Guevara. Seither stellte er mich gerne als „mein Freund Bedřich Utitz, tschechischer Journalist, der Che Guevara noch persönlich kannte“ vor. Der Eindruck, den Benz damit vermutlich schinden wollte, war oft wesentlich kleiner, als er sich vorgestellt hatte. Für mich und meine Arbeit war allerdings wichtig, dass ich dank Benz eine ganze Reihe wichtiger und interessanter Persönlichkeiten kennenlernen konnte. So traf ich unter anderem den späteren Verteidigungsminister Manfred Wörner. Nach einigen Gesprächen bezweifelte ich, ob dieser Mann überhaupt Ministerqualitäten hatte, geschweige denn die des Verteidigungsministers. Einiges Aufsehen erregte dann

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Wörner durch die sogenannte Kießling-Affäre, in der er den Vier-Sterne-General und damaligen stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber wegen seiner angeblichen Homosexualität und vermeintlicher Erpressbarkeit als Sicherheitsrisiko einstufte. Der Minister schenkte der Aussage eines Strichers Glauben – noch bevor die Ermittlungen zeigten, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Wie es in der Politik oft so ist, fiel der Minister hinauf und wurde NATO-Generalsekretär. Den CDU-Politiker und Bundesschatzmeister Walther Leisler Kiep lernte ich auf eine ungewöhnliche Weise kennen. Es war nicht meine Schuld, dass sich später auch dieser Politiker nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Wie das Schicksal so spielt, wurde Leisler Kiep ein Akteur in einem der bedeutendsten Parteispenden-Skandale der Bundesrepublik. Es ging um Schwarzgeld in Millionenhöhe des Altkanzlers Helmut Kohl, um Steuerhinterziehungen und um Beträge von mehreren Hunderttausend DM, die Leisler Kiep in einer Aktentasche überbracht haben soll. Doch als ich ihn kennenlernte, lagen diese Affären noch in weiter Ferne. Eines Tages kam ich zu Benz ins Büro, als er gerade zu irgendeiner Feier oder einem Empfang aufbrechen wollte. Spontan wie er war, wollte er mich gleich mitnehmen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich für einen solchen Anlass nicht passend angezogen war. Ich hatte weder ein weißes Hemd an noch eine Krawatte. Wortlos öffnete Benz seinen Schrank, warf mir ein weißes Hemd samt Krawatte zu und sagte, ich solle mich eben umziehen. Ich tat es und bemerkte, dass ich für dieses Hemd Manschettenknöpfe brauchte. Benz schleifte mich deshalb von einem Abgeordnetenbüro ins andere, ohne Erfolg. Bis wir schließlich bei dem steinreichen Leisler Kiep angelangt waren. Dieser Millionär zog ohne auch nur mit der Wimper zu zucken seine Ärmel hoch, seine Manschettenknöpfe aus massivem Gold heraus und reichte sie mir. Am nächsten Tag suchte ich ihn auf, um ihm die Leihgabe zurückzugeben. Bei dieser Gelegenheit kamen wir ins Gespräch, er erkundigte sich nach der Situation in der Tschechoslowakei, und dieses Thema griff er dann jedes Mal auf, sobald wir uns zufällig im Flur oder sonst wo begegneten. Ein lebhaftes Interesse an der Tschechoslowakei zeigte auch der Präsident des Deutschen Bundestages Philipp Jenninger, dem ich im

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Zusammenhang mit der Tätigkeit von Index vorgestellt wurde. Benz erhoffte sich von ihm eine Unterstützung für unsere Verlagsprojekte. Jenninger war sehr freundlich, zeigte Interesse, aber wie üblich – auch seine Unterstützung blieb rein abstrakt. Ich kam mit ihm noch einige Male ins Gespräch im Parlamentsrestaurant. Auch seine politische Laufbahn endete unrühmlich, was meiner Meinung nach auf ein tragisches Missverständnis zurückzuführen war. Den Anlass dazu gab seine Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. Jenninger wollte den Zuhörern die Weltsicht und Gefühlslage der Täter und der untätigen Zeugen nahebringen und das politische Klima jener Zeit nachvollziehbar machen. Um die damals verbreiteten Denkmuster zu demonstrieren, machte er unglücklicherweise häufig von den Stilmitteln der direkten Rede Gebrauch und benutzte dabei teilweise das Vokabular der Nazipropaganda. Für die Zuhörer war es deshalb relativ schwierig, Jenningers eigene Argumentation von dem in Zitaten verwendeten Nazijargon zu unterscheiden. Jenninger wurde dafür stark kritisiert und musste im Sinne der „Political Correctness“ von seinem Amt als Bundestagspräsident zurücktreten. Dabei musste aber eigentlich jedem, der ihn kannte, klar sein, dass es vermutlich an einer falschen Betonung lag, wobei seine Absichten aufrichtig waren. Es war bereits der dritte Fall in meiner Bekanntschaft, der ein ruhmloses Ende fand. Später sollten noch weitere folgen. Zum Glück trifft es auf die folgende Persönlichkeit nicht zu. Hans Katzer war einer der profiliertesten Vertreter des Arbeitnehmerflügels innerhalb der CDU und engagierte sich in den Sozialausschüssen der Partei. Nacheinander bekleidete er wichtige Funktionen wie z. B. die des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU und des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Als Journalist nahm ich an einem Parteitag der CDU teil. Benz lud mich bei dieser Gelegenheit zu einem Abendessen ein. An unserem Tisch saß neben Katzer auch der Leiter einer Delegation spanischer Konservativer. Ohne mich zu fragen, bot Benz spontan meine Dienste als Dolmetscher an. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Spanischkenntnisse, die ich vor Jahren auf Kuba erworben und mittlerweile zum Großteil wieder vergessen hatte, zusammen zu kratzen, was mir einigermaßen glückte. Anschließend blieb ich mit Katzer alleine. Innerhalb der CDU gehörte Katzer zu jenen

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Menschen, deren politisches Denken mir am besten zusagte. Wir haben uns gut verstanden – mit dem Resultat, dass wir beide beim Verlassen des Lokals gewisse Probleme mit dem Gleichgewicht hatten. Wie es so üblich ist, trafen sich in Benz’ Büro Kollegen aus anderen Redaktionen auf ein Glas Wein. So saßen wir einmal beisammen, einige deutsche Kollegen und ich. Unter anderem wurde damals die Entscheidung irgendeiner Persönlichkeit kommentiert, die die Annahme des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verweigerte. Einer der Kollegen erwähnte, dass er eine Auszeichnung zuletzt in Afrika bekommen habe – in Rommels Armee. Daraufhin sagte ich, dass ich das interessant fände, weil auch ich ebendort eine militärische Auszeichnung erhielt – allerdings auf der anderen Seite der Front. Als ehemalige Soldaten, die jeweils in ihrer Armee unter den gleichen Bedingungen zu kämpfen hatten, konnten wir uns 25 Jahre später ohne Weiteres über unsere Kriegserlebnisse unterhalten. Dabei wurde mir bewusst, welchen Unterschied es ausmacht, wenn man unter den gleichen Bedingungen kämpft und nicht wehrlos, erniedrigt, seiner Würde beraubt, gequält, geschlagen wird und nur durch ein Wunder dem Tod entkommt. Diese Menschen können kein Verständnis für jene aufbringen, die einst auf der anderen Seite standen. Meine Freundschaft zu Benz beruhte vermutlich insbesondere auf der Tatsache, dass wir miteinander über alles völlig offen reden konnten. Wir trafen uns regelmäßig, zu zweit und auch in Gesellschaft anderer, und bei diesen Treffen gewann ich eine Fülle von Erfahrungen, Informationen und Erkenntnissen. Ohne diese Zusammenkünfte hätten meine Artikel und Sendungen nicht den Zuspruch erzielen können, der ihnen zuteilwurde. Der Bundestag tagte in Bonn, Benz’ Wohnort und Wahlkreis war Karlsruhe, eine Stadt, die fast 300 km Autofahrt von Bonn entfernt ist. Sofern nicht gerade eine Tagung oder eine wichtige Veranstaltung anstand, verbrachte Benz seine Wochenenden daheim. Darüber hinaus hielt er in seinem Büro Sprechstunden ab, traf sich mit seinen Wählern und musste auch noch an diversen Feierlichkeiten teilnehmen. Für ihn und seine Familie blieb dabei nur wenig Zeit. Von den Bundestagssitzungen kehrte er oft angewidert zurück, da die Meinungen der „Bonzen“ so oder so vorgefertigt waren und eine Diskussion darüber, falls

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sie überhaupt zustande kam, sich als unnötig erwies. Nach acht arbeitsreichen Jahren hat Benz auf eine dritte Kandidatur für den Bundestag verzichtet. In einer der Vorwahlperioden hatte ich ein interessantes Erlebnis. Benz fragte mich, ob ich auf einer Versammlung der jungen CDUMitglieder seines Wahlkreises über den „Prager Frühling“ sprechen möchte. Ich sagte sofort zu. Das Interesse war lebhaft und die Diskussion lang. Bei den Gesprächen merkte ich, dass bei dieser Versammlung nicht nur die Parteianhänger, sondern auch Parteilose und Jungsozialisten anwesend waren. Aus deren Reihen kam auch die Frage, weshalb ich ausgerechnet bei einer Sitzung der CDU auftrete, wenn mir doch als Befürworter des „Prager Frühlings“ die Sozialdemokratie wesentlich näher sein müsste. Ich musste wahrheitsgemäß antworten, dass ich zuvor auch von den Jungsozialisten eingeladen worden war, auch gerne bereit war, meinen Vortrag zu halten und dabei unter Berücksichtigung der knappen Finanzmittel sogar auf mein Honorar zu verzichten. Kurz vor dem vereinbarten Termin wurde ich jedoch wieder ausgeladen – mit der Begründung, dass dieses Thema für die Vorwahlperiode ungeeignet sei, wie den Jusos von höheren Stellen mitgeteilt wurde. Kurz nachdem Benz auf seine weitere Kandidatur für den Bundestag verzichtet hat, erkrankte er an Darmkrebs. Nach der Operation ließ er mich wissen, dass der ganze Tumor entfernt werden konnte, sodass er jetzt in Ordnung sei und wir uns weiterhin regelmäßig in Bonn treffen könnten. Das taten wir auch zwei Jahre lang, bis sich sein Zustand plötzlich rapide verschlechterte. Ich konnte ihn nur noch einige Male in Karlsruhe besuchen, das letzte Mal zwei Tage vor seinem Tod. In all den Jahren im Exil war es einer der Todesfälle, die mich am meisten berührten. Nach der Beerdigung saß ich noch mit seiner Familie beisammen, und seine Frau erzählte mir, dass sie gleich nach der Operation vor zwei Jahren von den Ärzten über seinen wahren Gesundheitszustand informiert worden war. Sein ganzer Körper war bereits voll von Metastasen, man gab ihm damals höchstens ein halbes Jahr. Ihm selbst hatte man es jedoch verschwiegen, und immerhin hatte er noch zwei volle Jahre gelebt. Bis auf die letzte, relativ kurze Zeitspanne blieb Benz weiterhin ak-

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tiv und auch guter Dinge. Für mich war es jedenfalls tröstlich, dass ich beinahe bis zuletzt bei ihm sein konnte, trotz der Entfernung von Köln. Einige Jahre nach seinem Tod besuchte ich wieder eine CDU-Tagung, diesmal bereits als Berichterstatter der Zeitung Lidové Noviny. Dort traf ich seinen Sohn, den ich schon als Schuljungen kannte. Er stellte mich seiner Gattin als einen der besten Freunde seines Vaters vor. Das freute mich ganz besonders, für mich war es die Bestätigung, dass Benz unserer Freundschaft den gleichen Stellenwert beigemessen hatte wie ich selbst.

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Allgemeine Jüdische Wochenzeitung Mit der Person Benz hängt noch ein anderes Kapitel meines Exillebens zusammen. Seit seiner Schulzeit war Benz mit Werner Nachmann befreundet, einem jüdischen Jungen aus seiner Heimatstadt. Zu meiner Zeit war Nachmann Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland. Wohlgemerkt: „Juden in Deutschland“ und nicht „der deutschen Juden“. Einerseits – bis auf einige Ausnahmen – wollten sich jene Juden, die vor der Nazizeit in Deutschland lebten und nach dem Krieg wieder zurückgekehrt waren, selbst nicht zum Deutschtum bekennen, und andererseits stammte die Mehrheit der jüdischen Gemeindemitglieder ursprünglich gar nicht aus Deutschland. Zum Teil waren es eben die sogenannten „Displaced Persons“ (DP), also Juden aus ganz Europa, die sich bei Kriegsende auf deutschem Boden befanden und kein Zuhause mehr hatten, in das sie hätten zurückgehen können. Zum Teil waren es Flüchtlinge aus polnischen und russischen Gebieten, in denen die Juden auch nach der Nazi-Ära von der örtlichen Bevölkerung verfolgt wurden. Das Presseorgan des Zentralrates war das Wochenblatt Allgemeine Jüdische Wochenzeitung. Nachmann und einige weitere Mitglieder des Zentralrates beabsichtigten, das bisher strikt religiös ausgerichtete Blatt in eine politisch-kulturelle Zeitschrift umzuwandeln, selbstverständlich unter Beibehaltung der jüdischen Kontinuität. Benz schlug mich für den Posten des Chefredakteurs vor. Daraufhin wurde ich von Nachmann und Alexander Ginsburg, dem Generalsekretär des Zentralrates, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich wies gleich darauf hin, dass ich in religiösen Angelegenheiten beinahe ein Analphabet und obendrein nicht einmal Mitglied einer jüdischen Gemeinde sei. Man versicherte mir, dass dieser Umstand keine Rolle spiele, in der Redaktion gebe es genug Leute, die sich um religiöse Belange kümmerten. Bald wurden wir uns einig. Es war allerdings eigenartig, dass ich – entgegen den Gepflogenheiten in allen Redaktionen – keinen schriftlichen Arbeitsvertrag bekam, auch nicht während der drei Jahre meiner dortigen Tätigkeit. Wenn manche meiner nachfolgenden Darstellungen unter Umständen wie ein Eigenlob anmuten könnten, so sind sie dennoch notwen-

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dig, um die Entfaltung meiner Tätigkeit in diesem Wochenblatt verstehen zu können, insbesondere dann während der letzten Periode. Das Redaktionspersonal bestand aus einem weiteren Journalisten und einer Journalistin, einer Referentin für Inserate, einer Sekretärin und dem Dienstwagenfahrer. Es ist sicher nicht uninteressant zu wissen, dass keine dieser Personen jüdischen Glaubens oder zumindest jüdischer Herkunft gewesen ist. Um die Glaubensfragen kümmerte sich ein Kollege, der in seiner Kindheit bei der Hitlerjugend gewesen war. Ich habe mich ziemlich rasch eingearbeitet, meine Artikel erschienen in jeder Ausgabe. Unter meinen Kollegen, die ich schon aufgrund meiner bisherigen Tätigkeit kannte, fand ich Mitarbeiter, die sehr wohl wussten, worauf es bei der Arbeit in dieser Zeitschrift ankam. Mit dem übrigen Redaktionspersonal, männlich wie weiblich, kam ich sehr gut zurecht. In meinen eigenen Beiträgen widmete ich mich der deutschen Innen- und Außenpolitik, im Bereich der Außenpolitik galt meine besondere Aufmerksamkeit der Problematik des Staates Israel. Ich achtete stets darauf, dass nicht der Eindruck entstand, dass es sich hier mehr oder weniger um eine israelische Zeitschrift handelte – wie es in der Vergangenheit manchmal der Fall war. In diesem Sinne habe ich beispielsweise Beiträge mancher israelischer Mitarbeiter radikal eingeschränkt, die das Blatt als ihr eigenes bzw. als israelisches Sprachrohr betrachteten. Dadurch kam ich schon bald in Konflikt mit einigen Mitgliedern des Zentralrates, vor allem mit Heinz Galinsky, dem einflussreichen Vorsitzenden der größten jüdischen (Berliner) Gemeinde. Unterstützung bekam ich dabei von einigen prominenten Gremiumsmitgliedern, deutschen Juden, die sich politisch engagierten. Darunter waren zum Beispiel der Justizminister der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, ein Mitglied des Hamburger Senats (beide Sozialdemokraten), ein Mitglied der CDU-Führung in Frankfurt und ein Minister der Hessischen Landesregierung, der die liberale FDP vertrat. Von diesen Persönlichkeiten bekam ich viel Lob und Ermunterung zur weiteren Arbeit. Ebenso gewürdigt wurden meine Beiträge in den Sitzungen des Zentralrates. Zur Anerkennung meiner Arbeit trug ebenfalls die Tatsache bei, dass unsere Allgemeine auch in anderen Zeitungen oft und gerne zitiert wurde. Vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Rubrik „Stimmen der Anderen“ erschien mindestens einmal

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monatlich ein Zitat, das nicht selten meinen Kommentaren entnommen wurde. Einige der Beiträge wurden sogar komplett übernommen und publiziert, in Zusammenfassungen und thematischen Schriften, ja sogar in der empfohlenen Schulliteratur. Als Chefredakteur bekam ich Einladungen zu Kongressen und zu verschiedenen politischen wie gesellschaftlichen Veranstaltungen. Wie gesagt, die Allgemeine wurde jetzt von der Öffentlichkeit immer mehr wahrgenommen. Bei einer Redaktionssitzung kündigte ich meine Absicht an, einen Artikel über die jüdische Presse in Deutschland, bevor sie durch das Naziregime eingestellt wurde, schreiben zu wollen. Ich deckte mich mit Archivmaterial ein. Schon bei der nächsten Redaktionssitzung erklärte ich aber, dass ich diesen Artikel nicht schreiben werde. Ich legte Nachweise darüber vor, dass die damals führenden jüdischen Repräsentanten Hitlers Wirtschaftspolitik lobten und seine antijüdische Gesinnung als eine Übergangsphase abtaten. Man akzeptierte meine Erklärung zwar kommentarlos, beim Großteil der Ratsmitglieder machte ich mich damit aber nicht gerade beliebt. Im Verlauf meiner Tätigkeit bei der Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung zogen sich einige Persönlichkeiten aus Altersgründen aus dem Zentralrat zurück, einige starben – bedauerlicherweise ausgerechnet jene, die mir stets eine Stütze waren: die Befürworter der Richtung, in die ich das Blatt ganz im Sinne meines ursprünglichen Auftrags führte. Durch deren Abgang bekamen die „Fundamentalisten“ immer mehr Oberhand. Generalsekretär Ginsburg, der einst bei meiner Einstellung dabei war, schlug sich jetzt auf die Gegenseite. Die Radikalen nahmen jetzt immer mehr Einfluss, die Zeitung war ihnen zu wenig jüdisch. Ihrer Ansicht nach befasste sie sich mit Themen, die in einer jüdischen Zeitung nichts zu suchen hatten. Bei den monatlichen Redaktionssitzungen wurden immer absurdere Argumente vorgebracht. Eines Tages zeigte Galinsky ganz aufgeregt die Überschrift eines Leitartikels herum und stellte mit lauter Stimme die rhetorische Frage: „Was soll DAS in einer jüdischen Zeitung?!“ Bis heute kann ich mich daran erinnern, dass es in dem Leitartikel um die Kernwaffenrüstung ging. Ebenso laut fragte ich zurück, ob er außer der Überschrift auch den Inhalt gelesen hätte, stand auf und schlug beim Weggehen die Tür hinter mir zu. Am nächsten Tag wurde ich zu Ginsburg zitiert.

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Er gab sich halbwegs freundlich, teilte mir aber mit, dass er gezwungen sei, eine „vorsorgliche Kündigung“ auszusprechen. Ich nahm es zur Kenntnis und musste über diese unsinnige Formulierung innerlich lachen. Eine „vorsorgliche Kündigung“ gab es im deutschen Arbeitsrecht gar nicht. Das habe ich ihm auch gesagt. Während meiner gesamten Tätigkeit bei der Allgemeinen stand ich natürlich im engen Kontakt mit Benz. Er vermittelte mir weiterhin wertvolle Kontakte, und außerdem war er einer der geschätzten Autoren des Blattes. Als sich die Situation zwischen mir und dem Rat zuspitzte, sprach Benz darüber selbstverständlich mit Nachmann. Der jedoch steckte inzwischen selbst in Schwierigkeiten, die „Fundamentalisten“ fanden ihn zu wenig jüdisch orientiert, dafür zu deutschlastig – und so wackelte auch seine Position des Ratsvorsitzenden. Er hatte gerade andere Sorgen und Prioritäten als sich gegen die einflussreichen Mitglieder des Rates zu stellen bzw. in meiner Sache zu engagieren. Ich setzte meine Arbeit unbeirrt fort. Mitte Dezember teilte mir Ginsburg lakonisch mit, dass die „präventive Kündigung“ zum 1. Januar in Kraft treten werde. Ich wies darauf hin, dass dies nach deutschem Arbeitsrecht nicht möglich sei, und falls er mich loswerden wolle, so könne er mich unter Einhaltung der gesetzlich festgelegten Dreimonatsfrist kündigen. So lange ich keine ordnungsgemäße Kündigung erhalte, so lange werde ich auch auf meinem Arbeitsplatz verharren und weiter arbeiten wie bisher. Als ich nach dem 1. Januar in die Redaktion kam, saß auf meinem Platz der ehemalige Chefredakteur, mit dem ich eigentlich ein recht gutes Verhältnis hatte. Ziemlich verlegen erklärte er mir, dass er beauftragt worden sei, die Redaktionsleitung zu übernehmen. Höflich wies ich ihn darauf, dass er dazu keine Berechtigung habe. Wir riefen Ginsburg an, der auf seine „präventive Kündigung“ pochte. Ich wiederum wiederholte meinen Standpunkt, dass eine derartige Kündigung ein blanker Unsinn sei. Dennoch forderte er mich auf, meine Arbeit dem Nachfolger zu übergeben. Ich verlangte seine ausdrückliche Anweisung zum Verlassen der Redaktion. Als Ginsburg in seiner Eigenschaft als Herausgeber diesen Verweis ausgesprochen hatte, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass seine Vorgehensweise ungesetzlich sei und jede weitere Verhandlung vor Gericht stattfinden werde. Damit hatte Ginsburg allerdings nicht gerechnet.

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Ich suchte einen Rechtsanwalt auf, der mir von einem Freund empfohlen wurde. Dieser Freund war ein Unternehmer und mit dem Anwalt äußerst zufrieden, wie er mir versicherte. Der Rechtsanwalt hörte sich mein Problem an und riet mir, von einer Klage abzusehen, da es „in diesem Land“ nicht gerade ratsam sei, eine „jüdische Institution“ zu verklagen. Daraufhin wurde ich sehr ungehalten, sagte ihm, dass ich auf solche Ratschläge gerne verzichte und ging wieder. Ich wandte mich an den Deutschen Journalistenverband, der mir umgehend einen ihrer Anwälte zur Verfügung stellte. Wir gingen vors Gericht, wo ich auf einen sichtlich überraschten und nun deutlich verlegenen Ginsburg traf. Die Gerichtsverhandlung war sehr kurz – eine Präventivkündigung existierte nicht und war somit gegenstandslos. Da eine vernünftige Zusammenarbeit nicht mehr möglich war, erklärte ich mich mit einem Kompromissvorschlag meines Rechtsanwalts einverstanden und war bereit, die Redaktion nach Erhalt einer Abfindung in Höhe von drei Monatsgehältern zu verlassen. Ginsburg akzeptierte und wir trennten uns. Doch damit war das Kapitel Allgemeine noch nicht definitiv abgeschlossen. Etwa anderthalb Jahre später lud mich Benz in ein elegantes Hotel in Bonn ein. In der Lobby wurden wir bereits von Nachmann und Ginsburg erwartet. Kurz und gut – was war, das ist vorbei – Benz war wieder bereit, für die Allgemeine zu schreiben, und bat mich, auch wieder Beiträge für die Zeitung zu liefern. Und so kam es, dass ich für das Blatt eine gewisse Zeit als externer Autor gearbeitet habe. Kurz nach Benz’ Tod verstarb auch sein Freund Werner Nachmann. Selbst wenn es sarkastisch klingen mag, es geschah gerade zur rechten Zeit: Kurz nach seinem Tod im Jahre 1988 wurde gegen Nachmann der Vorwurf laut, er habe in der Zeit von 1981 bis 1987 rund dreiunddreißig Millionen DM an Zinserträgen aus den Wiedergutmachungsgeldern der Bundesregierung veruntreut. Der tatsächliche Verbleib der Gelder gilt bis heute als weitgehend ungeklärt, obwohl sich vor allem Nachmanns Amtsnachfolger Heinz Galinski jahrelang intensiv um die Aufklärung der Angelegenheit bemühte. Die jüdischen Gemeindefunktionäre verdächtigten Ginsburg der Mitwisserschaft an den Unregelmäßigkeiten und zwangen ihn zum Rücktritt. Trotz entsprechender informeller Bemühungen seitens des Zentralrats sah allerdings die (in

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Sachen des verstorbenen Nachmann) ermittelnde Karlsruher Staatsanwaltschaft keinen Grund, Ermittlungen gegen Ginsburg einzuleiten. In den Medien wurden Nachmann und Ginsburg kaum erwähnt, und da musste ich an den Rechtsanwalt denken, den ich seinerzeit abgelehnt hatte. Ich muss zugeben, dass ich weder in dem einen noch in dem anderen Fall eine Genugtuung verspürte, dafür aber eine ordentliche Wut. Bei Nachmann fand ich es gewissermaßen tröstlich, dass mein Freund Benz diese Schande nicht mehr miterleben musste.

Abb. 9: Im Arbeitszimmer in der Überlingerstraße in Köln.

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Die Welt Zu meinen bisherigen Erfahrungen im Hörfunk gesellten sich Erfahrungen in einem Wochenblatt. Jetzt fehlte mir nur noch die Erfahrung in einer Tageszeitung. Zu diesem Job verhalf mir einer meiner deutschen Kollegen, dem ich während seiner Tätigkeit beim Deutschlandfunk meine Sendevorschläge unterbreitete und der später zu der Tageszeitung Die Welt wechselte, in der er Kulturredakteur wurde. Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, in seiner Redaktion während der Sommerzeit drei Monate lang auszuhelfen. Zu dieser Zeit wurde die Chefredaktion von Peter Boenisch geleitet. Dem ehemaligen Chefredakteur der als rechtslastiges Boulevardblatt geltenden Bild-Zeitung wurde zunächst von vielen Lesern kein besonderes Vertrauen entgegengebracht. Nach seinem Abgang von der Bild-Zeitung änderte er sich aber geradezu radikal. Natürlich wandte er sich keineswegs den Linken zu, aber jetzt verfolgte er eine sehr vernünftige und objektive Politik. In diesem Sinne veränderte er die politische Ausrichtung der Zeitung. Das war auch der Grund dafür, warum ich den Job angenommen habe. Die Redaktion war nach amerikanischem Vorbild gestaltet: In einem großen Saal standen Dutzende Schreibtische. Bald merkte ich, dass es sich sogar in einer solchen für mich ungewohnten Umgebung sehr gut arbeiten lässt. Wenn man mit jemandem etwas zu klären hatte oder etwas hinterfragen musste, stand man einfach auf und ging hinüber zum Kollegen, gegebenenfalls direkt zum Chefredakteur. Ebenso musste der Redaktionsleiter nicht erst zum Hörer greifen, wenn er etwas mit seinem Redakteur besprechen wollte, auch er ging die paar Schritte zu ihm. Erstaunlicherweise herrschte in der Redaktion kein Lärm, und das, obwohl die Menschen ständig miteinander redeten. Zuerst war ich enttäuscht, dass ich der Inlandsredaktion und nicht der Auslandsredaktion zugeteilt wurde, gewöhnte mich jedoch schnell ein, und die Arbeit gefiel mir. Die Inlandsredaktion war auf der linken Seite, die Auslandsredaktion auf der rechten Seite des Raumes; ich konnte es nicht lassen und besuchte hin und wieder die „Ausländer“, mit denen ich mich ausgezeichnet verstand. Ich lernte den neuen Boenisch (jenseits der Boulevardpresse) kennen, der immer strikt auf die Ausgewogenheit des Blattes achtete. In

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dieser Zeit wurde gerade Václav Havel der Prozess in Prag gemacht. Ich bekam von Boenisch den Auftrag, die Verhandlungen genau zu verfolgen und darüber laufend zu berichten. Ich setzte mich im Nebenraum ans Telefon und war ständig mit Frau Tigrid in Paris verbunden, die wiederum einen heißen Draht nach Prag hatte. Sie war durchgehend nicht nur über den Prozessverlauf informiert, sondern auch darüber, was sich vor dem Gerichtsgebäude abspielte und überhaupt über alles, was sich sonst in dieser Angelegenheit tat. Ich habe diese Informationen redaktionell aufbereitet und leitete sie weiter an die Auslandsredaktion. Dadurch war Die Welt in Bezug auf den Havel-Prozess die bestinformierte Zeitung der Bundesrepublik. Knapp vor Ablauf der Dreimonatsfrist wurde ich gefragt, ob ich meine Tätigkeit nicht um weitere drei Monate verlängern wolle. Ich ging zu Boenisch und knüpfte meine Zusage an die Bedingung, dass ich nach Ablauf dieser Frist einen Vertrag mit unbefristeter Festanstellung bekomme. Mit einem Vollzeitjob in der Redaktion hätte ich nämlich riskiert, dass meine Kontakte zu verschiedenen Institutionen, für die ich bis zu diesem Zeitpunkt freiberuflich gearbeitet hatte, nach und nach abreißen würden. Es wäre für mich daher sehr schwierig, nach einer halbjährigen Pause diese Kontakte wieder herzustellen. Boenisch sah das ein und entsprach meinem Anliegen. Doch es dauerte nicht lange, und die Situation änderte sich radikal: Die Leitung des Springerkonzerns machte plötzlich einen Rechtsruck, Boenisch schien ihr auf einmal zu liberal. Er musste die Redaktion schließlich verlassen. Und damit endete auch mein Gastauftritt in der Welt. Meine Freunde, die mir bis dahin vorgehalten hatten, dass ich in einem rechtsgerichteten Blatt arbeite, hat Boenischs erzwungener Abgang immerhin davon überzeugen können, dass meine Einschätzung seiner Persönlichkeit offenbar richtig war.

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Weltreisen Irča und ich hatten ein gutes Einkommen, wenn auch nicht gerade übermäßig hoch. Dennoch gehörten wir zu den wenigen, die weder eine Eigentumswohnung noch ein Einfamilienhaus besaßen. Andererseits gab es kaum jemanden, der so viel auf Reisen ging wie wir beiden. Es gibt kaum ein Land in Europa, das wir nicht besucht hätten, in den ersten Jahren als Camper, später stiegen wir in Hotels ab, in Spanien auch in „Paradores“ (ehemaligen Herrenhäusern, die zu Luxushotels umgestaltet wurden). Gleich zweimal besuchten wir Nordamerika, das wir kreuz und quer bereisten. Außerdem waren wir in Ägypten, Marokko, auf den Kanarischen und Balearischen Inseln ... Wir haben niemals bereut, dass wir deshalb kein Vermögen angehäuft haben. So haben wir zum Beispiel in Nordamerika ein Flugticket gekauft, mit dem wir uneingeschränkt alle Orte Amerikas anfliegen konnten. Dies allerdings nur von Denver aus, dem Sitz der Fluggesellschaft. Wir haben beinahe alle Nationalparks gesehen, aber auch New York, San Francisco, Las Vegas ... Durch unzählige Gespräche, vor allem mit den tschechischen Emigranten, bekamen wir einen allgemeinen Überblick über das Leben in Amerika. Einem Reisenden mag Amerika als das ideale Land zum Leben erscheinen – die Amerikaner sind überaus gastfreundlich und zu den Besuchern liebenswürdig. Es gefiel uns auch, dass so gut wie jede Familie im eigenen Haus mit Garten wohnt und zu ihren Nachbarn gute Beziehungen pflegt. Sie alle waren sehr nett und hilfsbereit. Nach zwei längeren Aufenthalten in Amerika fiel uns jedoch auf, dass solche Eindrücke nur oberflächlich sind. Wir lernten das Leben in New York, aber auch auf dem Land kennen und waren uns darin einig, dass man nirgends so gut reisen kann wie gerade in Amerika. Unsere Eindrücke waren im Großen und Ganzen positiv, doch bei näherer Betrachtung der zwischenmenschlichen Beziehungen zeigte sich alsbald, dass dieser Anschein täuscht. Die Nachbarn waren zwar zueinander freundlich, aber eine tiefere Freundschaft gab es nicht. Amerika ist ein schönes Land zum Reisen, leben möchte ich dort nicht.

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Im Osten war ich nur dienstlich, im Auftrag des Rundfunks, und zwar in Russland. In diesem Land wurde ich jedoch völlig isoliert, alles war von der russischen Seite durchorganisiert. Spanien, Granada, war vermutlich das einzige europäische Land, das wir gleich zweimal besuchten. Im Jahr 1975 wohnten wir vier Wochen lang in den besten Hotels und speisten in den renommiertesten Restaurants – und in dieser Zeit gaben wir dank des Wechselkurses und den Preisunterschieden nicht mehr aus, als uns das Leben zu Hause gekostet hätte. Ein weiteres Land auf unserer Wunschliste war Ägypten. Die Menschen dort sind überaus freundlich und besonders nett. Wir reisten von Kairo bis zum Staudamm von Assuan und sahen uns die Gegend und die Sehenswürdigkeiten an. Unter anderem besuchten wie die Nekropole im Tal der Könige, und dabei hatten wir das große Glück, dass wir noch in einige der Gräber hineingehen durften, in denen es phantastische Malereien zu bewundern gibt. Kurz darauf wurden die Gräber für das Publikum geschlossen, um die Fresken vor Zerstörung durch den menschlichen Atem und Ausdünstungen zu schützen. Es war sehr lehrreich. In einem der Gräber wurde der Weg des Verstorbenen ins Jenseits dargestellt, inklusive der Auflagen, die er auf seiner Reise zu erfüllen hat, aber auch die Zehn Gebote. In Ägypten verbrachten wir insgesamt zwei Wochen und bereisten so gut wie alle Städte entlang des Nils. Auf dem Rückweg nach Kairo trafen wir zwei ältere Frauen. Sie haben uns empfohlen, nicht nur die bekannten Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Mit ihnen zusammen machten wir einen Spaziergang durch einen ägyptischen Markt – es war ein Erlebnis ganz anderer Art. Die Menschen dort merkten sofort, dass wir Ausländer sind, sie boten uns aber keine Waren zum Kauf an, sie wollten sich mit uns ganz einfach nur unterhalten! Nach Tunis fuhren wir lediglich zur Erholung, dafür war Marokko äußerst interessant. Dort waren wir mit einer Reisegruppe unterwegs. Die Reiseleiterin war eine Deutsche, die seit 20 Jahren in Marokko verheiratet war und in einer marokkanischen Familie lebte. Sie führte unsere Gruppe nicht auf den üblichen touristischen Trampelpfaden. Ihren Rat befolgend nahmen wir Süßigkeiten und Kugelschreiber mit: Wo wir auch hinkamen, dort trafen wir auf bettelnde Kinder. Mit ihr besuch-

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ten wir auch ein kleines Dorf. Bei unserem Anblick rotteten sich die Dorfkinder zusammen, um uns aus kleinerer Entfernung neugierig zu beäugen, zogen sich aber rasch zurück, als wir ihnen das Mitgebrachte schenken wollten. Der Dorfscheich hat uns später zum Tee eingeladen, wir saßen in seinem Haus auf Teppichen und tranken ein unglaublich süßes Getränk. In einem der Dörfer wurde gerade eine Hochzeit gefeiert. Unsere Reiseleiterin fragte bei der Hochzeitsgesellschaft um Erlaubnis und sagte uns dann, dass wir willkommen seien, nur auf das Fotografieren müssten wir verzichten. So konnten wir sogar bei einer marokkanischen Hochzeit dabei sein.

Abb. 10: Mit Irča in Abano (Italien) 1989.

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Zu den schönsten Erlebnissen gehörte zweifelsohne unsere Reise nach Skandinavien. Wir reisten zusammen mit dem Ehepaar Nejedlo in ihrem Mercedes. Es war ein Diesel, deshalb waren die Spritkosten in Skandinavien minimal. Wie geplant, ging unsere Reise quer durch Schweden bis in den hohen Norden mit einem kleinen Abstecher nach Finnland, danach über den Polarkreis, durch Norwegen und von dort zurück nach Deutschland. Stockholm, wo unsere Reise durch Schweden ihren Ausgang nahm, ist eine wunderschöne Stadt. Aus unserer damaligen Sicht allerdings sehr teuer. Dies galt übrigens für ganz Skandinavien. Für uns war Stockholm vor allem deshalb erschwinglich, weil wir dort bei Bekannten wohnten und uns die teuren Hotels sparen konnten. Der Weg nach Norden führte durch eine beinahe menschenleere Landschaft. Die Fahrt durch die endlosen Wälder war von Milliarden von Mücken begleitet, wer nicht darauf vorbereitet war, der hatte furchtbar zu leiden. Man riet uns, den Mückenschutz erst vor Ort zu kaufen, da jedes mitteleuropäische Mittel gegen die skandinavischen Stechmücken absolut wirkungslos sei. Der Mückenschutz musste möglichst flächendeckend auf den Hals, Gesicht und Hände auftragen werden, überall, wo es nur ging. Danach musste man sich nicht mehr vor den Mücken fürchten. Für eine tragische Demonstration dieser Gefahr sorgte Slávek Nejedlo, der unter den Wagen kriechen musste, um den verstopften Auspuff frei zu kriegen. Er krempelte seine Hosenbeine bis über die Knie hoch, und als er wieder herauskam, war die ganze freie Hautfläche von Mückenstichen übersät. Interessant dabei ist, dass die Insektenplage genau um Mitternacht restlos verschwindet und die Luft völlig rein wird. Die Biester fressen nur ab 6 Uhr bis Mitternacht, und dann ist der Spuck vorbei. Eines Tages bot uns ein Tourist auf dem Campingplatz einen Fisch an. Wir haben den Fisch dankend genommen, zerlegten ihn und haben ihn erst nach Mitternacht draußen in der Natur gebraten. Das ging dann problemlos. Unser Mercedes war nicht gerade der Schnellste, und durch die Last von vier Personen samt Gepäck sank das Auspuffrohr in bedenkliche Bodennähe. Einmal waren wir mit etwa 100 km/h auf einer schnurgeraden Straße unterwegs, als ein Auto hinter uns hupte. Es waren Schweizer. Wir winkten ihnen fröhlich zu, und sie deuteten auf unseren Auspuff – wir sagten uns noch: Ja doch, die obergescheiten Schweizer,

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wir wissen es doch selbst! Schon nach einigen zig Metern haben wir uns bei den Schweizern im Geiste entschuldigt – als wir nämlich feststellen mussten, dass der Auspuff hinter dem Wagen am Boden schleifte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Auspuffrohr abzumontieren. Wir schnallten das Ding auf dem Dachträger fest. Mit dem Auspuffrohr auf dem Dach fuhren wir Hunderte von Kilometern dahin, was unserem Mercedes das Aussehen eines Panzerwagens mit einer Kanone verlieh. Weit im Norden fanden wir schließlich eine Werkstatt, die in der Lage und willens war, den Auspuff endlich wieder in Ordnung zu bringen. Mit dem reparierten Auspuff kamen wir uns nun ganz großartig vor und wagten einen kurzen Ausflug nach Finnland. Dort erfüllte ich mir einen Lebenstraum: Ich kaufte mir ein tolles finnisches Messer. Doch die Zeit drängte, also fuhren wir bis zum Polarkreis, wo wir auch übernachteten. Das Schönste daran war, dass ich dort mit Irča den 25. Hochzeitstag gefeiert habe. Unser Hotel befand sich direkt unter einem Wasserfall ... Während des ganzen Aufenthalts in Skandinavien wohnten wir in Camps. Vor allem in Schweden gab es Holzhütten für vier Personen, komplett eingerichtet, erstklassig bestückte Küchen inklusive – billig waren sie gerade nicht, aber wir konnten es uns immerhin leisten. Auch hinter dem Polarkreis übernachteten wir in einer dieser Hütten und machten verschiedene Ausflüge in der Umgebung. Die Hauptattraktion in dieser Gegend ist jener Moment, in dem die Sonne am gleichen Punkt aufgeht, wo sie kurz zuvor untergegangen war. Wir wussten schon, an welchem Tag das Schauspiel stattfindet, und suchten nach einem Platz mit einem ganz ebenen Horizont, was sich nicht gerade als einfach erwies. Meist waren Hügel, Berge oder Bäume im Weg, bis wir schließlich doch noch einen halbwegs geeigneten Blickpunkt fanden. Nach unserer Rückkehr in das Camp kamen wir mit anderen Touristen ins Gespräch, denen wir erzählten, wie schwierig es war, einen passenden Platz zu finden, um das Naturschauspiel filmen zu können. Sie sagten nur: „Hier gleich, 200 Meter rechts ist es!“ Zu sehen, wie der riesige Sonnenball untertaucht, verschwindet und schon in der nächsten Minute an der gleichen Stelle wieder aufgeht, ist wirklich ein überwältigendes Erlebnis. Auf der Rückreise beeindruckte mich die Grabstätte von Edvard Grieg, die oberhalb der Schleuse nahe des Städtchens Bergen in den

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Felsen geschlagen wurde. Sie ist nicht zugänglich, aber immerhin gut sichtbar. In der Stadt Bergen wollten wir uns von Norwegen mit einem festlichen Abendessen verabschieden. Ich ging auf den Markt, um Lachs zu kaufen, suchte mir dort vier schöne Stücke aus. Der Verkäufer legte sie auf die Waage und sagte mir den Preis. Mir blieb die Luft weg. Ich sagte: „Doch nicht.“ Er sah mich an und meinte trocken: „Hab ich mir gleich gedacht!“ Wir haben uns für ein Restaurant entschieden, in dem man einen bestimmten Betrag zahlt und dafür so viel essen kann, wie man nur möchte. Dort haben wir mit den Nejedlos richtig luxuriös gespeist. Wunderlich fanden wir hier die amerikanischen Touristen: Wie wir alle, zahlten auch sie 25 Kronen und luden sich alles auf einen einzigen Teller – das Fleisch, die Beilage und auch die Torte. Es interessierte uns, ob sie sich noch eine zweite Portion holen würden, das taten sie aber nicht. Da kam mir eine Begebenheit in England während des Krieges in den Sinn. Unser englisches Militärcamp grenzte an das amerikanische, und die Amis luden uns einmal zum Essen ein. Wir stellten uns schön an, mit unserem Blechgeschirr in der Hand, und der Koch klatschte nacheinander hinein das Hühnchen, die Kartoffeln und oben drauf auch noch das Kompott. Nachdem ich das Hühnchen mit den Kartoffeln bekam, zog ich mein Essgeschirr blitzschnell weg und hielt den Deckel hin, sodass ich das Kompott vom übrigen Essen getrennt bekommen habe. Die Rückreise führte uns über Oslo. Unweit der Stadt wohnte der ehemalige Direktor des Tschechoslowakischen Hörfunks und somit mein einstiger Chef, Zdeněk Hejzlar, der uns in der Nähe von Oslo ein günstiges Hotel empfehlen konnte, und so haben wir noch zwei interessante Tage in Norwegens Hauptstadt verbracht, bevor wir uns auf das Trajekt nach Deutschland einschifften.

7. Zurück in die Heimat

Die zweite Heimkehr In meiner ganzen Zeit im Exil rechnete ich nicht mehr damit, dass ich je wieder heimkehren würde. Ich nahm aber an, dass sich die Situation in meinem Heimatland mit der Zeit etwas lockern und, ähnlich wie in Ungarn, schließlich eine Amnestie erlassen würde – etwa nach dem Motto: „Wer möchte, der darf zurück, und es wird ihm nichts geschehen.“ Ich war jedenfalls fest entschlossen, eine solche Gelegenheit nicht zu nutzen und nicht in ein Land unter kommunistischem Regime (wenn auch in einer abgemilderten Form) zurückzukehren. Am 20. November 1989, an meinem 69. Geburtstag, saß ich vor dem Fernsehapparat und sah mir die Massenproteste an, an denen Hunderttausende teilnahmen und mit ihren Schlüsseln dem Kommunismus die letzte Stunde einläuteten – in der Tat eine außergewöhnliche Art einer Revolution! Wenige Tage später hörte ich Alexander Dubček, aber vor allem Václav Havel, die zu den Demonstranten sprachen. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es sich hier um eine ganz andere Wende handelt – nicht um eine solche, die ich befürchtet hatte. Trotzdem habe ich immer noch mit meiner Heimkehr gezögert. Familienmitglieder und Freunde riefen jetzt immer häufiger an und wollten wissen, weshalb ich nicht schon längst in Prag sei, bis ich mich schließlich zu der Reise entschloss. Ich ging in Bonn zum tschechoslowakischen Generalkonsulat, füllte einen Fragebogen aus und gab das Formular mit meinem Reisepass ab. Gespannt wartete ich nun, was als nächstes geschehen würde. Ich war fest entschlossen, selbst bei der geringsten Komplikation einen Riesenwirbel zu machen. Einen Augenblick später wurde das Fenster am Schalter wieder geöffnet und die Beamtin schickte mich in die Botschaft um die Ecke. „Na, da haben wir’s schon!“, dachte ich noch und ging hin. Dort wurde ich bereits von einem jungen Mann erwartet, der sich als Presseattaché vorstellte. Er wies freundlich darauf hin, dass ich ein Touristenvisum beantrage, das allerdings so und so viel koste (ich denke, es waren 25 DM), obwohl ich

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ein kostenfreies Journalistenvisum haben könnte. Ich antwortete, dass ich nach Prag nicht als Journalist, sondern als Vater fahren möchte – um meine Kinder nach 20 Jahren wieder zu sehen und endlich meine Enkelkinder kennenzulernen. Dies sei mir die 25 DM absolut wert! Der Beamte stutzte kurz und meinte dann: „Nun gut, dann hole ich wenigstens Ihren Pass, damit Sie sich nicht nochmals anstellen müssen.“ Ich dankte ihm, zahlte die 25 DM und bekam das Einreisevisum. Am nächsten Tag nahm mich mein Freund Dr. Jiří Gröger in seinem Wagen nach Prag mit. Mein erster Eindruck, der mir unvergesslich bleibt: Ich stehe mit meiner Tochter Jana am Moldau-Ufer gegenüber der Prager Burg Hradschin, mit ihr gehe ich die Nationalstraße (Národní třída) entlang Richtung Wenzelsplatz (Václavské náměstí) und bringe die ganze Zeit kein einziges Wort heraus. Erst als wir am Ende der Nationalstraße angelangt waren, galt meine erste Bemerkung der „Neuen Szene“ des altehrwürdigen Nationaltheaters, genau genommen deren Architekten. Den Kerl hätte man meiner Meinung nach einsperren sollen! Dafür, dass er mit seinem aufgeblähten Ungetüm den schönen Ausblick auf das alte Nationaltheater verstellte (dieser Meinung bin ich übrigens heute noch). Die Heimkehr war von einigen sehr simplen Erlebnissen geprägt: ein Krug Bier mit einer dicken Schaumkrone, ein gutes Gulasch mit Serviettenknödel und in einem Imbiss am Wenzelsplatz die obligate tschechische Bratwurst, gebraten wie eh und je in angebranntem Fett. Die Familienzusammenkunft spielte sich keineswegs so dramatisch ab, da wir uns während der Ferien bereits seit einigen Jahren regelmäßig in Ungarn getroffen hatten. Unter den ersten Menschen, die ich jetzt kontaktierte, war Jiří Hanák. Am Telefon meinte er trocken „Du rufst gerade zur rechten Zeit an! Morgen kannst du mich im Kaufhaus Kotva abholen – am letzten Tag meiner Karriere als Lagerarbeiter.“ Ich tat es und bekam prompt meine erste Lektion erteilt. Ich sagte Hanák, dass ich mich in Prag länger aufhalten werde als ursprünglich angenommen und mir deshalb einige Hemden kaufen müsse. „Das ist leichter gesagt als getan“, antwortete er. Als wir die Rolltreppe hinunterfuhren, konnte ich von oben die Herrenabteilung sehen, drehte mich zu Hanák und rief: „Was redest du da für ein’ Scheiß, da drüben gibt es doch Hemden in Hülle und Fülle!“

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Jirka neigte sich dezent zu mir und raunte mir zu: „Tschechisch verstehen hier ALLE!“ Nachdem ich von Hanák erfahren habe, dass am nächsten Tag die offizielle Wiederaufnahme der legalen Tätigkeit von Lidové noviny stattfinden werde, musste ich selbstverständlich hingehen. Ich wurde von meinen alten Kollegen Jiří Ruml, Honza Petránek und vielen anderen stürmisch begrüßt. Als sich die Wiedersehensfreude etwas gelegt hatte, bot ich an, für die Zeitung regelmäßige Beiträge aus Deutschland zu liefern. Interesse war vorhanden, mein Angebot wurde mit Begeisterung angenommen. Von nun an arbeitete ich in Deutschland als offizieller Berichterstatter von Lidové noviny – bis zur Übernahme des Blattes durch den Schweizer Medienkonzern Ringier. Ich bekam eine ordnungsgemäße Akkreditierung (und nach einiger Zeit sogar Honorare). Zum Abschied schenkte mir Jiří Ruml ein Bündel der letzten, noch illegalen Ausgaben von Lidové noviny. Als ich dann damit den Wenzelsplatz hinunter ging, drehte ich unwillkürlich das Zeitungsbündel so, dass das Logo nicht zu sehen war. Unmittelbar darauf fiel mir ein, wie unsinnig diese automatische Handlung war – Lidové noviny öffentlich unterm Arm zu tragen, war keine Straftat mehr, eher eine Würde. Bis zum Jahr 2006 lebten wir weiterhin in Köln. Irča fuhr mit mir des Öfteren nach Prag, wollte aber nicht dauerhaft zurückkehren. Sie befürchtete, dass dies einer neuerlichen Emigration gleichkäme. Ich bedrängte sie nicht und habe ihren Standpunkt akzeptiert, da ich wusste, wie schmerzhaft und schwer die erzwungene Übersiedlung im Jahr 1968 für sie war. Die Anfänge in einem fremden Land, dessen Sprache sie kaum beherrschte, sind für sie um vieles härter gewesen, als es bei mir der Fall war. Ich allerdings verbrachte in Prag jeweils gut ein Viertel des Jahres, alle meine kurzen wie längeren Aufenthalte in Prag zusammengerechnet. Die Schriftstellerin Hermína Franková, Irčas Studienkollegin und beste Freundin, besaß unweit des Stadtzentrums eine Einzimmerwohnung. Die meiste Zeit des Jahres, soweit es die Wetterlage zuließ, lebte sie aber in ihrem Haus auf dem Land. Wir konnten daher ihre Prager Wohnung sehr oft nutzen. Ich wollte in Prag einen Fixpunkt haben und bat deshalb Hermina, mir einen halben Schrank zu vermieten. In diesem Schrank brachte ich meine Wäsche und Reservehosen unter. Vorübergehend war es mein Prager Zuhause.

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Nach einiger Zeit sprach ich mich mit meinem Sohn Pavel ab, wir leg­ten Geld zusammen und kauften uns eine Zweizimmer-Genossenschaftswohnung in einem Plattenbau. Später wurden diese Wohnungen privatisiert und die Genossenschaft wurde in eine Eigentümergemeinschaft umgewandelt. Dank der guten Arbeit der Vereinsleitung konnten die Anlage und die Wohnungen in einen tadellosen Zustand gebracht wer­den, sodass hier der Begriff „Plattenbau“ seine abwertende Bedeutung verloren hatte. Pavel lebte mit seiner Familie nach wie vor in Köln, aber ansonsten hatten wir dort kaum noch wirklich gute Freunde. Irča war jetzt sehr oft krank, und als ich berufsbedingt öfter fernbleiben musste, fühlte sie sich sehr einsam. Immer öfter dachten wir darüber nach, wie unser Leben in Prag wäre – wo nicht nur unsere große Familie, sondern auch viele gute Freunde leben. Und so haben wir die Möglichkeit einer Übersiedlung nach Prag mal erwogen und ein anderes Mal wieder auf die lange Bank geschoben. Der endgültige Entschluss fiel eigentlich dank einer eher heiteren Begebenheit. Eines Tages sahen wir im Fernsehen eine Folge von Tatort, in der ein deutscher Kommissar zusammen mit seinen tschechischen Kollegen ermittelte und folglich nach Prag reisen musste. Auf dem Bildschirm sahen wir eine ganze Reihe attraktiver Stadtansichten. Irča seufzte und meinte: „Wie wunderschön das alles aussieht!“ Ich hakte sofort nach: „Siehst du ... und das könntest du doch jeden Tag haben!“ Sie überlegte kurz und sagte dann: „Na gut, dann ziehen wir eben nach Prag.“ Es war letztendlich der deutsche Krimi, der über unsere definitive Rückkehr entschied. Die Freude am Leben in unserer „neuen“ Umgebung währte jedoch nicht lange. Irča wurde sehr krank, konnte das Haus nur noch selten ver­las­sen und bald gar nicht mehr. Das reiche Kulturleben der Stadt, die Konzerte, das Theater und so weiter hat sie nur sehr kurze Zeit genießen können. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, vom Ausgehen konnte keine Rede mehr sein, und jetzt zeigte sich, wie richtig unsere Entscheidung gewesen war. Es gab kaum Tage, an denen nicht eines unserer Kinder oder Enkelkinder und natürlich auch unsere Freunde sie besucht hätten. In Deutschland wäre das im Grunde unvorstellbar gewesen. Sie konnte fast bis zu ihrem letzten Tag daheim bleiben, liebevoll umsorgt in einer Umgebung, die sie mochte.

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Reisen durch das Heimatland Solange Irča noch gesund war, reisten wir wieder – früher bereisten wir die weite Welt, jetzt waren die böhmischen Länder an der Reihe. Von Köln nach Prag fuhren wir mit dem Auto, und ich erinnere mich, dass wir anfangs immer im letzten Gasthaus bzw. Restaurant auf der deutschen Seite eine Pinkelpause einlegten. Der Zustand der Sanitäreinrichtungen auf der tschechischen Seite war nämlich richtig beschämend. Allerdings war es für die erste Zeit nach der Wende geradezu typisch, dass sich die Situation relativ rasch änderte – ich würde sagen: gleichermaßen, wie sich die Kultur im Lande zu erholen begann. Es dauerte nicht lange, und die Gasthäuser und Raststätten Tschechiens erreichten einen vorbildlichen Standard, der in keiner Weise schlechter war als in der Bundesrepublik, eher umgekehrt. Bei meinen Reisen in die ehemalige DDR hatte ich eine gute Möglichkeit, die Entwicklung in diesem Teil von Deutschland mit der Situation in Tschechien zu vergleichen. Ich behaupte, dass der Fortschritt in den „neuen Bundesländern“ deutlich dem tschechischen nachhinkte: Bei einer Reise nach Dresden musste ich bei zwei deutschen Raststätten die Flucht ergreifen und benutzte erst die dritte. Und dies nur aus allerhöchster Not. Zu jener Zeit waren die Raststätten auf der tschechischen Seite bereits auf einem durchaus zivilisierten Niveau. Beim Betrachten der Plätze in den ostdeutschen Städten fiel mir nur eine markante Veränderung auf: Überall waren die gleichen Firmennamen wie in der „alten“ Bundesrepublik zu sehen. Die Expansionsfreudigkeit der westdeutschen Firmen prägte jetzt auch das Stadtbild der altehrwürdigen historischen Stätten Ostdeutschlands. Doch zurück in die Tschechoslowakei. Anfangs boten die tschechischen Dörfer dem Durchreisenden einen jämmerlichen Anblick, so verwahrlost waren sie. Doch die schnellen Veränderungen, die wir bei unseren oftmaligen Reisen wahrnehmen konnten, waren geradezu erstaunlich. Plötzlich hatte man nicht mehr das Gefühl, dass man sich vor Deutschen, die hierher kamen und auf den tschechischen Straßen unterwegs waren, schämen müsste. Ganz im Gegenteil: Man konnte sogar stolz darauf sein, wie rasch sich da alles zum Besseren wendete.

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Wir besuchten Písek, die Stadt, in deren Nähe Irča einst ihre Jugend verbrachte. Dort standen wir auf einer mittelalterlichen Steinbrücke und schauten hinüber zu den Häusern am anderen Flussufer. Der beklagenswerte Zustand der Häuser am Kai und auch in der Straße, die wir von der Brücke noch einsehen konnten, hielt uns davon ab, hinzugehen. Zwei oder drei Jahre später waren wir wieder dort, spazierten durch die Stadt, aber jetzt stellte ich fest: „Hier kann man den Atem des Wohlstands so richtig spüren.“ Die Häuser waren hübsch renoviert, neue wurden erbaut, es gab Banken, schöne Geschäfte, und das alles wurde hier innerhalb weniger Jahre geschafft bzw. neu erschaffen. Dies traf nicht nur auf Písek zu, sondern auch auf viele andere Städte in Südböhmen, die wir noch oft und gerne besuchten. Doch diese Wandlung vollzog sich nicht nur in den größeren Städten. Einmal kam ein Freund aus Deutschland zu Besuch, der nach dem Krieg aus seinem Geburtsort im tschechischen Grenzgebiet vertrieben wurde. Auf unserer Reise durch Tschechien machten wir auch einen Abstecher in seine Geburtsstadt. Was wir dort vorfanden, war jämmerlich. Sein trauriger Blick, der durch die heruntergekommene Straße seiner Kindheit streifte, machte mich zutiefst betroffen. Gut zwei oder drei Jahre später traf ich ihn wieder. Er hat mir voller Freude berichtet, dass er seine Geburtsstadt nochmals besucht habe, und diesmal konnte er seinen Augen nicht trauen. Sein Städtchen hatte sich binnen kurzer Zeit zu einem wahren Schmuckstück entwickelt. Ich halte diese Eindrücke für erwähnenswert – vor allem deshalb, weil wir bei unseren zahlreichen Reisen (wenn auch in gewissen Abständen) diese ganzen Veränderungen wesentlich intensiver wahrnehmen konnten als jene Menschen, die mit diesen Änderungen tagtäglich lebten. Selbstverständlich wurde auch Prag mit jedem Tag attraktiver, sodass ich jetzt vor den Gästen aus Deutschland mit der fortscheitenden Verschönerung des Stadtbildes geradezu prahlen konnte. Allerdings fielen nicht alle Veränderungen positiv aus. Ähnlich wie in Ostdeutschland, auch in der Prager Innenstadt siedelten sich immer mehr ausländische Firmen an und verdrängten etliche traditionsreiche Geschäfte und Firmen.

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Lidové noviny, Přítomnost, Prager Hörfunk Niemals und nirgends sonst bekam ich so viel Anerkennung wie in jenen Jahren, in denen ich für Lidové noviny tätig war. Dies nicht nur von meinen Kollegen in der Redaktion, sondern auch von jungen Journalisten aus anderen Redaktionen und ebenso von unseren Lesern. Ich würde sagen, dass meine damalige Arbeit für Lidové noviny das Fruchtbarste und das am meisten Befriedigende war, was ich im Lauf meines Journalistendaseins je tat. Woche für Woche schrieb ich rund zwei bis drei Beiträge, nicht nur als Deutschlandkorrespondent, sondern auch als kritischer Betrachter der neu aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft. Auch in Deutschland, wo ich mir inzwischen in einer anderen Rolle einen guten Namen machen konnte, schätzte man mich bald als Auslandskorrespondenten der Prager Zeitung Lidové noviny. Ich bekam Einladungen nicht nur zu jenen Veranstaltungen, zu denen üblicherweise alle Korrespondenten geladen werden, man bat mich ebenso zur Teilnahme an diversen Diskussionen, runden Tischen und ähnlichen Aktionen. Selbstverständlich war ich stets darum bemüht, dass vorrangig die tschechische Tageszeitung Lidové noviny wahrgenommen wird und meine eigene Person erst an zweiter Stelle. Mit Zustimmung von Lidové noviny organisierte ich ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Sudetenhaus in München. Wir planten, diverse Themen gemeinsam aufzugreifen, wofür wir jeweils einen deutschen und einen tschechischen Autor gewinnen wollten. Mein deutsches Pendant war der Literaturhistoriker und Schriftsteller Peter Becher, Sohn des ehemaligen Vorsitzenden der Vertriebenenbewegung und Bundestagspolitikers Walter Becher. Peter unterschied sich sehr von seinem Vater: Zur Tschechoslowakei und zu den Tschechen pflegte er eine innige Beziehung, bei Empfängen in der tschechoslowakischen Botschaft wie auch in den Residenzen der Botschafter Jiří Gruša und František Černý war er ein gern gesehener Gast. Wir beide haben uns ausgezeichnet verstanden und konnten für die gemeinsame Sache nicht nur Autoren aus beiden Ländern gewinnen – wir bekamen sogar die Zusage einer deutschen Zeitschrift, die unsere Beiträge zeitgleich mit Lidové noviny veröffentlichen wollte. Nach und nach trafen die Beiträge bei uns ein, und ich leitete sie weiter an den Chefredakteur von Lidové noviny (der

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in der Zwischenzeit vom neuen schweizerischen Zeitungseigentümer eingesetzt wurde), stets mit dem Hinweis, dass mit der Veröffentlichung erst dann gestartet werden solle, wenn alle Beiträge vorlägen. Und zwar gleichzeitig mit unserem deutschen Partner. So, wie es mit dem ehemaligen Chefredakteur von Lidové noviny zuvor vereinbart wurde. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass zwei dieser Beiträge bereits publiziert wurden, und zwar ohne den wichtigen Hinweis, dass es sich hier um eine gemeinsame tschechisch-deutsche Artikelserie handelt. Bei meinem nächsten Pragbesuch warf ich dem Chefredakteur diesen Alleingang vor und bekam prompt eine schroffe Antwort: „Was in meiner Zeitung gedruckt wird, das habe ich zu entscheiden!“ Ich konterte trocken mit: „In diesem Fall werden Sie auf meine weiteren Beiträge verzichten müssen!“ Und damit endete im Jahr 1995 meine Arbeit für Lidové noviny. Einige Tage (vielleicht Wochen) nach mir gingen auch Hanák, Ruml, Petránek, Kramer und praktisch die ganze Crème de la Crème, und die Zeitung verkam sehr bald zu einem Boulevardblatt. Diese Entwicklung entsprach völlig den Absichten des neuen Eigentümers, der natürlich wusste, dass sich mit Regenbogenpresse wesentlich mehr Geld verdienen lässt als mit einer seriösen Zeitung. Genauso gingen später auch die neuen deutschen Eigentümer vor, die nach und nach die tschechischen Zeitungen und Magazine übernahmen. Zu jener Zeit gab es schon eine ganze Reihe tschechischer Großunternehmer, doch niemand war daran interessiert, die tschechische Presselandschaft vor der Degenerierung zu bewahren. Wir alle, die Lidové noviny verlassen haben, suchten nun nach einem Betätigungsfeld in anderen Zeitungen. Eine gewisse Zeit lang schrieb ich Artikel für die Tageszeitung Práce (Arbeit), bis auch diese Zeitung von einem ausländischen Unternehmer übernommen und schließlich eingestellt wurde. Das gleiche Schicksal ereilte mich bei Svobodné slovo (Freies Wort), danach schrieb ich regelmäßige Beiträge für das Wochenblatt Týden (Die Woche), doch auch hier hatte ich den Schweizer Unternehmer Ringier auf den Fersen. Nach Lidové noviny kaufte Ringier auch Týden, der Chefredakteur Karel Hvížďala wurde von einem Tag auf den anderen entlassen, und mit ihm gingen auch viele Autoren, genauso wie schon vorher bei Lidové noviny.

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Nach meinem Abgang von Lidové noviny durchwanderte ich verschiedene Redaktionen, jeweils im Gespann mit Jiří Hanák – bis sich für uns keine geeignete Zeitung mehr fand, und Jiří Hanák schließlich zu Právo wechselte. Dorthin folgte ich ihm allerdings nicht mehr. Diese Zeitung beschäftigte nämlich noch einige Redakteure der alten Garde aus den Zeiten, als Rudé právo noch das offizielle Sprachrohr der KSČ war. Mein Argument war: „Diesen Menschen würde ich nicht die Hand schütteln wollen.“ In einer Redaktion, in der ich den Kollegen nicht die Hand reichen möchte, wollte ich nicht arbeiten. Ich habe mich nicht einmal dann umstimmen lassen, als Hanák von der Zeitung die Zusicherung bekam, dass er alles schreiben kann, was immer er auch will. Ich muss jedoch zugeben, dass ich Hanáks zahlreiche Artikel in Právo, in denen er die Regierung, das Parlament und die Regierungschefs, ja sogar den Präsidenten der Republik offen kritisierte, für den Beweis einer funktionierenden Demokratie in diesem Land halte.

Abb. 11: Feierliche Übergabe des K.-H. Borovský - Preises durch Jiří Hanák.

Ich schrieb jetzt meine Artikel für diverse Zeitschriften wie Listy, aber vor allem verfasste ich regelmäßige Beiträge für Přítomnost (Die Gegenwart). Diese Zeitschrift erschien zwar nur vierteljährlich, umso

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anspruchsvoller war jedoch die Redaktion. Ich war einer der wenigen Mitglieder des Redaktionsrates, die keinen Professoren- oder zumindest einen Doktortitel besaßen. Bei den Redaktionssitzungen wurde jeweils die letzte Ausgabe bewertet und die kommende diskutiert. Die Besprechungen waren dementsprechend lehrreich und außerdem ein echter Genuss. Doch auch diese Arbeit ging zu Ende, als der Zeitschriftinhaber Dr. Jiří Stránský den Entschluss fasste, für den Senat zu kandidieren und die Zeitschrift praktisch zu seinem Wahlinstrument machte. Die Chefredakteurin wurde entlassen, die Autoren hörten auf zu schreiben, man war offenbar auch nicht mehr an ihrer Mitarbeit interessiert. Das anspruchsvolle Profil des Blattes war dahin. Libuše Koubská, die Chefredakteurin von Přítomnost, war eine hoch gebildete und qualifizierte Journalistin, mit der ich mich ausgezeichnet verstand. Ich konnte selbst den hohen Qualitätsanforderungen des Magazins gerecht werden, meine Beiträge fanden sich so gut wie in jeder Ausgabe. Daneben machte ich mehr oder weniger regelmäßig Sendungen für den Tschechischen Rundfunk, mit besonderem Augenmerk auf die deutsche Problematik und außenpolitische Fragen. Diese Zusammenarbeit musste ich jedoch beenden, als mir meine Augen das Lesen und Schreiben nicht mehr erlaubten. Mittlerweile eignete sich auch meine Stimme für die Hörfunksendungen nicht mehr besonders gut.

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Autorentätigkeit Zu meinen ersten kleineren Werken zählten zwei Publikationen über Deutschland, erschienen in der Bücherreihe Světové rozhledy (Die Weltrundschau). Ich konnte sie jedoch in keinem Archiv mehr finden, und deshalb kann ich zu ihrem Inhalt keine näheren Angaben machen. Die Publikationen datierten aus meiner ersten Zeit beim Hörfunk und waren daher mit Sicherheit von der damaligen politischen Tendenz beeinflusst – also von der kommunistischen Betrachtungsweise eines geteilten Landes. Das nächste Buch Svědkové revoluce (Die Zeugen der Revolution) wurde während meiner Exilzeit erst in deutscher Sprache herausgegeben, kurz darauf auch in tschechischer Sprache bei Index, und 1990 folgte schließlich eine weitere tschechische Ausgabe im Prager Verlag Orbis. Diese Ausgabe hielt sich gut zwei Wochen auf der Bestsellerliste der fünf meistverkauften Bücher. Nach meiner Rückkehr nach Prag verfasste ich im Auftrag des Schriftstellerverbandes die Publikation Nemecko – nový stát v Evropě (Deutschland – ein neuer Staat in Europa), das 1996 im verbandseigenen Verlag erschien. Lidové nakladatelství (Der Volksverlag) bestellte bei mir eine Studie über die politischen Prozesse der fünfziger Jahre. Die junge Generation, die diese Ära nicht erleben musste, sollte darüber auf verständliche Art und Weise informiert werden. Das Buch erschien 1990 unter dem Titel Neuzavřená kapitola – Politické procesy padesátých let (Ein noch offenes Kapitel – Politische Prozesse der fünfziger Jahre). Irgendwo in einer Schublade habe ich noch drei unveröffentlichte Manuskripte liegen – einen durchaus interessanten Lebenslauf des Journalisten und Schriftstellers Stanislav Budín und die ursprüngliche Fassung von Goldstückers Biografie. Das dritte Manuskript besteht aus meinen Reportagen aus Kuba, ergänzt durch weitere Erlebnisse während unseres Aufenthaltes in den sechziger Jahren auf der Insel. Die Herausgabe dieses Buches war bereits mit einem Verlag vereinbart, durch die sowjetischen Panzer wurde die Veröffentlichung jedoch verhindert.

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Freunde Was trug wohl dazu bei, dass sich meine Heimkehr auch innerlich vollziehen konnte? Neben meiner Familie war es mein großer Freundeskreis. Man sagt, dass ein Mensch dort zu Hause ist, wo er aufgewachsen ist, wo er einst auf der Straße mit den Nachbarskindern spielte und wo er zur Schule ging. Die Bestätigung dafür finde ich im Leben meiner Söhne. Mir fehlt aber diese Basis: Noch im Kindesalter von 13 Jahren haben sich meine Lebensumstände von Grund auf geändert. Und als Absolvent des Deutschen Gymnasiums habe ich meine Schulkollegen bis auf wenige Ausnahmen im Krieg verloren, die einen starben auf dem Schlachtfeld, die anderen in den Konzentrationslagern. Neue Freunde konnte ich erst nach dem Kriegsende gewinnen, im dritten Jahrzehnt meines Lebens. Doch während der zwei Jahrzehnte meiner Emigration liefen diese Beziehungen erzwungenermaßen nur noch auf Sparflamme. Trotzdem konnte ich bei meiner Heimkehr nach 1990 nicht nur die alten Freundschaften wieder auffrischen, sondern auch neue, hervorragende Freunde gewinnen. Jetzt, im Alter von 90 Jahren, habe ich eigentlich nicht weniger gute Freunde als mein Sohn, der mit seinen Freunden tatsächlich schon Murmeln gespielt hat. Zurzeit treffen wir uns regelmäßig an jedem ersten Donnerstag im Monat – fünf Freunde im Alter zwischen 70 und 80 Jahren, mit meinen 90 Jahren bin ich da eine kleine Ausnahme. Es sind Freundschaften, die im sehr reifen Alter geschlossen wurden, nicht beim Murmelspiel auf der Straße oder während der Schulzeit. Ich kann behaupten, dass mein ganzes Leben von guten Freunden begleitet wurde. Doch zugleich muss ich mit Bedauern feststellen, dass ich im Laufe der Zeit viele der Freunde wieder verloren habe, noch dazu, als sie noch relativ jung waren. Verständlicherweise kamen die meisten meiner Freunde aus meinem Arbeitsumfeld. Nicht alt geworden ist Milan Weiner, ein Rundfunkstar des „Prager Frühlings“, er starb an einem Hirntumor noch vor dem Einmarsch der Russen. Als Chef der Auslandsredaktion hatte er noch vor, mich als Korrespondenten nach Berlin zu entsenden, dazu kam es aber nicht mehr.

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Der gleichen Krankheit erlag auch Miloš Jůra, ebenfalls ein Rundfunkmitarbeiter, der während der „Normalisierung“ als Rettungswagenfahrer arbeiten musste. Ihn konnte ich noch 1990 antreffen und im gleichen Jahr im Krankenhaus besuchen, kurz bevor er starb. Zusammen mit Dimitrij Radkovský bildeten wir ein Triumvirat Gleichgesinnter. Zu der Leidenschaft fürs Pfeifenrauchen, die uns ursprünglich verband, kamen dann gemeinsame Urlaube hinzu, und daraus entwickelte sich eine enge Freundschaft. Auch Míťa Radkovský ging vorzeitig, noch vor ihm starb seine Frau Máša, die in meiner Redaktion für die unzähligen Hörerbriefe zuständig war. Radkovský hat in der Zeitschrift Svět v obrazech (Die Welt in Bildern) gearbeitet, später in Svět sovjetu (Die Welt der Sowjets). Unter meinen Freunden war er der einzige, der die „Normalisierung“ schadlos überstehen konnte. Irgendwann in den Achtzigern kam er mit Máša zu uns nach Köln. Er warf mir meine Emigration vor, und darüber haben wir bis aufs Blut gestritten. Unser Streit wurde dermaßen lautstark, dass Máša, die gerade mit Irča kochte, aus der Küche angerannt kam und uns ermahnte, den Streit nicht so weit zu treiben, dass wir uns hinterher nicht mehr versöhnen hätten können. Wir nahmen uns ihren Wunsch zu Herzen, obwohl wir weiterhin an unserem jeweiligen Standpunkt festhielten. Der nächste meiner guten Freunde war der Volkswirt Radoslav Selucký. Vor der Okkupation wurde er berühmt durch sein Buch Západ je západ (Der Westen ist der Westen), das er nach seiner Emigration noch mit dem Buch Východ je východ (Der Osten ist der Osten) komplettierte. Západ je západ ist eine populär-wissenschaftliche Analyse des westlichen Wirtschaftssystems im Vergleich mit der Planwirtschaft des Ostblocks. Dieses Buch konnte zur Zeit des „Prager Frühlings“ auch in der Tschechoslowakei gedruckt werden, während das spätere Gegenstück Východ je východ bei uns im Index erschienen ist. Radek hatte mich vor Jahren auf Kuba besucht, mit ihm bereiste ich die ganze Insel kreuz und quer. Im Jahr 1968 ging er ins kanadische Exil. Er verstarb 1991 in Ottawa, bald darauf folgte ihm auch seine Frau. Zu den alten Freunden zählen ebenfalls der Neurochirurg Prof. Vladimír Beneš und seine Frau Zdena, Irčas ehemalige Kollegin aus der Apotheke im Militärkrankenhaus in Prag. Unsere beiden Familien fuh-

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ren mehrmals gemeinsam zum Zelten. 1967 sind wir zusammen nach Italien gefahren. Kurz nach der Grenze hielten wir bei einem Straßenstand an und kauften unseren Söhnen ihre erste Cola, die sich die beiden teilten (sie waren damals 14 Jahre alt ...). Als wir dann in Deutschland lebten, bekamen wir von den Beneš Jahr für Jahr eine Weihnachtkarte, die aber niemals unterschrieben war. Ihr Sohn ist ebenfalls ein anerkannter Neurochirurg geworden, und als die kommunistische Obrigkeit den Ehefrauen gestattete, ihre Männer zu einem Ärztekongress zu begleiten, konnte uns auch Zdena mit ihrer Schwiegertochter in Köln besuchen. Mit Hermína Franková war Irča schon seit ihrem Pharmaziestudium an der Prager Medizinischen Fakultät befreundet. Ich treffe mich weiterhin regelmäßig mit ihr, ihrer Tochter Helena und Enkelin Hanička. Wir gehen auch gerne zusammen essen. Nach uns emigrierten auch unsere Freunde, die Ratzenbergs, die wir seit der Zeit kennen, als ich in den fünfziger Jahren noch Bibliothekar im Krankenhaus war. Professor Efim Ratzenberg arbeitete als Anästhesiologe in der Nähe von Saarbrücken, und wir pflegten während der ganzen Zeit in Deutschland einen regen Kontakt mit ihnen. Den Arzt Dr. Nejedlo und seine Familie lernten wir in Kuba kennen. Damals war er Mitglied einer tschechischen Ärztemission, der Leiter des fachärztlichen Beraterteams war Dr. Kriegel. Auch die Nejedlos folgten uns ins Exil, doch vorher wollten sie sich noch bei uns einen Rat holen. Wir sagten ihnen: „Wenn Sie sich erst dazu entschlossen haben, dann werden Sie hier auch Fuß fassen können.“ Danach riefen sie uns schon aus München an, wo sie sich auch niederließen. Trotz der Entfernung zwischen München und Köln riss unser Kontakt nie ab. Pavel wurde in Kuba krank, die Drüsen in seinem ganzen Körper waren arg entzündet, von der Nase bis zum After. Es war furchtbar. Dr. Nejedlo kam jeden Tag vorbei, begleitete uns ins Krankenhaus und kümmerte sich um Pavel wie um sein eigenes Kind. Die einzig mögliche Erklärung für Pavels Leiden war ein Kontakt mit einer giftigen Qualle beim Baden im Meer. Nach seiner Ankunft in Deutschland fand Nejedlo bald eine Anstellung bei einem HNO-Arzt, der ihm gleich eine Dienstwohnung zur Verfügung stellte und geradezu phantastische Bedingungen gewährte.

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Bei ihm blieb Nejedlo allerdings nur zwei Monate und ging wieder, als er feststellen musste, dass sein Chef Geld scheffelte, indem er alles und ohne zu zögern operierte. Klagte jemand über Halsschmerzen, wurde er untersucht, und man redete ihm eine Operation ein – für einige Tausend DM. Auf solche Praktiken wollte sich Nejedlo nicht einlassen. Später wurde er Oberarzt an einem Münchener Krankenhaus. Die Familie wohnte beim ehemaligen Olympiadorf. Wir haben ihn dort besucht, spazierten zusammen um das Olympiastadion, und er erzählte uns dabei von seinen Plänen, stundenlang. Wir fuhren wieder heim, und nach wenigen Wochen bekam ich einen Anruf: Nejedlo war tot. Das Ehepaar war mit dem neu gekauften Wagen auf einer Vorfahrtstraße unterwegs, ein anderer Fahrer missachtete das Vorfahrtsschild, Nejedlo wollte ihm noch ausweichen, und dabei wurde sein Auto von einem Lastwagen erfasst. Er war auf der Stelle tot, seine Frau lag lange Zeit im Krankenhaus. Die Familie blieb in Deutschland, die ältere Tochter Ilona studierte Medizin und ist heute leitende Ärztin, ebenfalls in München. Ihre Schwester Renate wurde ebenfalls Ärztin, heiratete und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Zu ihnen allen habe ich heute noch ein inniges Verhältnis. Es ist interessant festzustellen, dass zu meinen engsten Freunden auch jene Tschechen gehören, mit denen ich erst im Exil Freundschaft geschlossen habe. Darunter ist zum Beispiel František Černý, der einst beim tschechoslowakischen Auslandshörfunk in meiner Redaktion arbeitete und zu den wenigen nichtkommunistischen Journalisten zählte. Damals waren wir lediglich Kollegen, wir haben zwar unsere Meinungen gegenseitig respektiert, aber außerhalb der Redaktion gab es keinerlei Kontakte. Seine Tochter emigrierte 1980, und wir, die Familie Utitz, dienten ihr als Zufluchtsort. Als ihr Vater die erste Ausreisegenehmigung bekam, hat er seine Tochter bei uns getroffen. Das Wiedersehen von Vater und Tochter würde ich nicht gerade als rührend bezeichnen – es glich eher einem Lustspiel. An diese Art Kommunikation zwischen den beiden haben wir uns dann später gewöhnt – als die Tochter nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder heimgekehrt war. Mit Franta Černý freundete ich mich aber erst dann an, als ich öfter in Prag weilte. Die Dankbarkeit für die Hilfe, die wir seiner Tochter zukommen ließen, spielte keine Rolle mehr, maßgebend waren jetzt un-

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ser offener Meinungsaustausch und lange Diskussionen. Ich kann mich noch erinnern, wie wir einmal, ganz vertieft in eine Debatte, den Wenzelsplatz gleich zweimal hintereinander auf und ab spazierten. Unsere Ansichten darüber, wie es hier laufen sollte (seine Vorstellungen kamen mir völlig illusorisch vor), gingen auseinander, wie einst zu Zeiten unserer Tätigkeit beim Hörfunk, aber wir respektierten einander. Jetzt mutierte er beinahe zu einem Kommunisten! Franta Černý wurde zur zentralen Figur unserer „Donnerstagsrunde“. Wir trafen uns mehr oder weniger regelmäßig zunächst in einem Lokal, später dann in meiner Wohnung, die für größere und nicht selten laute Gesellschaften genug Platz bot. Sie alle gehören zu jenen, die ich erst nach meiner Rückkehr aus der Emigration als Freunde gewonnen habe. Der einzige Freund aus meinen alten Zeiten war Jiří Hanák. Luboš Dobrovský war vor meiner Emigration lediglich ein netter Redaktionskollege gewesen. Jan Hon, den ehemaligen Generalkonsul in Deutschland und „nebenberuflich“ Hanáks Schwager, lernte ich in Bonn kennen. Mehr oder weniger per Zufall gesellte sich zu uns vieren auch der Historiker Jan Křen, und mit der Zeit waren wir sechs. Gerne kam auch der ehemalige Dissident Jiří Dienstbier, doch als er dann Senator wurde, musste er aus Zeitgründen auf unsere Treffen verzichten. Irgendwann fanden wir es mühsam, jedes Mal über den Zeitpunkt unseres nächsten Treffens hin und her zu diskutieren und einigten uns kurzerhand auf jeden ersten Donnerstag im Monat. Ohne auf die Bedeutung der legendären Masaryks Freitagsrunden anspielen zu wollen, nannten wir uns jetzt die Donnerstagsrunde, und die wurde bis heute zu einer beständigen und zuverlässigen Institution, aber vor allem ist es ein Bündnis von Freunden. Zu meinem Freundeskreis gehört ebenso die allseits beliebte Jiřina Šiklová. Anfangs kannten wir uns sozusagen nur indirekt: Ich verpackte in Köln die Buch- und Zeitschriftensendungen, die dann nach Prag gebracht wurden. Vor Ort kümmerte sich Jiřina Šiklová um die Weiterleitung. Im Unterschied zu meiner Arbeit war ihre Aufgabe unvergleichlich gefährlicher. Damals wussten wir allerdings noch nichts voneinander. Persönlich lernten wir uns erst kennen, als ich nach Prag zurückkehren durfte. Wir freundeten uns sehr bald an. Ich übernachtete anfangs öfter in ihrer Wohnung, und sie machte mich mit vielen interes-

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santen Menschen bekannt. Ihre Wohnung ist im Grunde wie ein kleines Hotel: Ruft man dort achtmal an, so hat man fünfmal kein Glück, aber dreimal wird doch der Hörer abgehoben, und zwar von demjenigen, der dort gerade wohnt. Jedes Treffen mit Jiřina beschert mir neue und interessante Erkenntnisse. Einmal wurde ich für eine Auszeichnung vorgeschlagen, ich weiß nicht mehr, worum es da ging. Jedenfalls galt die Verleihung an mich bereits als sicher, und Jirka Hanák rief mich an, um mich darüber im Vorfeld zu informieren. Nach ihm rief aber Jiřina an und sagte mir: „Bedřich, du darfst mir jetzt nicht böse sein, du bekommst die Auszeichnung doch nicht! Es ist schon längst an der Zeit, dass endlich ein Zigeuner geehrt wird, also setzte ich Karel Holomek19 durch ...“ Nur jene, die Jiřina kennen, werden auch verstehen, dass man ihr nicht einmal wegen so etwas böse sein kann.

19 Karel Holomek ist Roma. Er engagiert sich im Kampf für Menschenrechte und Völkerverständigung.

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Pfeifen Ich war noch nicht einmal 13 Jahre alt, als mich mein Vater beim Rauchen meiner ersten Zigarette erwischte. Er sagte nichts, bot mir aber nach dem Essen eine Zigarette an. Ich wusste, was es bedeuten soll, und schämte mich. Mein Vater (selbst ein Raucher) schimpfte nicht, er erklärte mir ganz ruhig, was für ein Blödsinn es sei – aber vor allem legte er mir nahe, sollte ich irgendwann wieder rauchen wollen, dann soll ich es nicht heimlich tun, sondern es ihm sagen. Nicht einmal ein Jahr später starb er. Während meiner ganzen Schulzeit habe ich keine einzige Zigarette mehr geraucht, erst nach dem Abitur zündete ich mir mit meinem Freund eine Pfeife an. Und bei der blieb ich bis zum heutigen Tag. In meinem ganzen Leben gab es zwei kurze Perioden, in denen ich zu einer Zigarette griff. Das erste Mal im Krieg, als es kaum einen Moment Entspannung gab, die man allerdings braucht, um die Pfeife überhaupt genießen zu können. Ich fing an, Zigaretten zu rauchen, hörte damit aber bald wieder auf – aus einem kuriosen Anlass: Plötzlich habe ich mich selbst gefragt, weshalb ich eigentlich rauche, obwohl ich doch ganz genau weiß, wie gesundheitsschädlich die Zigaretten sind. Diesen Gedanken, ausgerechnet in jener Zeit, in der ich praktisch unter permanenter Lebensgefahr stand, fand ich im Nachhinein völlig absurd. Dennoch habe ich die ganze Zeit über Päckchen mit britischem Tabak gesammelt und in einem leeren, luftdichten Munitionskistchen aufbewahrt – für die Nachkriegszeit. Das Kistchen füllte sich dank meiner Tante Julie, die damals im Exil lebte, aber auch andere Freundinnen schickten mir an die Front regelmäßig Tabakpäckchen. In einem zweiten Kistchen hortete ich Zigaretten. Als ich dann in Gefangenschaft geriet, verkauften meine Kameraden die Zigaretten, und den Erlös legten sie für mich auf ein Sparbuch. Die eine Kiste mit Tabak vollzustopfen, erwies sich hinterher als durchaus weise Entscheidung: Diesen Vorrat an gutem Rauchzeug habe ich in meinem späteren Zivilleben besonders geschätzt. Einerseits hatte ich lange Zeit einen hochwertigen Tabak zur Verfügung, und andererseits musste ich den Tabak mit niemandem teilen, wie es bei Zigaretten der Fall wäre – die hätte ich wohl oder übel nach und nach verschenken müssen.

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Im Laufe der Zeit schloss ich Freundschaften mit anderen Pfeifenrauchern. Gleich eingangs will ich anmerken, dass die Pfeifenraucher außergewöhnliche Raucher sind. Wenn man auf der Straße an einem Mann, der eine Pfeife raucht, vorbei geht und sein Tabakaroma angenehm duftet, ist es selbstverständlich, dass man diesen Mann anspricht und nach seiner Tabakmarke fragt. Nicht nur, dass er die Marke bereitwillig preisgibt, er bietet Ihnen sogar eine Kostprobe seines Tabaks an – und schon ist man dabei, sich über Erfahrungen und Interessen auszutauschen. Zwei meiner engen Freunde, Miloš Jura und Dimitrij Radkovský, begannen ebenfalls Pfeife zu rauchen, und gerade durch diese gemeinsame Passion wurde unsere Freundschaft noch mehr gefestigt. Als sie mich in Köln besuchten, nahm ich sie in das beste Fachgeschäft mit, wo wir uns drei Pfeifen gleicher Marke kauften. Mit großem Bedauern muss ich sagen, dass sich alle drei Pfeifen heute in meinem Besitz befinden. Zu meinen interessantesten Features gehörte zweifelsohne auch meine Studie über die Pfeifenraucher. Diese Sendung brachte mir die Einladung zu einer Sitzung des Internationalen Tabakskollegiums (ITK) ein, ich wurde Mitglied und später sogar Verbandspräsident. Unter anderem wurde ich auch zu einem Kongress der britischen Tabakherstellerzunft eingeladen. Dort wurde ich, genauso wie bei den öffentlichen Veranstaltungen des ITK, als tschechoslowakischer Präsident des ITK vorgestellt. Diese Ehre wurde mir zuteil, nachdem ich mich bei einigen Tagungen des ITK, an denen zuweilen bis zu 200 Personen teilnahmen, in die Debatten einklinkte: Ich bemühte mich dabei, die ellenlangen Diskussionen mit nicht enden wollenden Wiederholungen der stets gleichen Meinungen auf den Punkt zu bringen und kurz und bündig zusammenzufassen. Daraufhin wurde ich zur Generalversammlung eingeladen und bei dieser Gelegenheit gleich für die Funktion des nächsten Präsidenten des ITK vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Außer dem Vorstand hat das ITK keine weiteren eingetragenen Mitglieder, dafür aber einen beachtlichen Besucherstamm, der den Vereinssitzungen regelmäßig beiwohnt. Auf den ersten Blick mag es bloß als jugendlicher Jux erscheinen, aber dem ist nicht so. Das

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Kollegium zieht Politiker, Künstler und Wissenschaftler an, Intellektuelle aller Couleur sowie weitere interessante und angesehene Persönlichkeiten, die ihrer Leidenschaft für die Pfeife in erlesener Gesellschaft Gleichgesinnter frönen wollen. Auch der Direktor der Cola-Werke kam gerne. Natürlich kommen stets Leute aus der Branche, Pfeifenhersteller aus England und Japan.

Abb. 12: Im Senatorstalar des Tabakskollegiums, Miltenberg.

Meine Zeit wurde immer knapper, und die unzähligen Reisen machten mir immer mehr zu schaffen, was mich schließlich dazu bewog, die Präsidentschaft niederzulegen. Ich wurde zum Ehrenpräsidenten ernannt, auch heute noch werde ich zu den Jahresversammlungen eingeladen, und die Vorstandsmitglieder statten mir ab und an einen Besuch ab. Mittlerweile besitze ich eine richtige Pfeifensammlung. Das ist nämlich so: Feiert ein Pfeifenraucher Geburtstag, was bekommt er geschenkt? Eine Pfeife! Und ein Pfeifenraucher bringt es nicht fertig zu sagen: „Schluss jetzt damit, ich habe bereits genug davon.“ Das Mekka der Pfeifenraucher ist der Dunhill-Shop in London. Eine Dunhill ist sozusagen der Ferrari unter den Pfeifen. Als ich England besuchte, ging ich direkt zum Dunhill-Shop – und dort musste

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ich feststellen, dass dieses Prachtstück in England um einiges billiger zu haben ist als in Deutschland. Einige Zeit später kam Mister Dunhill höchstpersönlich nach Köln in den Laden, in dem ich immer meine Pfeifen und Tabak kaufte. Der Geschäftsführer, mit dem ich befreundet war, stellte mich vor. Wir kamen ins Gespräch, und nach einer Weile stellte ich ihm die Frage: „Mit Verlaub, Mister Dunhill, würden Sie mir bitte erklären, wie es nur möglich ist, dass Ihre Pfeifen in London zu einem wesentlich niedrigeren Preis verkauft werden als in Deutschland?“ „Na ja, dazu müsste man die zusätzlichen Kosten wie Steuern, Zölle und so weiter kennen ...“, lautete die Antwort. Doch der Geschäftsführer meinte nur: „Lassen Sie’s bleiben, Mister Dunhill. Solange die Deutschen genug Geld haben, würden sie für eine Dunhill sogar noch mehr bezahlen ...“

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Zusammenarbeit mit Dissidenten Nach und nach stellte ich die Kontakte zu meinen alten Freunden und Kollegen wieder her. Dabei spürte ich keinerlei Neid (etwa in der Art: „Ja, euch im Westen ging es doch prächtig, während wir hier ...“), weder unmittelbar nach meiner Rückkehr noch später. Einigen Kollegen ging es damals tatsächlich miserabel. Um sich über Wasser zu halten, arbeiteten sie in Heizkellern, putzten Geschäftsauslagen oder rodeten Teichufer. Ein ehemaliger Dissident, den ich erwähnen möchte, ist Jiří Dienstbier, ebenfalls ein alter Redaktionskollege. Wir kamen uns erst näher, als er bereits Außenminister und Galionsfigur der Bewegung Občanské forum (Bürgerforum) war. Auch wir wurden Freunde. Ich erinnere mich noch daran, wie er mich eines Tages anrief, um sich mit mir in irgendeiner Angelegenheit zu beraten. Damals sagte ich ihm: „Nun gut, jetzt will ich mit dir nicht wie mit einem leitenden Funktionär des Bürgerforums sprechen, sondern wie mit dem Auszubildenden, der sich bei mir einst seine ersten Sporen verdiente. Heute habe ich nach 20 Jahren genug Erfahrungen, wie in einer offenen Gesellschaft Politik gemacht wird. Und das geht sicher nicht mit der Einstellung: ‚Man kennt uns, man weiß, dass wir anständig sind, und daher wird man uns auch wählen‘. So etwas reicht bei weitem nicht aus! Die Menschen müssen euch sehen und hören können, in jeder Stadt, in jedem Dorf, und genau das tut ihr eben nicht.“ Er nickte und meinte: „Vermutlich hast du damit recht.“ Dennoch hielt sich niemand daran, und das Resultat war unvermeidlich: Das Bürgerforum, die beste politische Vereinigung, die dieses Land je vorgebracht hat, ging sang- und klanglos unter. Václav Havel kannte ich vorher nicht persönlich, erst durch die gemeinsamen Freunde kam ich auch mit ihm in Kontakt. Der Unterschied machte sich in der Anrede bemerkbar: Alle nannten ihn Vašek (Koseform von Václav), ich sprach ihn aber stets mit „Herr Präsident“ an. Mit der Zeit zog er mich bei Bedarf zurate in Deutschlandfragen und ließ sich von mir über die dortige Situation und Persönlichkeiten informieren. Havel hatte die Angewohnheit, alle anstehenden Fragen mit Fachleuten zu erörtern, und zu diesem Zweck lud er sie zu einem Arbeitsfrühstück ein. Es waren Wissenschaftler, Akademiker, aber auch

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Journalisten. Einmal bekam ich eine solche Einladung, es gab wieder einmal einige Fragen zu klären. Vor dem „Häuschen“ oberhalb des Hirschgrabens im Areal der Prager Burg, in dem er als Präsident residierte, war ein reicher Frühstückstisch gedeckt, an dem ich mich mit Havel traf. Als erstes fragte er mich, ob er mir Saft einschenken dürfe – und das war auch alles, was ich damals zu mir nahm, trotz der vollen Tafel. Unser Gespräch war äußerst lebhaft. Havel rauchte nur, was bei einem Gespräch keineswegs störend ist, und ich selbst kam nicht zum Essen – mit vollem Mund zu reden hielt ich für unhöflich. Unsere Unterredung dauerte zwei geschlagene Stunden, bis Havel von seinem Sekretär zu einem anderen Gespräch abgeholt wurde. Wir verabschiedeten uns, ich stand von dem vollen Tisch auf und ging wieder. Von Mordshunger geplagt spazierte ich von der Burg durch die Nerudastraße (Nerudovka) hinunter in die Stadt und suchte nach einem Gasthaus oder Kaffeehaus, das schon geöffnet hatte. Beim Empfang nach der Pressekonferenz anlässlich des Besuches des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf machte der Sekretär des Präsidenten einen Rundgang, und dabei steckte er einigen Gästen unauffällig ein kleines Kuvert zu. Es handelte sich dabei keineswegs um einen Bestechungsversuch, sondern um eine Bitte, dass man sich irgendwann nach 10 Uhr in ein kleines Restaurant in der Nähe der Burg begeben möge. Dort habe ich eine Handvoll deutsche und auch einige ausländische Journalisten angetroffen. Kurze Zeit darauf gesellte sich auch der Präsident zu uns. Havel wollte mit einigen Gästen intensiver ins Gespräch kommen. Die zahlreichen tschechischen Kollegen wurden nur dazu geladen, damit sich die Gäste untereinander unterhalten konnten, während Havel Einzelgespräche führte. Ich war unter den ersten und musste seine Hoffnungen zerstreuen, nämlich dass Bundeskanzler Kohl durch Biedenkopfs Vermittlung bestens informiert sei. Ich erklärte ihm, dass die beiden kaum miteinander sprachen. In den siebziger Jahren war Biedenkopf Generalsekretär der CDU und galt als enger Vertrauter von Helmut Kohl. Das Parteiamt legte er aber aufgrund von späteren Meinungsverschiedenheiten mit dem Kanzler ­nieder.

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In meinen Kontakten zum tschechischen Dissens spielte eine wichtige Rolle die Gräfin Metternich, über die ich schon im Kapitel über Index schrieb. Ebenso habe ich bereits Jiřina Šiklová erwähnt. Jiří Gruša habe ich das erste Mal getroffen, als er gerade erfuhr, dass ihm während seiner Auslandsreise durch die USA die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt und somit die Heimkehr verweigert wurde. Für ihn war es natürlich ein harter Schlag. Er blieb in Deutschland und traf sich mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn in Köln. Seine Ehefrau lehnte es vehement ab, mit ihm im Ausland zu leben. Ich erinnere mich noch, wie wir zusammen in einem Kaffeehaus saßen und ich unentwegt auf sie einredete, dass sie ihm so etwas nicht antun könne. Doch ihr Entschluss stand fest, und so kehrte sie mit dem Kind wieder heim. Mit dem Juristen und Mitbegründer des Bürgerforums Petr Pithart hatte ich unbekannterweise bereits zu Zeiten des Index zu tun. Wir gaben damals unter dem Titel „Osmašedesátý“ (Achtundsechzig) einen Sammelband mit Artikeln von mehreren Autoren heraus. Darunter war auch ein Aufsatz von Petr Pithart, allerdings unter einem Pseudonym. Der 1980 erschienene Titel war eine kritische Analyse der Situation zur Zeit des „Prager Frühlings“. Es war ein hervorragendes, kritisches Werk, und Der Spiegel bat mich um eine Buchbesprechung. Meine Rezension fand beim Spiegel Gefallen, doch veröffentlichen wollte man sie nur unter der Bedingung, dass der richtige Name des Autors genannt würde. Ich ließ in Prag bei dem mir nicht bekannten Autor nachfragen, er stimmte aber nicht zu. Daraufhin verzichtete der Spiegel auf die Veröffentlichung. Als ich nach meiner Heimkehr diesen Autor bei einem offiziellen Anlass zum ersten Mal traf, war seine erste Reaktion: „War wohl ein Blödsinn, dass ich damals die Veröffentlichung meines Namens abgelehnt habe, nicht wahr?“, und ich sagte nur: „Diese Entscheidung lag allein bei Ihnen.“ Später traf ich ihn immer wieder bei diversen offiziellen Veranstaltungen. Unlängst bekam ich vom Senat eine Einladung zur Präsentation des Buches über Dünkirchen, man wollte mich von einem Chauffeur abholen lassen. Doch der Vizevorsitzende Pithart kam persönlich, um mich zu der Veranstaltung zu begleiten. Er lebte in der gleichen Wohnanlage

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wie ich. Ich bedankte mich dafür, dass er mich höchstpersönlich in den Senat führte, und er meinte: „Wen denn sonst – wenn nicht Sie!“ Erst vor Ort habe ich erfahren, dass in diesem Buch all die Gefallenen von Dünkirchen angeführt sind, samt Schilderungen der Umstände ihres Todes. Als ich feststellen musste, wie viele Menschenleben diese Operation gekostet hatte, war ich nachträglich zutiefst erschüttert. Das Buch erschien im Volkszeitungsverlag.

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Wandeln durch den tschechisch-deutschen Raum Geboren wurde ich in Wien, und später, in Prag, besuchte ich deutschsprachige Schulen. In meinen späteren Prager Jahren war ich sowohl im deutschen als auch im tschechischen Studenten- wie Kulturmilieu heimisch, ohne dabei je das Gefühl einer inneren Zerrissenheit zu haben. Der nächste Abschnitt meines Lebens hatte schon einen anderen Charakter: Ich kämpfte in der tschechoslowakischen Exilarmee gegen Deutschland, für die Befreiung der Tschechoslowakei von deutscher Gewaltherrschaft. Damals bejahte ich noch die Abschiebung der „Sudetendeutschen“ aus der Tschechoslowakei. Das allerdings, was bei den sogenannten „wilden Vertreibungen“ und teilweise auch außerhalb des Sudetenlandes geschah, halte ich für ein Kriegsverbrechen, selbst wenn diese Gräueltaten in Friedenszeiten verübt wurden. Den ersten Kontakt mit den vertriebenen Sudetendeutschen hatte ich im Jahr 1967, ein Jahr vor meiner Emigration in die Bundesrepublik Deutschland. Ich war vermutlich der erste tschechische Journalist, den seine Redaktion zum Sudetendeutschen Tag entsendete. Der Veranstaltungsort war diesmal München, das Motto „Kein Frieden durch neues Unrecht“. Ich ging am Vormittag hin und setzte mich an einen langen Tisch mit sudetendeutschen Besuchern. Ich war etwas nervös, da ich nicht wusste, wie ich dort aufgenommen würde. Meine Bedenken stellten sich bald als völlig unbegründet heraus. Als meine Tischnachbarn hörten, dass ich ein Prager Korrespondent bin, überhäuften sie mich mit Fragen, die von lebhaftem Interesse zeugten. Von Hass keine Spur. Bei besagtem Sudetendeutschen Tag war ich der erste tschechische Korrespondent überhaupt und galt daher als der Exote schlechthin. Vermutlich deshalb wurde ich zum Tisch des Vorsitzenden der Sudetendeutschen Vereinigung Walter Becher gebeten. In der Tschechoslowakei hielt man den Mann für einen Revanchisten, und das nicht gerade zu Unrecht. Beim Abendessen saß ich ihm direkt gegenüber, und bald führten wir ein überaus nettes und interessantes Gespräch. Wir trennten uns in aller Freundschaft. Doch als ich am folgenden Tag seinen Beitrag hörte, fand ich darin kein einziges von seinen durchaus vernünftigen Argumenten des vorigen Abends. Es war übrigens die Hauptrede dieses zweitägigen Treffens. Bei meinem späteren Aufenthalt in der Bun-

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desrepublik konnte ich viele Erfahrungen mit den Sudetendeutschen sammeln, die durch die Bank die Geisteshaltung meiner abendlichen Unterhaltung mit Walter Becher widerspiegelten. Einer Gehässigkeit oder Feindschaft begegnete ich dabei kein einziges Mal. Bei meinen persönlichen Beziehungen zu den ehemals Vertriebenen (ich finde diesen Begriff weitaus ehrlicher als die in Tschechien übliche Bezeichnung „Umgesiedelte“) habe ich ausgesprochen positive Erfahrungen gemacht und bekam einen unerwarteten Zuspruch. Mit großer Genugtuung verfolgte ich seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine erfreuliche Entwicklung der tschechisch-deutschen Beziehungen. Und damit meine ich nicht nur den tschechoslowakischdeutschen Vertrag aus dem Jahr 1997, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Zusammenarbeit auf politischer Ebene. In den Grenzgebieten arbeiten Gemeinden und Organisationen jenseits und diesseits der Grenze immer mehr zusammen, mittlerweile wird in den Schulen gleichermaßen Tschechisch wie Deutsch unterrichtet. Auch auf anderen Gebieten funktioniert das Zusammenwirken, ganz ohne Hass und Bitterkeit. Diese Tendenz beschränkt sich allerdings nicht alleine auf die tschechisch-deutschen Grenzregionen. In Prag wurde 2004 das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren eröffnet, die Initiatoren waren die Prager Journalistin und Schriftstellerin Lenka Reinerová, der Doyen der Prager Germanistik Prof. Kurt Krolop und der Botschafter a.  D. František Černý, der den Vorstandsvorsitz übernahm. Das Literaturhaus unterhält eine Bibliothek mit einer Sammlung von Werken deutschsprachiger Autoren, die in den böhmischen Ländern geboren wurden oder gewirkt haben. Lenka Reinerová schrieb sowohl tschechisch als auch deutsch und galt als letzte Vertreterin der Prager deutschsprachigen Literatur. Das Literaturhaus fand auch in der Bundesrepublik große Beachtung. Das Interesse deutscher Autoren trägt zur wachsenden Bedeutung dieser Institution bei. Die sudetendeutschen Verbände haben schließlich ihren schlechten Ruf als revanchistische Organisationen verloren und knüpfen Kontakte zu tschechischen Institutionen. Das Verhältnis der Deutschen und Tschechen wandelt sich nach und nach zu einer normalen Beziehung zweier Nachbarländer, frei von der Last der Vergangenheit. Die um-

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strittenen und immer noch rechtskräftigen Beneš-Dekrete sind allerdings nach wie vor ein heikles Thema. Vermutlich wird nicht einmal die Zeit diese Wunde heilen können, aber mittlerweile kann man annehmen, dass letztendlich nur noch eine schmerzende Narbe zurückbleibt, die aber einer kultivierten Beziehung zwischen den beiden Staaten nicht im Wege stehen wird. In meiner journalistischen Laufbahn befasste ich mich mit der „deutschen Frage“ praktisch von Anfang an, lebte lange Zeit in diesem Land und wurde daher nach 1990 Mitglied eines Beraterteams im tschechoslowakischen Außenministerium, zuständig für Deutschlandfragen. Das Team setzte sich zusammen aus Historikern, Journalisten und Publizisten, auch jenen, die damals in Deutschland lebten, und natürlich auch aus den Mitarbeitern des Außenministeriums. Neben langen Diskussionen wurden auch Papiere zu einzelnen Fragen ausgearbeitet, die dann an die zuständigen Abteilungen des Ministeriums weitergeleitet wurden. Zu der Zeit, als man über die erste „Deutsch-Tschechische Erklärung“ diskutierte, lud mich der Presseattaché der Deutschen Botschaft zum Abendessen ein. Anwesend war damals auch der Leiter des tschechoslowakischen Verhandlungsteams. Es wurden diverse Probleme und Hindernisse besprochen, die es auf beiden Seiten zu bereinigen gab. Ohne mein Wissen fasste der Presseattaché einige meiner Argumente zusammen und schickte sie auf offiziellem Wege an das Außenministerium in Berlin. Dort wurde die Zusammenfassung weiter bearbeitet und wanderte dann eine Zeit lang als „Utitzpaper“ zwischen der deutschen und tschechischen Seite hin und her. Was damit weiter geschah, weiß ich nicht, doch am Ende wurde die „Deutsch-Tschechische Erklärung“ unterzeichnet und gleichzeitig die Einrichtung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds vereinbart. In der Zeit nach der Wende erlebte ich in Deutschland gleich zwei tschechische Botschafter. Bei einer meiner Pragreisen besuchte ich meinen ehemaligen Lehrling, jetzt Außenminister, Jiří Dienstbier, und im Gespräch schlug ich ihm für den Posten des Kulturattachés in Bonn František Černý vor. Bald darauf tauchte Černý tatsächlich in Köln auf, aber nicht als designierter Attaché. Er kam mit dem Auftrag, Jiří Gruša dazu zu überreden, den Botschafterposten zu übernehmen. Trotz mei-

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ner ausgesprochen guten Beziehung zu Gruša war ich von dieser Idee nicht gerade angetan, nichtsdestotrotz suchte ich ihn mit Černý auf, um auf ihn in diesem Sinne einzureden. Nach anfänglichem Zögern nahm Gruša diese Funktion an. Im Laufe der Zeit kam auch ich zu der Überzeugung, dass es eine ausgezeichnete Wahl gewesen ist. Mit seiner unkonventionellen Art konnte sich Gruša in Deutschland sehr bald Anerkennung und Respekt verschaffen. Ich denke sogar, dass gerade er die Grundlagen für das jetzige sehr gute Verhältnis zwischen unserem Land und der Bundesrepublik geschaffen hat. František Černý wurde Generalkonsul in Berlin und danach der nächste Botschafter in Deutschland, nach Gruša. František Černýs Wesensart unterscheidet sich deutlich von Grušas Naturell, dennoch konnte auch er nicht nur Anerkennung, sondern auch große Popularität in der Bundesrepublik erreichen. Nebenbei gesagt, auch Černý zählt bis heute zu meinen engsten Freunden. Die Wahl der beiden Persönlichkeiten, die nach der Wende die Tschechoslowakische und später die Tschechische Republik in Deutschland repräsentierten, war zweifelsohne der Grundstein für die positive Entwicklung der guten Beziehungen beider Nachbarländer. Der Adalbert-Stifter-Verein wollte mit der Ausstellung im Sudetendeutschen Haus (Eröffnung im Oktober 2011) und der gleichnamigen Publikation „Porträts aus Böhmen und Mähren“ jene Personen ehren, die sich nach der schockierenden Vertreibung von Sudetendeutschen in der Nachkriegszeit um die Annäherung der Tschechen und Deutschen und um die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Nachbarvölkern verdient machten. Mit den Porträts von 54 Persönlichkeiten wurde die Münchner Fotografin Petra Flath beauftragt. Auch mir wurde diese Ehre zuteil.

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Meine Familie ist ein Patchwork Wenn auch mein bisheriges Leben im Großen und Ganzen turbulent war, letztendlich hatte ich immer Glück. Mein größtes Glück ist meine Familie. Rückblickend auf mein Familienleben muss ich sagen, dass mein Glück geradezu außergewöhnlich war. Im hohen Alter ist mir meine Familie eine große Stütze. Meine erste Frau Hanka traf ich später nur noch ein einziges Mal – als sie für die Teilnahme am Treffen der KZ-Frauen von Mauthausen eine Ausreisegenehmigung bekommen hatte. In Frankfurt gab es einen Zwischenstopp, und so konnten wir miteinander noch einige Stunden am Frankfurter Flughafen verbringen. Leider verstarb sie vor der Wende, und so konnte ich sie nach meiner Heimkehr nicht mehr wieder sehen. Mit Irča habe ich noch die Goldene Hochzeit feiern können, getrennt wurden wir nur durch ihren Tod. Unser gemeinsames Leben war kunterbunt, wir beide hatten eigene Interessen und auch eigene Freunde, und dennoch lebten wir in einer gemeinsamen Welt. Wir führten ein harmonisches Leben, auch wenn es ab und zu Meinungsverschiedenheiten gab. Für die Vorlieben des anderen zeigten wir stets Verständnis, egal, ob es um persönliche Interessen ging oder um eine „Zeitverschwendung“. Ich rauchte meine Pfeife, Irča frönte ihren Zigaretten und das im Übermaß. Ich versuchte sie dabei zu bremsen, aber nur mäßig – wohl wissend, dass ein größerer Druck eher die umgekehrte Wirkung zur Folge hätte. Unsere größte Leidenschaft galt den Reisen, die wir miteinander genauso teilten wie auch unseren Freundeskreis. Eines von Irčas „Lastern“ war ihre absolute Unfähigkeit, morgens rechtzeitig aus den Federn zu kommen. Meine Tätigkeit hatte den Vorteil, dass ich erst später anfangen konnte (als Freiberufler sogar nach eigenem Ermessen). Trotzdem musste ich mein Leben lang spätestens um sieben Uhr aufstehen – um Irča zu wecken (eine Viertelstunde später dann nochmals), sie aus dem Bett zu zerren, um sie, als wir in Köln wohnten, dann um halb acht zur Arbeit zu fahren. Natürlich kontrollierte ich dabei nicht, wie sie sich gerade anzog, und so kam es einmal vor, dass sie im Krankenhaus ihren Mantel auszog und nur im Hemdchen dastand. Zum Glück trug man

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im Krankenhaus die üblichen weißen Kittel. Es reichte also, dass ich ihr am Nachmittag ihre Straßenkleidung vorbeibrachte, damit sie sich für den Heimweg anständig anziehen konnte. Ich kann mich nur an einen einzigen ernsthaften Streit erinnern, den es in unserem Eheleben je gab. Ich verlor damals die Nerven, brüllte Irča an, schlug dabei vor Wut mit einem Buch so unglücklich gegen das Bett, dass das Buch hochsprang und sie an der Lippe verletzte. Die Ursache für den Streit waren Irčas Vorwürfe, ich würde Jana und Jirka Pavel vorziehen. Solche Vorhaltungen empfand ich als himmelschreiende Ungerechtigkeit und rastete aus. Nicht einmal damals gingen wir schlafen, ohne vorher Frieden zu schließen, und schon gar nicht ohne einen Gutenachtkuss. Ich bin froh, dass sie bis an ihr Lebensende zu Hause bleiben konnte, im Schoß der Familie – mit Ausnahme ihrer letzten Tage, als sie schon unter Morphium stand. Einen Tag vor ihrem Tod ging ich ins Krankenhaus und habe mir extra ein Hemd und eine Lederjacke angezogen, die sie an mir so mochte. Unter der Wirkung des Morphiums döste sie die meiste Zeit vor sich hin, aber als ich mich über sie beugte, machte sie plötzlich die Augen auf, drückte meine Hand mit unerwarteter Kraft, fuhr mit einem Finger über meinen Ärmel und flüsterte: „Das Leder!“ und tippte noch auf das blaue Hemd. Sie konnte noch erkennen, dass ich mich speziell für sie so fein gemacht hatte. Ich küsste sie, und sie schlief wieder ein. In der Nacht ist sie dann gestorben. Meine Kinder haben ihrerseits Kinder – die drei schenkten mir insgesamt fünf Enkel, und von diesen gibt es heute schon sechs Urenkel. Vier Enkel und ihre Kinder stammen aus meiner ersten Ehe, sie alle waren für Irča wie die eigenen, und auch sie empfanden es so. In den letzten Monaten, die Irča noch blieben, wurde es besonders offensichtlich. Heute treffen sich bei den Familienfeiern 15 Erwachsene und (vorerst noch) sechs Kleinkinder. Meine erste Ehe wurde geschieden, als unsere Kinder noch klein waren, zwei und drei Jahre alt. Ich zog aus und überließ Hanka und den Kindern die Wohnung, heute gehört sie Jirka. Zu Hanka hatte ich ihr Leben lang eine gute Beziehung. Jana und Jirka gingen in eine Volksschule, die an den großen Garten des Hauses grenzte, in dem sie mit ihrer Mutter wohnten, ein Problem mit dem Hinbringen gab es also nicht.

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Nach der Grundschule hatte Jana bereits einen festen Plan: Sie wollte unbedingt die Mittelschule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege absolvieren, mit speziellem Schwerpunkt auf die Kinderkrankenpflege. Sie lernte mit Hingabe. Nach dem Abschluss rief mich die Schuldirektorin zu sich, um mir zu sagen, dass derzeit aus Mangel an Pflegepersonal nicht einmal die erfolgreichsten Absolventinnen die erforderliche Befürwortung für ein Hochschulstudium bekämen. Sollte aber Jana weiterstudieren wollen, so würde sie ihr gerne eine entsprechende Empfehlung ausstellen. Dies freute mich natürlich ungemein, Jana zeigte aber kein Interesse. „Ich will eine Kinderkrankenschwester werden und basta!“, sagte sie – und das wurde sie auch. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Oberschwester auf der Kinderchirurgie des renommierten Thomayer-Krankenhauses in Prag. Jirkas Berufsvorstellungen waren noch eine Spur bescheidener: Er absolvierte eine Tischlerlehre und machte sich als Tischler sehr gut. Nach der Beschäftigung bei einer Baufirma wechselte er zum Fernsehen. Er arbeitet dort schon seit vielen Jahren und wird auch sicherlich bis zur Rente bleiben. Und mich erfreut es jedes Mal, wenn ich gefragt werde, ob dieser Jiří Utitz, der im Nachspann der Fernsehproduktionen angeführt ist, mein Sohn ist. Die Harmonie unseres Familienlebens hat unter der Emigration nach dem Einmarsch der Sowjetarmee gelitten. Irča und Pavel folgten mir ins unfreiwillige zweite Exil. Pavel, Jahrgang 1953, war zu dieser Zeit gerade mal 15 Jahre alt und musste natürlich mit uns gehen. Er besuchte gerade die neunte Grundschulklasse und sollte danach ins Gymnasium gehen. Nach den Winterferien kehrte er noch einmal nach Prag zurück, um das eine Schuljahr zu beenden, damals wollten wir unsere Rückkehr in die Tschechoslowakei noch nicht definitiv ausschließen. Ich bestellte sogar eine Couch für das Schlafzimmer, die um 15 cm kürzer war als die Standardausführung – eben nach den Maßen der Nische in unserer Prager Wohnung, in der sie dann stehen sollte. Gleich zum Ferienbeginn 1969 kam Pavel nach Deutschland und schrieb sich in ein deutsches Gymnasium ein. Der Schuldirektor vertrat die Ansicht, dass Pavel keine Deutschkurse absolvieren, sondern gleich in seinem Gymnasium anfangen sollte, selbst ohne vorherige Sprachkenntnisse. So geschah es auch, und Pavel kam sich die ersten Monate

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wie ein Taubstummer vor. Das änderte sich unglaublich rasch, er wurde von den Mitschülern gut aufgenommen. Es dauerte nicht lange, bis er sich mit seinen Schulkameraden gut verständigen und nach und nach am Unterricht teilnehmen konnte. Gegen Ende des ersten Schuljahres wurde er allerdings noch nicht benotet, es gab nur eine schriftliche Beurteilung seiner Leistung in den einzelnen Fächern. Im nächsten Jahr bekam er schon in allen Fächern Noten wie alle anderen Schüler, mit Ausnahme der deutschen Sprache. Dazu muss jedoch gesagt werden, dass er in einigen Fächern auf dem Stoff aufbauen konnte, den er bereits in Prag gelernt hatte. Vier Jahre später schloss er mit dem Abitur ab, ohne Bonus und mit einem Durchschnittserfolg. Im Vergleich mit der westlichen Welt war die Schulbildung in der damaligen Tschechoslowakei auf einem sehr hohen Niveau, was nicht nur Pavel, sondern auch anderen tschechischen Emigrantenkindern sehr zugute kam. Pavel entschied sich für das Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Nach dem Wirtschafts- und Politologiestudium arbeitete er zunächst in einem Meinungsforschungsinstitut. Dort konnte er genug Erfahrungen sammeln, die er dann unter anderem bei der Mitarbeit an der Durchführung von Fernsehanalysen bei Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei und danach in der Tschechischen Republik sehr gut nutzen konnte. Einige Jahre später bot ihm die Kölner Universität die Leitung eines soziologischen Projektes an, was ihm weitere Möglichkeiten für die Qualifikation im wissenschaftlichen Bereich und zu einer Promotion eröffnete. Nach der Wende suchte Pavel nach einer Gelegenheit, um sich in den Prozess der radikalen Änderungen in der Tschechoslowakei einbinden zu können. Erst schrieb er nebenberuflich Beiträge für die kritische Zeitschrift Respekt, dann wurde ihm die Vertretung der deutschen Sparkassenstiftung für internationale Kooperation in Prag angeboten. Zusammen mit tschechischen und slowakischen Kollegen beteiligte er sich an der Gründung der Sparkassenakademien in Brünn (Brno) und Pressburg (Bratislava). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland Mitte der neunziger Jahre blieb er den Sparkassen treu und arbeitet seither in der Akademie des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes in Bonn.

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Ich lebte bereits seit einigen Jahren in Deutschland, und meine Lebensumstände hatten sich soweit stabilisiert, dass ich Jirka und Jana auf Umwegen vorschlagen konnte, zu uns nach Deutschland zu kommen. Jirka wollte Prag nicht verlassen. Bei Jana dachte ich an einen „Bräutigam“, einen Mann, der gewillt wäre, Jana pro forma zu heiraten, damit sie legal nach Deutschland ausreisen dürfte. Dieser Mann hätte sich von Jana erst nach einer Frist von zwei Jahren scheiden lassen können, damit sie weiterhin in Deutschland bleiben kann. Doch für Jana fand sich inzwischen in Prag ein echter Heiratskandidat – sie verliebte sich, und damit wurden unsere Überlegungen hinfällig. Bis zum Jahr 1984 konnte ich zu meinen Kindern lediglich einen schriftlichen Kontakt haben, gegebenenfalls indirekt durch die Vermittlung Dritter. Die Situation änderte sich Mitte der achtziger Jahre, als die ungarische Regierungspolitik sowohl innerhalb von Ungarn als auch nach außen hin gelockert wurde. Daraufhin konnten auch Emigranten gefahrlos nach Ungarn reisen. So wurde Ungarn zu einem beliebten Treff der tschechischen und slowakischen Emigranten und ihrer Verwandten aus der Tschechoslowakei. Die Familien der beiden deutschen Staaten kamen hier ebenso zusammen. Am Plattensee vermietete man an die Sommergäste Häuschen, vor denen dann häufig Autos mit tschechischen, west- und ostdeutschen Kennzeichen nebeneinander parkten. Selbstverständlich griffen wir diese Gelegenheit auf und haben in Budapest das erste große Familientreffen arrangiert – mit Janas und Jirkas Familien, die wir bis dahin gar nicht kannten. Es erübrigt sich, diese Augenblicke näher zu beschreiben. Jeder kann sich vorstellen, was sich abspielen mag, wenn man nach 16 Jahren seine Kinder endlich sehen kann. Die Enkel, jeweils ein Junge und ein Mädchen im Alter zwischen sechs bis zehn Jahren, sahen ihre Großeltern das erste Mal in ihrem Leben. Und wir lernten zum ersten Mal nicht nur unsere Enkelkinder, sondern auch unseren Schwiegersohn und unsere Schwiegertochter kennen. Erstaunlicherweise hat sich das anfängliche Fremdeln der Kinder innerhalb weniger Stunden gelegt.

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Abb. 13: Treffen mit den Kindern und Enkelkindern in Ungarn 1986 (von links nach rechts: Sohn Jiří, Schwiegertochter Zdena, Enkelin Zdenka, Autor, Enkel Mirek, Tochter Jana, Enkel Venda, Enkelin Alena, Schwiegersohn Vaclav, Sohn Pavel, Irča).

Wir gingen natürlich davon aus, dass sich unser Kontakt weiterhin auf die gemeinsamen Ferien in Ungarn beschränken würde. Die Übernachtungen im Hotel wären nicht nur relativ kostspielig, sondern auch ziemlich unbequem, und deshalb suchten wir nach einem passenden Häuschen, das wir für die Ferienzeit mieten könnten. Mit ein bisschen Glück fanden wir ein bequemes Haus, kaum 100 Meter vom Plattensee entfernt. Für eine Großfamilie geräumig genug und noch dazu zu einem annehmbaren Preis. Bis zum Jahr 1989 verbrachten wir dort alljährlich unsere Ferien, ich blieb dort die ganze Zeit, und die Familien wechselten sich ab. Irča mit Pavel, deren Urlaubszeit durch ihre Arbeit bestimmt war, kamen immer eine Woche, bevor der Aufenthalt der einen Familie zu Ende ging und blieben, bis die zweite Familie eingetroffen war, um jeweils einige Tage mit den einen wie den anderen zu verbringen. Ich denke, dass sich alle unsere Kinder und Enkelkinder, die heute schon selbst Eltern sind, sehr gerne an die Ferienzeiten am Plattensee erinnern. Auch einige meiner Freunde nutzten diese Möglichkeit, um sich mit ihren Lieben am Plattensee zu treffen.

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Während seiner Studienzeit lebte Pavel fast sechs Jahre lang mit Felicitas, seiner ehemaligen Klassenkameradin, mit der er schon seit Schulzeiten befreundet war, zusammen. Aus Gründen, die mir und Irča schleierhaft blieben, haben sich Pavel und Felicitas eines Tages getrennt. Nach der Trennung kümmerten wir uns mehr um Felicitas als um unseren eigenen Sohn. Felicitas ist für uns bis zum heutigen Tag wie unsere Tochter. Zum Glück wurden später Pavel und Felicitas richtig gute Freunde. Auch Pavels Frau Iris konnte sich mit der Zeit davon überzeugen, dass die beiden nur eine echte Freundschaft verbindet. Felicitas ist die Patin meiner Enkeltochter Kira, und sie nimmt diese Aufgabe ernst: Häufig verbringt sie ihre Ferien zusammen mit ihrer Nichte und unserer Kira. Regelmäßig kommt sie auch mit ihrem Mann Alfred nach Prag, um mich zu besuchen.

Abb. 14: 75. Geburtstag – 1995 in Prag (Von links nach rechts: hinten – Sohn Jiří, Sohn Pavel; zweite Reihe – Schwägerin Betty, Schwiegertochter Zdena, Bruder Gerti, Schwiegersohn Vaclav, Irča, Autor, Enkelin Alena; vorne – Tochter Jana, Enkel Venda, Enkel Mirek).

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Abb. 15: 80. Geburtstag – 2000 in Kronenburg in der Eifel (von links nach rechts: Ellen Flagmeyer [Mutter der Schwiegertochter Iris], Irča, Bruder Gerti, Sohn Pavel, Schwiegertochter Iris Flagmeyer, Felicitas Schneider, Enkelin Kira, Alfred Müller [Ehemann von Felicitas], Autor).

Unsere Großfamilie traf sich zuletzt an meinem 90. Geburtstag – die Kinder, Enkelkinder und die Urenkel kamen, um mit mir zu feiern.

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Freud und Leid heute Wenige Tage vor meinem 90. Geburtstag bekam ich vom Verteidigungsminister eine Verdienstmedaille der Tschechischen Republik verliehen. Es war in der Reihe bereits die vierte Auszeichnung, die ich in meinem Leben bekommen hatte: Zwei davon, das Tschechoslowakische Kriegskreuz und den Tapferkeitsorden, bekam ich während des Krieges, im Jahr 1998 verlieh mir Präsident Václav Havel den Tomáš-GarrigueMassaryk-Orden. Neben diesen Auszeichnungen besitze ich auch noch einige Medaillen, die ich nicht unbedingt aufzählen möchte. Es fiel mir allerdings auf, dass ein hoher Offizier, dessen Uniform mit drei Reihen von Ordensbändern geschmückt ist, nur eine relativ kleine Anzahl von Auszeichnungen vorzuweisen hat, die meisten davon sind bloße Abzeichen. Aber es sieht sehr effektvoll aus. Ein so hohes Alter erreichte ich, ohne viel dazu beizutragen. Ich führte kein besonders gesundes Leben, ausgesprochen ungesund lebte ich aber auch nicht. Ich war kein Alkoholiker, dennoch nie abgeneigt, ein gutes Gläschen zu trinken. Ich rauchte keine 20 Zigaretten am Tag, dafür aber die Pfeife – seit meinem 17. Lebensjahr, bis heute. Es gab Phasen, in denen ich die Pfeife durch das Zigarettenrauchen entehrte, dies tat ich aber nur mit Maß; in den letzten Jahrzehnten griff ich nie mehr zu einer Zigarette. Ich mag Schweineschmalz und Grieben und Braten mit einer dunkelbraunen Kruste. Gemüse esse ich eher wenig, und auch Sport habe ich eher moderat betrieben. In meinen Studentenjahren waren es Fußball und vor allem Feldhockey, später Skifahren, aber das war’s auch schon. Ich hatte so viele Operationen, dass mich Freunde, die mich eine Zeit lang nicht gesehen haben, hinterher fragten: „Und was wurde diesmal operiert?“ Es begann mit dem Blinddarm, gleich mit einer Bauchfellentzündung, als ich fünf Jahre alt war. Nach und nach folgten dann eine komplizierte Leistenbruchoperation, Prostata, Dickdarm, Dünndarminfarkt und eine Gehirnoperation. Ein „gutartiger“ Hirntumor musste operativ entfernt werden. Für meine 90 Jahre würde ich mich heute relativ wohlfühlen, wäre da nicht noch eine andere Operation gewesen. Zwei Monate nach meinem

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90. Geburtstag brach ich plötzlich zusammen. Am Boden liegend habe ich es gerade noch geschafft, die Rettung zu alarmieren. Man brachte mich ins Krankenhaus, und noch bevor ich überhaupt wusste, was mit mir eigentlich los war, lag ich schon auf dem OP-Tisch. Es war ein Darmverschluss. Der erste Eingriff schlug fehl, unmittelbar darauf folgte die zweite Operation, diesmal mit Erfolg. Mein ohnehin bereits geschädigter Augennerv hielt den beiden kurz aufeinander folgenden, starken Narkosen nicht mehr stand. Das Resultat war die Beseitigung des Darmverschlussproblems, dafür büßte ich aber mein Augenlicht ein. Ich denke, dass sich ein Mensch an alles gewöhnen könnte, nicht aber an den Verlust seines Sehvermögens. Selbst bei den einfachsten Verrichtungen ist man völlig hilflos, und was vielleicht noch schlimmer ist: Man muss praktisch auf alles verzichten, was das Leben bereichert. Man kann nicht mehr lesen, nicht fernsehen, die Besucher erkennt man nur noch an der Stimme, man findet die Gegenstände des täglichen Bedarfs nicht mehr – selbst wenn sie in unmittelbarer Nähe bereitliegen. Kurz und gut, man wird völlig abhängig von der Hilfsbereitschaft seiner Mitmenschen. Früher hörte ich Musik nur in meiner Freizeit, heute erfüllt die Musik praktisch meine ganze Zeit. Man schenkte mir mal zum Geburtstag das Hörbuch Der Zauberberg von Thomas Mann. Damals habe ich mich noch gefragt, wann soll ich es mir bitte anhören, jetzt bin ich heilfroh darüber ...

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Und zum Schluss ... Nachdem ich wieder einige Zeit in Tschechien gelebt habe, wurde ich gefragt, ob ich meine Heimkehr nicht bereue. Ich verneinte es aus voller Überzeugung! Und darauf bestehe ich bis heute. Ich fühle mich hier zu Hause, weil hier meine Familie und meine Freunde sind. Nach den Jahren im Exil fand ich eine gemeinsame Sprache nicht nur mit den alten, sondern auch mit den neuen Freunden. Auch die allgemeine Stimmung entwickelt sich, meiner Meinung nach, trotz mancher Rückfälle zum Positiven. Ich habe daher die begründete Hoffnung, dass einige Werte, die in den letzten Jahren verloren gingen, wieder belebt werden. Zu meinem Freundeskreis gehören einige Hochschulprofessoren. Auch aus ihren Erzählungen geht hervor, dass man von der jungen Generation zwar keine plötzliche Kehrtwende zu erwarten hat, doch immerhin macht sich hier eine Tendenz zur Besinnung auf die demokratische und kultivierte Vergangenheit dieses Landes bemerkbar. Besonders beeindruckt hat mich, dass es vor allem junge Menschen waren, die nach Václav Havels Tod in einer bisher noch nie dagewesenen Anzahl, spontan und aus freiem Willen an seinem Begräbnis teilgenommen und ihm so die letzte Ehre erwiesen haben. Dass ich hierzulande zu Hause bin, merke ich auch daran, dass mich die Zustände und die Korruption in der heimischen Politik immer noch maßlos ärgern, während mich Probleme, die Deutschland gegenwärtig bewegen, zwar sehr wohl interessieren, mich aber nicht sonderlich berühren.

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AUTOFAHREN AUF KUBA (Eine Leseprobe aus dem unveröffentlichten Manuskript von Reportagen und Erlebnissen während des Aufenthaltes auf Kuba in den sechziger Jahren. Das Buch sollte im Jahr 1968 veröffentlicht werden; nach der Okkupation ist es dazu nicht mehr gekommen.)

Ich bin ein erfahrener Autofahrer. In vielen Ländern des Ostens, des Westens und auch mittendrin habe ich meist die Autos meiner Bekannten und Freunde gelenkt. Doch als ich bereits rund 14 Tage auf Kuba war, und ein Bekannter in Havanna mir für eine dringende Erledigung seinen Wagen borgen wollte, lehnte ich sein Angebot dankend ab. Ich wählte das immerhin kleinere Gräuel: die öffentlichen Verkehrsmittel. In Havanna ein Auto zu lenken ... undenkbar! Nach zwei Jahren Aufenthalt auf Kuba war das Grauen wieder da. Wie werde ich es bloß schaffen, einen Wagen daheim zu fahren? Nach all diesen tollen Erfahrungen in Havanna ... Havanna (und eigentlich auch weite Teile Kubas) gehören den Kraftfahrern. Der Charakter des vormals motorisierten Landes, zumindest seines fortschrittlicheren Teils, wurde natürlich arg beeinträchtigt durch das amerikanische Handelsembargo gegen Kuba. Meiner Schätzung nach wurden weitaus mehr als 90 Prozent der Kraftfahrzeuge aus den USA importiert. Kuba war unter anderem der Absatzmarkt für Gebrauchtwagen und veraltete Modelle, die weder in den USA noch im modernen Ausland Abnehmer fanden. Jetzt ist die Lebensdauer vieler dieser Fahrzeuge allerdings hoffnungslos überschritten: Ein kleiner Defekt oder der Verlust eines Kleinteils genügt, und das Fahrzeug ist oft nicht mehr funktionsfähig. Ein kaputter Scheinwerfer kommt dem Verlust eines Auges gleich. Deshalb sieht man auf Kuba so viele einäugige Autos. Das schlicht unelegante Aussehen eleganter Schlitten gehört zu den ersten Eindrücken des ausländischen Besuchers. Hinzu

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kommt natürlich auch der Umstand, dass viele Autofahrer die kleineren Schäden am Wagen erst gar nicht beachten. Ein lädierter oder gar abgerissener Kotflügel, verbeulte Wagentüren und Ähnliches stören nicht im Geringsten, da ein Auto selbst mit diesen Mängeln immer noch die eigentliche Funktion erfüllt: Es fährt. Dennoch kann man auf der Straße auch viele elegante, auf Hochglanz polierte Limousinen sehen, mit Klimaanlagen und Automatik mit Tastenbedienung, ja sogar Automobile mit eingebautem Fernsehapparat oder Kühlschrank. Was Besucher aus dem modernen Mitteleuropa allerdings immer wieder verblüfft, ist der Service in einem „Entwicklungsland“. Man kauft Benzin weder nach Litern noch Gallonen, der Tank wird schlicht und einfach vollgefüllt, und die Zapfsäule zeigt die Menge und den Preis des nachgefüllten Treibstoffes an. Der Einfüllstutzen wird vom Angestellten der Tankstelle geöffnet und wieder verschlossen. Der Mann reinigt sogleich die Benzinflecken, ohne zu fragen auch die Windschutzscheibe und eventuell die Heckscheibe, füllt das Kühlwasser nach, kontrolliert den Ölstand, und falls er es für nötig hält, auch den Reifendruck – und wundert sich über den rückständigen Lenker, der die Motorhaube nicht automatisch öffnet, um ihm diese Arbeiten möglich zu machen. Man würde sich nur lächerlich machen und als Hinterwäldler erscheinen, wenn man an einer Tankstelle aussteigen und dabei riskieren würde, dass man sich seinen guten Anzug schmutzig macht. Mal wird man mit einem Lächeln bedient, mal ohne, doch überall bekommt man das Rückgeld auf den Cent zurück, ohne dass die Bedienung vorher eindringlich mit Münzen im Sack klimpert. Man zahlt nur den Treibstoff, eventuell das Motoröl, alles andere ist gratis. Man kann dem Mann Trinkgeld geben, muss aber nicht. Meistens gibt man natürlich ein Trinkgeld, bedrängt wird man aber nicht. Soweit ist es noch nicht gekommen. Doch jetzt zurück zum Verkehr. Wie ich schon erwähnte, das Automobil ist lediglich ein Transportmittel. Ein Kratzer hier, ein Kratzer da, ein verbeulter Kotflügel – sind nicht der Rede wert. Für wie viele Personen der Wagen zugelassen ist? Was soll das heißen? Mit gutem Willen

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passen zwölf Menschen rein. Sie können in einem Škoda Octavia1 keine sieben Personen mitnehmen? Soll das ein Scherz sein? Haben Ihre Autos etwa so schwache Federungen? Und was haben Sie anstelle von Stoßstangen? Die Stoßstange ist doch vor allem dazu da, damit man im Falle eines Falles ein wesentlich schwereres Fahrzeug anschieben kann. Weshalb wir uns auf dem Vordersitz zu viert zusammenquetschen, während hinten frei ist? Ihre Sorgen möchte ich haben ... Die Vorschrift, dass der Fahrer seine rechte Hand stets auf dem Lenkrad zu halten hat, sofern er nicht gerade schaltet, ist doch völlig ausreichend. Seine linke Hand kann er dann ruhig aus dem Fenster hinaus hängen lassen. Doch die Rechte, die könnte ihn von seiner Fahrerpflicht ablenken­. Der Fahrer muss seine Linke sogar frei haben, damit er sie vorschriftsmäßig hochhalten oder ausstrecken kann, um anzuzeigen, ob er nach links oder nach rechts abbiegen, einen Wagen überholen möchte oder ganz einfach nur vergnügt ist. Einen Blinker haben die meisten Autos infolge der unzähligen kleineren Zusammenstöße sowieso nicht mehr. Die übrigen Fahrer benützen ihre Blinker ebenfalls nicht, aus purer Solidarität. Und wenn jemand dennoch blinken sollte, so schenken Sie ihm um Gottes Willen keine Beachtung. Vermutlich ist er unwillkürlich an den Hebel gekommen, oder seine Kinder spielen gerade damit. So ein Blinkerzeichen ernst zu nehmen, könnte zu einer Katastrophe führen. Es bleiben also allemal die Handzeichen: hoch gehaltener oder ausgestreckter Arm. Aber nicht einmal das darf man als bare Münze nehmen – wohl wissend, wenn sich der Kubaner unterhält, dann gestikuliert er auch. Und er unterhält sich immer, selbst wenn er alleine unterwegs ist. Also geben Sie bloß acht! Ein bekannter Globetrotter, Jaroslav Bouček, behauptet, dass in Havanna ein hoch- oder ausgestreckter Arm eines Fahrers ganz eindeutig nur eines bedeuten kann: Sein Seitenfenster ist offen. Woran soll man sich da halten, worauf kann man sich verlassen? Selbstverständlich auf den sechsten Sinn. Der versagt so gut wie nie. Die Organisation des Verkehrs in Havanna ist bis zum letzten Detail durchdacht. Rund 90 Prozent der Straßen sind Einbahnstraßen. Die 1 „Škoda Octavia“ wurde bereits zwischen den Jahren 1959 bis 1971 von den tschechischen ŠKODA-Werken gebaut. Er war ein Vorgänger des heutigen Octavia Modells, allerdings deutlich kleiner.

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Kaledoskop meines Jahrhnunderts

Vorfahrtstraßen sind an jeder Ecke mit einem roten Pfeil, die Nachrangstraßen mit einem grünen Pfeil gekennzeichnet. Wo solche Pfeile fehlen, dort kann man sich nur noch auf sein Glück verlassen. Fährt man auf der Straße mit dem roten Pfeil, hat man Vorrang. Falls Sie sich aber darauf verlassen, so werden Sie kaum ein zweites Mal fahren können. Die Tatsache, dass Sie Vorfahrt haben, wissen nämlich nur Sie selbst, der Fahrer auf der Nachrangstraße muss es nicht unbedingt wissen – oder aber er respektiert es einfach nicht. Bei einer Gerichtsverhandlung würden Sie zwar Ihr Recht bekommen, aber mit dem Bus ist es ein weiter Weg bis dorthin. Und mit einem Gips noch dazu äußerst unbequem. Der gesamte Verkehr wird durch automatische Verkehrsampeln geregelt. Mit Ausnahme von einer oder zwei Kreuzungen gibt es in Havanna keinen Polizisten zu Fuß, nur Polizeistreifen auf Motorrädern oder in eleganten Limousinen. Wenn die Streife eine Kaffeepause macht, so hören die Männer den Polizeifunk sogar über die Straße, aus den kleinen Sendern dröhnen unentwegt Anweisungen und Meldungen. Die Ampeln regeln den Geradeausverkehr und den Querverkehr. Das Linksabbiegen ist meist gar nicht erlaubt. Dort, wo es gestattet ist, muss man sich allerdings erst mit den diversen Kombinationen auskennen: grün mit gelb und dazu ein Pfeil, oder zwei, oder gar kein Pfeil. Wenn Sie sich nicht absolut sicher sind, fahren Sie lieber geradeaus, dann nach rechts, nochmals rechts und so weiter – bis Sie Ihr Ziel erreicht haben. Ich kann Sie innerhalb von wenigen Minuten vom Zentrum Havannas bis zum Präsidentenpalast durch den schönsten Teil der Stadt lotsen. Eben weil ich den Weg schon kenne. Das erste Mal kreiste ich 20 Minuten lang herum, die Palastkuppel immer im Blickfeld – und kam ums Verrecken nicht hin. Zum Schluss habe ich es nur dank eines groben Verkehrsdeliktes geschafft (das inzwischen schon verjährt ist). Die Höchstgeschwindigkeit in der Stadt, falls sie nicht ausdrücklich beschränkt ist, beträgt 60 km/h bzw. 80 km/h dort, wo es einigermaßen möglich ist. In drei Tunneln, die in Havanna unter dem Meer (bzw. unter dem Fluss) geführt werden, sind 60 km/h Höchstgeschwindigkeit sowie 60 km/h Mindestgeschwindigkeit erlaubt. Also suchen Sie sich’s aus. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 45 oder 30 km/h wird auf großen viereckigen Tafeln angezeigt, es wird aber Ihrem Gutdünken

Anhang

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überlassen, wo diese Begrenzung endet. Das Vertrauen zum Fahrer drücken auch Tafeln aus, die ohne nähere Angaben schlicht „Geschwindigkeit drosseln“ anordnen. Überholt wird links wie rechts, wie ich schon im Absatz über die Handzeichen erwähnte. Angeblich sollte man das nicht. Die Autos haben sich je nach Geschwindigkeit von rechts nach links einzuordnen. Das macht hier allerdings keiner, ganz im Gegenteil: Ein LKW, der auf zwei Zylindern daher hechelt, fährt grundsätzlich auf der äußersten linken Fahrbahn. Und so wird rechts überholt. Irgendwann machte es einer, und so geht es bis heute. Man wird links wie rechts überholt, und das, obwohl bei den meisten Vehikeln auf der hinteren Stoßstange grüne und rote Pfeile mit Aufschriften „auf dieser Seite nicht überholen“ und „auf dieser Seite überholen“ angebracht sind. Diese sind oft mit Leuchtfarben gemalt, bunt eingerahmt und genauso nützlich wie die Brustwarzen eines Mannes. Der Verkehr in Havanna hat noch viele weitere Tücken. Man muss immer davon ausgehen, dass das Auto, das hinter Ihnen fährt oder seitlich auf Sie zukommt, keine Bremsen hat. Man muss damit rechnen, dass der andere Fahrer – insbesondere, wenn er hinterm Steuer eines Taxis oder eines Busses sitzt – ein Verkehrsanarchist ist, der keinerlei Verkehrsvorschriften gelten lässt. Man kann, muss aber nicht, davon ausgehen, dass dem Besitzer eines verbeulten Autos eine Kollision weitaus weniger ausmacht als dem Fahrer eines gut erhaltenen und intakten Fahrzeuges. Man muss wissen, dass manche Fahrbahnen im Stadtzentrum mit so viel Öl und Schmiere bedeckt sind, dass sie bei Regen spiegelglatt werden. Allerdings können Sie sich sicher sein, dass Sie bei jedweden Schwierigkeiten auf die Hilfe von Soldaten zählen können. Wenn Sie sich auch unter allen Umständen und jederzeit auf Ihren sechsten Sinn verlassen, so werden Sie nirgends mehr ein Auto so gut lenken können wie gerade in Havanna!

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