John Maynard Keynes: Aus dem Englischen übersetzt von Richard Barth [1 ed.] 9783428540099, 9783428140091

Die Lehren von John Maynard Keynes, einem der einflussreichsten Wirtschaftstheoretiker aller Zeiten, galten lange Zeit a

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German Pages 243 [244] Year 2015

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John Maynard Keynes: Aus dem Englischen übersetzt von Richard Barth [1 ed.]
 9783428540099, 9783428140091

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Paul Davidson

John Maynard Keynes Duncker & Humblot · Berlin

PAUL DAVIDSON John Maynard Keynes

John Maynard Keynes

Von

Paul Davidson Aus dem Englischen übersetzt von Richard Barth

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

First published in English by Palgrave Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited under the title John Maynard Keynes by Paul Davidson. This edition has been translated and published under licence from Palgrave Macmillan. The author has asserted his right to be identified as the author of this Work. © 2007, 2009 Paul Davidson Für die deutsche Ausgabe alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany Umschlag: John Maynard Keynes (© ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl) ISBN 978-3-428-14009-1 (Print) ISBN 978-3-428-54009-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84009-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In der Ökonomie kann man einen Kontrahenten niemals eines Fehlers überführen – man kann ihn höchstens davon überzeugen. Und selbst wenn man recht hat, kann man ihn nicht überzeugen […], wenn sein Kopf bereits voller gegenläufiger Überzeugungen ist. John Maynard Keynes zugeschriebenes Zitat

Der Zweck dieses Buches besteht darin, den Leser – sei er interessierter Laie, Student der Wirtschaftswissenschaften oder Ökonom – davon zu überzeugen, dass das, was heute als gängige Auffassung in den Wirtschaftswissenschaften gilt und regelmäßig von Talkshowgästen zu hören oder in den Printmedien und Fachzeitschriften des Mainstreams zu lesen ist, auf die Welt, in der wir leben, nicht anwendbar ist. Wie ich zu zeigen hoffe, ist die treffendste Beschreibung unserer marktorientierten, auf Unternehmertum basierenden Geldwirtschaft der revolutionäre wirtschaftswissenschaftliche Ansatz von John Maynard Keynes, dem wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Je weniger der Leser mit wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zu tun hatte, desto geringer die Gefahr, dass sein Kopf bereits voll ist mit dem, was der Harvardprofessor John Kenneth Galbraith einmal als „gängige Auffassung“ und als „unschuldigen Betrug“ der orthodoxen Ökonomie bezeichnet hat. Einen Laien davon zu überzeugen, wie eine Geldwirtschaft tatsächlich funktioniert, wird für mich demnach leichter sein, als wenn es sich um einen Wirtschaftsstudenten handelt; am schwersten ist diese Aufgabe, wenn der Leser ein Ökonom ist, der die gängige Auffassung in- und auswendig kennt. Ich habe mich daher insgesamt um eine gut lesbare Darstellung bemüht, es gelegentlich jedoch für nötig befunden, auf Fachbegriffe zu sprechen zu kommen, damit auch die Studenten und Professoren unter meinen Lesern Denkanstöße erhalten. Der Schwierigste dieser Fachdiskurse findet sich in einem Anhang zum 6. Kapitel. Der Laie kann diesen Anhang getrost überspringen. Die ersten drei Kapitel skizzieren, wie Keynes zu einem orthodoxen Ökonomen wurde und wie er angesichts der wirtschaftlichen Realität während und nach dem Ersten Weltkrieg zu der Erkenntnis gelangte, dass die Ökonomie, wie er sie lehrte und betrieb, mit erheblichen Mängeln behaftet war. In den Kapiteln vier bis sechs beschreibe ich, wie es Keynes nach zehn Jahren des Nachdenkens gelang, seinen Ansatz von der klassischen Wirtschaftstheorie abzugrenzen. Das siebte Kapitel fasst Keynes’ Sichtweise unseres Wirtschaftssystems zusammen. Der Laie wird die Darstellung im siebten Kapitel so unmittelbar einleuchtend finden, dass er oder sie mit Staunen vernehmen wird, dass professionelle Vertreter des Mainstreams diese Beschreibung und Analyse ablehnen. In den Kapiteln acht bis zehn

6

Vorwort

entwickle ich Keynes’ Analyse weiter und wende sie auf die wirtschaftlichen Probleme des 21. Jahrhunderts an. Das elfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Problem der Inflation und erklärt, inwiefern Keynes’ Ansatz zu Empfehlungen für die Inflationsbekämpfung führt, die sich dramatisch von jenem „unschuldigen Betrug“ unterscheiden, mit dem Zentralbanker die Inflation zu bekämpfen behaupten. Im zwölften Kapitel schließlich erläutere ich, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg durch die antikommunistische Hexenjagd der McCarthy-Ära und die gleichzeitige Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften zu Verwirrung über die revolutionäre Theorie Keynes’ kam und warum sie nicht zum Handwerkszeug aller professionellen Ökonomen geworden ist. Wenn genügend Menschen dieses Buch gelesen haben, wird die Analyse Keynes’ hoffentlich wieder das Denken und Handeln von Ökonomen und Politikern beeinflussen, so dass wir Fortschritte bei der Beseitigung der größten Mängel unseres heutigen Wirtschaftssystems machen können: Seine Unfähigkeit, allen einen Arbeitsplatz zu bieten, die arbeitswillig und -fähig sind, sowie die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen, die sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern unserer globalisierten Wirtschaft immer mehr zunimmt.

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel

John Maynard Keynes und seine revolutionären Ansichten

11

I.

Frühe intellektuelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

II.

Keynes’ intellektuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2. Kapitel

Wie der Erste Weltkrieg und seine Folgen sich auf Keynes’ Denken auswirkten 17

3. Kapitel ­

Keynes’ Mittelweg: Der Liberalismus als völlig neuer Ansatz

24

4. Kapitel

Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

29

I.

Worin ­Keynes’ revolutionärer Ansatz sich von der klassischen Theorie unterscheidet 29

II.

Theorien und ihre zugrundeliegenden Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

III. Das Axiom der Neutralität des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Das Axiom der Substituierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 V.

Das Axiom der Ergodizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

VI. Der Todesstoß für ­Keynes’ revolutionären Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5. Kapitel



Der grundsätzliche Unterschied zwischen ­ Keynes’ „Allgemeiner Theorie“ und der Klassischen Lehre: Ersparnisse und Liquidität

50

I.

Woran erkennt man einen Klassiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

II.

Das Say’sche Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

III. Die gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 V.

Ein Wort zur Alternativdefinition des Sparens von Milton Friedman . . . . . . . . . . . 68

8

Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel



Die nähere Bestimmung von ­Keynes’ aggregierter Nachfragefunktion

72

I.

Die zwei Komponenten der aggregierten Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

II.

Investitionsausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

III. Wie steht es um die anderen Komponenten von D2? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 IV. Steuern und Staatsausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Anhang zu Kapitel 6: Die Herleitung der gesamtwirtschaftlichen Angebots- und Nachfrage­ funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

7. Kapitel

Die Bedeutung von Geld, Verträgen und liquiden Finanzmärkten

89

I.

Die Bedeutung von Geldverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

II.

Verträge, Märkte und das Sicherheitsnetz der Liquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

III. Liquidität und Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Die Rolle der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 V.

Die Finanzmärkte und ­Keynes’ Liquiditätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

VI. Die Notwendigkeit geordneter Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 VII. Aufschwünge und Rezessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt, unveränderlich und ergodisch erfassbar, oder nicht­ ergodisch, nicht erfassbar und veränderbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IX. Essentielle Entscheidungen und der Schumpeter’sche Unternehmer . . . . . . . . . . . 129 X. Konsequenzen für die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

8. Kapitel I.

Der Zweite Weltkrieg und das offene Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit 134 Pläne für das offene Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

9. Kapitel

Klassische Handelstheorie kontra ­Keynes’ Allgemeine Theorie des internationalen Handels- und Zahlungssystems

145

I.

Die mit der klassischen Theorie des internationalen Handels verbundenen Vorteile 145

II.

Der internationale Handel und liberalisierte Märkte: Die Fakten . . . . . . . . . . . . . . 146

III. Vom Handel, dem Wohlstand der Nationen und dem Gesetz des komparativen Vorteils 147 IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel gegen eine passive Handelsbilanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Inhaltsverzeichnis

9

10. Kapitel

Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems

164

I.

Die Lektion der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

II.

Das System von Bretton Woods und der Marshallplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

III. ­Keynes, der Freihandel und ein internationales Zahlungssystem, das der Vollbeschäftigung Vorschub leistet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 IV. Die Reform des internationalen Zahlungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

11. Kapitel Inflation

181

I.

Verträge, Preise und Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

II.

Der Inflationsprozess in einer keynesianischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

III. Einkommensinflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 IV. Einkommenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

12. Kapitel

Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? Eine Spurensuche 190

I.

Feste Löhne und das Problem der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

II.

Wer hat der keynesianischen Revolution den eigentlichen Todesstoß versetzt? . . . 197

III. Die neoklassisch-keynesianische Synthese von Paul Samuelson . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Wie der ­Keynesianismus nach Amerika kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 V.

Wie lernte Samuelson ­Keynes’ Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

VI. Die axiomatischen Unterschiede zwischen der neoklassisch-keynesianischen Synthese Samuelsons und der keynesianischen bzw. postkeynesianischen Theorie . . . 205 VII. Wie steht es mit Hicks’ IS/LM-Modell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 VIII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Nachwort: Die große Finanzkrise 2008/2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I.

Wodurch wurde die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 ausgelöst? . . . . . . . . . 213

II.

Finanzmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

III. Mit welchen Maßnahmen kann man die Erholung der Realwirtschaft 2009 fördern? 225

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

1. Kapitel

John Maynard Keynes und seine revolutionären Ansichten Wer, geschätzter Leser, war Ihrer Ansicht nach der größte Engländer des 20. Jahrhunderts? Wer schuf mit seinen Bemühungen die Grundlage für den Siegeszug der Demokratie und einer zivilisierten Gesellschaft? Vermutlich fällt Ihnen hier als erster Winston Churchill ein. In diesem Buch möchte ich Sie davon überzeugen, dass dieser Engländer kein Politiker war, sondern ein Ökonom, der niemals ein politisches Amt bekleidete: John Maynard Keynes. Keynes war kein weltfremder Akademiker im Elfenbeinturm. Neben seiner Lehrtätigkeit in Cambridge traf Keynes als Schatzmeister des Kings College wichtige Investitionsentscheidungen. Außerdem saß er im Vorstand mehrerer Ver­ sicherungs- und Investmentgesellschaften und erlebte dabei aus erster Hand, wie Marktteilnehmer sich auf Finanzmärkten verhalten. Und schließlich erkannte er im Rahmen seiner Tätigkeiten im India Office und als Berater des Finanzministeriums während zweier Weltkriege die Notwendigkeit, theoretische Rezepte in politisch mehrheitsfähige, praktisch umsetzbare Pläne zu verwandeln. Keynes war ein Ökonom, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Churchill kämpfte für den Erhalt des britischen Weltreichs und errichtete ein Bollwerk, das Hitler so lange aufhielt, bis die USA sich dem Kampf gegen Nazideutschland anschlossen. Churchills Wirtschaftspolitik basierte jedoch auf der klassischen ökonomischen Theorie des 19. Jahrhunderts und brachte deshalb ein Wirtschaftssystem mit zwei eklatanten Mängeln hervor: Erstens verfehlte sie das Ziel, allen qualifizierten Bewerbern, die willens sind, für den marktüblichen Lohn zu arbeiten, einen Vollzeitarbeitsplatz zu bieten, und zweitens resultierte sie in einer vom Zufall abhängigen und ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung, die bei Armen und Angehörigen der unteren Mittelschicht nicht selten unnötig unzivilisierte Lebensbedingungen zur Folge hatte.1 Das menschliche Leid, das mit der Unfähigkeit des Wirtschaftssystems einherging, dauerhaft für Vollbeschäftigung zu sorgen, sowie die krasse Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in diesem Wirtschaftssystem, waren für Keynes nicht hinnehmbar. Seiner Ansicht nach galt es alles daranzusetzen, diese Mängel durch die Schaffung geeigneter Institutionen und die Durchführung entsprechender Reformen zu beseitigen.2 1

Vgl. Keynes 1936, S. 314. Vgl. Harrod 1951, S. 192.

2

12

1. Kap.: John Maynard Keynes und seine revolutionären Ansichten 

Im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor, Autor und Regierungsberater entwickelte und propagierte Keynes eine revolutionäre Wirtschaftstheorie. Diese sollte die klassische Wirtschaftstheorie ablösen, die das ökonomische Denken seit mehr als 130 Jahren geprägt hatte. Von den meisten seiner Fachkollegen wurde seine revolutionäre Theorie missverstanden; Regierungen hingegen folgten nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Empfehlungen und schufen so ein wachstumsförderndes Umfeld. Die Folge war eine Ära bis dato ungekannten realen Wirtschaftswachstums, die fast 25 Jahre lang währte – vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen 1970er Jahre hinein. In allen Staaten, deren Wirtschaftssystem an kapitalistischen Prinzipien ausgerichtet war, so die Entwicklungsökonomin Irma Adelman, sei dieses Vierteljahrhundert das „goldene Zeitalter der wirtschaftlichen Entwicklung“ gewesen. In diesem „goldenen Zeitalter“ hat es in diesen Staaten kaum Arbeitslosigkeit gegeben. Die Einkommen sind schneller gestiegen und die Vermögen schneller angewachsen als je zuvor. Bestehende Ungleichheiten wurden abgebaut, und nahezu die gesamte Bevölkerung dieser Staaten erfuhr eine spürbare Anhebung ihres Lebensstandards. Angesichts dieser atemberaubenden wirtschaftlichen Bilanz rückte die Vision, dass einst alle Menschen in einer zivilisierten Gesellschaft leben, in greifbare Nähe – schon Ende des 20 Jahrhunderts schien dieses Ziel erreichbar. Leider wurde Keynes’ revolutionärer Ansatz, wie wir sehen werden, von den Politikern der Nachkriegszeit, ihren Beratern in Wirtschaftsfragen, den Ökonomen des akademischen Mainstreams und den Autoren wirtschaftswissenschaftlicher Lehrbücher in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts nur unzureichend verstanden. In den frühen 1970er Jahren kam es daher auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie und -politik zu einer Gegenrevolution – mit der Folge, dass Mitte der 1970er Jahre die letzten Reste von Keynes’ politischen Empfehlungen von den meisten Ökonomen und Regierungsberatern abgelehnt wurden. An die Stelle von Keynes’ Rezepten traten konventionellere Ansätze, die sich auf eine Hightech-Variante der klassischen Wirtschaftslehre aus dem 19. Jahrhundert stützten. Wiederbelebt wurde diese mit dem Argument der Wirtschaftstheoretiker, man wolle die Ökonomie zu einer „exakten Wissenschaft“ machen. Keynesianische Wirtschaftspolitik wurde prinzipiell abgelehnt, obgleich sie in der Praxis mitunter doch Anwendung fand, insbesondere in der Gestalt des „Militärkeynesianismus“ konservativer US-Präsidententen (wie Ronald Reagan und George W. Bush), die durch eine massive Anhebung der Militärausgaben enorme Haushaltsdefizite produzierten, dabei jedoch kurzfristig der Wirtschaft der USA starke Wachstumsimpulse gaben. Demungeachtet war die Rückkehr zur klassischen Theorie, wonach der Umgang des Staates mit dem Markt vom Prinzip des Laissez-faire geprägt sein sollte, angesichts der bereits erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung der zwei größten Fehler des kapitalistischen Wirtschaftssystems ein großer Rückschritt. Seit 1973 hat sich das Wirtschaftswachstum in zahlreichen Industrie- und Entwicklungslän-

I. Frühe intellektuelle Einflüsse

13

dern deutlich verlangsamt. Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kämpften die Volkswirtschaften überall auf der Welt erneut mit hartnäckiger Arbeitslosigkeit und zunehmender Ungleichheit der Einkommen und Vermögen. In diesem Buch will ich versuchen zu erklären, wie es Keynes gelungen ist, sein Denken von den Fesseln der klassischen ökonomischen Theorie mit ihrer übertrieben optimistischen Philosophie zu befreien. Keynes selbst schrieb dazu: Der berühmte Optimismus der traditionellen ökonomischen Theorie, der dazu geführt hat, dass jeder Ökonom als Candide angesehen wird, der nach Verlassen dieser Welt sich der Bebauung seines Gartens widmet und lehrt, dass alles aufs beste in dieser besten der möglichen Welten geregelt ist, wenn nur alles sich selbst überlassen bleibt, (scheint mir auch auf deren Unterlassung zurückzuführen zu sein, die Hemmung des Wohlstandes zu berücksichtigen, die durch einen Mangel an effektiver Nachfrage ausgeübt werden kann.) Denn in einer nach der Art der klassischen Postulate funktionierenden Gesellschaft müßte es offenkundig eine natürliche Tendenz zur optimalen Beschäftigung der Ressourcen geben. Es ist gut möglich, dass die klassische Theorie die Art des Verhaltens unserer Wirtschaft repräsentiert, die wir gerne sähen. Aber anzunehmen, dass sie sich tatsächlich so verhält, heißt, unsere Schwierigkeiten einfach wegzudefinieren.3

Keynes gedachte nicht, die Probleme einfach wegzudefinieren. Anlässlich eines zu seinen Ehren gegebenen Empfangs der Royal Economic Society brachte Keynes 1945 einen Toast auf „die Ökonomie und die Ökonomen“ aus, „die Treuhänder nicht der Zivilisation, aber der Möglichkeit der Zivilisierung“.4 Keynes war ein scharfer Analytiker, dem es gelang, sich von den Fesseln des klassischen Ansatzes zu befreien, der zu seiner Zeit das Denken der Ökonomen beherrschte (und bis heute beherrscht). Durch eine Neuausrichtung seines Denkens kam er zu einer realistischen Sichtweise auf die Wirtschaftswelt, in der wir leben. Dadurch wurde er zum denkbar besten Treuhänder einer stabilen, friedlichen und zivilisierten Weltwirtschaft im Dienste der gesamten Menschheit.

I. Frühe intellektuelle Einflüsse John Maynard Keynes wurde am 5. Juni 1883 geboren. Er war das älteste der drei Kinder von Cambridgeprofessor John Neville Keynes und dessen Frau Florence Ada Keynes. Die Keynes lebten in der Harvey Road 6 in Cambridge. Als Teil  des viktorianischen Bürgertums genoss die Familie „einen bescheidenen Wohlstand mit erheblichen Annehmlichkeiten. Das Haus verfügte über zahlreiche Bedienstete, die Tage waren voller [intellektueller] Aktivitäten, und die Zukunft gesichert.“5 Keynes verbrachte eine Kindheit in einem Umfeld, das geprägt war von der „in der Harvey Road vorherrschenden Geisteshaltung“, wie Harrod es 3

Keynes 1936, S. 29. Harrod 1951, S. 191 f. 5 Harrod 1951, S. 1. 4

14

1. Kap.: John Maynard Keynes und seine revolutionären Ansichten 

ausdrückte.6 Diese verkörperte die konstanten Werte der viktorianischen Zeit, wonach „Friede, Wohlstand und Fortschritt als der natürliche Gang der Dinge“ betrachtet wurden.7 In Cambridge wurde der Glaube an die Religion als Bestimmung des eigenen Lebens und der Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts von der Vorstellung ab­ gelöst, man könne den Ursprüngen der gesellschaftlichen Ordnung und der Weisheit auf den Grund gehen, indem man sich mit den Prinzipien der „moral sciences“ (Geisteswissenschaften) auseinandersetze.8 Die Prüfung in den „moral sciences“ setzte in Cambridge zur damaligen Zeit das Studium der Moralphilosophie, der politischen Philosophie, der Logik, der Psychologie und der Ökonomie voraus. In den jungen Jahren von John Maynard gingen im Haus der Keynes Ökonomen und Philosophen ein und aus, die zu den berühmtesten ihrer Zeit gehörten. Intellektuelle Diskussion auf diesen Gebieten standen in der Harvey Road 6 auf der Tagesordnung. Die gelehrten Diskussionen, deren Zeuge Keynes in seiner Kindheit und Jugend dort gewesen ist, haben das Denken des jungen Keynes sicherlich entscheidend mitgeprägt. Ein Eckpfeiler der in der Harvey Road vorherrschenden Geisteshaltung war, dass eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Intellektuellen den Regierenden durch ihr Streben nach Wissen Richtlinien für eine Politik an die Hand geben könne, die Frieden, Wohlstand und Fortschritt sichert. Regierungen, so die Grundidee, sollten den Markt nach dem Prinzip des Laissez-faire sich selbst überlassen. Zugrunde lag diesem Ansatz die Annahme, dass freie Märkte es den Einzelnen ermöglichten, ihre Eigeninteressen zu verfolgen, was letztlich dem Gemeinwohl zugute komme. Der Erste Weltkrieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen sollten diese Geisteshaltung in ihren Grundfesten erschüttern. Als junger Mann Anfang Zwanzig erkannte Keynes, dass diese allzu optimistische Philosophie des Laissezfaire problematisch war. Trotzdem verlor er niemals die Überzeugung, dass eine Gruppe intellektueller Geisteswissenschaftler der Menschheit den Weg hin zu kontinuierlichem Fortschritt und einer stetigen Verbesserung der Lebensumstände weisen könne. Insofern überrascht es nicht, dass Keynes in seinen Büchern und Vorlesungen darauf drängte, Wissenschaftler sollten ihre Intelligenz in den Dienst des Gemeinwohls stellen, um Institutionen zu schaffen und eine Politik umzusetzen, die eine zivilisierte, friedliche Gesellschaft hervorbringen und die Grundlage für Wohlstand und Fortschritt legen, der allen zugute kommt, ohne das marktwirtschaftliche System zu zerstören.

6

Vgl. Harrod 1951, S. 183, 192 f. Vgl. Skidelsky 1996, S. 2. 8 Vgl. Greer 2000, S. 20. 7

II. Keynes’ intellektuelle Entwicklung

15

II. Keynes’ intellektuelle Entwicklung 1897, im Alter von 14 Jahren, erhielt Keynes ein Stipendium in Eton, an einer der prestigeträchtigsten britischen Privatschulen. Dort erwies er sich als Ausnahmeschüler, der in Mathematik, Altphilologie und Geschichte Höchstleistungen erbrachte.9 Im Jahr 1902 schrieb Keynes sich am King’s College in Cambridge ein. Dort prägte ihn der Philosoph G. E. Moore, dessen Principia Ethica (1903) für Keynes und andere Intellektuelle seiner Generation zu einem „Manifest des Modernismus“ wurden. Im 1938 geschriebenen Aufsatz „My Early Beliefs“ notierte Keynes, was seine Weltsicht betreffe, habe Moores Buch „damals, und vielleicht noch heute, alles andere in den Schatten“ gestellt.10 Hielt man sich an Moores Methode, so Keynes, so „durfte man hoffen, ihrer Natur nach vage Gedanken klar auszudrücken, indem man sie mit exakten Worten beschrieb und präzise Fragen stellte“ (Keynes 1949, S. 88). Dieses Streben nach präziser Taxonomie und verständlicher Darstellung ermöglichte es Keynes, sich aus dem Griff der klassischen ökonomischen Lehre, die er in Cambridge als Student des führenden Ökonomen jener Tage, Alfred Marshall, kennengelernt hatte, zu befreien. Unter dem Einfluss des Ansatzes von Moore entwickelte Keynes seine revolutionäre Sicht auf ökonomische Zusammenhänge. Grundlage dafür war, dass es ihm gelang, eine neue Taxonomie bezüglich des unscharfen Begriffs der „Ersparnisse“ zu entwickeln, der für die klassische Ökonomie kennzeichnend war. Keynes erster Biograph, Roy Harrod, notierte hierzu: Tatsächlich beruhte Keynes’ Ansatz im Wesentlichen auf einer Reihe von Neudefinitionen und einer neuen Klassifikation. Er verlangte von uns, die vielfältigen Phänomene des Wirtschaftslebens aus einer anderen Perspektive zu betrachten und sie in unseren Köpfen neu zu ordnen. […] Der Klassifikation kommt in der Ökonomie, ähnlich wie in der Biologie, eine entscheidende Rolle zu. Man darf [Keynes] nicht nach der intrinsischen Bedeutung der Überlegungen beurteilen, die ihn zum Bruch mit der Tradition veranlassten; wichtig ist, was er nach diesem Bruch [mit der ökonomischen Theorie des 19. Jahrhunderts] erreicht hat. Die frühere Denkrichtung argumentierte beflissentlich, neue Überlegungen könnten problemlos innerhalb des alten Begriffssystems eingebracht werden […], dafür bedürfe es keines neuen Begriffssystems. Diese Annahme ist falsch.11

„Der entscheidende Fehler des klassischen Systems“, urteilte Harrod, ­„bestand darin, dass es von dem ablenkte, was am dringlichsten der Aufmerksamkeit bedurfte. Dank seines außergewöhlichen, intuitiven Gespürs für das Wesentliche erkannte Keynes die Fehler der herkömmlichen Klassifikation. Dank seiner hochentwickelten Fähigkeit, logisch zu denken, war er in der Lage, eine neue Klassifikation zu entwickeln. Dafür brauchte er zehn Jahre.“12 9

Vgl. Skidelsky 1996, S. 18. Keynes 1949, S. 81. 11 Harrod 1951, S. 463 f. 12 Harrod 1951, S. 463. 10

16

1. Kap.: John Maynard Keynes und seine revolutionären Ansichten 

Am Ende legte Keynes einen wissenschaftlichen Begriffsrahmen für die ökonomische Analyse vor, der – zumindest eine Zeitlang – Ökonomen und Regierungsberatern eine neue Perspektive auf die Ursachen von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum eröffnete. Wie viele herausragende Ökonomen unserer Tage wären bereit, sich Moores Forderung einer präzisen Sprache und glasklarer Fragestellungen zu Herzen zu nehmen und zehn Jahre lang an der Entwicklung einer neuen Taxonomie zu arbeiten, um die Mängel der vorherrschenden klassischen Theorie offenzulegen – einer Theorie, die den führenden Köpfen ihrer Zunft als absolute Wahrheit gilt? Für Keynes jedoch war das Streben nach Wissen eine Mischung aus „Philosophie und Ökonomie, und zwar eher Ersteres als Letzteres“.13 Kurz: Keynes, Ökonom und Philosoph zugleich, war ein „großer Denker“, weil er bereit war, seine Zeit auf die Ausarbeitung eines präzisen Klassifizierungssystems und einer klaren Sprache zu verwenden, mit denen sich die zwei großen Mängel unseres Wirtschaftssystems erklären ließen – die Arbeitslosigkeit und die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen.14 Angesichts der Massenarbeitslosigkeit seiner Zeit stand für ­Keynes außer Frage, dass jeder spürbare Schritt in Richtung Vollbeschäftigung nicht nur zu einer Steigerung des Gesamteinkommens einer Volkswirtschaft führen würde, sondern zu einer deutlichen Einkommenssteigerung bei der Mehrheit der ärmsten Mitglieder der Gesellschaft: bei den arbeitslosen Arbeitern. Hielte man sich an Keynes’ Analyse und Handlungsempfehlungen, so hätte das demnach eine Verringerung der Einkommensungleichheit zur Folge. Allerdings glaubte Keynes nicht an völlige Einkommensgleichheit. Er schrieb: Ich selber glaube, dass bedeutsame Ungleichheiten von Einkommen und Reichtum gesellschaftlich und psychologisch gerechtfertigt sind, aber nicht so große Ungleichheiten, wie sie heute bestehen. Es gibt wertvolle menschliche Betätigungen, die zu ihrer vollen Entfaltung das Motiv des Gelderwerbes und den Rahmen privaten Besitztums erfordern. Gefährliche menschliche Triebe können überdies durch Gelegenheiten für Gelderwerb und privaten Besitz in verhältnismäßig harmlose Kanäle abgeleitet werden, die, wenn sie nicht auf diese Art befriedigt werden können, einen Ausweg in Grausamkeit, in rücksichtsloser Verfolgung von persönlicher Macht und Autorität und anderen Formen von Selbsterhöhung finden könnten. Es ist besser, dass ein Mensch sein Bankguthaben tyrannisiert als seine Mitmenschen […]. [Allerdings] ist es […] nicht notwendig, dass das Spiel um so hohe Einsätze wie gegenwärtig gespielt wird. Erheblich niedrigere Einsätze werden dem Zweck ebenso sehr dienen, sobald sich die Spieler an sie gewöhnt haben. Die Aufgabe, die menschliche Natur umzugestalten, darf nicht mit der Aufgabe verwechselt werden, sie zu steuern.15

13

Skidelsky 1996, S. 17. Vgl. Keynes 1936, S. 314. 15 Keynes 1936, S. 315 f. (Hervorhebung d. Verf.). 14

2. Kapitel

Wie der Erste Weltkrieg und seine Folgen sich auf Keynes’ Denken auswirkten Am Ende seines Studiums 1906 legte Keynes das zweitbeste Staatsexamen seines Jahrgangs ab. Für ein erfolgreiches Abschneiden in diesem Examen, so Keynes am 4. Oktober 1906 in einem Brief an seinen Freund Lytton Strachey, sei „echtes Wissen offenbar ein unüberwindliches Hindernis. Das schlechteste Ergebnis habe ich in den einzigen beiden Fächern erzielt, in denen ich ein fundiertes Wissen hatte: Mathematik und Wirtschaft. […] In Wirtschaft hatte ich eine ziemlich niedrige Punktzahl und wurde nur acht- oder neuntbester – dabei beherrschte ich in diesen beiden Fächern den gesamten Stoff […] in allen Einzelheiten.“1 Später, schreibt Harrod, habe Keynes sein schlechtes Abschneiden in Wirtschaft damit erklärt, dass er offenbar mehr Ahnung von Wirtschaft gehabt habe als seine Prüfer.2 Da er in dieser Prüfung das zweitbeste Ergebnis erzielt hatte, erhielt Keynes eine Anstellung im India Office. Während seiner kurzen Tätigkeit für dieses Ministerium lernte Keynes die Funktionsweise einer Regierungsbehörde kennen und entwickelte ein Interesse an Indien, insbesondere am indischen Währungssystem.3 Diese Erfahrung sollte tiefgreifende Auswirkungen auf seine späteren Arbeiten und auf seine Formulierung einer Theorie zur Rolle des Geldes für den Wirtschaftskreislauf haben. Zwei Jahre später, an seinem 25.  Geburtstag (dem 5.  Juni 1908), kündigte­ Keynes seinen Job im India Office, um als Privatdozent an der Cambridge University anzufangen. Dabei handelte es sich um eine privat finanzierte Stelle, für die A. C. Pigou aufkam, der Nachfolger von Alfred Marshall auf dem Lehrstuhl für Ökonomie. In Cambridge hielt Keynes in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Vorlesungen zum Thema Geld, Kredit und Preise. Harrod notiert dazu, Keynes habe sich in seinen Ausführungen zwar mit wirtschaftlichen Theorien befasst und die Sprache der Finanzmärkte benutzt, doch „seine Erklärungen waren stets ungemein anschaulich. […] Selbst in seinen Grundlagenvorlesungen […] gab er mehr konkrete Beispiele als in solchen Kursen normalerweise üblich.“4

1

Skidelsky 1983, S. 175. Vgl. Harrod 1951, S. 121. 3 Vgl. Harrod 1951, S. 130. 4 Harrod 1951, S. 145. 2

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2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

Während seiner Tätigkeit für das India Office arbeitete Keynes in seiner Freizeit an einer Wahrscheinlichkeitstheorie  – ein Thema, über das er erstmals in seiner Dissertation in Cambridge geschrieben hatte.5 Er sollte sich in seiner Freizeit fast 15 Jahre mit diesem Thema beschäftigen, ehe er schließlich 1921 seine Abhandlung „Über Wahrscheinlichkeit“ veröffentlichte. Seine Erkenntnisse auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie ermöglichten es Keynes später, seinen theoretischen Ansatz zum Konzept der Ungewissheit von den Theorien Marshalls, Pigous und anderer zu jener Zeit führender Vertreter des klassischen Ansatzes abzugrenzen, und sie sind es auch, was Keynes von zeitgenössischen orthodoxen Ökonomen unterscheidet. Im Rahmen der klassischen Theorie „spielt die Ungewissheit für die Entscheidungsfindung wirtschaftlicher Akteure eine untergeordnete Rolle, da rationale, nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung agierende Individuen [angeblich] in der Lage sind, Unsicherheiten auf Grundlage der historischen Entwicklung praktisch zu eliminieren“.6 Im Gegensatz zur orthodoxen, klassischen Ökonomie des 19.  und 20.  Jahr­ hunderts (und im Gegensatz zur auch im 21. Jahrhundert noch vorherrschenden Sichtweise) betrachtete Keynes „sowohl die Wahrscheinlichkeitstheorie als auch die Ökonomie als Zweige der Logik, nicht der Mathematik. Daher sollten diese Disziplinen sich Argumentationsweisen befleißigen, die für Erstere angemessen sind, wie Intuition und Werturteile, und auf einer genauen Kenntnis von Fakten beruhen, die sich nicht in Zahlen fassen lassen.“7 Diese Ansicht sollte für die Abgrenzung von Keynes’ wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz von dem orthodoxer Theorien eine wichtige Rolle spielen. Anders als viele seiner besten Freunde in Cambridge betrachtete es Keynes bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als seine Pflicht, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen.8 In der Septemberausgabe des Economic Journal, dessen Herausgeber er war, veröffentlichte Keynes 1914 den meisterlichen Artikel „War and the Financial System, August 1914“. Dieser Artikel erregte in Regierungskreisen erhebliches Aufsehen, doch erst im Januar 1915 wurde Keynes eine Stelle in einem Ministerium angeboten, als Assistent von Sir George Paish, des persönlichen Beraters von Finanzminister Lloyd George. Nach dem Regierungswechsel im Mai 1915 wurde Reginald McKenna Finanzminister, und Keynes wurde der „unmittelbar mit der Finanzierung des Krieges befassten“ Abteilung 1 zugewiesen.9 Die Arbeit im Finanzministerium während des Krieges lehrte Keynes, wie wichtig für die Beeinflussung des Wechselkurses der Umgang mit Erwartungen war. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erkannte Keynes die Bedeutung stabiler 5

Vgl. Skidelsky 1983, S. 206. Greer 2000, S. 33. 7 Skidelsky 1983, S. 222. 8 Vgl. Harrod 1951, S. 78. 9 Vgl. Skidelsky 1983, S. 303. 6

2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

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Wechselkurse, und schrieb in Anspielung auf seine Erfahrungen im Finanzministerium während des Ersten Weltkriegs: „Die Verabschiedung vom Goldstandard hätte unsere Kreditwürdigkeit zerstört und die Wirtschaft ins Chaos gestürzt; sie hätte keinen echten Vorteil gebracht.“10 Diese frühen Erfahrungen hatten große Auswirkungen auf Keynes’ Vision einer Nachkriegsordnung des internationalen Zahlungssystems und seine Überzeugung von der Notwendigkeit stabiler Wechsel­kurse. Der folgende amüsante Vorfall illustriert, weshalb Keynes durch seine Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs zu der Erkenntnis gelangte, auf welch wackliger Basis auf den Finanzmärkten die Bewertung von Wertpapieren erfolgte. Während des Krieges benötigte England für den Import kriegswichtiger Güter aus Spanien dringend spanische Peseten. Mit großer Mühe gelang es Keynes, einer kleinen Summe Peseten habhaft zu werden, was er pflichtschuldig dem Finanzminister berichtete. Dieser bemerkte erleichtert, dass man nun ja wenigstens vorübergehend Peseten zur Verfügung habe. „‚Oh nein, keineswegs‘, antwortete ­Keynes. ‚Wie bitte?‘, fragte sein Chef entgeistert. ‚Ich hab sie wieder verkauft: Ich will den Markt kaputt machen.‘ Und genau das gelang ihm auch.“11 Während eines Großteils des Krieges bestand Keynes’ wichtigste Aufgabe darin, die Finanzierung des Imports der vielen militärischen und zivilen Güter sicherzustellen, auf die Großbritannien angewiesen war. Die dabei gemachten Erfahrungen kamen ihm sehr zugute, als er während des Zweiten Weltkriegs anlässlich der Konferenz von Bretton Woods zur Frage der Organisation des internationalen Zahlungsverkehrs nach dem Krieg Leiter der britischen Delegation war. Im Januar 1916 führte die britische Regierung die Wehrpflicht ein. Die meisten seiner Freunde von der „Bloomsbury Group“ verweigerten den Kriegsdienst. Keynes argumentierte ihnen gegenüber, da Großbritannien sich nun einmal im Krieg befinde, sei es ihre Pflicht, daran mitzuarbeiten, die internationalen Beziehungen auf eine neue, bessere Grundlage zu stellen, damit es nie wieder zu einem derart schrecklichen Blutvergießen komme.12 Keynes „hat sich geschworen, alles in seiner Macht stehende zu tun, um einen dauerhaften Frieden zu sichern und die internationalen Beziehungen neu zu ordnen“.13 Dieser heimliche Schwur, so Skidelsky, sei einer der Gründe für die Leidenschaft gewesen, mit der Keynes in seinem Buch „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1919, dt. 1920) die Regierenden auf Seiten der siegreichen Alliierten für die Bedingungen kritisierte, die Deutschland im Versailler Vertrag aufgezwungen wurden.14

10

Harrod 1951, S. 204. Harrod 1951, S. 203. 12 Skidelsky liefert Belege, die darauf hindeuten, dass auch Keynes mit dem Gedanken spielte, den Kriegsdienst zu verweigern (1983, S. 320 ff.). 13 Harrod 1951, S. 215. 14 Skidelsky 1983, S. 316. 11

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2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

Der Waffenstillstand vom November 1918 enthielt eine von Frankreich und Großbritannien eingefügte Klausel, wonach Deutschland für „alle Schäden“ aufzukommen hatte, die der Zivilbevölkerung und ihrem Eigentum zugefügt worden seien.15 Bereits 1916 hatte Keynes in einem Memo geschrieben, dass die zu fordernden Reparationen keinesfalls der Produktionsfähigkeit Deutschlands schaden dürften, da etwaige Reparationen letztlich nur durch den Export deutscher Güter finanziert werden könnten. Ihm war sofort klar, dass die von Frankreich ge­for­der­ ten und vom britischen Premierminister Lloyd George unterstützten Reparationen die deutsche Wirtschaft überfordern würden. Keynes war überzeugt, dass die Größenordnung der von den Alliierten geforderten Reparationen völlig unrealistisch war. „Die Briten und Franzosen wollten Deutschland melken“, unter anderem um die französischen und britischen Kriegsschulden bei den Amerikanern zu begleichen.16 Wenn man die Amerikaner davon überzeugen könnte, ihren Verbündeten einen Teil der Kriegsschulden zu erlassen, erkannte Keynes, könnte man die Deutschland auferlegten Reparationen auf ein erträglicheres Maß reduzieren. Er setzte sich daher für einen allgemeinen Schuldenerlass ein. Der Versuch, alle Schulden und Reparationen einzutreiben, konnte seiner Ansicht nach zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen. Für den Fall, dass ein genereller Schuldenerlass politisch nicht durchsetzbar sein sollte, empfahl Keynes den Alliierten, deutsche Reparationsanleihen zu akzeptieren, um „alle gegenseitigen Zahlungsansprüche vollständig zu begleichen“.17 In dieser Formulierung ist bereits der Keim von Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie des Geldes zu erkennen – jener Theorie, die 1936 zur Grundlage von Keynes’ revolutionärer Abkehr von der klassischen ökonomischen Theorie werden sollte. Diese Empfehlungen Keynes’ sollten verhindern, dass „Deutschland umgehend seines gesamten Umlaufkapitals beraubt würde, und es den europäischen Alliierten erleichtern, ihre schwere Schuldenlast zu tragen. Sie waren nichts anderes als ein Marshallplan im Kleinen.“18 Leider war Keynes Vorschlag weder für die Franzosen und Briten, noch für die Amerikaner akzeptabel. Als der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde, gab Keynes seinen Posten im Finanzministerium auf. „Ich stehle mich aus diesem Albtraum davon“, schrieb er an den Premierminister. „Ich kann hier nichts mehr ausrichten. Selbst in den schrecklichen letzten Wochen habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Sie einen Weg finden würden, zu einem gerechten, zielführenden Vertrag zu kommen. Nun ist es dafür offensichtlich zu spät. Die Schlacht ist verloren.“19

15

Vgl. Skidelsky 1983, S. 354. Vgl. Skidelsky 1983, S. 367. 17 Skidelsky 1983, S. 368. 18 Harrod 1951, S. 246. 19 Skidelsky 1983, S. 374 f. 16

2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

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Im Sommer und Herbst 1919 hielt Keynes seine Enttäuschung mit dem Prozess, der zur Ausarbeitung des Friedensvertrages geführt hatte, in seinem Buch „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ fest. Veröffentlicht wurde es im Dezember 1919. Harrod lobte es als „eine der hervorragendsten Polemiken, die je in englischer Sprache verfasst wurden“.20 Für Skidelsky darf dieses Buch als ­Keynes’ bestes gelten. Das Buch sei zwar eine Erläuterung des Reparationsproblems, jedoch nicht in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung. „Es ist ein ­ eynes, leidenschaftliches Buch. wütendes, verächtliches und, ungewöhnlich für K Nie wieder hat er Stümpertum und Verlogenheit so laut und deutlich angeprangert, nirgends sonst wird seine moralische Empörung so deutlich wie hier. […] Das Ergebnis ist eine persönliche Stellungnahme, die in der Literatur des 20. Jahrhundert ihres­gleichen sucht. ­Keynes formuliert hier den klaren Führungsanspruch des Ökonomen. Alle anderen Herrschaftsformen seien bankrott. Die Wohlstands­ vision des Ökonomen und ein neuer, wissenschaftlicher Qualitätsstandard sollten das letzte Bollwerk gegen Chaos, Wahnsinn und Regression sein“21. ­Keynes’ Erfahrungen während des Krieges „markierten den Beginn seiner Karriere als radikaler Ökonom“.22 Im Viktorianischen Zeitalter, so Skidelsky, habe man sich in England die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des zivilisatorischen Fortschritts vom Glauben an Gott erhofft. Zum Zeitpunkt der Jahrhundertwende jedoch war Gott von den Professoren und Philosophen für tot erklärt worden. Damit war ein neues Zeitalter angebrochen, das vom Glauben an die Wissenschaft als Motor des Fortschritts geprägt war. Doch die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs hatten aufgezeigt, dass die Wissenschaft nicht automatisch den Weg in eine fortschrittliche, zivilisierte Gesellschaft wies. „Für den Rest ­ eynes, die Vision einer zivilisierten Gesellschaft zuseines Lebens versuchte K rückzuerlangen“.23 Die wahren Treuhänder der Zivilisation waren für ­Keynes die Kulturschaffenden wie seine Freunde aus der „Bloomsbury Group“ (Lytton Strachey, Virginia Woolf, Vanessa Bell, Duncan Grant, usw.).24 Doch eine unabdingbare Voraussetzung, damit der zivilisierende Einfluss der Künstler sich entfalten könne, sei eine florierende, wachsende Wirtschaft. Um die Möglichkeit einer zivilisierten Gesellschaft zu befördern, bedürfe es des Rates guter Ökonomen. In Viktorianischer Zeit, als ­Keynes seine Kindheit in der Harvey Road verlebte, ging man gemeinhin davon aus, dass alle Voraussetzungen für ein florierendes, wachsendes und gut funktionierendes Wirtschaftssystem bereits vorhanden waren. Der Erste Weltkrieg bereitete diesem Vertrauen auf ein vom Prinzip 20

Harrod 1951, S. 253. Skidelsky 1983, S. 384 22 Skidelsky 1983, S. 401. 23 Skidelsky 1983, S. 402. 24 Skidelsky (1992, S. xxviii) zufolge wäre ­Keynes gerne selbst Künstler geworden, sah sich jedoch außerstande, Kunstwerke zu schaffen. 21

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2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

des Laissez-faire geprägtes Wirtschaftssystem, und damit der Hoffnung auf eine zivilisierte Gesellschaft, ein jähes Ende. Zwischen 1922 und 1936 fiel die Arbeitslosenquote in Großbritannien nur ein einziges Mal unter die 10-Prozent-Marke (1927 betrug sie 9,7 Prozent). Diese lange Phase hoher Arbeitslosigkeit schien alle Hoffnungen auf die Errichtung einer zivilisierten Gesellschaft zunichte zu machen. Angesichts der britischen Wirtschaftsentwicklung der 1920er Jahre stand für­ Keynes fest, dass die orthodoxe, klassische Wirtschaftstheorie ungeeignet war, Richtlinien für die Schaffung eines zivilisierten Systems vorzugeben. „Denn in einer nach der Art der klassischen Postulate funktionierenden Gesellschaft müßte es offenkundig eine natürliche Tendenz zum optimalen Einsatz der Ressourcen geben“.25 Da die Arbeitslosenrate nun schon seit 14 Jahren bei oder über 10 Prozent lag, war offensichtlich, dass sich die Vorhersagen der klassischen Ökonomie nicht auf unsere Erfahrungswelt anwenden ließen. Für einen Mann mit ­Keynes’ kreativen Fähigkeiten lag auf der Hand, dass es zur Erklärung eines Wirtschaftssystems, das von dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war, einer neuen Wirtschaftstheorie bedurfte. Die kluge Anwendung dieser neuen Theorie, davon war ­Keynes überzeugt, würde die Menschheit wieder aufs Gleis in Richtung einer zivilisierteren Gesellschaft setzen. Allerdings war die Formulierung dieser neuen Wirtschaftstheorie ein langer, schwieriger Prozess. ­Keynes sollte mehr als zehn Jahre brauchen, um seine revolutionären Ideen auszuarbeiten. Einem aufmerksamen Beobachter der wirtschaftlichen Entwicklung der Nach­ eynes konnten die Schwächen des bestehenden Wirtschafts­ kriegszeit wie K systems nicht verborgen bleiben. Trotzdem blieb K ­ eynes bis in die 1930er Jahre hinein teilweise in der klassischen Wirtschaftstheorie gefangen, die man ihm beigebracht und die er in Cambridge selbst gelehrt hatte. Was die elende wirtschaftliche Lage heraufbeschworen hatte, so das Fazit seines 1919 veröffentlichten Buches „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“, war nicht die Anwendung der Prinzipien der klassischen ökonomischen Theorie, sondern die Dummheit und Ignoranz der Regierenden auf Seiten der Alliierten. Mit einem klugem Vorgehen, davon war ­Keynes zu diesem Zeitpunkt noch überzeugt, hätte man den miserablen Friedensvertrag vermeiden und die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass die klassische Wirtschaftstheorie sowohl den siegreichen Alliierten als auch de besiegten Deutschen den Weg in eine bessere Zukunft ge­ wiesen hätte. Im August 1920 waren in Großbritannien und Amerika bereits 100000 Exemplare der „wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ verkauft, und das Buch war ins Deutsche, Niederländische, Flämische, Dänische, Schwedische, Italienische, Spanische, Rumänische, Russische, Japanische und Chinesische übersetzt.26 Dank des Erfolgs seines Buches erlangte K ­ eynes weltweit Aufmerksamkeit. Er 25

­Keynes 1936, S. 29. Vgl. Skidelsky 1983, S. 394.

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2. Kap.: Erster Weltkrieg und seine Folgen

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erkannte, dass er seine kreativen Fähigkeiten nutzen konnte, um das Wirtschaftssystem wieder zu einem sicheren Hort für Kulturschaffende zu machen. Diese Chance ergriff ­Keynes beim Schopf, „nicht nur, um sich selbst Aufmerksamkeit zu verschaffen, sondern um dem Anspruch der Ökonomie Geltung zu verschaffen, die Zukunft mitzugestalten“.27

27

Skidelsky 1992, S. 3.

3. Kapitel

­Keynes’ Mittelweg: Der Liberalismus als völlig neuer Ansatz Die Frage, ob die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit des Einzelnen das Gemeinwohl befördern könne, beschäftigt Philosophen und Ökonomen seit jeher. Ausgehend von der „unsichtbaren Hand“, die Adam Smith 1776 in „Der Wohlstand der Nationen“ beschrieb, hatte die klassische Ökonomie einen großen theoretischen Überbau entwickelt, um zu erklären, weshalb ein vom Prinzip des Laissez-faire geprägtes System, in dem die Regierung den Kräften des Marktes freien Lauf lässt, den Wohlstand in einem Staat maximiert. Im Viktorianischen Zeitalter galt es unter Ökonomen und Politikern als Binsenweisheit, dass eine Volkswirtschaft am besten floriert, wenn sich die Politik aus dem Marktgeschehen heraushält. Der Staat kann Steuern erheben, um durch Militär und Polizei die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, aber er sollte niemals versuchen, das Wirtschafts­ leben insgesamt zu beeinflussen. In „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1919/1920) schien­ Keynes die Auffassung zu vertreten, dass ein Wirtschaftssystem des Laissezfaire unter den im Versailler Vertrag festgehaltenen Bedingungen nicht den von der klassischen Theorie postulierten Fortschritt bringen konnte. Daher überrascht ­ eynes rede dem ent­ es nicht, dass manche Beobachter zu dem Schluss kamen, K gegengesetzten Extrem das Wort, also einem System, in dem die wichtigsten Produktionsentscheidungen vom Staat getroffen werden, und zwar mit Blick auf das Gemeinwohl – kurz: einem sozialistischen System. Doch damit taten sie K ­ eynes Unrecht. Zum Zeitpunkt, als „Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges“ veröffentlicht wurden, verfügte ­Keynes über keine alternative Theorie, die er der klassischen gegenüberstellen hätte können. In seiner Polemik argumentierte er, im 19. Jahr­ hundert habe es vier Kräfte gegeben: (1) Bevölkerung, (2) Ordnung, (3) Gesellschaftspsychologie und (4) die Beziehungen zwischen der Alten (Europa)  und der Neuen Welt (Amerika). Das habe zu einem labilen Kräftegleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital, Sparen und Konsum, Handelsbilanz und internationalem Kapitalverkehr zwischen Europa und Amerika geführt, dank dessen eine Politik des Laissez-faire für einen annehmbaren wirtschaftlichen Fortschritt sorgen konnte.1 Dieses Kräftegleichgewicht, so ­Keynes in „Die wirtschaftliche Folgen“, sei zusammengebrochen, und der Versailler Vertrag habe jede Chance, ein sol 1

Vgl. Skidelsky 1992, S. 220.

3. Kap.: Keynes’ Mittelweg

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ches Gleichgewicht wiederherzustellen, zunichte gemacht. Es bedurfte also eines anderen Ansatzes. ­Keynes war immer der Auffassung, wenn es in irgendeiner Form zu Leid komme, dürfe man das nicht einfach außer Acht lassen. Das Wirtschaftssystem des Laissez-faire war nach dem Ersten Weltkrieg für viele mit großem Leid verbunden. ­Keynes zufolge war es möglich, institutionelle Bedingungen zu schaffen, die dieses Leid mit Hilfe der Kräfte des Marktes lindern und das Gemeinwohl befördern könnten. ­Keynes glaubte nicht, dass es sinnvoll wäre, die Kräfte des Marktes ganz auszuschalten (wie man das in einem sozialistischen System tun würde). Ein sozialistischer Ansatz war für ihn inakzeptabel. Als die 1920er Jahre fortschritten und die Massenarbeitslosigkeit und das damit verbundene Leid in Großbritannien zu einem Dauerzustand wurden, erkannte­ Keynes, dass auch das entgegengesetzte Extrem zu einem völligen Laissez-faire kein gangbarer Weg war. Es galt also, eine neue Wirtschaftstheorie zu entwerfen, um erstens die Ursachen für diese tragische Begleiterscheinung unseres Wirtschaftssystems zu erklären, und zweitens eine Alternative zu den beiden Extremen des Laissez-faire und des Staatssozialismus zu formulieren. Dazu musste ­Keynes aufzeigen, wie der Staat sich die Mechanismen des Marktes zunutze machen konnte, um der Massenarbeitslosigkeit ein Ende zu bereiten und allen einen Arbeitsplatz zu verschaffen, die willens waren, für den marktüblichen Lohn zu arbeiten. Anders als häufig behauptet war sein Ansatz nicht einfach nur der Mittelweg zwischen dem Laissez-faire-Kapitalismus und einem sozialistischen System, in dem der Staat absolute Kontrolle über Produktion und Handel hat. Es war ein völlig neuer Ansatz.2 Die politische Landschaft Großbritanniens war in den 1920er Jahren von der „Labour“-Partei und den „Tories“ geprägt. In keiner dieser Parteien waren­ Keynes’ wirtschaftliche Überzeugungen mehrheitsfähig. Lediglich bei der „Libe­ eynes’ wirtschaftspolitische Ideen auf Akral Party“ bestand die Chance, dass K ­ eynes seiner Natur und seinen Überzeugungen zeptanz treffen. Doch obwohl K nach zeit seines Lebens liberal eingestellt war, beteiligte er sich erst an der Formulierung liberaler politischer Ideen, als Lloyd George 1926 zum Vorsitzenden der „Liberal Party“ gewählt wurde.3 ­Keynes versuchte die Liberalen zu einer Abkehr vom Laissez-faire-Prinzip zu bewegen, hin zu einem System, das der Initiative des Einzelnen freie Bahn lässt, gleichzeitig jedoch dem Staat ermöglicht, im Falle signifikanter und hartnäckiger Fehlentwicklungen einzugreifen.4 1923 veröffentlichte K ­ eynes seinen „Traktat über Währungsreform“ (dt. 1924). Obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch immer deutlich von der klassischen Theorie beeinflusst war, propagierte K ­ eynes in diesem Buch einen Ansatz, für Preisstabi 2

Vgl. Skidelsky 2000, S. xvii. Vgl. Skidelsky 1992, S. 21. 4 Vgl. Harrod 1951, S. 334. 3

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3. Kap.: Keynes’ Mittelweg

lität zu sorgen, ohne zum Goldstandard zurückzukehren. Der damals unter Ökonomen und Politikern vorherrschenden Auffassung zufolge war der Goldstandard ein geradezu sakrosankter Mechanismus, dem man die im 19. Jahrhundert erzielten, wunderbaren Wachstumsraten verdanke. Preisstabilität, argumentierte ­Keynes, sei eine notwendige Vorbedingung für die Verlässlichkeit von Verträgen, und diese wiederum sorge für wirtschaftliche Stabilität. Das auf Unternehmertum basierende Wirtschaftssystem, das wir als Kapitalismus bezeichnen, sei ein Produktions-und Handelssystem, das auf vertraglichen Vereinbarungen zwischen Käufern und Verkäufern beruhe. Daher sei Preisstabilität eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines fortschrittlichen, zivilisierten Wirtschaftssystems. Um zu erklären, wie die Preisstabilität gewährleistet werden könne, legte ­Keynes in seinem „Traktat über Währungs­ reform“ die in Cambridge gelehrte Variante der klassischen Geldmengentheorie zugrunde. Das Preisniveau, so K ­ eynes, ergebe sich aus dem Wechselspiel zweier Entscheidungen: (1) der Entscheidung der Zentralbank über die Geldmenge, die sie druckt, und (2) der Entscheidung der Bevölkerung, wie viel Geld sie als Wertspeicher zurückhalten wolle, anstatt es für Güter und Dienstleistungen auszugeben. Die Zentralbank müsse daher darauf gefasst sein, unvorhergesehene Veränderungen im Wunsch der Bevölkerung, Geld als Wertspeicher aufzubewahren, auszugleichen, indem sie die Geldmenge erhöhe (bzw. reduziere), sobald die Leute mehr (bzw. weniger) Geld sparen. ­Keynes erkannte jedoch, dass die in Cambridge gelehrte Variante der klassischen Theorie der Geldmenge nur auf lange Sicht zutreffend war. Aber diese „lange Sicht“, so eines der berühmtesten Zitate ­Keynes’, sei ein schlechter Ratgeber für die Tagespolitik: „Auf lange Sicht sind wir alle tot. Ökonomen setzen sich ein zu leichtes, zu nutzloses Ziel, wenn sie uns in stürmischen Zeiten nichts weiter sagen können, als dass die See wieder ruhig sein wird, wenn der Sturm längst abgezogen ist.“5 Die schwierige, aber lohnende Aufgabe, der Ökonomen sich widmen sollten, betreffe die Frage, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen kurzfristig zu ergreifen seien, wenn es zu ökonomischer Instabilität komme. Die klassische Wirtschaftstheorie hatte auf diese Frage leider keine Antwort. Als Winston Churchill im April 1925 entschied, dass Großbritannien zum Gold­ eynes standard und dem alten Wechselkurs zurückkehren werde, bezeichnete K das als großen Fehler, da das englische Pfund dadurch etwa 10 Prozent zu hoch bewertet werde. Um weiterhin exportieren zu können, so ­Keynes, werde Großbritannien daher die Produktionskosten, das heißt die Löhne, um 10 Prozent senken müssen. In einem Laissez-faire-System könne eine solche Lohnreduktion jedoch nur durch eine massive, dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit erzielt werden, die eine Schwächung der Arbeiterschaft zur Folge habe, so dass diese das bestehende Lohnniveau nicht verteidigen könne. ­Keynes war deshalb überzeugt, dass Groß 5

­Keynes 1924, S. 83.

3. Kap.: Keynes’ Mittelweg

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britannien eine lange Phase steigender Arbeitslosigkeit bevorstand. Diese für die Senkung der Löhne nötige Arbeitslosigkeit, so ­Keynes weiter, könne allerdings mit Hilfe eines „nationalen Abkommens“, Löhne und andere Einkommen zu senken, umgangen werden.6 Diese nur kurz aufflammende Diskussion über die Möglichkeit einer Vereinbarung über die „Einkommenspolitik“ sollte in den 1960er und 1970er Jahren von einigen postkeynesianischen Ökonomen erneut befeuert werden, und zwar unter der Überschrift einer „steuerbasierten Einkommenspolitik“, die sie als institutionelle Waffe gegen das entgegengesetzte Problem betrachteten, das die Volkswirtschaften in den 1970er Jahren bedrohte – das Problem der Inflation. ­ eynes im Mai 1924 eine In einer Kolumne für die Zeitung The Nation schlug K „drastische Lösung“ für das Problem der Massenarbeitslosigkeit vor: Er sprach sich dafür aus, den Ausbau der Infrastruktur in Großbritannien, wie Straßen, Kraftwerke, Stromtrassen, Wohnhäuser usw., mit öffentlichen Mitteln zu för­ eynes’ revolutionäre dern.7 In dieser Kolumne von 1924 zeichnet sich erstmals K Idee ab, der Staat könne die Arbeitslosigkeit bekämpfen, indem er der Privatwirtschaft gesellschaftlich nützliche Dinge abkauft und so die Nachfrage erhöht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ­Keynes jedoch noch keine Wirtschaftstheorie formuliert, die den Vorschlag, der Staat solle aktiv in das Marktgeschehen eingreifen, untermauert hätte. Es sollte noch weitere 12 Jahre dauern, ehe ­Keynes das Korsett der klassischen Theorie abschütteln konnte, seine eigene Taxonomie entwarf und zur Erklärung der hartnäckigen Arbeitslosigkeit in einer modernen, auf Geldwirtschaft und Unternehmertum aufbauenden Volkswirtschaft seine revolutionäre Wirtschaftstheorie formulierte. Um dem Problem der Massenarbeitslosigkeit beizukommen, ­ eynes von musste man seine Ursachen verstehen. Die klassische Theorie, die K seinen Vorgängern geerbt hatte, vermochte lediglich zu versprechen, dass sich langfristig alles zum Guten wenden werde. Sie bot keinen befriedigenden Ansatz um zu erklären, was man in der Gegenwart, in der wir leben, gegen wirtschaftliche Probleme unternehmen könnte. Also machte ­Keynes sich daran, einen solchen Ansatz zu entwickeln. K ­ eynes’ erster Versuch, die Funktionsweise einer auf Geldwirtschaft und Unternehmertum basierenden Volkswirtschaft unter normalen Umständen zu erklären, war sein 1930 veröffentlichtes, zweibändiges Werk „Vom Gelde“ (dt. 1932). Während der mehr als fünf Jahre, in denen ­Keynes an diesem Buch arbeitete, hatte er in Cambridge einen hervorragenden Kritiker: seinen Kollegen Dennis H. Robertson. In dieser Zeit führte ­Keynes mit Robertson lange, angeregte Diskussionen. Robertson hatte nämlich kurz zuvor seinerseits ein Buch über das Thema Arbeitslosigkeit, Preisstabilität und die Rolle des Banken- und Währungssystems verfasst: „Banking Policy and the Price Level“ (1926). 6

Vgl. Skidelsky 1996, S. 58. Vgl. ­Keynes 1924, S. 219–223.

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3. Kap.: Keynes’ Mittelweg

Robertsons Argumente waren für das Denken ­Keynes wichtige Anregungen und in vielerlei Hinsicht wegbereitend. Seine Abhandlung „Vom Gelde“ war eine Weiterentwicklung der innovativen Gedanken Robertsons zum Thema Ersparnisse und Investitionen. Doch Robertson blieb stets der klassischen Lehre verhaftet und entfernte sich niemals zu weit von klassischen Denkmustern. Sein Einfluss verhinderte, dass ­Keynes sich in „Vom Gelde“ gänzlich von der klassischen Theorie lösen und einen völlig neuen, revolutionären Ansatz entwickeln konnte – der der Welt die Weltwirtschaftskrise vielleicht erspart hätte. Um die Ursache der hartnäckigen Arbeitslosigkeit zu erklären, mit der er tagtäglich konfrontiert war, sah ­Keynes sich daher zu Umwegen und zur semantischen Auseinandersetzung mit anderen Ökonomen gezwungen. ­ eynes kristallisierte sich In den lebhaften Diskussionen von Robertson und K heraus, dass Schwankungen der ökonomischen Aktivität, d. h. der Konjunkturzyklus, für Robertson ein „reales“, von der Geld- und Kreditmenge unabhängiges Phänomen waren. ­Keynes folgte anfänglich zwar Robertsons Argumentation, ein Investitionsboom werde stets von „realen“ Faktoren wie neuen Erfindungen ausgelöst, lehnte jedoch dessen Sichtweise ab, wonach „Überinvestition in Produktionsanlagen“ unweigerlich zur Krise und zum Zusammenbruch führen. Für ­Keynes war der Wirtschaftskreislauf aufs Engste mit der Funktionsweise des Banken­ systems verflochten. Ein Zusammenbruch könne daher verhindert, oder zumindest abgemildert werden, indem man das Kreditvolumen reguliere8. Trotz ihrer langen, angeregten Gespräche war 1931 klar, dass sich die theoretischen Ansätze von Robertson und ­Keynes zunehmend auseinanderentwickelten. „Während eines derartigen [kreativen] Unterfangens ändert sich das Grundtempo der Seele. In einem geheimnisvollen Prozess beginnen die Gedanken sich zu sammeln und Formen anzunehmen. Man muss sie gegen zuviel Dialektik und Diskussion abschirmen. Die subtile Kritik D. H. Robertsons, die sich anfänglich als sehr stimulierend erwies, schien am Ende ein Hindernis darzustellen, das einer endgültigen Reifung seiner Gedanken im Wege stand. […] Kreatives Schaffen ist ein subtiler und störungsanfälliger Prozess.“9 Im Ergebnis wurden ­Keynes und Robertson in grundsätzlichen wirtschaftstheoretischen Fragen zu Gegenspielern. Während Robertson sich niemals ganz von den Postulaten der klassischen Theorie löste, verabschiedete sich ­Keynes von drei ganz bestimmten Axiomen der klassischen Lehre, die einer Anwendung der klassischen Wirtschaftstheorie auf reale Probleme verhinderten. Erst als K ­ eynes diese klassischen Axiomen über Bord geworfen hatte, konnte er seine revolutionäre „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) formulieren.

8

Vgl. Skidelsky 1983, Bd. 2, S. 278. Harrod 1951, S. 367.

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4. Kapitel

Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“ Die Ökonomie, so scheint mir, ist ein Zweig der Logik: eine Art zu denken. […] Man kann mit Hilfe von Axiomen und Maximen manch lohnenden Fortschritt erzielen. Allerdings kommt man damit nicht allzu weit, es sei denn, man entwickelt neue, bessere Modelle. Das erfordert […] aufmerksame Beobachtung, wie unser System tatsächlich funktioniert. Fortschritt besteht in der Ökonomie fast ausschließlich in der Weiterentwicklung der Modelle. J. M. ­Keynes (1938)

I. Worin ­Keynes’ revolutionärer Ansatz sich von der klassischen Theorie unterscheidet Am Neujahrstag 1935 schrieb ­Keynes in einem Brief an George Bernhard Shaw: Um zu verstehen, in welchem Gemütszustand ich mich neuerdings befinde, musst Du Dir vergegenwärtigen, dass ich fest davon überzeugt bin, gerade ein Buch über Wirtschaftstheorie zu schreiben, das – vermutlich nicht sofort, aber doch im Lauf der nächsten zehn Jahre – die Art und Weise, wie alle Welt über wirtschaftliche Fragestellungen nachdenkt, geradezu revolutionieren wird. Welche konkreten und praktischen Auswirkungen es haben wird, wenn meine Theorie einst gebührend verdaut ist und sich mit Politik, Gefühlen und Leidenschaften vermengt hat, vermag ich nicht vorauszusagen. In jedem Falle wird es einen großen Umbruch geben; zumal die auf Ricardo fußenden Grundlagen des Marxismus werden hinweggefegt werden. Ich kann nicht erwarten, dass Du oder irgendjemand sonst das zu diesem Zeitpunkt glauben kann. Was jedoch mich selbst betrifft, so handelt es sich um keine bloße Hoffnung, sondern um völlige Gewissheit.1

Dreizehn Monate später, im Februar 1936, wurde ­Keynes’ „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ veröffentlicht. In einer Zeit, die von den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des wenig später ausbrechenden Weltkrieges geprägt war, sorgte dieses Buch dafür, dass in wirtschaftspoliti­ eynesianisches Denken einfloss. Leische Diskussionen ein gut Teil innovatives, K der versäumten es die Vertreter des ökonomischen Mainstreams, die von ­Keynes vorgelegte, in sich logische und innovative theoretische Analyse in der Nachkriegszeit zur Grundlage progressiver politischer Rezepte zu machen. Was in den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen und Lehrbüchern der Nach-

1

­Keynes 1935a.

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

kriegszeit als „­Keynesianismus“ bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit eine modernisierte, mit ein wenig K ­ eynes’scher Terminologie gespickte Version der klassischen Theorie des 19. Jahrhunderts. ­Keynes’ Biograph, Lord Robert Skidelsky, blieb dieser Rückfall des K ­ eynesia­ nismus der Nachkriegszeit in die orthodoxe klassische Theorie nicht verborgen: „­Keynes ‚Allgemeine Theorie‘ bezieht ihren Anspruch aus der Behauptung, dass die klassische Theorie […], wie ­Keynes in seinen Vorlesungen zu sagen pflegte, ‚Unfug‘ ist. Träfe sie [die klassische Theorie] zu, so wäre der klassische ‚Spezialfall‘ die wahre ‚allgemeine Theorie‘, und ­Keynes gesamte Analyse zwar nicht formal falsch, aber sinnlos und überflüssig. Man muss sich […] vor Augen halten, dass die Vertreter des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams ­Keynes’ Theorie als einen ‚Spezialfall‘ der klassischen Theorie behandelten, der nur unter Bedingungen anwendbar sei, in denen die Nominallöhne unbeweglich seien. Dadurch beraubte man seine Theorie ihres theoretischen Bisses, ohne ihr die Relevanz für die praktische Politik zu nehmen“2. Der bekannteste dieser ­Keynesianer der Nachkriegszeit, die ­Keynes’ Theorie als Sonderfall behandelten, in dem die Löhne unbeweglich sind, war der MITProfessor Paul Samuelson. Teilweise aufgrund der antikommunistischen Hexenjagd, die das Klima in den USA der McCarthy-Ära prägte, bezeichnete Samuelson seine Interpretation von ­Keynes’ Theorie als „neoklassisch-keynesianische Synthese“ und insinuierte damit, seine Version habe klassische Wurzeln. (Inwiefern jene Ökonomen – darunter mehrere Nobelpreisträger –, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als „­Keynesianer“ bezeichneten und Anspruch auf ­Keynes’ Erbe ­ eynes’ bahnbrechende Theorie nie verstanden und angenommen haben, erhoben, K werde ich im zwölften Kapitel näher erläutern und belegen.) In den ersten dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der wirtschaftswissenschaftliche Diskurs von der so entstandenen neoklassisch-keynesianischen Synthese3 (die manchmal auch als „Old ­Keynesianism“ oder „Amerikanischer ­Keynesianismus“ bezeichnet wird) ebenso im Sturm genommen wie Spanien von der Inquisition (um ein besonders anschauliches Bild abzuwandeln, mit dem ­Keynes den Einfluss Ricardos auf die Wirtschaftstheorie beschrieben hat). Doch in den 1970er Jahren, als die Volkswirtschaften in der Realität unter hoher Inflation ächzten und gleichzeitig mit erheblicher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten, und die Vertreter der neoklassischen Synthese verzweifelt versuchten, wirtschaftspolitische Rezepte zur Inflationsbekämpfung zu entwickeln, traten die logischen Widersprüche dieser „keynesianischen“ Synthese aus der klassischen Theorie und den politischen Rezepten ­Keynes’ deutlich zutage.

2

Skidelsky 1992, S. 512. Um ihre Leser darauf hinzuweisen, dass es sich bei der neoklassisch-keynesianischen Synthese um eine Perversion von ­Keynes’ analytischem Ansatz handelt, bezeichnete Joan­ Robinson diese als „Bastard-­Keynesianismus“. 3

I. Worin ­Keynes’ revolutionärer Ansatz sich unterscheidet

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Die Unfähigkeit der neoklassisch-keynesianischen Synthese, in den 1970er Jahren eine in sich stimmige Inflationstheorie zu formulieren, beruhte auf der Unvereinbarkeit der Makroökonomie des „amerikanischen ­Keynesianismus“ mit seinen klassischen (bzw. neoklassischen) mikroökonomischen Grundlagen. Daher verabschiedeten sich die meisten Ökonomen vom „­Keynesianismus“ und griffen wieder zu einer klassischen, mathematischen Theorie, die sowohl im Hinblick auf ihre mikroökonomische Basis als auch bezüglich ihrer makroökonomischen Implikationen in sich stimmiger war: die Allgemeine Gleichgewichtstheorie nach Walras, Arrow und Debreu. Die komplexe mathematische Struktur dieses Ansatzes verstellte seinen Verfechtern den Blick darauf, dass er wegen der ihm zugrundeliegenden Axiome ein unzulängliches Hilfsmittel war, um die wirtschaftlichen Vorgänge in unserer Erfahrungswelt zu verstehen4. ­Keynes hatte mit der Arbeit an seiner „Allgemeinen Theorie“ 1932 begonnen. Anders als die USA hatte Großbritannien seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unter einer langen Rezession gelitten, die mit sehr hoher Arbeitslosigkeit einhergegangen war. Die Vereinigten Staaten dagegen hatten – abgesehen von einer kurzen Rezession Anfang der 1920er Jahre – in den „Roaring Twenties“ eine Phase des ungezügelten Wachstums erlebt. Im Jahr 1929 waren lediglich 3,2 Prozent der amerikanischen Arbeiter ohne feste Beschäftigung. Die Kurse an der New Yorker Börse hatten ungeahnte Höhen erklommen, und alle schienen sich eine goldene Nase zu verdienen. Daher nimmt es nicht wunder, dass es nicht amerikanische Ökonomen waren, sondern britische Vertreter der Zunft, die sich wegen des Problems der chronischen, anhaltenden Arbeitslosigkeit Sorgen machten, als die Vereinigten Staaten in den 1930er Jahren in die „Große Depression“ stürzten. Wenige Tage vor dem Börsenkrach am 24.  Oktober 1929 verkündete Irving­ Fisher, Professor an der Yale University und einer der angesehensten amerikanischen Ökonomen seiner Zeit, die Kurse hätten sich auf einem hohen Niveau eingependelt, von dem aus sie nur weiter steigen könnten. Doch dann fielen sie urplötzlich ins Bodenlose. Angeblich verlor besagter Professor Fisher, der seinen Überzeugungen entsprechend investiert hatte, in jenem Börsencrash zwischen acht und zehn Millionen Dollar. Amerika stürzte in die „Große Depression“. Zwischen 1929 und 1933 ging es mit der amerikanischen Wirtschaft steil bergab. Das Wirtschaftssystem schien in einer Abwärtsspirale gefangen, aus der es kein Entrinnen gab. Die Arbeitslosigkeit stieg von 3,2 Prozent im Jahr 1929 auf 24,9 Prozent 1933. Als Roosevelt im März 1933 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, war jeder vierte Amerikaner arbeitslos. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, ein Maßstab für den Lebensstandard, sank zwischen 1929 und 1932 um 52 Prozent. Die amerikanische Durchschnittsfamilie hatte 1933 also

4

Vgl. Davidson 2003.

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

nur noch halb so viel Einkommen zur Verfügung wie 1929. In seiner kapitalistischen Form schien der amerikanische Traum ausgeträumt. Die Wirtschaftsexperten jener Tage, einschließlich Professor Irving Fisher, behaupteten unter Berufung auf die klassische Theorie nach wie vor, die hohen Arbeitslosenquoten, mit denen die USA Anfang der 1930er Jahre konfrontiert waren, könnten nicht von Dauer sein. Vorausgesetzt, der Staat greife in die Mechanismen des freien Marktes nicht ein, werde sich die Wirtschaft innerhalb kurzer Zeit selbst heilen. Ein wunderbares Beispiel für dieses klassische Rezept liefern die Memoiren von Herbert Hoover, der bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Präsident der Vereinigten Staaten war. Wegen seines Einsatzes für die Sicherung der Ernährung der unter den Folgen des Ersten Weltkriegs leidenden Europäer hatte sich Hoover den Ruf eines gutherzigen, sozial eingestellten Mannes erworben. Hoover war zweifellos ein Politiker, der alles in seiner Macht stehende unternehmen würde, um Menschen zu helfen, die ohne eigenes Verschulden unter einer Wirtschaftskrise litten, für die sie nichts konnten. Doch jedes Mal, wenn er etwas gegen die Wirtschaftskrise unternehmen und Arbeitsplätze schaffen wollte, so Hoover in seinen Memoiren, habe ihn sein Finanzminister Andrew Mellon vor staatlichen Eingriffen gewarnt und ihm den immer gleichen Rat gegeben. „Für Mr. Mellon gab es nur ein Rezept: Arbeitskräfte liquidieren, Aktien liquidieren, Farmer liquidieren, Immobilien liquidieren. Das werde das System von der Verdorbenheit befreien. […] Die Menschen würden härter arbeiten und ein moralischeres Leben führen“.5 ­Keynes dagegen argumentierte, die hartnäckige Arbeitslosigkeit sei weder die Schuld der Arbeitslosen, noch ein Ergebnis der Unnachgiebigkeit der Arbeiter, die sich gegen Lohnkürzungen sträubten, noch eine Folge von Marktunvollkommenheiten wie Monopolen oder Gewerkschaften. Die Ursache liege vielmehr im allgemeinen Streben nach Liquidität und in den eigentümlichen, aber notwendigen Eigenschaften, die Geld und andere liquide Mittel auszeichneten. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise würden die Menschen einen kleineren Teil  ihres Einkommens ausgeben und versuchen, so liquide wie möglich zu bleiben. Die Folge sei eine dauerhaft niedrige Nachfrage nach Industrieprodukten, sodass die Unter­ nehmer den Ausstoß, den sie mit Hilfe der bestehenden Fabriken und Maschinen sowie einer voll beschäftigten Arbeiterschaft produzieren könnten, nicht verkaufen könnten, ohne dabei Verluste in Kauf zu nehmen. Sinke die Nachfrage am Markt, so seien die Unternehmer gezwungen, Arbeiter zu entlassen und Fabriken zu schließen. Angesichts der dadurch verursach­ eynes, sei die Behauptung von Andrew Melten Arbeitslosigkeit und Armut, so K lon, die hohe Arbeitslosigkeit leiste einen sinnvollen Beitrag, um „das System von der Verdorbenheit zu befreien“, wenig hilfreich. Die eigentliche Ursache der an­ haltenden Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise war K ­ eynes zufolge 5

Hoover 1952, S. 30.

I. Worin ­Keynes’ revolutionärer Ansatz sich unterscheidet

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die schwache Nachfrage nach Gütern, nicht Monopole oder andere Unvollkommenheiten auf dem Waren- oder Arbeitsmarkt. Das Heilmittel liege daher in einer aktiven Rolle des Staates; dieser müsse für eine höhere Nachfrage nach Industrieprodukten sorgen. Die klassische Wirtschaftstheorie, von der die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion über Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit und für mehr Wachstum geprägt war, lieferte demgegenüber die Begründung für den Laissez-faire-Ansatz, wonach der Staat sich vor Eingriffen in den Markt hüten sollte. Für Verfechter der klassischen Lehre und deren Anhänger in politischen Entscheidungspositionen, wie Finanzminister Andrew Mellon, ist die Doktrin des Laissez-faire gewissermaßen ein gottgegebenes Gesetz, das kein rechtgläubiger Ökonom oder Regierungsvertreter je in Frage stellen würde. Als Erster hat den Begriff des Laissez-faire offenbar der Marquis d’Argenson gebraucht, der damit 1751 begründete, weshalb der Staat seine „sichtbare Hand“ aus dem wirtschaftlichen Leben zurückziehen sollte. „Besser regieren heißt weniger regieren“, so d’Argenson. Der Begriff „Laissez-faire“ taucht in den Schriften der Gründerväter der klassischen Wirtschaftstheorie, wie Adam Smith oder David Ricardo, zwar nirgends auf, aber die Idee ist zweifellos vorhanden. Dass Käufer wie Unternehmer unbehelligt vom Staat ihre Eigeninteressen verfolgen sollten, ist ein Kerngedanke der klassischen Ökonomie. In seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 schreibt Adam Smith: Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. […] Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen […], denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und […] strebt […] lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hat. […] [G]erade dadurch, daß er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun.6

Ausgehend von Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ beharren Vertreter der klassischen Theorie darauf, dass es die wirtschaftliche Lage nur verschlimmere und die Zeit, bis sich ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht einstellt, nur in die Länge ziehe, wenn der Staat in Phasen „vorübergehender“ Arbeitslosigkeit in den Markt eingreife. Lasse der Staat der unsichtbaren Hand des Marktes freien Lauf, so würden nur die Schwachen und Ineffizienten ausgesondert (oder, um es mit Andrew Mellon zu sagen, „liquidiert“), und die Wirtschaft gehe aus einer solchen 6

Smith 2009, S. 17; S. 370 f.

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

Phase kurzfristiger Arbeitslosigkeit sogar gestärkt hervor. Dieser sozialdarwinistischen Sicht zufolge war die Weltwirtschaftskrise nichts anderes als eine Form der Auslese, mit der Mutter Natur die wirtschaftlich Schwachen eliminierte und für das „Überleben der Angepasstesten“ sorgte. Sobald das Wirtschaftssystem von sich aus ein neues Gleichgewicht gefunden habe, werde es die am besten Angepassten erneut mit Vollbeschäftigung und Wohlstand beglücken. Dieses Dogma der orthodoxen Ökonomie stellte K ­ eynes gleich im ersten Absatz seiner „Allgemeinen Theorie“ in Frage: Ich habe dieses Buch die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes genannt […]. Ich wähle diesen Titel, weil ich die Art meiner Beweisführung und Folgerungen jenen der klassischen Theorie über das Thema entgegenstellen will, jener Theorie, in deren Anschauungen ich erzogen worden bin, und welche heute, genau wie während der letzten hundert Jahre, das wirtschaftliche Denken und Handeln unserer regierenden und akademischen Kreise beherrscht. Ich werde darlegen, dass die Postulate der klassischen Theorie nur in einem Sonderfall, aber nicht im Allgemeinen gültig sind […]. Die Eigenheiten des von der klassischen Theorie vorausgesetzten Sonderfalles weichen überdies von denen unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse ab, und ihre Lehren werden daher irreführend und verhängnisvoll, wenn wir versuchen, sie auf die Tat­ sachen der Erfahrung zu übertragen.7

­Keynes wandte sich mit seinem Buch explizit an seine „Fachkollegen“, hoffte aber, „dass es auch anderen verständlich sein wird“. ­Keynes wollte die Ökonomen dazu bringen, „gewisse ihrer grundlegenden Voraussetzungen kritisch zu überprüfen […]. Die umstrittenen Gegenstände sind von einer Wichtigkeit, die nicht überschätzt werden kann. Wenn aber meine Erklärungen richtig sind, so sind es meine Fachkollegen, die ich zuerst überzeugen muß, und nicht das allgemeine Publikum.“8 Nach K ­ eynes’ Überzeugung lag der verhängnisvolle Fehler des klassischen Systems in seinen äußerst restriktiven „grundlegenden Voraussetzungen“, sprich in den Axiomen, auf denen die Behauptung beruht, der Markt in einem freien, wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem habe eine Tendenz zur Selbstregulierung. Wie ich weiter unten noch eingehend erläutern werde, war den Ökonomen der 1930er Jahre nicht klar, welche dieser klassischen Axiome K ­ eynes über Bord werfen wollte, und weshalb er das für notwendig hielt. Die Folge war, dass ­Keynes diesen Ökonomen zwar eine neue Perspektive eröffnete, welche staatlichen Maß­ nahmen geeignet sind, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ihre Ansichten bezüglich der wirtschaftstheoretischen Grundlagen jedoch nicht zu verändern mochte. In den Jahren vor der Veröffentlichung der „Allgemeinen Theorie“ verschickte­ Keynes Entwurfsfassungen des Buches an verschiedene weltberühmte Kollegen in England (wie Dennis Robertson, Ralph Hawtrey und Friedrich von Hayek).­ 7

­Keynes 1936, S. 3 ­Keynes 1936, S. ix.

8

I. Worin ­Keynes’ revolutionärer Ansatz sich unterscheidet

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Keynes hat ungewöhnlich viel Zeit und Mühe darauf verwendet, diese Kollegen um ihre Einschätzung zu bitten und auf ihre Kommentare zu reagieren. Hayek, der ­Keynes’ „Vom Gelde“ 1930 schonungslos verrissen hatte, legte mit seinem Buch „Preise und Produktion“ 1931 eine eigene Erklärung für die Rezession in Großbritannien vor. Hayeks Argumente und Ausführungen waren für ­Keynes von großer Bedeutung, denn sie zwangen ihn, seinen Ansatz zu überdenken und eine logische Unterscheidung zwischen einem marktwirtschaftlichen, geldneutralen Wirtschaftssystem, das Hayeks „Spezialfall“ der allgemeinen Theorie entsprach, und dem auf Geldwirtschaft basierenden, markt- und wettbewerbsorientierten System zu treffen, wie ­Keynes es in seiner „Allgemeinen Theorie“ beschrieb.9 Im Verlauf dieser intellektuellen Auseinandersetzung kristallisierte sich nach und nach K ­ eynes „Allgemeine Theorie“ heraus, wobei viele ihrer Implikationen sogar ihrem Erfinder verborgen blieben.10 Angespornt von Hayeks Angriffen, ­ eynes seine neue Theorie seinerseits als Angriff auf die klassiformulierte K sche Theorie, deren mangelnde Stringenz und das enge Korsett der Axiome, auf denen sie beruht. Über von Hayeks „Preise und Produktion“, ein Meisterwerk der klassischen Theorie, schrieb ­Keynes, etwas derart Verworrenes habe er selten gelesen: „Ein wunderbares Beispiel, wie man ausgehend von einer fehlerhaften Annahme [einem unrealistischen Axiom] mit erbarmungsloser Logik im Tollhaus landen kann. Aber Dr. von Hayek ist ein Mann, dem im Traum eine Vision zuteil wurde, und auch wenn er beim Aufwachen seine Geschichte völlig verdreht hat, indem er die darin vorkommenden Dinge alle falsch benannt hat, so ist sein Kubla Khan doch durchaus inspirierend und gibt dem Leser einigen Stoff zum Nachdenken.“11 Von Hayek argumentierte, wenn es vorübergehend zu Arbeitslosigkeit komme, so werde diese ein Ende finden, sobald der Markt selbständig etwaige Unvollkommenheiten auf der Angebotsseite korrigiert habe, die eine absolute Flexibilität der Nominallöhne und Preise verhindere. Der klassischen Theorie zufolge sorgen im Fall von Arbeitslosigkeit die Kräfte des Marktes langfristig dafür, dass die Löhne und Preise so weit sinken, bis wieder ein Zustand der Vollbeschäftigung erreicht ist – selbst dann, wenn die absolute Flexibilität der Löhne und Preise nicht gegeben ist. ­Keynes dagegen war der Ansicht: „Wir dürfen die Bedingungen auf der Angebotsseite [starre Löhne und Preise] nicht […] als den eigentlichen Grund un 9

Vgl. Skidelsky 1992, S. 458. Zur selben Zeit formierte sich eine Gruppe von ­Keynes’ jüngeren Kollegen, Richard Kahn, Piero Sraffa, Joan Robinson, Austin Robinson und James Meade. Dieser sogenannte „Cambridge Circus“ begann sich nach der Veröffentlichung von ­Keynes’ „Vom Gelde“ regelmäßig zu treffen und in einem informellen Rahmen ­Keynes’ Theorien zu diskutieren. Während die Mitglieder der Gruppe später für sich in Anspruch genommen haben, die Ausarbeitung von ­Keynes’ „Allgemeiner Theorie“ beeinflusst zu haben, ging dessen Biograf Robert Skidelsky davon aus, dass der „Circus bei der Entstehung der ‚Allgemeinen Theorie‘ offenbar eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat“ (Skidelsky 1992, S. 447). 11 ­Keynes 1931, S. 252. 10

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

serer Probleme betrachten. […] Was wir auf der Suche nach einer Erklärung untersuchen und erforschen müssen, sind die Bedingungen auf der Nachfrageseite.“12 Die Schriften von Hayeks führten ­Keynes vor Augen, dass er in der Ausein­ andersetzung mit den Vertretern der klassischen Lehre eine neue Taxonomie entwerfen musste. Er musste sich von einigen grundlegenden Axiomen verabschieden, auf denen die Behauptung der klassischen Theorie beruhte, solange die Lohn- und Preisstabilität gewährleistet sei, werde eine freie Volkswirtschaft stets zu Voll­beschäftigung und Wachstum zurückkehren. Im Verlauf dieser Diskussionen und intellektuellen Auseinandersetzungen mit anderen Ökonomen wurde ­Keynes vor Augen geführt, mit welchen Argumenten seine Fachkollegen die klassische Theorie gegen seinen revolutionären Angriff verteidigen würden. Wenn K ­ eynes seine Kollegen von ihren Fehlern überzeugen wollte, musste er stichhaltige Argumente finden, um die vielen kritischen Kommentare, die bei ihm eingingen, zu entkräften. Die Erfahrung der hohen Arbeitslosigkeit in Großbritannien seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte ­Keynes zu der Überzeugung kommen lassen, dass das kapitalistische System schlechte Überlebenschancen hatte, wenn nicht möglichst rasch die richtigen politischen Maßnahmen ergriffen wurden. Um sich für die von ihm anvisierten Maßnahmen die Unterstützung seiner Fachkollegen zu sichern, bedurfte es etwas anderes als einer ermüdenden und provokativen Formalisierung ­ eynes überzeugt, seines Modells. Ob er damit recht hatte oder nicht – 1936 war K dass kein formalisiertes mathematisches Modell, sondern eine rhetorische Darstellung vonnöten war: Zweck unserer Analyse ist nicht, eine Maschine oder eine blind anwendbare Methode bereitzustellen, die eine unfehlbare Antwort liefert, sondern eine organisierte und geordnete Methode aufzubauen, mit der wir einzelne Probleme durchdenken können […]. Es ist ein großer Fehler der symbolischen pseudomathematischen Methoden […] wirtschaftlicher Analyse […], dass sie ausdrücklich eine strenge Unabhängigkeit zwischen den einbezogenen Faktoren voraussetzen und all ihre zwingende Beweiskraft verlieren, wenn diese Hypothese ausgeschlossen wird. Im gewöhnlichen Diskurs dagegen, in dem wir nicht blind manipulieren, sondern jederzeit wissen, was wir tun und was die Worte bedeuten, können wir die notwendigen Vorbehalte und Einschränkungen und die Anpassungen, die wir später machen werden, im Hinterkopf behalten in einer Art, in der wir komplizierte partielle Ableitungen, die voraussetzen, dass sie alle verschwinden, über mehrere Seiten Algebra hinweg nicht im Hinterkopf behalten können. Ein allzu großer Teil jüngster „mathematischer“ Wirtschaftslehren besteht aus bloßen Tüfteleien, so ungenau wie die anfänglichen Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, welche dem Autor erlauben, die Verwicklungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der wirklichen Welt in einem Wust anmaßender und nutzloser Symbole aus dem Blick zu verlieren.13

12

­Keynes 1934, S. 486. ­Keynes 1936, S. 251 f.

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­Keynes war nicht nur ein hervorragender Logiker, sondern auch ein meisterhafter Beobachter und Essayist. Daher verfasste er seine „Allgemeine Theorie“ zu einer Zeit, in der immer mehr Ökonomen der Ansicht waren, dass man wirtschaftswissenschaftliche Argumente in der Gestalt mathematisch formalisierter Modelle präsentieren müsse, wenn die Ökonomie als exakte Wissenschaft gelten wolle, als argumentativen Essay. Die in den 1930er Jahren sozialisierte Generation amerikanischer Nachwuchsökonomen, die in den 1940er und 1950er Jahren in dieser Zunft tonangebend war, dachte in erster Linie in mathematischen Formalisierungen. Diese mathematisch orientierten Ökonomen hatten große Schwierigkeiten, die logisch-analytischen Grundlagen des argumentativen Essays zu ver­stehen, den ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ darstellt – und das gilt für die Generation ihrer Studenten und Anhänger bis heute. Anhänger der klassischen Theorie, die „bewiesen“, dass vollkommen flexible Nominallöhne ein Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit seien, so ­Keynes, säßen einer Ignoratio Elenchi auf, das heißt sie lieferten einen Beweis, der für ihre These zur Ursache von Arbeitslosigkeit völlig irrelevant sei.14 Der „Beweis“ der Verfechter der klassischen Theorie für die Behauptung, eine Volkswirtschaft mit Lohn- und Preisflexibilität werde von selbst zu einem Gleichgewicht finden, in dem alle beschäftigt sind, sei in Wirklichkeit gar kein Beweis, sondern lediglich eine Folge der restriktiven Axiome, aufgrund derer die klassische Theorie nur auf den „Spezialfall“ einer Volkswirtschaft anwendbar sei, in der permanent Vollbeschäftigung herrsche. Die klassischen Theoretiker gleichen euklidischen Mathematikern in einer nichteukli­ dischen Welt, die entdecken, dass scheinbar parallele gerade Linien in Wirklichkeit sich oft treffen, und denen kein anderes Mittel gegen die sich ereignenden bedauerlichen Zusammenstöße einfällt, als die Linien zu schelten, dass sie nicht gerade bleiben. Und trotzdem gibt es in Wahrheit kein anderes Mittel, als das Parallelenaxiom über den Haufen zu werfen und eine nichteuklidische Geometrie auszuarbeiten. Etwas Ähnliches wird heute in der Wirtschaftslehre benötigt. Wir müssen […] Postulat[e] der klassischen Doktrin aufgeben und das Verhalten eines Wirtschaftssystems ausarbeiten, in dem unfreiwillige Arbeitslosigkeit im strengen Sinn des Wortes möglich ist.15

­Keynes entwickelte seine „Allgemeine Theorie“ analog zu einer nichteuklidischen Geometrie und warf dabei drei einschränkende Axiome der klassischen Ökonomie über Bord, um so zu einem Modell eines markt- und wettbewerbs­ orientierten, auf Geldwirtschaft basierenden Systems zu kommen, das einen Zustand hartnäckiger, unwillkommener Arbeitslosigkeit abbilden konnte.

14

­Keynes 1936, S. 218. Näheres zu dieser „Ignoratio Elenchi“ in Kapitel 12. ­Keynes 1936, S. 14.

15

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

II. Theorien und ihre zugrundeliegenden Axiome Will man eine Wirtschaftstheorie beurteilen, so stellt man sich ihren Urheber am besten als einen Zauberer vor. Wenn er aus seinen Axiomen Schlussfolgerungen zieht, macht ein Theoretiker ebenso selten logische Fehler, wie ein Taschenspieler im Rahmen eines Kartentricks die Karten fallen lässt. Die heutigen Wirtschaftstheoretiker erzeugen geschickt die Illusion, sie würden aus dem schwarzen Hut ihres mathematischen Modells politische Lösungen hervorholen. Je erstaunlicher das aus dem Hut gezauberte Kaninchen, desto mehr genießt das Publikum die Vorführung des Ökonomen, desto größer fällt der Applaus aus, und desto reicher wird er belohnt.16 Um einschätzen zu können, wie relevant ein auf der Bühne aus dem schwarzen Hut gezaubertes Lösungskaninchen ist, muss man die Kaninchen, die ein klas­ sischer Zauberökonom hinter den Kulissen in den Hut steckt, genau unter die Lupe nehmen. Beurteilt das Publikum die Axiom-Kaninchen des klassischen Öko­ nomen als akzeptabel, so können sie schwerlich etwas gegen die Lösungskaninchen sagen, die er aus seinem Hut hervorzieht. Mit anderen Worten: Bevor man die Schlussfolgerungen eines Wirtschaftstheoretikers als auf die wirkliche Welt anwendbar akzeptiert, sollte man als umsichtiger Student stets die zugrundeliegenden Axiome prüfen und gegebenenfalls ihre Anwendbarkeit kritisieren. Vorausgesetzt, es werden keine logischen Fehler gemacht, determinieren die Axiome einer Theorie ihre Schlussfolgerungen. Schließlich ist ein Axiom laut Wörterbuch ein „als absolut richtig anerkannter Grundsatz“, eine „feststehende Wahrheit, die keines Beweises bedarf“. Wirtschaftstheoretiker stellen die ihrer Theorie zugrunde liegenden Axiome daher nicht in Frage. Dabei gehen die Unterschiede zwischen zwei Theorien in aller Regel auf ihre unterschiedlichen Axiome zurück.

III. Das Axiom der Neutralität des Geldes Eines der grundlegenden Axiome der klassischen Theorie im 19. Jahrhundert war die Neutralität des Geldes. Diesem Axiom zufolge haben Veränderungen der Geldmenge keinerlei Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote und das Produktionsniveau des Gesamtsystems. Ist in einem Wirtschaftssystem die Neutralität des Geldes gegeben, so sind die Beschäftigung und die Produktion ausschließlich von nichtmonetären Faktoren abhängig. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Neutralität des Geldes in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern zu einem grundlegenden Axiom geworden, und sie ist bis heute ein Eckpfeiler der vorherrschenden ökonomischen Theorie. Für alle, die in der klassischen Theorie geschult sind, ist die Neutralität des Geldes ein Glaubensgrundsatz, der keines Beweises und keiner Rechtfertigung bedarf. 16

Das gilt insbesondere im Hinblick auf den Wirtschaftsnobelpreis.

III. Das Axiom der Neutralität des Geldes

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Professor Oliver Blanchard zum Beispiel, ein führendes Mitglied der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und des angesehenen National Bureau of Economic Research, hat sämtliche von Ökonomen des Mainstreams verwendeten makroökonomischen Modelle mit überraschender Offenheit wie folgt charakterisiert: Sämtliche hier vorgestellten Modelle setzen die Neutralität des Geldes voraus. Diese ist im Wesentlichen Glaubenssache und beruht weniger auf empirischen Beweisen als auf theoretischen Erwägungen.17

Mit anderen Worten: Obwohl es für die klassische Annahme der Geldneutralität keinerlei empirischen Beleg gibt, wird sie von sämtlichen etablierten makroökonomischen Modellen vorausgesetzt – einschließlich derer, die etwa von der Federal Reserve, vom Wirtschaftsrat des Weißen Hauses, oder vom National Bureau of Economic Research zugrunde gelegt werden. Der unerschütterliche Glaube an die Neutralität des Geldes ist das Credo (bzw. Dogma), das der Behauptung der vorherrschenden ökonomischen Lehre zugrunde liegt, um auf nationaler und globaler Ebene für Wohlstand und Vollbeschäftigung zu sorgen, müssten die Regierungen lediglich einzeln und über internationale Vereinbarungen alle Beschränkungen des Marktes aufheben, sprich die Märkte „liberalisieren“. Da dieser Schluss auf dem Axiom der Geldneutralität beruht, nehmen Ökonomen damit letztlich nur an, was sie zu beweisen vorgeben.18 Bereits 1933 betonte ­Keynes, dass die „monetäre Produktionstheorie“, an der er arbeite, die Validität des Axioms der Geldneutralität sowohl kurz- als auch langfristig in Frage stelle: Ein Wirtschaftssystem, das sich des Geldes zwar bedient, aber nur als neutrales Bindeglied zwischen Transaktionen, bei denen es um reale Gegenstände und Sachwerte geht, und das es dem Geld nicht gestattet, Einfluss auf Motive oder Entscheidungen zu nehmen, könnten wir – mangels eines treffenderen Ausdrucks – als eine Tauschwirtschaft bezeichnen. Im Gegensatz dazu wäre die Theorie, die mir vorschwebt, auf ein Wirtschaftssystem zugeschnitten, in dem Geld eine eigenständige Rolle spielt und Motive und Entscheidungen beeinflusst, also kurz gesagt selbst einen maßgeblichen Faktor darstellt, so dass man weder den langfristigen noch den kurzfristigen Gang der Dinge vorhersagen kann, ohne darüber Bescheid zu wissen, wie sich das Geld zwischen Beginn und Ende des Betrachtungszeitraums verhält. Und genau das sollten wir im Sinn haben, wenn wir von einem monetären 17

Blanchard 1990, S. 828. Ein religiöser Mensch, der die biblische Schöpfungsgeschichte, derzufolge ein göttliches Wesen innerhalb von sechs Tagen den Menschen und alle Tiere geschaffen hat, als unumstößliche Wahrheit akzeptiert, muss alle „wissenschaftlichen“ Beweise, wonach sich der Mensch im Lauf von Jahrmillionen aus niederen Lebewesen evolutionär entwickelt hat, zurückweisen. Genauso wird ein wahrer Anhänger des axiomatischen Fundaments der klassischen Theorie bestreiten, dass Geld langfristig nachweislich nicht neutral ist. Damit will ich gar nicht in Abrede stellen, dass manche Vertreter des „Neuen ­Keynesianismus“ und sogar mache Anhänger des Monetarismus im klassischen Sinne zugestehen, dass Geld kurzfristig aufgrund „vorübergehendem“ Marktversagens auf der Angebotsseite nicht neutral sein kann. Langfristig gehen jedoch alle Vertreter des ökonomischen Mainstreams davon aus, dass Geld neutral ist. 18

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“ Wirtschaftssystem sprechen. […] Aufschwünge und Rezessionen sind typische Merkmale eines Wirtschaftssystems, in dem […] das Geld nicht neutral ist. Die nächste Aufgabe besteht meines Erachtens darin, eine solche monetäre Produktionstheorie im Detail auszu­ arbeiten. Und genau dieser Aufgabe widme ich mich derzeit – und bin zuversichtlich, dass das keine Zeitverschwendung ist.19

Hier formuliert ­Keynes deutlich seine Überzeugung, dass eine Produktionstheorie für eine Geldwirtschaft das Axiom der Geldneutralität, das der ökonomische Mainstream stets als „universelle Wahrheit“ betrachtet hat, zurückweisen müsse. Dieses Axiom war in den 125 Jahren vor ­Keynes das Fundament der Klassischen Wirtschaftstheorie gewesen. Da nimmt es nicht wunder, dass­ Keynes’ „Allgemeine Theorie“ den Anhängern der Klassischen Lehre als Häresie galt. ­Keynes versetzte einem Eckpfeiler des klassischen Theoriegebäudes den Todesstoß. Und so ist es wenig überraschend, dass die Analyse ­Keynes und ihre Weiterentwicklung durch postkeynesianische Ökonomen in den vergangenen Jahrzehnten von der Mehrzahl der Ökonomen, die – wie Professor Blanchard ausdrücklich eingestanden hat – ideologisch an das Axiom der Geldneutralität gekettet sind, unverstanden blieb. Da eine Theorie per definitionem allgemeingültiger ist, wenn sie weniger beschränkende Axiome voraussetzen muss als eine andere, ist ­Keynes’ Ansatz allgemeingültiger als die Klassische Theorie (einschließlich der Allgemeinen Gleich­ eynes das Axiom der Geldneutralität ebenso über Bord gewichtstheorie), da K wirft wie zwei weitere, für alle Theorien des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams grundlegende Axiome (s. u.). Rein logisch betrachtet müssen sich jedoch nicht diejenigen rechtfertigen, die restriktive Axiome zurückweisen. Vielmehr obliegt es jenen, die als Grundlage ihrer Theorie auf diese zusätzlichen Axiome bestehen, deren Notwendigkeit aufzuzeigen. Der Nachweis der Notwendigkeit des Axioms der Geldneutralität dürfte den Theoretikern des Mainstreams allerdings extrem schwer fallen. Die Feststellung Blanchards, für die Neutralität des Geldes gebe es keinen empirischen Nachweis, sollte eigentlich genügen, um dieses Dogma aus wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zu verbannen. Hat man sich der Geldneutralität als notwendigem axiomatischem Baustein entledigt, so bleibt als Organisationsprinzip für die Untersuchung des Beschäftigungs- und Produktionsniveaus in einer Marktwirtschaft: (1) die Rolle des Geldes als Mittel zur Begleichung vertraglicher Verpflichtungen und (2) die tragende Rolle der Liquidität für die Ermittlung des Produktionsflusses und der Beschäftigung in unserem Wirtschaftssystem zu verstehen. James K. Galbraith hat darauf hingewiesen, dass die ersten beiden Wörter im Titel von K ­ eynes’ „Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ eine eindeutige Anspielung auf Albert Einstein seien.20 Einsteins „All 19 20

­Keynes 1933a, S. 408 ff. Vgl. Galbraith 1996, S. 14.

III. Das Axiom der Neutralität des Geldes

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gemeine Relativitätstheorie“ hatte in der Physik die klassische Theorie Isaac Newtons abgelöst, die von einer Trennung von Zeit und Raum ausgegangen war. Einstein zeigte, dass das Raum-Zeit-Kontinuum im Wesentlichen eine Erweiterung der nichteuklidischen, Riemannschen Geometrie gekrümmter Räume darstellt. ­Keynes hoffte es Einstein gleichzutun: Ähnlich wie dieser mit seiner All­ eynes die gemeinen Relativitätstheorie die Physik revolutioniert hatte, wollte K klassische Wirtschaftstheorie ablösen, die ausgehend vom Axiom der Geldneutralität einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Marktes und der Geld­ eynes wollte diese axiomatische Trennung mit dem Äquivalent menge leugnete. K des gekrümmten Raumes ersetzen, einem „Markt-Geld-Kontinuum“, in dem Geld und Markt permanent interagieren. Folgt man allerdings ­Keynes’ Logik und ihrer postkeynesianischen Weiter­ entwicklung, so stellt das die übertrieben optimistische Sicht in Frage, in dieser, der besten aller möglichen Welten werde sich langfristig alles zum Guten wenden, die freie Marktwirtschaft werde für Vollbeschäftigung sorgen und allen, die ar­ eynes’ „Allgemeine Theorie“ mit beitswillig sind, Wohlstand verschaffen. Da K einer geringeren Anzahl einschränkender Axiome auskommt als die Klassische Theorie, berücksichtigt sie auch die Möglichkeit, dass ein wettbewerbsorientiertes System Mängel aufweist und beispielsweise auch langfristig außerstande ist, für Vollbeschäftigung zu sorgen.21 Zur sozialdarwinistischen Sichtweise der Klassischen Wirtschaftstheorie verhält sich ­Keynes’ Ansatz ähnlich antithetisch wie die wissenschaftliche Evolutionstheorie zum „Intelligent Design“-Ansatz fundamentalistischer Christen, der vom Axiom ausgeht, dass die Entstehung des Menschen in der Bibel erklärt sei. ­Keynes’ „Allgemeiner Theorie“ zufolge kann man diese Unfähigkeit des auf Unternehmungsgeist basierenden Systems, für Vollbeschäftigung zu sorgen, durch korrigierende Steuerpolitik und Regulierungsbehörden ausgleichen, die den Finanzmarkt mit geldpolitischen Maßnahmen stabilisieren. Der Staat kann durchaus eine dauerhafte Rolle beim Ausgleich von Fehlern in unserem Wirtschafts­system spielen, ohne die unternehmerische Freiheit einzuschränken und Innovationen zu verhindern. Neben dem Axiom der Geldneutralität warf ­Keynes noch zwei weitere einschränkende Axiome über Bord: 1. das Axiom der Substituierbarkeit und 2. das Axiom der Ergodizität.

21

Vgl. ­Keynes 1936, S. 314.

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

IV. Das Axiom der Substituierbarkeit Dem Axiom der Substituierbarkeit zufolge lässt sich alles durch alles ersetzen. Das bedeutet, dass jede Preiserhöhung bei einem bestimmten Gut (oder einer bestimmten Dienstleistung) die Käufer veranlassen wird, weniger von diesem nun teureren und mehr von einem anderen, jetzt vergleichsweise billigeren Gut nachzufragen – wobei die Ausgaben jedoch insgesamt gleichbleiben. Betrachtet man beispielsweise Tee und Kaffee als Substitutionsgüter, so führt ein Anstieg des Teepreises dazu, dass die Leute weniger Tee und dafür mehr Kaffee trinken. Geht man von der universellen Anwendbarkeit des Axioms der Substituierbarkeit und völlig frei beweglichen Preisen aus, so bedeutet das für einen Markt, auf dem zum gängigen Marktpreis nicht alle Artikel verkauft werden konnten, dass die Verkäufer einfach nur den Marktpreis im Vergleich zu allen anderen Preisen senken müssen, um alle unverkauften Artikel loszuwerden. Analog dazu folgt aus dem Axiom der Substituierbarkeit für den Arbeitsmarkt: Gibt es beim derzeit marktüblichen Lohn Arbeitslose, so kann man alle Bewerber in Arbeit bringen, indem man einfach die Löhne senkt. Können alle auf einem Markt zum Kauf angebotenen Artikel verkauft werden, so bezeichnen Ökonomen das als „Markträumung“. Vollbeschäftigung herrscht immer dann, wenn der Arbeitsmarkt „geräumt“ ist, sprich wenn jeder einen Job hat, der bereit ist, zum marktüblichen Lohn zu arbeiten, und niemand unfrei­willig arbeitslos ist. Verabschiedet man sich jedoch von der Vorstellung, dass das Axiom der Substituierbarkeit auf jeden Markt anwendbar sei, so haben Arrow und Hahn gezeigt, so wird allen mathematischen Beweisen für eine Lösung im Sinne der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, wonach alle Märkte – einschließlich des Arbeitsmarktes  – geräumt werden, die Grundlage entzogen.22 Anders ausgedrückt: Erklärt man nicht von Anfang an das Axiom der Substituierbarkeit zur Grundlage einer Theorie, so kann man anhand dieser Theorie nicht zeigen, dass alle Märkte (einschließlich des Arbeitsmarkts) geräumt werden – selbst dann nicht, wenn alle Preise frei beweglich sind. Ist die Substituierbarkeit nicht gegeben, so ist es unmöglich, den Nachweis zu führen, dass in einem System ohne Einschränkungen des Wett­bewerbs und mit frei beweglichen Löhnen und Preisen alle Ressourcen restlos aufgebraucht werden. Wie in Kapitel 7 näher zu erläutern sein wird, hat ­Keynes das Axiom der Substituierbarkeit im Rahmen seiner Ausführungen zur Liquidität und den „wesentlichen Eigenschaften von Zins und Geld“ verworfen.23

22

Vgl. Arrow/Hahn 1971, S. 15, 127, 215, 305. Vgl. ­Keynes 1936, 17. Kapitel.

23

V. Das Axiom der Ergodizität

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V. Das Axiom der Ergodizität Worum geht es bei der Frage der Ergodizität? Wenn man sich vorstellt, der Weg eines Wirtschaftssystems auf der Zeitachse Richtung Zukunft werde von einem „stochastischen Prozess“ bestimmt, wie die Statistiker sagen, so lässt sich für die zukünftigen Folgen zu jeder in der Gegenwart getroffenen Entscheidung eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Will man beim Fällen einer Entscheidung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen in der Zukunft eine einigermaßen seriöse statistische Vorhersage machen, so müsste man logisch gesprochen stichproben­ artig Daten aus der Zukunft erheben und auswerten, um die zukünftige Entwicklung des Marktes abzuschätzen. Da es nun aber unmöglich ist, Daten über die Zukunft zu erheben, gehen Ökonomen von der Annahme aus, die wirtschaftliche Entwicklung werde von einem ergodischen stochastischen Prozess bestimmt, so dass in der Vergangenheit und Gegenwart gewonnene Stichproben äquivalent zu einer Stichprobe aus der Zukunft sind. Das Axiom der Ergodizität geht mit anderen Worten davon aus, dass die zukünftige Marktentwicklung ein „statistischer Schatten“ der in Vergangenheit und Gegenwart erhobenen Marktdaten ist. Um das Argument des „statistischen Schattens“ zu verstehen, müssen wir uns das Konzept der Ergodizität etwas genauer ansehen. Eine Realisierung eines stochastischen Prozesses ist definiert als Wert einer mehrdimensionalen Variable für einen bestimmten Zeitabschnitt, das heißt als eine Zeitreihe aufgezeichneter Ergebnisse. Ein stochastischer Prozess liefert ein ganzes Universum aus solchen Zeitreihen. Zeitliche Statistiken beziehen sich auf statistische Durchschnittswerte (wie das statistische Mittel, die Standardabweichung usw.), die über einen bestimmten Zeitraum hinweg aus einer einzigen Realisierung berechnet werden. Räumliche Statistiken dagegen beziehen sich auf statistische Durchschnittswerte, die zu einem einzigen Zeitpunkt berechnet sind, und beruhen auf der Gesamtheit aller Realisierungen. Räumliche Statistiken (wie das arithmetisches Mittel, die Standardabweichung, usw.) werden also mit Hilfe eines Datenquerschnitts berechnet, das heißt aus Daten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einzelnen Teilnehmern erhoben werden. Ist der stochastische Prozess ergodisch, dann (und nur dann) fällt die zeitliche und die räumliche Statistik für eine Realisierung von unbegrenzter Größe zusammen. Für eine finite Anzahl an Realisierungen ergodischer Prozesse stimmt die zeitliche und die räumliche Statistik abgesehen von Zufallsfehlern überein. Anders ausgedrückt: Mit zunehmender Anzahl der Stichproben nähern sich die berechneten Werte der zeitlichen und räumlichen Statistik in der Regel an (und fallen unter Umständen ganz zusammen). Trifft das Axiom der Ergodizität zu, so sind aus in der Vergangenheit liegenden Zeitreihen oder Querschnittsdaten berechnete Sta­ tistiken verlässliche Schätzungen der räumlichen Statistik zu einem beliebigen zukünftigen Zeitpunkt. Das Axiom der Ergodizität ermöglicht es also, die Entwicklung zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt zuverlässig vorherzusagen, indem man mittels

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

Zeitreihen oder Querschnitten gewonnene Daten statistisch auswertet. Die Zukunft ist demnach niemals ungewiss. Wenn man die bereits verfügbaren Daten statistisch nur genau genug auswertet, kann man die Zukunft stets zuverlässig voraus­sagen (ja, sie wird geradezu zur mathematischen Gewissheit). In einem ergodischen System ist die Zukunft zwar mit gewissen Wahrscheinlichkeitsrisiken behaftet, aber zuverlässig vorhersehbar. In den nicht probabilistischen, deterministischen Modellen der Klassischen Theorie wird die Funktion des Axioms der Ergodizität vom Ordnungsaxiom übernommen. Dem Ordnungsaxiom zufolge kennen Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt alle denkbaren zukünftigen Folgen einer Handlung und können die mit bestimmten Handlungsoptionen verbundenen Auswirkungen auf einer Skala von der wünschenswertesten bis zur am wenigsten wünschenswerten Folge anordnen. Wahre Ungewissheit tritt in deterministischen Modellen dann auf, wenn ein Individuum das ganze Spektrum möglicher zukünftiger Auswirkungen nicht angeben oder ordnen kann, weil der Entscheidungsträger a) sich die vollständige Liste zukünftiger Auswirkungen nicht vorzustellen vermag oder b) nicht alle Auswirkungen danach ordnen kann, wie wünschenswert sie sind, weil er nicht über genügend Informationen verfügt.24 In von echter Ungewissheit geprägten Situationen kann man demnach weder das Axiom der Ergodizität noch das Ordnungsaxiom anwenden. Kurz gefasst besagt das Axiom der Ergodizität, dass man die Zukunft stets zuverlässig vorhersagen kann, indem man ausgehend von in Vergangenheit und Gegenwart erhobenen Marktdaten Wahrscheinlichkeiten berechnet und diese auf denkbare zukünftige Folgen anwendet. Anders gewendet kann man dem Axiom der Ergodizität zufolge mit großer statistischer Treffgenauigkeit angeben, welche zukünftigen Auswirkungen eine heute getroffene Entscheidung hat. Lehnt man das Axiom der Ergodizität ab, so ist die Zukunft insofern ungewiss, als man sie auf Grundlage bekannter Marktdaten nicht zuverlässig voraussagen kann. Oder, wie es der Nobelpreisträger Sir John Hicks ausgedrückt hat: „Wir sollten wirtschaftliche Modelle entwerfen, in denen die Menschen nicht wissen, was passieren wird, und sich darüber bewusst sind, dass sie nicht wissen, was passieren wird. Genau so, wie es in der Geschichte stets der Fall war!“25 Die Theorie der rationalen Erwartungen und die neoklassischen Theorie dagegen schreiben einem ihrer Begründer zufolge „den Menschen im Modell sehr viel 24

Vgl. Hicks 1979, S. 113, 115. Hicks 1977, S. Vii. Nachdem er meinen Aufsatz über den Trugschluss der rationalen Erwartungen gelesen hatte, schrieb mir Hicks in einem Brief vom 12. Februar 1982: „Soeben habe ich Ihren Aufsatz über rationale Erwartungen gelesen. […] Er gefällt mir ausgesprochen gut. […] Sie haben damit meine Zweifel in eine rationale Form gebracht und mir vor Augen geführt, dass es eine verpasste Chance war, meinen Standpunkt nicht als nichtergodisch zu bezeichnen. Wenn man eine Botschaft an den Mann bringen will, braucht man ein solches Etikett.“ 25

V. Das Axiom der Ergodizität

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mehr Wissen über das System zu, in dem sie handeln, als dem Ökonomen bzw. Ökonometriker zur Verfügung steht, der mit Hilfe des Modells ihr Verhalten zu verstehen versucht“.26 Die neoklassische Theorie unterstellt mit anderen Worten, dass die Menschen mehr über die Zukunft wissen als die Ökonomen, die ihre­ Modelle mit derart hellsichtigen Menschen bevölkern. Da die Terminologie für das Axiom der Ergodizität erst 1935 explizit ausformuliert wurde, von der Moskauer Schule der Wahrscheinlichkeitstheorie, und in Westeuropa und den USA erst nach dem Zweiten Weltkrieg und ­Keynes’ Tod populär wurde, war sie K ­ eynes nicht bekannt. So erklärt sich, dass der Ausdruck „Axiom der Ergodizität“ trotz K ­ eynes’ Betonung der Ungewissheit und der Notwendigkeit von Liquidität weder in seinem Hauptwerk von 1936 noch in seinen anderen Schriften auftaucht. Trotzdem ist der Gedanke, dass dieses Axiom auf unser reales Wirtschaftssystem nicht angewendet werden kann, sowohl in seinen Ausführungen über die Ungewissheit als auch in seiner berühmten Kritik von Pro­ fessor Tinbergens ökonometrischer Methodik klar erkennbar27. Wenn Unternehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt verschiedene Investitionsmöglichkeiten gegeneinander abwägten, so ­Keynes, seien sie sich der Tatsache bewusst, dass die Zukunft ungewiss ist; sie wüssten, dass man aus den verfügbaren Daten mit Hilfe bestehender Wahrscheinlichkeiten keine aktuarische Schätzung zukünftiger Gewinne im Sinne einer statistischen Abschätzung des potentiellen Gewinns ableiten könne.28 ­Keynes betonte den Unterschied zwischen seiner „Allgemeinen Theorie“ und der Klassischen Lehre, die davon ausgehe, dass Tatsachen und Erwartungen in eine definitive Form gebracht und Risiken […] statistisch exakt berechnet werden könnten. Man glaubte, die Ungewissheit mittels der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten […] auf eine ebenso berechenbare Form reduzieren zu können wie die Gewissheit. […] Ich werfe der Klassischen Wirtschaftstheorie vor, dass sie selbst eine jener netten, feinen Methoden ist, die Lösungen für die Gegenwart zu finden versuchen, indem sie von der Tatsache abstrahieren, dass wir über die Zukunft herzlich wenig wissen. […] [Alle Klassischen Ökonomen] haben übersehen, welch grundsätzlichen Unterschied zwischen Theorie und Praxis sie durch diese Abstraktion einführen, und zu welchen Trugschlüssen sie damit verführt werden.29

­Keynes wies das Axiom der Ergodizität zurück, weil er der Auffassung war, dass realistische Theorien die Fähigkeit unregulierter Finanzmärkte, Investitionen an diejenigen Projekte zu leiten, die in der Zukunft die größten Gewinne abwerfen, nicht nachweisen können. Unter nichtergodischen Bedingungen lässt sich dem­ gegenüber zeigen, dass die primäre Funktion der Finanzmärkte nicht (wie von der 26

Sargent 1993, S. 23. Vgl. ­Keynes 1939a, S.  308. ­Keynes argumentierte, Tinbergens ökonometrische Analyse sei auf unser Wirtschaftssystem nicht anwendbar, da Wirtschaftsdaten über längere Zeiträume hinweg nicht homogen sind. Die Nichthomogenität der Daten ist eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für einen nichtergodischen Prozess. 28 Vgl. ­Keynes 1936, S. 136 f. 29 ­Keynes 1938, S. 112–115. 27

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

Klassischen Theorie postuliert) in der optimalen Verteilung des Kapitals besteht, sondern darin, für Liquidität zu sorgen. In den folgenden Kapiteln werde ich darlegen, wie sich aus ­Keynes’ Betonung der Ungewissheit (also nichtergodischer Bedingungen) seine Argumentation ergab, dass die Entscheidung von Lohnempfängern, einen Teil ihrer aktuellen Einkünfte nicht für Industrieprodukte auszugeben (sondern zu sparen), eine zweite Entscheidung nach sich ziehe, nämlich die für bestimmte, liquide Wertpapiere, in ­ eynes war der Auffassung, dass diese die sie ihre Ersparnisse anlegen wollten. K Entscheidung von Lohnempfängern, zu sparen und einen Vorrat an Liquidität anzulegen, (anders als von der Klassischen Theorie behauptet) von den aktuellen Investitionsentscheidungen von Unternehmern unabhängig ist. Von der Klassischen Theorie des 19. Jahrhunderts wurde die Möglichkeit, die Zukunft könnte ungewiss sein, kategorisch ausgeschlossen. Stattdessen postulierte sie, dass wirtschaftliche Entscheidungsträger über die Zukunft genauestens Bescheid wüssten. Selbst wenn Entscheidungsträger die Zukunft nicht perfekt vorhersehen könnten, so nahm man Anfang des 20. Jahrhunderts an, so könnten sie diese auf der Grundlage von Marktdaten aus der Vergangenheit doch statistisch vorausberechnen. Die Neoklassische Theorie, die sich Ende des 20. Jahrhunderts durchsetzte, betrachtet das Axiom der Ergodizität explizit als notwendige Vorbedingung dafür, dass Marktteilnehmer rationale Erwartungen über eine statistisch zuverlässig voraussagbare Zukunft entwickeln können. Die Neoklassische Theorie geht ausdrücklich davon aus, dass alle Entscheidungsträger im Wirtschaftssystem durch die Analyse der Marktpreise in Vergangenheit und Gegenwart über „rationale Erwartungen“ verfügten, die statistisch begründeten Vorhersagen ebenbürtig seien. Für die Ausarbeitung dieser Theorie der rationalen Erwartungen wurde Professor Robert Lucas 1995 der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Wahrscheinlich überrascht es Sie zu lesen, dass Lucas zwar zugibt, seine Analyse setze Axiome voraus, die „künstlich, abstrakt und völlig wirklichkeitsfern“30 seien, die Wirklichkeitsferne seiner Axiome jedoch für einen entscheidenden Vorzug der von ihm entwickelten Neoklassischen Theorie hält. Für Lucas sind diese künstlichen, wirklichkeitsfernen Axiome die einzige wissenschaftliche Methode der Wirtschaftswissenschaften, denn diese klassischen Axiome ermöglichten es, unabhängig von der realen Welt politischer und wirtschaftlicher Institutionen logische Schlussfolgerungen anzustellen. Die von der Klassischen Theorie auf diese Weise ermittelten, unveränderlichen und unumstößlichen „Gesetze“ seien das sozialwissenschaftliche Äquivalent zu den unveränderlichen Prinzipien der „exakten“ Wissenschaften.31 Diese Definition des seiner Meinung nach einzig wissen­ eynes aufgrund schaftlichen Ansatzes in der Ökonomie ermöglichte es Lucas, K 30

Lucas 1981, S. 563. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson (1969, S.  184 f.) argumentierte, das Axiom der Ergodizität sei die einzige Möglichkeit, die Ökonomie zu einer „exakten Wissenschaft“ zu­ machen. 31

VI. Der Todesstoß für K ­ eynes’ revolutionären Ansatz

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dessen ablehnender Haltung gegenüber einigen klassischen Axiomen als „unwissenschaftlich“ und keiner eingehenden Beschäftigung wert abzuqualifizieren.32 „Unter von Ungewissheit geprägten Bedingungen“, so Lucas, „sind wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen wertlos“.33 Kein Wunder, dass das analytische System von ­Keynes in den Aufsätzen und Lehrbüchern des akademischen Mainstreams derzeit keinen Platz hat. Entfernt man die drei einschränkenden, klassischen Axiome Geldneutralität, Substituierbarkeit und Ergodizität aus dem schwarzen Zylinder der klassischen Theoretiker, so sind diese außerstande, das Kaninchen der Lohn-und Preisflexibilität als das Heilmittel gegen Arbeitslosigkeit aus ihrem Zylinder zu zaubern und zu behaupten, diese Flexibilität der Preise könne nur durch die Liberalisierung der Arbeits- und Warenmärkte erreicht werden. In den folgenden Kapiteln erkläre ich genauer, weshalb ­Keynes’ Ablehnung dieser klassischen Axiome wichtige Unterschiede zwischen der Klassischen Theo­ eynes „Allgemeiner Theorie“ zur Folge haben. Außerdem zeige ich auf, rie und K warum die genannten Axiome in der Klassischen Theorie zu einem Theoriegebäude führen, das keine Entsprechung in der Realität hat, wohingegen ­Keynes ein Wirtschaftssystem beschreibt, das unserer Erfahrungswelt entspricht.

VI. Der Todesstoß für ­Keynes’ revolutionären Ansatz In ­Keynes’ „Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ werden die drei einschränkenden klassischen Axiome, die nach ­Keynes’ Auffassung über Bord geworfen werden sollten, nicht explizit genannt. Das lag unter anderem daran, dass die strikten axiomatischen Grundlagen der Klassischen Lehre 1936 noch nicht explizit ausformuliert und für K ­ eynes deshalb nicht so einfach zu benennen waren. Insofern überrascht es kaum, dass vielen zeit­genössischen Lesern der „Allgemeinen Theorie“ nicht klar war, welche klassischen Axiome genau­ Keynes ablehnte und warum er das tat. Wie die oben zitierte Passage zeigt, sagte ­Keynes zwar explizit, dass das Axiom der Geldneutralität in seiner neuen „monetären Produktionstheorie“ weder auf kurze noch auf lange Sicht Platz habe. Das Axiom der Substituierbarkeit und das Axiom der Ergodizität werden in der „Allgemeinen Theorie“ jedoch nicht explizit genannt. 32

Wie ich in den folgenden Kapiteln näher ausführen werde, beruht der Anspruch von Lucas (1981) und Samuelson (1969), den einzig „wissenschaftlichen“ ökonomischen Ansatz zu vertreten, auf der Gleichsetzung des Axioms der Ergodizität mit Wissenschaftlichkeit. Diese Behauptung ist jedoch falsch. Die moderne Physik und andere „exakte“ Wissenschaften sind in jüngerer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass manche von ihnen untersuchten Prozesse nichtergodischer Natur sind. Auf die Frage, inwiefern die Ökonomie eine nichtergodische Wissenschaft darstellt, gehe ich in späteren Kapiteln dieses Buches näher ein (vgl. dazu auch Davidson 1982/83). 33 Lucas 1977, S. 15.

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4. Kap.: Vor und nach der „Allgemeinen Theorie“

Viele der klügsten Nachwuchsökonomen, die in den 1930er Jahren in den USA und in England ihre wirtschaftswissenschaftliche Karriere begannen (wie Paul Samuelson, James Tobin, J. R. Hicks oder James Meade), erkannten, dass die Arbeitslosigkeit ein zu großes und zu hartnäckiges Problem darstellte, als dass man es als bloße vorübergehende Fehlentwicklung hätte abtun können, das die Selbstheilungskräfte des Marktes langfristig schon aus der Welt schaffen würden. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihnen, dass die unsichtbare Hand vermutlich außerstande sein würde, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums wieder für eine florierende Wirtschaft zu sorgen. Diesen „Jungen Wilden“ fehlte die Geduld, um auf die von der Klassischen Lehre versprochene Wiederbelebung zu warten. Und doch waren diese jungen, aufstrebenden Ökonomen der 1930er Jahre anhand der Klassischen Theorie ausgebildet worden. Ihre Köpfe waren daher bereits ­ eynes’ Denkvoller gegenläufiger Überzeugungen, so dass sie die Schlüssel zu K ­ eynes weise, die dieser ihnen zuwarf, nicht fangen konnten. Es fiel ihnen schwer, K Begründung nachzuvollziehen, weshalb es angezeigt sei, sich von einigen klassischen Axiomen zu trennen. Als klassisch geschulte Ökonomen waren die „jungen Wilden“ nicht bereit, sich von impliziten, für die klassische Nachfragetheorie grundlegenden Axiomen zu lösen. Hinzu kam (wie ich in Kapitel 12 darlegen werde), dass in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg politische Kräfte am Werk waren, die ein Festhalten an den klassischen Axiomen notwendig machten, wenn man ökonomische Lehrbücher verkaufen und die eigene univer­ sitäre Karriere nicht gefährden wollte. Wem der Glaube an das segensreiche Walten der unsichtbaren Hand eingetrichtert worden ist, für den sind alle klassischen Axiome per definitionem universelle Wahrheiten. Wer hart dafür gearbeitet hat, den Doktorgrad in den Wirtschaftswissenschaften zu erlangen und sich das Wohlwollen eines an der klassischen Theorie geschulten Ökonomen zu sichern – unerlässliche Voraussetzungen dafür, eine feste Stelle an einer angesehenen Universität zu erlangen –, für den wäre es geradezu eine Herkulesaufgabe, etwas in Frage zu stellen, was er als selbstverständliche Tatsache zu betrachten gelernt hat. Die jungen Ökonomen der 1930er und 1940er Jahre waren entweder nicht willens oder nicht in der Lage, ihre formalen Modelle von diesen klassischen Axiomen zu befreien, die den Nachfragebedingungen zugrunde lagen. Ihre Köpfe waren so voller „euklidischer“ Ideen der Klassischen Lehre, dass sie die „nichteuklidischen“ analytischen Einsichten, die­ Keynes ihnen zuwarf, nicht fangen konnten. Stattdessen versuchten diese Nachwuchsökonomen, ­Keynes’ Schlussfolgerungen in mathematische Formalisierungen der klassischen Theorie zu übersetzen, die zu dieser Zeit als Ergebnis der Arbeiten von Hicks, Meade, Samuelson, De­ eynes’ „nichteuklidibreu und anderen mehr und mehr en vogue wurde. Da sie K sche“ Botschaft nicht zu entschlüsseln vermochten, versuchten sie seine Erkenntnisse zur Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen, indem sie die klassische Theorie, die ihnen gelehrt worden war, um kurzfristige Angebotsengpässe (wie z. B. starre Nominallöhne oder Festpreismodelle) ergänzten.

VI. Der Todesstoß für K ­ eynes’ revolutionären Ansatz

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Heute sind die meisten Ökonomen noch gründlicher an mathematischen Formalismen geschult, bei denen die einschränkenden klassischen Axiome unter einem Berg aus mathematischen Formeln vergraben sind. Den meisten Vertretern des ökonomischen Mainstreams ist daher gar nicht bewusst, welche klassischen Axiome sie im Rahmen der Interpretation ihrer komplexen mathematischen Modelle als gegeben voraussetzen. Ungeachtet dessen beruhen die gängigen makroökonomischen Modelle unserer Tage, mit denen die Entscheidungen „unabhängiger“ Zentralbanken und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen fiskalkonservativer Regierungen gerechtfertigt werden, nach wie vor auf jenen drei klassischen Axiomen, die ­Keynes verwarf. Die Übertragung der politischen Implikationen dieser heute verbreiteten mathematischen Modelle auf die Realität ist, wie ­Keynes bemerkte, „irreführend und gefährlich“. Für die globalisierte Wirtschaft des 21. Jahrhunderts gilt das um so mehr. Die Folge der Anwendung jener stark formalisierten, mathematischen Version der Klassischen Theorie auf die Tagespolitik ist die Stagnation bzw. das geringe Wachstum, das derzeit in den meisten Industrieländern zu verzeichnen ist. Das gilt insbesondere für die Europäische Union, wo das Modell der Europäischen Zentralbank davon ausgeht, dass es sich bei Arbeitslosigkeit grundsätzlich um ein vorübergehendes Phänomen handelt.

5. Kapitel

Der grundsätzliche Unterschied zwischen ­ eynes’ „Allgemeiner Theorie“ und der Klassischen Lehre: K Ersparnisse und Liquidität I. Woran erkennt man einen Klassiker? Ein kluger Kopf hat einmal bemerkt, ein „Klassiker“ sei ein Buch, das alle zitieren, aber keiner liest. In diesem Sinne ist John Maynard ­Keynes’ „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von 1936 ein echter Klassiker, denn so mancher Ökonomieprofessor einer prestigeträchtigen Hochschule, vor allem in den USA, hat dieses Buch nie gelesen. Tatsächlich wird Ökonomiestudenten an hochangesehenen Universitäten seit dem Zweiten Weltkrieg erzählt,­ Keynes’ „Allgemeine Theorie“ sei derart schwer verständlich und verwirrend, dass sie sich die Lektüre sparen könnten (und sollten). So schrieb beispielsweise der Harvardprofessor N. Gregory Mankiw: Die „Allgemeine Theorie“ ist ein schwer verständliches Buch […], ein überholtes Buch. […] Wir können die Funktionsweise der Wirtschaft heute sehr viel besser beschreiben als damals ­Keynes. […] Kaum ein Makroökonom hat heute eine schlechte Meinung von der klas­ eynes] […] Langfristig betrachtet liegt die Klassische Ökonomie sischen Ökonomie [wie K richtig. Auch sind Ökonomen heute stärker am langfristigen Gleichgewicht interessiert. […] Die klassische Ökonomie [genießt] weitverbreitete Akzeptanz.1

Was Wirtschaftsstudenten an solchen angesehenen Universitäten von ihren­ gelehrten Professoren seit mehr als 70 Jahren als „­Keynesianische“ Ökonomie vermittelt wird, hat in Wirklichkeit mit ­Keynes revolutionärer Analyse wenig­ gemein. Keynes’ Biograf Robert Skidelsky hat wie erwähnt sehr gut erkannt, wie wenig das, was an den meisten Universitäten als „keynesianische Theorie“ unterrichtet wird, mit ­Keynes’ „Allgemeiner Theorie“ zu tun hat: „Der ökonomische Mainstream hat K ­ eynes’ Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg als ‚Sonderfall‘ der klassischen Theorie behandelt, der nur unter Bedingungen anwendbar sei, in­ denen die Nominallöhne starr seien. Dadurch beraubte man seine [­Keynes’] Theorie ­ihres theo­retischen Bisses, ohne ihr die Relevanz für die praktische Politik zu ­ eynes’ Ansatz seinen ‚theore­ nehmen.“2 Die folgenden Kapitel sind der Versuch, K tischen Biss‘ zurückzugeben.

1

Mankiw 1992, S. 561. Skidelsky 1992, S. 512.

2

I. Woran erkennt man einen Klassiker?

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Wenn K ­ eynes 1936 lediglich argumentiert hat, Arbeitslosigkeit sei die Folge von Preis- und Lohnrigiditäten – wie keynesianische Ökonomen des Mainstreams behauptet haben (und bis heute behaupten) –, so hat K ­ eynes für die Analyse der großen makroökonomischen Probleme, mit denen eine moderne, marktorientierte Geldwirtschaft konfrontiert ist, keine revolutionäre Theorie vorgelegt. Klassische Ökonomen hatten bereits im 19. Jahrhundert die fehlende Flexibilität der Löhne und Preise als den Grund für Arbeitslosigkeit schlechthin beschrieben. Wenn­ Keynes lediglich bekräftigt hat, dass starre Löhne und/oder Preise in der Realität zu dauerhafter Arbeitslosigkeit führen, ist daher nicht nachvollziehbar, wie man auf die Idee kommen könnte, K ­ eynes’ „Allgemeine Theorie“ als revolutionär zu bezeichnen. ­Keynes hat in seiner „Allgemeinen Theorie“ jedoch ausdrücklich bestritten, dass starre Löhne und/oder Preise die zentrale Ursache von Arbeitslosigkeit seien: „[D]ie klassische Theorie war daran gewöhnt, das angeblich sich selbst regulierende Wesen der Wirtschaft auf eine vorausgesetzte Flexibilität der Nominallöhne zu stützen und, wenn sich Rigidität zeigte, die Schuld an der schlechten Anpassung [d. h. die Arbeitslosigkeit] dieser Rigidität zuzuschreiben. […] Meine Abweichung von dieser Theorie ist hauptsächlich eine Abweichung in der Analyse.“3 Noch deutlicher äußerte ­Keynes sich zu der Frage, ob seine Beschreibung eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung einen unvollkommenen Markt, kontrollierte Preise und/oder starre Löhne voraussetze, in seiner Replik auf Dunlop und Tarshis.4 Dunlop und Tarshis hatten argumentiert, da ein rein wettbewerbsorientiertes Modell der empirischen Grundlage entbehre, beruhe ­Keynes’ Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung auf durch Monopole oder staatliche Vorgaben ver­ eynes Antwort war schlicht: „Ich finde ursachten starren Preisen und Löhnen. K es etwas ungerecht, dass ausgerechnet ich dafür kritisiert werde, ein kleines Zugeständnis an die andere Sichtweise zu machen.“5 In den Kapiteln 17–19 seiner „Allgemeinen Theorie“ hatte ­Keynes explizit nachgewiesen: Selbst, wenn es so etwas wie eine Wettbewerbswirtschaft mit völlig frei beweglichen Löhnen und Preisen gäbe (­Keynes’ „kleines Zugeständnis“), so gäbe es doch keinen automatischen Marktmechanismus, der für eine effektive Nachfrage sorgte, die Vollbeschäfti­ eynes’ „Allgemeiner Theorie“ ergibt sich mit anderen gung sicherstellt. Aus K Worten, dass in einer reinen Wettbewerbswirtschaft mit frei beweglichen Löhnen und Preisen ein Gleichgewicht ohne Vollbeschäftigung denkbar und möglich ist. Angesichts dieser unzweideutigen Aussagen von ­Keynes, dass seine Erklärung von Arbeitslosigkeit ohne starre Löhne (oder Preise) auskommt, ist unverkennbar, dass jene Vertreter des ökonomischen Mainstreams, die sich heute als „­Keynesianer“ bezeichnen – obwohl sie Arbeitslosigkeit auf die mangelnde Fle­ eynes’ „Allgemeine xibilität von Löhnen, Preisen oder Zinsen zurückführen –, K 3

­Keynes 1936, S. 217. Vgl. ­Keynes 1939b. 5 ­Keynes 1939b, S. 411. 4

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

Theorie“ ganz offensichtlich als Klassiker betrachten, den sie zitieren können, ohne sich die Mühe zu machen, ihn zu lesen oder zu verstehen. Also bringen sie ihren Studenten bei, die beste Erklärung für die Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems liefere die Allgemeine Gleichgewichtstheorie nach Walras, Arrow und Debreu, ein aufwändiges mathematisches Modell. Nach dieser Allgemeinen Gleichgewichtstheorie lernen die Studenten, die Ursachen von Arbeitslosigkeit seien unvollkommene (starre) Preise auf der Angebotsseite. Das gelte insbesondere für den Arbeitsmarkt der letzten fünfzig Jahre, in denen der „Sozialstaat“ die Arbeiter verhätschelt habe. Im Gegensatz zur Allgemeinen Gleichgewichtstheorie zeigte ­Keynes auf, dass Preis- und/oder Lohnrigiditäten, oder auch nur ein starrer Mindestzinssatz6, weder notwendige noch hinreichende Bedingungen dafür sind, dass in einer marktund wettbewerbsorientierten Geldwirtschaft Arbeitslosigkeit herrscht. Vielmehr sei die Ursache in den eigentümlichen Eigenschaften von Geld und anderen liquiden Mitteln zu suchen, sowie im Wunsch der Menschen, einen Teil ihres Einkommens in Form von liquiden Mitteln zu sparen. Um uns den Unterschied zwi­ eynes und dem ökonomischen Mainstream vor Augen zu führen, müssen schen K wir uns zunächst einem grundlegenden Aspekt der klassischen Theorie zuwenden, dem Say’schen Gesetz. ­Keynes zufolge beruht auf diesem Theorem nämlich die gesamte klassische Lehre.7

II. Das Say’sche Gesetz Das Say’sche Gesetz, ein Lehrsatz aus dem 19. Jahrhundert, ist die Grundlage für die Behauptung der klassischen Theorie, ein Wettbewerbsmarkt mit frei beweglichen Löhnen und Preisen sei der Garant dafür, dass die Marktkräfte unweigerlich einen Zustand herbeiführen, in dem alle verfügbaren Ressourcen genutzt werden. Das Say’sche Theorem geht auf den französischen Ökonomen Jean ­Baptiste Say zurück, der 1803 schrieb, dass „Produkte stets gegen andere Produkte

6 Diese auf einen starren Zinssatz abzielende Argumentation bezeichnet man als „Liquiditätsfalle“. Sie geht davon aus, dass es einen niedrigen, aber positiven Zinssatz gibt, bei dem die Nachfrage nach spekulativ vorgehaltenem Geld vollkommen elastisch ist (so dass die Kurve horizontal verläuft). Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten ökonometrische Studien keine Belege für eine solche Liquiditätsfalle finden. Hätten die Ökonomen des Mainstreams allerdings die „Allgemeine Theorie“ gelesen, so hätten sie gewusst, dass ­Keynes die spekulative Geldnachfrage auf Seite 170 f. als rechtwinklige Hyperbel beschreibt – eine mathematische Funktion, die kein vollkommen elastisches Segment aufweist. Darüber hinaus verwies K ­ eynes (1936, S. 174) darauf, dass ihm kein einziges historisches Beispiel bekannt sei, in dem die Liquiditätspräferenz „sozusagen absolut“ (sprich: vollkommen elastisch) geworden sei. Kurz:­ Keynes leugnete die Existenz der Liquiditätsfalle sowohl aus theoretischer wie auch aus empirischer Perspektive. 7 Vgl. Skidelsky 1992, S. 511.

II. Das Say’sche Gesetz

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eingetauscht werden“. Fünf Jahre später brachte der englische Ökonom John Stuart Mill Says Gedanken auf eine Formel, die in der Ökonomie seither als „Say’sches Gesetz“ bekannt ist: „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst.“ Veranschaulichen lässt sich das Say’sche Theorem wie folgt: Der einzige Grund, weshalb Menschen Dinge für den Markt produzieren (sprich: arbeiten) besteht darin, dass sie Geld verdienen wollen. Arbeiten und etwas produzieren, womit sich Einkommen generieren lässt, gilt als unangenehm. Das einzige, was ihnen Vergnügen bereitet (bzw. Nutzen bringt), ist demgegenüber der Kauf und der Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Die Menschen werden daher nur dann willens sein zu arbeiten, wenn sie mit dem Verdienst so viele Industrieprodukte kaufen können, dass diese die mit der Arbeit verbundenen Unannehmlichkeiten aufwiegen. Anders ausgedrückt: Arbeitnehmer würden nicht nach der Maximierung ihres individuellen wirtschaftlichen Wohlstands streben und sich nicht die Mühe machen, am Produktionsprozess teilzunehmen, wenn sie nicht beabsichtigten, jeden verdienten Cent für Industriegüter und Dienstleistungen auszugeben, die ihnen Vergnügen verschaffen. Wenn die Menschen eigennützig handeln und das Vergnügen bzw. den Nutzen, der mit ihren wirtschaftlichen Aktivitäten verbunden ist, zu maximieren suchen, so die Annahme des Say’schen Theorems, so wird das gesamte durch die Produktion und den Verkauf von Gütern und Dienstleistungen verdiente Einkommen dafür ausgegeben, Industrieprodukte zu kaufen (nachzufragen). Für die Produkte, die eine Wirtschaft unter Einsatz aller Ressourcen her­ stellen kann, fehlt es demnach nie an effektiver Nachfrage. Das Say’sche Gesetz, so ­Keynes, „nach dem der aggregierte Nachfragewert der Produktion als Ganzes dem aggregierten Angebotswert aller Produktionsmengen gleich ist, ist somit das Äquivalent zu der Behauptung, dass einer Vollbeschäftigung kein Hindernis im Wege steht. Wenn das aber nicht das wahre Gesetz über die Beziehung zwischen den Funktionen der aggregierten Nachfrage und des aggregierten Angebotes ist, gibt es ein Kapitel der Wirtschaftstheorie von wesentlichster Bedeutung, das noch geschrieben werden muß und ohne das alle Erörterungen über die Gesamtmenge der Beschäftigung leere Worte sind.“8 Mit der Feststellung, das Say’sche Gesetz, wonach jedes Produkt sich seine Nachfrage selbst schafft, sei nicht das „wahre Gesetz“, warf K ­ eynes der klassischen Ökonomie den Fehdehandschuh hin. ­Keynes argumentierte, das Say’sche Gesetz sei auf unsere Erfahrungswelt nicht anwendbar. Er kündigte an, in Rahmen seiner allgemeinen Theorie der Beschäftigung dieses „Kapitel der Wirtschaftstheorie von wesentlichster Bedeutung“ zu schreiben, und aufzuzeigen, dass eine Zunahme des Angebots (an Industrieprodukten) nicht automatisch zu einem entsprechenden Anstieg der Nachfrage nach diesen Produkten führt.

8

­Keynes 1936, S. 23.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

Akzeptiere man die grundlegenden Axiome der klassischen Theorie, so ­Keynes, so sei das Say’sche Gesetz formal (logisch) nicht falsch. Tatsächlich bezieht das Say’sche Theorem sich auf einen logisch konsequenten „Sonderfall“, den man aus ­Keynes „Allgemeiner Theorie“ ableiten könnte, indem drei einschränkende Axiome einführt: (1) das Axiom der Neutralität des Geldes, (2) das Axiom der Substituierbarkeit und (3) das Axiom der Ergodizität. Auf eine Geldwirtschaft, in der der Produktionsprozess von Unternehmern gesteuert wird, sind diese drei Axiome der klassischen Theorie jedoch nicht anwendbar. Folglich ist das Say’sche Gesetz auf eine Konkurrenzwirtschaft nicht anwendbar, so dass die klassische Theorie einen Sonderfall darstellt, dessen Lehren „irreführend und verhängnisvoll [sind], wenn wir versuchen, sie auf die Tatsachen der Erfahrung zu übertragen.“9 Ein Beispiel für die irreführenden Lehren der klassischen Theorie und ihre potenziell verhängnisvollen sozialen Auswirkungen ist die staatliche Regulierung des Arbeitsumfelds und der Arbeitsbedingungen. Der klassischen Theorie zufolge sorgen deregulierte, konkurrenzorientierte Märkte für Effizienz und Wohlstand. Gesetze, die Mindestlöhne festlegen, für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz sorgen und Kinderarbeit einschränken, so die logische Konsequenz, behindern das freie Spiel der Marktkräfte und verhindern, dass die Wirtschaft zu einem von Wohlstand und Vollbeschäftigung charakterisierten Gleichgewicht findet. Wäre die klassische Theorie auf die Realität anwendbar, so müsste eine gute Wirtschaftspolitik all diese Maßnahmen ablehnen. Im Hinblick auf den Aufbau einer zivilisierten Wirtschaft und Gesellschaft wäre eine Ablehnung solcher regulie­ render arbeitspolitischer Maßnahmen jedoch wenig wünschenswert, wenn nicht katastrophal. ­ eynes es sich zur Aufgabe Im Rahmen seiner „Allgemeinen Theorie“ machte K zu zeigen, warum das Angebot sich selbst in einem hypothetischen Wirtschaftssystem mit uneingeschränktem Wettbewerb und völlig frei beweglichen Löhnen und Preisen nicht seine eigene Nachfrage schafft. Dazu musste K ­ eynes erklären, warum auf Nutzenmaximierung bedachte Haushalte sich der unangenehmen Aufgabe unterziehen sollten, zu arbeiten oder auf andere Weise zum Produktions­ prozess beizutragen, wenn sie einen Teil ihres Einkommens zu sparen gedachten. Sparen definierte K ­ eynes dabei als Verzicht darauf, das gesamte, mühsam erarbeitete Einkommen für nutzbringende Produktionsgüter auszugeben. ­ eynes fest, dass der Bei der Ausarbeitung seiner „Allgemeinen Theorie“ stellte K klassische Begriff der Ersparnisse sehr vage ist und in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeutet. Vor dem Hintergrund von G. E. Moores „Prin­cipia Ethica“ erkannte K ­ eynes, dass ein Verständnis des Problems der Arbeitslosigkeit voraussetzte, eine genaue Taxonomie der verschiedenen Arten von Ausgaben ­ eynes auf der und Ersparnissen zu entwickeln. Mit Hilfe gezielter Fragen, die K Grundlage seines neuen Klassifikationssystems stellte, konnte ­Keynes erklären, 9

­Keynes 1936, S. 3.

II. Das Say’sche Gesetz

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inwiefern das Say’sche Gesetz einen Sonderfall darstellt und warum es katastrophale Folgen hätte, es zum Ausgangspunkt wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu machen. Um jedoch seine an der klassischen Theorie geschulten Kollegen anzusprechen und zu überzeugen, versuchte ­Keynes so viele Methoden der klassischen Wirtschaftstheorie beizubehalten wie möglich. Wenn wir ­Keynes’ Argumentation gegen die Anwendbarkeit des Say’schen Gesetzes verstehen wollen, müssen wir uns daher mit einigen ökonomischen Fachbegriffen und Methoden vertraut machen. Als ­Keynes in Cambridge studierte, wurden die Wirtschaftswissenschaften an dieser Universität vom großen Ökonomen Alfred Marshall dominiert.10 In seinen „Handbuch der Volkswirtschaftslehre“ von 1890 entwickelte Marshall einen Analyserahmen, der alle wirtschaftlichen Kräfte eines Marktes in zwei Kategorien einteilte: Angebot und Nachfrage. Die Angebots- und Nachfragefunktion Marshalls dient dazu, die verschiedenen Faktoren zu erfassen, die das Verhalten von Verkäufern und Käufern auf einzelnen Märkten beeinflussen. Marshalls Nach­ fragefunktion bezieht sich auf die Menge eines bestimmten Gutes, die Käufer zu unterschiedlichen Marktpreisen zu kaufen bereit sind. Die Angebotsfunktion stellt die Menge an Gütern dar, die an Gewinnmaximierung interessierte Verkäufer zu unterschiedlichen Marktpreisen zu produzieren und zu verkaufen bereit sind. Ist der Markt im Gleichgewicht, so ergibt sich der Marktpreis und die Zahl der Verkäufe (bzw. Käufe) durch den Schnittpunkt der Angebots- und der Nach­fragekurve, also dort, wo die zu einem bestimmten Marktpreis nachgefragte Menge genau der zu diesem Marktpreis angebotenen Menge an Gütern entspricht. In seiner „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ versuchte ­Keynes die mikroökonomischen Nachfrage- und Angebotsfunktionen Marshalls zu einer gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion und einer gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion weiterzuentwickeln. Den Schnittpunkt dieser gesamtwirtschaftlichen Funktionen bezeichnete ­Keynes als effektive Nachfrage11. Die effektive Nachfrage, argumentierte K ­ eynes, sei das gesamtwirtschaftliche Äquivalent zu Marshalls mikroökonomischem Gleichgewicht. Die effektive Nachfrage bezeichne den Punkt, an dem aggregierte Beschäftigung und Output im Gleichgewicht seien, so dass die Käufer den Unternehmen zu einem gewinnbringenden Preis genau so viele Produkte abkauften, dass dadurch die Beschäftigung genau jener Anzahl an Arbeitern gerechtfertigt sei, die für die Produktion der abgesetzten Produkte notwendig ist. In einer Geldwirtschaft, behauptete ­Keynes, müsse dieser Punkt der effektiven Nachfrage nicht notwendig mit der Vollbeschäftigung aller Arbeiter zusammenfallen. Wenn die effektive Nachfrage unterhalb eines Niveaus liege, an dem Voll 10

Vgl. Harrod 1951, S. 142. Zur Herleitung der gesamtwirtschaftlichen Angebots- und Nachfragekurve und der effektiven Nachfrage siehe den Anhang zu Kapitel 6. 11

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

beschäftigung garantiert sei, so ­Keynes, so würde diese sich selbst dann, wenn man bei der Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion von frei beweglichen Löhnen und Preisen ausgehe, dem Punkt der Vollbeschäftigung nicht annähern, solange die Flexibilität der Löhne und Preise (also des Angebots) nicht automatisch eine erhöhte Nachfrage am Markt generiere, die dann zu der ursprünglichen gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion zu addieren wäre. Bei ihrer Annahme, das gesamtwirtschaftliche Angebot generiere automatisch eine entsprechende gesamtwirtschaftliche Nachfrage, schloss ­Keynes, hätten die klassischen Ökonomen die Analyse der einzelnen Komponenten einer unabhängigen gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion vernachlässigt. Laut ­Keynes galt es daher, zunächst die gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion zu ermitteln, die das Verhältnis zwischen den Verkaufserwartungen der Unternehmer und den Beschäftigungsmöglichkeiten abbildet, die sie Arbeitern anbieten, und sich dann näher mit der gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion zu beschäftigen.

III. Die gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion ­ eynes’ gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion12 setzt die Gesamtzahl der K Arbeiter (N), die auf Gewinnmaximierung bedachte Unternehmer bei gegebenem Nominallohn, technischen Entwicklungsstand und durchschnittlichem Grad an Konkurrenz (bzw. Monopolisierung) zu beschäftigen bereit sind, zu allen denkbaren Niveaus an erwarteten Gesamterlösen (Z) in Beziehung.13 Ein Punkt auf einer gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve steht für den Umsatzerlös, mit dem auf Gewinnmaximierung bedachte Unternehmer rechnen können müssen, damit sie genügend Gewinn machen, um die gegebene Anzahl an Arbeitern zu beschäftigen. Sollten die Unternehmer zu irgendeinem Zeitpunkt beschließen, mehr Arbeiter einzustellen, so müssen sie logischerweise von der Bereitschaft der Käufer ausgehen, so viel mehr Geld auszugeben, dass sich die Ausweitung der Produktion für die Unternehmer rechnet. Das gesamtwirtschaftliche Angebot bzw. der erwartete Umsatzerlös (Z) ist mit anderen Worten eine steigende Funktion der Zahl der Beschäftigten (N). ­Keynes war der Auffassung, dass sein Konzept des gesamtwirtschaftlichen Angebots im Grunde nichts Neues war. In einem Brief an D. H. Robertson schrieb­ Keynes, seine gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion sei „nichts anderes als die Angebotsfunktion, die es seit Urzeiten gibt“14 und lasse sich problemlos aus der ganz normalen, mikroökonomischen Angebotsfunktion Marshalls ableiten.15 Die Eigenschaften seiner gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion setzten daher

12

­Keynes 1936, S. 39 f. Vgl. ­Keynes 1936, S. 206. 14 Vgl. ­Keynes 1935b, S. 513. 15 Vgl. ­Keynes 1936, S. 39 f. 13

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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„wenige Erwägungen“ voraus, „die uns nicht bereits vertraut sind“16. K ­ eynes lieferte eine kurze Beschreibung dieser gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion17 und ihres Gegenstücks, der Beschäftigungsfunktion (S. 77, 237 f.). (Die Ableitung der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion aus Marshalls mikroökonomischer Analyse des Verhaltens von Unternehmen findet sich im Anhang von Kapitel 6.)

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion Der Großteil der „Allgemeinen Theorie“ ist der Ausarbeitung der einzelnen Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion gewidmet. Diese weisen einige charakteristische Eigenschaften auf, die sich nicht mit denen der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion decken. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, dass das Angebot sich seine Nachfrage selbst schafft. Träfe dagegen das Say’sche Gesetz zu, wonach das gesamtwirtschaftliche Angebot sich stets seine eigene Nachfrage schafft, so entspräche der Wert der gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion unabhängig vom Beschäftigungsniveau immer genau dem Wert der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion  – die gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion und die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion fielen zusammen.18 ­Keynes wies demgegenüber darauf hin, die Annahme, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das gesamtwirtschaftliche Angebot seien unabhängig vom Beschäftigungsniveau stets deckungsgleich, sei eine notwendige Bedingung für traditionelle Behauptungen im Hinblick auf ein wirtschaftliches Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung und „die uneingeschränkten Vorteile des laissez-faire in Bezug auf den Außenhandel und vieles andere, was wir in Frage stellen werden“.19 ­Keynes’ revolutionärer Ansatz beruhte also auf seiner Überzeugung, dass sich in einer Geldwirtschaft die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion und die gesamtwirtschaftliche Angebotsfunktion unterscheiden und nicht für alle denkbaren Beschäftigungsniveaus zusammenfallen. Folglich muss man laut ­Keynes die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion als eine unabhängige Funktion betrachten, die sich in ihren charakteristischen Eigenschaften von der klassischen gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion unterscheidet. Führen wir uns zur Veranschaulichung noch einmal den Vergleich von Wirtschaftstheoretikern und Zauberkünstlern aus dem vierten Kapitel vor Augen. Zu den Kaninchen, die Vertreter der klassischen Theorie hinter den Kulissen in ihren Zylinder stecken, gehört die Annahme, Produktionsgüter seien die einzige Quelle von Nutzen. In den Modellen der klassischen Theorie wird folglich das 16

­Keynes 1936, S. 77. Vgl. ­Keynes 1936, S. 21, 39 f. 18 Vgl. ­Keynes 1936, S. 21 f. 19 ­Keynes 1936, S. 18. 17

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

gesamte Einkommen sofort wieder ausgegeben, und zwar ausschließlich für Produktionsgüter. Geht man davon aus, dass Einkommensempfänger ausschließlich aus Industrieprodukten Nutzen ziehen, und akzeptiert man dieses „Kaninchen“ des nutzenmaximierenden Verhaltens als die mikroökonomische Grundlage der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, so muss die Gesamtheit der mikroökonomischen Nachfrage (nach Produktionsgütern) stets dem gesamten, komplett für Industriegüter ausgegebenen Einkommen entsprechen. Warum sollte eine nach Nutzenmaximierung strebende Person sich der unannehmlichen Aufgabe unterziehen, zu arbeiten und Einkommen zu erzielen, wenn sie nicht ihr gesamtes Einkommen anschließend für jene Dinge ausgibt, die der Theorie zufolge Nutzen bringen: Industriegüter? ­Keynes’ Antwort lautete: Im wirklichen Leben kann man sich auch durch den Kauf bestimmter nicht produzierbarer Dinge Nutzen verschaffen. (Was K ­ eynes unter „nicht produzierbaren“ Dingen verstand, dazu später mehr.) In der klassischen Theorie kann man jedoch ausschließlich aus Produktionsgütern Nutzen ziehen. Daher argumentiert die klassische Theorie, dass jede Erhöhung des Angebots an Industriegütern notwendigerweise zu einer gleichlaufenden Steigerung der Einkommen führen muss. Jede Erhöhung des Angebots muss somit eine ebenso große Steigerung der Gesamtnachfrage nach Industrieprodukten durch auf Nutzenmaximierung bedachte Käufer nach sich ziehen.20 Die klassische Theorie kann gar nicht anders als davon auszugehen, dass das Say’sche Gesetz Gültigkeit besitzt und die gesamtwirtschaftliche Angebots- und Nachfragefunktionen identisch sind. Wenn das Say’sche Gesetz wie von ­Keynes behauptet auf die Realität jedoch nicht anwendbar ist, so ist es in erster Linie „die Rolle der aggregierten Nachfragefunktion, die [von den klassischen Ökonomen] übersehen worden ist“21, als sie das Kaninchen in ihren Zylinder steckten, wonach Einkommensempfänger ausschließlich aus Produktionsgütern Nutzen ziehen. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion (D) von ­Keynes gibt an, wieviel die Käufer von Industrieprodukten bei unterschiedlichen Beschäftigungsniveaus (N) insgesamt auszugeben gedenken. Vor allem jedoch geht ­Keynes’ Sichtweise davon aus, dass die Einkommensempfänger „wissen“, dass sie über die zukünftige Entwicklung nichts wissen.22 Wenn Einkommensbezieher fürchten, die Bedingungen könnten sich in der ungewissen Zukunft zu ihren Ungunsten verändern, so können sie daraus Nutzen ziehen, dass sie einen Teil ihres Einkommens sparen – wobei „sparen“ bei ­Keynes 20

Bei langfristiger Betrachtung unter Voraussetzung des Axioms der Substituierbarkeit planen Menschen, im Laufe ihres Lebens ihr gesamtes Lebenseinkommen für Industriegüter auszugeben. Langfristig gehen klassische Theorien, die den gesamten Lebenszyklus betrachten, in der Regel genau davon aus. Ein rational handelnder Arbeitnehmer würde demnach eine Minute vor seinem Tod den letzten Cent ausgeben, den er im Lauf seines Lebens verdient hat. In der Fachsprache der Ökonomen gilt also für die Welt der klassischen Theorie, dass das gesamte Einkommen (zumindest langfristig betrachtet) für Industrieprodukte ausgegeben wird. 21 ­Keynes 1936, S. 77. 22 Vgl. Hicks 1977, S. vii.

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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heißt, einen Teil seines Einkommens für den Erwerb von Geld und anderen liquiden Mitteln auszugeben. Diese liquiden Mittel sind zwar keine Industrieprodukte, aber sie bieten den Einkommensempfängern Nutzen in Form von Sicherheit, können sie mit Hilfe von ausreichend Liquidität doch zukünftige, nicht vorhersehbare Zahlungsverpflichtungen erfüllen. In den Ausführungen zur gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und ihren Kom­ ponenten unterscheidet sich ­Keynes’ Taxonomie deutlich von der klassischen Sichtweise des Ausgebens und Sparens von Einkommen. Der einzige Grund für einen Einkommensbezieher, einen Teil  seines Einkommens zu sparen, besteht der klassischen Sichtweise zufolge darin, dass er mit Sicherheit weiß, dass er zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ein ganz bestimmtes Gut zu einem ganz bestimmten Preis kaufen will. Darüber hinaus weiß der Sparer von heute, dass er zum fraglichen Zeitpunkt nicht über genügend Einkommen verfügen wird, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Die klassische Theorie behauptete mit anderen Worten, dass auf Nutzenmaximierung bedachte Einkommensbezieher nur sparen würden, um für Zeiten vorzusorgen, in denen ihr bekanntes Einkommen für ihre „bekannten“ zukünftigen Konsumwünsche nicht ausreichen wird. Langfristig gibt ein Haushalt demnach das gesamte Einkommen für Industrieprodukte aus. Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels veranschaulichen, das zwar stark vereinfacht und geradezu lächerlich, der klassischen Sichtweise des Sparens jedoch implizit ist. Nehmen wir an, eine Person mit einem Einkommen von 1000 Euro pro Woche plant in der Zukunft eine einmalige, größere Ausgabe, etwa einen einwöchigen Skiurlaub (in der zweiten Februarwoche des nächsten Jahres). Nehmen wir weiter an, der Einkommensempfänger weiß, dass die Kosten für diesen einwöchigen Urlaub nächsten Februar genau 2000 Euro betragen werden. Ein klassischer Ökonom würde nun argumentieren, dass diese urlaubsreife Person ihren Konsum einschränken und sich jede Woche etwas versagen würde, in Höhe von sagen wir 100 Euro über einen Zeitraum von 20 Wochen vor dem Skiurlaub im Februar hinweg. Im Grunde würde der Sparer durch die zusätzliche Konsumnachfrage in Höhe von 2000 Euro in der zweiten Februarwoche des nächsten Jahres lediglich eine Konsumnachfrage in Höhe von je 100 Euro substituieren, die er sich in den 20 dem Urlaub vorausgehenden Wochen versagt hat. Dem klassischen Modell zufolge würde der Sparer seine wöchentlichen Ersparnisse in den Wochen vor dem Urlaub auf dem Kapitalmarkt verleihen. Der Kreditnehmer könnte zum Beispiel ein Hotelbesitzer sein (vielleicht ein Hotelbesitzer mit Skiverleih im Haus), der durch seine Beschäftigung mit den Marktdaten der Vergangenheit im Voraus „weiß“, dass die Nachfrage nach einem Hotelzimmer, Leihskiern, Mahlzeiten usw. durch den urlaubsreifen Sparer in der zweiten Februarwoche die übliche Nachfrage von Hotelgästen in diesem Zeitraum erhöhen wird. Das geliehene Kapital könnte der Hotelbesitzer nutzen, um in zusätzliche Kapazitäten und Unterbringungsmöglichkeiten zu investieren, damit er für die Nachfrage nach Skiurlauben im nächsten Februar gerüstet ist.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

Die 1000 Euro, die unser Urlaubsplaner in den 20 Wochen vor dem Skiurlaub jede Woche verdient, werden der klassischen Theorie nach also wie folgt ausgegeben: (1) der Lohnempfänger gibt jede Woche 900 Euro für Konsumgüter aus und spart 100 Euro, während (2) der Hotelbesitzer sich die gesparten 100 Euro leiht und sie für Investitionen ausgibt. In diesem arg vereinfachten Beispiel werden also selbst die regelmäßigen Ersparnisse des Urlaubswilligen jede Woche sofort ausgegeben, weil der investierende Unternehmer sie für Produktionsgüter ausgibt, die für den Aufbau zusätzlicher Kapazitäten in seinem Hotel notwendig sind. Das gesamte in einer bestimmten Woche verdiente Einkommen wird noch in derselben Woche für Produktionsgüter ausgegeben, und im gesamten Betrachtungszeitraum von 21 Wochen gibt der Urlaubssuchende sein ganzes Einkommen (einschließlich der Ersparnisse aus den 20 Wochen vor dem Urlaub) aus. In diesem hypothetischen Beispiel aus der Welt der klassischen Theorie legt der Skifahrer zwar jede Woche einen Teil seines Einkommens zurück, doch wird das jede Woche bis zum Skiurlaub in der zweiten Februarwoche durch die Mehrausgaben des Hotelbesitzers ausgeglichen, mit denen dieser dafür sorgt, dass er in der zweiten Februarwoche, wenn der Urlauber ihm mit Hilfe seiner Ersparnisse etwas abkaufen will, genügend freie Kapazitäten hat. ­Keynes dagegen argumentierte: „Ein Akt individueller Ersparnis bedeutet sozusagen einen Entschluss, heute kein Abendessen zu haben. Aber er erfordert keinen Entschluss, nach einer Woche oder einem Jahr ein Abendessen zu haben oder ein Paar Schuhe zu kaufen oder irgendeine bestimmte Sache an irgendeinem bestimmten Zeitpunkt zu verbrauchen. Er verschlechtert somit das Geschäft, heute ein Abendessen zuzubereiten, ohne das Geschäft der Vorsorge für einen zukünftigen Verbrauchsakt anzuregen. Er ist kein Ersatz in der Form einer zukünftigen Verbrauchsnachfrage für die verminderte gegenwärtige Verbrauchsnachfrage, – er stellt eine Nettoverminderung dieser Nachfrage dar.“23 Die klassische Vorstellung vom Sparen, wonach der Sparer ganz genau weiß, zu welchem zukünftigen Zeitpunkt seine Konsumwünsche sein Einkommen übersteigen werden, so dass er zusätzliche Kaufkraft benötigen wird (die er durch Spa­ eynes ab. Der Grund für das Sparen liege vielmehr ren aufbauen muss), lehnte K darin, dass die Zukunft ungewiss sei und der Sparer sich dagegen versichern wolle, dass er zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt für eine unvorhergesehene, notwendige Ausgabe (oder andere vertragliche Verpflichtung) nicht bezahlen könne, weil sein Einkommen gesunken ist und/oder seine Konsumbedürfnisse plötzlich sein regelmäßiges Einkommen übersteigen. Kurz, wie man umgangssprachlich sagt: Sparer legen einen Teil ihres regelmäßigen Einkommens in Form von Ersparnissen „für schlechte Zeiten“ zurück. ­Keynes definierte den Entschluss, einen Teil des eigenen Einkommens zu sparen, lediglich als Entscheidung, das Einkommen von heute nicht für Industrie­ 23

­Keynes 1936, S. 177.

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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produkte auszugeben. In der Taxonomie ­Keynes’ geht der Entschluss zum Sparen nicht mit der gleichzeitigen Entscheidung einher, für ein ganz bestimmtes zukünftiges Datum ein ganz bestimmtes Produktionsgut bzw. eine ganz bestimmte Dienstleistung zu bestellen. Die nächste Frage lautete somit: „Wenn ein Haushalt etwas gespart hat, indem er nicht das gesamte Einkommen umgehend für Industrieprodukte ausgegeben hat, was hat dieser Haushalt dann mit diesen Ersparnissen angestellt?“ ­ eynes einen zweistufigen EntUm diese Frage zu beantworten, entwickelte K scheidungsprozess, den jeder durchlaufen müsse, der einen Teil seines Einkommens sparen wolle (siehe Abb. 5.1.). Im ersten Schritt entscheidet der Lohnempfänger, welchen Teil seines laufenden Einkommens er heute für Produktionsgüter ausgibt und welchen Teil er nicht sofort für Produktionsgüter und Dienstleistungen aufwendet, sprich: spart. Die klassische Ökonomie bezeichnet diesen ersten Schritt des Entscheidungsprozesses als Entscheidung über die Zeitpräferenz, spiegeln die Ersparnisse von heute doch mutmaßlich wider, welchen Teil ihres Einkommens Konsumenten lieber für den Kauf zukünftiger Produkte reservieren, anstatt sie für Industrieprodukte von heute auszugeben. Was den Ansatz ­Keynes’ von der klassischen Theorie unterscheidet, ist die Motivation für das Sparen. Um diesen Unterschied herauszustellen, bezeichnete K ­ eynes den ersten Schritt im Rahmen des Entscheidungsprozesses, welcher Teil des laufenden Einkommens unmittelbar für neue Konsumgüter ausgegeben werden soll, nicht als Entscheidung über die Zeitpräferenz, sondern als Konsumneigung. Diese Konsumneigung lässt keinerlei Rückschlüsse auf die Absicht zu, die Ersparnisse von heute zu einem ganz bestimmten zukünftigen Zeitpunkt für Produktionsgüter oder Dienstleistungen auszugeben. Wer zögert (sein Geld sofort auszugeben), so die K ­ eynes’sche Sichtweise, der spart und kann sich daher dafür entscheiden, zu einem (nicht näher bestimmten) zukünftigen Zeitpunkt Güter oder Dienstleistungen zu erwerben. Die von ­Keynes mit Hilfe des Konzepts der Konsumneigung einführte Unterscheidung zwischen dem Teil des Einkommens, der für den Kauf von Produktionsgütern ausgegeben, und jenem Teil, der in Form liquider Mittel gespart wird, unterscheidet sich also grundlegend von der Sichtweise der klassischen Theorie, derzufolge es bei diesem Entscheidungsprozess nur um die Präferenz bezüglich des genauen Zeitpunkts geht, zu dem Lohnempfänger mit ihren Ersparnissen in der Zukunft ganz bestimmte Konsumgüter erwerben. Sind Sparer sich über ihre Konsumneigung im Klaren und haben sie die Entscheidung getroffen, einen Teil ihres Einkommens zu sparen, so müssen sie dem Modell von ­Keynes zufolge eine weitere Entscheidung treffen: die über ihre Liquiditätspräferenz. Um ihre gesparte (nicht genutzte)  Kaufkraft aus aktuellem Einkommen auf einen nicht näher bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu übertragen, müssen Sparer sich für ein oder mehrere Vehikel (Zeitmaschinen) entscheiden. Wenn die Zukunft ungewiss und nicht verlässlich vorherzusagen ist, können die Sparer nie genau wissen, zu welchen zukünftigen Zeitpunkten sie die Kauf-

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr Einkommen [Zeitpräferenz der klassischen Theorie bzw. Konsumneigung bei Keynes]

Kauf neuer Konsumgüter

Konsumverzicht (Ersparnisse)

[Liquiditätspräferenz]

andere liquide Mittel (Aktien, Anleihen, Investmentfonds, etc.)

Geld

Abb. 5.1. Zweistufiger Entscheidungsprozess beim Sparen eines Teils der eigenen Einkünfte

kraft ihrer Ersparnisse reaktivieren wollen werden (und ob das überhaupt je der Fall sein wird). Die Sparer werden sich also nach „Zeitmaschinen“ umschauen, mit denen sich die Kaufkraft ihrer Ersparnisse in die Zukunft transportieren lässt. Um die tatsächlichen Kosten des Einsatzes dieser Zeitmaschinen zu minimieren, müssen diese Vehikel langlebig und über einen erheblichen Zeitraum hinweg wertstabil sein. In dem Zeitraum, indem die Ersparnisse nicht ausgegeben werden, sollten diese Vehikel keine oder ein Minimum an Nebenkosten (etwa für Unterhalt, Reparaturen, Versicherung und Lagerhaltung) verursachen. In einer Geldwirtschaft, dessen sollten wir uns bewusst sein, kann man „Geld gegen Güter eintauschen und Güter gegen Geld, aber nicht Güter gegen Güter“.24 Beschließt ein Sparer zu einem zukünftigen Zeitpunkt, mit Hilfe seiner Ersparnisse Industrieprodukte zu erwerben, und hat er seine Ersparnisse nicht in Form von Geld zurückgelegt, so wird er seine „Zeitmaschine“ zum fraglichen Zeitpunkt demnach verkaufen müssen, um den Kauf der Produktionsgüter zu finanzieren. Die Sparer werden daher nach „Zeitmaschinen“ suchen, die nicht nur mit einem Minimum an Nebenkosten verbunden sind, sondern auch mit möglichst geringen Transaktionskosten. Letzteres bezieht sich auf die Kosten, die zum einen beim Kauf dieser Vehikel anfallen, und zum anderen beim (eventuellen) Verkauf, also in dem Fall, dass die „Zeitmaschinen“ irgendwann zu Geld gemacht werden, um ein bestimmtes Gut zu erwerben oder einer vertraglichen Zahlungsverpflichtung nachzukommen.

24

Clower 1967, S. 208 f.

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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Kurz: Als liquide Zeitmaschinen (für den Transfer der Kaufkraft ihres aktuellen Einkommens auf einen unbestimmten zukünftigen Zeitpunkt) werden Sparer in einem wettbewerbsorientierten, auf Geldwirtschaft beruhenden Wirtschafts­ system nur Dinge verwenden, die sowohl geringe oder zu vernachlässigende Nebenkosten als auch geringe oder zu vernachlässigende Transaktionskosten beim Kauf und Verkauf aufweisen. „Liquide Mittel“ lassen sich demnach als langlebige Vermögenswerte definieren, die man leicht wieder gegen Geld eintauschen („flüssig machen“) kann und die mit minimalen Nebenkosten und geringen oder zu vernachlässigenden Transaktionskosten beim Kauf und Verkauf verbunden sind. In einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem Einkommensbezieher „wissen“, dass sie die Zukunft nicht verlässlich vorhersagen können, überlegen die Menschen also ­ eynes als Entscheidung über im ersten Schritt des Entscheidungsprozesses, den K die „Konsumneigung“ beschrieben hat, welchen Anteil ihres derzeitigen Einkommens sie für Konsumgüter ausgeben und welchen Anteil sie sparen, sprich nicht sofort gegen Produktionsgüter eintauschen wollen. Im zweiten Schritt des Entscheidungsprozesses – der Entscheidung über die Liquiditätspräferenz – legen die Sparer fest, wie sie ihre Ersparnisse auf die verschiedenen liquiden Mittel verteilen, die ihnen als Vehikel zur Verfügung stehen, um ihre Ersparnisse zu „parken“, so dass sie zu einem späteren Zeitpunkt ausgegeben werden können. Zu diesem Zweck geeignet ist per definitionem alles, was langlebig ist. Langlebige Sachwerte, wie Produktionsmittel, Gebrauchsgüter usw. sind jedoch mit hohen Nebenkosten verbunden. Hinzu kommt, dass unter Umständen bereits die Transaktionskosten bei der Anschaffung von neuen Gebrauchsgütern sehr hoch sind, und dass vor allem die Kosten für den Verkauf dieser Güter zu einem zukünftigen Zeitpunkt sehr hoch sein können (sofern es überhaupt gelingt, sie im gebrauchten Zustand an den Mann zu bringen). Langlebige Güter, die sich nicht gut weiterverkaufen lassen, bezeichnet man als illiquide Mittel. Die meisten langlebigen Industrieprodukte sind illiquide Vermögenswerte und daher keine brauchbaren Zeitmaschinen, um die Kaufkraft der eigenen Ersparnisse auf einen unbestimmten zukünftigen Zeitpunkt zu übertragen. Solche illiquiden Mittel, zu denen auch Gebrauchsgüter gehören, sind ­Keynes’ Definition von Ersparnissen zufolge daher keine Vehikel, die für die Konservierung von Ersparnissen verwendet werden. In einer Volkswirtschaft mit einem ausdifferenzierten Finanzsystem steht Sparern als „Zeitmaschine“ eine große Auswahl an Vehikeln zur Verfügung, bei denen sowohl die Transaktionskosten als auch die Nebenkosten gering oder vernachlässigbar sind. Zu den naheliegendsten „Zeitmaschinen“ zählen liquide Mittel wie Geld, an Wertpapierbörsen gehandelte Aktien, handelbare Anleihen, Anteile an offenen Investmentfonds usw. Die von ­Keynes beschriebene Liquiditätspräferenz bezieht sich auf die Entscheidung des einzelnen Sparers, wie er nicht ausgegebenes Einkommen (Ersparnisse) auf unterschiedliche „Zeitmaschinen“ (liquide Wert­anlagen) aufteilen will, mit denen sich die Kaufkraft heute konservieren und in die unbestimmte Zukunft übertragen lässt.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

Das Konzept der Liquiditätspräferenz hat ­Keynes im Rahmen der Ausarbeitung der „Allgemeinen Theorie“ erst spät entwickelt, als er erkannte, dass es zur Erklärung von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nötig ist, die zwei „wesentlichen Eigenschaften von Zins und Geld“ zu spezifizieren.25 Mit diesen „wesentlichen Eigen­ eynes sich deutlich von der klassischen Lehre ab. Er beschrieb schaften“ setzt K diese wesentlichen Eigenschaften wie folgt26: 1. die mit allen liquiden Vermögenswerten einschließlich Geld assoziierte Produktionselastizität ist gleich Null oder vernachlässigbar27, und 2. die Substitutionselastizität zwischen liquiden Mitteln (einschließlich Geld) und reproduzierbaren Gütern ist gleich Null oder vernachlässigbar28. Aus einer Produktionselastizität von Null folgt: Wird ein Teil des Einkommens „gespart“, so wird mit diesen Ersparnissen nichts erworben, was durch den Einsatz von Arbeitskräften im privaten Sektor produziert werden könnte. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass langlebige Gebrauchsgüter in aller Regel mit hohen Neben- und Transaktionskosten assoziiert werden. Welche Folgen hat die Verfügbarkeit von liquiden Mitteln mit dieser „wesentlichen Eigenschaft“ der Elastizität? Um deren Bedeutung zu verstehen, hilft vielleicht das folgende, hypothetische Beispiel. Nehmen wir an, eine signifikante Anzahl von Menschen beschlösse, weniger „Raumvehikel“ (Automobile) zu kaufen und mit Hilfe des nicht ausgegebenen Einkommens (der Ersparnis) mehr „Zeitvehikel“ (liquide Mittel) zu erwerben. In der Konsequenz würde der Absatz (und damit die Zahl der Beschäftigten) in der Automobilindustrie zurückgehen, ohne dass es unter ansonsten gleichen Bedingungen an anderer Stelle im privaten Sektor zu einem Anstieg der Beschäftigten käme, um die Produktion von „Zeitvehikeln“ (liquiden Mitteln) zu erhöhen. Eine Produktionselastizität von Null bedeutet, dass Geld (ebensowenig wie andere liquide Mittel) nicht auf der Straße liegt. Steigt aufgrund einer Erhöhung der Sparquote die Nachfrage nach Geld (Liquidität), so können Privatunterneh 25

­Keynes 1936, 17. Kapitel. ­Keynes 1936, S. 193 ff. 27 Eine vernachlässigbare Produktionselastizität trifft auf Wirtschaftssysteme zu, in denen Geld eine Warenform hat. Die Ware wird dabei so gewählt, dass es selbst bei steigender Nachfrage schwierig bis unmöglich ist, mehr von dieser Ware herzustellen. Die Ware Gold zum Beispiel, so K ­ eynes, sei eine außerordentlich knappe Ware, und das sei schon immer so gewesen: „Ein moderner Dampfer könnte auf einer einzigen Reise alles Gold, das im Laufe von siebentausend Jahren gewonnen wurde, über den Ozean befördern“ (­Keynes 1932, S. 532). 28 Eine Substitutionselastizität von Null impliziert, dass sich das Axiom der Substituierbarkeit nicht universell auf alle Nachfragefunktionen (insbesondere auf die Nachfragefunktion nach Liquidität) anwenden lässt und dass daher, wie Arrow und Hahn (1971, S. 361) gezeigt haben, jeder Beweis für ein allgemeines Gleichgewicht hinfällig ist, wenn man nicht das Axiom der Substituierbarkeit voraussetzt. 26

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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men deshalb nicht Arbeiter einstellen, um mehr Geld von der Straße aufzusammeln. Oder, wie ­Keynes es ausdrückte: „Geld kann nicht ohne weiteres produziert werden; – Arbeit kann bei steigenden Preisen (in Lohneinheiten gemessen) nicht nach dem Belieben der Unternehmer umgelenkt werden, um Geld in zunehmenden Mengen zu produzieren.“29 Mit anderen Worten: Die Nachfrage der Sparer nach Liquidität, die auf Kosten ihrer Nachfrage nach Produktionsgütern geht, wird niemals dadurch gedeckt, dass aktuelle Ressourcen genutzt (angestellt, konsumiert) werden. In der Sprache­ Keynes’ ist die Entscheidung, einen Teil des aktuellen Einkommens zu sparen, in einer konkurrenzorientierten Geldwirtschaft gleichbedeutend mit der Entscheidung, die Ersparnisse nicht in Industrieprodukte, sondern in Geld und andere liquide Mittel zu investieren. Da die Produktionselastizität von Geld und liquiden Mitteln bei Null liegt, geht die Entscheidung, einen Teil seines Einkommens zu sparen, mit einer sinkenden Nachfrage nach Industrieprodukten einher. Durch das Sparen entsteht daher kein zusätzlicher Bedarf an Arbeitskräften für die Produktion von zusätzlichem Geld oder anderen liquiden Mitteln. Unter ansonsten gleichen Bedingungen erhöht eine zunehmende Sparneigung auf Kosten des Erwerbs von Industrieprodukten zwar die Nachfrage nach liquiden Mitteln – doch können auf dem privaten Sektor keine Arbeitskräfte angestellt werden, um als Reaktion auf diesen hypothetischen Nachfragezuwachs mehr liquide Mittel zu produzieren. In einer Geldwirtschaft löst die Entscheidung, einen Teil des eigenen Einkommens in Form von nicht produzierbaren, liquiden „Zeitmaschinen“ (Vermögenswerten) zu sparen, laut Frank Hahn eine Nachfrage aus, die keinerlei beschäftigungsfördernde Wirkung entfaltet30 – und damit eine Form der Nachfrage, die mit dem Say’schen Theorem nicht vereinbar ist. Aber warum hat ­Keynes es als nötig erachtet, eine zweite charakteristische Eigenschaft von Geld und allen anderen liquiden Mitteln herauszuarbeiten, derzufolge die Substitutionselastizität zwischen liquiden Mitteln und Produktionsgütern gleich Null oder vernachlässigbar sei? Wird ein Teil des aktuellen Einkommens gespart, so steigt die Nachfrage nach liquiden Vermögenswerten. Wenn liquide Mittel aber nicht produzierbare Güter sind, so lässt sich das Angebot liquider Mittel nicht steigern. Eine erhöhte Nachfrage nach liquiden Vermögenswerten muss sich daher in höheren Preisen niederschlagen. Wären von der Industrie produzierte Gebrauchsgüter als Wertspeicher ein guter Ersatz für liquide Mittel (verfügten sie über eine hohe Substitutionselastizität), so würde der steigende Preis liquider Mittel eine Umlenkung der Nachfrage nach Liquidität hin zu Produktionsgütern bewirken, und in den Industriezweigen, die Ersatzprodukte für liquide Mittel produzieren, würde die Zahl der Beschäftigten steigen. Wie wir jedoch bereits gesehen haben, können von der Industrie produzierte Gebrauchsgüter auf 29

­Keynes 1936, S. 193 f. Vgl. Hahn 1977, S. 39.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

grund ihrer hohen Neben- und Transaktionskosten als „Zeitmaschinen“ für Liquidität niemals ein guter Ersatz für liquide Mittel sein – die Substitutionselastizität ist daher gleich Null. Da die Substitutionselastizität zwischen den von den Sparern als „Zeitmaschinen“ verwendeten liquiden Mitteln und reproduzierbaren Gebrauchsgütern Null beträgt, ist gewährleistet, dass jener Teil des Einkommens, der nicht für Industrieprodukte ausgegeben wird, also die Ersparnisse, in der Nachfrage nach nicht produzierbaren Gütern einen „Ruheort“ findet, wie Frank Hahn es nennt.31 Gut vierzig Jahre nach ­Keynes hat Hahn ­Keynes’ Argument neu entdeckt, wonach es selbst innerhalb eines klassischen (Walras’schen) Gleichgewichtsystems mit frei beweglichen Löhnen und Preisen zu einem Gleichgewicht mit dauerhafter, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen kann, und zwar dann, wenn es „Ruheorte für Ersparnisse in nicht reproduzierbaren Vermögenswerten gibt“.32 Was für ­Keynes intuitiv einleuchtend war, hat Hahn hieb- und stichfest nachgewiesen. Hahn zeigte, dass es für die Sichtweise, wonach es „bei flexiblen Nominallöhnen keine Arbeitslosigkeit geben könne, kein überzeugendes Argument gibt“.33 Wenn Ersparnisse in nicht produzierbare Güter investiert würden, könne selbst die von traditionellen [klassischen] Modellen postulierte Annäherung an ein [allgemeines] Gleichgewicht nicht grundsätzlich bewiesen werden. Jeder nicht reproduzierbare Vermögenswert, so Hahn, eröffne die Wahl zwischen beschäftigungsfördernder und nicht beschäftigungsfördernder Nachfrage.34 Da es eine Nachfrage nach Geld und anderen liquiden, nicht reproduzierbaren Vermögenswerten als Aufbewahrungsort für Ersparnisse gibt (und da diese Vermögenswerte nicht durch die Produkte der Investitionsgüter produzierenden Industrie substituierbar sind), wird das Einkommen aller an der Produktion von Gütern beteiligten Haushalte weder kurz- noch langfristig betrachtet ausschließlich für Industrie­ produkte ausgegeben. Haushalte, die jenen Anteil ihres Einkommens, den sie nicht konsumieren (das heißt den sie nicht für Industriegüter ausgeben), in liquide Vermögenswerte investieren wollen, entscheiden sich, um es mit Hahn zu sagen, für eine Nachfrage, die nicht beschäftigungsfördernd wirkt. Genau wie sich in der nichteuklidischen Geometrie scheinbare Parallelen nicht selten schneiden, so führt eine steigende Nachfrage nach „Ersparnissen“ in einem (post)keynesianischen, „nichteuklidischen“ Wirtschaftssystem zwar zu einer Erhöhung des relativen Preises von nicht produzierbaren Gütern, hat aber nicht automatisch eine steigende Nachfrage nach Produktionsgütern zur Folge. Wenn Haushalte einen Teil ihres Einkommens sparen, so haben sie sich also für eine nicht beschäftigungsfördernde Nachfrage entschieden, die mit dem Say’schen Theorem unvereinbar ist. 31

Vgl. Hahn 1977, S. 31. Hahn 1977, S. 31. 33 Hahn 1977, S. 37. 34 Vgl. Hahn 1977, S. 39. 32

IV. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion

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­Keynes argumentierte, die Eigenschaft der „Liquidität“ sei von diesen beiden charakteristischen Merkmalen [der Elastizität] keineswegs unabhängig.35 Solange Besitzende als Ruheort (Wertspeicher) für ihre Ersparnisse aus laufendem Einkommen ein liquides Mittel nachfragen, bei dem „die Elastizitäten des Angebots und der Substitution und die Lagerhaltungskosten […] niedrig sind“36, könne es daher sogar langfristig (unerwünschterweise) zu einem Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung kommen. In einer wettbewerbsorientierten Geldwirtschaft wird Einkommen, das nicht für Industriegüter ausgegeben wird, in Form nicht produzierbarer Vermögenswerte gespart. Die klassische Theorie geht demgegenüber davon aus, dass man ausschließlich aus Produktionsgütern und Dienstleistungen Nutzen ziehen könne. Warum sollte sich also ein rationaler Mensch mühsamer Erwerbsarbeit unterziehen und den gesparten Teil seines Einkommens in nicht produzierbare liquide Vermögenswerte investieren, die dem Sparer der klassischen Theorie zufolge keinerlei Nutzen bringen? Langfristig würde aus der Sicht klassischer Theoretiker wie Professor Mankiw nur ein irrationaler Wahnsinniger ein solches Verhalten an den Tag legen und die Liquidität seines Portfolios zum Fetisch erheben. Und doch lehrt uns die Erfahrung, dass es überaus vernünftige Menschen sind, die ihre Ersparnisse in nicht produzierbare Güter wie Devisen, Bankkonten und unzählige andere liquide Vermögenswerte investieren, und dass all diese Dinge an gut organisierten, wohlgeordneten Finanzmärkten gehandelt werden. In einer Welt, auf die das Axiom der Ergodizität nicht anwendbar ist, ist den Menschen bewusst, dass die Zukunft ungewiss ist und nicht statistisch belastbar vorhergesagt werden kann. Vielen, die Entscheidungen treffen müssen, macht diese Ungewissheit Angst. Solange man davon ausgehen kann, dass man zukünftigen Zahlungsverpflichtungen mit Geld nachkommen kann, ist es aus Sicht dieser Menschen vernünftig, einen Teil ihres Einkommens in Geld und andere, nicht produzierbare liquide Vermögenswerte anzulegen, die leicht in Geld eingetauscht werden können. Ein vernünftiger Sparer wird sein gesamtes Einkommen eben nicht sofort für Industrieprodukte ausgeben. Je liquider der Vermögenswert, in den die Ersparnisse von heute angelegt werden, desto leichter kann man in der Zukunft darauf zurückgreifen, um Anderes zu erwerben. „Ein Werk der Schönheit ist ein Glück für immer“, schrieb John Keats, deshalb kann man nie genug schöne Dinge haben. Und wenn Liquidität ein Puffer für eine ungewisse wirtschaftliche Zukunft ist, dann kann man in einer Welt voller Ungewissheiten nie über zu viel Liquidität verfügen. Der Besitz nicht produzierbarer liquider Mittel stellt ein Sicherheitspolster dar, mit dessen Hilfe man zukünftige, nicht vorhersehbare Zahlungsverpflichtungen erfüllen kann. Kauft man dagegen

35

Vgl. ­Keynes 1936, S. 203. ­Keynes 1936, S. 200.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

illiquide Produktionsgüter, so gibt man das Einkommen von heute für etwas aus, was keine Möglichkeit eröffnet, den Unwägbarkeiten der Zukunft zu begegnen. Die Existenz von Ersparnissen in Form von Geld und anderen liquiden Mitteln widerspricht dem Say’schen Theorem, wonach das Angebot sich seine Nachfrage selbst schafft. Der Grund, weshalb Ersparnisse in liquide Vermögenswerte investiert werden, die nicht beschäftigungsfördernd wirken, ist ­Keynes zufolge die Erkenntnis auf Seiten der Einkommensempfänger, dass die Zukunft ungewiss ist und man sich gegen unerwartete, unvorhersehbare Zahlungsverpflichtungen und Unwägbarkeiten versichern muss, indem man seine Ersparnisse so anlegt, dass keine oder vergleichsweise geringe Neben- und Transaktionskosten anfallen. Dass es Geld und andere liquide Vermögenswerte mit den von K ­ eynes definier­ ten wesentlichen Elastizitätsmerkmalen gibt, verschafft Sparern das Privileg, nicht ihr gesamtes Einkommen sofort für Güter und Dienstleistungen ausgeben zu müs­ eynes’ Anasen, wenn sie das nicht wollen. Noch besser nachvollziehbar wird K lyse, wenn ich im siebten Kapitel die Rolle des Geldes und von Geldgeschäften in unserer Wirtschaft etwas genauer beleuchte. Vorher jedoch werde ich im folgenden Kapitel den Unterschied zwischen der Nachfragefunktion der klassischen ­ eynes’ aggregierter Nachfragefunktion genauer herausarbeiten, Theorie und K indem ich auf jene Komponenten der aggregierten Nachfrage eingehe, die vom aggregierten Angebot völlig unabhängig sind.

V. Ein Wort zur Alternativdefinition des Sparens von Milton Friedman Auf der Grundlage der Annahme der klassischen Theorie, dass man lediglich aus dem Konsum (Verbrauch) von Industrieprodukten Nutzen ziehen könne, hat der Nobelpreisträger Milton Friedman seine „permanente Einkommenshypothese“ entwickelt, die zu Schlussfolgerungen kommt, die ­Keynes’ Allgemeiner Theorie diametral zu widersprechen scheinen. Dieser Widerspruch ergibt sich jedoch hauptsächlich daraus, dass Friedman mit Definitionen von Konsum und Ersparnissen arbeitet, die zwar mit jenen der klassischen Theorie kompatibel sind, den Definitionen von ­Keynes jedoch zuwiderlaufen – und, wie wir sehen werden, für Laien schwer nachvollziehbar sind, unterscheiden sie sich doch erheblich von der allgemeinsprachlichen Bedeutung dieser Begriffe. Friedman unterscheidet zwei verschiedene Bestandteile des Einkommens: vorübergehendes (oder unerwartetes) und permanentes Einkommen. Unter vorübergehendem Einkommen versteht er einmalige, nicht wiederkehrende Veränderungen des laufenden Einkommens, wie etwa ein Lottogewinn oder eine einmalige Bonuszahlung des Arbeitgebers. Das permanente Einkommen ist bei Friedman das langfristige, regelmäßige Einkommen (bzw. der langfristige Nutzen), mit dem ein vorausschauender Konsument für den Rest seines Lebens rechnen kann. Eine

V. Alternativdefinition des Sparens von Milton Friedman

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Veränderung des permanenten Einkommens, so Friedman, wirke sich für den Rest des Lebens in jedem Zeitabschnitt in erster Linie auf die Konsumausgaben aus. Veränderungen des vorübergehenden Einkommens dagegen hätten keine oder geringe Auswirkungen auf den Konsum, sondern würden fast vollständig gespart. Im Fachjargon heißt das, dass die marginale Konsumneigung in Bezug auf das permanente Einkommen nicht ganz, aber nahezu bei 100 Prozent liegt. In Bezug auf das temporäre Einkommen liegt die marginale Konsumneigung dagegen mehr oder weniger bei Null, da das gesamte vorübergehende Einkommen gespart wird. Auf der Grundlage dieser Definitionen von Einkommen, Konsum und Ersparnissen hat Friedman empirische Nachweise gesammelt, die seiner Meinung nach ­ eynes’ Theoseine Hypothese vom permanenten Einkommen untermauern. Mit K rie des vom aktuellen Einkommen abhängigen, wohlüberlegten Konsums sind­ Friedman’s „Fakten“ jedoch völlig unvereinbar.37 Die Art und Weise, wie Friedman die Begriffe „Konsum“ und „Ersparnisse“ in seiner Theorie verwendet, widerspricht nicht nur der Definition von K ­ eynes; auch für Laien, die mit der Begriffswelt der klassischen Ökonomie nicht vertraut sind, muss sie seltsam anmuten. Konsum definiert Friedman als den Wert (Nutzen) der innerhalb eines festgelegten Zeitabschnitts konsumierten Dienstleistungen, also beispielsweise als den Gesamtnutzen, den ein Konsument in einem bestimmten Zeitraum, etwa einem Kalenderjahr, aus dem Konsum von Industrieprodukten gezogen hat. Langlebige Gebrauchsgüter halten jedoch per definitionem länger als ein Jahr, so dass der Besitzer im Lauf ihrer gesamten, mehrjährigen Nutzungsdauer Nutzen aus ihnen ziehen kann. Der Konsum von Gebrauchsgütern ist daher laut Friedman gleich dem Betrag der Wertminderung dieser Gebrauchsgüter inner­halb eines bestimmten Jahres. Friedmans Definition von Ersparnissen umfasst jenen Teil  der Gebrauchs­ güter  – bereits vorhandener wie im laufenden Jahr produzierter  –, die im fraglichen Jahr nicht konsumiert werden (sprich ihren Wert verlieren oder aufgebraucht werden). Der Gesamtkonsum innerhalb eines bestimmten Jahres setzt sich laut Friedman demnach aus der Wertminderung (oder Abnutzung) sämtlicher im Besitz der Konsumenten befindlicher Gebrauchsgüter innerhalb des fraglichen Jahres zusammen, zuzüglich aller von den Konsumenten erworbener Verbrauchsgüter und Dienstleistungen, die ihren Nutzen per definitionem innerhalb dieses Jahres verlieren.38 Auch wenn das für Laien ziemlich überraschend sein dürfte: Friedmans Definition von Ersparnissen zufolge ist der Kauf eine neuen Benzinfressers, etwa eines 45000 Dollar teuren Hummer-Geländewagens, den der Besitzer viele Jahre zu fahren gedenkt, eine Form des Sparens. Als Konsum gilt nur jener Teil  des Nutzwertes des Hummer, der im Lauf des Betrachtungszeitraums durch Wert 37 38

Vgl. Friedman 1957. Vgl. Friedman 1957, S. 11.

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5. Kap.: ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ und die Klassische Lehr

minderung verloren geht. Wenn der Konsument seinen neuen Hummer nicht gerade gleich auf der ersten Fahrt zu Schrott fährt, wird Friedmans Berechnungsmethode nach der Großteil des Kaufpreises als Ersparnis verbucht. Wird das Auto am 31. Dezember kurz vor Mitternacht gekauft, so verbucht Friedman den gesamten Kaufpreis von 45000 Dollar unter „Ersparnisse“. Friedman ist stolz darauf, Konsum nicht als Kauf aktuell produzierter Gebrauchsgüter wie Sportwägen, Nerzmäntel, Jachten, Schmuck usw. zu definieren. ­ eynes, überlegen, Seiner Ansicht nach ist seine Taxonomie anderen, wie der von K weil sie „vieles, was oftmals leichthin als Konsum klassifiziert wird, als Ersparnis definiert“.39 In Bezug auf vorübergehendes (unerwartetes) Einkommen wie zum Beispiel einen Lottogewinn stellt Friedman fest: „Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass das unerwartete Einkommen für den Kauf von Gebrauchsgütern verwendet wird?“40 Wird unerwartetes Einkommen hauptsächlich für langlebige Produktionsgüter ausgegeben, so ist das per definitionem der Beweis für Friedmans These, vorübergehendes Einkommen werde (fast) immer „gespart“ und im Laufe des Jahres, in dem es anfällt, nicht für Konsumausgaben verwendet. Hat ein Haushalt plötzlich ein einmaliges, unerwartetes Einkommen von sagen wir 10 Millionen Dollar – wieviel kann er dann im laufenden Jahr schon für zusätzliche Gebrauchsgüter ausgeben? Für den durchschnittlichen Laien dürfte es eine ziemliche Überraschung sein, dass es einen Wirtschaftsnobelpreisträger gibt, der die von einem Lottogewinner für neue Jachten, Schmuck, einen Privatjet usw. aufgewendeten Ausgaben nicht als Geltungskonsum wertet, sondern als Ersparnisse. Eine derart ungewöhnliche Verwendung alltagssprachlicher Begriffe kann höchst irreführend sein. Wenn Laien von Ersparnissen aus laufendem Einkommen sprechen, so meinen sie damit in der Regel, dass sie einen Teil ihres Einkommens nicht für Industrieprodukte ausgeben. Friedmans Sprachgebrauch dagegen macht Politiker glauben, dass Sparen ebenso viele Arbeitsplätze schafft wie Konsumausgaben für Gebrauchsgüter. Ja, Friedmans Definition zufolge ist Sparen für die Gesellschaft sogar besser als Konsum, weil man aus Ersparnissen noch viele weitere Abrechnungszeiträume lang Nutzen ziehen kann, während der mit Friedmans Definition von Konsum verbundene Nutzen sofort verpufft.41 Der Kauf von Jachten und Schmuck schafft im produzie­ eynes’ handelt es sich renden Gewerbe natürlich Arbeitsplätze. In der Sprache K bei diesen Anschaffungen um Konsum. In der Sprache Friedmans handelt es sich in erster Linie um Ersparnisse. Doch in Abwandlung des berühmten Ausspruchs von Shakespeare’s Julia – „Was ist ein Name; Das Ding das wir eine Rose nennen, würde unter jedem andern Namen eben so lieblich riechen“ – behalten Ausgaben 39

Friedman 1957, S. 28. Friedman 1957, S. 28. 41 Das erklärt vermutlich die Vorliebe vieler Ökonomen des Mainstreams (und der Politiker, die auf sie hören) für politische Maßnahmen, die eher Sparen (im ­Keynes’schen Sinne) fördern als Konsum. 40

V. Alternativdefinition des Sparens von Milton Friedman

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für industriell gefertigte Gebrauchsgüter auch dann ihre geschätzte Eigenschaft, Arbeitsplätze zu schaffen, wenn man sie als Ersparnisse bezeichnet. Der Vorteil von ­Keynes’ Taxonomie liegt darin, dass sie ohne semantische Vernebelung auskommt und Sparen als Erwerb eines liquiden Vermögenswertes definiert, der kein Produkt aus der laufenden Produktion darstellt. Kann man von der Sprache Friedmans oder irgendeines anderen klassischen Ökonomen Ähnliches behaupten?

6. Kapitel

Die nähere Bestimmung von ­Keynes’ aggregierter Nachfragefunktion I. Die zwei Komponenten der aggregierten Nachfrage Um seine Allgemeine Theorie vom „Sonderfall“ der klassischen Theorie abzugrenzen und zu erklären, weshalb die aggregierte Nachfragefunktion mit der aggregierten Angebotsfunktion nicht deckungsgleich ist, entwickelte ­Keynes eine neue, erweiterte Taxonomie der Bestandteile der aggregierten Nachfragefunktion. Nach dem Say’schen Gesetz wird die aggregierte Nachfrage nach allen Indus­ trieprodukten in eine einzige Kategorie eingeordnet, die man als D1 bezeichnen könnte. D1 steht also für sämtliche Ausgaben für Produktionsgüter, wobei die Höhe der Ausgaben vom Erwerbseinkommen (bzw. dem aggregierten Angebot) abhängt. Aufgrund der vielen einschränkenden Axiome, die der klassische Sonderfall des Say’schen Gesetzes voraussetzt, ist D1 nicht nur eine Funktion des Erwerbseinkommens, sondern, unabhängig vom Beschäftigungsniveau, mit dem Erwerbseinkommen (bzw. dem aggregierten Angebot) identisch. Die neue Taxonomie von K ­ eynes1 unterscheidet sich von der klassischen Ka­ eynes die Gesamtausgaben in zwei Nachfragekatetegorisierung insofern, als K gorien einteilte: D1 und D2. Die Kategorie D1 beinhaltet sämtliche Ausgaben für Industrieprodukte, die „vom Niveau des gesamten Einkommens und daher vom Niveau der Menge der Beschäftigung N" abhängen.2 ­Keynes’ Kategorie D1 ähnelt somit der (einzigen) Kategorie D1 der klassischen Theorie (ist jedoch nicht deckungsgleich mit ihr). Im Gegensatz zur D1-Kategorie nach dem Say’schen Ge­ eynes, völlig unabhängig vom Einkommens- und setz sind die Ausgaben D1 bei K Beschäftigungsniveau, lediglich eine Funktion des Gesamteinkommens (bzw. der Nachfrage), und nicht unbedingt deckungsgleich damit. Das Verhältnis zwischen den Ausgaben D1 und dem aggregierten Einkommen bezeichnete K ­ eynes als Konsumfunktion. K ­ eynes argumentierte, dass nicht das gesamte laufende Einkommen für Industrieprodukte ausgegeben werde. Der nicht für Industrieprodukte ausgegebene Anteil des Einkommens werde in Form des Kaufs von nicht produzierbaren liquiden Vermögenswerten, einschließlich von Geld, „gespart“. Solange die Neigung bestehe, einen Teil des laufenden Einkom 1

Vgl. ­Keynes 1936, S. 24–27. ­Keynes 1936, S. 25.

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I. Die zwei Komponenten der aggregierten Nachfrage

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mens zu sparen, gelte daher nicht, dass die Ausgaben D1 unabhängig vom Einkommensniveau gleich dem Erwerbseinkommen seien. Zur Kategorie D2 zählte ­Keynes sämtliche Ausgaben, die vom aktuellen aggregierten Einkommen und vom Beschäftigungsniveau unabhängig sind. Beide Kategorien zusammen, D1 plus D2 , beinhalten also die gesamte potenzielle Nachfrage nach Produkten der Industrie. Welche Arten von Ausgaben gibt es, die nicht unbedingt vom aktuellen Einkommen abhängen? Beispiele für Ausgaben der Kategorie D 2 , die nicht unbedingt vom aggregierten Einkommen abhängig sind: 1. Investitionsausgaben von Unternehmern (I), 2. staatliche Ausgaben für Güter und Dienstleistungen (G), die nicht explizit an vom aggregierten Einkommen abhängige Steuereinnahmen geknüpft sind, sowie 3. in einer offenen Volkswirtschaft, d. h. einer Volkswirtschaft, die Handel mit anderen Nationen treibt, die Einnahmen aus dem Export im Inland hergestellter Industrieprodukte (X). ­Keynes wandte sich zunächst dem denkbar einfachsten Modell der Wirtschaft zu, in dem es weder Steuern noch Staatsausgaben und keinen Außenhandel gibt, so dass G und X gleich Null sind. Wenn ihm der Nachweis gelänge, dass das Say’sche Gesetz selbst in einem stark vereinfachten Wirtschaftssystem keine Gültigkeit besitzt, so läge auf der Hand, dass die klassische Theorie auf die komplexeren Volkswirtschaften der realen Welt, in denen das Beschäftigungsniveau auch von den Staatsausgaben und dem Außenhandel abhängt, nicht anwendbar ist. Im vereinfachten Modell, in dem es weder Staatsausgaben noch Außenhandel gibt, steht D2 für die Investitionsausgaben des privaten Sektors. Wenn, wie die klassische Theorie annimmt, die Investitionsausgaben unabhängig vom Einkommens- und Beschäftigungsniveau gleich den geplanten Ersparnissen sind, das gesamte Erwerbseinkommen also für geplanten Konsum oder geplante Ersparnisse aufgewendet wird3, so bedeutete das, dass sich die Investitionsausgaben unter der Kategorie D1 subsumieren ließen, und das Say’sche Gesetz wäre rehabilitiert. Die klassische Theorie geht wie erwähnt davon aus, dass Unternehmer im Voraus wissen, wie stark die Nachfrage zu bestimmten Zeitpunkten in der Zukunft ansteigen wird (weil sie annimmt, dass der Zuwachs gleich den Ersparnissen in der Gegenwart ist). Folglich geht sie weiter davon aus, dass die Investitionsausgaben in der Gegenwart gerade ausreichen, um die Sparneigung der Haushalte auszugleichen, da Sparen lediglich Ausdruck einer Zeitpräferenz für den Kauf von Produkten zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft darstellt. Der klassischen Theorie und dem Say’schen Gesetz zufolge sind Investitionsausgaben daher lediglich eine andere Form von D1. 3

Wie wir in Kapitel 5 am Beispiel des Skiurlaubers und des Hotelbesitzers gesehen haben.

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6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

II. Investitionsausgaben Um zu zeigen, weshalb Investitionsausgaben nicht unabhängig vom Einkommensniveau gleich den geplanten Ersparnissen, und daher nicht in D1 enthalten sind, verwies ­Keynes darauf, dass die Zukunft völlig ungewiss sei. Wenn die Zukunft ungewiss ist, so ­Keynes, dann sind potenzielle zukünftige Erträge aus in der Gegenwart getätigten Investitionen nicht vorhersehbar und können auf Grundlage von Marktdaten aus Vergangenheit und Gegenwart nicht zuverlässig vorhergesagt werden: Die hervorstechende Tatsache ist die äußerste Unsicherheit der Wissensgrundlage, auf der unsere Schätzungen der voraussichtlichen Erträge gemacht werden müssen. Unsere Kenntnis der Faktoren, die den Ertrag einer Investition nach einigen Jahren bestimmen werden, ist gewöhnlich sehr gering und oft vernachlässigbar. Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass unsere Wissensgrundlage für die Schätzung der Erträge einer Eisenbahn, eines Kupferbergwerks, einer Weberei, des Markenwertes einer Patentmedizin, eines atlantischen Dampfers, oder eines Gebäudes in der City von London nach zehn oder auch nur fünf Jahren sehr gering und manchmal null ist.4

Das unsichere Umfeld, das K ­ eynes’ Erklärung zufolge der Schätzung des zukünftigen Ertrags jeglicher Investition zugrunde liegt, ist in die Fachsprache übersetzt ein Umfeld, auf das das klassische Axiom der Ergodizität nicht anwendbar ist – ebenso wenig wie die Annahme, dass zwei Parallelen keinen Schnittpunkt haben, auf eine nichteuklidische Welt anwendbar ist. Nach ­Keynes’ Auffassung hängen Investitionsentscheidungen zwar von den Erwartungen bezüglich der zukünftigen Gesamtnachfrage des Marktes und der daraus resultierenden Profitabilität des zukünftigen Outputs ab; Unternehmer sind sich jedoch der Tatsache bewusst, dass die zukünftige Nachfrage nicht vorhersagbar ist. Investitionsausgaben von Unternehmern sind daher weniger Ausdruck einer aktuarischen Abschätzung zukünftiger Gewinne, als das Ergebnis dessen, was ­Keynes als „animal spirits“, als „spontane Regungen“5 bezeichnete, sowie anderer, individueller Beweggründe der Unternehmer. Da die spontanen Regungen der Unternehmer von der Sparneigung abweichen können, gibt es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den aktuellen Investitionsausgaben und der Summe der aktuellen aggregierten Sparneigung in der ganzen Volkswirtschaft. Was Unternehmer zu investieren bereit sind, kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt mehr als, weniger als oder genau gleich viel wie das sein, was die Sparer bei einem bestimmten Einkommens- und Beschäftigungsniveau zurückzulegen planen. Anders ausgedrückt: Wirft man erst einmal das klassische Axiom der Ergodizität über Bord und erkennt die völlige Ungewissheit als wichtigen Faktor für unternehmerische Investitionsentscheidungen, so kann man unabhängig vom Einkom 4

­Keynes 1936, S. 127. ­Keynes’ animal spirits werden gelegentlich (m. E. irreführend) auch mit „animalische Instinkte“ oder „Lebensgeister“ übersetzt (Anm. d. Ü.). 5

II. Investitionsausgaben

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mens- und Beschäftigungsniveau davon ausgehen, dass der D2-Anteil der aggregierten Nachfragefunktion unabhängig vom Wert des aggregierten Angebots ist. Für den Nobelpreisträger und selbsternannten ­Keynesianer Paul A. Samuelson stand ungeachtet dessen fest, dass das Axiom der Ergodizität unverzichtbar sei, wenn „wir Theoretiker“ eine Chance haben wollen, die Wirtschaftswissenschaft aus dem „Reich der Geschichte“ zu befreien und in das „Reich der Wissenschaft“ herüberzuholen.6 Für Samuelson war das Axiom der Ergodizität für wissenschaftliches Arbeiten in der Ökonomie eine conditio sine qua non. Wenn Sie eine solche Aussage aus der Feder eines Nobelpreisträgers lesen, so wird es Sie nicht überraschen, dass ­Keynes’ revolutionäre Argumentation, das Say’sche Gesetz sei auf unser Wirtschaftssystem nicht anwendbar, weil aggregierte Angebotsfunktion und aggregierte Nachfragefunktion nicht identisch seien, von den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Theoretikern seit dem Zweiten Weltkrieg ignoriert wird. Der Rückgriff auf das Axiom der Ergodizität ermöglicht es Samuelson, im Rahmen seines methodischen Ansatzes anzunehmen, man könne alle zukünftigen Ereignisse statistisch vorausberechnen, indem man verfügbare Markt- (bzw. Preis-) daten analysiere. Wenn die Menschen in einem auf dem Axiom der Ergodizität beruhenden Wirtschaftssystem heute etwas verdienen, so können sie genau vorhersagen, wann und wofür sie jeden einzelnen gesparten Dollar ausgeben werden. Und auch Unternehmer können zuverlässig abschätzen, zu welchem zukünftigen Zeitpunkt die Ersparnisse für Industrieprodukte ausgegeben werden, und daher schon heute die notwendigen Produktionskapazitäten aufbauen, um diese Nachfrage effektiv befriedigen zu können. Damit Samuelsons Analyse auf Grundlage des Axioms der Ergodizität logisch konsistent ist, muss man davon ausgehen, dass das bei einem bestimmten Beschäftigungsniveau heute erwirtschaftete Einkommen vollständig dafür ausgegeben wird, (1) Produktionsgüter für den sofortigen Konsum oder (2) Investitionsgüter zu erwerben, die für die Produktion ganz bestimmter Güter verwendet werden können, die auf die (mit aktuarischer Genauigkeit eruierbaren) zukünftigen Konsummuster der Sparer von heute ausgerichtet sind. Das Axiom der Ergodizität ist daher eine entscheidende Grundlage für die Annahme der klassischen Theorie, das gesamte Einkommen werde stets sofort für Produktionsgüter ausgeben, so dass niemals ein Mangel an effektiver Nachfrage nach Industrieprodukten entstehen könne und das Say’sche Gesetz stets seine Gültigkeit behalte. In einer solchen Welt hat der Anteil des Einkommens, den Haushalte sparen, keinerlei Auswirkungen auf die gesamte (aggregierte)  Nachfrage nach Produktionsgütern, sondern lediglich auf die Verteilung der Nachfrage (und der Produktion) auf Konsum- und Investitionsgüter, oder, im Friedman’schen Modell des permanenten Einkommens, auf die Produktion von Gebrauchs- und Verbrauchsgütern. Sparen schafft also in der Investitionsgüter produzierenden In 6

Samuelson 1969, S. 182.

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6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

dustrie (bzw., bei Friedman, in der Gebrauchsgüter produzierenden Industrie) genauso Arbeitsplätze, wie Konsum in der Konsumgüter produzierenden Industrie Arbeitsplätze schafft. Und so verwundert es nicht, wenn dem ökonomischen Mainstream zuzurechnende „Experten“, ob es sich nun um Anhänger der klassischen Theorie oder „­Keynesianer“ vom Schlage eines Paul Samuelson handelt, Regierungen zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und zur Förderung von Investitionen in Produktionsgüter politische Maßnahmen empfehlen, die zu einer höheren Sparquote führen sollen. Im Gegensatz zur klassischen Theorie und zum „wissenschaftlichen“ Ansatz von Professor Samuelson ist den Menschen in ­Keynes’s Theorie bewusst, dass die Zukunft auf der Basis heute verfügbarer Marktdaten nicht verlässlich vorhersagbar ist. Die Ausgaben für Produktionsanlagen und der Wunsch zu sparen beruhen somit auf unterschiedlichen Erwartungen an eine nicht vorhersagbare, ungewisse Zukunft. Steigt die Zukunftsangst der Einkommensbezieher, so werden sie versuchen, einen größeren Teil ihres Einkommens zu sparen. Je größer die Zukunftsangst, desto weniger Arbeitsplätze werden Unternehmer schaffen, da die Einkommensbezieher mehr zurücklegen und deshalb weniger Geld für Industrieprodukte ausgeben. Je optimistischer auf der anderen Seite die Verkaufs- und Gewinnerwartungen der Unternehmer ausfallen, desto mehr werden ihre „spontanen Regungen“ befeuert, und desto größer wird (unter ansonsten gleichen Bedingungen) ihre Bereitschaft sein, in Produktionsanlagen zu investieren. Da das laufende Einkommen und/oder die Rücklagen der meisten Unternehmer zur Finanzierung großer, langfristiger Investitionsprojekte nicht ausreichen, müssen Investitionsausgaben in der Regel über Kreditaufnahme und/oder den Verkauf von Anteilspapieren auf dem Kapitalmarkt finanziert werden. Geht man davon aus, dass Unternehmer unterschiedliche Investitionsprojekte nach ihrer voraussichtlichen Profitabilität ordnen, so werden umso mehr Projekte realisiert, je niedriger der Zinssatz zum Zeitpunkt der Kreditaufnahme liegt. Je mehr Unternehmer die Zukunft fürchten, desto geringer wird ihre Investitionsbereitschaft sein. Je größer die allgemeine Zukunftsangst, desto geringer wird demnach selbst bei sehr niedrigem Zinssatz die Bereitschaft ausfallen, in Produktionsanlagen und Maschinen zu investieren. Welche Ursachen haben unternehmerischer Optimismus oder Zukunftsängste?­ Keynes schreibt dazu: Man kann ruhig sagen, dass der Unternehmungsgeist, der sich auf in die Zukunft reichende Hoffnungen stützt, dem Gemeinwesen als Ganzes zugute kommt. Die individuelle Entschlusskraft wird aber nur ausreichen, wenn die vernünftige Berechnung durch spontane Regungen ergänzt und unterstützt wird, so dass der Gedanke an einen schließlichen Verlust […] beiseite geschoben wird, so wie ein gesunder Mensch die Erwartung des Todes beiseite schiebt. Dies bedeutet unglücklicherweise […], dass […] wirtschaftlicher Aufschwung übermäßig von einer politischen und gesellschaftlichen Stimmung abhängig ist, die dem durchschnitt-

II. Investitionsausgaben

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lichen Geschäftsmann sympathisch ist. Wenn die Angst vor einer Labour-Regierung oder einem „New Deal“ den Unternehmungsgeist bedrückt, braucht dies weder auf eine vernunftgemäße Berechnung noch auf eine Verschwörung in politischer Absicht zurückzuführen sein – es ist lediglich die Folge einer Störung der empfindlichen Gleich­gewichtslage des spontanen Optimismus. In der Abschätzung der Aussichten einer Investition müssen wir daher die Nerven und die Hysterien, sogar die Verdauung und die Wetterabhängigkeit jener berücksichtigen, auf deren spontane [Investitions-] Tätigkeit sie weitgehend angewiesen ist. Wir dürfen hieraus nicht schließen, dass alles von Wellen irrationaler Psychologie abhängt. […] Wir wollen uns lediglich erinnern, dass menschliche Entscheidungen, welche die Zukunft beeinflussen, ob persönlicher, politischer oder wirtschaftlicher Art, sich nicht auf strenge mathematische Erwartung [zukünftiger Gewinne] stützen können, weil die Grundlage für solche Berechnungen nicht besteht; und dass es unser angeborener Drang zur Tätigkeit ist, der die Räder in Bewegung setzt […].7

In einer Welt, in der nichtergodische Ungewissheit herrscht, können zukünftige Gewinne, in der klassischen Theorie die rationale Grundlage der laufenden Investitionsausgaben D2 , weder auf der Basis verfügbarer Marktdaten vorhergesagt, noch aus der aktuellen Sparneigung der Einkommensempfänger abgeleitet werden. Vielmehr ist der erwartete Gewinn aus den Investitionsausgaben von heute (D2) letztlich vom Optimismus bzw. Pessimismus der Unternehmer abhängig, sowie von deren Fähigkeit, Investoren von ihren Projekten zu überzeugen. Um es mit­ Keynes zu sagen: „Nun hängt aber der voraussichtliche Ertrag vollständig von der Erwartung der zukünftigen effektiven Nachfrage im Verhältnis zu den zukünftigen Bedingungen des Angebotes ab.“8 Die effektive Nachfrage zu einem konkreten zukünftigen Zeitpunkt beruht jedoch zumindest teilweise auf den Investitionsausgaben D2 zu jenem Zeitpunkt. Diese wiederum hängen davon ab, wie die Unternehmer die Gesamtnachfrage und das Angebot in noch fernerer Zukunft einschätzen. Wenn man nicht gerade annimmt, Unternehmer könnten beliebig weit in die Zukunft schauen, steht somit fest, dass die Gewinnerwartungen in der Gegenwart vom Optimismus bzw. Pessimismus der Unternehmer abhängig sind, sowie von deren Geschick, Geld für ihre laufenden Investitionsprojekte aufzutreiben. Wahrscheinlich können die meisten unserer Entschlüsse, etwas Positives zu tun, dessen volle Wirkungen sich über viele künftige Tage ausdehnen werden, nur auf spontane Regungen zurückgeführt werden – auf einen plötzlichen Anstoß zur Tätigkeit statt zur Untätigkeit, und nicht auf den gewogenen Durchschnitt quantitativer Vorteile, multipliziert mit quantitativen Wahrscheinlichkeiten. Das Unternehmertum tut nur so, als ob es hauptsächlich durch die Feststellungen seiner eigenen Vorausschau angetrieben würde, wie offen und ehrlich diese auch sein mag. […] Wenn die spontanen Regungen abgedämpft werden und der plötzliche Optimismus stockt, […] wird somit das Unternehmertum schwinden und sterben – obschon die Angst vor Verlusten keine vernünftigere Grundlage haben mag als vorher die Hoffnung auf Gewinn.9 7

­Keynes 1936, S. 137 f. ­Keynes 1936, S. 178. 9 ­Keynes 1936, S. 137. 8

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6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

Zusammengefasst heißt das: Erkennt man die Unvorhersagbarkeit der zukünftigen Angebots- und Nachfragebedingungen an, so kann man als Wirtschaftstheoretiker die Investitionskomponente der Gesamtnachfrage (D2) nicht als eine Funktion der aktuellen Einkommens- und Beschäftigungssituation betrachten. Wenn wir uns im Sinne von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie von jenen Axiomen verabschieden, auf deren Grundlage die klassische Theorie behauptet, Entscheidungsträger könnten die Zukunft sozusagen „vorausberechnen“, so folgt daraus, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion aus zwei Arten von Ausgaben bestehen muss, D1 und D2 , von denen sich keine wie die Kategorie D1 im klassischen System verhält, in dem das Say’sche Gesetz gilt. Kurz: Wenn die Zukunft ungewiss (nichtergodisch) ist, so ist die nach den Maßgaben der Allgemeinen Theorie berech­ nete gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion nicht bei jedem Einkommens- und Beschäftigungsniveau mit der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion identisch.10 Vielmehr kann es ein ganz bestimmtes Einkommens- und Beschäftigungsniveau geben, bei dem sich die gesamtwirtschaftliche Nachfragekurve und die gesamtwirtschaftliche Angebotskurve schneiden. An diesem Schnittpunkt muss jedoch nicht unbedingt Vollbeschäftigung herrschen. Den Punkt, an dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gleich dem gesamtwirtschaftlichem Ange­ eynes als „effektive Nachfrage“.11 bot ist, bezeichnete K

III. Wie steht es um die anderen Komponenten von D2? Bislang habe ich ein Wirtschaftssystem beschrieben, in dem sich D 2 ausschließlich aus Investitionsausgaben von Privatunternehmern zusammensetzt. In meiner Analyse des ­Keynes’schen Modells habe ich bisher also gewisse Voraussetzungen angenommen, die für ein vereinfachtes Wirtschaftsmodell nach der klassischen Theorie typisch sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört 1. das Prinzip des Laissez-faire, wonach der Staat sich aus dem Wirtschaftsleben heraushält, ohne über Steuern und Staatsausgaben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu verändern, und 2.  ein geschlossener Wirtschaftskreislauf, so dass es zu keinerlei Transaktionen zwischen Bürgern dieses Staates und Bürgern anderer Staaten kommt. Selbst in einem derart vereinfachten Modell, das den Einfluss des Staates und des Auslands ausklammert, zeigt die Analyse­ Keynes’, wonach die gesamtwirtschaftliche Nachfrage unabhängig vom gesamtwirtschaftlichen Angebot ist, dass es weder kurz- noch langfristig einen automatischen Marktmechanismus gibt, der dafür sorgen würde, dass alle verfügbaren Ressourcen genutzt werden. 10 Deshalb schrieb K ­ eynes bezüglich des Spezialfalls, auf den das Say’sche Gesetz zutrifft: „Es ist die Voraussetzung, dass der Nachfragewert der Gesamtproduktion und ihr Angebotswert einander gleich sind, die als das „Parallelen-Axiom“ der klassischen Theorie betrachtet werden muß.“ (­Keynes 1936, S. 18). 11 ­Keynes 1936, S. 48.

IV. Steuern und Staatsausgaben

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Im Folgenden gehe ich kurz darauf ein, welchen Einfluss auf Beschäftigung und Produktion ­Keynes zufolge der Staat hat. Die Auswirkungen des Außenhandels auf Beschäftigung und Produktion behandle ich in den Kapiteln 8 bis 10.

IV. Steuern und Staatsausgaben Mit Hilfe der Fiskalpolitik, das heißt ihrer Entscheidungen über Steuern und staatliche Ausgaben für Güter und Dienstleistungen, kann eine Regierung Einfluss auf das Produktions- und Beschäftigungsniveau nehmen. Im Augenblick interessieren wir uns in diesem Zusammenhang nur für die Auswirkungen von Steuern und staatlichen Ausgaben auf das Beschäftigungs- und Einkommensniveau; die Folgen für die Zusammensetzung der gesamtwirtschaftlichen Produktion lassen wir zunächst außen vor. Jede Erhöhung der staatlichen Ausgaben für privatwirtschaftlich produzierte Güter und Dienstleistungen fördert ceteris paribus in bestimmten Branchen den Absatz und veranlasst Unternehmer zur Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in Branchen, in denen der Staat unmittelbar etwas einkauft, wie zum Beispiel Rüstungsgüter.12 Indem der Staat Steuern vom privaten Sektor erhebt, verringert er unter ansonsten gleichen Bedingungen unabhängig vom Einkommens- und Beschäftigungsniveau das für Konsumausgaben zur Verfügung stehende Netto­ einkommen und bewirkt so bezogen auf das Bruttoeinkommen (vor Steuern) eine sinkende Konsumneigung. Da kein automatischer Mechanismus dafür sorgt, dass die privaten Konsumausgaben genau ausreichend sind, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten, hoffen die Befürworter einer aktiven Rolle des Staates, dass die Regierung bei ihren Entscheidungen über Ausgaben und Steuern, also darüber, ob sie ein Defizit, einen Überschuss oder einen ausgeglichenen Haushalt anstrebt, in erster Linie das Ziel verfolgt, dass „die Gesamtausgaben für Güter und Dienstleistungen im Inland weder über noch unter einem Niveau liegen, das […] für den Verkauf aller Güter sorgt, die hergestellt werden können“.13 Lerner bezeichnete diese Sicht auf die Rolle des Staates als „funktionale Finanzpolitik“. Er meinte damit eine Fiskalpolitik, die ausgleichend eingreift und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage exogen erhöht, wenn die Ausgaben des privaten Sektors nicht ausreichen, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten, und die Nachfrage senkt, sobald die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so hoch ist, dass sie selbst bei Vollbeschäftigung nicht befriedigt werden kann. 12 In seinem berühmten Buch „Gesellschaft im Überfluss“ weist J. K. Galbraith (1963) sehr richtig darauf hin, dass sich Volkswirtschaften nicht nur Gedanken über das Beschäftigungsniveau machen sollten, sondern auch über die Frage, ob dabei Dinge hergestellt werden, die das Wohl der Gesellschaft insgesamt befördern – oder nur mehr Konsumgüter, die mehr Umweltverschmutzung produzieren als Nutzen. 13 Lerner 1955, S. 469.

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6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

Akzeptiert man eine funktionale staatliche Finanzpolitik, so eröffnen sich mehrere Wege, auf denen ein Zustand der Vollbeschäftigung herbeigeführt werden kann. Die Fiskalpolitik hat drei Möglichkeiten, Einfluss auf die effektive Nachfrage zu nehmen. Sie kann (1) Änderungen bei den Steuereinnahmen vornehmen, ohne die Staatsausgaben anzutasten, (2) die Höhe der Staatsausgaben anpassen, ohne die Steuereinnahmen zu verändern, oder (3) gleichzeitig Änderungen auf der Ausgaben- und der Einnahmeseite vornehmen. Wobei die Entscheidung, wessen Steuern steigen oder fallen, natürlich die Nachfrage nach bestimmten Produkten beeinflusst, und Entscheidungen über die Art der Staatsausgaben naturgemäß nicht ohne Folgen für die Produktion und das Beschäftigungsniveau in bestimmten Branchen bleiben. Bevor man sich für eine dieser drei Alternativen entscheidet, sollte eine gesamtgesellschaftliche Diskussion vorausgehen, wie J. K. Galbraith sie mit seinem Buch „Gesellschaft im Überfluss“ anregen wollte. Im Rahmen dieser gesamt­gesell­ schaft­lichen Diskussion sollte abgewogen werden, ob es besser wäre, Arbeitsplätze zu schaffen, indem man die Staatsausgaben erhöht, etwa im Bildungs-, Gesundheits- oder Infrastrukturbereich, ob man lieber den Konsum durch die privaten Haushalte oder das Militär ankurbeln sollte, ob Prestigeprojekte wichtiger Regierungsmitglieder in ihren jeweiligen Wahlkreisen verwirklicht werden sollten, usw.14. Wenn wir uns das Konzept der funktionalen Finanzpolitik zueigen machen, so obliegt es immer dann, wenn die aggregierte Nachfrage nicht ausreicht, um allen einen Arbeitsplatz zu sichern, die zum marktüblichen Lohn arbeiten wollen, dem Staat, für eine Erhöhung der aggregierten Nachfrage zu sorgen, damit Privatunternehmer genügend Gewinn erzielen, um so viele Arbeitnehmer anzustellen, dass Vollbeschäftigung herrscht. Sollten die Bürger vor einem Anwachsen der Staatsverschuldung Angst haben, gleichzeitig jedoch eine Ausweitung des staatlichen Engagements in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur usw. für wünschenswert erachten, dann sollte die Regierung sich für eine schrittweise Erhöhung der Ausgaben bei ausgeglichenem Haushalt entscheiden – also für jeden für ein gesellschaftlich wünschenswertes Projekt ausgegebenen Dollar die Steuereinnahmen um einen Dollar erhöhen, so dass die Staatsverschuldung nicht steigt. Jeder zusätzliche Dollar an Steuereinnahmen verringert die privaten Konsumausgaben in der Regel um weniger als einen Dollar, weil die Haushalte bemüht sind, ihre Konsumgewohnheiten möglichst wenig zu verändern; jede Erhöhung der staatlichen Ausgaben für Güter und Dienstleistungen um einen Dollar dagegen beschert irgend jemandem einen Dollar zusätzliches Bruttoeinkommen, so dass es unter dem Strich im 14 Könnte man Staatshaushalte in ein Budget für laufende Ausgaben und ein Kapital- bzw. Investitionsbudget aufteilen, so würde ­Keynes es vorziehen, dass das laufende Budget stets ausgeglichen ist, während das Investitionsbudget Defizit machen sollte, solange keine Voll­ beschäftigung herrscht, und Überschüsse erwirtschaften sollte, wenn die aggregierte Nachfrage das aggregierte Angebot bei Vollbeschäftigung übersteigt.

IV. Steuern und Staatsausgaben

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mer dann, wenn ein Mangel an effektiver Nachfrage zu verzeichnen ist, zu einer Erhöhung des aggregierten Einkommens, der Nachfrage und der Beschäftigung kommt. Gibt die damit verbundene Erhöhung der Staatsquote Anlass zur Sorge, so kann man alternativ auch die Steuern senken. Konzentrieren sich die Bedenken in der Öffentlichkeit auf den „verschwenderischen“ Konsum einer wohlhabenden Gesellschaft bei gleichzeitiger Verelendung vieler Bürger, so mag man über eine moderate Anhebung der Staatsausgaben nachdenken, die über einen leichten Anstieg des Defizits finanziert wird. Von keiner der hier genannten Befürchtungen sollte sich eine Regierung dazu verleiten lassen, „nichts“ zu tun und auf die Selbstheilungskräfte des freien Marktes zu hoffen. Das ist die zentrale Botschaft­ Keynes’, ist doch seine Theorie in ihren Folgerungen gemäßigt konservativ. Denn während sie auf die lebenswichtige Bedeutung hinweist, gewisse zentrale Steuerungen in Angelegenheiten einzurichten, die jetzt in der Hauptsache der individuellen Initiative überlassen sind, gibt es doch weite Tätigkeitsbereiche, die unberührt bleiben. Der Staat wird einen leitenden Einfluss auf die Konsumneigung teilweise durch sein System der Besteuerung, teilweise durch die Festlegung des Zinssatzes und teilweise vielleicht durch andere Wege ausüben müssen. Ferner scheint es unwahrscheinlich, dass der Einfluß der Geldpolitik auf den Zinssatz für sich allein genügen wird, um ein optimales Volumen der Investitionen herbeizuführen. Ich denke mir daher, dass eine ziemlich umfassende gesellschaftliche Steuerung der Investitionen sich als das einzige Mittel zur Erreichung einer Annäherung an Vollbeschäftigung erweisen wird; obschon dies nicht alle Arten von Zwischenlösungen und Verfahren ausschließen muss, durch welche die staatliche Verwaltung mit der privaten Initiative zusammenarbeiten wird. Aber darüber hinaus wird keine offensichtliche Begründung für ein System des Staatssozialismus vorgebracht, das den größten Teil des wirtschaftlichen Lebens des Gemeinwesens umfassen würde. Es ist nicht der Besitz der Produktionsmittel, deren Aneignung wichtig für den Staat ist. Wenn der Staat die der Vermehrung dieser Güter gewidmete Gesamtmenge der Ressourcen und die grundlegende Rate der Entlohnung an ihre Besitzer bestimmen kann, wird er alles erfüllt haben, was notwendig ist.15

Und auch wenn K ­ eynes die politischen Entscheidungsträger beschwört, eine aktive Fiskalpolitik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung zu betreiben, […] wird immer noch ein weites Feld für die Ausübung der privaten Initiative und Verantwortung verbleiben. Innerhalb dieses Feldes werden die traditionellen Vorteile des Individualismus immer noch Geltung haben. […] Vor allem aber ist der Individualismus […] die beste Gewähr der persönlichen Freiheit, in dem Sinne, dass er […] das Feld für die Ausübung der persönlichen Wahl stark erweitert. Er ist auch die beste Gewähr für die Vielseitigkeit des Lebens, die gerade aus diesem weiten Feld der persönlichen Wahl hervorgeht, und deren Verlust der größte aller Verluste in einem homogenen oder totalen Staat ist. [U]nd da [diese Vielseitigkeit] sowohl die Magd der Erfahrung als auch der Tradition und der Phantasie ist, ist sie das mächtigste Mittel, um die Zukunft zu bessern.16

15

­Keynes 1936, S. 318 f. ­Keynes 1936, S. 320 f.

16

82

6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

Anhang zu Kapitel 6: Die Herleitung der gesamtwirtschaftlichen Angebots- und Nachfragefunktionen Die einzigen homogenen „fundamentalen Einheiten“, die zusammen genommen sinnvolle Aussagen über die Wirtschaft insgesamt erlaubten, argumentierte­ Keynes, seien in Geld oder in Beschäftigungsmengen ausgedrückte Größen.17 Zur Ermittlung der aggregierten Angebotsfunktion sollten die mit unterschiedlichen Beschäftigungsniveaus einhergehenden, aggregierten Verkaufserlöse der Unter­ eynes zufolge daher entweder (1) in Geldeinheiten (Z) angegeben wernehmer K den, oder (2) in ­Keynes’ Lohneinheiten (Z w), dem Quotienten aus aggregierten Verkaufserlösen (Z) und Nominallohn (w). Die K ­ eynes’sche aggregierte Angebotsfunktion ist demnach eine steigende Funktion der Beschäftigung, die entweder definiert ist als: (6.1.)

Z = f1 (N)

oder als (6.2.) Zw = Z/w = [f1 (N)/w] = f 2 (N)

Die Angebotskurve für eine einzelne Firma (sf) nach Marshall gibt den profitmaximierenden Output für unterschiedliche Marktpreiserwartungen an. Die Angebotsfunktion (sf) jedes auf Profitmaximierung bedachten Unternehmens hängt vom Ausmaß des Wettbewerbs (oder seiner Monopolstellung) (kf)  und seinen Grenzproduktionskosten (MCf) ab. Im einfachsten Fall, in dem Beschäftigung der einzige variable Produktionsfaktor ist, gilt: MCf = w/MPLf, wobei w die Lohneinheit ist, und MPLf das Grenzprodukt der Arbeit. Demnach gilt auf der Mikroebene für die Angebotsfunktion nach Marshall: (6.3.) sf = f3(k f,MCf) = f3(k f,[w/MPLf])

Der Lerner’sche Monopolgrad (kf) beträgt [1–1/Edf], wobei Edf der absolute Betrag der Preiselastizität der Nachfrage für den Output ist, den das Unternehmen für ein bestimmtes Niveau der effektiven Nachfrage produziert. Für eine Firma in einem vollkommenen Markt ist (kf) = 0; Position und Verlauf der Angebotsfunktion nach Marshall für eine bestimmte Firma werden lediglich von den Grenzkosten beeinflusst. Die Angebotsfunktion für eine Branche kann man nach Marshall ermitteln, indem man die Angebotskurven der einzelnen Unternehmen einfach addiert: (6.4.)

s = f4 (k, mc) = f4 (k, w/mpl)

wobei die Symbole ohne tiefgestellte Zeichen das branchendurchschnittliche Äquivalent für die Variablen des oben erwähnten Unternehmens sind. 17

­Keynes 1936, S. 36.

Anhang zu Kapitel 6

83

Zwar ist der Output von Unternehmen derselben Branche homogen und kann daher aggregiert werden, um [wie in Gleichung (6.4.)] das Gesamtangebot der Branche nach Marshall zu ermitteln; doch als Grundlage für die Berechnung des gesamten Outputs aller Branchen, sprich der aggregierten Angebotsfunktion im Sinne ­Keynes’18, ist diese Annahme der Homogenität des Angebots inakzeptabel. Da es für jeden Punkt auf der Branchenangebotsfunktion nach Marshall, s, eine ganz bestimmte, Gewinnmaximierung versprechende Kombination aus einem Preis p und einer Menge q gibt, deren Produkt dem erwarteten Verkaufserlös der ganzen Branche z entspricht [d. h. p x q = z], und da man jedes Industrieproduktionsniveau (q) einem ganz bestimmten Beschäftigungsniveau n zuordnen kann [d. h. q = f (n)], kann man jeden Wert der Gleichung (6.4.) der s-Kurve im PreisMengen-Diagramm in einen Punkt auf der z-Kurve im Branchen-Beschäftigungsniveau-Diagramm umwandeln, und erhält so für jede Branche: (6.5.)

z = f5 (n)

Um die aggregierte Angebotsfunktion im Sinne des aggregierten Gelderlöses (Z) und der aggregierten Menge der Beschäftigung (N) aus Gleichung (6.1.) zu erhalten, aggregierte ­Keynes die mit Gleichung (6.5.) ermittelten Branchenangebotsfunktionen. Um zu einem einzigen Wert zu kommen, nahm ­Keynes an, dass es zu jedem aggregierten Angebotspreis eine ganz bestimmte Verteilung der Beschäftigung auf die verschiedenen Branchen der Volkswirtschaft gibt.19 Wie aus meinen Ausführungen zu den Nachfragekategorien D1 und D2 in diesem Kapitel hervorgeht, verläuft die aggregierte Nachfragekurve, die Geldausgaben zu Beschäftigungsniveaus in Beziehung setzt, ansteigend: je höher das Beschäftigungsniveau, desto größer der Geldwert der aggregierten Nachfrage. Teilt man die aggregierte Geldnachfrage durch den Nominallohn (den durchschnittlichen Lohnsatz), so wird für einen bestimmten Lohnsatz auch die aggregierte Nachfragefunktion in Lohneinheiten ansteigend verlaufen. Angesichts der Tatsache, dass die Investitionsausgaben von allen möglichen Niveaus des aggregierten Einkommens und der aggregierten Beschäftigung unabhängig sind, wird die Steigung der aggregierten Nachfragekurve von der marginalen Konsumneigung der verschiedenen Einkommensempfänger abhängen. Wie Abbildung 6.1. veranschaulicht, lässt sich die aggregierte Angebotsfunktion für einen gegebenen Lohnsatz (w1) als Kurve Zw1 darstellen, die aggregierte Nachfragefunktion in Lohneinheiten als ansteigende Kurve Dw1. Der Punkt der effektiven Nachfrage E ergibt sich aus dem Schnittpunkt der aggregierten Nachfragekurve Dw1 und der aggregierten Angebotskurve Zw1. Das Gleichgewichtsniveau der Beschäftigung und der Wert des BIP sind in Abbildung 6.1. mit Ne und Z e bezeichnet.

18

Vgl. ­Keynes 1936, 4. Kapitel. Vgl. ­Keynes 1936, S. 238.

19

6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

Erwartete Erlöse/geplante Ausgaben

84

Z w1 D ′w1 Z ′e Ze

D w1 E

Ne

N ′e

Beschäftigung

Abbildung 6.1. Aggregierte Nachfrage und aggregiertes Einkommen

Kommt es, ceteris paribus, zu einer exogenen Erhöhung der Ausgaben D 2 , so verlagert sich die aggregierte Nachfragekurve in Abb. 6.1. von Dw1 nach D'w1, die Beschäftigung steigt von Ne auf Ne' und das BIP von Z e auf Z e'. Der Multiplikator. Abbildung 6.1. zeigt, dass die Gesamtzunahme des Einkommens (und der Beschäftigung) die Gesamtzunahme der Ausgaben D 2 übersteigt. Den Faktor, um den die Zunahme der Einkommen die Zunahme der Investitionsausgaben übertrifft, bezeichnet man als „Multiplikator“. Das stärkere Anwachsen der Einkommen geht auf die Annahme zurück, dass mit der Einstellung zusätzlicher Beschäftigter in der Investitionsgüterindustrie das Gesamteinkommen in diesem Wirtschaftszweig steigt. Diese Einkommenszunahme veranlasst die Beschäftigten der Investitionsgüterindustrie, einen Teil  des Einkommenszuwachses für zusätzlichen Konsum auszugeben und so das Einkommen von Arbeitern und Unternehmen in der Konsumgüterindustrie zu steigern, so dass unter dem Strich das Gesamteinkommen über die ursprüngliche Zunahme der Investitionsausgaben hinaus ansteigt. Einige Ökonomen haben behauptet, der wundersame Multiplikatoreffekt, demzufolge die Zunahme der Arbeitsplätze und des Einkommens stärker ausfällt als die ursprüngliche Steigerung der exogenen Investitionsausgaben, sei das eigentlich revolutionäre an ­Keynes’ Ansatz. In Wirklichkeit ist der Multiplikator keineswegs revolutionär; er ist eine rein mechanische Folge der Annahme, dass ein Teil der Ausgaben endogen mit dem Einkommen zusammenhängt, ein anderer Teil dagegen exogen ist. Wie ist der Multiplikatoreffekt für unterschiedliche Werte der Variable „exogene Investitionen“ zu interpretieren? Da Ökonomen sich gerne als „Wissenschaftler“ darstellen, erwecken sie den Anschein, ihre Modelle seien das symbolische Äquivalent eines kontrollierten Experiments in einer „exakten Wissenschaft“. Für ein kontrolliertes Experiment wählt ein Wissenschaftler zwei vergleichbare Grup-

Anhang zu Kapitel 6

85

pen von Probanden und erklärt eine davon zur Versuchs-, die andere zur Kontrollgruppe. Diese beiden Gruppen werden so ausgesucht, dass zu Beginn des Experiments alle denkbaren Variablen bei beiden Gruppen gleich sind. Dann wird bei der Versuchsgruppe der Wert einer einzigen Variable verändert und anschließend werden alle signifikanten Unterschiede festgehalten, die zwischen beiden Gruppen festzustellen sind. Nehmen wir beispielsweise an, ein Wissenschaftler wollte untersuchen, ob ein Mangel an Vitamin C Skorbut „verursacht“. Dazu besorgt er sich Ratten, deren genetische Ausstattung so ähnlich wie möglich ist. Diese Ratten verteilt er nach dem Zufallsprinzip auf zwei Käfige, einen für die Versuchs- und einen für die Kontrollgruppe. Die Ratten erhalten dasselbe Futter, mit dem einzigen Unterschied, dass dem Futter der Versuchsgruppe das Vitamin C komplett entzogen wird. Daraufhin hält der Wissenschaftler fest, wieviele Ratten in beiden Gruppen innerhalb eines bestimmten Zeitraums an Skorbut erkranken. Das Experiment ist darauf ausgelegt, die Nullhypothese zu widerlegen, wonach die Nichtaufnahme von Vitamin C nicht Skorbut auslöst. Erkrankt im Vergleich zur Kontrollgruppe eine statistisch signifikant größere Anzahl von Ratten aus der Versuchsgruppe an Skorbut, so kann der Experimentator aufgrund der allgemein anerkannten Regeln bezüglich statistischer Signifikanz die Nullhypothese verwerfen und, in Ermangelung weiterer Belege, vorläufig die Alternativthese akzeptieren, dass ein Zusammenhang zwischen Vitamin-C-Mangel und der Erkrankung an Skorbut besteht. Daraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass die Aufnahme von Vitamin C Skorbut vorbeugt. In Anlehnung daran sollten Ökonomen Multiplikatordaten wie folgt interpretieren: Nehmen wir die beiden Volkswirtschaften A und B. Sagen wir, Volkswirtschaft A erhält als Kontrollgruppe exogene Investitionsausgaben in Höhe von 1000 Dollar, die Versuchsgruppe, Volkswirtschaft B, exogene Investitionsausgaben in Höhe von 1500 Dollar. Nehmen wir weiter an, daraus ergibt sich ein aggregiertes Einkommen von 7000 Dollar in Volkswirtschaft A und 9500 Dollar in Volkswirtschaft B. Wenn diese Ergebnisse aus einem kontrollierten Experiment stammen, kann der Ökonom die Schlussfolgerung akzeptieren, dass das BIP in Volkswirtschaft B 2500 Dollar höher liegt als in Volkswirtschaft A, weil B 500 Dollar mehr exogene Investitionsausgaben erhalten hat. Aber diese Zahlen gehen natürlich nicht auf ein kontrolliertes Experiment unter realistischen Bedingungen zurück, sondern auf ein Gedankenexperiment. Wenn man mit Hilfe eines Multiplikatormodells das zukünftige Niveau des aggregierten Einkommens vorherzusagen versucht, das sich aus einer Veränderung der exogenen Ausgaben ergibt, so kann das daher ziemlich irreführend sein. Eine vorsichtigere, aber zutreffendere Aussage wäre: Wenn eine Volkswirtschaft im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum zusätzliche exogene Ausgaben, sagen wir in Höhe von 500 Dollar verzeichnet, und wenn die aggregierte Angebotsfunktion und die Konsumneigung den Zustand der Volkswirtschaft im bevorste-

86

6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion henden Zeitraum korrekt charakterisieren, so wird das daraus folgende zusätzliche aggregierte Einkommen die zusätzlichen 500 Dollar exogene Investitionen um ein Vielfaches übersteigen.

Bedauerlicherweise ist es unwahrscheinlich, dass solche vorsichtigen, dafür aber zutreffenden Aussagen reale Politiker und Unternehmer zufrieden stellen werden, die heute Entscheidungen treffen müssen und sich dabei nicht auf der­artig vage, unter Vorbehalt stehende Vorhersagen der zukünftigen Entwicklung verlassen wollen. Herleitung der Konsumfunktion (Konsumneigung) auf der Grundlage von Marshalls mikroökonomischen Nachfragekurven. Die Konsumneigung legt nahe, dass die gesamten Konsumausgaben (C) in dem Maße steigen, in dem das aggregierte Einkommen (Y) zunimmt, das heißt C ist eine steigende Funktion von Y. Im Gegensatz zu dieser ansteigenden aggregierten Konsumnachfragekurve fällt die mikroökonomische Nachfragekurve nach Marshall in einer Branche im Preis-/Mengendiagramm normalerweise ab. Trotz dieser unterschiedlichen Entwicklung kann man die aggregierte Konsumnachfragekurve von einer mikroökonomischen Angebots- und Nachfrageanalyse ableiten. Eine Nachfragekurve nach Marshall beruht auf der Annahme bestimmter Vorlieben, bestimmter Angebots- und Nachfragebedingungen anderer Branchen und einer bestimmten aggregierten effektiven Nachfrage. Wie K ­ eynes schrieb, können „die Nachfragekurven einzelner Industrien […] nur auf irgendeiner bestimmten Voraussetzung über die Natur der Nachfrage- und Angebotskurven anderer Industrien und über den Betrag der aggregierten effektiven Nachfrage aufgebaut werden.“20 In Abbildung 6.2. ist die ansteigende Branchenangebotskurve nach Marshall eingezeichnet, sa. Zu einem angenommenen Preis p1 produzieren die Unternehmer dieser Branche einen Output q1, stellen n1 Arbeiter an und erwarten einen Gesamtumsatz z1 (= p1q1). Wenn die Unternehmer in Branche a einen Preis p1 erwarten und beschließen, q1 zu produzieren, so muss man für die Generierung eines aggregierten Einkommensniveaus, das der in Abbildung 6.2. gezeigten Nachfragekurve d1 für Branche a entspricht, entsprechende Preise und einen entsprechenden Output in allen anderen Branchen annehmen. Bei einem Angebotspreis von p1 betrüge in Abbildung 6.2. die von Käufern nachgefragte Menge q1'. Die geplanten Ausgaben der Käufer betrügen d1' (p1q1'). Wie in Abbildung 6.2. veranschaulicht übersteigt bei einem Angebotspreis von p1 der anvisierte Nachfragevorschuss den erwarteten Absatz (d1 > z1). Angesichts der impliziten Annahmen hinsichtlich der Nachfrage und des Angebots in anderen Branchen, sowie der aus diesen Annahmen folgenden effektiven Nachfrage, liegt der Angebotspreis p1 unterhalb des Gleichgewichtspreises. Bei einem anderen angenommenen Angebotspreis p2 gehen die Unternehmer der repräsentativen Branche a davon aus, einen Output q2 zu einem Gesamterlös 20

­Keynes 1936, S. 219.

87

Anhang zu Kapitel 6 d-o

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Menge

Abbildung 6.2. Ableitung der Ausgabenkurve

von z2 (= p2 q2) verkaufen zu können, und stellen daher n2 Arbeiter ein. Diese Zunahme des Outputs und der Beschäftigung in der repräsentativen Branche a geht mit vergleichbaren Steigerungen in anderen Branchen einher. Die Folge sind in der gesamten Volkswirtschaft höhere Einkommen, angelehnt an den Angebotspreis p2 im Vergleich zu Angebotspreis p1. In ihrer Gesamtheit führen die höheren Löhne zu einem höheren Güterkonsum und implizieren somit, dass Branche a es nunmehr mit einer neuen, höheren Nachfragekurve zu tun hat, die in Abbildung 6.2. mit d2 bezeichnet ist. Zum Angebotspreis p2 beabsichtigen die Konsumenten einen Output in Höhe von q2' zu kaufen, so dass der anvisierte Nachfrageüberschuss d2' (= p2 q2') beträgt. Damit übersteigen die anvisierten Ausgaben immer noch den erwarteten Verkaufserlös (d2' > z2). Auf diese Weise kann man für jeden Angebotspreis in Abbildung 6.2. aus einer Familie von Nachfragekurven einen anvisierten Nachfrageüberschuss ableiten. Verbindet man die einzelnen Nachfrageüberschusswerte für verschiedene Angebotspreise, so erhält man die Nachfrageüberschusskurve. Diese ansteigende Nachfrageüberschussfunktion ist das Branchenäquivalent zu ­Keynes’ aggregierter Konsumnachfragefunktion. Die aggregierte Nachfrage ist für jedes aggregierte Beschäftigungsniveau die Summe der anvisierten Nachfrageüberschüsse über alle Branchen hinweg. Diese Analyse impliziert, dass sich alle anderen Ausgaben (D2) jenseits des Konsums auf eine fixe Summe belaufen und mit dem Einkommen nicht verändern. Wenn also die Nachfragekurven für Produkte von Firmen, die für D2 produzieren, unverändert bleiben, während die Nachfragekurven, die D1-Märkte betreffen, ansteigen, weil Beschäftigung und Output in allen Branchen zulegen, so steigen die aggregierten Einkommen und die aggregierte Konsumnachfrage, und die D2-Nachfrage nimmt zu. Jede Aufwärtsbewegung auf der gegebenen aggre-

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6. Kap.: Die nähere Bestimmung der Nachfragefunktion

gierten Konsumnachfragekurve, die mit einem höheren Beschäftigungsniveau und Output einhergeht, bringt ein höher gelegenes Mitglied der Familie der Branchennachfragekurven hervor. So lange die marginale Konsumneigung kleiner als Eins ist, wird der aggregierte Nachfrageüberschuss (einschließlich der fixen Ausgaben für D2) langsamer zunehmen als die aggregierten Einkommen. Bei einem bestimmten Angebotspreis (p5 in Abbildung 6.2.) schneidet die Ausgabenkurve auf jedem Markt die Branchennachfragekurve, und die geplanten Ausgaben entsprechen genau dem erwarteten Verkaufserlös. Dieser Schnittpunkt ist auf Ebene der Branche das Äquivalent zum Punkt der effektiven Nachfrage (an dem die aggregierte Nachfragekurve die aggregierte Angebotskurve schneidet) für die Volkswirtschaft insgesamt.

7. Kapitel

Die Bedeutung von Geld, Verträgen und liquiden Finanzmärkten [I]n der „Allgemeinen Theorie“ […] wird Ungerechtigkeit eine Frage der Ungewissheit, Gerechtigkeit eine Frage verlässlicher Verträge. Skidelsky 1992, S. 223 Die Grundlage, auf der Verträge geschlossen werden, ist wichtig. Vor allem gilt: Wenn die Grundlage von Verträgen die Geldwirtschaft ist, kommt dem in Geld ausgedrückten Preis eines Guts eine besondere Bedeutung zu. In einem Wirtschaftssystem ohne Vergangenheit oder Zukunft ist das nicht der Fall. […] Wollte man eine ernstzunehmende Theorie des Geldes schreiben, so müsste darin die Tatsache, dass Verträge auf der Grundlage der Geldwirtschaft geschlossen werden, besondere Beachtung finden. Arrow/Hahn 1971, S. 356 f. (Hervorhebung d. Verf.) Erstens ist die Tatsache, dass Verträge in Geld festgesetzt werden und dass in Geld festgesetzte Löhne gewöhnlich ziemlich beständig sind, unzweifelhaft stark für die hohe Liquiditätsprämie des Geldes verantwortlich. ­Keynes 1936, S. 199.

I. Die Bedeutung von Geldverträgen Das Axiom der Geldneutralität war nicht nur ein Grundpfeiler der klassischen Wirtschaftstheorie des 19.  Jahrhunderts. Wie das im letzten Kapitel angeführte Zitat von Professor Blanchard veranschaulicht, ist es ein Glaubenssatz, der auch heute noch den gängigen makroökonomischen Modellen zugrundeliegt. Da Produktionsgüter und Dienstleistungen der klassischen Theorie zufolge gegen andere Produktionsgüter und Dienstleistungen eingetauscht werden und das Angebot an Produktionsgütern stets genau der Nachfrage entspricht (Say’sches Gesetz), braucht man Geld eigentlich nicht, höchstens als Wertmaß – als „Numéraire“ – im Rahmen von Produktion und Handel. Folgt man den Wirtschaftsmodellen des ökonomischen Mainstreams, so beruht die gesamte Wirtschaft ausschließlich auf Tauschhändeln. Zu einem Tauschhandel kommt es, wenn der Verkäufer eines Gutes A eine bestimmte Menge von A gegen eine bestimmte Menge des Gutes B eintauscht, die der Käufer von A für eine bestimmte Menge des Gutes herzugeben bereit ist. Da in jeder Volkswirtschaft unzählige Menschen und Firmen eine Unmenge an Produktionsgütern und Dienstleistungen gegen andere Produktionsgüter einzutauschen versuchen, wäre es ein extrem schwieriges Unterfangen, Käufer und Verkäufer zu finden, die genau die

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

für einen bestimmten Tauschhandel notwendigen Güter besitzen. Für die klassische Theorie ist Geld nichts weiter als eine Erfindung, die die Buchführung über den ganzen Wust an Tauschhändeln erleichtert. ­Keynes dagegen erkannte, dass er das Axiom der Geldneutralität über Bord werfen musste, wenn er die Existenz von Arbeitslosigkeit erklären wollte: Die Theorie, die mir vorschwebt, wäre auf ein Wirtschaftssystem zugeschnitten, in dem Geld eine eigenständige Rolle spielt und Motive und Entscheidungen beeinflusst, also kurz gesagt selbst einen maßgeblichen Faktor darstellt, so dass man weder den langfristigen noch den kurzfristigen Gang der Dinge vorhersagen kann, ohne darüber Bescheid zu wissen, wie sich das Geld zwischen Beginn und Ende des Betrachtungszeitraums verhält. Und genau das sollten wir im Sinn haben, wenn wir von einem monetären Wirtschaftssystem sprechen. […] Aufschwünge und Rezessionen sind typische Merkmale eines Wirtschaftssystems, in dem […] das Geld nicht neutral ist.1

Indem ­Keynes sich in seiner Allgemeinen Theorie vom Axiom der Geld­ neutralität verabschiedete, bestritt er, dass unser Wirtschaftssystem im Grunde auf Tauschwirtschaft beruht. Stattdessen gestand er den menschengemachten Ein­ eynes’ richtungen, die wir Geld und Verträge nennen, eine wichtige Funktion zu. K Allgemeine Theorie bildet daher eine Reihe von charakteristischen Merkmalen der realen Welt ab. Dazu gehören: 1. Geld ist wichtig, und zwar sowohl kurz- als auch langfristig. Das Ver­fügen über Geld und Liquidität beeinflusst Entscheidungen, die Auswirkungen auf das Beschäftigungs- und Produktionsniveau haben. (Wieviele Leser dieses Buches würden über die Anschaffung eines teuren Gebrauchsguts wie eines Hauses oder eines Autos, oder auch nur ihrer täglichen Einkäufe im Supermarkt entscheiden, ohne vorher einen Blick in ihre Geldbörse zu werfen, eine Kreditzusage ihrer Bank einzuholen oder sich zu vergewissern, dass der Verfügungsrahmen ihrer Kreditkarte groß genug ist? Die meisten Leute hantieren bei größeren Anschaffungen mit Summen, die ihr Monatseinkommen um ein Vielfaches übersteigen – und trotzdem spielen diese Liquiditätsfragen in der klassischen Theorie nicht die geringste Rolle.) 2. Das Wirtschaftssystem befindet sich auf einer Reise von einer unabänderlichen Vergangenheit in eine ungewisse, mit statistischen Methoden nicht vorhersagbare Zukunft. In der Erfahrungswelt ist jedermann bekannt, dass die wirtschaftliche und politische Zukunft ungewiss ist und auf der Grundlage verfügbarer Marktdaten nicht vorausgesagt werden kann. Und selbst wenn uns nicht bewusst wäre, wie unsicher die Zukunft ist – Manager von Investmentfonds zum Beispiel sind gesetzlich verpflichtet, potenzielle Käufer darüber aufzuklären, dass die positive Kursentwicklung in der Vergangenheit kein Garant für zukünftige Gewinne ist. Im Fachjargon der Stochastiker bedeutet die Ungewissheit der Zukunft, dass Markt- und Produktionsdaten aus der Vergangenheit nicht auf einem ergodischen Prozess beruhen. 1

­Keynes 1933a, S. 408 f.

I. Die Bedeutung von Geldverträgen

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3. In einer marktorientierten Geldwirtschaft setzen alle legalen wirtschaftlichen Transaktionen eine vertragliche Verpflichtung voraus, die entweder auf einem Kassa- oder einem Terminmarkt eingegangen wird. Auf einem Kassamarkt vereinbaren Käufer und Verkäufer im Augenblick des Vertragsabschlusses die sofortige Bezahlung und Lieferung. Auf einem Terminmarkt schließen Käufer und Verkäufer heute einen Vertrag über die Bezahlung und Lieferung zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt.2 Ein Vertrag ist eine rechtlich bindende Übereinkunft, in der beide Seiten sich verpflichten, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt etwas ganz bestimmtes zu tun. In unserem wettbewerbs- und marktorientierten Wirtschaftssystem werden Produktion und Handel praktisch ausschließlich mit Hilfe von Geldverträgen organisiert. Geldverträge sind eine Erfindung, die den Unterhändlern dabei helfen soll, im Rahmen von komplexen, zeitaufwändigen Produktions- und Handelsgeschäften mit der Tatsache umzugehen, dass die Zukunft ungewiss ist. Unternehmer treffen in unserem System ständig Entscheidungen über die Produktion, das Personal, das Marketing und den Verkauf, mit denen sie vertragliche Verpflichtungen eingehen. Der Einsatz solcher Verträge bietet den Vertragsparteien eine gewisse rechtliche Absicherung im Hinblick auf ihre zukünftigen Zahlungsein- und ausgänge. Die Unantastbarkeit von Geldverträgen ist der Kern eines auf Unternehmertum basierenden Wirtschaftssystems. Wenn eine Vertragspartei ihren Verpflichtungen aus einem rechtlich bindenden Vertrag nicht nachkommt, kann die geschädigte Partei vom Staat verlangen, dass er dem Vertrag Geltung verschafft. Der Staat wird daraufhin die andere Partei auffordern, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen oder die geschädigte Partei für den entstandenen Schaden finanziell zu entschädigen. Mit anderen Worten: Der Staat kann die säumige Partei jederzeit auffordern, ihre vertraglichen Verpflichtungen durch die Zahlung einer bestimmten Geldsumme zu erfüllen. Geld ist somit definiert als das vom Staat im Zivilvertragsrecht bestimmte Mittel, mit dem jederzeit alle rechtmäßigen vertraglichen Verpflichtungen abgegolten werden können. Diese Sichtweise, die eine Verbindung zwischen der staatlichen Durchsetzung von Verträgen und der Definition von Geld herstellt, bezeichnet man als Chartalismus. „Heute“, schrieb ­Keynes in „Vom Gelde“, „ist das Geld in allen zivilisierten Staaten, darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben, chartaler Natur“.3 So lange man davon ausgehen kann, dass auch alle zukünftigen vertraglichen Verpflichtungen in Form eines Geldbetrags Ausdruck finden werden, fungiert Geld als Wertspeicher, vermittels dessen man Kaufkraft aus der Gegenwart in 2

­Keynes (1936, S. 187) befasste sich in seinen Ausführungen zu den „wesentlichen Eigenschaften von Zins und Geld“ mit Kassa- und Terminmärkten. Siehe auch ­Keynes’ „Vom Gelde“ (1932, S. 228, sowie S. 398 ff.). 3 ­Keynes 1932, S. 4.

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

die Zukunft verschieben kann, um zukünftige Forderungen zu befriedigen. Daher kann man sich Geld und liquide Mittel (wobei letztere als Vermögenswerte definiert sind, die man durch Verkauf auf einem organisierten und wohlgeordneten Markt jederzeit zu Geld machen kann) als Zeitmaschinen der Liquidität vorstellen, mit deren Hilfe man die Kaufkraft des heute verdienten Einkommens in die Zukunft transportieren kann, bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Sparer Dinge erwerben will, deren Gesamtpreis sein Einkommen zum fraglichen zukünftigen Zeitpunkt übersteigt. Das Zivilvertragsrecht ist entstanden, um den Menschen in einer Welt der Ungewissheit, auf die das Axiom der Ergodizität nicht anwendbar ist, dabei zu unterstützen, zeitaufwändige Produktions- und Handelsgeschäfte zu organisieren. In jeder auf Unternehmertum basierenden Geldwirtschaft hängen unternehme­rische Entscheidungen über das Produktionsvolumen, die Einstellung von Personal und den Einkauf von Rohmaterial von der unsicheren Erwartung der Unternehmer ab, dass der zukünftige Verkaufserlös (sprich: die Zahlungseingänge) die Produktionskosten (oder Zahlungsausgänge) übersteigen wird. „In einer Firma dreht sich alles ums Geld. Sie hat keinen anderen Daseinszweck, als mehr Geld zu erwirtschaften als sie anfänglich zur Verfügung hatte. Das ist die charakteristische Eigenschaft einer auf Unternehmertum basierenden Wirtschaft.“4

II. Verträge, Märkte und das Sicherheitsnetz der Liquidität In einer auf Geldverträgen beruhenden Wirtschaft gilt man als „liquide“, wenn man genügend Geld besitzt (oder durch Kreditaufnahme oder den Verkauf eines liquiden Vermögenswertes jederzeit beschaffen kann), um alle zukünftigen vertraglichen Verpflichtungen erfüllen zu können, sobald diese fällig werden. Da angesichts der Ungewissheit der Zukunft die Gefahr besteht, dass man irgendwann außerstande sein könnte, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen, ist es nur vernünftig, einen Vorrat an Geld und anderen liquiden Mitteln (die man leicht zu Geld machen kann) anzulegen, der die bereits abzusehenden zukünftigen Verpflichtungen übersteigt. Geld und liquide Mittel dienen als Sicherheitsnetz für den Fall unerwarteter Veränderungen der eigenen finanziellen Verhältnisse. Je unsicherer die Zukunft jemandem erscheint, desto größer dürfte die gewünschte Liquiditätsreserve dieser Person ausfallen. Dem Modell der klassischen Theorie zufolge, in dem alle aktuell produzierten Güter gegen aktuell produzierte Güter eingetauscht werden und sich zukünftige Zahlungsverpflichtungen und Einkünfte mit statistischer Zuverlässigkeit im Voraus bestimmen lassen, gibt es dagegen keinen rationalen Grund, als Liquiditätsreserve einen Geldvorrat zu besitzen.

4

­Keynes 1933b, S. 89.

II. Verträge, Märkte und Liquidität

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In einem wettbewerbs- und marktorientierten, auf Geldverträgen und Unternehmertum basierenden Wirtschaftssystem, das nach dem Prinzip des Laissezfaire funktioniert und in dem Haushalte wie Firmen dem „Fetisch der Liquidität“ anhängen, der „Doktrin, dass es eine positive Tugend der Investmenteinrichtungen ist, ihre Geldmittel auf den Besitz ‚liquider‘ Wertpapiere zu konzentrieren“5, ist der Normalzustand nicht Vollbeschäftigung, sondern Arbeitslosigkeit. Kann man im Zeitalter der Investmentfonds, der Hedgefonds und des irrationalen Übermuts der Finanzmärkte ernsthaft daran zweifeln, dass der Fetisch der Liquidität in modernen Volkswirtschaften ein wichtiger Aspekt ist? Dennoch geht die vorherrschende Wirtschaftstheorie davon aus, dass der Liquiditätsfetisch für die Bestimmung des Beschäftigungsniveaus und der Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft keine Rolle spielt. Insofern als „Geld“ in der klassischen Theorie überhaupt vorkommt, wird es als Produktionsgut angesehen, das als Wertmaß für den relativen Preis von Gütern dient, davon abgesehen jedoch ein Produktionsgut wie jedes andere ist  – genau wie die berühmten „Peanuts“. Ob die Leute ihr Einkommen für Konsumgüter ausgeben oder einen Teil davon sparen und in das Produktionsgut „Peanuts“ investieren, macht demnach keinen Unterschied: Das gesamte im Rahmen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen erwirtschaftete Einkommen wird für Güter und Dienstleistungen ausgegeben – unter anderem für „Kleingeld“. In der Welt der klassischen Theorie ist das Say’sche Gesetz unabhängig davon gültig, ob die Leute ihr gesamtes Einkommen für den Konsum ausgeben oder einen Teil in Form von „Kleingeld“ sparen. Solange die Menschen ihr gesamtes Einkommen für die aktuellen Produkte der Industrie ausgeben, kommt es in einer Marktwirtschaft langfristig unausweichlich zu Vollbeschäftigung. Betrachtet man Geld als Industrieprodukt wie jedes andere, so stellt das gesamte aktuell verdiente Einkommen eine Nachfrage nach aktuell hergestellten Industrieprodukten dar. Bei einem elementaren Vertrag fallen Zahlungs- und Lieferungstermin in ein- und demselben Datum zusammen. Es gibt zwei Kategorien von elementaren Verträgen: (1) elementare Kassageschäfte, bei denen Zahlung und Lieferung unmittelbar zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses erfolgen, und (2) elementare Termingeschäfte, bei denen Zahlung und Lieferung für ein ganz bestimmtes zukünftiges Datum vereinbart werden. Im richtigen Leben sind Geldverträge zwar oftmals etwas komplexer, doch kann man jeden komplexen Vertrag als Kombination aus elementaren Verträgen ver­ stehen. Wenn in einem Vertrag zum Beispiel eine Lieferung (und/oder Zahlung) zu ganz bestimmten, aufeinanderfolgenden Terminen vereinbart wird, so kann man das als eine Reihe elementarer Termingeschäfte verstehen, von denen jedes eine Lieferung (und/oder Zahlung) zu einem festgelegten Datum erforderlich macht. Liegt der Zahlungszeitpunkt kalendarisch nach dem Lieferzeitpunkt, so kann 5

­Keynes 1936, S. 132.

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

man den unterschiedlichen Zahl- und Liefertermin erklären, indem man feststellt, dass der Kaufvertrag einen elementaren Darlehensvertrag beinhaltete, in dem der Verkäufer (bzw. eine dritte Partei, wie z. B. eine Kreditkartenfirma, als Vermittler) dem Käufer für die Zeit zwischen Liefer- und Zahlzeitpunkt einen Kredit einräumt. Auf der klassischen Theorie fußende Lehrbücher gehen in aller Regel davon aus, dass Unternehmer ausschließlich „für den Markt“ produzieren. Das bedeutet, dass Firmen produzieren, ohne dass ihre Auftragsbücher voller Termingeschäfte und Bestellungen von Käufern wären. Der klassischen Wirtschaftstheorie nach werfen Unternehmer ihre Produkte auf den Markt, sobald sie produziert sind, und verkaufen sie auf dem Kassamarkt zu dem Preis, bei dem der Markt an jenem Tag geräumt wird. Diese Idee der „Produktion für den Markt“ lässt sich als „spekulative Produktion“ charakterisieren, da der Verkäufer in diesem Fall nicht weiß, welchen Preis er erzielen wird, wenn er seine Produkte auf den Markt wirft. Außerdem werden die von den Unternehmern auf den Markt geworfenen Produkte in der klassischen Theorie implizit als „leicht verderblich“ betrachtet und müssen daher sofort zum Markträumungspreis verkauft werden. Ist ein Produkt am Ende des Handelstages nicht verkauft, so die implizite Annahme, so „verdirbt“ es und kann deshalb nicht eingelagert und an einem anderen Tag verkauft werden. Im richtigen Leben sind die meisten Einzelhandelsgeschäfte Unternehmen, die für den Markt „produzieren“, das heißt Güter bei Herstellern einkaufen, bevor für diese Produkte Bestellungen von Käufern vorliegen. Sofern es sich dabei um Gebrauchsgüter handelt, kann der Einzelhändler sie jederzeit (mit gewissen Lagerhaltungskosten) in sein Inventar aufnehmen, falls an diesem Tag kein Käufer bereit ist, den geforderten Preis zu bezahlen. Zu Saisonende veranstalten viele Einzelhändler allerdings einen Schlussverkauf, bei dem die Verkaufspreise nicht selten 40 und mehr Prozent unter dem ursprünglichen Preis liegen. Die meisten produzierenden Unternehmen dagegen produzieren nicht „für den Markt“, sondern „auf Bestellung“, das heißt sie machen sich erst daran, die erforderlichen Produktionsmittel zu beschaffen und den Produktionsprozess zu planen, nachdem Vorausbestellungen eingegangen und Abnahmemenge, Lieferdatum und Kaufpreis vertraglich festgelegt sind. In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem produziert die große Mehrheit der Unternehmen „auf Bestellung“. Die Zeit verhindert, dass alles gleichzeitig passiert. Die Produktion erfordert Zeit. Den Produktionszeitraum definierte ­Keynes als „Zeit, die zwischen der Entscheidung, Beschäftigte anzustellen, Betriebsanlagen zu errichten und zu produzieren, und jenem Zeitpunkt verstreicht, da die Produkte ‚fertig‘ sind“.6 Nimmt 6 ­Keynes 1933b, S. 89. ­Keynes bezeichnete Konsumgüter als „fertig“, „wenn sie an den Konsumenten oder an einen Kapitalisten verkauft werden können, der sie zu Spekulationszwecken einzulagern gedenkt [um sie später auf dem Markt zu verkaufen]“ (1933b, S. 88);

II. Verträge, Märkte und Liquidität

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die Produktion eine nicht ganz unbedeutende Zeit in Anspruch, so wäre es töricht, wenn ein Unternehmer Beschäftigte einstellte und die übrigen erforderlichen Produktionsmittel erwürbe, ohne (1) über eine gangbare Methode, während des gesamten Produktionszeitraums die Kostenkontrolle über die Produktionsmittel zu gewährleisten, und (2) die nötige Liquidität zu verfügen, um die Produktionskosten zu stemmen. Die Kostenkontrolle behalten Unternehmer, indem sie (zu Beginn des Produktionszeitraums) Termingeschäfte mit ihren Angestellten und Lieferanten von Produktionsmitteln abschließen, in denen diese sich verpflichten, zu festgelegten Zeitpunkten bestimmte Dienstleistungen und Güter bereitzustellen. Mit der Abschaffung der Sklaverei ist der Arbeitsvertrag einer der am häufigsten eingesetzten Verträge geworden, die der Kostenkontrolle im Rahmen der Produktion dienen.7 Ist eine Firma willens, die mit der Einstellung von Beschäftigten und dem Erwerb von Produktionsmitteln verbundenen vertraglichen Verpflichtungen einzugehen, so muss sie „über ausreichend Geld verfügen, um während der Zeit, die verstreicht, ehe die Produktion sinnvollerweise und wirtschaftlich verkauft werden kann, die Löhne der Arbeiter zu bezahlen und Produktionsmittel von anderen Firmen zu erwerben“.8 Alle notwendigen Rohmaterialien und Ausgangsprodukte zu Beginn eines langen Produktionsprozesses per Kassageschäft zu erwerben und sofort liefern zu lassen wäre unwirtschaftlich, wären damit doch Lagerhaltungskosten und andere Erhaltungsaufwendungen für vieles verbunden, was erst in einer späteren Phase des Produktionsprozesses benötigt wird. Würde der Unternehmer auf der anderen Seite abwarten und Rohmaterialien oder Arbeitskräfte erst an jenem Tag auf einem Kassamarkt erwerben, an dem sie für den Produktionsprozess erforderlich sind, so würde er die Kontrolle über die Personal- und Materialkosten von vornherein aufgeben, da deren Preis zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt aus heutiger Sicht nicht zuverlässig vorhersagbar ist. Für den wirtschaftliche Betrieb eines Unternehmens, das mit langfristigen Produktionsprozessen zu tun hat, ist das Werkzeug des Termingeschäfts daher eine unabdingbare Voraussetzung.9 Der Erfolg des Automobilherstellers Toyota zum Beispiel wurde anfänglich auf Investitionsgüter sind „fertig“, wenn sie von Konsumenten als Konsumkapital (z. B. Häuser) oder von Produzenten als Investitionskapital verwendet werden können. 7 Bei Sklaven gibt es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit. 8 ­Keynes 1933b, S. 64. 9 Termingeldgeschäfte sind bei allen von Unternehmern organisierten Produktionsprozessen ein wichtiger Aspekt. Arrow und Hahn (1971, S. 356 f.) haben gezeigt, dass die klassische Theorie auf Wirtschaftssysteme, in denen Geldverträge geschlossen werden, nicht anwendbar ist, und dass die Entwicklung einer ‚ernstzunehmenden Geldtheorie‘ voraussetzt, die Bedeutung von Geldverträgen zu erklären. Es dürfte somit auf der Hand liegen, dass die klassische Theorie trotz ihrer Popularität bei neoklassischen und neokeynesianischen Ökonomen kein brauchbares Werkzeug darstellt, um die realen Probleme unseres auf Unternehmertum gegründeten, vertragsorientierten Wirtschaftssystems zu lösen, und dass sie keine ernstzunehmende Geldtheorie anzubieten hat.

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

seine innovative „Just-in-time-Methode“ der Bestandskontrolle zurückgeführt. Bei dieser Methode sorgte Toyota mit Hilfe von Termingeschäften dafür, dass der Terminplan der Zulieferer so genau auf den Produktionsprozess von Toyota abgestimmt war, dass man sich bei der Endmontage der Autos eine aufwändige Lagerhaltung von Teilen sparen konnte. Einige Industrieprodukte werden sowohl auf einem Kassa- als auch auf einem Terminmarkt verkauft. Der Verkauf von Zeitungen und Zeitschriften am Kiosk ist zum Beispiel ein Kassageschäft, während entsprechende Abonnements Termingeschäfte über eine spätere Lieferung darstellen, die mit einem Kassageschäft über die Bezahlung zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Abonnement­vereinbarung – also einem zinsfreien Darlehen des Käufers an den Verlag – verbunden sind. Auf dem Kassamarkt für Zeitungen und Zeitschriften dagegen, dem Kiosk, bestimmt in der Regel der Verlag den Preis, indem er sich bereit erklärt, dem Zeitungshändler alle nicht verkauften Zeitungen gutzuschreiben (sprich: zurückzukaufen). Diese vertragliche Zusicherung des Rückkaufs verhindert, dass der Preis gegen Ende des Tages fällt, um für die Räumung des Marktes zu sorgen. Auf diese Weise wird vermieden, dass der Markt für den Verkauf der Zeitungen und Zeitschriften von heute und morgen „verdorben“ wird. Was wir „Geld“ nennen, ist durch seine primäre Funktion als Mittel definiert, mit dem man vertragliche Verpflichtungen erfüllen kann. In einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld, in dem vertragliche Verpflichtungen mit Hilfe von Geld abgegolten werden, wird es für die meisten Entscheidungsträger zu einer wichtigen wirtschaftlichen Frage, über ausreichend Liquidität zu verfügen, d. h. sämtliche vertraglichen Verpflichtungen zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit erfüllen zu können. In einem auf Unternehmertum basierenden Wirtschaftssystem, in dem man sich jederzeit mit unvorhergesehenen Zahlungsverpflichtungen konfrontiert sehen kann, wird Liquidität in den Plänen aller Marktteilnehmer zu einer zentralen Erwägung. Lebte man in einem Wirtschaftssystem, wie es die klassische Theorie beschreibt, so käme der Frage der Liquidität keine Bedeutung zu, weil beispielsweise der allgemeinen Gleichgewichtstheorie von Walras zufolge sämtliche Verträge eine sofortige Zahlung nach sich ziehen, selbst wenn der Vertrag die Lieferung des Produkts zu einem späteren Zeitpunkt vorsieht. In unserem unternehmerisch geprägten Wirtschaftssystem schließen Arbeiter und andere Marktteilnehmer bereitwillig Termingeschäfte ab, die eine Geldzahlung zu einem späteren Zeitpunkt zusichern. Vorausgesetzt, dass alle diese Menschen gesetzestreu sind, können sie sich auf das Zivilvertragsrecht berufen, um ihre Ansprüche aus diesen in Produktion und Handel geschlossenen Termin­ verträgen durchzusetzen. Die Form, in der zukünftige Zahlungsverpflichtungen (wie z. B. die zukünftigen Produktionskosten, die zukünftigen Lebenshaltungskosten usw.) fällig werden, ist also ein bestimmter Geldbetrag. Da der Staat es ist, der dem Zivilvertragsrecht Geltung verschafft, bestimmt er auch, mit welchem Mittel Zahlungsverpflichtungen abgegolten werden, und da-

II. Verträge, Märkte und Liquidität

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mit, welche Rolle dem Geld in einer Volkswirtschaft zukommt. In der Regel erklärt der Staat Geld zum gesetzlichen Zahlungsmittel, mit dem alle Verpflichtungen aus Verträgen mit dem Staat oder Privatpersonen zu begleichen sind. Das gesetzliche Zahlungsmittel stellt jedoch nur einen Teil  des Geldes dar, das in einem Wirtschaftssystem im Umlauf ist. Darüber hinaus umfasst die verfügbare Geldmenge alles andere, was der Staat und/oder die Zentralbank als Zahlungsmittel zur Begleichung der Steuerschuld akzeptiert oder zu einem festen Wechselkurs gegen das gesetzliche Zahlungsmittel eintauscht. Da die Zentralbank bereit und in der Lage ist, das Guthaben auf Bankkonten jederzeit in Form von Bargeld auszuzahlen, sind heute in den meisten Ländern auch Bankkonten ein wesentlicher Teil des Umlaufvermögens. So lange die Geldinstitute ihrer Aufgabe nachkommen, die mit Produktion und Handel verbundenen Transaktionen zu verwalten, kann das, was der Staat zum Zahlungsmittel bestimmt, als Vehikel genutzt werden, um Kaufkraft aus der Gegenwart in die Zukunft zu übertragen; Geld gleicht also einer nur in eine Richtung funktionierenden Zeitmaschine zum Zweck der Wertspeicherung. So lange die Kosten für Aufbewahrung, Wertverlust usw. des Geldes niedriger sind als bei jedem anderen liquiden Mittel, liegt es nahe, sich einen Vorrat an Geld zuzulegen, um zukünftigen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Für den privaten Sektor ist Geld die Zeitmaschine für Liquidität schlechthin. Zusammengefasst erfüllt Geld zwei ganz konkrete Funktionen: Es dient (1) der Abgeltung vertraglicher Verpflichtungen, und (2) als Wertspeicher, das heißt als Zeitmaschine für Liquidität, mit der sich Kaufkraft in die Zukunft übertragen lässt. Angesichts der Bedeutung von Geldverträgen für die Organisation der Produktion und des Handels versetzt der Besitz von Geld jederzeit in die Lage, alles käuflich zu erwerben, was auf dem Markt zum Verkauf angeboten wird. Die Funktion des gesetzlichen Zahlungsmittels kann per definitionem kein anderes Gebrauchsgut als das Geld übernehmen. Die zweite Funktion des Geldes jedoch, die Liquiditätsfunktion, können zu unterschiedlichem Grad einige, wenn auch nicht alle, anderen Gebrauchsgüter übernehmen. So lange Ansprüche auf volkswirtschaftliche Ressourcen in erster Linie in Form von Geldverträgen geltend gemacht werden, kann jedes Gebrauchsgut mit vernachlässigbaren Lagerhaltungskosten einen gewissen Grad an Liquidität besitzen, wenn dieses Gebrauchsgut auf einem geregelten und geordneten Markt einfach und problemlos wieder verkauft (zu Geld gemacht) werden kann. So besitzen zum Beispiel Wertpapiere wie Aktien, Schuldverschreibungen, Derivate, Optionen usw., die jederzeit auf organisierten und geordneten Märkten weiterverkauft werden können, ebenfalls einen gewissen Grad an Liquidität. Damit ein Kassamarkt gut organisiert und geordnet ist, bedarf es eines „Marktpflegers“, dessen Hauptaufgabe darin besteht sicherzustellen, dass der Marktpreis sich von einem Augenblick auf den anderen höchstens im Einklang mit transparenten Regeln ändert, die dafür sorgen, dass Preisänderungen geordnet

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

ablaufen. Diese Aufgabe erfüllt der Marktpfleger dadurch, dass er immer dann einschreitet, wenn Marktkräfte den Marktpreis plötzlich und ungeordnet zu erhöhen oder zu senken drohen.10 Der Marktpfleger muss darauf vorbereitet sein, (1) das Wertpapier zu verkaufen, sooft die Kaufinteressenten (die „Bullen“) gegenüber den Verkaufswilligen (den „Bären“) überwältigend in der Mehrheit sind, und (2) zu kaufen, wenn die Bären die Bullen bei Weitem überwiegen. Gebrauchsgüter mit niedrigen oder vernachlässigbaren Lagerhaltungskosten, die auf solchen geregelten, geordneten Märkten gehandelt werden, bezeichnet man als liquide Mittel. Ein völlig liquides Mittel ist als Gebrauchsgut mit Ausnahme von Geld de­ finiert, das auf einem gut organisierten Markt gehandelt wird, auf dem die Marktteilnehmer „wissen“, dass der Marktpreis sich auf absehbare Zeit nicht ändern wird. Es muss daher einen Marktpfleger geben, der garantieren kann, dass der Preis des Wertpapiers auch dann gleich bleibt, wenn die Umstände sich ändern. Ein solches völlig liquides Mittel ist beispielsweise dann gegeben, wenn die Zentralbank einen festen Wert für eine Fremdwährung in Relation zur Inlandswährung, also einen festen Wechselkurs bestimmt. So lange die Zentralbank über ausreichende Reserven der Fremdwährung verfügt, kann sie, wenn sie will, einen „festen“ Wechselkurs garantieren. (Auf die Frage der festen und flexiblen Wechselkurse gehe ich im 8. und 9. Kapitel näher ein). Liquide Mittel sind Gebrauchsgüter mit geringen Lagerhaltungskosten, die man jederzeit auf einem geregelten, geordneten Markt verkaufen kann, auf dem der Marktpfleger keinen unveränderlichen Preis garantiert. Der Marktpfleger garantiert lediglich, dass Änderungen des Marktpreises geordnet und nach expliziten, transparenten Regeln erfolgen, an die der Marktpfleger sich hält. Bei liquiden Mitteln kann man niemals mit Sicherheit sagen, wie hoch im nächsten Augenblick der Marktpreis sein wird. Man weiß nur: So lange der Marktpfleger über einen ausreichenden Bestand des Wertpapiers und genügend Liquidität verfügt, um sein Versprechen eines geordneten Marktpreises aufrechtzuhalten, wird sich der Marktpreis im nächsten Augenblick nicht ungeordnet vom Marktpreis in diesem Augenblick entfernen. Illiquide Mittel sind per definitionem Gebrauchsgüter, für die es keinen gut organisierten und geordneten Kassamarkt gibt. Illiquide Gebrauchsgüter können, wenn überhaupt, nur schwer zu Geld gemacht werden, und können daher für Sparer nicht die Funktion einer Zeitmaschine für Liquidität übernehmen.

10 In dem Fall, dass sein Einschreiten die Marktpreisschwankungen nicht zu minimieren vermag, kann der Marktpfleger den Handel aussetzen, so dass keine Transaktionen mehr möglich sind, bis der Marktpfleger genügend Ressourcen organisiert hat, um den Preis auf dem wiedereröffneten Markt zu stabilisieren. In dem Zeitraum, in dem der Handel ausgesetzt ist, verliert das Wertpapier seine Liquidität.

II. Verträge, Märkte und Liquidität

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Von den unzähligen verfügbaren Zeitmaschinen für Liquidität, mit denen sich Kaufkraft in die Zukunft übertragen lässt, kommen für den Sparer somit nur liquide Mittel, völlig liquide Mittel und Geld in Frage. ­Keynes’ Schlussfolgerung, dass planvolles Sparen keine Nachfrage nach illiquiden, realen Investitionsgütern wie Produktionsanlagen erzeuge, sondern eine Nachfrage nach als Wertspeicher geeigneten liquiden Mitteln, steht in krassem Widerspruch zur Überzeugung klassischer Ökonomen, jede Erhöhung der Sparneigung der Haushalte ziehe eine entsprechende Steigerung der Nachfrage nach neu produzierten Investitionsgütern durch Unternehmer nach sich. Wäre die klassische Sichtweise auf die Realität anwendbar, so würden politische Maßnahmen, die unabhängig vom Einkommensniveau die Sparquote der Haushalte erhöhen, automatisch und unmittelbar die Investitionen steigern. Wenn „Wirtschaftsexperten“ im Fernsehen oder anderen Massenmedien behaupten, dass die Wirtschaft trotz mangelnder Vollbeschäftigung nur langsam wachse, weil die Bevölkerung nicht genug spare, so sollte man sich klarmachen, dass diese „Experten“ nicht von­ Keynes’ Sichtweise zur Funktionsweise einer Geldwirtschaft ausgehen, sondern von der klassischen Theorie. Von solchen Befürwortern der klassischen Theorie in die Irre geführt, fordern Politiker nicht selten gezielte Steueranreize, um die Menschen dazu zu bewegen, mehr zu sparen und weniger zu konsumieren. Dem liegt der Irrglaube zugrunde, dass eine größere Sparneigung unabhängig vom Einkommensniveau automatisch zu mehr Investitionen in Produktionsanlagen führt. Wenn ­Keynes’ These von der Liquiditätspräferenz auf unser Wirtschaftssystem zutrifft, so wird eine Politik, die auf eine höhere Sparquote und eine geringere Konsumneigung abzielt, unter ansonsten gleichen Bedingungen die aktuelle effektive Nachfrage nach Industrieprodukten verringern, die wirtschaftliche Dynamik schwächen und somit Arbeitsplätze kosten. So lange keine Vollbeschäftigung herrscht, führt jede Förderung der Konsumneigung zu einer Steigerung des Beschäftigungs- und Produktionsniveaus und somit zu einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung. So ging beispielsweise in den USA der erste Aufwärtstrend nach der Rezession von 2001 mit erheblichen Steuersenkungen einher, die eine Erhöhung der Konsumausgaben amerikanischer Haushalte bewirkten. Ab 2003 kam zu diesen Steuerleichterungen noch eine deutliche Steigerung der Militärausgaben in Folge des Einmarschs im Irak hinzu. Das Ergebnis: Im Jahr 2005 war die Sparquote der Haushalte in den USA sogar negativ (-0,5 Prozent), was bedeutet, dass die Privathaushalte durch Kreditaufnahme im Ausland und/oder Abschmelzung ihrer in liquiden Mitteln angelegten Ersparnisse im Durchschnitt mehr ausgaben, als sie einnahmen. Trotzdem konnten die USA 2005 ein ordentliches Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent verzeichnen, und in China, für dessen Konsumgüter die USA der wichtigste Absatzmarkt ist, lag das Wachstum sogar bei fast 10 Prozent. Wie ich in den folgenden Kapiteln erläutern werde, ging die Steigerung des chinesischen Wachstums auf die Zuwachsraten beim Export zurück, die sich wiederum

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

auf die höhere Nachfrage nach in China hergestellten Konsumgütern durch Haushalte in den USA zurückführen lassen (eine Nachfrage, die schneller stieg als die Einkommen). Die im Gegensatz zur klassischen Theorie stehende Beschreibung von ­Keynes, wonach Sparer Menschen seien, die einen Teil ihres Einkommens für den Kauf nicht herstellbarer, liquider Kapitalanlagen (einschließlich von Geld)  ausgäben, führt uns vor Augen, dass unsere unternehmerisch geprägte, marktorientierte Geldwirtschaft nicht der Welt entspricht, die die klassische Theorie beschreibt. In Letzterer spielt Liquidität keine Rolle und eine höhere Sparneigung bedeutet implizit eine größere Nachfrage nach Investitionsgütern, die in der Gegenwart für Vollbeschäftigung und in der Zukunft für mehr Produktivität und schnelleres Wirtschaftswachstum sorgt. ­Keynes schrieb dazu: „Es ist das Wesen einer unternehmerisch geprägten Wirtschaft, dass das …, womit die Produktionsfaktoren abgegolten werden [Geld], für etwas anderes ausgegeben werden kann als für aktuelle Produkte.“11 Das Say’sche Gesetz der klassischen Theorie dagegen unterstellt, dass das, womit die Produktionsfaktoren abgegolten werden, stets vollständig für aktuelle Industrieprodukte ausgegeben wird. Da sie berücksichtigt, dass nicht herstellbare Güter wie Geld und liquide Kapitalanlagen als Wertspeicher dienen, erklärt K ­ eynes’ Liquiditätstheorie, welche Folgen die Entstehung von Finanzmärkten, auf denen Mittelmänner als „Marktpfleger“ fungieren, für die Realwirtschaft hat. Nur vor dem Hintergrund dieser (post-)keynesianischen Herangehensweise an das Verhältnis zwischen Ersparnissen und Finanzmärkten können wir verstehen, warum 1. Geld nicht nur als Mittel zur Abgeltung von vertraglichen Ansprüchen nachgefragt wird, sondern auch als liquider Wertspeicher, das heißt als Vehikel, mit dem sich Ersparnisse (allgemeine Kaufkraft) in die Zukunft transferieren lässt; 2. Anteile an Investitionsgütern (Dividendenpapiere), Schuldverschreibungen und andere liquide Kapitalanlagen mit vernachlässigbaren Nebenkosten, die auf geregelten und geordneten Kassamärkten gehandelt werden, in erster Linie als liquider Wertspeicher nachgefragt werden, nicht als Mittel, um Kontrolle über die zugrunde liegenden, realen Investitionsgüter zu erlangen. Die meisten Besitzer von Blue-Chip-Aktien haben bestenfalls eine vage Vorstellung von den Produkten und der Verkaufsplanung der Unternehmen, die sie da (mit)besitzen. Daher gibt es in jedem unternehmerisch geprägten Wirtschaftssystem mit hochentwickelten Finanzmärkten eine institutionelle Trennung zwischen dem Eigentum an und der Kontrolle über Unternehmen12; 11

­Keynes 1933b, S. 85. Seit A. A. Berle und G. C. Means (1932) hat die angewandte Volkswirtschaftslehre in dieser Trennung von Eigentum und Kontrolle ein wichtiges Problem hochentwickelter, kapitalistischer Volkswirtschaften erkannt. Da der klassischen Theorie die Unterscheidung zwi 12

II. Verträge, Märkte und Liquidität

101

3. Produktionsmittel (Investitionsgüter) sind illiquide Vermögenswerte, die Unternehmer in erster Linie nachfragen, um bestimmte Güter und Dienstleistungen zu produzieren, von denen sie sich erhoffen, dass sie sich verkaufen und zu ganz bestimmten zukünftigen Zeitpunkten eine Rendite abwerfen. In einer Volkswirtschaft mit hochentwickelten Finanzmärkten, in der die Bevölkerung Vertrauen in den Staat und das von ihm ausgegebene Geld hat, werden produzierbare Gebrauchsgüter nicht als Wertspeicher für generalisierte Kaufkraft nachgefragt. In einer von Ungewissheit geprägten (nichtergodischen) Welt haben Geld und ­ eynes beschriebenen wesentalle anderen liquiden Vermögenswerte die von K lichen Eigenschaften, nämlich dass ihre Produktions- und Substitutionselastizität vernachlässigbar oder gleich Null ist. Wenn Sparer ihre „Ersparnisse“ in Form von Geld oder anderen liquiden Mitteln anlegen, so verbraucht diese Nachfrage nach Liquidität keine realen Ressourcen. Die Anleger beziehen Genugtuung (Nutzen) aus der Gewissheit, dass der Besitz liquider Vermögenswerte ihre Angst beschwichtigt, sie könnten Insolvenz beantragen müssen, weil sie irgendwann die fälligen vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen können. So lange nicht herstellbare liquide Vermögenswerte (einschließlich von Geld) nicht durch herstellbare Güter substituierbar sind, kann keine relative Preisänderung Einkommensbezieher dazu bringen, jenen Teil ihres Einkommens, den sie aus Sicherheitsgründen in die Steigerung ihrer Liquidität investieren möchten, für den Kauf von Produktionsgütern zu verwenden. Um es mit Frank Hahn zu sagen: „Es gibt in dieser Volkswirtschaft andere Ruheorte für Ersparnisse als re­ produzierbare Vermögenswerte.“13 Die Nachfrage nach Liquidität ist daher der eigentliche Grund, weshalb es unfrei­willige Arbeitslosigkeit gibt. Um zu erklären, weshalb eine unternehmerisch geprägte Geldwirtschaft außerstande ist, für Vollbeschäftigung zu sorgen, sind mögliche Wettbewerbsverzerrungen, die Existenz von Gewerkschaften, ein gesetzlicher Mindestlohn usw. weder notwendige noch hinreichende Bedingungen. Der Wunsch, einen Teil des Einkommens in Form von Geld und anderen liquiden Mitteln zu sparen, ist dagegen eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass es selbst in einer Volkswirtschaft, in der freier Wettbewerb herrscht und die Preise frei beweglich sind, zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen kann.14

schen Zeit- und Liquiditätspräferenz fremd ist, überrascht es nicht, dass die Theoretiker des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams zu diesem „Eigentum vs. Management“-Problem wenig Erhellendes beigetragen haben. Eine eindeutige Folge dieser Trennung von Eigen­ tümerschaft und Management sind Skandale um Unternehmensbosse, die sich auf Kosten der Anleger bereichert haben (etwa im Fall Enron). 13 Hahn 1977, S. 31. 14 So lange manche Einkommensbezieher sparen, indem sie liquide Vermögenswerte erwerben, kann Vollbeschäftigung nur dadurch erreicht werden, dass andere genügend aus­ geben, um die Sparneigung auszugleichen.

102

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

III. Liquidität und Verträge Trotzdem kann man sich die Frage stellen: „Hilft es uns, die reale Welt zu verstehen, wenn wir anstelle des breiteren axiomatischen Fundaments der klassischen ­ eynes zurückgreifen?“ Theorie auf das schlankere axiomatische Fundament von K Die Antwort lautet eindeutig ja. Denn nur wenn wir die genannten drei Axiome der klassischen Theorie über Bord werfen, kann das Konzept der Liquidität in unserer Analyse jene wichtige Rolle spielen, die ihm auch in unserem Leben zukommt. Wichtige Produktions-, Investitions- und Konsumentscheidungen müssen oft in einem unsicheren (nichtergodischen) Umfeld getroffen werden. Mit Geld Investitionen zu tätigen und mittels Termingeschäften Produkte einzukaufen ist eine Vorgehensweise, die Menschen sich ausgedacht haben, um zeitaufwändige Produktions- und Handelsabläufe effizient zu organisieren. In einer solchen markt- und produktionsorientierten Geldwirtschaft führt das Prinzip des Laissez-faire häufig nicht zu Vollbeschäftigung, sondern zu Arbeitslosigkeit. Um Produktions- und Handelsvereinbarungen zwischen eigennützigen Individuen zu besiegeln, greift das Wirtschaftssystem, in dem wir leben, nicht auf Tauschverträge zurück, sondern auf Geldverträge. Die Allgegenwärtigkeit von Geldverträgen ist ein grundlegendes Kennzeichen aller realen, unternehmerisch geprägten Volkswirtschaften. Haben zwei Parteien einen Vertrag zu einem Preis geschlossen, der nicht dem Gleichgewichtspreis entspricht, bei dem Vollbeschäftigung herrschte, so ist es außerdem dem Zivilvertragsrecht zufolge unter keinen Umständen möglich, die Vertragsbedingungen zu ändern, ohne sich eine Konventionalstrafe einzuhandeln (wohingegen solche Änderungen ein entscheidendes Charakteristikum des Allgemeinen Gleichgewichtsmodells nach Walras darstellen). Warum, könnte man fragen, halten Volkswirtschaften daran fest, Produktion und Handel mit Hilfe von Geldverträgen zu organisieren, wenn dadurch das Er­reichen einer gesellschaftlichen Idealsituation verhindert wird, die ein nach den Erkenntnissen von Arrow, Debreu und Walras gestaltetes Wirtschaftssystem jederzeit erreicht? Die Verbreitung von Geldverträgen hat Vertreter der klassischen Theorie schon immer in Erklärungsnot gebracht. Aus klassischer Sicht kann man den universellen Einsatz von Geldverträgen in modernen Volkswirtschaften bei logisch konsequenter Betrachtung nur als irrational bezeichnen, da solche Vereinbarungen über festgelegte, nominelle Zahlungen zu bestimmten Zeitpunkten dem eigen­nützigen Streben wirtschaftlicher Entscheidungsträger im Weg stehen können, ihr Realeinkommen zu maximieren. Vertreter des ökonomischen Mainstreams erklären die Existenz von Geldverträgen gerne unter Verweis auf nicht ökonomische Gründe wie gesellschaftliche Gebräuche, unsichtbare Handschläge usw. – institutionelle gesellschaftliche Bedingungen, die die Übermittlung von Preissignalen und damit langfristige Anpassungen im Sinne des optimalen Einsatzes von Ressourcen behindern. Für K ­ eynes und für Postkeynesianer dagegen sind bindende nominelle vertragliche Vereinbarungen im Rahmen von langfristigen wirtschaftlichen Aktivitäten

III. Liquidität und Verträge

103

eine vernünftige Methode, um mit der völligen Ungewissheit der Zukunft zurechtzukommen. Wenn Produktion und Handel auf der Grundlage von Geldverträgen organisiert sind, müssen sich Käufer weniger Sorgen darüber machen, was die Zukunft bringen mag, so lange sie über ausreichend Liquidität verfügen bzw. sich verschaffen können, um ihre vertraglichen Verpflichtungen abzugelten, sobald sie fällig werden. In einer auf Unternehmertum und Verträgen beruhenden Geldwirtschaft sichert Liquidität demnach das Überleben. Zur Insolvenz dagegen kommt es, wenn man erhebliche, vertraglich geregelte Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen kann. Eine Insolvenz ist wirtschaftlich gleichbedeutend mit dem Gang aufs Schafott. Dass ­Keynes in seiner Allgemeinen Theorie die Rolle des Geldes und der Liquidität betont, bedeutet dass Marktteilnehmer, die im laufenden Abrechnungs­ zeitraum Ausgaben zu tätigen planen, in einem auf Unternehmertum beruhenden System aktuell nichts verdienen bzw. verdient haben müssen, um etwas nachfragen zu können. Alles, was diese Kaufinteressenten brauchen, ist ausreichend Liquidität, um ihren Zahlungsverpflichtungen aus Geldverträgen bei Fälligkeit nachkommen zu können. So lange genügend ungenutzte Ressourcen zur Verfügung stehen, werden Investitionsausgaben – die wir normalerweise mit der Nachfrage nach Anlagegütern und Produktionsmitteln assoziieren – daher nicht vom laufenden Einkommen bzw. dem geerbten Vermögen begrenzt. Man kann Investitionen als eine Art exogenen Ausgabenstrom betrachten, der in einem Geld produzierenden Bankensystem ausschließlich vom erwarteten zukünftigen monetären (nicht dem realen) Geldzufluss begrenzt wird15, auf dessen Grundlage die Banken willens sind, zusätzliche Kredite an Unternehmer auszugeben, damit diese über genügend Liquidität verfügen, um während des Produktionsprozesses der Investitionsgüter ihren vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Angestellten und Lieferanten nachkommen zu können. In einer Welt, in der Geldschöpfung normalerweise nur dadurch möglich ist, dass jemand seine Schulden bei Banken erhöht, um neu produzierte Güter zu erwerben, werden so lange Investitionsausgaben getätigt, so lange davon auszugehen ist, dass neu produzierte Investitionsgüter zukünftige Gewinne abwerfen, deren diskontierter aktueller Wert (abzüglich der Betriebsausgaben) den Zahlungsausgängen (den Aufwendungen für den laufenden Erwerb von Investitionsgütern) entspricht oder diese übersteigt. Damit eine Komponente der aggregierten Nachfrage nicht vom laufenden Einkommen begrenzt wird, müssen die Marktteilnehmer also über Ersparnisse in Form von liquiden Mitteln verfügen oder in der Lage sein, Anschaffungen durch Kreditaufnahme bei einem Bankensystem zu finanzieren, das Geld drucken kann. Dieses postkeynesianische Finanzierungsinstrument, das mit Hilfe einer Erhöhung der nominellen Geldmenge eine größere Nachfrage nach Produktionsgütern 15

Vgl. ­Keynes 1936, 17. Kapitel.

104

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

finanziert, führt zu einer Steigerung des Beschäftigungsniveaus. Geld kann daher nicht neutral sein, und es kann endogen erzeugt werden. Um das Axiom der Geldneutralität zu verwerfen, muss man den Marktteilneh­ eynes festmern nicht unterstellen, sie unterlägen der Geldwertillusion. Wenn K stellt, Geld sei nicht neutral16, so meint er damit, dass Geld- (und Liquiditäts-) fragen sowohl kurz- als auch langfristig das Gleichgewichtsniveau von Beschäftigung und Produktion beeinflussen. Wenn die orthodoxen Theoretiker als Grundlage jeglicher Wirtschaftstheorie nicht so beharrlich auf der Neutralität des Geldes bestünden, so hätte die Ökonomie vielleicht erkannt, dass Geld in einer auf Unternehmertum basierenden Geldwirtschaft, die Produktion und Handel mit Hilfe von Kassa- und Termingeschäften organisiert, ein reales Phänomen ist, und dass das Axiom der Geldneutralität verworfen werden muss. Arrow und Hahn haben wie erwähnt indirekt zugestanden, dass das Axiom der Geldneutralität über Bord geworfen werden muss, indem sie betonten: „Wenn die Grundlage von Verträgen die Geldwirtschaft ist, kommt dem in Geld ausgedrückten Preis eines Gutes eine besondere Bedeutung zu. In einem Wirtschaftssystem ohne Vergangenheit oder Zukunft ist das nicht der Fall. […] Wollte man eine ernstzunehmende Theorie des Geldes schreiben, so müsste darin die Tatsache, dass Verträge auf der Grundlage der Geldwirtschaft geschlossen werden, besondere Beachtung finden“.17 Werden Produktions- und Handelsverträge auf der Basis von Geld geschlossen (so dass Geld Einfluss auf reale Entscheidungen hat), so zeigen Arrow and Hahn außerdem auf, dann ist in einem Wirtschaftssystem, das sich auf einem Zeitstrahl aus der Vergangenheit kommend in die Zukunft bewegt, die Gültigkeit aller Theoreme der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie fraglich. Die Existenz von Geldverträgen – ein charakteristisches Merkmal der Welt, in der wir leben – impliziert, dass es weder kurz- noch langfristig eines Gleichgewichts mit rationalen Erwartungen oder eines markträumenden Preisvektors im Sinne der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie bedarf.18 Die neoklassische Theorie und die Allgemeine Gleichgewichtstheorie sind keine tragfähige Grundlage für die Analyse realer Volkswirtschaften, in denen das wirtschaftliche Leben mit Hilfe von Geld und Geldverträgen abgewickelt wird.

IV. Die Rolle der Finanzmärkte Wie man die Aktivitäten auf den Finanzmärkten interpretiert und welche politische Haltung man zu ihrer Regulierung hat, ist abhängig von der Wirtschaftstheorie, auf die man sich (explizit oder implizit) stützt, um die Funktion der Finanz 16

Vgl. ­Keynes 1935c, S. 411. Arrow/Hahn 1971, S. 356 f. (Hervorhebung d. Verf.). 18 Vgl. Arrow/Hahn 1971, S. 361. 17

IV. Die Rolle der Finanzmärkte

105

märkte in einer unternehmerisch geprägten Volkswirtschaft zu erklären. Dazu gibt es im Wesentlichen zwei Theorien, die zu völlig unterschiedlichen politischen Handlungsempfehlungen führen: (1) die klassische Markteffizienztheorie und (2) ­Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie. Die Markteffizienztheorie ist das Rückgrat der gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise. Ihr Mantra lautet, der Markt wisse am besten, wie die knappen Ressourcen an Realkapital optimal eingesetzt werden können, um das Wirtschaftswachstum zu maximieren. Der klassischen auf dem Axiom der Ergodizität beruhenden Sicht zufolge stehen in der Gegenwart „wirtschaftliche Rahmendaten“ zur Verfügung, die alle nötigen Informationen liefern, um zutreffende („rationale“) Erwartungen bezüglich des zukünftigen Angebots an und der Nachfrage nach Wertpapieren abzuleiten, die auf sämtlichen Finanzmärkten im In- und Ausland gehandelt werden. Angesichts der Verfügbarkeit dieser zuverlässigen Informationen über die Zukunft werden rationale Entscheidungsträger den Markt aus Eigeninteresse dazu zwingen, auf den internationalen Handelsplätzen den „richtigen“ Gleichgewichtspreis bzw. -wechselkurs festzusetzen, der langfristig dafür sorgt, dass das Wirtschaftssystem sich auf einem effizienten Wachstumspfad Richtung Vollbeschäftigung entwickelt. Alle (von Vertretern der Ökonometrie oft als „Hintergrundrauschen“ (white noise) bezeichneten) Abweichungen von diesem Idealweg der wirtschaftlichen Entwicklung werden auf „zufällige Erschütterungen“ des Systems zurückgeführt, die durch das geistesgegenwärtige Einschreiten gut informierter, rationaler Marktteilnehmer rasch ausgeglichen würden. Indem zu beobachtende Abweichungen vom angenommenen Idealweg, sprich Preis- und Produktions- (bzw. Beschäftigungs-)schwankungen, zu bloßem „Hintergrundrauschen“ erklärt werden, geht diese Theorie implizit davon aus, dass diese Abweichungen der Produktion (und/oder der Preise) vom berechneten, flexiblen Durchschnitts- (Gleichgewichts-?) preis keinen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung haben, obwohl sie in erheblichem Umfang zu False trading, Insolvenzen und anderen Ereignisse auslösen, die die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung in eine andere Richtung lenken können. Auf den Punkt gebracht wird die Sichtweise der Markt­ effizienztheorie von einer Äußerung des Ökonomen und ehemaligen US-Finanz­ ministers Lawrence Summers, wonach „die wichtigste gesellschaftliche Funktion“ der Finanzmärkte darin bestehe, „Risiken zu streuen, die Investition knapper Kapitalressourcen zu steuern und die Informationen, über die die verschiedenen Marktteilnehmer verfügen, zu verarbeiten und weiterzuverbreiten […]. Preise sind stets ein Spiegel des eigentlichen Werts. […] Die Logik effizienter Märkte ist zwingend.“19 Die große Akzeptanz, die die Markteffizienzhypothese beim ökonomischen Mainstream fand, verhinderte die Heranziehung von ­Keynes’ psychologischer Liquiditätspräferenztheorie, um die Funktion inländischer Finanzmärkte und internationaler Wechselkursmärkte für das Wirtschaftssystem zu erklären. Und das, 19

Summers/Summers 1989, S. 166.

106

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

obwohl immer mehr empirische Belege dafür zusammengetragen werden, dass das Verhalten der Marktteilnehmer auf realen Finanzmärkten mit der Effizienzmarkttheorie weder kurz- noch langfristig vereinbar ist. So untersuchte Robert Shiller das langfristige Verhältnis zwischen tatsächlichem Aktienkurs und ausgeschütteter Dividende zwischen 1889 und 1981 in den USA. Die Schwankungen der Preisindizes an den Aktienmärkten, so das Ergebnis, seien zu groß, als dass sie mit der Effizienzmarkthypothese in Einklang gebracht werden könnten.20 In den Jahrzehnten seither ist Shillers Analyse von Vertretern des Mainstreams nie glaubhaft widerlegt worden.21 Die Bemerkung des Vorsitzenden der Federal Reserve in den 1990er Jahren, Alan Greenspan, zum „irrationalen Überschwang“ der Börsenhausse in den USA während der Präsidentschaft von Bill Clinton wurde nach dem Zusammenbruch des US-Aktienmarkts 2001 zu einer abgedroschenen Phrase. Seither verweist die ständige Diskussion über „Spekulationsblasen“ im Fernsehen, in Finanzzeitungen wie dem Wall Street Journal und in Debatten in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften auf eine schizophrene Haltung ökonomischer Theoretiker des Mainstreams im Hinblick auf die Funktionsweise inländischer und internationaler Finanzmärkte. Diese Ökonomen gestehen bereitwillig ein, dass Finanzmärkte kurzfristig von irrationalen Spekulationsblasen geplagt sein können – was sie offenbar jedoch nicht an dem Glaubenssatz zweifeln lässt, dass alle Märkte lang­ fristig effizient seien. Theorien zu Spekulationsblasen versuchen die „exzessiven“ Schwankungen des Marktpreises, die auf Kassamärkten häufig zu beobachten sind, im Kontext einer vorgegebenen externen Realität zu erklären, die allen wirtschaftlichen Vermögenswerten einen grundlegenden Wert zuschreibt. Ist eine Blase im Sinne der klassischen Theorie „rational“, so halten die Entscheidungsträger beim Marktpreis des nächsten Abrechnungszeitraums eine positive Abweichung vom „intrinsischen“ Wert (d. h. vom „tatsächlichen“ Wert eines Papiers, der auf der Grundlage von Rahmendaten bestimmt wird, die ihrerseits von vorprogrammierten, unveränderlichen Systemparametern abgeleitet sind) für wahrscheinlich. Der aktuelle Marktpreis spiegelt nicht nur diese Wahrscheinlichkeit wider, sondern die Annahme, dass es in jedem zukünftigen Abrechnungszeitraum ad infinitum zu einer noch größeren Abweichung kommen wird. So lange Theoretiker sich auf ein offenes Wirtschaftsmodell stützen, gibt es keine Grenzen dafür, wie weit die Marktwerte von auf Grundlage der Rahmen­ bedingungen berechneten Werten abweichen dürfen. Eine solche Analyse von „Blasen“ stützt sich zwar scheinbar auf das Gleichgewichtsmodell der rationalen Erwartungen, ist jedoch mit dem logischen Fundament der Theorie der rationalen Erwartungen, derzufolge subjektive Einschätzungen (im Hinblick auf ihre Wahr 20 21

Vgl. Shiller 1981. Vgl. Shiller 2000.

IV. Die Rolle der Finanzmärkte

107

scheinlichkeit) der objektiven Wahrscheinlichkeitsverteilung intrinsischer, objektiver Bewertungen entsprechen, völlig unvereinbar. Wären die Erwartungen der Menschen rational, so spiegelte der aktuelle Marktpreis eines Vermögenswertes stets statistisch verlässlich seinen intrinsischen Wert (bzw. seine objektive Realität) wider. Hinzu kommt, dass die aktuellen Erwartungen bei einem Gleichgewicht mit rationalen Erwartungen – insofern als Daten aus der Vergangenheit die verlässlichen Informationen liefern, auf denen die Erwartungen von heute beruhen – stets auf die Vergangenheit (und nicht auf die Zukunft) bezogen sind. Schon die Bezeichnung „Blase“ hingegen legt nahe, dass die überhöhten Bewertungen früher oder später „platzen“ werden: Die Abweichung vom intrinsischen Wert wird nicht auf Ewigkeit Bestand haben; langfristig wird sich der intrinsische Wert auf dem Markt durchsetzen. Beim Versuch, die Literatur zu Spekulationsblasen und die Theorie der Markteffizienz in Einklang zu bringen, so Glickman, gelange man zu dem Ergebnis, dass die Theorie der Spekulationsblasen keinerlei Erklärung anzubieten habe, „warum es zu zukünftigen Abweichungen kommt oder warum Marktteilnehmer mit derartigen Abweichungen rechnen sollten […]. Die Argumentation ist daher nicht mehr als eine neoklassische Abstraktion, die aktuelle Probleme auf eine ungewisse und unbestimmte Zukunft abwälzt.“22. Die spekulative Theorie der Spekulationsblasen ermöglicht es, auf unbestimmte Zeit an übermütigen, aber falschen Vorhersagen des intrinsischen Werts von Vermögenswerten festzuhalten, indem man den auf lange Sicht unvermeidlichen Tag der Abrechnung auf die ferne Zukunft verschiebt. Doch bislang konnte niemand überzeugend darlegen, wie eine Abfolge kurzfristiger Blasen langfristig für absolut effiziente Finanzmärkte sorgen soll. ­ eynes, die wirtschaftliche ZuWenn wir akzeptieren, dass das Argument von K kunft sei ungewiss und nicht vorhersehbar (sprich: nichtergodisch), auf unsere Erfahrungswelt zutrifft, so kann die Markteffizienztheorie auf reale Finanzmärkte nicht anwendbar sein. ­Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie zufolge können flexible Preisveränderungen auf inländischen und internationalen Finanzmärkten eine (irrationale?) Eigendynamik entwickeln, während die als Marktpfleger fungierende Institution lediglich versucht, bezüglich der Veränderungen der Marktpreise für Ordnung (Stabilität) zu sorgen. Das Platzen der Blase impliziert in der Regel, dass der Marktpfleger die Flut der Verkaufswilligen nicht aufhalten kann und der Marktpreis ungeordnet fällt. Im Unterschied zu den Spekulationsblasentheoretikern rief K ­ eynes seinen Lesern in Erinnerung: „Wir dürfen hieraus nicht schließen, dass alles von Wellen irrationaler Psychologie abhängt. […] Wir wollen uns lediglich erinnern, dass menschliche Entscheidungen, welche die Zukunft beeinflussen, ob persönlicher,

22

Glickman 1994.

108

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

politischer oder wirtschaftlicher Art, sich nicht auf strenge mathematische Erwartung stützen können, weil die Grundlage für solche Berechnungen nicht besteht.“23 In der Logik von ­Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie besteht die Hauptfunktion von Finanzmärkten nicht darin, für Effizienz zu sorgen, sondern für Liquidität. Ein liquider Markt muss geordnet sein. Wenn die Blase zu platzen droht und der Marktpfleger über keinen ausreichend großen Bestand des Wertpapiers oder genügend Geld verfügt, um einen geordneten Handel zu garantieren, kommt es bei diesem Wertpapier zu einem signifikanten Verlust an Liquidität. Kann der Marktpfleger der Flut der Verkaufsanweisungen nicht Herr werden, so dass der Preis ungeordnet zu fallen beginnt, so wird der Handel auf einem gut organisierten Finanzmarkt in der Regel ausgesetzt. Dieses vorübergehende Aussetzen des Handels bezeichnet man häufig als „Volatilitätsunterbrechung“ (Circuit Breaker). So lange der Handel ausgesetzt bleibt, büßt das Wertpapier zwar seine Liquidität ein; der Marktpfleger gewinnt so jedoch Zeit, um bis zur Wiedereröffnung des Marktes genügend Ressourcen zu sammeln, um die Ordnung wiederherzustellen. Wenn ­Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie der geordneten Finanzmärkte zutrifft, so können die nationalen und internationalen Finanzmärkte das Effizienzver­ sprechen der Markteffizienztheorie niemals einlösen, weder kurz- noch langfristig. Peter L. Bernstein ist Autor des Buches „Wider die Götter“, einer Abhandlung über Risikomanagement, Wahrscheinlichkeitstheorie und Finanzmärkte. Die für die Finanzmärkte der realen Welt relevante Theorie ist für Bernstein nicht die Markteffizienz-, sondern die Liquiditätspräferenztheorie. „Der entscheidende Fehler der Markteffizienzhypothese“, so Bernstein, „liegt darin, dass es so etwas wie einen [effizienten] Gleichgewichtspreis nicht gibt […] [E]in Markt kann nur dann effizient sein, wenn es Gleichgewichtspreise gibt und wenn diese bekannt sind.“24 Mit anderen Worten: Für Bernstein ist die Markteffizienztheorie auf reale Finanzmärkte nicht anwendbar. Ohne liquide Wertpapiermärkte jedoch „hätte der Versuch einer häufigen Neubewertung eines Investments, an dem wir beteiligt sind, keinen Zweck“,25 da ein rascher Ausstieg unmöglich wäre. Wären Kapitalmärkte völlig illiquide, so gäbe es keine Trennung zwischen Eigentum und Kontrolle. Sobald ein gewisses Volumen an Realkapital gebunden wäre, hätten die Eigentümer dieser illiquiden Vermögenswerte einen starken Anreiz, unabhängig von den Umständen nach dem bestmöglichen Einsatz des bestehenden Realkapitals zu suchen. In diesem Fall würden sich Finanzmärkte vielleicht eher so verhalten wie von der Markt­ effizienztheorie postuliert. Wenn die Markteffizienztheorie auf die liquiden Finanzmärkte der Realität nicht anwendbar ist, dann kommt Staaten bei der Sicherung der Stabilität nationaler und 23

­Keynes 1936, S. 138 (Hervorhebungen d. Verf.). Bernstein 1998b, S. 132 (Hervorhebung im Original); vgl. auch Bernstein 1998a. 25 ­Keynes 1936, S. 128. 24

IV. Die Rolle der Finanzmärkte

109

internationaler Finanzmärkte eine wichtige Funktion zu. „Ein effizienter Markt ist ein Markt ohne Liquidität“, schreibt Bernstein26, eine Lektion, die sich vor allem die Politik zu Herzen nehmen sollte. Eine umsichtige Kontrolle des Kapitals, das in einen bestimmten Markt investiert bzw. von ihm abgezogen wird, kann für mehr Effizienz sorgen, indem unvermittelte Veränderungen der Nachfrage nach Liquidität abgefedert werden, die sich negativ auf die Realwirtschaft auswirken könnten. Doch seit den 1970er Jahren hat Summers „zwingende“ Logik von der Effizienz des Marktes Staaten als Rechtfertigung gedient, die nach dem Krieg allgegenwärtigen Kapitalbeschränkungen auf den Finanzmärkten abzubauen. Diese „Liberalisierung“ der Finanzmärkte, so die Argumentation, werde für eine sinnvolle Verteilung des Kapitals und für mehr Effizienz sorgen, da sie die realen Kosten von Kapital senken und (im Vergleich zu den Jahren zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1973, in denen die meisten Länder, einschließlich der USA, internationale Kapitalströme eingeschränkt hatten) zu einem höheren Ausstoß und einer größeren Produktivitätssteigerung führen werde.27 Wie steht es mit den Fakten? Untermauern sie den Ruf der Markteffizienz­ theorie nach Liberalisierung der Finanzmärkte? In den späten 1990er Jahren, als die Währungen der asiatischen Tigerstaaten einknickten, brach der russische Bär unter seiner Schuldenlast zusammen und die Angst, auch der brasilianische Real könnte ins Trudeln kommen, drohte die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund zu reißen. Alle fragten sich, ob es möglich war, dass es am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Neuauflage der Weltwirtschaftskrise kommen konnte. Keynes notierte dazu: „Spekulanten mögen als Luftblasen auf einem ste­ ten Strom des Unternehmertums keinen Schaden anrichten. Aber die Lage wird ernst, wenn das Unternehmertum die Luftblase auf einem Strudel der Spekulation wird.“28 Vergleicht man die Marktentwicklung in den USA vor und nach 1973, so kommt man zu dem Schluss, dass das Unternehmertum seit 1973 allmählich in den Sog eines sich immer schneller drehenden Strudels der Spekulation geraten ist. Nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg verfolgten die Staaten fast ein Vierteljahrhundert lang eine aktive Wirtschaftspolitik, die eine Regulierung der inländischen Finanzmärkte zum Ziel hatte. In Bretton Woods einigte sich die Welt 1944 auf die Schaffung des Internationalen Währungsfonds, einer Institution, die über die Aufrechterhaltung stabiler internationaler Wechselkurse wachen sollte. Darüber hinaus begrenzten die meisten Staaten, wann immer sie es für nötig erachteten, Staatsgrenzen überschreitende Kapitalströme. 26

Bernstein 1998a, S. 23. Im Juli 1963 führten die Vereinigten Staaten auf durch Inländer (mit Ausnahme von Kanadiern) getätigte Käufe von ausländischen festverzinslichen Wertpapieren die „Interest Equalization Tax“ (IET) ein. Je nach Fälligkeit lag der Steuersatz zwischen 0 und 150 Basispunkten. Im August 1971 wurde die Konvertierbarkeit des Dollar ausgesetzt, und 1973 schloss Nixon das „Goldfenster“. 1974 wurde die IET offiziell abgeschafft. 28 ­Keynes 1936, S. 135. 27

110

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

In Folge dieser umsichtigen Politik, insbesondere im Hinblick auf die internationalen Finanzmärkte, lag das Pro-Kopf-Wachstum in den kapitalistischen Staaten auf einem zuvor nie dagewesenen Niveau, das auch seither kaum je wieder erreicht wurde (vgl. Tabelle 7.1.).29 Adelman hat diese „keynesianische“ Ära des unerreichten Wirtschaftswachstums in der Nachkriegszeit als „Goldenes Zeitalter der wirtschaftlichen Entwicklung […]“ bezeichnet, „eine Ära, in der es sowohl in Industrie- als auch Entwicklungsländern zu einem nie dagewesenen, nachhaltigen Wirtschaftswachstum kam.“ Zwischen 1950 und 1973 betrug das durchschnittliche Pro-Kopf-Wachstum in den OECD-Staaten „fast genau das Doppelte der bis dahin höchsten beobachteten Wachstumsrate zur Zeit der Industriellen Revolution. Die Produktivitätssteigerung übertraf die zur Zeit der Industrialisierung in OECD-Staaten um mehr als das Dreifache (Faktor 3,75).“30 Tabelle 7.1 Reales BIP (Jahreswachstumsrate) Reales BIP pro Kopf Zeitraum

Welt

OECD-Länder

Entwicklungsländer

1700–1820

n.v.

0,2 %

n.v.

1820–1913

n.v.

1,2 %

n.v.

1919–1940

n.v.

1,9 %

n.v.

1950–1973

n.v.

4,9 %

3,3 %

1973–1981

n.v.

1,3 %

n.v.

1981–1990

1,2 %

2,2 %

1,2 %

1991–1993

-0,4 %

0,6 %

2,6 %

1993–2002

2,7 %

2,0 %

3,0 %

1998–2005

2,8 %

1,9 %

4,2 %

Zeitraum

Welt

Industrienationen

Entwicklungsländer

1950–1973

n.v.

5,9 %

5,5 %

1973–1981

5,1 %

4,8 %

6,9 %

1981–1990

3,4 %

2,9 %

5,0 %

1991–1993

2,8 %

2,9 %

2,4 %

1993–2002

2,2 %

1,9 %

5,0 %

1998–2005

3,9 %

2,5 %

5,0 %

Reales BIP insgesamt

Anmerkung: n.v. = nicht verfügbar Quellen: Adelman (1991); IWF, World Economic Outlook (1999, 2002, 2006). 29 Die enormen Wachstumsraten, die Entwicklungsländer seit 1998 verzeichnen, gehen zu einem großen Teil auf die Öffnung Chinas und anderer südostasiatischer Staaten für den Welthandel zurück, sowie auf die Politik Chinas, das Bevölkerungswachstum so stark wie möglich einzudämmen. 30 Adelman 1991, S. 15.

V. Die Finanzmärkte und ­Keynes’ Liquiditätstheorie

111

Der daraus resultierende Wohlstand in den Industriestaaten kam über den Welthandel, Entwicklungshilfe und direkte Investitionen auch weniger gut entwickelten Staaten zugute. Wie Tabelle 7.1. zu entnehmen ist, lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Wachstum in den Entwicklungsländern zwischen 1950 und 1973 bei 3,3 Prozent, fast dreimal so hoch wie in den Industrieländern zur Zeit der Industriellen Revolution. Das aggregierte Wirtschaftswachstum der Entwicklungsländer von 5,5 Prozent stand dem der Industrieländer (5,9 Prozent) kaum nach. Das deutlich niedrigere Pro-Kopf-Wachstum ergibt sich aus dem schnellere Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern. 1973 jedoch war ­Keynes’ analytische Herangehensweise an die Frage, wie man das Funktionieren eines marktorientierten, unternehmerisch geprägten Wirtschaftssystems verbessert, bei Politikern, ihren Beratern in Wirtschaftsfragen und den meisten Ökonomen an den Universitäten in Vergessenheit geraten, und so fielen auch seine wirtschaftspolitischen Rezepte in Ungnade. Wie Tabelle 7.1. zeigt, verlief die wirtschaftliche Entwicklung in den kapitalistischen Volkswirtschaften in den 25 Jahren nach 1973 sehr viel trostloser als in den 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die jährlichen Zuwachsraten bei den Investitionen in Produktionsanlagen gingen in OECD-Staaten von 6 Prozent (vor 1973) auf 3 Prozent (seit 1973) zurück. Die geringeren Wachstumsraten bei den Investitionen gingen in den Ländern der OECD mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums (von 5,9 auf 2,5 Prozent) und einer dramatischen Verlangsamung bei der Zunahme der Arbeitsproduktivität (von 4,6 auf 1,6 Prozent) einher.

V. Die Finanzmärkte und ­Keynes’ Liquiditätstheorie So lange Kapitalanlagen einfach und schnell verkauft werden können, gehen die Marktteilnehmer in unserer Erfahrungswelt davon aus, dass die Finanzmärkte eine nie versiegende Quelle der Liquidität sind. In einer Welt, in der die wirtschaftliche Zukunft ungewiss ist, sind die Preise auf den Finanzmärkten tendenziell stabil, so lange die Marktteilnehmer die Konvention akzeptieren, „daß die bestehende Geschäftslage unendlich andauern wird, soweit wir nicht besondere Gründe für die Erwartung einer Änderung haben“.31 Eine „praktische Theorie der Zukunft“ ruht demnach „auf einem wenig soliden Fundament, sie ist plötzlichen und heftigen Veränderungen unterworfen. Die gewohnte Ruhe und Unbeweglichkeit, die vertraute Gewissheit und Sicherheit, bricht urplötzlich zusammen. Ohne Vorwarnung bemächtigen sich neue Ängste und Hoffnungen des menschlichen Verhaltens. Die Kräfte der Desillusionierung können unvermittelt eine neue konventionelle Grundlage der Wertzuschreibung schaffen.“32 31

­Keynes 1936, S. 129. ­Keynes 1937, S. 114 f.

32

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

Im wirklichen Leben ist es ein wichtiger Teil des wirtschaftlichen Handelns, den monetären Wert des eigenen Bestandes an liquiden (verkäuflichen) Wert­ papieren gegen unvorhergesehene und unvorhersehbare Volatilität auf den Finanzmärkten (insbesondere gegen Abwertungstendenzen) abzusichern. So lange der Handel auf den Finanzmärkten geordnet abläuft, verfügt jeder Besitzer von auf diesen Märkten gehandelten Wertpapieren über eine schnelle Ausstiegsstrategie, da er davon ausgeht, seine Anteile an liquiden Vermögenswerten (sprich: seine Wertpapiere) sobald er feststellt, dass der Markt eine neue konventionelle Grundlage der Wertzuschreibung schafft als die von ihm erwartete, zu einem Preis verkaufen zu können, der nur unerheblich vom letzten notierten Marktpreis abweicht. In der heutigen, von unmittelbarer globaler Kommunikation geprägten Welt muss jeder Manager eines Portfolios innerhalb von Sekunden entscheiden, wie andere Marktteilnehmer seiner Meinung nach auf ein Ereignis irgendwo auf der Welt reagieren werden. Jedes Ereignis kann zur Folge haben, dass man den Marktwert des eigenen Portfolios subjektiv plötzlich völlig anders einschätzt. Spekulationen über die voraussichtliche Reaktion anderer Marktteilnehmer können ein sich selbst verstärkendes und rechtfertigendes Lemmingverhalten auslösen. Wenn in einem nichtergodischen System genügend Marktteilnehmer die gleichen „unzutreffenden“ Erwartungen haben33, kann das dazu führen, dass fast alle Marktteilnehmer versuchen, möglichst schnell auszusteigen. Das kann jede private Institution, die als Marktpfleger fungiert, überfordern, und dadurch in der Zukunft sogar für noch mehr Volatilität sorgen.34 Die ersten „irrationalen“ Lemminge, die in den Liquiditätsozean springen, ertrinken womöglich gar nicht, sondern haben die Gelegenheit, in Zukunft weitere Fehler zu machen und noch mehr Sprünge in den Liquiditätsozean anzuführen.

VI. Die Notwendigkeit geordneter Märkte Finanzmärkte stellen nur dann Liquidität zur Verfügung, wenn sie ein geordnetes, wohlorganisiertes Umfeld darstellen, in dem Kapitalanlagen problemlos wieder verkauft werden können. Allerdings wiegen geordnete, liquide Finanzmärkte Investoren in dem Glauben, sie hätten eine schnelle „Ausstiegsstrategie für den Fall, dass sie mit dem Gang der Dinge unzufrieden sind. Ohne Liquidität wäre das Risiko, als Minderheitsaktionär zu investieren, untragbar.“35 Für Sparer, die Kaufkraft in die Zukunft übertragen wollen, ist jedes liquide Mittel eine Zeitmaschine für Liquidität mit Wertspeicherungsfunktion. Da sie das liquide Mittel verkaufen müssen, wenn sie zu einem zukünftigen Zeitpunkt etwas erwerben wollen, hat jedes liquide Mittel einen geringeren Grad an Liquidität als 33

Vgl. Stiglitz 1989. Vgl. Arestis/Sawyer 1998, S. 188 f. 35 Bernstein 1998a, S. 18. 34

VII. Aufschwünge und Rezessionen

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Geld. Trennt ein Sparer sich also von Geld, um ein liquides Mittel zu kaufen, so ist er offensichtlich überzeugt, dass das liquide Mittel ihm einen Zusatznutzen in Form von Zinsen, Dividenden und/oder einen Kapitalgewinn durch einen steigenden Marktpreis bietet, der ihn für den Verlust an Liquidität gegenüber Geld angemessen entschädigt. Im Übrigen sind Besitzer liquider Mittel sicher, dass sie für den Fall, dass der Marktpreis für eine gewisse Zeit signifikant, aber geordnet sinkt, über eine schnelle Ausstiegsstrategie verfügen, da sie das Wertpapier jederzeit zu einem Preis abstoßen können, der sich nur unerheblich vom zuletzt notierten Marktpreis unterscheidet. Diese schnelle Ausstiegsmöglichkeit gibt dem Sparer das beruhigende Gefühl, dass er für den Fall, dass sich seine Erwartungen bezüglich der Wertentwicklung des Wertpapiers als falsch erweisen, Schadensbegrenzung betreiben und seinen geldwerten Verlust vergleichsweise gering halten kann.

VII. Aufschwünge und Rezessionen Wenn der Zweck von Finanzmärkten hauptsächlich darin besteht, Liquidität zur Verfügung zu stellen, so werden zu Zeiten, da an den Finanzstimmung eine Haussestimmung bezüglich der ungewissen Zukunft vorherrscht, steigende Kurse die Sparer dazu animieren, so viel Liquidität zur Verfügung stellen, dass unternehmerisch denkende Investoren große Summen für neue Investitionsprojekte ausgeben, die (1) ihre aktuellen Einnahmen bei weitem übersteigen und (2) überschäumende Gewinnerwartungen auslösen. Die Folge ist ein Investitionsboom. Tauchen nach einiger Zeit plötzlich Zweifel an diesen euphorischen Erwartungen auf, so wird sich eine Baissestimmung breit machen, und der Aufschwung wird in eine Rezession umschlagen. Gewinnt die Baissestimmung die Oberhand, kann es zu einer exzessiven Nachfrage nach Liquidität kommen, die selbst dann eine Produktion neuen Investitionskapitals verhindert, wenn genügend ungenutzte Ressourcen vorhanden sind, mit deren Hilfe man problemlos neue Realkapitalgüter produzieren könnte. Die entscheidende Botschaft von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie lautet, dass eine zu große Nachfrage nach Liquidität verhindern kann, dass „gesparte“ (d. h. ungenutzte)  Ressourcen zur Produktion von Investitionsgütern verwendet werden. Diese Ressourcen bleiben ungewollt ungenutzt. Vertreter des „Neuen K ­ eynesianismus“ wie Joseph Stiglitz36 und Lawrence Summers37 haben in den Fußstapfen des „alten“ ­Keynesianers James Tobin38 argumentiert, eine Wertsteuer auf Finanztransaktionen, d. h. eine Steuer, die einem fixen Prozentsatz des Marktwerts entspricht, sei aus gesellschaftlicher Sicht wün 36

Vgl. Stiglitz 1989. Vgl. Summers/Summers 1989. 38 Vgl. Tobin 1974; s. auch Eichengreen/Tobin/Wyplosz 1995. 37

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

schenswert, weil sie die zu beobachtende Volatilität auf unseren „hocheffizienten Finanzmärkten“39 reduzieren werde. So betonten Eichengreen, Tobin und Wyplosz nachdrücklich, dass durch Spekulation ausgelöste kurzfristige Kursschwankungen auf den Devisenmärkten „reale ökonomische Konsequenzen“ haben können, „die einzelne Branchen oder ganze Volkswirtschaften zugrunde richten“ könnten. Um derartige Spekulation einzudämmen, schlugen die drei Ökonomen eine weltweite Transaktionssteuer vor, die kurzfristige Transaktionen zu Spekulations­zwecken unattraktiv machen sollte. Eine derartige Steuer werde den „hocheffizienten Finanzmärkten“ des globalen Finanzsystems Sand ins Getriebe streuen. ­ eynesianern alter und neuer Couleur erkannte K ­ eynes, Im Gegensatz zu vielen K dass es in ein Dilemma führt, wenn man den Liquidität zur Verfügung stellenden Finanzmärkten mittels einer Transaktionssteuer Sand ins Getriebe streut. Eine solche Steuer, so ­Keynes, „stellt uns aber vor ein Dilemma, indem es uns zeigt, dass die Liquidität der Investmentmärkte den Zulauf neuer Investments zwar manchmal aufhält, aber andererseits auch oft erleichtert“.40 Welche Marktbedingungen können – abgesehen von der gezielten Intervention eines Marktpflegers – auf realen Finanzmärkten für geordnete Kursbewegungen sorgen? „Es ist beachtenswert, dass die Stabilität des [Finanz-]Systems und seine Empfindlichkeit […] so sehr vom Bestehen einer Mannigfaltigkeit von Meinungen über das, was unsicher ist, abhängig sein sollte. Am besten wäre es, wenn wir die Zukunft kennen würden. Wenn das aber nicht möglich ist, ist es wichtig, dass die Meinungen voneinander abweichen, wenn wir die Tätigkeit des Wirtschaftssystems […] lenken wollen.“41 Anders ausgedrückt: Die denkbar beste Garantie für stabile Finanzmärkte wäre ein ergodisches System. „Wenn wir die Zukunft kennen würden“, könnten wir sie mit versicherungsmathematischer Genauigkeit vorausberechnen. So lange alle Marktteilnehmer in ihrem eigenen, statistisch berechneten Eigeninteresse handelten, wäre die Markteffizienz gewährleistet. In dieser hypothetischen Welt der klassischen Theorie bedürfte es keiner schnellen Ausstiegsstrategie. Ist das System dagegen nichtergodisch, so ist es unmöglich, mathematische Gewissheit zu erlangen und die Risiken nach ihrer rationalen Wahrscheinlichkeit zu streuen – laut Summers eine Kernfunktion effizienter Märkte. Die zweitbeste Lösung besteht daher darin, eine substanzielle Zahl von Marktteilnehmern zu ermuntern, kontinuierlich gegenläufige Erwartungen bezüglich der Zukunft zu hegen, so dass jeder kleine Kursgewinn eine spürbare Erhöhung der Verkaufsneigung bewirkt, und jeder kleine Kursverlust eine Erhöhung des Kaufinteresses. Im Ergebnis ist so ohne nennenswerte Intervention des Marktpflegers eine ge­ordnete

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Eichengreen/Tobin/Wyplosz 1995, S. 164. ­Keynes 1936, S. 136. 41 ­Keynes 1936, S. 146. 40

VII. Aufschwünge und Rezessionen

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Entwicklung des (Verkaufs-)Preises auf dem Kassamarkt und damit ein hoher Grad an Liquidität42 gesichert. Wenn es auf dem privaten Sektor zu einem plötzlichen Stimmungswandel kommt, so dass viele „auf den fahrenden Zug aufspringen“, dann erfordert die Sicherung der Preisstabilität eine Begrenzung der Kapitalströme in den Markt hinein und/oder aus dem Markt heraus, um die „Bären“ daran zu hindern, ihren Bestand zu schnell zu liquidieren (oder die herandrängenden „Bullen“ aufzuhalten), denn das könnte die (private oder staatliche) Institution, die die verantwortungsvolle Aufgabe wahrnimmt, als Marktpfleger für einen „geordneten Ablauf“ zu sorgen, überfordern. Kapitalverkehrskontrollen erfüllen die gleiche Funktion wie Gesetze, nach denen es verboten ist, in einem vollen Theater „Feuer!“ zu rufen. Ohne derartige Einschränkungen der Redefreiheit kann das Gedränge am Ausgang mehr Schaden verursachen als es ein Brand jemals könnte. Obwohl sie gewillt sind, die „zwingende Logik“ der Markteffizienztheorie zu akzeptieren, schleicht sich im Hinblick auf reale Finanzmärkte in die Modelle von Tobin und seinen neokeynesianischen Anhängern unweigerlich der gesunde Menschenverstand ein – zu Lasten der logischen Konsequenz dieser Modelle. Um die Probleme des internationalen Finanzsystems unserer Tage zu lösen, treten manche „­Keynesianer“ daher für die sogenannte „Tobinsteuer“ ein. Die Volatilität auf unregulierten internationalen Finanzmärkten mit flexiblen Wechselkursen, warnte James Tobin, könne „verheerende Auswirkungen auf einzelne Branchen und ganze Volkswirtschaften“ haben.43 Tobin rät, mit Hilfe einer kleinen „Tobinsteuer“ die Transaktionskosten für internationale Zahlungen zu erhöhen und so Kursschwankungen zu begrenzen. Tobins Problembeschreibung ist korrekt – doch leider zeigt die Empirie, dass durch eine Erhöhung der Transaktionskosten die gemessene Marktvolatilität nicht ab-, sondern signifikant zunimmt.44 Außerdem hält eine Tobinsteuer anders als von Tobin vorausgesagt Spekulanten nicht von kurzfristigen Geschäften ab.45 Die Tobinsteuer ist also die falsche Antwort auf das wachsende Spekulationsproblem auf den internationalen Finanzmärkten.

42 Nur in einer nichtergodischen Welt wie unserem unternehmerisch geprägten Wirtschafts­ system ist es sinnvoll, komplexe Produktions- und Handelsprozesse mit Hilfe von nominalen Verträgen (vgl. Davidson 1994) zu organisieren, um den Unternehmern ein gewisses Maß an Kontrolle über die Geldströme in einer ansonsten ungewissen Zukunft zu geben. Die wichtigste Funktion organisierter Finanzmärkte besteht in einer solchen Welt darin, Liquidität zur Verfügung zu stellen, indem sie es ermöglichen, Vermögenswerte auf einem geordneten Markt wieder zu verkaufen. Erst in zweiter Linie haben moderne, „hocheffiziente“ Finanzmärkte einen Einfluss auf die Verteilung von neuem Kapital auf die verschiedenen Branchen, und die Verteilung des Kapitals durch die Märkte ist nicht durch irgendwelche unveränderlichen wirtschaftlichen Rahmendaten vorgegeben. 43 Vgl. Tobin 1974. 44 Vgl. Davidson 1997. 45 Vgl. Davidson 1997.

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

(In den folgenden Kapiteln erläutere ich K ­ eynes’ Vorschläge zur Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte. Vorher jedoch möchte ich näher auf die Implikationen unterschiedlicher theoretischer Ansätze zur Frage der Gewissheit oder Ungewissheit im Hinblick auf die externe Realität unserer wirtschaftlichen Zukunft eingehen.)

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt, unveränderlich und ergodisch erfassbar, oder nichtergodisch, nicht erfassbar und veränderbar? Man kann wirtschaftswissenschaftliche Theorien auf Grundlage dessen klassifizieren, wie sie mit der Frage des Wissens über die wirtschaftliche Zukunft umgehen. Je nachdem, ob sie annehmen, dass die Zukunft unveränderlich ist, oder voraussetzen, dass sie durch menschliches Handeln verändert werden kann, teilt Tabelle 7.2. verschiedene Theorien in Kategorien ein. Bei den Ansätzen, die eine unveränderliche Zukunft postulieren, kann man unterscheiden zwischen Theorien, denen zufolge die Wirtschaftssubjekte die wirtschaftliche Zukunft „kennen“ (Typ 1), und Theorien, denen zufolge die Zukunft zwar vorprogrammiert ist, die Wirtschaftssubjekte jedoch unter einer gewissen epistemologischen Ungewissheit leiden (Typ 2). Die klassischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts nahmen an, Marktteilnehmer bewegten sich in einer von absoluten Gewissheiten charakterisierten Welt und verfügten daher über genaue Kenntnis einer vorprogrammierten externen Realität, die das gesamte wirtschaftliche Geschehen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimme. Das externe wirtschaftliche Umfeld galt ihnen insofern als unveränderlich, als es durch menschliches Handeln nicht verändert werden könne. Genau wie die Bahn der Planeten den Gesetzen der klassischen Mechanik Newtons gehorchten, so sei auch der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung von ewigen, unveränderlichen Naturgesetzen bestimmt. Die meisten Vertreter des ökonomischen Mainstreams heute sprechen zwar nicht mehr von absoluter Gewissheit, akzeptieren es wie Samuelson und Lucas jedoch als universelle Wahrheit, dass eine prädeterminierte Realität existiert, die entweder mit Hilfe von unveränderlichen, objektiven Wahrscheinlichkeitsfunktionen vollständig beschrieben werden kann oder durch die Existenz einer umfassenden Reihe von Kassa- und Terminmärkten eindeutig determiniert ist.46 Diese 46 Samuelson (1969, S. 104 f.) und Lucas/Sargent (1981, S.  xii) haben die Akzeptanz des Axioms der Ergodizität und damit einer prädeterminierten Zukunft zur notwendigen Bedingung für eine wissenschaftliche ökonomische Methodik erklärt. Walras (1874) und Debreu (1959) postulieren für jedes Gut und jeden Tag von heute bis in alle Ewigkeit einen umfassenden Satz an Kassa- und Terminmärkten, beziehungsweise, stochastisch ausgedrückt, einen umfassenden Satz an probabilistischen, bedingten Märkten, die alle zukünftigen Ereignisse determinieren.

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

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Tabelle 7.2. Konzepte zur externen wirtschaftlichen Realität A. Unveränderliche Realität Typ 1. Die Zukunft ist sowohl kurz- als auch langfristig bekannt oder zumindest erfassbar. Beispiele: (a) Klassische, von absoluter Gewissheit ausgehende Theorien wie das allgemeine Gleichgewichtsmodell von Léon Walras. (b) Vergleichbare Theorien, die von aktuarischer Gewissheit ausgehen, und die neoklassische Theorie der rationalen Erwartungen (c) Einige Theorien des Neuen ­Keynesianismus, die auf der Theorie der rationalen Erwartungen aufbauen Typ 2. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der Informationsverarbeitung durch den Menschen und Computer ist die Zukunft kurzfristig nicht vollständig bekannt. Beispiele: (a) Theorie der begrenzten Rationalität (b) Theorie der Ungewissheit von Frank Knight (c) Wert-Erwartungstheorie von L. J. Savage (d) Einige Theorien der Österreichischen Schule (e) Einige Modelle des Neuen ­Keynesianismus (z. B. die Theorien zum Koordinationsver­ sagen) (f) Chaostheorie, Sonnenfleckentheorie und Spekulationsblasentheorien (g) Post-walrasianische Theorien B. Veränderliche bzw. kreative Realität Die Zukunft ist ontologisch ungewiss. Einige Aspekte der wirtschaftlichen Zukunft er­geben sich durch menschliches Handeln in der Gegenwart und/oder Zukunft. Beispiele: (a) ­Keynes’ Allgemeine Theorie und die postkeynesianische Geldtheorie (b) Die Arbeiten von Sir John Hicks nach 1974 (c) Die Analyse essentieller Experimente von G. L. S. Shackle

Wirtschaftsnobelpreisträger behaupten unbewiesenermaßen, dass der Gang der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung unveränderlich und die zukünftigen Folgen aller denkbaren Entscheidungen prädeterminiert (d. h. naturgesetzlich vorgegeben) seien. Das schließt nicht aus, dass eine Volkswirtschaft ständig in Bewegung ist und sich im Lauf der Zeit verändert. Aber es bedeutet, dass alle zukünftigen Bewegungen und Veränderungen durch die grundlegenden Parameter eines Systems, das langfristig durch menschliches Handeln nicht beeinflusst werden kann, bereits vorherbestimmt sind. In einem solchen Umfeld ist, um es mit Shakespeare zu sagen, die ganze Wirtschaftswelt eine Bühne und alle Männer und Frauen bloße Spieler, die ihren Text aus einem vom unveränderlichen Wirtschaftssystem bereits vorgegebenen Skript ablesen. Vertreter der Theorie der rationalen Erwartungen behaupten im Gegensatz zu den Protagonisten der klassischen Theorie nicht, alle Marktteilnehmer in ihren

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

Modellen besäßen ein lückenloses Wissen über die Realität. Ihre Modelle setzten lediglich voraus, dass die Marktteilnehmer auf der Grundlage aktueller Preissignale des Marktes subjektive Wahrscheinlichkeiten berechnen, die statistisch belastbare Annäherungen an die „echte“, objektive Wahrscheinlichkeitsfunktion darstellen, die den zukünftigen Gang der Ereignisse bestimmt. Aus Marktdaten der Gegenwart und/oder Vergangenheit abgeleitete subjektive Wahrscheinlichkeiten können jedoch nur dann statistisch belastbare Schätzungen liefern, wenn das Wirtschaftssystem ergodisch ist. Alle Modelle der Theorie der rationalen Erwartungen beruhen somit auf dem Axiom der Ergodizität. Im weiteren Sinn läuft das Axiom der Ergodizität auf die Annahme eines vorprogrammierten, stabilen, konservativen Systems hinaus, in dem die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unabhängig davon prädeterminiert sind, ob das System stochastisch ist oder nicht.47 Eine in sich konsistente (Walras’sche) Allgemeine Gleichgewichtstheorie, die anerkennt, dass es eine wirtschaftliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, muss die Existenz eines relativen Preisvektors für mehrere Perioden postulieren, der es Marktteilnehmern ermöglicht, ihr Wohlergehen über einen längeren Zeitraum hinweg zu maximieren.48 Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman jedoch würde argumentieren: selbst wenn die Marktteilnehmer die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse nicht berechnen oder nicht berechnen können – diejenigen, die Entscheidungen getroffen haben, die sich als wirtschaftlich erfolgreich erweisen, haben sich so verhalten, „als ob“ sie die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten richtig eingeschätzt hätten, das heißt „als ob“ sie verlässliche Stichproben der Zukunft erhoben hätten.49 Wenn es stimmt, dass die wirtschaftliche Zukunft unveränderlich ist, dann kann die Gesellschaft ebensowenig Gesetze erlassen, die die prädeterminierte Zukunft beeinflussen, wie ein Parlamentsbeschluss Naturgesetze wie das Gesetz der Schwerkraft oder die Wahrscheinlichkeitsverteilung eines fairen Roulettespiels außer Kraft setzen kann. Einer solchen ergodischen Sicht der Realität zufolge haben Menschen keinerlei Möglichkeit, ihre langfristige wirtschaftliche Zukunft zu beeinflussen.50 Außerdem kann auch der Staat nicht über mehr „Informationen“ verfügen, als sich Individuen in einem freien Markt beschaffen können. Die Annahme der Ergodizität stellt die Rationalisierung einer rhetorischen Frage dar, wie sie Ronald Reagan gestellt haben könnte: „Warum sollten irgendwelche Büro­ kraten in Washington besser über die Verwendung Ihres Geldes entscheiden können als Sie selbst?“

47

Vgl. Davidson 1991. In Abhängigkeit vom jeweiligen Zustand der Welt. 49 Axiomatische Allgemeine Gleichgewichtstheorien in nicht-stochastischer Form schreiben ökonomischen Prozessen in der Regel die Eigenschaften eines konservativen Systems zu. Das Bindeglied zwischen der intrinsischen Stabilität solcher konservativen Systeme und der Theorie ergodischer Prozesse ist der Satz von Liouville. 50 Vgl. Lawson 1988. 48

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

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Die einzigen Probleme, die Theoretiker einer unveränderlichen Realität zu lösen haben, sind: 1. Wie und zu welchen Kosten kommen Menschen an verlässliche Informationen, um aus aktuellen Marktsignalen die Zukunft abzuleiten? 2. Wenn die Rechenkapazität jedes einzelnen Marktteilnehmers nicht ausreicht, um statistisch belastbare bedingte Wahrscheinlichkeiten (bzw. Entscheidungsgewichte) zu berechnen, wenn sich also jeder Marktteilnehmer einer epistemologisch ungewissen Zukunft gegenübersieht, gibt es dann einen nicht menschlichen Deus ex Machina, der die Daten verarbeitet und die relevanten Wahrscheinlichkeiten und Vorhersagen liefert, die in einem ergodischen System prinzipiell verarbeitbar sind? 3. Wenn es eine solche gottgleiche Maschine nicht gibt – wie treffen die Menschen dann Entscheidungen, obwohl sie, zumindest kurzfristig, über wenige oder gar keine Informationen über die vorprogrammierte Zukunft verfügen? (Langfristig sind diejenigen, die unzutreffende Vermutungen über die vorprogrammierte Zukunft anstellen, in einem Marktumfeld zum Scheitern verurteilt. Folglich werden in unweigerlich sozialdarwinistischer Marnier nur diejenigen überleben, deren Vermutungen sich als mit der vorprogrammierten Zukunft als kompatibel erweisen.) Um diese Fragen zu beantworten, haben orthodoxe Ökonomen verschiedene Varianten von zwei grundlegenden Modellen der unveränderlichen Realität entworfen (vgl. Tabelle 7.2.). Der Unterschied zwischen den Theorien von Typ 1 und Typ 2 liegt in einer epistemologischen Annahme bezüglich der Frage, ob und, wenn ja, wie viele verlässliche Informationen über die unveränderliche Realität Marktteilnehmer kurzfristig beschaffen und verarbeiten können. Theorien einer unveränderlichen Realität vom Typ 1 setzen voraus, dass das unmittelbare Anfangswissen über die zukünftige Entwicklung entweder perfekt oder zumindest statistisch belastbar ist. Daher können Entscheidungsträger die nötigen Berechnungen anstellen, um „effiziente“ und „rationale“ Entscheidungen zu treffen. Zu den Modellen vom Typ 1 gehören die klassischen, von absoluter Gewissheit ausgehenden Modelle wie Léon Walras’ Allgemeine Gleichgewichtstheorie, alle neoklassischen und neukeynesianischen Modelle, die den Marktteilnehmern rationale Erwartungen unterstellen, sowie alle anderen Modelle, denen zufolge Marktteilnehmer bereits heute mit aktuarischer Genauigkeit „wissen“, wie die Zukunft sich entwickeln wird. Theorien einer unveränderlichen Realität vom Typ 2 gehen davon aus, dass die Marktteilnehmer auf kurze Sicht nur bruchstückhaft oder sogar überhaupt nicht über die Realität Bescheid wissen, da es ihnen aufgrund ihrer begrenzten Fähigkeiten (das heißt der beschränkten menschlichen Informationsverarbeitungskapazität) unmöglich ist, historische Zeitreihendaten zu nutzen (zu sammeln und zu analysieren), um auf kurze Sicht verlässliche Informationen zu allen zukünf-

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

tigen wirtschaftlichen Variablen zu erhalten. „Post-Walrasianer“, schreibt David Colander, der davon überzeugt ist, dass die Zukunft der Wirtschaftstheorie in post-walrasianischen Theorien liegt, „setzen geringe Informationsverarbeitungsfähigkeiten und dürftige Informationen voraus“.51 Dieser Definition zufolge sind post-walrasianische Theorien den Theorien einer unveränderlichen Realität vom Typ 2 zuzurechnen, ist das Kennzeichen aller Theorien vom Typ 2 doch die menschliche Unkenntnis über einige Aspekte der unterstellten unveränderlichen Realität. Die „lange Sicht“ wird traditionell als der Zeitpunkt definiert, zu dem die Pläne aller Marktteilnehmer verwirklicht sind und keine Vorhersagefehler auftreten. Oder, wie Milton Friedman schreibt: „Das langfristige Gleichgewicht, in dem, wie ich zu sagen pflege, ‚alle Erwartungen erfüllt‘ sind, und das ‚von der frühen Quantitätstheorie und Walras’ Gleichungen zum allgemeinen Gleichgewicht‘ bestimmt ist […], ist ein logisches Konstrukt, das den Trend definiert, zu dem [die tatsächliche Welt] zurückzukehren geneigt ist.“52 Alle Theorien einer unveränderlichen Realität nehmen an, dass die Realität allen erfolgreichen Marktteilnehmern auf lange Sicht offenbar wird, bzw. dass erfolgreiche Marktteilnehmer sich zumindest so verhalten, „als ob“ sie diese Realität kennen. Ist die Realität tatsächlich unveränderlich, so ist der bereits zitierte Satz von Mankiw leicht nachvollziehbar: „Langfristig betrachtet liegt die Klassische Ökonomie richtig. Auch sind Ökonomen heute stärker am langfristigen Gleichgewicht interessiert.“53 Milton Friedman und einige andere Ökonomen betrachten das langfristige Gleichgewicht als ein „Gravitationszentrum“, von dem das System angezogen wird, das es aber möglicherweise nie erreichen wird. Als logisches Konstrukt muss die „lange Sicht“ sich jedoch irgendwann einstellen, außer a)  der Analyst postuliert kontinuierliche „Erschütterungen“ des Systems durch äußere Einflüsse, oder b) der Analyst wählt ein offenes Modell, bei dem die „lange Sicht“ aufgrund der zeitlichen Begrenzungen des Modells nie eintritt. In der Regel haben Modelle einer unveränderlichen Realität vom Typ 2 eine subjektivistische, kurzfristige Ausrichtung. Die Marktteilnehmer mögen subjektive, probabilistische Erwartungen aufbauen, doch auf kurze Sicht müssen diese Erwartungen nicht mit den postulierten unveränderlichen, objektiven Wahrscheinlichkeiten zusammenfallen. Auf kurze Sicht können heutige Entscheidungsträger daher im Hinblick auf die ungewisse (d. h. mit Wahrscheinlichkeitsrisiken behaftete) Zukunft Fehler machen. Aus diesen Fehlern sollten die Marktteilnehmer jedoch „lernen“, so dass die subjektiven Wahrscheinlichkeiten bzw. Entscheidungsgewichte sich allmählich einer zutreffenden Beschreibung der vorprogrammierten 51

Colander 2006a, S. 2. Friedman 1974, S. 150. 53 Mankiw 1992, S. 561. 52

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

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externen Realität annähern. (Es handelt sich dabei um eine Spielart der sogenannten Bayes’schen Wahrscheinlichkeitsanalyse.) Grandmont und Malgrange beschrei­ ben diesen Lernprozess wie folgt: In der Übergangsphase hin zu einem hypothetischen, langfristigen Gleichgewicht – sofern ein solches Gleichgewicht, bei dem alle Vorhersagefehler schließlich verschwinden, jemals erreicht wird – müssen einzelne Händler zwangsläufig signifikante Vorhersagefehler machen […], während sie die [ergodischen] dynamischen Gesetze ihres Umfelds lernen.54

Marktteilnehmer, deren subjektive Wahrscheinlichkeiten sich nicht den objektiven annähern, werden weiter hartnäckig systematische Vorhersagefehler machen. Der Markt verkörpert also eine Art evolutionären Prozess der natürlichen Selektion, in dessen Verlauf diejenigen, die ineffiziente Entscheidungen treffen, nach und nach ausgemerzt werden, bis langfristig nur noch Marktteilnehmer übrig sind, die keine systematischen Fehler machen. Theorien, die behaupten, freie Märkte seien effizient, beruhen in der Regel auf einer Variation dieses darwinistischen Ansatzes, wonach der langfristige intrin­ sische, reale Wert aller Vermögenswerte von den vorprogrammierten, realen (Tiefen-) Parametern des Systems bestimmt wird, die durch gezieltes menschliches Handeln nicht verändert werden können. Auf lange Sicht treffen rationale Marktteilnehmer effiziente Entscheidungen, da sich ihre subjektiven Erwartungen an die prädeterminierte, unveränderliche Realität anpassen, obwohl erfolgreiche Marktteilnehmer auf kurze Sicht gar nicht „wissen“, dass sie optimale Entscheidungen treffen. Die alten und neuen Anhänger der klassischen Theorie, viele österreichische Theoretiker, Vertreter der neoklassisch-keynesianischen Synthese und des Neuen­ Keynesianismus, sowie walrasianische und post-walrasianische Theoretiker eint der explizite oder implizite, grundlegende Glaube an eine prädeterminierte Realität. Auch wenn manche dieser Theorien sich nicht explizit probabilistischer Begriffe bedienen – diese allen Spielarten der klassischen Ökonomie gemeinsame Annahme einer vorprogrammierten Realität kann man als Axiom der Ergodizität bezeichnen.55 In Modellen des Typs 2 leiden die Marktteilnehmer in irgendeiner Form unter epistemologischer Ungewissheit. Einer der Begründer der Theorie der rationalen Erwartungen vom Typ 1, Thomas Sargent, hat sich Modellen der „eingeschränkten Rationalität“ vom Typ 2 zugewandt, nach denen Marktteilnehmer versuchen, die Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu erfahren, die sie der Theorie der rationalen Erwartungen zufolge bereits kennen […] [sowie] die Wahl, die wir Forscher als „Schöpfer“ oder Erschaffer dieser künstlichen Menschen haben, sie mit Informationen über ihre Umwelt zu versorgen, ehe wir sie loslassen.56 54

Grandmont/Malgrange 1986, S. 9. Vgl. Davidson 1984, Davidson 1994. 56 Sargent 1993, S. 3 f. 55

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

Frank Knight, ein Ökonom des frühen 20. Jahrhunderts, hat als einer der ersten erkannt, dass bei bestimmten wirtschaftlichen Prozessen epistemologische Ungewissheit herrschen kann. Knight unterschied explizit zwischen Ungewissheiten und quantifizierbaren Risiken: [P]raktisch unterscheiden sich die beiden Kategorien Risiko und Ungewissheit darin, dass bei Ersterem die Verteilung der Ergebnisse für eine Gruppe von Beispielfällen (entweder durch Vorausberechnung auf der Grundlage von Vorwissen oder aus Statistiken über die Erfahrungen der Vergangenheit) bekannt ist, während das bei der Ungewissheit nicht der Fall ist, was im Allgemeinen darin begründet liegt, dass die Bildung einer Gruppe von Beispielfällen unmöglich ist, weil die zu bewältigende Situation in hohem Maße einzigartig ist.57

In einem ergodischen Universum erscheint dem Beobachter ein Ereignis jedoch nur dann als einzigartig, wenn er nicht über ausreichend Vorwissen oder statistische Erkenntnisse über die Realität verfügt, um das fragliche Ereignis korrekt einer Gruppe ähnlicher bedingter Ereignisse zuordnen zu können. Ungewissheit aufgrund von „einzigartigen Ereignissen“, so Knight, trete nur dann auf,wenn die Marktteilnehmer lediglich über ein „partielles Wissen“ über den Kosmos verfügten.58 Knight ist demnach offenbar ein Vorläufer dessen, was Colander die post-walrasianischen Theoretiker unserer Tage nennt. Knights Reflexionen über die Unveränderlichkeit des wirtschaftlichen Kosmos sind, wie auch die der Post-Walrasianer, zweideutig. Als abstrakte Tatsache, scheint Knight zu argumentieren, ist Ungewissheit ein epistemologischer Faktor in einer ontologisch unveränderlichen Realität: [Das] Universum mag nicht erfassbar sein […], [doch die Welt der] objektive[n] Phänomene […] ist mit Sicherheit in einem Maße erfassbar, das bislang weit jenseits unserer Möglichkeiten liegt […]. [Deshalb] kann man jegliche Begrenzung des Wissens, die auf mangelnde Stetigkeit zurückzuführen ist, ignorieren.59

Mit anderen Worten: Jeder Mangel an Wissen über die externe Realität, der auf mangelnder langfristiger Stetigkeit des Kosmos beruht, ist Knight zufolge unbedeutend und kann im Vergleich zum kognitiven Unvermögen des Menschen, die prädeterminierte externe Realität zu erfassen, ignoriert werden. Knight behauptet 57

Knight 1921, S. 233. Vgl. Knight 1921, S. 198. Die richtige Klassifikation lässt sich zumindest konzeptionell ermitteln. So lange sich der einzige Unterschied der einzelnen beobachteten Werte auf Versuchsfehler zurückführen lässt, sollten alle vorausgegangenen Beobachtungen in einer Kategorie zusammengefasst werden. Lassen sich die unterschiedlichen Beobachtungen entweder aufgrund des Vorwissens oder durch statistische Analyse der Varianz auf einen systematischen Unterschied zurückführen, so müssen für Beobachtungen, die „bekanntermaßen“ auf systematische Unterschiede zurückgehen, unterschiedliche Kategorien eingerichtet werden. Ein wahrhaft einzigartiges Ereignis (das als einzig denkbares dieser Kategorie gelten kann), ist nur dann möglich, wenn der Analyst das gesamte Universum möglicher Ergebnisse kennt und daher mit absoluter Sicherheit feststellen kann, dass diese Beobachtung sich unter unendlich vielen Möglichkeiten systematisch von allen anderen denkbaren Beobachtungen unterscheidet. Einzigartige Ereignisse assoziiert Knight jedoch mit einer „partiellen Kenntnis“ des Universums; der Analyst kann daher niemals wissen, wann ein Ereignis einzigartig ist. 59 Knight 1921, S. 210. 58

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

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zwar nicht dogmatisch, deutet aber an, es sei „vorstellbar, dass alle Veränderun­ gen im Einklang mit bekannten Gesetzen vonstatten gehen“.60 Zwar hat Knight die theoretische Tür einen Spalt offen gelassen, doch hat es den Anschein, dass seine Analyse im Wesentlichen auf der Vorstellung eines prädeterminierten, unveränderlichen Kosmos basiert. Der entscheidende Unterschied zwischen Risiko und Ungewissheit besteht für Knight darin, dass es Ungewissheit nur deshalb gibt, weil die „tatsächlichen Fähigkeiten“ des Menschen nicht ausreichen, das „erfassbare“ Wissen über den vorprogrammierten ökonomischen Kosmos zu verarbeiten. Da Wahrscheinlichkeitsrisiken sich mit Hilfe der menschlichen Informations­ verarbeitungsfähigkeit quantifizieren ließen, so Knight, seien Versicherungen gegen zukünftige Risiken möglich. Die Kosten einer solchen Versicherung bzw. Selbstversicherung würden bei allen unternehmerischen Berechnungen der Grenzkosten (oder in einem geschlossenen Allgemeinen Gleichgewichtssystem nach Arrow und Debreu in Form von Kontingenzverträgen) berücksichtigt. Dieser Prozess der Absicherung versetzt Unternehmer in die Lage, auch auf kurze Sicht rationale, auf Gewinnmaximierung abzielende Produktions- und Investitionsentscheidungen zu treffen. Scheinbar „ungewisse“ oder „einzigartige“ Ereignisse dagegen tauchen deshalb auf, weil die kognitiven Fähigkeiten des Menschen nicht ausreichen, um diese ungewissen Ereignisse auf der Grundlage gemeinsamer Eigenschaften zu kategorisieren. Knight zufolge können Marktteilnehmer die Versicherungskosten für diese „ungewissen“ Ereignisse in ihren Grenzkostenberechnungen daher nicht erfassen. Wenn wir Knights Standpunkt akzeptieren, dass man die Möglichkeit eines „Mangels an echter Stetigkeit innerhalb des Kosmos“ außer acht lassen kann, so sind die objektiven Wahrscheinlichkeiten der von Knight als „ungewiss“ bezeichneten Ereignisse im stetigen Kosmos bereits vorprogrammiert. Diejenigen Unternehmer, die diese Versicherungskosten in ihren Preis- bzw. Grenzkostenberechnungen berücksichtigen, „als ob“ ihnen die objektiven Wahrscheinlichkeiten bekannt wären, die sich aus der unveränderlichen Realität ergeben, treffen im Modell von Knight auf lange Sicht effiziente Entscheidungen und machen Gewinn. Chaostheorie. Vielleicht erklärt die Betonung der Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitungskapazität in Modellen vom Typ 2, weshalb es so populär ist, wirtschaftliche Schwankungen  – insbesondere an den Finanzmärkten  – mit Hilfe komplexer mathematischer Modelle wie der „Chaostheorie“ und anderer nichtlinearer mathematischer Modelle zu analysieren. Die Chaostheorie zeigt, dass eine einfache, deterministische aber nichtlineare Beziehung einen komplexen Zeitpfad zur Folge haben kann. […] Wenn Chaos ausbricht, werden wirtschaftliche Prognosen extrem schwierig […] [und] einfache Vorhersagemethoden werden fragwürdig.61 60

Knight 1921, S. 198. Baumol/Benhabib 1989, S. 79.

61

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

Dieser deterministischen Theorie zufolge kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in China über ein komplexes, aber vollständig deterministisches System nichtlinearer Gleichungen einen Hurrikan über dem Atlantik „verursachen“.62 In einem derartigen (dauerhaft unveränderlichen), von einem nichtlinearen Gleichungssystem beschriebenen Modell gibt es für eine allmächtige „Mutter Natur“ keinerlei Ungewissheit über von Schmetterlingen ausgelöste Hurrikane. Das Problem liegt darin, dass das Modell so komplex ist, dass es für Menschen extrem schwierig ist, die Zukunft vorherzusagen, bevor der Hurrikan zuschlägt – es sei denn, sie kennen das Modell schon vorher oder können zu seiner Beschreibung auf einen Deus ex Machina zurückgreifen. Österreichische Schule. Zeitgenössische Vertreter der Österreichischen Schule wie O’Driscoll und Rizzo63 glauben an eine Wirtschaftswelt, in der es eine unveränderliche externe Realität gibt – ähnlich dem Weltbild der Physik im 19. Jahrhundert. Was diese Ökonomen jedoch von alten und neuen Vertretern der klassischen Ökonomie unterscheidet, ist die Betonung der Ungewissheit. Anhänger der Österreichischen Schule halten es für möglich, dass die externe Realität von Mutter Natur determiniert ist; allerdings ist diese Realität zu komplex, als dass ein Mensch jemals alle in Form von Marktsignalen ausgesendeten Informationen verarbeiten könnte. Der freie Markt ist für diese Ökonomen der Deus ex Machina, der angesichts einer von epistemologischer Ungewissheit geprägten Welt und einer vorprogrammierten externen Realität die (prinzipiell berechenbaren) relevanten Wahrscheinlichkeiten und verlässlichen Vorhersagen zur Verfügung stellt, auf deren Grundlage sich in einem darwinistischen Prozess Pläne und Ergebnisse koordinieren lassen.64 Wert-Erwartungstheorie. In der Wert-Erwartungstheorie von Savage sind wirtschaftliche Beziehungen lediglich Teil eines Axiom-basierten theoretischen Systems. Die Wert-Erwartungstheorie ist die Grundlage aller von Vertretern des ökonomischen Mainstreams verwendeten Nachfragetheorien – ob es sich nun um alte ­ eynesianer, wal­ oder neue Vertreter der klassischen Theorie, alte oder neue K rasianische oder post-walrasianische Theoretiker handelt. Diese Theorie unterstellt, dass ein Entscheidungsträger alle zukünftigen Auswirkungen aller denkbaren Alternativen prüft und bewertet. Diesen Bewertungsprozess beschreibt Savage mit dem Slogan „Erst wägen, dann wagen“.65 Zugrunde liegt dieser Sichtweise das Ordnungsaxiom: die Annahme, dass es eine begrenzte Zahl von Handlungen und Auswirkungen gibt und jeder Marktteilnehmer alle denkbaren Alternativen je nach Präferenz in eine lückenlose vorläufige Reihenfolge bringen kann.66 62 Verfügt der Schmetterling über einen freien Willen und kann entscheiden, ob und wann er mit den Flügeln schlägt, oder ist auch das von irgendeinem unumstößlichen Naturgesetz determiniert? 63 S. O’Driscoll/Rizzo 1985. 64 Eine Beschreibung, wie in einer freien Marktwirtschaft ein „vager darwinistischer Prozess“ am Werk sei, findet sich bei O’Driscoll/Rizzo 1985, S. 38 ff. 65 Engl. ‚Look before you leap‘, Savage 1954, S. 16. 66 Savage 1954, S. 17 ff.

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

125

Der Ansatz „Erst wägen, dann wagen“, gesteht Savage ein, sei keine allgemeine Theorie der Entscheidungsfindung, da er nicht explizit auf die Ungewissheit an sich eingehe. Es könne sein, dass „jemand nicht [alle] Konsequenzen der Handlungsmöglichkeiten kennt, die ihm für die verschiedenen Zustände der Welt offenstehen. Er tappt […] möglicherweise im Dunkeln“ und möchte sich deshalb vielleicht alle Optionen offenhalten.67 Dieses Offenhalten aller Optionen bezeichnet Savage als „Kommt Zeit, kommt Rat“-Einstellung, und er gibt zu, dass das in vielen Fällen eine treffendere Beschreibung menschlichen Verhaltens ist als „Erst wägen, dann wagen“. Ins logische Extrem gewendet sei der Ansatz „Erst wägen, dann wagen“ sogar „vollkommen lächerlich […], da die Möglichkeiten des Einzelnen für die Bewältigung dieser Aufgabe nicht im Entferntesten ausreichen“.68 Daher bestehe „bei fast allen Anwendungen der in diesem Buch entwickelten Entscheidungstheorie [d. h. der Wert-Erwartungstheorie] die praktische Notwendigkeit, sich auf vergleichsweise einfache Situationen zu beschränken bzw. zu konzentrieren“.69 Das Ordnungsaxiom von Savage impliziert, dass die Wert-Erwartungstheorie nur nützlich ist, wenn man „vergleichsweise einfache Entscheidungsprobleme in Angriff nimmt, indem man die Aufmerksamkeit künstlich auf eine kleine Welt fokussiert, auf die das Prinzip ‚Erst wägen, dann wagen‘ anwendbar ist“.70 Die Theorie sei nur „für entsprechend begrenzte Bereiche geeignet. […] Andererseits kommt es häufig vor, dass das Verhalten der Menschen der Theorie nicht entspricht. Die Abweichungen sind bisweilen eklatant“.71 Wenn jedoch die Annahme, Menschen könnten ihre Präferenzen in eine eindeutige Reihenfolge bringen, in manchen Bereichen des wirtschaftlichen Handelns „grotesk“ ist,72 so kann die Wert-Erwartungstheorie für das Verhalten der Entscheidungsträger in diesen Bereichen keine sinnvolle Erklärung liefern. Damit Entscheidungen über die Verwendung von Ressourcen nicht auf unbestimmte Zeit verschoben werden, tritt hier der von ­Keynes hergestellte Zusammenhang zwischen der Ungewissheit und der Nachfrage nach Liquidität in den Vordergrund. Das Ordnungsaxiom wird immer dann außer Kraft gesetzt, wenn Markt­ teilnehmer außerstande sind, zunächst zu „wägen“ ehe sie „wagen“. Anstatt zu versuchen, sofort die von der Wert-Erwartungstheorie beschriebenen Entscheidungen zu treffen, werden es Marktteilnehmer in solchen Fällen vorziehen, sich alle Op 67

Savage 1954, S. 15. Savage 1954, S. 15 f. 69 Savage 1954, S. 82 f.; auf S. 83 f. gesteht Savage ein, er finde es „schwierig, halbwegs umfassend anzugeben, wie man solche isolierten Situationen eigentlich identifiziert und recht­ fertigt“ und fügt augenzwinkernd hinzu, dass „das, was in isolierten Entscheidungssituationen […] als Auswirkung angesehen wird, in Wahrheit höchst ungewiss ist. […] Ich rege daher an, dass wir in typischen isolierten Entscheidungssituationen [in denen die Wert-Erwartungstheorie anwendbar ist] Handlungen mit höchst ungewissen Auswirkungen als sichere Folgen betrachten.“ 70 Savage 1954, S. 16. 71 Savage 1954, S. 20. 72 Savage 1954, S. 15 f. 68

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7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

tionen offenzuhalten („Kommt Zeit, kommt Rat“). Dank der Existenz von Geld und anderer liquider Mittel sind Einkommensbezieher in der Lage, sich im Hinblick der Produktionsgüter, die sie mit ihrem Einkommen erwerben wollen, alle Optionen offenzuhalten. Ist die Zukunft im ontologischen Sinne ungewiss, so „wissen“ vernünftige Entscheidungsträger, dass es unmöglich ist, für ein bestimmtes Szenario zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt eine vollständige Liste aller Möglichkeiten zu besitzen. In diesem Fall der ontologischen Ungewissheit ist die Zukunft veränderbar. Folglich sollten Wirtschaftstheoretiker anerkennen, 1. dass das Ordnungsaxiom von Savage auch auf lange Sicht nicht zutrifft, und 2. dass es auf Dauer eine positive Nachfrage nach Liquidität geben wird. Der Nobelpreisgewinner J. R. Hicks setzt den Verstoß gegen das „Ordnungsaxiom“ zum auf Langfristigkeit angelegten Liquiditätskonzept ­Keynes’ in Bezug.73­ Keynes betonte den Zusammenhang zwischen nichtprobabilistischer Ungewissheit und der Liquiditätspräferenz bzw. der kurz- und langfristigen Nichtneutralität ­ eynes’ Allgemeiner Theorie einer Geldwirtschaft ist die Wertdes Geldes.74 In K Erwartungstheorie daher keine logisch einleuchtende Erklärung für Entscheidungsprozesse. Für ­Keynes und für Postkeynesianer steht die langfristige Ungewissheit mit einer nichtergodischen, veränderbaren Sichtweise der Realität in Verbindung. Ein elementarer Grundsatz von ­Keynes’ revolutionärem Ansatz ist die Unterscheidung zwischen probabilistischen Risiken und einem Zustand der Ungewissheit, in dem auf der Grundlage historischer Daten berechnete Wahrscheinlichkeiten keine verlässlichen Anhaltspunkte für die zukünftige Wertentwicklung liefern. Wiederholbare ökonomische Routineentscheidungen, bei denen es vernünftig ist, eine unveränderliche (ergodische)  Realität anzunehmen, können von Wahrscheinlichkeitsrisiken gekennzeichnet sein. ­Keynes dagegen lehnte die Anwendbarkeit des Axioms der Ergodizität auf alle wirtschaftlichen Erwartungen ab; er betonte, die Grundlage wichtiger wirtschaftlicher Entscheidungen, bei denen es um Investitionen, Vermögensaufbau und Finanzen gehe, müsse der „Stand der langfristigen Erwartung“ in Bezug auf nicht routinemäßige Angelegenheiten sein, die „sehr ungewiß sind“.75 In diesen Bereichen „wissen“ die Marktteilnehmer, dass sie es mit einer ungewissen und nicht-probabilistischen kreativen externen wirtschaftlichen Realität zu tun haben.76 73

S. Hicks 1979, S. 113. S. ­Keynes 1936, S. 81, 124 Fn., 126 Fn., 142 f., 153, 182 ff.; ­Keynes 1937. 75 ­Keynes 1936, S. 125. 76 In diesem Zusammenhang ist Shackle’s Ansatz des „essentiellen Experiments“ (crucial experiment) von Bedeutung. Für Shackle trifft ein Marktteilnehmer dann eine essentielle Entscheidung, Wenn „die betreffende Person die Möglichkeit nicht ausschließen kann, dass mit der Durchführung des Experiments auch die Umstände“, in denen die Entscheidung getroffen wurde, „für immer zerstört sind“ (Shackle 1955, S. 6). 74

VIII. Ist die Wirklichkeit vorbestimmt?

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Können die Vertreter des ökonomischen Mainstreams ihre restriktiven Axiome (das Axiom der Ergodizität und das Ordnungsaxiom) damit rechtfertigen, dass sich so die ökonomische Welt, in der wir leben, besser beschreiben lässt? Die Empirie deutet darauf hin, dass viele makroökonomische Zeitreihen eine Einheitswurzel haben und daher nichtstationär sind77 – eine hinreichende Bedingung für ihre Nichtergodizität. Nicht zufällig wandte K ­ eynes gegen Tinbergens ökonometrischen Ansatz ein, dass wirtschaftliche Zeitreihen nichtstationär seien, da „das wirtschaftliche Umfeld im Lauf der Zeit (möglicherweise deshalb, weil nichtstatistische Faktoren eine Rolle spielen) nicht homogen ist“.78 Da Ergodizität eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine prädeterminierte, unveränderliche externe Realität ist, hat es ganz den Anschein, als würde die Empirie im Widerspruch zum für die makroökonomische Theorie des Mainstreams so grundlegende Axiom der Ergodizität stehen. Für den Nobelpreisträger Robert Solow ist die Wirtschaft ein nichtstationärer Prozess, der sich auf einer Zeitachse durch die Geschichte bewegt.79 Solow zufolge gibt es eine Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen Ereignissen und den historischen und gesellschaftlichen Umständen. „[W]elche Art von Wissenschaft die Ökonomie sein sollte“ beschrieb Solow wie folgt: „Leider ist die Ökonomie eine Sozialwissenschaft. Formeller ausgedrückt: Vieles, was wir beobachten, lässt sich nicht als Realisierung eines stationären stochastischen Prozesses betrachten, ohne sich unglaubwürdig zu machen […] [D]as Endergebnis jeder wirtschaftswissenschaftlichen Analyse ist […] von den gesellschaftlichen Umständen abhängig – vom historischen Kontext. […] Doch die Wirtschaftswissenschaften haben, auf Gedeih und Verderb, einen anderen Weg eingeschlagen“.80 Hätten mehr Ökonomen die (post)keynesianische Auseinandersetzung mit der Ungewissheit und mit einer veränderlichen Realität verstanden, so wäre die Ökonomie in den letzten 50 Jahren tatsächlich zu der Wissenschaft geworden, die sie nach der Meinung Solows sein sollte. Wenn Marktteilnehmer „wissen“, dass die wirtschaftliche Entwicklung nichtstationär verläuft, dann sollten Entscheidungsträger sich darüber im Klaren sein, dass objektive Wahrscheinlichkeitsfunktionen  – so es sie gibt  – „plötzlichen [d. h. unvorhersehbaren] Veränderungen unterworfen“81 sind, die wirtschaftliche Zukunft also ontologisch ungewiss ist. Manche Theoretiker möchten jedoch am Liebsten beides haben: Sie akzeptieren die kurzfristige Nichtergodizität, nehmen aber langfristig unveränderliche Rahmenbedingungen (bzw. „grundlegende Parameter“, wie sie bisweilen genannt

77

Vgl. Christiano/Eichengreen 1991. ­Keynes 1973, S. 308. 79 Vgl. Solow 1985. 80 Solow 1985, S. 328. 81 ­Keynes 1973, S. 119. 78

128

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

werden) an. In diesen Theorien glauben Entscheidungsträger, ihre subjektiven Erwartungen würden durch einen nichtökonomischen Faktor wie zum Beispiel die Sonnenfleckenaktivität beeinflusst, während es auf lange Sicht unveränderliche, objektive Wahrscheinlichkeiten gebe. Diese Annahme nichtstationärer subjektiver Erwartungen (ein Fall von kurzfristiger epistemologischer Ungewissheit) taucht in modernen „Sonnenfleckentheorien“ des Konjunkturzyklus auf, nach denen „Preise sich einfach deshalb ändern, weil man es von ihnen erwartet“.82 Sonnenfleckentheorie. Vertreter der Sonnenfleckentheorie nehmen oftmals für sich in Anspruch, dass ihre Theorie „mit frühen keynesianischen Makromodellen“83 kompatibel sei, die „spontane Regungen“ voraussetzten.84 Die Sonnenfleckentheorie versucht die Theorie der rationalen Erwartungen mit der Ansicht in Einklang zu bringen, die subjektiven Wahrscheinlichkeitsverteilungen müssten sich auf kurze Sicht nicht mit den objektiven (angeblich ergodischen) Wahrscheinlichkeitsfunktionen decken, die reale Produktions- und Handelsprozesse bestimmen.85 In solchen Modellen verschwinden Vorhersagefehler nur „auf die hypothetische lange Sicht“.86 Derartige Modelle mit „sich selbst erfüllenden“ Vorhersagen scheinen es Vertretern des ökonomischen Mainstreams zu ermöglichen, eine weiterentwickelte, längerfristige Variante dessen zu rechtfertigen, was Samuelson als „Ergodizitätshypothese“ bezeichnet hat (und so Samuelsons Kriterium für einen Ökonomen zu erfüllen, der ein exakter Wissenschaftler ist), und zugleich Modelle anzubieten, die zumindest auf mittlere Sicht reale Konjunkturzyklen beschreiben. Sonnenflecken stehen für extrinsische Ungewissheit, also für ein zufälliges Phänomen ohne Einfluss auf „Vorlieben, Talente oder Produktionsmöglichkeiten […] [d]ie grundlegenden [Tiefen-] Parameter, die eine Volkswirtschaft ausmachen […] die Grundlagen dieser Volkswirtschaft“.87 Diese grundlegenden Kräfte der Vorlieben, Talente und Produktionstechnik prädeterminieren das reale wirtschaftliche Umfeld und bringen das vorprogrammierte langfristige Gravitations-

82

Azariadis 1981. Grandmont/Malgrange 1986, S. 10. 84 Cass/Shell 1983, S. 193. 85 Cass und Shell sagen von sich, sie seien Anhänger der „strengen Auslegung der Theorie der rationalen Erwartungen: Alle Konsumenten teilen die gleiche Überzeugung zur Sonnenfleckenaktivität. Das ermöglicht die Interpretation, subjektive Wahrscheinlichkeiten seien gleich objektiven Wahrscheinlichkeiten“. Ich hätte gedacht, die relevanten objektiven Wahrscheinlichkeiten umfassten die zufälligen Variablen, die von den unveränderlichen wirtschaftlichen (Tiefen-)Parametern hinsichtlich Geschmack, Begabung und Produktionsmöglichkeiten der unveränderlichen externen ökonomischen Realität abhängen – von dem, was Cass und Shell (1983, S.  196) als „grundlegende Parameter, die eine Volkswirtschaft aus­machen“ bezeichnen  –, und nicht die objektive Wahrscheinlichkeit der Sonnenflecken­ aktivität. 86 Grandmont/Malgrange 1986, S. 10. 87 Cass/Shell 1983, S. 194 ff. (Hervorhebung d. Verf.). 83

IX. Essentielle Entscheidungen

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zentrum bzw. Gleichgewicht hervor, auf das die endogenen Kräfte in der Wirtschaft immerzu hinwirken. Nur ständige Nachfrage- und/oder Angebotsschocks88, die von außen unaufhörlich für neue „extrinsische“ Ungewissheit sorgen, können verhindern, dass das System einen langfristigen Gleichgewichtszustand erreicht. Diese extrinsische, „externe Ungewissheit“ jedoch „verschwindet auf lange Sicht – oder dann, wenn ein stabiler Zustand erreicht wird, oder dann, wenn es genügend kontingente Marktforderungen gibt, um alle Eventualitäten abzudecken“89, also wenn die mit der unterstellten unveränderlichen Realität assoziierten Wahrscheinlichkeiten von einem Deus ex Machina-Markt berechnet werden. Vertreter der Sonnenfleckentheorie gestatten nur „vorübergehende“ Abweichungen vom langfristigen Gleichgewicht, das durch die unveränderlichen ökonomischen „Rahmendaten“ des Systems vorgegeben ist. Auf lange Sicht mögen wir zwar alle tot sein, aber der ergodische, von den realen Tiefenparametern des Systems gesteuerte wirtschaftliche Prozess wird sich durchsetzen und die endgültige Lösung des Wirtschaftsproblems bestimmen. Da alle von Cass und Shell aufgelisteten „grundlegenden Parameter, die eine Volkswirtschaft definieren“90 nichtpekuniärer Natur sind, müssen alle Anhänger der Sonnenfleckentheorie die langfristige Neutralität des Geldes als „Glaubenssache“91 akzeptieren. Auch wenn ihre Verfechter eine Vergleichbarkeit mit ­Keynes behaupten, indem sie nachweisen, dass es kurzfristig zu Arbeitslosigkeit im Sinne ­Keynes’ kommen kann – die Sonnenfleckentheorie ist mit der von „spontanen Regungen“ ausgehenden Analyse ­Keynes’ nicht vereinbar, ebensowenig wie post-walrasianische Theorien. Denn für ­Keynes gilt: 1. Geld ist weder auf kurze noch auf lange Sicht neutral und 2. essentielle menschliche Entscheidungen (in einem ungewissen Umfeld) greifen in das grundlegende Kräfteverhältnis des Wirtschaftssystems ein, da Entscheidungsträger die Zukunft gestalten (und damit beeinflussen).

IX. Essentielle Entscheidungen und der Schumpeter’sche Unternehmer Shackle hat den Begriff der „essentiellen Entscheidung“ (crucial choice)  geprägt, einer Entscheidung, die das ökonomische Umfeld für immer verändert, so dass sich die gleiche Ausgangslage „niemals wiederholen“ wird.92 Insofern, als 88

Ein „Schock“ ist als eine von außen einwirkende Kraft definiert. Hat das von einem Schock betroffene System die Tendenz, zu seinem prädeterminierten Gleichgewicht (bzw. der prädeterminierten Wachstumsrate) zurückzukehren, so ist das System unveränderlich. 89 Azariadis 1981, S. 380. 90 Cass/Shell 1983, S. 196. 91 „Sämtliche hier vorgestellten Modelle setzen die Neutralität des Geldes voraus. Diese ist im Wesentlichen Glaubenssache und beruht weniger auf empirischen Beweisen als auf theoretischen Erwägungen.“ (Blanchard 1990, S. 828). 92 Shackle 1955, S. 7.

130

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

sie durch essentielle Entscheidungen gestaltet wird93, ist die Zukunft veränderlich – auch wenn die so gestaltete Zukunft oftmals nicht genau dem entspricht, was den Entscheidungsträgern vorschwebte. Die Zukunft wird nicht nach dem Satz von Bayes oder durch Versuch und Irrtum „entdeckt“.94 Das Prinzip der essentiellen Entscheidung verbindet Shackle, Absolvent der London School of Economics und Vertreter der Österreichischen Schule, mit Schumpeters Theorie des Unternehmertums. Essentielle Entscheidungen und die Funktion des Unternehmers. Wenn Unternehmer in der realen Welt eine wichtige Funktion haben, so besteht sie darin, essentielle Entscheidungen zu treffen. Das Unternehmertum – nur eine Facette der menschlichen Kreativität  – umfasst von Natur aus essentielle Entscheidungen. Wenn man Unternehmertum auf roboterhafte Entscheidungen durch ergodische Berechnungen in einer stochastischen Welt reduziert, wie Lucas und Sargent es explizit tun95, so blendet man aus, welche Rolle dem Unternehmer laut ­Schumpeter zukommt: die eines Wegbereiters technologischer Revolutionen, die zukünftige Veränderungen bewirken, die sich oftmals nicht einmal der innovative Unternehmer vorstellen kann. Externe Erwartungen sind eine notwendige Bedingung für die Annahme, dass der Mensch in wichtigen wirtschaftlichen Fragen über einen freien Willen verfügt. Ergodische Wahrscheinlichkeitsmodelle sind nur in der Welt von Lucas und Sargent verführerisch, in der roboterhafte Unternehmer eine Routineentscheidung nach der anderen fällen. Da Unternehmer in dieser Welt niemals essentielle Entscheidungen treffen, können solche Modelle die grundlegende, kreative Funktion, die Unternehmern in der Welt von ­Keynes und Schumpeter zukommt, in der die Realität veränderbar ist, nicht erklären. In ihrem Bestreben, als „nüchterne“ Wissenschaftler wahrgenommen zu werden, haben die Theoretiker des Mainstreams die mögliche Existenz essentieller Entscheidungen und damit einer nichtergodischen Welt implizit anerkannt. So lassen Lucas und Sargent erkennen, dass sie aus wirtschaftlichen Zeitreihen bedingte Schlussfolgerungen über menschliches Verhalten zu ziehen versuchen: [W]ir beobachten über einen gewissen Zeitraum hinweg das Verhalten eines Marktteilnehmers oder einer Gruppe von Marktteilnehmern; aus diesen Beobachtungen wollen wir schlussfolgern, wie sich das Verhalten geändert hätte, wenn sich das Umfeld in einer

93

Wenn eine wichtige Entscheidung über den Aufbau eines Vermögens, den Besitz von Liquidität, das Engagement in einem Produktionsprozess mit erheblichen Investitionskosten und langem Vorlauf usw., essentiell ist, dann „wartet das, was die Zukunft bereit hält, nicht darauf, dass es entdeckt wird, sondern dass es ins Leben gerufen wird“ (Shackle 1980, S. 102). 94 Modelle eines Lernens durch Versuch und Irrtum implizieren, dass es ergodische, objektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen gibt, und dass wir beim Formulieren unserer subjektiven Wahrscheinlichkeiten aus Fehlern lernen, uns der objektiven Wahrscheinlichkeits­ funktion immer weiter anzunähern. 95 Vgl. Lucas/Sargent, S. xii.

IX. Essentielle Entscheidungen

131

bestimmten Weise verändert hätte. Bei derart allgemeiner Betrachtung wird klar, dass man manche Schlussfolgerungen dieser Art unmöglich ziehen kann. (Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir jemanden anderen geheiratet hätten?) Glaubt man jedoch an die Möglichkeit einer nicht-experimentellen empirischen Ökonomie, so muss man davon ausgehen, dass unter bestimmten Umständen Schlussfolgerungen dieser Art gezogen werden können.96

Anders als Shackle, dessen Prinzip der „essentiellen“ Entscheidung eine hinreichende Bedingung für die Existenz nichtergodischer Welten darstellt, geben Lucas und Sargent weder notwendige noch hinreichende Bedingungen an, wann diese „bestimmten Umstände“ gegeben sind. Wenn Lucas und Sargent richtig liegen und auf der Grundlage einer Realisation statistische Schlussfolgerungen nur unter „bestimmten Umständen“ gezogen werden können, dann kann die Ökonomie nicht generell von einer unveränderlichen (ergodischen) Realität ausgehen – dann muss es notwendigerweise andere Umstände geben, in denen nichtergodische Bedingungen herrschen, und unter solchen Bedingungen können die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Theorie der rationalen Erwartungen höchst irreführend sein.97 Wenn Lucas und Sargent zugestehen, dass die vergleichsweise harmlose (und replizierbare?) Entscheidung für einen Ehepartner so essentiell ist, dass man trotz der großen Anzahl der im Lauf der Zeit registrierten Ehen keine statistischen Schlussfolgerungen über die bedingte Wahrscheinlichkeit einer glücklichen Ehe ziehen kann, sollten dann nicht auch Entscheidungen als „essentiell“ eingestuft werden, mit denen sich Unternehmer langfristig an Produktionsanlagen oder -abläufe „binden“, und viel mehr noch Entscheidungen, mit denen sich eine Volkswirtschaft langfristig an eine bestimmte Geldpolitik, an bestimmte Finanz­ institute usw. bindet?

96

Lucas/Sargent, S. xi f. Aus jeder wirtschaftlichen Entscheidung, die ohne erhebliche Einbußen (an Einkommen oder Kapital) nicht rückgängig gemacht werden kann, folgt zwangsläufig, dass die Ausgangsumstände nicht in allen relevanten Punkten replizierbar sind. Essentielle Entscheidungen ziehen kostspielige Handlungen nach sich, die aktuelle Wahrscheinlichkeitsstrukturen (sofern es sie überhaupt gibt) in unvorhersehbarer Weise verändern; damit liegt ein Verstoß gegen das Ordnungsaxiom vor, und die Definition einer Wahrscheinlichkeitsfunktion ist nicht möglich. Gleichgewichtsmodelle auf Basis der Theorie der rationalen Entscheidung dagegen unterstellen vorgegebene, unveränderliche subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Diese Modelle können für die Analyse nichtessentieller Entscheidungen nützlich sein, bei denen die Auswirkungen (finanziell) kaum ins Gewicht fallen, da die Entscheidung in solchen Fällen leicht repliziert werden kann – etwa wenn man sich aufgrund der rationalen Werterwartung entscheidet, ob man einen Apfel der Sorte „Golden Delicious“ oder der Sorte „Elstar“ kaufen soll. Nach der Ansicht von ­Keynes, Shackle und postkeynesianischer Ökonomen ist es fraglich, ob sich Entscheidungen mit teuren und weitreichenden Folgen (auf der Mikroebene z. B. der Kauf von Gebrauchsgütern, die man nicht ohne erhebliche Einbußen weiterverkaufen kann, oder auf der Makroebene die Entscheidung zwischen unterschiedlichen politischen Maßnahmen) mit Hilfe derartiger probabilistischer Analogien erfassen lassen. 97

132

7. Kap.: Geld, Verträge und liquide Finanzmärkte

Essentielle Entscheidungen kommen häufiger vor, als man meinen könnte. Sobald eine Entscheidung mit nennenswerten Transaktionskosten verbunden ist, kann man sie nicht mehr vollständig rückgängig machen.98 Vertreter des mikround makroökonomischen Mainstreams blenden diesen essentiellen Aspekt fast aller Entscheidungen aus. (Walrasianische Theoretiker nehmen an, man könne ohne Kosten nachverhandeln, wenn man anfänglich nicht die Gleichgewichtspreise vereinbart, die Ausdruck der objektiven, von den realen Parametern eines prädeterminierten Wirtschaftssystems bestimmten Realität sind.) Aufgrund der erheblichen Transaktionskosten, die bei Investitions-, Produktions- und Konsumentscheidungen (zumindest im Falle teurer Anschaffungen) anfallen, sind die Marktteilnehmer an ihre Entscheidungen in diesen Bereichen notwendigerweise langfristig gebunden; derartige Entscheidungen sind in der Regel essentiell, und sobald sie in die Tat umgesetzt werden, ändert sich der mögliche Gang der zukünftigen Entwicklung. Wer Entscheidungen in diesen Bereichen hinauszögert und lieber liquide bleibt, lässt sich in einer solchen veränderlichen Welt die Möglichkeit offen, an einem anderen Tag eine essentielle Entscheidung zu treffen. Manche ökonomischen Prozesse mögen, zumindest für kurze Zeitabschnitte, ergodisch erscheinen; andere sind es definitiv nicht. Das epistemologische Problem, vor dem jeder Entscheidungsträger steht, besteht darin, dass er feststellen muss, ob die relevanten Phänomene a) von Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden, die – zumindest auf absehbare Zeit – als ergodisch betrachtet werden können, oder b) nichtergodische Umstände eine Rolle spielen. Nur in letzterem Fall kommen dem Unternehmertum, Geld, Liquidität und Verträgen eine wichtige und grundlegende Funktion zu.99 Nur in letzterem Fall stehen wichtige politische Entscheidungen an. Ein nichtergodisches (sprich: von Ungewissheit geprägtes) Umfeld liefert die analytische Erklärung für die Existenz von fixierten Geldverträgen und die Nichtneutralität des Geldes. Daher stellt es eine „alternative Konstruktion“ dar, die einen Ausweg aus der „ernsthaften Herausforderung […] für Theoretiker“100 weist, von der Hahn spricht.

X. Konsequenzen für die Politik Wissenschaftlich arbeitende Ökonomen sollten „wissen“, dass empirisch festgestellte Regelmäßigkeiten in Daten aus der Vergangenheit in bestimmten Bereichen abseits des Gewöhnlichen nicht herangezogen werden können, um die Zukunft vorherzusagen. In diesen nichtergodischen Bereichen der Wirtschaftswissenschaften können und sollten Ökonomen sich für die Ausbildung „verschiedener wichti­ 98

Vgl. Lesourne 1992. Vgl. Davidson 1982/83, 1991, 1994. 100 Hahn 1981, S. 1. 99

X. Konsequenzen für die Politik

133

ger Faktoren“ einsetzen, „welche die Wirkungen unserer Unkenntnis über die Zukunft praktisch etwas abschwächen“101, indem sie die Wirtschaft in Richtung gesellschaftlicher Ziele lenken. Würden Ökonomen anerkennen, dass Nichtergodizität ein wichtiges Kennzeichen vieler wirtschaftlicher Situationen darstellt, so müssten sie zugeben, dass der Staat in Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor dauerhaft eine Rolle dabei spielen könnte, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Märkte zu verbessern. In Abstimmung mit der Privatwirtschaft sollte der Staat permanent nach Möglichkeiten suchen, wirtschaftliche Institutionen zu schaffen, die die Ungewissheit zu begrenzen suchen, indem sie über die aggregierte Nachfrage Einfluss auf das wirtschaftliche Umfeld nehmen, lobbyistische Tendenzen abschwächen und so die zukünftige Entwicklung in Bahnen lenken, die mit dem Ziel im Einklang stehen, für Vollbeschäftigung und weitgehende Preisstabilität zu sorgen. Das Ergebnis dieser Untersuchung, wie unterschiedliche Theorien mit der Erkenntnis umgehen, dass die Zukunft ungewiss ist, könnte man mit einer Abwandlung des berühmten „Gelassenheitsgebets“ von Reinhold Niebuhr zusammenfassen: Gott gebe uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können [unveränderliche Tatsachen], den Mut, Dinge zu ändern, die wir ändern können [veränderliche Tatsachen], und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

101

­Keynes 1936, S. 138.

8. Kapitel

Der Zweite Weltkrieg und das offene Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit Bereits 1931 erlebte ­Keynes immer wieder heftige Schmerzen in der Brust und Atemnot  – „verräterische Anzeichen einer Funktionsschwäche der Herzkranzgefäße“.1 Etwas mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung seiner „All­ gemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, im Mai 1937, erlitt ­Keynes, was Mediziner heute als Herzinfarkt diagnostizieren würden.2 Die Zeit zwischen Mai 1937 und Ende September 1937 musste ­Keynes zur Genesung in einem Privatkrankenhaus verbringen. Als er schließlich entlassen wurde, erhielt er von den Ärzten die Anweisung, er müsse täglich längere Ruhezeiten einhalten und einen Tag in der Woche ganz im Bett bleiben. Während dieser langen Genesungszeit war ­Keynes nur beschränkt arbeits­ fähig, hielt sich aber über die politischen Entwicklungen, die einen Krieg befürch­ eynes sich wieder in der ten ließen, auf dem Laufenden. Ab Februar 1938 zeigte K Öffentlichkeit und schrieb über die wirtschaftlichen Probleme, die er auf Großbritannien zukommen sah, wenn aufgrund der Kriegsvorbereitungen Vollbeschäf­ eynes sich für niedrige Zinsen, die tigung erreicht wurde. Im April 1939 setzte K Beschränkung des Kapitalexports und staatliche Haushaltsüberschüsse ein, da die aggregierte Nachfrage das bei Vollbeschäftigung produzierte Angebot übersteigen werde, sobald die britische Wirtschaft sich im Kriegszustand befände.3 Am 1. September 1939 begann mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen ­ eynes sich der Zweite Weltkrieg. In den ersten beiden Kriegsjahren machte K hauptsächlich Gedanken über die Finanzierung des Krieges: Sollten die Rüstungsausgaben die aggregierte Nachfrage über den Punkt der Vollbeschäftigung hinaus erhöhen, erklärte ­Keynes unter Rückgriff auf den Analyserahmen seiner Allgemeinen Theorie, so sollte staatliche Fiskalpolitik darauf abzielen, Überschüsse zu erwirtschaften und so die Nachfrage zu begrenzen. Diese Überschüsse sollten in einen ver­ eynes’ Plan zufolge sollte der Staat einen ansteigenden pflichtenden Sparplan fließen. K Prozentsatz des Einkommens, das ein festgelegtes Minimum übersteigt, einziehen. Diese zusätzlichen Staatseinnahmen sollten verwendet werden, um die Verteidigungsausgaben zu bezahlen, ohne die aggregierte Nachfrage über den Punkt hinaus zu erhöhen, an dem 1

Skidelsky 1992, S. 627. Skidelsky 1992, S. 634. 3 Skidelsky 2003, S. 581. 2

I. Pläne für die Nachkriegszeit

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Vollbeschäftigung herrscht. Ein Teil  dieser zusätzlichen Einnahmen sollte in Form von Steuern erhoben werden, ein anderen Teil jedoch in einen verpflichtenden Sparplan fließen. Diese Ersparnisse sollten den Einkommensbeziehern nach dem Krieg zurückerstattet werden, um den Mangel an effektiver Nachfrage auszugleichen, den ­Keynes nach Ende der Kampfhandlungen befürchtete.4

Im Februar 1940 veröffentlichte K ­ eynes eine Streitschrift mit dem Titel „How To Pay For the War“, in der er seinen Vorschlag für einen verpflichtenden Sparplan detailliert darlegte. Der schmale Band zeigte, dass seine „Allgemeine Theorie“ sowohl auf Zeiten der Hochkonjunktur als auch auf Phasen mit Massen­ arbeitslosigkeit anwendbar war. ­Keynes schlug einen permanenten Mechanismus zur Regulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage vor, der sowohl von zu hoher Nachfrage ausgelöste Aufschwünge als auch von einem Mangel an effektiver Nachfrage verursachte Rezessionen verhindern sollte.

I. Pläne für das offene Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit Im August 1940 wurde ­Keynes eine Stelle im Finanzministerium als freier Berater angeboten.5 ­Keynes hatte bereits vorher begonnen, sich mit dem Problem der Kriegskosten auseinanderzusetzen. Großbritannien stand vor der Frage, wie es sich genügend liquide Mittel beschaffen konnte, um für Rüstungsgüter zu bezahlen, die im Inland nicht produziert und deshalb (vor allem aus den Vereinigten Staaten) importiert werden mussten. Wenig später reiste ­Keynes als Sondergesandter des Finanzministers mehrmals nach Washington, um an Verhandlungen über die Finanzierung der Rüstungsgüter teilzunehmen, die Großbritannien für die Fortsetzung des Kampfes gegen Deutschland benötigte. Schon 1941 begann ­Keynes sich Gedanken über ein internationales Zahlungssystem zu machen, das die Vereinigten Staaten nach dem Krieg in ein System einbinden sollte, „das für eine ausgeglichene Zahlungsbilanz zwischen allen Ländern sorgen würde, ohne Handelsdiskriminierung und ohne den Defizitländern De­ flation, Arbeitslosigkeit und Schuldknechtschaft aufzubürden“.6 Um den Vorschlag K ­ eynes zu verstehen, wie das internationale Zahlungssystem der Nachkriegszeit aussehen sollte, muss man sich zunächst einige Begriffe vor Augen führen, mit denen Ökonomen zwischen offenen und geschlossenen Volkswirtschaften unterscheiden. In einer geschlossenen Volkswirtschaft unterhalten die Bürger keinerlei Handels- oder Finanzbeziehungen mit Bürgern anderer Staa 4

Skidelsky 2003, S. 588. Skidelsky 2003, S. 603. 6 Skidelsky 2003, S. 672. 5

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8. Kap.: Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit

ten. Alle verbindlichen vertraglichen Verpflichtungen werden in einer geschlossenen Volkswirtschaft daher in ein- und derselben Währung ausgedrückt. In einer offenen Volkswirtschaft dagegen sind an einem Teil der Transaktionen Handelspartner aus unterschiedlichen Staaten beteiligt. Da in der Regel jedes Land zur Abgeltung vertraglicher Zahlungsverpflichtungen eine eigene Währung verwendet, müssen sich die Vertragspartner bei einem Geschäft zwischen einem Bewohner des Landes A und einem Bewohner des Landes B auf eine Währung einigen, in der Zahlungsverpflichtungen abgegolten werden sollen. Dabei kann es sich um die Währung des Landes A, die Währung des Landes B oder auch die Währung eines dritten Landes handeln. Dass die Vertragsparteien bei internationalen Geschäften unterschiedliche Zahlungsmittel verwenden, kann in einem globalen Wirtschaftssystem wichtige Auswirkungen auf die Nachfrage nach Liquidität haben. Nach allgemeiner Überzeugung der Vertreter des ökonomischen Mainstreams hat K ­ eynes seine revolutionäre „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ in erster Linie für die Analyse einer geschlossenen Volkswirtschaft geschrieben. Folglich sind viele der Überzeugung, K ­ eynes’ „Allgemeine Theorie“ sei auf die wirtschaftlichen Probleme der in das globale Wirtschaftssystem des 21. Jahrhunderts eingebundenen Volkswirtschaften nicht anwendbar. Nichts könnte falscher sein. Die von ­Keynes dargelegten Prinzipien lassen sich unmittelbar auf die Funktionsweise und die Probleme jeder offenen Volkswirtschaft anwenden. Tatsächlich geht ­Keynes in der „Allgemeinen Theorie“ explizit auf eine Reihe wirtschaftlicher Komplikationen ein, zu denen es bei der Analyse einer offenen Volkswirtschaft kommen kann. So hält ­Keynes beispielsweise fest, dass in jeder offenen Volkswirtschaft 1. der Außenhandel die Höhe der Arbeitslosigkeit im Inland beeinflussen kann7, 2. eine Kürzung der Nominallöhne oder eine Abwertung der inländischen Währung mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Industrie zu stärken und die eigene Handelsbilanz zu verbessern, indem man das Verhältnis der Exporte zu den Importen zugunsten der Ersteren verschiebt, für eine Verschlechterung der „Terms of Trade“ sorgen würde. Eine Verschlechterung der Terms of Trade fördert durch die Zunahme der Exporte zwar die Einstellung zusätzlicher, bislang arbeitsloser Arbeiter, führt jedoch gleichzeitig bei den bereits angestellten Arbeitern zu einem Absinken des Realeinkommens.8 3. die Förderung von Investitionen in Produktionsanlagen im Inland oder von Investitionen im Ausland durch eine Steigerung der Exporte im Vergleich zu den Importen die Beschäftigung im Inland ankurbeln kann.9 7

­Keynes 1936, S. 102. ­Keynes 1936, S. 221 f. 9 ­Keynes 1936, S. 284. 8

I. Pläne für die Nachkriegszeit

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Falls die Regierung des Landes A davor zurückschrecke, zur Stimulierung der eigenen Wirtschaft mit gezielten fiskalpolitischen Maßnahmen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu erhöhen, weil die Politiker Angst haben, die so entstehenden Defizite könnten der Inflation Vorschub leisten, so ­Keynes, könne die Regierung auch dadurch für Beschäftigung sorgen, dass sie eine Steigerung des Exports im Vergleich zum Import anstrebt. Eine solche Politik, die auf Kosten des Imports den Export fördert, wird allerdings negative Auswirkungen auf den Handelspartner des Landes A haben (das Land B), da die einheimische Industrie im Land B Marktanteile an die Exporteure des Landes A verliert, ohne Marktanteile im Land A hinzuzugewinnen. „[E]ine günstige [Handels-] Bilanz, vorausgesetzt, dass sie nicht zu groß ist, wird sich [für den Arbeitsmarkt im Inland] als äußerst anregend erweisen“10, wenn auch auf Kosten der Beschäftigungschancen im Ausland. In einer Passage, der im Hinblick auf die globale Wirtschaft unserer Tage be­ eynes: sondere Bedeutung zukommt, schrieb K In einer Gesellschaft, in der unmittelbare Investitionen unter dem Schirm öffentlicher Körperschaften [aufgrund der Angst vor einem zu mächtigen Staat oder vor staatlichen Defiziten an sich] nicht in Frage kommen, sind somit die wirtschaftlichen Gegenstände, mit denen sich die Regierung vernünftigerweise beschäftigen kann, der inländische Zinssatz und die Außenhandelsbilanz.11

Eine Senkung des inländischen Zinssatzes wird zu mehr Investitionsausgaben im Inland anregen. Wenn Länder mit hoch entwickelten Finanzmärkten jedoch den ungehinderten grenzüberschreitenden Kapitalverkehr zulassen, dann werden Investoren ihre Ersparnisse unter ansonsten gleichen Bedingungen aus Ländern mit niedrigem Zinssatz abziehen und im Land mit dem höchsten Zinssatz in­ vestieren. In der Folge werden sich die Zinssätze in den verschiedenen Ländern tendenziell angleichen, wobei das Land mit dem höchsten Zinssatz die Marschrichtung für die gesamte Weltwirtschaft vorgibt. Im Falle eines ungehinderten internationalen Kapitalverkehrs, so ­Keynes, hätten „die Behörden keine unmittelbare Macht über den inländischen Zinssatz oder die anderen Anreize zu Investitionen im Inland“12. Maßnahmen zur Aufbesserung der eigenen Handelsbilanz seien daher „die einzige unmittelbare Handhabe“13, um mehr Investoren aus dem Ausland ins Land zu locken und so das Beschäftigungsund Einkommensniveau zu erhöhen. Anders ausgedrückt: Wenn das Kapital international völlig frei beweglich ist, kann ein Land nicht dadurch für mehr Investitionen und Beschäftigung sorgen, dass es einseitig den Zinssatz senkt. Gelten wachsende staatliche Defizite als politisch inakzeptabel, so wird die einzige ziel-

10

­Keynes 1936, S. 286. ­Keynes 1936, S. 284. 12 ­Keynes 1936, S. 284. 13 ­Keynes 1936, S. 284 f. 11

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8. Kap.: Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit

führende Politik zur Förderung des Wirtschaftswachstums, der Beschäftigung und des Wohlstands die Steigerung des Exports im Vergleich zum Import sein, um so die Handelsbilanz aufzubessern. Die Handelsbilanz eines Landes ist definiert als Differenz zwischen dem Wert der Exporte und dem Wert der Importe. Von einer „aktiven“ Handelsbilanz spricht man, wenn der Wert der Exporte den der Importe übersteigt. Hat ein Land eine „passive“ Handelsbilanz, so importiert es mehr als es exportiert. Finanziert wird der Importüberschuss aus einer negativen Handelsbilanz in der Regel entweder durch das Abschmelzen von Devisenreserven oder durch Kreditaufnahme im Ausland. ­Keynes war vollkommen bewusst, dass die durch eine solche exportorientierte Wachstumspolitik erreichte Zunahme der Beschäftigung und die positive Handelsbilanz „dafür verantwortlich ist, dass einem anderen Land ein gleicher Nachteil zugefügt wird“14, denn der Handelsüberschuss des einen Landes ist das Handelsdefizit eines anderen, in dem der Wert der Importe den der Exporte übersteigt. Verfolgen Länder eine „unmäßige Politik“15 des exportgenerierten Wachstums (wie z. B. Japan, Deutschland und asiatischen Schwellenländer in den 1980er Jahren oder China, Indien und andere asiatische Staaten in den Jahren nach der Jahrtausendwende), so verschärft das bei ihren Handelspartnern die Arbeitslosigkeit, insbesondere in jenen Branchen, die mit den Importen konkurrieren müssen. Stellen Handelspartner fest, dass ihre wachsenden Probleme mit der Arbeitslosigkeit auf ihre passive Handelsbilanz zurückzuführen sind, so kann das „zu einem sinnlosen internationalen Wettbewerb um eine günstige Bilanz führen […], die alle im gleichen Maße schädigt“.16 Die traditionelle Methode zur Ankurbelung des Exports und zur Verbesserung der eigenen Handelsbilanz besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie zu fördern, indem man entweder die Nominallöhne (einschließlich der Lohnnebenkosten) drückt und so die Lohnkosten senkt, oder die eigene Währung abwertet und somit Exporte in der Währung des Handelspartners verbilligt und gleichzeitig den Preis von Importen im Inland erhöht.17 Da zu erwarten steht, dass sich Angestellte und Gewerkschaften gegen eine Senkung der Nominallöhne wehren, versuchen sich Staaten häufiger dadurch einen Wettbewerbsvorteil zu sichern, dass sie die eigene Währung abwerten. Wenn die Handelspartner allerdings mit den gleichen Mitteln versuchen, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, so 14

­Keynes 1936, S. 286. ­Keynes 1936, S. 286. 16 ­Keynes 1936, S. 286. 17 So versuchten beispielsweise die USA 1977 den Export anzukurbeln, indem die Regierung Carter den Dollar „schlecht redete“. Im Frühjahr 1993 bemühte sich Finanzminister Bentsen, den Yen „schön zu reden“. 2005 versuchte Finanzminister John Snow China zu einer Aufwertung des Yen zu bewegen, um die Abhängigkeit der USA von Importen aus China zu verringern und den amerikanischen Export nach China zu fördern. 15

I. Pläne für die Nachkriegszeit

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wird die Manipulation der Nominallöhne oder Wechselkurse die Stagnation und Rezession weltweit nur vertiefen. Im Gegensatz zu den Vertretern der klassischen Theorie seiner (und unserer) Zeit ist ­Keynes nicht entgangen, was schon die politischen Ökonomen des 16. Jahrhunderts wussten: „Die Merkantilisten erkannten den Trugschluß der Billigkeit, und die Gefahr, dass ein übermäßiger Wettbewerb die ‚terms of trade‘ gegen ein Land wenden mag“18  – mit der Folge, dass der Lebensstandard sinkt, denn obwohl vielleicht mehr Menschen beschäftigt sind, können sie mit dem, was sie im Durchschnitt in einer Arbeitsstunde verdienen, weniger Güter und Dienstleistungen kaufen. ­Keynes empfiehlt daher in der „Allgemeinen Theorie“, alle Staaten sollten Programme auflegen, im Rahmen derer die öffentliche Hand im Inland investiert, um im Inland für Vollbeschäftigung zu sorgen, ohne sich über die internationalen wirtschaftlichen Auswirkungen Gedanken machen zu müssen.19 Tun sie das nicht, so schafft eine „kluge“ Fiskalpolitik des Laissez-faire, die ohne oder mit einem allenfalls geringfügigen Staatsdefizit auskommt, in Verbindung mit einem System des ungehinderten internationalen Kapitalverkehrs ein globales Umfeld, in dem jeder Staat signifikante Vorteile in einem exportorientierten Wachstum für sich sieht, obwohl es in Wirklichkeit „alle im gleichen Maße schädigt“20, wenn eine solche Politik von vielen Ländern gleichzeitig betrieben wird. Aller­ eynes’ Warnung seit Anfang der 1970er Jahre praktisch unbeachtet, dings blieb K da seine Analyse nie Eingang in den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream gefunden hat.21 Mangelt es in einer von Laissez-faire geprägten Welt an politischem Willen, zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit die inländische Komponente der Gesamtaus­ gaben anzukurbeln, so ist der „inländische Wohlstand unmittelbar von einer wetteifernden Jagd nach [Export-]Märkten […] abhängig“.22 In einem solchen Wett­ bewerb kann es nicht nur Sieger geben. Was einem Land wirklich helfe, aus einem stagnierenden wirtschaftlichen Umfeld und einem globalen Trend des langsamen Wachstums auszubrechen, so ­Keynes, sei eine „Politik eines „autonomen Zinssatzes, ungehemmt von inter­ nationalen Voreingenommenheiten, und eines auf ein Optimum inländischer Beschäftigung gerichteten nationalen Investitionsprogramms, das doppelt gesegnet ist in dem Sinne, dass es gleichzeitig uns selbst und unseren Nachbarn hilft. Und 18

­Keynes 1936, S. 292. ­Keynes 1936, S. 319. 20 ­Keynes 1936, S. 286. 21 In den 1980er Jahren waren die Vertreter des ökonomischen Mainstreams von den exportgetriebenen „Wirtschaftswundern“ in Japan, Deutschland und den pazifischen Schwellenländern begeistert – und haben dabei übersehen, dass der erstaunliche Erfolg dieser Länder auf Kosten des Rests der Welt ging. 22 ­Keynes 1936, S. 295. 19

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8. Kap.: Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit

es ist die gleichzeitige Verfolgung dieser Politik gemeinsam durch alle Länder, die wirtschaftliche Gesundheit und Stärke international wiederherstellen kann, ob wir sie am Niveau der inländischen Beschäftigung oder an der Menge des internationalen Handels messen.“23 Um sich von internationalen Zwängen unabhängig zu machen und den Zinssatz selbständig festlegen zu können, muss ein Land im Bedarfsfall den Zustrom und Abfluss von internationalem Kapital regeln können. Man spricht in diesem Zusammenhang meist von Kapitalverkehrskontrollen. ­ eynes Wie die zitierten Passagen aus der „Allgemeinen Theorie“ zeigen, war K nur allzu bewusst, zu welchen Problemen es kommen konnte, wenn nach dem Zweiten Weltkrieg ein offenes Weltwirtschaftssystem etabliert werden und ein Land versuchen würde, eine auf Vollbeschäftigung abzielende Politik zu verfolgen. Deshalb wandte er sich bereits kurz nach Ausbruch des Krieges der Aufgabe zu, einen neuen Modus für die Beilegung von Handelsstreitigkeiten zu finden, der die Länder nicht in einen ruinösen Wettbewerb um die beste Handelsbilanz trieb. Beeinflusst wurde ­Keynes’ Nachdenken über das internationale Zahlungs­ system nach dem Krieg und über damit verbundene Liquiditätsfragen vom „FunkPlan“ aus dem Jahr 1940. Darin entwarf Hitlers Wirtschaftsminister Walther Funk Ansätze für eine neue [wirtschaftliche] Weltordnung. Der Plan beruhte auf einem Vorläufer, der von Funks Amtsvorgänger Hjalmar Schacht ausgearbeitet worden war. ­Keynes erhielt ihn vom britischen Informationsministerium, verbunden mit der Bitte, einen Bericht für die Amerikaner und die britischen Kolonien zu verfassen, der Hitlers Plan für eine neue Wirtschaftsordnung diskreditierte. ­Keynes jedoch war der Ansicht, dass die Ideen von Schacht und Funk in die richtige Richtung wiesen und dass die Alliierten auf dem im Funk-Plan enthaltenen Konzept einer „Clearing-Union“ aufbauen sollten. ­Keynes war bewusst, dass Deutschland mit dem Funk-Plan seinen Nachbarn schaden wollte. Das zugrundeliegende wirtschaftliche Prinzip jedoch, ein System, das für den Ausgleich der Handelsbilanzen zwischen allen Staaten sorgen sollte, war solide und kam als Teil  eines erstrebenswerten Nachkriegssystems in Frage, das allen Staaten zum Vorteil gereichen konnte.24 Mit dem Tausch von Gütern gegen Güter wollten Schacht und Funk für ein Handelsniveau sorgen, wie es in einem marktwirtschaftlichen System mit flexiblen Wechselkursen vermutlich nie erreicht wurde. Als Folge seiner Auseinandersetzung mit dem Funk-Plan „wurde die Lehrmeinung, Devisenverkehrsbeschränkun­ eynes’ gen seien der Währungsabwertung überlegen, ein fester Bestandteil von K ­ eynes schon 1936 die mögliche Denken“.25 Dazu ist allerdings anzumerken, dass K Notwendigkeit von Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs erkannt 23

­Keynes 1936, S. 295. Skidelsky 2003, S. 672 f. 25 Skidelsky 2003, S. 673. 24

I. Pläne für die Nachkriegszeit

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hatte, als er in der „Allgemeinen Theorie“ betonte, wie wichtig in einer offenen Wirtschaft die Autonomie bezüglich des Zinsniveaus im Inland ist. Der Funk-Plan, das war ­Keynes bewusst, stellte nicht die bestmögliche Form eines Nachkriegssystems dar, doch lieferte er Anhaltspunkte für den Aufbau eines neuen internationalen Wirtschaftssystems, das im Bereich des internationalen Handels und Zahlungsverkehrs einer Politik des Laissez-faire deutlich überlegen war. Das entscheidende Element, um das ­Keynes den Funk-Plan bereicherte, war die Idee, dass es in jedem Handelssystem einen Mechanismus geben sollte, der im Falle eines dauerhaften Handelsungleichgewichts zwischen zwei Staaten dafür sorgte, dass der Gläubigerstaat mit der aktiven Handelsbilanz seiner Verantwortung für die Beseitigung des Ungleichgewichts nachkommt und davon Abstand nimmt, die Exportüberschüsse in internationale liquide Mittel (d. h. in Devisen­ reserven) anzulegen (sprich: zu sparen). Stattdessen sollte der Gläubigerstaat mit den Handelsüberschüssen Produkte verschuldeter Staaten kaufen und es diesen Staaten so ermöglichen, ihre Schulden allmählich abzutragen.26 Nachdem er den Funk-Plan gelesen hatte, entwickelte K ­ eynes einen Vorschlag für ein Währungssystem für die Nachkriegszeit, der die Hauptverantwortung für den Ausgleich von Handelsungleichgewichten vom Schuldner- auf den Gläubiger­ eynes’ Plan sah eine internationale Währungsunion vor, die darstaat übertrug. K auf abzielte, für ausgleichende Maßnahmen auf Seiten der Gläubiger zu sorgen, ohne die Schuldner aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Zu diesem Zweck verband er den „Clearing“-Ansatz von Schacht und Funk mit dem Bankprinzip. Alle überschüssigen internationalen Transaktionen  – also solche, die in der Zahlungsbilanz [eines Staates] zu einem Überschuss oder einem Defizit führen – sollten über „Clearing-Konten“ ausgeglichen werden, die die Zentralbanken der Mitglieder [also der teilnehmenden Staaten] bei einer Internationalen Clearing Bank (ICB) haben sollten.27

Diese ICB stellte K ­ eynes sich als eine supranationale Zentralbank vor. Der Konto­stand der einzelnen Zentralbanken bei der ICB sollte in „Bancors“ berechnet werden. Der Bancor sollte die ultimative Reservewährung des internationalen Finanzsystems sein. Wollte die Zentralbank eines der Mitgliedsstaaten in ­Keynes’ System einen Teil ihres Bancor-Guthabens bei der ICB verkaufen, um Devisen eines anderen Staates zu erwerben, so müsste sie eigene Währungsbestände an die Zentralbank eines anderen ICB-Mitgliedsstaats verkaufen. Damit auch jene Staaten international liquide waren und ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland nachkommen konnten, deren Bancor-Guthaben erschöpft war, sollten ICB-Konten vorübergehend auch überzogen werden können. Im Mai 1942 übernahm die briti 26 Einen Vorschlag zur Einrichtung einer Clearing-Union für das 21. Jahrhundert, die diese wichtige Bedingung erfüllt, stelle ich im 10. Kapitel vor. 27 Skidelsky 2003, S. 267 f.

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8. Kap.: Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit

sche Regierung ­Keynes’ Vorschlag einer Clearing-Union als Plan für ein internationales Zahlungssystem für die Nachkriegszeit, der als Grundlage für Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten dienen sollte. Eine Woche nach Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 beauftragte der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau den Leiter des „Office of Mone­tary Research“, Harry Dexter White, mit der Ausarbeitung eines Planes für die Stabilisierung des Währungssystems nach dem Krieg.28 Whites Vorschlag, einen internationalen Börsenstabilisierungsfonds einzurichten, wurde das ame­ eynes-Plan. Der Hauptunterschied bestand darin, dass­ rikanische Pendant zum K Keynes’ Vorschlag einer Clearing-Union auf dem Bankprinzip beruhte, wonach eine Bank das Guthaben, das Kontoinhaber zur Sicherung ihrer Liquidität bei ihr haben, an andere Kunden ausleiht, so dass das Geld genutzt wird, um aktuelle Industrieprodukte zu kaufen. In Whites Plan war dagegen nicht vorgesehen, dass ein am internationalen Stabilisierungsfonds beteiligter Staat seine Anteile nach eigenem Gutdünken verwenden konnte, um den eigenen Liquiditätsbedarf zu stillen. Im Kern hatte der Plan von ­Keynes zum Ziel, die Zuständigkeit für den Ausgleich von Zahlungsungleichgewichten weg von den Schuldner- und hin zu den Gläubigerstaaten zu verlagern. Dadurch sollte die Gefahr der Deflation gebannt werden, die im Falle des herkömmlichen internationalen Zahlungssystems Schuldner und Gläubiger gleichermaßen droht, wenn ein Schuldnerstaat sich gezwungen sieht, ein Zahlungsdefizit auszugleichen, indem er die Nachfrage der Konsumenten nach Gütern und Dienstleistungen reduziert, um so die Importe aus dem Ausland – und damit auch die Zahlungen an das Ausland – zu verringern. Das von ­Keynes entworfene System hatte einen Mechanismus eingebaut, über den Gläubigerstaaten die Verantwortung für den Ausgleich anhaltender Handelsungleichgewichte übernehmen sollten. Da der wichtigste Gläubigerstaat nach dem Krieg der allgemeinen Erwartung zufolge die USA sein würden, lief ­Keynes’ Plan darauf hinaus, die Verantwortung für die internationalen Finanzprobleme, die nach dem Krieg zu erwarten standen, den USA aufzubürden. Es war unübersehbar, dass die vom Krieg verwüsteten Staaten in Europa und Asien im Rahmen des Wiederaufbaus in erheblichem Umfang auf Importe aus den USA angewiesen sein würden, während ihre am Boden liegende Wirtschaft außerstande sein würde, Produkte in die USA zu exportieren, um die für den Kauf amerikanischer Produkte benötigten Dollars zu beschaffen. ­Keynes’ Plan, Gläubigerstaaten in die Pflicht zu nehmen, um Handelsungleichgewichte zu beseitigen, implizierte, dass die Vereinigten Staaten eine nicht bezifferte, aber erhebliche finanzielle Last würden tragen müssen, um die übrigen Staaten bei der Beseitigung der Kriegsverwüstungen zu unterstützen. Der Plan von White, einen Börsenstabilisierungsfonds einzurichten, nahm sich demgegenüber wesentlich bescheidender aus. Dieser Fonds sollte verhindern, dass 28

Skidelsky 2003, S. 695.

I. Pläne für die Nachkriegszeit

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die Mitgliedsstaaten in einen Währungskrieg eintraten, indem sie mit dem Ziel, sich auf den internationalen Märkten einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, die eigene Währung abwerteten. Um Schuldnerstaaten eine Abwertung ihrer Währung zu ersparen, sollte der Fonds nach eigenem Ermessen Kredite an die Zentralbanken von Ländern vergeben, die dauerhaft ein erhebliches Defizit ihrer internationalen Zahlungsbilanz aufwiesen. Während die betroffenen Staaten daran arbeiteten, ihre Wirtschaft umzubauen und ihre Handelsbilanz aufzubessern, konnten sie mit Hilfe dieser Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) für ihren Importüberschuss bezahlen. Finanziert werden sollte White’s Stabilisierungsfonds über festgelegte Starteinlagen aller Mitgliedsstaaten. Die Verpflichtungen der Vereinigten Staaten wurden dadurch de facto auf die Starteinlage begrenzt – auf eine Summe von 3 Milliarden Dollar, die White zufolge das Äußerste waren, was der US-Kongress absegnen würde. Im Juli 1944 machten sich 736 Delegierte und ihre Mitarbeiter aus 44 Ländern auf in den US-Bundesstaat New Hampshire, um im Mount Washington Hotel in Bretton Woods einen Plan für das internationale Zahlungssystem der Nachkriegszeit auszuhandeln. Da die Vereinigten Staaten den Löwenanteil der Kriegskosten der Alliierten getragen hatten, waren sie bei den Verhandlungen tonange­ eynes- und für den White-Plan. Der bend. Die Entscheidung fiel gegen den K IWF verkörpert den von White angestrebten Stabilisierungsfonds. Das Abkommen von ­Bretton Woods, so Skidelsky, „beruhte nicht auf der Allgemeinen Theorie ­Keynes’, sondern auf dem Wunsch der Vereinigten Staaten, mit Hilfe eines angepassten Goldstandards den Welthandel zu liberalisieren. Wenn dem Abkommen eine Weltanschauung zugrunde lag, so war das die Entschlossenheit Morgenthaus, Washington zum Finanzzentrum der Welt zu machen.“29 Keine zwei Jahre nach der Konferenz von Bretton Woods, am Ostersonntag, 21. April 1946, starb ­Keynes. Im 10. Kapitel erläutere ich die Prinzipien aus ­Keynes’ Allgemeiner Theorie, die seinem Plan für das Finanzsystem der Nachkriegszeit zugrunde lagen. Dabei zeige ich auf, dass die globale wirtschaftliche Blüte nach dem Zweiten Welt­ eynes-Plans in Bretton Woods zum großen Teil krieg trotz der Ablehnung des K darauf zurückging, dass der wichtigste Gläubigerstaat, die Vereinigten Staaten (weniger aus wirtschaftlichen denn aus politischen Gründen) die Verantwortung für den Ausgleich beharrlicher Handelsungleichgewichte übernahm – genau wie im ­Keynes-Plan vorgesehen. Außerdem gehe ich dort auf die Frage ein, wie ein­ Keynes-Plan für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Wenn man sich die Prinzi­ eynes’ Plan für ein internationales Zahlungssyspien vor Augen führt, auf denen K tem beruht, kann man die Umrisse einer internationalen Clearing-Union zeichnen, die der wirtschaftlichen und politischen Lage im 21. Jahrhundert angemessen ist. Wie ­Keynes ganz richtig erkannt hat, genügt es nämlich nicht, ein wirtschaftliches 29

Skidelsky 2003, S. 767.

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8. Kap.: Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit

Rezept zu liefern, das auf den richtigen Prinzipien basiert; die Prinzipien müssen auch geschickt verpackt werden, um den Eindruck zu vermeiden, sie stünden in krassem Kontrast zu den vorherrschenden politischen Ansichten und Werten. Bevor wir uns jedoch K ­ eynes’ Plan für eine internationale Währungsreform zuwenden, erkläre ich im 9. Kapitel, weshalb die klassische Theorie offener Volkswirtschaften, die den meisten Ökonomen als unverrückbare Wahrheit gilt, ebenso irreführend sein und ebenso katastrophale Konsequenzen haben kann wie die klassische Theorie geschlossener Volkswirtschaften.

9. Kapitel

Klassische Handelstheorie kontra ­Keynes’ Allgemeine Theorie des internationalen Handels- und Zahlungssystems Die Behauptung der Vertreter des ökonomischen Mainstreams, Freihandel und deregulierte internationale Finanzmärkte seien gesellschaftlich wünschenswert, da sie weltweit für größtmögliche Effizienz und größtmöglichen Wohlstand sorgten, beruht auf dem klassischen Gesetz des komparativen Kostenvorteils und auf der Annahme der klassischen Theorie, Wechselkurse sollten frei beweglich sein.1­ Keynes’ Analyse der Funktionsweise einer Geldwirtschaft dagegen legt nahe, dass die vorherrschende Ansicht zur Bedeutung flexibler Wechselkurse und des klassischen Gesetzes des komparativen Kostenvorteils, genau wie das Say’sche Gesetz, „irreführend und verhängnisvoll“ sein kann.

I. Die mit der klassischen Theorie des internationalen Handels verbundenen Vorteile Jeder gut ausgebildete Ökonom, dessen Arbeiten mit der klassischen Theorie im Einklang stehen, kennt die angeblichen Vorteile des Freihandels und frei beweglicher Wechselkurse: 1. Es ist unmöglich, dass ein Staat dauerhaft eine passive Handelsbilanz aufweist, der Wert der Importe also kontinuierlich den der Exporte übersteigt. 2. Jeder Staat kann unabhängig von der wirtschaftlichen Lage seiner Handels­ partner eine Geld- und Fiskalpolitik verfolgen, die auf Vollbeschäftigung ohne Inflation abzielt.2 3. Das Kapital wird stets von den reichen (d. h. entwickelten) Gläubigerstaaten zu den armen (d. h. unterentwickelten) Schuldnerstaaten fließen. Dieser internationale Kapitalstrom von den reichen zu den armen Staaten beruht auf dem Glauben 1 Ein frei beweglicher Wechselkurs setzt voraus, dass der Preis fremder Währungen ohne staatliche Eingriffe auf einem freien Markt bestimmt wird. 2 Dazu Professor Harry Johnson in der Londoner Times vom 9.  Dezember 1968: „Das Hauptargument für frei schwankende Wechselkurse ist so einfach, dass es den meisten Menschen schwer fällt, es zu verstehen […] [E]in frei schwankender Wechselkurs kann es einem Land ersparen, seine auf Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik zu revidieren, weil sie zu Inflation und Schulden führt.“

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

an die Allgemeingültigkeit des „Ertragsgesetzes“ der klassischen Theorie, das den effektiven Gewinn pro Kapital- und Arbeitseinheit bestimmt, die in den Produktionsprozess investiert wird. Da reiche Staaten mit Kapital reich gesegnet seien (d. h. pro Arbeiter mehr Investitionsgüter vorhanden sind) und arme Staaten über weniger Kapital pro Arbeiter verfügten, so das Ertragsgesetz, sollte die effektive Rendite in armen Staaten höher ausfallen. Auf einem freien Markt sollte das Kapital daher dort hinfließen, wo es den höchsten Ertrag bringt. Das Kapital sollte mit anderen Worten so lange aus den reichen Staaten in arme Staaten strömen, bis der Kapitalertrag in allen Staaten gleich hoch ist. Der Effekt dieses von der klassischen Theorie postulierten internationalen Kapitalstroms sollte eine schnellere Entwicklung unterentwickelter Länder und langfristig eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Wohlstand auf der Welt sein. Da Kapital in unterentwickelten Ländern Mangelware ist, sollten Investitionsprojekte, die mit Hilfe dieses hypothetischen Kapitalstroms aus reichen in arme Länder auf einem freien Markt finanziert werden, genügend Absatz generieren und ausreichend Devisen ins Land bringen, dass die unterentwickelten Länder das von ausländischen Kreditgebern und Investoren erhaltene Kapital zurückzahlen können. Die klassische Lehre impliziert also, dass internationale Kapitalströme eine vorübergehende Erscheinung und letztlich self-liquidating sind3. Aus Sicht der klassischen Theorie sollte der Staat daher dafür sorgen, dass alle Import-und Exportmärkte sowie alle internationalen Finanz- und Wechselkursmärkte sofort „liberalisiert“ und dauerhaft von staatlichen Eingriffen und Beschränkungen befreit werden sollten.

II. Der internationale Handel und liberalisierte Märkte: Die Fakten Seit das internationale Zahlungssystem von Bretton Woods Anfang der 1970er Jahre zusammengebrochen ist, gibt es einen anhaltenden Trend, 1. den internationalen Handel von staatlichen Zöllen und Einfuhrkontingenten zu befreien und 2. die internationalen Kapital- und Devisenmärkte zu liberalisieren. Die allzu optimistischen Versprechen der klassischen Theoretiker, welche wunderbaren Vor 3 Vertreter der klassischen Ökonomie betrachten „Kapitalflucht“ nicht als wirtschaftliches Problem. Sie behaupten in aller Naivität, Wohlhabende hätten unter allen Umständen das Recht, zu entscheiden, wann und wohin sie ihre Reserven verschieben, unabhängig vom wirtschaftlichen Schaden, den sie damit möglicherweise auf nationaler und internationaler Ebene anrichteten. Individuelle Rechte sind jedoch stets und völlig zu Recht dadurch eingeschränkt, welche potentiellen Folgen für die Gesellschaft mit ihrer Wahrnehmung unter den jeweiligen Umständen verbunden sind. Jemanden, der in einem vollen Theater „Feuer!“ ruft, würde wohl kaum jemand mit dem Verweis auf die individuelle Redefreiheit verteidigen. Unter vielen Umständen kann Fluchtkapital mehr Schaden anrichten, als jemand, der in einem Theater „Feuer!“ ruft.

III. Vom Handel und dem Gesetz des komparativen Vorteils

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teile mit der Aufhebung staatlicher Beschränkungen von Importen, Exporten und Finanzmärkten automatisch verbunden seien, wurden von den wirtschaftlichen Folgen jedoch nicht eingelöst. Trotz der weitreichenden Liberalisierung des internationalen Handels und der internationalen Finanzmärkte seit 1973 1. hatten einige nicht Erdöl produzierende Länder in Lateinamerika und Afrika in ihrer Zahlungsbilanz ein anhaltendes Defizit zu verzeichnen, 2. wurden durch Kapitalflucht Ressourcen aus vergleichsweise armen Ländern in reichere verschoben, mit dem Ergebnis, dass sowohl global als auch innerhalb einzelner Staaten Einkommen und Reichtum heute ungleicher verteilt sind denn je, 3. sahen sich die wichtigsten Handelsstaaten in der industrialisierten Welt einem immer größeren Druck ausgesetzt, ihre Geld- und Fiskalpolitik zu koordinieren. So kam es im September 1987 zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über die miteinander unkompatible Geldpolitik beider Staaten. Im Oktober 1987 kam es daraufhin zum weltweiten Börsenkrach. Diese beängstigende Erfahrung verstärkte bei den Verantwortlichen in den Zentralbanken der Industrieländer das Gefühl, dass sie zusammenhalten mussten, wenn sie verhindern wollten, dass sie alle zusammen untergehen. Um diese Diskrepanz zwischen der klassischen Theorie und den Tatsachen zu verstehen, muss man sich zunächst vor Augen führen, was das klassische Gesetz des komparativen Kostenvorteils für Handel und Beschäftigung bedeutet, und das Ergebnis mit der Realität vergleichen.

III. Vom Handel, dem Wohlstand der Nationen und dem Gesetz des komparativen Vorteils Freihandel, so eine unter Vertretern des ökonomischen Mainstreams unumstrittene „Wahrheit“, sorgt aufgrund des „Gesetzes des komparativen Vorteils“ dafür, dass global mehr Güter und Dienstleistungen produziert werden. Erreicht wird das dadurch, dass jeder Staat sich auf Branchen konzentriert, die einen „komparativen Vorteil“ haben, und einen Teil der Produkte aus diesen Branchen gegen Importe aus anderen Staaten eintauscht, wobei, so die Annahme, in allen Handelsnationen alle Ressourcen stets vollständig genutzt werden. Unter dem Strich sollten vom Freihandel also alle Staaten profitieren. Welche Branchen der einzelnen Staaten über einen solchen komparativen Vorteil verfügen, hängt von den Angebotsbedingungen ab, die im Rahmen des Produktionsprozesses über die Produktivität des Kapitals und der Arbeit entscheiden.4 4

Ein hypothetisches Beispiel zum Gesetz des komparativen Vorteils folgt unten.

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

Jeder staatliche Eingriff in den freien Handel zwischen zwei Staaten verhindert dem Gesetz des komparativen Vorteils zufolge, dass die beiden Länder den maximal möglichen Wohlstand erreichen. Adam Smith dagegen formulierte 1776 die Überzeugung, die Fähigkeit eines Staates, mehr Einkommen und Wohlstand hervorzubringen, werde in erster Linie von der Größe des Marktes begrenzt. Durch die Vergrößerung des Marktes, so Smith, könnten Unternehmer Handelsbeziehungen zu anderen Regionen aufbauen und Skaleneffekte nutzen, was die Produktivität jedes eingestellten Arbeiters erhöhe und somit dem Einkommensniveau und dem Wohlstand der Nationen zuträglich sei. Für Adam Smith hing das Wirtschaftswachstum in erster Linie von der Nachfrage ab. Der Schlüssel zur Überwindung bestehender Produktionshemmnisse war für ihn daher die Stärkung der Nachfrage. Eine augenfällige Lehre aus der Analyse Smiths lautet, dass keine Nation, die ihren Wohlstand mehren möchte, eine Insel ist. Wobei Smith natürlich impliziert, dass der Bedarf der Konsumenten auf dem heimischen Markt bereits gedeckt ist, so dass eine Absatzsteigerung für die Produkte der heimischen Industrie auf dem heimischen Markt unwahrscheinlich oder gar unmöglich ist. Jedenfalls spielen in der Untersuchung Adam Smiths, was den Wohlstand einer Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt begrenze, Angebotshemmnisse aufgrund des klassischen Ertragsgesetzes keine nennenswerte Rolle. Diese wurden erst durch David Ricardo im 19. Jahrhundert Bestandteil der klassischen Theorie. Ricardo führte 1817 das Gesetz des komparativen Vorteils ein, um die Bedeutung des Freihandels zu unterstreichen. Seit Ricardo betonen alle Verfechter des Freihandels die Notwendigkeit, dass sich jedes Land zur Mehrung seines Wohlstands angesichts eines begrenzten Angebots (bzw. abnehmenden Ertrags) auf die Branche(n) spezialisiert, in denen es einen komparativen Vorteil besitzt. Hatte Smith sich eine Steigerung des Wohlstand von der Nutzung von Skaleneffekten durch die Ausweitung der heimischen Produktion versprochen, so lag der Schlüssel für Ricardo in der Spezialisierung. In der Handelswelt Ricardos findet die Produktion in jedem Land in einem Bereich des abnehmenden Ertrags statt. Grund dafür ist das klassische Gesetz der variable Proportionen, wonach die Produktionssteigerung durch die Einstellung eines Arbeiters mit jedem zusätzlichen Arbeiter immer geringer wird. Eine Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geht in Ricardos Modell nicht automatisch mit einer signifikanten Zunahme des Wohlstands einher. Vielmehr sei es das Gesetz des komparativen Vorteils, wonach der eine Staat sich auf jene Branche spezialisiert, in der er den größten Produktionskostenvorteil besitzt, während der Handelspartner dieses Staates sich auf die Branche spezialisiere, in der er den geringsten Kostennachteil hat. Das mehre den Wohlstand in beiden Staaten und erhöhe die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Betrachten wir zur Veranschaulichung des Gesetzes des komparativen Vorteils ein hypothetisches Beispiel. Nehmen wir zwei Wirtschaftsräume an, bei-

III. Vom Handel und dem Gesetz des komparativen Vorteils

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spielsweise den Osten (d. h. Länder mit geringen Arbeitskosten, wie Indien und China) und den Westen (Länder mit hohen Lohnkosten, wie die Vereinigten Staaten oder Westeuropa). Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, beide Wirtschaftsräume produzierten vor Einführung des Freihandels zwei handelbare Produkte  – sagen wir Fahrräder (die durch billige, ungelernte Arbeiter hergestellt werden) und Computer (deren Produktion besser bezahlte Facharbeiter erfordert). Nehmen wir weiter an, in diesen beiden Branchen wären eine Million Arbeiter im Osten und einhunderttausend im Westen angestellt, und diese insgesamt 1,1 Millionen Angestellten produzierten 375000 Fahrräder und 55000 Computer (die ihre Arbeitgeber auf dem Markt mit Gewinn verkaufen können). Der klassischen Theorie Ricardos zufolge wird die Einführung des Freihandels zwischen Ost und West dazu führen, dass jeder Wirtschaftsraum sich auf die Herstellung jener Produkte spezialisiert, bei denen er einen komparativen Kostenvorteil hat. Angenommen, der Osten könnte sowohl Fahrräder als auch Computer billiger herstellen als der Westen, da im Osten selbst Facharbeiter für einen deutlich geringeren Lohn zu arbeiten bereit sind als Facharbeiter im Westen. Weiter angenommen, der Kostenvorteil des Ostens aufgrund der günstigeren Produktion wäre in der Fahrradbranche größer als in der Computerbranche. In diesem Fall würden Ökonomen sagen, dass der Osten zwar sowohl in der Fahrradproduktion als auch bei der Computerherstellung einen absoluten Kostenvorteil habe, der komparative Kostenvorteil des Ostens jedoch in der Fahrradherstellung liege und der des Westens in der Computerproduktion. Dem Gesetz des komparativen Kostenvorteils zufolge sollte sich der Osten unter Einsatz seines ganzen Kapitals und seiner ein Millionen Arbeiter auf die Herstellung von Fahrrädern spezialisieren, während der Westen all seine 100000 Arbeiter in der Computerproduktion beschäftigen sollte. Nehmen wir an, die insgesamt 1,1 Millionen Arbeiter könnten auf diese Weise mehr Fahrräder und mehr Computer herstellen, sagen wir 400000 Fahrräder und 70000 Computer. In diesem hypothetischen Beispiel hat die Welt durch Einführung des Freihandels einen komparativen Vorteil von 25000 zusätzlichen Fahrrädern und 15000 zusätzlichen Computern. Fortan sollte der Osten Fahrräder an den Westen verkaufen und der Westen Computer an den Osten. Da mit demselben Einsatz an Arbeitskraft von beiden Gütern mehr produziert wird und für den Konsum zur Verfügung steht, sollten die Menschen in beiden Wirtschaftsräumen von diesem Handel profitieren, da sie auf ein größeres Angebot an Fahrrädern und Computern zurückgreifen können, ohne dass mehr Arbeitsstunden aufgewendet werden müssten. Daher die Behauptung, das Gesetz des komparativen Kostenvorteils „beweise“, dass das weltweite Realeinkommen durch Freihandel steige, da den Konsumenten in Osten und Westen auf diese Weise mehr Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stünden. Für Ricardo ging der komparative Vorteil jedes Landes im Wesentlichen auf sein einzigartiges Angebotsumfeld zurück (wie etwa Bodenschätze, das Klima

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

und seine Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, usw.), die unterschiedliche Produktionskosten zur Folge hätten. Die Begründung des Freihandels mit dem Gesetz des komparativen Vorteils beruht auf dem Gedanken, den heimischen Markt für Güter aus anderen Ländern zu öffnen, in denen die Produktionskosten aufgrund der höheren Produktivität niedriger liegen (selbst wenn das für die Branche sinkende Gewinne bedeutet). Einem berühmten Beispiel Ricardos nach bezog Portugal aus seinem Klima und der Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte einen komparativen Vorteil bei der Weinproduktion, während England einen komparativen Vorteil bei der Stoffproduktion hatte. In Portugal war zwar sowohl die Wein- als auch die Stoffherstellung billiger als in England, doch wenn Portugal seine Ressourcen auf die Weinproduktion konzentrierte, bei dem es den größten Kostenvorteil hatte, und England seine Ressourcen für die Stoffproduktion einsetzte, bei der es den geringsten Kostennachteil hatte, so war die Gesamtproduktion beider Güter – wie in unserem hypothetischen Fahrrad- und Computerbeispiel oben – größer, als wenn jedes Land versuchen würde, beide Güter zu produzieren. Folglich erhöhte sich durch die Spezialisierung jedes Landes auf die Branche, in der es einen komparativen Vorteil besaß, der Gesamtausstoß, und damit die Menge an Wein und Stoff, die in beiden Ländern auf dem Markt verfügbar war. Offensichtlich sind solche Kostenunterschiede in Landwirtschaft und Bergbau, wo Klima und Bodenschätze dafür sorgen, dass manche Güter in dem einen Land billiger hergestellt werden können als in dem anderen. Im Falle der industriellen Massenproduktion dagegen gehen unterschiedliche Produktionskosten eher nicht auf die klimatischen Bedingungen oder die Bodenschätze eines Landes zurück, wird in diesem Bereich doch in jedem Land dieselbe Produktionsmethode angewandt. ­Keynes war sich dieser Problematik bewusst: In einer rationalen Welt ist ein erheblicher Grad an internationaler Spezialisierung überall dort notwendig, wo er aufgrund großer Unterschiede des Klimas, der Bodenschätze [etc.] […] angezeigt ist. Doch bei immer mehr Industrieprodukten […] habe ich meine Zweifel, ob die ökonomischen Kosten der Autarkie groß genug sind, um den anderen Vorteil aufzuwiegen, der daraus erwächst, Produzenten und Konsumenten allmählich in Einflussbereich derselben nationalen Wirtschafts- und Finanzunternehmen zu bringen [um für Vollbeschäftigung zu sorgen]. Die Erfahrung verdichtet sich nach und nach zu der Gewissheit, dass die meisten Prozesse der modernen Massenproduktion in den meisten Ländern und Klimazonen mit derselben Effizienz stattfinden können.5

­Keynes weist hier auf etwas hin, was von der heutigen Entwicklung unter­mauert wird: Aufgrund der Entstehung multinationaler Konzerne und angesichts der Leichtigkeit, mit der diese Technologie international verlagern können, beruhen

5

­Keynes 1933c, S. 238.

III. Vom Handel und dem Gesetz des komparativen Vorteils

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unterschiedliche Produktionskosten in einer bestimmten Branche heute sehr viel eher auf nationalen Unterschieden bei den Nominallöhnen (pro tatsächlich geleisteter Arbeitsstunde), sowie auf den (in einer bestimmten Währung gemessenen) Kosten, die die Sicherung „zivilisierter“ Arbeitsbedingungen verursacht, etwa die Einschränkung von Kinderarbeit, zuzüglich der Kosten, die für das Unternehmen im Bereich der Krankenversicherung, Altersvorsorge etc. anfallen. Anders ausgedrückt: In unserem heutigen, vom Prinzip des Laissez-faire geprägten System spiegelt der weltweite Handel mit Industrieprodukten weniger die realen Kosten wider, die mit dem unterschiedlichen Klima oder der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Bodenschätzen in verschiedenen Ländern zusammenhängen, als vielmehr die Unterschiede bei den Nominallöhnen, beim Arbeitsschutz und anderer nominaler Kosten, die vom Unternehmen getragen werden müssen. Im 21. Jahrhundert ermöglichen es geringe Transport- und/oder Kommunika­ tionskosten, viele Güter und Dienstleistungen billig an weit entfernte Absatzmärkte zu liefern. Folglich werden sich auf Massenproduktion ausgerichtete Unternehmen, die ungelernte Arbeiter, ausgebildete Arbeiter oder sogar spezialisierte Fachkräfte brauchen, tendenziell in jenen Ländern ansiedeln, in denen das Wirtschaftssystem einem Menschenleben, zumindest gemessen am Stundenlohn und dem von den Unternehmen geschaffenen Arbeitsumfeld, den niedrigsten Wert beimisst. Die meisten Industriestaaten haben schon vor langer Zeit Gesetze verabschiedet, nach denen Kinderarbeit und die Ausbeutung von Arbeitnehmern verboten sind. Doch in den meisten unterentwickelten Ländern sind solche Bedingungen in Branchen mit hohem Wettbewerbsdruck nach wie vor weit verbreitet. In Branchen mit Massenproduktion und einem internationalen Markt hat der freie Wettbewerb daher in der Regel zur Folge, dass der Lebensstandard der Arbeiter in den Industrieländern sinkt und sich dem von Ländern annähert, in denen viele billige Arbeitskräfte in Ausbeuterbetrieben arbeiten und kaum von Gesetzen geschützt werden, die sichere und gesunde Arbeitsbedingungen vorschreiben. In jenen Bereichen dagegen, in denen die Kommunikations- und/oder Transport­ kosten sehr hoch sind und Einwanderungsgesetze den Import billiger Arbeitskräfte einschränken (z. B. haushaltsnahe Dienstleistungen, Gastronomie, Friseursalons usw.), können in Industrieländern, in denen gesetzliche Bestimmungen für zivilisierte Arbeitsbedingungen sorgen, noch immer erhebliche Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Wenn durch den Freihandel immer mehr Arbeiter in den Industrieländern ihre vormals gut bezahlten Stellen in der Massenproduktion verlieren, wird die Konkurrenz um bestehende Jobs im Dienstleistungsbereich sehr wahrscheinlich zu sinkenden Löhnen führen6 oder zumindest einen signifikanten Anstieg der Reallöhne verhindern. Daher nimmt es nicht wunder, dass sich der Anteil der Löhne am BIP der Vereinigten Staaten 2005 auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten befand.

6

Vgl. Uchitelle 2006.

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeigt der analytische Rahmen ­Keynes’, dass man den internationalen Freihandel als Mittel zur Förderung des Wohlstands aller Staaten und ihrer Bewohner auf Grundlage des Gesetzes des komparativen Kostenvorteils nicht rational begründen kann – höchstens im Bereich der Landwirtschaft, der Bodenschätze und anderer Branchen, in denen die Produktivität stark von den klimatischen Bedingungen und den vorhandenen Ressourcen abhängt. Allerdings wird die Produktion in solchen vom Klima oder von Naturschätzen abhängigen Branchen heute sehr häufig von Kartellen mit großer Marktmacht (wie z. B. der OPEC) und/oder von einer Politik der Erzeugerstaaten gesteuert, die zu verhindern sucht, dass die Marktpreise so weit fallen, dass sie die „realen“ Produktionskosten abbilden. Kurz: Viele Branchen, auf die das Gesetz des kompa­ rativen Kostenvorteils vielleicht auch heute noch anwendbar wäre, sind durch­ Kartelle vor internationalem Wettbewerb geschützt. Der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Trend hin zu multinationalen Konzernen im Bereich der produzierenden Industrie und hin zur immer stärkeren Liberalisierung des Handels ermutigte viele Unternehmen, Teile der Produktion „outzusourcen“, also die Produktionskosten zu reduzieren, indem sie nach dem Standort mit den niedrigsten Löhnen suchen. Zugleich dient die Möglichkeit des „Outsourcings“ in den Industrieländern als Druckmittel gegen teure, gewerkschaftlich organisierte einheimische Arbeiter. Tatsächlich lässt sich die rasant fortschreitende Industrialisierung zahlreicher Länder (wie China, Indien und Südostasien) in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts hauptsächlich auf die Suche multinationaler Konzerne nach billigen Arbeitskräften zurückführen, die mit Hilfe derselben technischen Produktionsprozesse dieselben Güter und Dienstleistungen billiger produzieren als ihre teuren Kollegen in den Industrieländern. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die zwischenstaatlichen Transport- und Kommunikationskosten hoch waren und erhebliche Handelshemm­ nisse bestanden, fungierten hohe Lohnstückkosten im Inland als Anreiz für Firmenmanager in Massenproduktionsbranchen, in die Suche nach innova­tiven Methoden zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität im Inland zu investieren, um so die Lohnkosten je Produktionseinheit zu senken. Aufgrund der immer größer werdenden Konzerne und der Beseitigung vieler Beschränkungen des inter­nationalen Handels mit massenproduzierten Gütern befördern die hohen heimischen Lohnkosten heute nicht mehr Investitionen in die Steigerung der Produktivität, sondern in die Praxis des Outsourcings. Unter den vorherrschenden Bedingungen ist es billiger, mit den bestehenden Methoden im Ausland weiterzuproduzieren, anstatt mit viel Aufwand nach technischen Innovationen zur Senkung der Produktionskosten im Inland zu forschen. Die durch Outsourcing erwirtschafteten zusätzlichen Gewinne wurden daher nicht in Forschung und technologische Weiterentwicklung reinvestiert. Dabei sind es langfristig betrachtet stets technologische Verbesserungen, die den Lebensstandard heben. In allen Branchen, in denen die Arbeit auch von billigen Arbeitskräften im Ausland er­ledigt werden kann und die Transportund Kommunikationskosten im Vergleich zu den Produktionskosten niedrig sind,

III. Vom Handel und dem Gesetz des komparativen Vorteils

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besteht für Manager unter den heute gültigen Regeln des Freihandels ein geringerer Anreiz, Innovationen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität im Inland voranzutreiben. Der in vielen Industrieländern seit den 1970er Jahren zu beobachtende Rückgang bei den Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität lässt sich zumindest teilweise auf diesen Trend zurückführen, lieber auf billige Arbeitskräfte im Ausland zurückzugreifen, anstatt nach Verbesserungen des Produktionsprozesses im Inland zu suchen. Abgesehen von der Produktion mancher Bodenschätze spielt das Gesetz des abnehmenden Ertrags heute für die Produktionskosten international gehandelter Güter und Dienstleistungen kaum je eine wichtige Rolle. Die Ausweitung des internationalen Handels muss man daher mit der Folge einer wachsenden weltweiten Marktnachfrage begründen, nicht damit, dass die Produktion in einem Land mit billigen Arbeitskräften die Produktion in einem Land mit teuren Arbeitskräften ersetzen kann. Die nachfragegesteuerte Ausweitung des Handels kann den zunehmenden Wohlstand der Nationen sowohl im Sinne Adam Smiths erklären, also mit der Ausnutzung von Skaleneffekten, als auch im Sinne John Maynard K ­ eynes’, der den Hauptgrund dafür, dass Volkswirtschaften ihre Produktionskapazitäten nicht ausschöpfen, in einer mangelnden effektiven Nachfrage sah. Doch anstatt zu argumentieren, der Handel ermögliche es allen Ländern, die effektive Nachfrage nach ihren Produkten zu steigern, rechtfertigen Wirtschaftsberater wichtiger Politiker den Abbau von Handelsschranken gerne mit Verweis auf das uralte, klassische „Gesetz des komparativen Vorteils“, obwohl die Tat­ sachen diese Argumentation nicht stützen. So verteidigte der Vorsitzende des Wirtschaftsrates von Präsident George W. Bush, N. Greg Mankiw, im Frühling 2005 die Praxis des „Outsourcings“, bei der amerikanische Firmen um niedrigerer Lohnkosten willen die Produktion ins Ausland verlagern, anstatt Amerikaner anzustellen und in den USA zu produzieren. Mankiw behauptete ungeachtet des mit dieser Praxis einhergehenden Verlusts gut bezahlter Arbeitsplätze in Amerika, Outsourcing sei sowohl für die US-Wirtschaft von Vorteil als auch für den Rest der Welt. Langfristig, so Mankiw, werde der Freihandel in allen Ländern für mehr Einkommen und Wohlstand sorgen, weil als Ausgleich für die ins Ausland outgesourcten Jobs in der Produktion neue, besser bezahlte Arbeitsplätze in den USA geschaffen würden. Leider setzt das Gesetz des komparativen Vorteils, auf dem Mankiws Versprechen neuer, besser bezahlter Arbeitsplätze beruht, mindestens zwei grundlegende Annahmen voraus, die auf die Wirklichkeit, in der wir leben, nicht zutreffen. Erstens geht sie davon aus, dass die zusätzlich produzierten 25000 Fahrräder und 15000 Computer aus unserem obigen Beispiel automatisch einen entsprechenden Anstieg der weltweiten Nachfrage auslösen. (Wie gerne würden die Automobilkonzerne dieser Welt hören, dass sie bei Ausweitung ihrer weltweiten Produktions­ kapazitäten durch den Bau von Fabriken in Ländern mit einem komparativen Kostenvorteil im Automobilbau all die zusätzlich hergestellten Autos auch (mit

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

Gewinn) verkaufen würden! Überkapazitäten – wie sie heute offensichtlich bestehen – wären dann völlig undenkbar.) Die Behauptung, das zusätzliche Angebot schaffe sich selbst eine zusätzliche Marktnachfrage, impliziert, dass sich auf die klassische Handelstheorie das ­ eynes jedoch geSay’sche Gesetz anwenden ließe. Wie wir gesehen haben hat K zeigt, dass das Say’sche Gesetz auf eine von Unternehmertum geprägte Geldwirtschaft nicht anwendbar ist. Freier Wettbewerb auf nationaler oder internationaler Ebene ist kein Garant für Vollbeschäftigung. Wenn es daher irgendetwas gibt, was die Ökonomen seit ­Keynes gelernt haben sollten, dann dass man unmöglich beweisen kann, dass alle am Freihandel beteiligten Länder automatisch von ihm profitieren – es sei denn, man weiß mit Sicherheit, dass in allen Ländern vor und nach Einführung des Freihandels Vollbeschäftigung herrscht. Das bringt uns zu einem zweiten Problem der Anwendung des Gesetzes des komparativen Kostenvorteils auf die Realität. Die Lehrbücher unterstellen, dass der Handel nur dann in der vom Gesetz des komparativen Kostenvorteils behaupteten Weise zusätzliche Gewinne beschert, wenn weder das Kapital noch die Arbeitskräfte über nationale Grenzen hinweg mobil sind und die Arbeitsproduktivität in allen Ländern in allen Branchen vom Gesetz der variablen Proportionen bestimmt wird. Können weder das Kapital noch die Arbeitskräfte Ländergrenzen überwinden, so ist die weltweite Gesamtproduktion am Größten, wenn sich die mit Kapital gesegnete Region [der Westen] auf eine Branche mit großen Kapitalund Technologieeinsatz spezialisiert (die Computerherstellung) und der Osten, der über viele Arbeitskräfte, aber wenig Kapital verfügt, auf die arbeitsintensive Branche (die Fahrradproduktion). Wenn das Kapital dagegen international frei beweglich ist und nach Einführung des Freihandels keine Vollbeschäftigung herrscht, kann es sein, dass die vom Gesetz des komparativen Kostenvorteils in Aussicht gestellten Vorteile ausbleiben. Unter diesen Bedingungen werden Unternehmer dort in Produktionsanlagen investieren, wo die größten Gewinne zu erwarten sind – also dort, wo die Lohnstückkosten am niedrigsten sind.7 Können multinationale Unternehmen Techno­ logie von Land zu Land verschieben, so wird mithin in allen Ländern dieselbe Anzahl an Arbeitsstunden nötig sein, um eine Produkteinheit herzustellen. Oder, wie ­Keynes es ausdrückte: „Prozesse der modernen Massenproduktion [können] in den meisten Ländern […] mit derselben Effizienz stattfinden.“8 Der Osten verfügt daher über einen absoluten Kostenvorteil, da dort die (in ein- und derselben Währung ausgedrückten) Lohnstückkosten für alle relevanten Produktionsniveaus, die der weltweite Markt aufnehmen kann, sowohl in der Fahrrad- als auch in der Computerherstellung niedriger liegen. Am Ende wird der Osten genügend Kapital aus dem Ausland anlocken, um alle Fahrräder und Computer zu produzieren, die zur 7 Vorausgesetzt, dass die Transportkosten den Lohnkostenvorteil nicht vollständig auf­ zehren. 8 ­Keynes 1933c, S. 238.

III. Vom Handel und dem Gesetz des komparativen Vorteils

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Deckung der globalen Nachfrage nötig sind. Mit anderen Worten: So lange es in der Produktion nicht zu abnehmenden Erträgen kommt und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht ausreicht, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten, werden die internationale Produktion und der internationale Handel nicht vom Gesetz des komparativen Kostenvorteils bestimmt, sondern vom absoluten Kostenvorteil eines großen Angebots an Arbeitern mit niedrigen Nominallöhnen. Folglich werden im Westen Produktion und Beschäftigung im Bereich der Fertigung handelbarer Güter erheblich zurückgehen, vielleicht sogar auf Null sinken. Für Volkswirtschaften, insbesondere jene, die Gesetze gegen Kinderarbeit haben und ihren Arbeitern zivilisierte Arbeitsbedingungen und zugleich einen hohen Lebensstandard bieten, kann es daher gefährlich sein, wenn die Frage des Outsourcings, des Handels und der internationalen Zahlungsströme unter Berufung auf den komparativen Kostenvorteil dem freien Markt überlassen wird. Gegenüber Ländern mit Kinderarbeit und niedrigen Löhnen werden Länder mit zivilisierten Arbeitsbedingungen in keinem Bereich der Produktion handelbarer Güter und Dienstleistungen je einen absoluten Kostenvorteil haben. Kurz: Ist das Kapital international frei beweglich, so ist das Argument, aufgrund des „Gesetzes des komparativen Kostenvorteils“ profitierten alle Länder vom Freihandel, so lange hinfällig, so lange der Osten über ein großes Angebot an ungelernten und ausgebildeten billigen Arbeitskräften, und damit in der Produktion aller handelbaren Güter über einen absoluten Kostenvorteil verfügt. Dank des großen Angebots an billigen ungelernten und ausgebildeten Arbeitern wird der Osten so viel Investitionskapital aus dem Westen anlocken, bis die meisten, wenn nicht alle handelbaren Güter und Dienstleistungen, die weltweit mit Gewinn abgesetzt werden können, im Osten produziert werden. Im Westen werden fast nur noch Arbeitsplätze in Branchen verbleiben, deren Produkte nicht über Grenzen hinweg gehandelt werden können. Trotz der Verluste an gut bezahlten Jobs für gut ausgebildete Amerikaner in den vergangenen Jahren gibt es Verfechter der Theorie des komparativen Kostenvorteils wie Mankiw, die unbeirrbar an dem Glauben festhalten, dass in den USA (nicht näher angegebene) Jobs für Fachkräfte in Branchen der Hightech-Industrie entstehen werden, in denen chinesische und indische Arbeiter aufgrund mangelnder Ausbildung nicht mit den Amerikanern konkurrieren können. Wenn Mankiw einschränkt, Outsourcing sei „langfristig“ gut für die US-Wirtschaft, so ist das Ausdruck seiner Überzeugung, Arbeitslosigkeit werde auf die Dauer kein großes Problem sein, da in den USA auf wundersame Weise neue, heute noch nicht absehbare Arbeitsplätze entstehen würden. Warum haben dann die „freigesetzten“ Arbeitskräfte, über die Uchitelle schreibt, die neuen, besser bezahlten Jobs, die laut Mankiw in Amerika entstehen, nicht gefunden? Die Standardantwort lautet, diese Arbeitskräfte seien selbst schuld, wenn sie nur für schlecht bezahlte, wenig produktive Jobs in Frage kämen. Ohne den Anflug eines Lächelns teilt man uns mit, arbeitslose Arbeiter müssten sich ledig-

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

lich eine bessere Ausbildung verschaffen, und schon würden sie einen besseren Job finden. Der Ruf nach besser ausgebildeten Arbeitskräften als Heilmittel gegen die durch Outsourcing verursachten Schwierigkeiten zeugt davon, dass der Rufer nicht zuende gedacht hat, welche Probleme die Handelsstruktur einer vom Freihandel geprägten Weltwirtschaft mit sich bringt, in der Kinderarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, umweltverschmutzende Produktion und eine Vielzahl weiterer Dinge an der Tagesordnung sind, die der Schaffung einer guten Gesellschaft entgegenstehen. In Anbetracht des derzeitigen internationalen Zahlungssystems, des liberalisierten Handels und der Tatsache, dass in kaum einem Land Vollbeschäftigung herrscht, ist davon auszugehen, dass die meisten Arbeitsplätze in den Industrieländern langfristig auf Branchen beschränkt sein werden, in denen sich Außenhandel wegen der hohen Transport- und Kommunikationskosten nicht lohnt, sowie auf Nischen wie die Rüstungsindustrie u. ä., in denen Outsourcing aus politischen oder gesellschaftlichen Gründen nicht erwünscht ist. Wenn die Regierungen in den Industriestaaten nicht gezielte Maßnahmen ergreifen, um in ihrer heimischen Wirtschaft für Vollbeschäftigung zu sorgen, obwohl sie in der Produktion handelbarer Güter und Dienstleistungen über keinerlei absolute Kostenvorteile verfügen, kann der Freihandel in den Industrieländern zur Verarmung erheblicher Teile der Bevölkerung (nämlich der Arbeiter, deren Einkommen kaum Anteile von Unternehmensgewinnen enthält) führen, weil entweder die Arbeitslosenquoten im Westen dramatisch ansteigen oder die Arbeiter im Westen gezwungen sind, für einen Lohn zu arbeiten, der mit den Löhnen im Osten konkurrenzfähig ist. Jedenfalls sollten die Politiker im Westen darauf aufmerksam gemacht werden, welche „verhängnisvollen“ Folgen es haben kann, die klassische Theorie in Zeiten des Freihandels und liberalisierter internationaler Finanzmärkte blind auf das Problem des Outsourcings anzuwenden. So lange westliche Regierungen nicht entschlossene, konkrete Schritte unternehmen, um die dauerhafte Vollbeschäftigung ihrer einheimischen Arbeitskräfte zu sichern, werden Freihandel und Outsourcing nicht die Allheilmittel sein, als die ihre Befürworter sie ausgeben9.

IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel gegen eine passive Handelsbilanz? Wenn Land A dauerhaft eine passive Handelsbilanz mit Land B hat, so bedeutet das, dass Land A jedes Jahr mehr für Importe an Land B bezahlt, als es durch Exporte an Land B einnimmt, Land A sich bei Land B also immer mehr ver­ 9 Seit 2003 haben der Irakkrieg und die Steuererleichterungen der Regierung Bush in den USA nahezu für Vollbeschäftigung gesorgt, so dass der Lebensstandard nur wenig gesunken ist, obwohl die Reallöhne in den letzten Jahren kaum gestiegen sind. In mehr und mehr Arbeiterhaushalten müssen zwei oder mehr Familienmitglieder arbeiten gehen, um das reale Familieneinkommen konstant zu halten.

IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel?

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schuldet.10 Das wirft die Frage auf, wie Land A seine passive Handelsbilanz aufbessern und das Problem der wachsenden Auslandsverschuldung lösen kann. Vertreter der klassischen Theorie argumentieren, das Problem der passiven Handelsbilanz löse sich ganz von alleine, wenn Land A den Wechselkurs seiner Währung völlig frei vom Markt bestimmen lasse. Durch einen sinkenden Wechselkurs, so die Annahme, steige automatisch der Wert der Exporte von Land A, während der Wert der Importe sinke, bis beides sich die Waage halte. Warum ist das so? Wenn der Wechselkurs der Währung von A fällt, so steigt (in der Währung A) der Preis für Importe des Landes A im Vergleich zu den Kosten vergleichbarer, im Inland hergestellter Produkte. Die Haushalte im Land A werden daher importierte Produkte durch heimische ersetzen, so dass der Umfang der Importe abnimmt. Für Haushalte im Land B reduziert die Abwertung der Währung von A den Preis der vom Land A exportierten Produkte im Vergleich zu im Inland produzierten. Die Haushalte im Land B sollten also mehr Exporte von A und weniger heimische Produkte kaufen als zum Zeitpunkt, bevor der Wechselkurs von A sank. Haushalte im Land A dagegen sollten weniger Exporte von B und mehr Produkte aus heimischer Produktion kaufen. Ist das Axiom der Substituierbarkeit gültig, so muss eine Abwertung der Währung von A im Land A zu einer Erhöhung der Menge an Exporten und zu einer Reduzierung der Menge an Importen führen, während im Land B der umgekehrte Effekt eintritt. Es ist eine empirische Tatsache, dass eine signifikante Abwertung der Währung des Landes A unter ansonsten gleichen Be­dingungen in der Regel eine Abnahme des Importvolumens und eine Zunahme des Exportvolumens bewirkt. Diese durch die Abwertung ausgelösten Veränderungen des Handelsvolumens werden aber nur dann das Defizit in der Zahlungsbilanz des Landes A reduzieren, wenn unter dem Strich der Geldwert der Differenz aus Ex- und Importen des Landes A steigt. Ob sich der Wert dieser Differenz erhöht, hängt davon ab, wie groß die Summe aus der Preiselastizität der Nachfrage nach Importen und der Preiselastizität der Nachfrage nach Exporten ist. Die Preiselastizität des Angebots gibt den Prozentsatz an, um den sich die nachgefragte Menge bei einer gegebenen prozentualen Veränderung der Preise verändern muss. Nehmen wir zur Veranschaulichung einen hypothetischen Extremfall an, wonach die Preiselastizität der Nachfrage nach Exporten von A bei 0,5 liegt, so dass sich bei einer Abwertung um beispielsweise 10 Prozent das Exportvolumen ins Ausland um 5 Prozent erhöht und Ausländer für Exporte von A (sagen wir, in Dollar) 10 Prozent weniger bezahlen. Trotz der Erhöhung des Handelsvolumens sinkt in diesem Fall der Wert der Exporte von A in Dollar sogar, und zwar um 5 Prozent. Nehmen wir weiter an, die Preiselastizität der Importe von A betrage 0,4, so dass die Bevölkerung von A dem Land B 4 Prozent weniger Exporte abkauft, in Dollar für alle Importe jedoch 10 Prozent mehr bezahlt. In diesem Fall würde der 10

Die USA verzeichnen seit 1982 eine passive Handelsbilanz (vgl. Tabelle 9.1.).

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9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

Preis der Importe in Dollar gerechnet lediglich um 4 Prozent sinken. Das heißt bei der Summe der Preiselastizitäten von 0,9 (=0,5 + 0,4) fällt der Wert der Exporte um 5 Prozent, und der Wert der Importe nimmt um 4 Prozent ab. In einer gemeinsamen Währung wie Dollar gerechnet ist somit das Defizit in der Handelsbilanz nach der Abwertung sogar größer als vorher. Nimmt man an, dass das aggregierte Einkommen insgesamt konstant bleibt, so wird als Folge der Währungsabwertung der Wert der Differenz aus den Exporten minus den Importen von A nur dann steigen und die Handelsbilanz sich verbessern, wenn die Summe der Preiselastizitäten der Exporte und der Importe eines Landes größer als Eins sind (Ökonomen sprechen in diesem Fall von der MarshallLerner-Bedingung).11 Die meisten empirischen Studien kommen zu dem Schluss, dass die Summe dieser Preiselastizitäten kurzfristig in den meisten Industrie­ ländern kleiner als Eins ist, eine Abwertung die Handelsbilanz also nicht verbessert. Anhänger der klassischen Theorie dagegen unterstellen, dass – wenn alles beliebig substituierbar ist – langfristig immer die Marshall-Lerner-Bedingung gilt. Doch selbst wenn die Summe der Preiselastizitäten etwas größer als Eins ist (die Marshall-Lerner-Bedingung also zutrifft), kann eine enorme Abwertung der Währung von A nötig sein, um die ungünstige Handelsbilanz von A signifikant zu verringern. Jede starke Währungsabwertung muss deutlich schädliche Auswirkungen auf das Realeinkommen der Bewohner von A haben, zumindest teilweise durch eine Inflation der Preise aller Importe. Von Ländern mit ungünstiger Handelsbilanz eine Abwertung ihrer Währung zu verlangen kann für diese Länder daher, wie ­Keynes explizit betonte, eine ebenso endlose wie schwierige „Sisyphus­aufgabe“ darstellen, die sich „äußerst zerstörerisch auf die gesellschaftliche Ordnung“ auswirke und „die Last eben jenen Ländern aufbürde, die sie am wenigsten tragen können, so dass sie Armen noch ärmer werden“.12 Lässt ein Land den freien Fall seines Wechselkurses zu, so wirkt sich das K ­ eynes’ Analyse zufolge wahrscheinlich sehr zerstörerisch auf die Menschen in diesem Land aus – selbst dann, wenn es langfristig die ungünstige Handelsbilanz aufbessert. Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbücher gehen demgegenüber davon aus, dass die Preiselastizitäten der Importe und Exporte nahezu unendlich groß sind, so dass es nur einer winzigen Veränderung des Wechselkurses bedarf, um Handelsungleichgewichte zu beseitigen. Auf dieser Annahme beruht die Behauptung der klassischen Theorie, frei bewegliche Wechselkurse würden internationale Zahlungsungleichgewichte stets bereinigen, ohne auf lange Sicht das Realeinkommen der am internationalen Handel teilnehmenden Länder über Gebühr in Mitleidenschaft zu ziehen. Daher die unbewiesene Behauptung der Vertreter des 11

Läge die Preiselastizität der Importe im obigen Beispiel dagegen bei 0,6 und die der Exporte bei 0,5, so sänke der Geldwert der Importe um 6 Prozent – mehr als der Geldwert der Exporte –, und das Handelsdefizit würde geringer. 12 ­Keynes 1941, S. 29.

IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel?

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ökonomischen Mainstreams, frei bewegliche Wechselkurse würden sicherstellen, dass es niemals Zahlungsbilanzprobleme gebe. In einem von ihm mitverfassten Lehrbuch räumt Ben Bernanke, langjähriger Vorsitzender der Federal Reserve, allerdings ein, dass die Marshall-LernerBedingung auf kurze Sicht möglicherweise nicht zutreffe und frei bewegliche Wechselkurse die Handelsbilanz eines Landes noch verschlechtern könnten: „Ganz kurzfristig reduziert ein sinkender Wechselkurs [den Wert] der Netto­ exporte. …] Nachdem die Konsumenten und Unternehmen ein wenig Zeit hatten, die Menge der gekauften Importe und der verkauften Exporte anzupassen, ist es wahrscheinlicher, dass die Marshall-Lerner-Bedingung gilt, so dass ein sinkender Wechselkurs wahrscheinlich eine Zunahme der Netto-Exporte zur Folge hat.“13 Die typische kurzfristige Reaktion der Nettoexporte auf eine Abwertung der heimischen Währung, so Abel und Bernanke in diesem Lehrbuch, habe die Form einer J-Kurve: Für eine unbestimmte Zeitspanne, die Abel/Bernanke als „kurze Sicht“ bezeichnen, vergrößere sich das Defizit in der Zahlungsbilanz, und in der Wirtschaft komme es zu einer Abwärtsbewegung in Form einer J-Kurve. Nachdem diese nicht näher bestimmte Zeitspanne vorüber sei, stehe eine Aufwärts­ bewegung der Zahlungsbilanz zu erwarten, die der J-Kurve nach oben folge. Aus keynesianischer Sicht jedoch kann die anfängliche Verschlechterung der Handelsbilanz in einer von Ungewissheit geprägten Welt die Befürchtung eines weiteren Absinkens des Wechselkurses nähren, was zu einer weiteren J-Kurve führen kann, also einer weiteren Abnahme des Werts der Nettoexporte. Auf diese Weise kann es passieren, dass ein Absinken des Wechselkurses in Form einer­ J-Kurve immer neue J-Kurven auslöst und der Wechselkurs immer weiter fällt, so dass mit einer Abwertung der Währung, die innerhalb eines akzeptablen Rahmens liegt, niemals eine Verbesserung der Handelsbilanz erreicht wird. Wer kann ahnen, welche Zeitspanne vergehen muss, bis die Konsumenten und Unternehmen die von Abel und Bernanke postulierten Anpassungen vorgenommen haben, so dass schließlich die Marshall-Lerner-Bedingung gilt? Um diese perverse und beunruhigende Möglichkeit auszuschließen, nehmen Abel und Bernanke einfach an, „dass die Zeitspanne lang genug ist, damit die Marshall-Lerner-Bedingung gilt“. Mit anderen Worten: Orthodoxe Ökonomen lösen das Problem einer passiven Handelsbilanz schlicht dadurch, dass sie Bedingungen voraussetzen, unter denen eine ausreichend große Substituierbarkeit gegeben ist, um das Problem zu lösen, ohne dass einem der beiden miteinander handelnden Länder dadurch Nachteile entstehen. Allerdings schärfen Abel und Bernanke dem Leser in einem Anfall von Ehrlichkeit ein: „Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass diese Annahme [dass die Marshall-Lerner-Bedingung gilt] auf kürzere Sicht – in manchen Fällen mehrere Jahre lang – nicht zutreffend sein könnte.“14 13

Abel/Bernanke 1992, S. 508. Abel/Bernanke 1992, S. 508.

14

160

9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

In den USA behaupteten die Vertreter des Mainstreams 1985, nachdem es drei Jahre lang große Importüberschüsse gegeben hatte, dass nur eine Abwertung des Dollars dieses offenbar hartnäckige Problem einer ungünstigen Handelsbilanz­ lösen könne. Nachdem Ökonomen monatelang eine Abwertung gefordert hatten, startete Finanzminister James Baker Ende September 1985 auf großen öffentlichen Druck hin eine Initiative, die darauf abzielte, den Dollar an den Devisenmärkten „schlechtzureden“. Die ökonomischen Berater Bakers sprachen von einer „sanften Landung“, wonach eine Abwertung des Dollar um 35 Prozent die Handelsbilanz der USA in Ordnung bringen sollte, ohne Kräfte zu entfesseln, die auf Inflation oder Rezession hinauslaufen. Eine Woche vor der Initiative Bakers habe ich in einer Anhörung vor dem Wirtschaftsausschuss des US-Kongresses dargelegt, weshalb eine Abwertung des Dollars um 35 Prozent aus „keynesianischer“ Sicht für sich genommen das Handelsdefizit der USA nicht signifikant verringern könne.15 Die weitere Entwicklung bestätigte nicht die verbreitete Ansicht, dass eine Abwertung um 35 Prozent eine Lösung des hartnäckigen US-Handelsdefizits im Sinne einer „sanften Landung“ ermöglichen werde, sondern die „keynesianische“ Sicht, die ich vor dem Wirtschaftsausschuss vertreten hatte. Tatsache ist, dass trotz eines Wertverlusts des Dollar von über 30 Prozent der Wert der Importe 1986 um 11 Prozent stieg, während der Wert der Exporte um weniger als 2 Prozent zunahm, so dass das Handelsdefizit wuchs. 1987 verlor der Dollar weitere 10 Prozent an Wert, die Exporte und Importe legten jeweils um 11 Prozent zu, das Handelsdefizit stieg auf fast 160 Milliarden Dollar und das Handelsdefizit inklusive Dienstleistungen wuchs auf mehr als 140 Milliarden Dollar an. 1988 gab der Dollar weiter nach und erreichte einen Tiefpunkt, der 40 Prozent unter dem Spitzenwert des Jahres 1985 lag, während das Handelsdefizit endlich den Höhepunkt zu erreichen schien, ehe 1989 die Wende kam. Nachdem der Dollar um mehr als 40 Prozent „schlechter geredet“ worden war, mussten also mehr als drei Jahre vergehen, und der Dollarpreis von importiertem Rohöl musste sinken, ehe das US-Handelsdefizit ein wenig kleiner wurde. Da der Weltmarktpreis des Öls in US-Dollar notiert wird, hatte die Abwertung des Dollars keinen Einfluss auf die Menge des importierten Öls. Tatsächlich war beim Import von Rohöl trotz der Talfahrt des Dollars zwischen 1985 und 1988 ein Zuwachs von 45 Prozent zu verzeichnen. Trotzdem sank der Gesamtwert der Ölimporte von 1985 bis 1988 um mehr als 7 Milliarden Dollar, da der Dollarpreis des importierten Öls um etwa 50 Prozent zurückging. Tabelle 9.1. zeigt, dass das Handelsdefizit der USA im Bereich Güter und Dienstleistungen zwischen 1985 und 1988 um 3 Milliarden Dollar (von 98,8 auf 101,8 Milliarden Dollar) anstieg, obwohl aufgrund des dramatisch gesunkenen

15

Aussage von Professor Paul Davidson vor dem Wirtschaftsausschuss, 18. September 1985.

161

IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel?

Dollarpreises von Rohöl der Wert der Ölimporte im gleichen Zeitraum um 7 Milliarden Dollar zurückging. Tabelle 9.1. Internationale Zahlungsbilanzen der USA (in Milliarden Dollar) Jahr

Handelsbilanz

1981

28,0

1982 1983

Handelsbilanz inkl. Dienstleistungen

Leistungsbilanz*

16,7

5,0

−36,5

5,6

−11,4

−67,1

−25,9

−43,6

1984

−112,5

−78,2

−98,8

1985

−122,2

−98,8

−121,7

1986

−145,1

−123,4

−147,5

1987

−159,6

−140,4

−163,5

1988

−127,0

−101,8

−126,7

1989

−115,7

−75,5

−101,1

1990

−108,8

−57,5

−90,4

1991

−74,0

−28,3

+3,8

1992

−96,1

−35,6

−48,5

1993

−132,6

−68,9

−82,7

1994

−166,1

−97,0

−118,6

1995

−173,7

−95,9

−109,5

1996

−191,0

−104,1

−124,8

1997

−198,1

−107,9

−140,4

1998

−246,7

−164,6

−213,5

1999

−346,0

−263,3

−399,8

2000

−452,4

−377,6

−415,2

2001

−427,2

−362,8

−389,0

2002

−482,3

−421,7

−472,5

2003

−547,3

−494,9

−527,5

2004

−665,4

−611,3

−665,3

2005

−782,7

−716,7

−791,5

* Die Leistungsbilanz ist definiert als die Differenz aus Exporten und Importen zuzüglich des Nettoinvestitionseinkommens und einseitiger Transferzahlungen. Das Nettoinvestitionseinkommen ist das Einkommen von Bewohnern der USA aus Auslandsproduktion abzüglich der Lohnzahlungen an Ausländer aus Produktion in den USA. Eine einseitige Transferzahlung ist eine Zahlung eines Bewohners (oder der Regierung) von Land A an einen Bewohner (oder die Regierung) eines anderen Landes, ohne dass es im Gegenzug zum Kauf von Gütern, Dienstleistungen oder Vermögenswerten kommt. Quelle: „Wirtschaftsindikatoren“, Council of Economic Advisers (Mai 1993, Mai 2001, Juli 2006).

162

9. Kap.: Klassische Handelstheorie kontra Keynes

1991 verzeichneten die USA eine enorme Verbesserung ihrer Handelsbilanz und sogar eine leicht positive Leistungsbilanz. Diese positive Entwicklung hatte zwei Gründe, die mit dem sinkenden Wechselkurs des Dollars in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Erstens kam es in den USA 1991 zu einer Rezession, während die anderen großen Volkswirtschaften weiter wuchsen. Da die Amerikaner aufgrund der Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit und sinkenden Einkommen konfrontiert waren, gingen ihre Konsumausgaben für einheimische und importierte Güter gleichermaßen zurück, während die Exporte der US-Wirtschaft weiter zunahmen, so dass unter dem Strich das Handelsdefizit sank. Zweitens kam es zu einem dramatischen Anstieg der Leistungsbilanz, da Japan, Deutschland und einige weitere Länder große einseitige Zahlungen an die USA leisteten, um zur Finanzierung des ersten, nur eine Woche dauernden Irakkrieges von George Bush Senior beizutragen. Als Europa und Japan Mitte 1992 auf eine Rezession zusteuerten, während sich die US-Konjunktur bereits wieder erholt hatte, kam es zu einer deutlichen Verschlechterung der Handelsbilanz und der Leistungsbilanz der USA. Und da die US-Wirtschaft zwischen 1992 und 2000 ein jährliches Wachstum von etwa 3 Prozent verzeichnete, das Wirtschaftswachstum in anderen Industrieländern dagegen deutlich geringer ausfiel, verschlechterte sich die US-Handelsbilanz weiter. Seit 2000 hat sich dieser Trend fortgesetzt, da China und andere Länder in Asien sich zu großen Exporteuren von mit Hilfe eines nahezu unbegrenzten Angebots an billigen Arbeitskräften produzierten Waren entwickelt haben, und Indien dank zahlreicher billiger, Englisch sprechender Arbeitskräfte neben Waren in erheblichem Umfang auch Dienstleistungen (wie z. B. internationale Call Center) exportiert. Wie dieser Rückblick zeigt, ließ sich die Annahme der klassischen Theorie, wonach aufgrund von Substitutionseffekten (wenn nicht sofort, so doch innerhalb weniger Jahre) die Marshall-Lerner-Bedingung gilt, auf die Bekämpfung der ungünstigen Handelsbilanz der Vereinigten Staaten seit den 1980er Jahren nicht anwenden. Im wirklichen Leben kommen die von der klassischen Theorie unterstellten Substitutionseffekte im internationalen Handel nicht immer zum Tragen. Einkommenseffekte können erhebliche Auswirkungen auf die internationale Zahlungsbilanz eines Landes haben. Sich zum Ausgleich dauerhafter internationaler Handelsungleichgewichte ausschließlich auf eine Anpassung der Wechselkurse zu verlassen, kann sogar auf lange Sicht die falsche Strategie sein. Einkommensveränderungen können signifikante Auswirkungen auf den Handel haben. Einkommenseffekte auf die Zahlungsbilanz zeigen sich (im Gegensatz zu Substitutionseffekten, die von der Gültigkeit der Marshall-Lerner-Bedingung abhängen) sofort, unmittelbar und unzweideutig.16 Aus keynesianischer Sicht waren es vor allem in den 1980er und früher 1990er Jahren nicht Substitutions 16 In einem auf den 5. Dezember 1941 datierten Brief (UK Public Office Document 7247/ 116) hat ­Keynes dieses Problem explizit erwähnt: „Wenn wir daher die Auswirkungen der

IV. Ist die Abwertung der eigenen Währung ein Allheilmittel?

163

effekte, die die größten Auswirkungen auf die Zahlungsbilanzen hatten, sondern Einkommenseffekte (unterschiedliche Phasen des Konjunkturzyklus und/oder unterschiedliche Wachstumsraten in den USA und bei den wichtigsten Handels­ partnern). Laut der Analyse, die K ­ eynes in seiner „Allgemeinen Theorie“ vorlegte, sollte es eine bessere Möglichkeit geben, internationale Zahlungsungleichgewichte auszugleichen, als alles der freien Beweglichkeit der Wechselkurse zu überlassen.

‚Terms of Trade‘ berücksichtigen, so gibt es einen idealen Wechselkurs, der so beschaffen ist, dass eine Abweichung in die eine oder andere Richtung eine Verschlechterung der Handelsbilanz zur Folge hätte.“

10. Kapitel

Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems I. Die Lektion der Nachkriegszeit So lange in einer Volkswirtschaft keine Vollbeschäftigung herrsche, so K ­ eynes in der „Allgemeinen Theorie“, sollte die Zentralbank unter Wahrung der Finanzmarktstabilität so viel Liquidität zur Verfügung stellen, wie die Wirtschaft aufnehmen kann, um so dem Ziel der Vollbeschäftigung näherzukommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die weltweit wichtigsten Zentralbanken über ein ­ eynes zugedachten Rolle Vierteljahrhundert lang nach Kräften, der ihnen von K gerecht zu werden. Zwischen dem Kriegsende und Anfang der 1970er Jahre reagierten die meisten Zentralbanken auf eine gestiegene Nachfrage nach der Landeswährung im Inoder Ausland mit einer Steigerung der Geldmenge. Die Zinsen verblieben währenddessen auf für wirtschaftlich gute Zeiten historischen Tiefständen. Diese endogene Zunahme des Geldvolumens führte zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. In der Folge kam es in entwickelten und weniger entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften gleichermaßen zu einem goldenen Zeitalter des Wirtschaftswachstums. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wechselkurse unter dem Bretton-Woods-System fest waren, vermieden es die Vereinigten Staaten, internationale Währungsreserven anzuhäufen, indem sie vom Krieg gebeutelten Staaten Beihilfen gewährten, zunächst im Rahmen des Marshallplans, dann über andere internationale Kredit- und Hilfsprogramme. Im Wesentlichen akzeptierten die Vereinigten Staaten damit die Idee aus dem ­Keynes-Plan, dass es im Interesse aller Staaten sei, wenn die wichtigste Gläubigernation bei der Reduzierung von Handelsungleichgewichten und bei den internationalen Ausgleichszahlungen die Hauptlast trägt. Durch den Marshallplan kam es zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit nach einem Krieg zu keiner Wirtschaftskrise, und die Vereinigten Staaten und ihre wichtigsten Handelspartner erlebten bis in die 1970er Jahre hinein eine nie dagewesene Phase des langjährigen Wirtschaftswachstums. Als die USA Anfang der 1970er Jahre das Bretton-Woods-Abkommen auf­ kündigten, waren die letzten Überreste von ­Keynes’ weitsichtigem geldpolitischen Ansatz dahin. Kaum jemand schien ihnen eine Träne nachzuweinen oder sich zu fragen,

II. Das System von Bretton Woods und der Marshallplan

165

1. weshalb das Bretton-Woods-System ursprünglich entwickelt worden war und 2. wie sehr es die Erholung der freien Welt von den Verwüstungen eines Kriegs befördert hatte, dem in Europa und Asien ein Großteil des Produktivkapitals zum Opfer gefallen war. In den Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems hat die weltweite wirtschaftliche Entwicklung nie wieder die Dynamik jener 25 Jahre nach Kriegsende erreicht, als niedrige Inflationsraten, gepaart mit hoher Be­schäftigungsquote und großem realem Wachstum, fast zur Routine wurden. Seit 1973 dagegen nehmen die internationalen wirtschaftlichen Probleme immer mehr zu, und hohe Arbeitslosenquoten sind in vielen Ländern erneut zur Regel ge­ worden. Möchte ein Land sein Wirtschaftswachstum mit Hilfe von ­Keynes’ Rezept ankurbeln, also durch die Erhöhung der effektiven Nachfrage im Inland über eine lockere Geld- und Fiskalpolitik, so muss es in einem herkömmlichen Freihandels­ system innerhalb kürzester Zeit mit internationalen Zahlungsschwierigkeiten rechnen. Durch die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage im Inland steigt nämlich der Wert der Importe im Vergleich zum Wert der Exporte. Übersteigen die Importe eines Staates jedoch dauerhaft seine Exporte, so ist er in der Regel auf Kredite aus dem Ausland angewiesen, um seinen Importüberschuss zu finanzieren; in der exportierenden Industrie der Handelspartner wird dadurch das Wirtschaftswachstum angekurbelt. Da die Importe der Vereinigten Staaten seit 1981 insgesamt schneller zugenommen haben als die Exporte, hatten die USA eine passive Handelsbilanz und sind so nahezu für die ganze Welt der „Wachstumsmotor“ gewesen. Wie Tabelle 9.1. veranschaulicht, wurde den USA mit fast jedem Jahr dieser löblichen Bemühungen ein höheres internationales Defizit aufgebürdet.

II. Das System von Bretton Woods und der Marshallplan Wirtschaftswissenschaftliche Debatten darüber, wie ein gutes internationales Zahlungssystem beschaffen sein müsste, damit hartnäckige Handels- und Zahlungsungleichgewichte vermieden werden, kreisten in der Vergangenheit allzu oft um die Vor- und Nachteile fester bzw. frei beweglicher Wechselkurse. Wie im vorherigen Kapitel erwähnt, setzen die meisten Vertreter des Mainstreams, die sich für frei bewegliche Wechselkurse aussprechen, einfach voraus, dass für die Preiselastizität der Nachfrage nach Importen und Exporten die Marshall-Lerner-Bedin­ eynes’ gung gilt. Erfahrungswerte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie K revolutionäre Thesen zur Liquidität deuten jedoch darauf hin, dass das nicht ausreicht, wenn man einen Mechanismus schaffen will, der hartnäckigen internationalen Handels- und Zahlungsungleichgewichten ein Ende bereitet und gleichzeitig

166

10. Kap.: Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems 

weltweit für Vollbeschäftigung, schnelles Wirtschaftswachstum und einen langfristig stabilen internationalen Wertstandard sorgt. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die kapitalistischen Volkswirtschaften auf der Welt mit unterschiedlichen Wechselkurssystemen experimentiert. Nach dem Krieg galt 25 Jahre lang das Abkommen von Bretton Woods, das ein System aus festen, aber anpassbaren Wechselkursen beinhaltete, in dem einzelne Staaten im Bedarfsfall weitreichende Beschränkungen der internationalen Zahlungsströme (d. h. Kapitalverkehrskontrollen) erlassen konnten. Seit 1973 lautet die unter Ökonomen und Politikern vorherrschende Ansicht, die Staaten sollten alle Finanzmärkte liberalisieren, so dass das Kapital im Rahmen eines Systems frei schwankender Wechselkurse über Grenzen hinweg frei beweglich ist. Gegenüber der klassischen Position, die liberalisierte Märkte für wünschenswert erachtet, vertrat ­Keynes 1944 in Bretton Woods die „Unvereinbarkeitsthese“: Er argumentierte, Freihandel, frei schwankende Wechselkurse und der ungehinderte Kapitalverkehr über Grenzen hinweg seien mit dem wirtschaftlichen Ziel, weltweit für Vollbeschäftigung und rasches Wirtschaftswachstum zu sorgen, wahrscheinlich unvereinbar. Zwischen 1947 und 1973 richteten Politiker ihr Handeln implizit an dieser „Un­ ver­einbarkeitsthese“ ­Keynes’ aus. Die Folge war wie gesagt anhaltendes Wachstum in Industrie- und Entwicklungsländern gleichermaßen. Im Vergleich zur Zeit nach 1973 oder zur Ära der festen Wechselkurse und des Goldstandards (1879– 1914) waren diese Jahre darüber hinaus von einer deutlich höheren Stabilität des Preisniveaus und einem deutlich höheren Beschäftigungsniveau gekennzeichnet.1 Im Hinblick auf das reale Wirtschaftswachstum und die Preisstabilität erlebte die freie Welt in der Zeit des Bretton-Woods-Systems der festen, aber anpass­ baren Wechselkurse eine nie dagewesene Blütezeit. Und selbst zu Zeiten der festen Wechselkurse nach dem Goldstandard wuchs die Wirtschaft zwar langsamer als in der Bretton-Woods-Ära, aber schneller als nach 1973, als die Devisenmärkte komplett liberalisiert wurden, um völlig frei schwankende Wechselkurse zu erreichen. Die enttäuschenden Erfahrungen der Ära nach 1973, die in vielen Ländern kontinuierlich hohe Arbeitslosenquoten, in vielen OECD-Staaten Phasen hohen Inflationsdrucks und langsamen Wachstums, sowie in einigen Entwicklungsländern ein von der Schuldenlast gebremstes Wachstum oder Stagnation (oder sogar ein sinkendes reales Pro-Kopf-BIP mit sich brachte, steht in scharfem Gegensatz zu den Erfahrungen zur Zeit der Gültigkeit des Bretton-Woods-Abkommens. Das deutlich schnellere Wachstum der Volkswirtschaften in der freien Welt während der Zeit der festen Wechselkurse im Bretton-Woods-System gegenüber der Zeit der festen Wechselkurse nach dem Goldstandard deutet darauf hin, dass es neben den festen Wechselkursen noch eine weitere Bedingung gegeben haben 1

Vgl. McKinnon 1990, S. 10.

III. ­Keynes, der Freihandel und ein internationales Zahlungssystem

167

muss, die zum beispiellosen Wachstum der Phase von 1947 bis 1973 beigetragen hat. Diese Bedingung besteht laut ­Keynes’ anlässlich der Konferenz von Bretton Woods vorgelegtem Plan darin, dass Gläubigernationen, die dauerhaft eine positive Zahlungsbilanz aufweisen, die Verantwortung für den Ausgleich dieses Handelsungleichgewichts übernehmen müssen. Ein Beispiel dafür, wie ein Gläubigerstaat der von ­Keynes beschriebenen Verantwortung gerecht werden kann, war der Marshallplan (siehe unten).

III. ­Keynes, der Freihandel und ein internationales Zahlungssystem, das der Vollbeschäftigung Vorschub leistet Um in einem System fester Wechselkurse Ungewissheiten für Unternehmer und ­ eynes die Gefahr massiver Währungsungleichgewichte zu reduzieren, empfahl K ein System aus festen, aber anpassbaren Wechselkursen. Den „Hauptgrund für das Scheitern“ aller herkömmlichen internationalen Zahlungssysteme  – un­abhängig davon, ob sie auf festen oder frei schwankenden Wechselkursen beruhen  – sah­ Keynes jedoch in ihrer Unfähigkeit, weiterhin aktiv das weltweite Wirtschaftswachstum zu fördern, sobald es zwischen Handelspartnern zu hartnäckigen Zahlungsungleichgewichten kommt. Dieses Versagen, so ­Keynes, lässt sich auf eine einzige Eigenschaft zurückführen. Ich bitte um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, denn ich bin überzeugt, dass diese Eigenschaft einen Anhaltspunkt dafür liefert, wie eine erfolgreiche Alternative aussehen könnte. Eine frei konvertierbare internationale Standardwährung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Hauptlast für den Ausgleich von internationalen Zahlungsungleichgewichten dem Land aufbürdet, das sich in der Position des Schuldners befindet – also dem Land, das (in dieser Hinsicht) im Vergleich zur anderen Waagschale, in der (für unsere Zwecke) der Rest der Welt liegt, der schwächere und vor allem der kleinere Partner ist.2

Wenn man das internationale Zahlungssystem entscheidend verbessern wolle, schloss ­Keynes, so müsse man die Verantwortung für den Ausgleich von den Schuldnern auf die Gläubiger übertragen. Dadurch entstehe im Welthandel anstelle der Schrumpfungstendenz ein Expansionsdruck.3 Damit ein goldenes Zeital­ eynes, ein System fester, ter der wirtschaftlichen Entwicklung anbrach empfahl K aber anpassbarer Wechselkurse zu installieren, von Staaten mit „günstiger“ Handelsbilanz zu verlangen, die Hauptlast des Ausgleichs von Ungleichgewichten zu tragen, und gleichzeitig „bei den Schuldnerstaaten genügend Disziplin aufrechtzuerhalten, dass sie nicht versucht sind, die Erleichterungen auszunutzen“.4

2

­Keynes 1941, S. 27. ­Keynes 1941, S. 29 f. 4 ­Keynes 1941, S. 30. 3

168

10. Kap.: Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems 

Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügten die vom Krieg gebeutelten europäischen Volkswirtschaften nicht über ausreichend Ressourcen, um aus eigener Kraft ihre Bevölkerung zu ernähren und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau würde in den Handelsbilanzen der europäischen Staaten mit den USA zu enormen Importüberschüssen führen. Im Lauf des Krieges hatten die Europäer ihre Devisenreserven weitestgehend aufgebraucht. Unter Bedingungen des Laissez-faire würden die Vereinigten Staaten den Europäern extrem hohe Kredite einräumen müssen, um den Exportüberschuss nach Europa zu finanzieren. Am Ende würden die europäischen Staaten so hoch verschuldet sein, dass es langfristig unwahrscheinlich sein würde, dass sie die Kredite jemals bedienen könnten. Private Geldgeber in den USA hatten nicht vergessen, dass die deutschen Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hauptsächlich mit dem Geld amerikanischer Investoren bestritten wurden, bei denen Deutschland (etwa im Rahmen des Dawes-Plans) Kredite aufnahm. Diese Kredite hat Deutschland niemals zurückbezahlt. Angesichts dieser Vorgeschichte stand nach dem Zweiten Weltkrieg fest, dass man von privaten Geldgebern unter den aktuellen Bedingungen nicht erwarten konnte, dass sie den Europäern die für die wirtschaftliche Erholung benötigten Kredite einräumen. Der auf der Konferenz von Bretton Woods vorgelegte ­Keynes-Plan sah vor, dass die Vereinigten Staaten als mit Abstand größter Gläubiger die Hauptverantwortung für die internationalen finanziellen Probleme übernehmen sollten, die sich aus dem Bedarf der europäischen Staaten an Importen aus den USA ergaben. Für den Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften würden die europäischen Staaten nach­ Keynes’ Schätzungen Importe aus den Vereinigten Staaten im Wert von mehr als 10 Milliarden Dollar benötigen. Harry Dexter White, auf der Konferenz von Bretton Woods der Repräsentant der USA, lehnte den ­Keynes-Plan ab. Dexter White argumentierte wie erwähnt, der amerikanische Kongress werde als Beitrag der USA zur Lösung der internationalen Finanzprobleme nach dem Krieg maximal 3 Milliarden Dollar bewilligen. Whites Gegenvorschlag lief auf die Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) hinaus, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, kurzfristige Kredite an Staaten mit passiver Handelsbilanz zu vergeben. Diese Kredite sollten dem Schuldnerstaat Zeit verschaffen, seine Finanzen in Ordnung zu bringen. Der Beitrag der USA sollte sich auf höchstens 3 Milliarden Dollar belaufen. Darüber hinaus sah der White-Plan die Schaffung einer weiteren geldgebenden Institution vor, die Geld auf dem privaten Sektor aufnehmen sollte: der heutigen Weltbank. Aus diesen Mitteln sollten langfristige Kredite für den Wiederaufbau des Banken­ wesens vergeben und dessen Kapitalausstattung verbessert werden, zunächst in den vom Krieg zerstörten Staaten und später in Entwicklungsländern. Im BrettonWoods-Abkommen wurden die institutionellen Vorschläge des White-Plans im Wesentlichen übernommen.

III. ­Keynes, der Freihandel und ein internationales Zahlungssystem

169

Nach dem White-Plan wären internationale Kredite des IWF und der Weltbank die einzige Möglichkeit gewesen, das enorme Volumen an Importen zu finanzieren, auf das vom Krieg verwüstete Staaten unmittelbar nach dem Krieg angewiesen sein würden. Die Folge wären enorme Auslandsschulden dieser Staaten gewesen. Vorausgesetzt, dass sie überhaupt genügend Kredite bekommen hätten, um die für den Wiederaufbau notwendigen Importe zu finanzieren, wäre ihnen die Hauptlast für den nötigen Ausgleich zugefallen, sprich sie hätten „den Gürtel enger schnallen“ müssen. Hinter diesem Euphemismus verbirgt sich nichts anderes als eine dramatische Reduzierung des Bedarfs an Importen in die Schuldnernationen.5 Letztlich hätte das in jenen Ländern eine deutliche Senkung des Lebensstandards zur Folge gehabt, was vermutlich zu politischen und sozialen Unruhen geführt hätte. Selbst wenn sich die Staaten mit großem Handelsdefizit nach dem Zweiten Weltkrieg entschlossen hätten, den in Bretton Woods vereinbarten Mechanismus für feste Wechselkurse aufzukündigen und ihre Währung abzuwerten, um so Schuldnerstaaten dazu zu zwingen, „den Gürtel enger zu schnallen“, wären die Einkommen in Europa nahezu auf das Niveau von Hungerlöhnen gesunken. Jeder Ansatz, nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der konventionellen Mittel des freien Marktes an für den wirtschaftlichen Wiederaufbau ausreichende Importe aus den USA zu kommen, hätte also den Lebensstandard in den europäischen Staaten so sehr gedrückt, dass in weiten Teilen Westeuropas politische Revolutionen zu befürchten gewesen wären. Um zu verhindern, dass sich in vielen europäischen Ländern die verzweifelte Wählerschaft angesichts der trostlosen Zukunft, die ihr unter den Bedingungen des Bretton-Woods-Abkommens bevorstand, für einen Wechsel zum kommunistischen System ausspricht und der Kommunismus sich von der Sowjetunion aus weiter nach Westen ausbreitet, legten die Vereinigten Staaten den Marshallplan und weitere internationale Kredit- und Hilfsprogramme auf. Entgegen der Prognose Whites, der Kongress werde für die Lösung des Problems der internationalen Zahlungen nicht mehr als 3 Milliarden Dollar bewilligen, flossen im Rahmen des Marshallplans innerhalb von 18 Monaten 5 Milliarden Dollar und in vier Jahren insgesamt 13 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern ins Ausland. (Inflations­ bereinigt entsprach diese Summe im Jahr 2006 135 Milliarden Dollar.) Im Grunde schenkten die USA mit dem Marshallplan den vom Krieg zerstörten Staaten innerhalb von vier Jahren US-Exporte im Wert von 13 Milliarden Dollar. Durch den Marshallplan erhielten die Empfängerstaaten in den vier Jahren zwischen 1947 und 1951 etwa 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA. Doch obwohl die Empfängerstaaten von in den USA produzierten Gütern im Wert von 5

Das Bretton-Woods-Abkommen enthielt eine „Devisenknappheitsklausel“, die es europäischen Staaten erlaubte, amerikanische Importe zu benachteiligen. Damit war das Problem jedoch nicht aus der Welt, denn es gab keinen anderen Staat, von dem man die für den Wiederaufbau Europas und die Ernährung der Europäer benötigten Güter beziehen hätte können.

170

10. Kap.: Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems 

100 Dollar faktisch 2 Dollar abschöpften, hatte kein einziger US-Bürger das Gefühl, dass ihm Güter und Dienstleistungen weggenommen wurden. Das reale ProKopf-BIP in den Vereinigten Staaten (ein Maßstab für den Lebensstandard) stieg im Vergleich zu 1940, dem letzten Jahr vor Kriegseintritt, trotzdem um 25 Prozent, und im Lauf der 1950er Jahre stieg es weiter an.6 Obwohl die Vereinigten Staaten 2 Prozent des jährlichen National­einkommens verschenkten, mussten die Amerikaner wegen des Marshallplans keine Opfer bringen, da das verbleibende Einkommen noch immer deutlich höher lag als vor dem Krieg. Zu einem Zeitpunkt, da mehrere Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner aus dem Militärdienst entlassen wurden und auf den US-Arbeitsmarkt drängten, stieg das Beschäftigungsniveau in den Vereinigten Staaten deutlich an, weil die Empfängerländer aufgrund der Zahlungen aus dem Marshallplan in der Lage waren, US-Produkte zu kaufen. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA kam es unmittelbar nach dem Ende eines großen Krieges nicht zu einer schweren Rezession. Wirtschaftlich profitierten vom Marshallplan und anderen internationalen Hilfsprogrammen die USA und die meisten übrigen Staaten der Welt gleichermaßen, da sie sowohl der Gläubigernation als auch den potentiellen Schuldnerstaaten enorme realwirtschaftliche Vorteile bescherten. Im Jahr 1958 verzeichneten die USA zwar immer noch einen jährlichen Exportüberschuss an Gütern und Dienstleistungen von über 5 Milliarden Dollar, die staatlichen zivilen und militärischen Hilfszahlungen an das Ausland überstiegen jedoch 6 Milliarden Dollar, und es kam netto zu einem Abfluss von Privatkapital in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar.7 Die Zeiten der Überschüsse in der internationalen Zahlungsbilanz der USA waren passé. Während die Leistungsbilanz der Vereinigten Staaten 1958 erstmals ins Minus rutschte, kam es in der Zahlungsbilanz anderer Staaten allmählich zu Überschüssen. Allerdings gaben diese Staaten die Überschüsse nicht komplett aus. Stattdessen nutzten sie einen Teil der überschüssigen Dollars, um der amerikanischen Zentralbank Goldreserven abzukaufen und so international einsetzbare liquide Mittel zu erwerben. Allein 1958 verloren die Vereinigten Staaten Goldreserven im Wert von mehr als 2 Milliarden Dollar an ausländische Zentralbanken. In den 1960er Jahren beschleunigte sich dieser Trend, zunächst unter anderem wegen des Anstiegs der militärischen und finanziellen Hilfszahlungen der USA als Folge des Mauerbaus 1961 und später wegen des zunehmenden Engagements der Vereinigten Staaten in Vietnam. Gleichzeitig wuchsen die wiederaufgebauten Staaten in Europa und Japan zu wichtigen Produzenten von Exporten heran, so dass der Rest der Welt in geringerem Maße auf US-Exporte angewiesen war. 6 Zu einer Stagnation des Pro-Kopf-BIP kam es lediglich während der kurzen Rezessionen von 1949 und 1957. Aber selbst in diesen Phasen ging es zu keinem Zeitpunkt zurück. 7 Die Zahlen sind dem Jahrbuch der statistischen Bundesbehörde entnommen, vgl. Statistical Abstract of the United States 1959, United States Bureau of Census, Washington 1959, S. 870.

IV. Die Reform des internationalen Zahlungssystems

171

Nichtsdestotrotz wiesen die USA bis zur ersten Ölkrise 1973 weiterhin eine positive Handelsbilanz auf. Diese wurde über weite Strecken der 1960er Jahre hinweg allerdings durch zivile und militärische Hilfen sowie durch einen Nettokapitalabfluss aus den Vereinigten Staaten mehr als aufgewogen, so dass die USA unter dem Strich eine negative internationale Zahlungsbilanz verzeichneten. Im Rahmen des Bretton-Woods-Systems gab es keine Möglichkeit, die neuen Überschussländer zu zwingen, keine weiteren Dollars anzuhäufen und stattdessen in die ausgleichende Rolle des Gläubigers zu schlüpfen, die seit 1947 die Vereinigten Staaten gespielt hatten. Stattdessen verwendeten die Überschussländer weiterhin einen Teil ihrer überschüssigen Dollars darauf, den USA Goldreserven abzukaufen. Als die neuen Überschussländer immer mehr Goldreserven aus den USA abschöpften, war das der Anfang vom Ende des Bretton-Woods-Systems. Als die Vereinigten Staaten das Goldfenster schlossen und das Bretton-WoodsAbkommen 1971 einseitig aufkündigten, waren die letzten Reste von ­Keynes’ weitsichtigem Ansatz im internationalen Währungssystem verloren.

IV. Die Reform des internationalen Zahlungssystems Voraussetzung für das Goldene Zeitalter des Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 1973 waren internationale Institutionen und internationale Hilfsprogramme der Vereinigten Staaten, die auf im ­Keynes-Plan dargelegten Prinzipien beruhten, wonach die Hauptverantwortung für den Ausgleich von internationalen Zahlungsungleichgewichten bei der Gläubigernation liegt. Rein formal war im Abkommen von Bretton Woods jedoch nirgends festgelegt, dass Gläubigernationen so handeln sollten. Seit 1973 ist das internationale Zahlungssystem so beschaffen, dass internationale Zahlungsverpflichtungen in vielen Industrieländern ein schnelles Wirtschaftswachstum behindern und das Wachstumspotential von Entwicklungsländern empfindlich einschränken. ­ eynes’ allgemeiner Theorie ist es möglich,­ Mit Hilfe der Prinzipien aus K Keynes’ ursprünglichen Plan für die Nachkriegszeit an die heutigen Bedingungen anzupassen und so ein internationales Währungssystem zu schaffen, das weltweit für wirtschaftliche Prosperität sorgt. Denn die gängige Auffassung, wonach es „einen reibungslos funktionierenden, automatischen [Markt-] Anpassungs­ mechanismus gibt, der das Gleichgewicht aufrechterhält, so lange wir nur auf die Laissez-faire-Methode vertrauen, ist ein Irrglaube, der die Lektionen der Vergangenheit in den Wind schlägt, ohne von einer fundierten Theorie gestützt zu sein“.8 Da in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts alle Volkswirtschaften wechselseitig voneinander abhängig sind, ist ein erheblicher Grad an wirtschaftlicher Ko 8

­Keynes 1941, S. 21 f.

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10. Kap.: Die Reformierung des internationalen Zahlungssystems 

operation zwischen Handelspartnern unverzichtbar. Der Plan, mit dem K ­ eynes das internationale Zahlungssystem reformieren wollte, zielte auf die Schaffung einer supranationalen Zentralbank ab. Die von mir im Folgenden vorgeschlagene Einrichtung einer Clearinginstitution beruht auf den von K ­ eynes ausgearbeiteten Prinzipien, ist aber von geringerer Tragweite als der ­Keynes-Plan. Mein Vorschlag sieht ein akzeptables internationales Abkommen vor, das (aus Rücksicht auf das politische Klima in den meisten Ländern) ohne Eingriffe in die nationalstaatliche Kontrolle des Bankensystems und der Geld- und Fiskalpolitik der einzelnen Staaten auskommt. Jeder Staat soll weiterhin über das wirtschaftliche Schicksal seiner Bürger bestimmen können, ohne Angst haben zu müssen, deflationäre Erschütterungen aus dem Ausland zu importieren. Gleichzeitig wird kein Staat inflationäre Tendenzen in die Nachbarländer exportieren können. Was wir brauchen, ist eine geschlossene Clearinginstitution mit doppelter Buchführung, die den „Zahlungsstand“ der einzelnen Handelsnationen festhält, sowie international vereinbarte Regeln, wie man für internationale Liquidität sorgt beziehungsweise diese wiederherstellt und dabei die Kaufkraft der neu geschaffenen internationalen Währung aufrechterhält, auf deren Grundlage die internationale Clearingunion funktioniert. Die acht in diesem Kapitel vorgeschlagenen Bestimmungen eines internationalen Abrechnungssystems erfüllen alle folgende Kriterien. Sie sind darauf ausgerichtet, 1. einen globalen Mangel an effektiver Nachfrage9 aufgrund eines Liquiditätsengpasses zu verhindern, zu dem es kommen kann, wenn ein Staat zu viele ungenutzte Reserven vorhält oder dem System Reserven entzieht, 2. einen automatischen Mechanismus zu schaffen, der die Hauptlast für den Ausgleich internationaler Zahlungsungleichgewichte den Staaten auferlegt, die Überschüsse verzeichnen, 3. alle Staaten in die Lage zu versetzen, den Transfer von Fluchtkapital, nicht versteuerten Gewinnen, Einnahmen aus illegalen Aktivitäten und sogar von Geldern, mit denen Terroranschläge finanziert werden, zu überwachen und auf Wunsch zu unterbinden10; und schließlich 4. die Menge des liquiden Mittels zu erhöhen, das bei internationalen Geschäften als ultimatives globales Zahlungsmittel verwendet wird, und gleichzeitig die Kaufkraft dieses Mittels zu erhalten. Mein Vorschlag für ein solches Abrechnungssystem beruht auf folgenden acht Bestimmungen: 9 Wie Williamson (1987) einräumt, können frei schwankende Wechselkurse für sich genommen einen Ausgleich internationaler Zahlungsungleichgewichte nicht ermöglichen, wenn diese „ausschließlich auf übermäßige oder mangelnde Nachfrage zurückgehen.“ 10 Das hat den zusätzlichen Vorteil, dass Steuerhinterziehung, der Handel mit illegalen Waren und die Finanzierung von Terroranschlägen erschwert werden.

IV. Die Reform des internationalen Zahlungssystems

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1. Abrechnungseinheit und ultimative Reservewährung zur Sicherung der internationalen Liquidität ist die „International Money Clearing Unit“ (IMCU).­ IMCUs können ausschließlich von Zentralbanken gehalten werden, die sich an die Regeln der Clearingunion halten. Sie werden nicht öffentlich gehandelt. 2. Die Zentralbank jedes Staates, beziehungsweise im Fall einer gemeinsamen Währung (wie des Euro) die Zentralbank der Währungsunion, garantiert die Konvertierbarkeit von IMCU-Guthaben bei der Clearingunion in die jeweilige Landeswährung. Jede Zentralbank stellt eigene Regeln dafür auf, wie den Banken und Bürgern des Landes (über Clearingtransaktionen in IMCU) ausländische Zahlungsmittel verfügbar gemacht werden.11 Da sich die Zentralbanken einig sind, dass sie ihre eigenen Verbindlichkeiten exklusiv über die internationale Clearingunion und ausschließlich für IMCUs an andere Zentralbanken verkaufen und überdies als Reservewährung für internationale Finanztransaktionen ausschließlich IMCUs halten, ist es unmöglich, dem internationalen Zahlungssystem Reserven zu entziehen. Letztlich werden alle größeren privaten internationalen Transaktionen in den Büchern der internationalen Clearinginstitution zwischen den Konten der Zentralbanken ausgeglichen. Aufgrund der Garantie der exklusiven Konvertierbarkeit kann jeder Staat nötigenfalls Kontrollen und Beschränkungen der internationalen Kapitalströme vornehmen. Die Hauptfunktion dieser Regeln und Vorschriften für den internationalen Kapitalverkehr besteht darin, ein plötzliches Umschlagen der Stimmung an den Börsen zu verhindern, das der Marktpfleger nicht auffangen und das zu dramatischen Veränderungen der Preise auf den internationalen Finanzmärkten mit potentiell verheerenden Folgen führen kann. Zu diesem Zweck steht eine große Bandbreite an Kapitalverkehrskontrollen zur Verfügung. Das eine Ende des Spektrums bilden Maßnahmen, die in erster Linie administrative Beschränkungen auferlegen, entweder fallweise oder nach Ausgabekategorien. Dazu gehört die behördliche Überwachung und Kontrolle individueller Geldzahlungen an Personen (oder Banken) im Ausland, was oft durch die Überwachung der internationalen Transaktionen von Banken und ihrer Kunden geschieht. Ein anderes Beispiel für solche Kapitalverkehrskontrollen sind Steuern 11 Die entsprechenden Bankgeschäfte werden über die Internationale Clearingagentur abgewickelt werden müssen, wobei jede Zentralbank die internationalen Verflechtungen und Aktivitäten ihrer inländischen Banken überwacht. Den grenzüberschreitenden Devisenschmuggel im kleinen Stil wird man nie ganz unterbinden können. Aber derartige Aktivitäten sind nichts weiter als ein kleines Ärgernis ohne lähmende Auswirkungen. Wenn dagegen die meisten Bewohner eines Landes (entgegen den gesetzlichen Bestimmungen) als Zahlungsmittel für Geschäfte im Inland und als Wertspeicher eine ausländische Währung vorrätig halten und benutzen, so ist das ein Beweis für mangelndes Vertrauen in den Staat und seine geldpolitische Autorität. Gelingt es nicht, das Vertrauen wiederherzustellen, so sind in einem solchen Falle alle Versuche, die Wirtschaft anzukurbeln, zum Scheitern verurteilt.

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(oder andere Alternativkosten) auf bestimmte internationale Finanztransaktionen wie die „Interest Equalization Tax“ der 1960er Jahre in den USA, eine Steuer auf den Kauf ausländischer Wertpapiere. Und schließlich gibt es zahlreiche geldpolitische Entscheidungen, die darauf abzielen, den Saldo der internationalen Finanzströme zu beeinflussen, wie zum Beispiel eine Erhöhung der Zinsen, um den Abfluss von Kapital zu verlangsamen, eine Erhöhung der vorgeschriebenen Mindestreserven von Banken, eine Begrenzung des Erwerbs ausländischer Wertpapiere durch Banken, sowie eine Regulierung zwischenbanklicher Geschäfte, wie Mayer (1998) sie vorschlägt.12 Der IWF, der während der Asienkrise die letzte Zuflucht aller Kreditsuchenden war, erlegte allen Staaten, die zur Sicherung ihrer internationalen Liquidität um Kredit ersuchten, die gleichen Bedingungen auf. Aus der dadurch ausgelösten Verschlimmerung der Lage hätten wir eigentlich lernen sollen, dass es im Hinblick auf wirtschaftspolitische Probleme keine Patentrezepte gibt. Welche Form der Kapitalregulierung ein Staat zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Spektrum der verfügbaren Möglichkeiten auswählen sollte, hängt von den konkreten Umständen ab. Der Versuch, einen Katalog an Kapitalregulierungen aufzustellen, welche unter allen Umständen auf alle Länder anwendbar ist, wäre anmaßend. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Regulierung des Kapitalverkehrs durchaus eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für globales Wirtschaftswachstum ist. Dazu bedarf es sehr viel mehr. Sollte einem Staat die Vorstellung missfallen, dass Bestimmung Nr.  2 allen Staaten die Möglichkeit gibt, die Freizügigkeit des Kapitals einzuschränken, ist es diesem Staat unbenommen, sich mit gleichgesinnten Staaten zusammenzutun, eine regionale Währungsunion zu gründen und so die Freizügigkeit des Kapitals innerhalb der Währungsunion zu garantieren. 3. Verträge zwischen Privatpersonen aus unterschiedlichen Staaten werden weiterhin in einer beliebigen, den lokalen Gesetzen zufolge zulässigen Währung abgerechnet, auf die beide Vertragsparteien sich einigen. Für Verträge, die in einer ausländischen Währung abgerechnet werden sollen, muss daher die Zentralbank (auf dem Umweg über Privatbanken) öffentlich zusichern, dass sie über ausreichende Reserven dieser ausländischen Währung verfügt, damit solche privaten Zahlungsverpflichtungen gedeckt sind. 12

Mayer argumentiert, die Asienkrise von 1997, die aufgrund des Ansteckungseffekts beinahe zum Zusammenbruch des Weltfinanzsystems geführt hätte, sei durch den Interbankenhandel ausgelöst worden, der die ungezügelte Spekulation befördert habe. Was wir bräuchten, so Mayer (1998, S. 29 f.), sei „ein System zur Überwachung […] und Kontrolle von Interbankkrediten“ einschließlich der bedingten Verbindlichkeiten von Banken aus dem Handel mit Derivaten. Mayer (1998, S. 31) unterstützt mein Plädoyer für einen nichtergodischen Ansatz, wenn er schreibt: „Da sich die tatsächlichen Preise so weit von den ‚normalen‘ Wahrscheinlichkeiten entfernt hatten, sind die mathematischen Modelle der Preisentwicklung und der Kovarianz, die diesen [bedingten] Verbindlichkeiten zugrunde lagen, schlicht kollabiert.“

IV. Die Reform des internationalen Zahlungssystems

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4. Der Wechselkurs zwischen den Inlandswährungen und dem IMCU wird zu Beginn von den Zentralbanken der einzelnen Länder beziehungsweise Währungsunionen festgelegt – genau so, wie man bei der Einführung eines internationalen Goldstandards vorgehen würde. Da bereits im Handel aktive Privatunternehmen internationale vertragliche Verpflichtungen haben, die über die Übergangsphase hinausreichen, würde man aus praktischen Gründen erwarten, aber nicht fordern, dass die bereits bestehenden Wechselkurse (möglicherweise mit geringfügigen Anpassungen) die Grundlage für die Festlegung der Ausgangswechselkurse darstellen. Die Bestimmungen Nr. 7 und Nr. 8 regeln, wann und wie dieser nominale Wechselkurs zwischen einer Landeswährung und dem IMCU in Zukunft geändert wird. 5. Die Regeln der Clearingunion sollten auch vorsehen, dass Konten überzogen werden können. Durch ein solches System von Überziehungskrediten sollte das kurzfristig ungenutzte Guthaben von Gläubigern beim Clearinghaus genutzt werden, um die produktiven internationalen Transaktionen anderer Länder zu finanzieren, die kurzfristige Kredite brauchen. Die Bedingungen werden von den Managern der Clearingunion im Sinne des Gemeinwohls festgelegt. 6. Hat eine Gläubigernation durch positive Leistungsbilanzen ein Guthaben angehäuft, das nach (vorheriger) Übereinkunft der internationalen Gemeinschaft als „überhöht“ gilt, so sollte ein Mechanismus ausgelöst werden, der den betroffenen Staat dazu ermutigt, den Überschuss auszugeben. Dies kann er auf dreierlei Weise tun: (1) durch den Kauf von Produkten eines anderen Mitglieds der Clearingunion, (2) im Rahmen von neuen Investitionsprojekten im Ausland und/oder (3) durch unilaterale Hilfszahlungen (Entwicklungshilfe) an Defizitländer. Im Fall (1) ist das Überschussland gezwungen, den Ausgleich direkt über die Handels­bilanz der Güter und Dienstleistungen vorzunehmen. Ausgaben im Sinne von (3) ermöglichen einen direkten Ausgleich über die Kapitalverkehrsbilanz, während (2) für eine Anpassung der Zahlungsbilanz sorgt (ohne dass es zu vertragsrechtlichen Schulden kommt, die zukünftig eine Umkehrung der Leistungsbilanz erfordern. Diese drei Alternativen zwingen das Überschussland, die Hauptverantwortung für den Ausgleich der Zahlungsbilanz zu übernehmen. Gleichzeitig räumt diese Bestimmung dem Überschussland in der Frage, wie es seiner Verantwortung am Besten gerecht werden und zugleich die Interessen seiner Bürger wahren kann, erheblichen Ermessungsspielraum ein. Sie verhindert, dass das Überschussland die Last dem Defizitland bzw. den Defizitländern aufbürdet, indem es im Rahmen des Schuldendienstes Zahlungen verlangt, ohne die Leistungsfähigkeit des Defizitlandes zu berücksichtigen.13 Der entscheidende Punkt ist zu verhindern, dass 13 Nun könnte man befürchten, dass ein Überschussland, das sich dem kritischen Punkt nähert, an dem der Mechanismus ausgelöst wird, das System zu überlisten versucht, indem es kurz vorher Schulden macht und so sein Guthaben reduziert. Da ein wichtiges Ziel dieses Vorschlags darin besteht, unzumutbare Zinszahlungen zu verhindern, bedarf es wahrscheinlich eines weiteren Mechanismus, der derartige Aktivitäten überwacht und unterbindet.

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übertriebenes Sparen14 auf Seiten des Überschusslandes durch Anhäufung von internationalen liquiden Reserven Rezessionskräfte entfesselt und/oder zu derart drückenden internationalen Schulden führt, dass diese das weltweite Wirtschaftswachstum im 21. Jahrhundert abwürgen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass das Überschussland dieses Guthaben innerhalb eines festgelegten Zeitraums nicht ausgibt, würde die Clearingagentur den als „überhöht“ eingestuften Teil des Guthabens konfiszieren (und an andere Schuldnerländer verteilen).15 Eine solche als äußerstes Mittel angewandte Konfiszierung (eine Steuer auf überhöhte Liquiditätsreserven in Höhe von 100 Prozent) würde für einen Ausgleich der Leistungsbilanzen durch einseitige Transferzahlungen sorgen. In einem System mit festen oder frei schwankenden Wechselkursen, in dem jedes Land selbst entscheiden kann, wieviel es importiert, werden einige Länder Eine Möglichkeit, dieses Schlupfloch zu schließen, sieht so aus: Man einigt sich schon im Vorfeld auf vernünftige und flexible Kriterien, an welchem Punkt die Schuldenlast unzumutbar ist. Die Manager der Clearingunion hätten dann die Aufgabe, anhand dieser Kriterien eine weitere Kreditaufnahme zu verhindern, wenn sie die Schuldenlast auf ein unzumutbares Niveau ansteigen ließe. Mit anderen Worten: Kredite, die zu einer zu hohen Schuldenlast führen würden, könnten über die Clearingunion nicht abgewickelt werden – die Manager würden sich weigern, IMCUs vom Konto des Überschusslandes für Kreditzwecke freizugeben. (Ich danke Robert Blecker, der mich auf dieses Problem aufmerksam gemacht hat.) Außerdem müssten die Manager regelmäßig Berichte über die von Überschussländern aufgenommenen Kredite vorlegen und angeben, wie nahe diese Länder dem Punkt sind, an dem der Mechanismus ausgelöst wird. Diese Berichte würden den Schuldnerländern wichtige Informationen liefern, so dass sie in einer besseren Verhandlungsposition wären, wenn es um die Refinanzierung bestehender und/oder die Gewährung neuer Kredite geht. Grundsätzlich müssten alle Kredite bezüglich ihrer Zumutbarkeit den Richtlinien der Clearingunion entsprechen. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewusst, die eine Aufstellung von und Einigung auf Kriterien zur Unzumutbarkeit der Schuldenlast mit sich bringt. (Einige Vorschläge dazu im zweiten Absatz zur Bestimmung Nr. 8.) Wenn es jedoch an eben jenem Kooperations- und Einigungswillen mangelt, der unabdingbare Voraussetzung einer solchen Clearingunion ist, die allen Mitgliedern zu Wohlstand verhelfen kann, werden wir nie einen Schritt weiter kommen. Im Übrigen haben die internationalen Schuldenkrisen der afrikanischen und südamerikanischen Länder in den 1980er und 1990er Jahren klar gezeigt, dass Gläubiger früher oder später nicht umhin kommen, einen Teil der Schulden zu erlassen, wenn sie zu exzessivem Schuldenmachen animieren. Im derzeitigen System gilt ein Schuldenschnitt als letztes Mittel, das nur dann akzeptabel ist, wenn sowohl die Gläubiger- als auch die Schuldnernationen unter einem schwachen Wirtschaftswachstum leiden. Insofern ist es klüger, ein institutionelles Arrangement zu entwickeln, das verhindert, dass es überhaupt zu exzessiven, nicht bedienbaren Schulden kommt. 14 Unter „übertriebenem Sparen“ verstehe ich, dass in einem Land die Summe aus den Ausgaben für Importe und den unmittelbaren Auslandsinvestitionen kleiner ist als die Summe aus den Exporteinnahmen und den einseitigen Nettozahlungen. 15 Umzuverteilendes „überschüssiges“ Guthaben soll (zum Beispiel nach einem Schlüssel, der zum Pro-Kopf-Einkommen jedes Schuldners umgekehrt und zur Höhe der Auslandsschulden direkt proportional ist) auf die Schuldnerländer verteilt werden, um deren Passivsaldo bei der Clearingunion zu verringern.

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zeitweise einfach deshalb ein anhaltendes Handelsdefizit verzeichnen, weil ihre Handelspartner ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen – also weil andere Länder kontinuierlich einen Teil  ihrer Einkünfte aus Exporten (sowie aus den einseitigen Nettozahlungen) horten. Durch ihre übertriebene Sparsamkeit erzeugen diese Länder einen weltweiten Mangel an effektiver Nachfrage. Aufgrund der Bestimmung Nr. 6 müssten Defizitländer nicht mehr ihre Realwirtschaft schrumpfen, um ihre Importe und damit auch ihr Zahlungsdefizit zu verringern, nur weil andere Länder exzessiv sparen. Stattdessen würde in einem solchen System ein Ausgleich von Zahlungsdefiziten angestrebt, indem man Defizitländern Möglichkeiten eröffnet, mehr ins Ausland zu exportieren und so nach und nach aus der Schuldenfalle herauszukommen. 7. Man muss einen Mechanismus schaffen, der die langfristige Kaufkraft des IMCU (in Bezug auf einen Warenkorb im jeweiligen Mitgliedsland produzierter Güter) sichert. Dazu bedarf es ein System fester Wechselkurse zwischen dem IMCU und den lokalen Währungen, die sich nur dann ändern, wenn es zu einem dauerhaften Anstieg der Effizienzlöhne kommt.16 Dadurch kann sich jede Zentralbank darauf verlassen, dass ihr Vorrat an IMCU als internationale Währungsreserve seine Kaufkraft in Bezug auf im Ausland produzierte Güter niemals verlieren wird. Wenn ein Staat es zulässt, dass es innerhalb seiner Grenzen zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt, so wird der Wechselkurs zwischen der Landeswährung und dem IMCU so weit gesenkt, dass er die Inflation beim in der Landeswährung ausgedrückten Preis des lokalen Warenkorbs widerspiegelt. Beträgt die lokale Inflationsrate beispielsweise 5 Prozent, würde der Wechselkurs derart angepasst, dass man mit einer bestimmten Menge IMCU 5 Prozent der Landes­ währung mehr erstehen könnte. Führt dagegen ein Anstieg der Produktivität in der Landeswährung ausgedrückt zu sinkenden Produktionskosten so müsste das Land, das einen solchen Rückgang der Effizienzlöhne um 5 Prozent verzeichnet, sich entscheiden, entweder [a] die Landeswährung gegenüber dem IMCU (um bis zu 5 Prozent) aufzuwerten, so dass der Produktivitätszuwachs (hauptsächlich) den eigenen Landeskindern zugute kommt und die Kaufkraft des IMCU erhalten bleibt, oder [b] den nominalen Wechselkurs konstant zu halten. In letzterem Fall teilt das Land den Produktivitätsgewinn mit allen seinen Handelspartnern. Im Gegenzug wird die Exportindus 16 Der Effizienzlohn ist korreliert mit dem Quotienten aus Nominallohn und durchschnittlichem Grenzprodukt der Arbeit; er ergibt sich aus den Lohnstückkosten zu-/abzüglich der geldwerten Erhöhung des im Inland erwirtschafteten BIP. Ob der inländische Warenkorb sowohl handelbare als auch nicht handelbare Güter und Dienstleistungen beinhalten sollte, lässt sich in diesem frühen Stadium des Modells nicht sinnvoll entscheiden. (Durch die Zunahme des Tourismus werden immer mehr nicht handelbare Güter potentiell handelbar.) Ich persönlich bevorzuge die breiter gefasste Definition des inländischen Warenkorbs, sehe aber nicht, dass ein entscheidendes Prinzip verloren ginge, wenn man sich ausschließlich auf handelbare Güter beschränkt, oder wenn manche Länder die breiter gefasste Definition anwenden und andere die engere.

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trie dieses besonders produktiven Landes einen immer größeren Anteil am Weltmarkt für sich erobern können. Werden Landeswährungen gegenüber dem IMCU abgewertet, um die Inflation im Inland auszugleichen, so wird die Kaufkraft des IMCU stabilisiert. Indem der Handel mit IMCUs auf Zentralbanken beschränkt wird, verhindert man Geschäfte privater Spekulanten, die sich mit Hilfe von IMCUs vor Inflation schützen wollen. Die Inflationsrate der einzelnen Länder in Bezug auf im Inland produzierte Güter und Dienstleistungen hängt ausschließlich von der Politik der Landesregierung hinsichtlich des Niveaus der Nominallöhne und der Gewinnspannen im Vergleich zum Produktivitätszuwachs, kurz: hinsichtlich des Effizienzlohns im Lande ab. Jedem Land steht es also frei, zur Verhinderung von Inflation mit politischen Maßnahmen zur Stabilisierung des Effizienzlohns zu experimentieren, so lange diese Maßnahmen nicht zu einem weltweiten Mangel an effektiver Nachfrage führen. Unabhängig davon, ob ein Land eine Preisinflation bei im Inland produzierten Gütern erfolgreich verhindern kann, und egal, in welcher Inlandswährung man rechnet, verliert der IMCU somit niemals seine internationale Kaufkraft. Mehr noch: Wächst die Produktivität schneller als die Nominallöhne und sind alle Nationen bereit, eine Senkung ihrer realen Produktionskosten mit ihren Handels­ partnern zu teilen, so verspricht der IMCU im Lauf der Zeit sogar an Kaufkraft zuzulegen. Bestimmung Nr.  7 bringt ein System hervor, das darauf ausgelegt ist, mindestens die Parität der relativen Effizienzlöhne über Ländergrenzen hinweg zu sichern. In einem solchen System dient die Flexibilität der nominellen Wechselkurse in erster Linie (aber nicht immer, siehe Bestimmung Nr. 8) dazu, Veränderungen der Effizienzlöhne der einzelnen Handelspartner auszugleichen. Diese Bestimmung hat den positiven Effekt, zu verhindern, dass eine bestimmte Branche in einem Land nur deshalb gegenüber ausländischen Produzenten einen Wett­ bewerbsnachteil erleidet (oder einen Wettbewerbsvorteil erhält), weil sich unabhängig von Veränderungen bei den Effizienzlöhnen und realen Produktionskosten in den einzelnen Ländern der nominelle Wechselkurs geändert hat. Schwankungen des nominellen Wechselkurses können somit nicht mehr zu dem Problem führen, dass es allein deshalb zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit kommt, weil eine Währung überbewertet ist – wie es beispielsweise die Industrie im amerikanischen „Rust Belt“ zwischen 1982 und 1985 erleben musste. Selbst eine temporäre, unabhängig von Veränderungen des Effizienzlohns vorgenommene Währungsabwertung kann erheblichen, dauerhaften Schaden anrichten, weil die einheimische Industrie den Exportmarkt anderen überlässt, im Inland Marktanteile an ausländische Firmen verliert und die daraus resultierenden, zu teuren Überkapazitäten bei den Produktionsanlagen abbaut. Außerdem verhindert Bestimmung Nr. 7, dass ein Land durch eine Abwertung der eigenen Löhne, die nicht auf Veränderungen der Effizienzlöhne beruht, Wirtschaftspolitik auf Kosten der Nachbarn betreibt und die eigene Arbeitslosigkeit ex-

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portiert. Sobald die anfänglichen Wechselkurse festgelegt sind und die relativen Effizienzlöhne feststehen, so ist (mit Ausnahme von Bestimmung Nr. 8) der wichtigste Faktor, der eine Anpassung des realen Wechselkurses rechtfertigt, ein Sinken der realen Produktionskosten, das mit einer relativen Verringerung der Effizienzlöhne einhergeht. Bestimmung Nr.  6 verhindert zwar, dass ein Land kontinuierlich exzessive Überschüsse erwirtschaftet; damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass ein oder mehrere Länder ein anhaltendes Defizit verzeichnen. Bestimmung Nr.  8 beschreibt daher einen Ansatz zur Lösung des Problems, dass ein Land ein dauerhaftes internationales Zahlungsdefizit aufweist. 8. Neigt ein Land trotz Vollbeschäftigung auf internationaler Ebene zu einem dauerhaften Defizit seiner Leistungsbilanz, so ist das ein glaubhafter Beweis dafür, dass sein Produktionspotential nicht ausreicht, um den aktuellen Lebensstandard zu halten. Handelt es sich um ein armes Defizitland, so ist angezeigt, dass die reicheren Länder, die Überschüsse verzeichnen, dem armen Land einen Teil ihres überschüssigen Guthabens übertragen.17 Handelt es sich um ein vergleichsweise reiches Defizitland, so muss dieses seinen Lebensstandard anpassen, indem es die Terms of Trade mit den wichtigsten Handelspartnern verschlechtert. Daraufhin sollte das reiche Land mit dem Handelsdefizit nach im Vorfeld vereinbarten Regeln seine Währung in regelmäßigen, vorgegebenen Schritten abwerten, bis die Zahlen belegen, dass das Export-Import-Ungleichgewicht beseitigt ist, ohne dass Rezessionskräfte entfesselt wurden. Bleibt das Zahlungsdefizit jedoch trotz einer kontinuierlich positiven Handelsbilanz in Bezug auf Güter und Dienstleistungen bestehen, so ist das ein Anzeichen dafür, dass das Defizitland möglicherweise eine zu schwere internationale Schuldenlast trägt. In diesem Fall sollten die ehrenamtlichen Leiter der Clearingunion Verhandlungen zwischen dem Schuldnerland und den Gläubigerländern mit dem Ziel einer Verringerung der jährlichen Zinszahlungen vermitteln. Diese kann erreicht werden durch (1) eine Verlängerung der Kreditlaufzeit, (2) eine Reduzierung der Zinsen, und/oder (3) einen Schuldenerlass.18 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass die Bestimmung Nr. 6 die innovative Idee von J. M. ­Keynes verkörpert, im Falle eines dauerhaften (und/oder erheblichen) Ungleichgewichts in der Leistungsbilanz, sei es durch Kapitalflucht oder durch ein dauerhaftes Handelsungleichgewicht ausgelöst, müsse ein eingebauter Mechanismus greifen, der das/die Überschussland bzw. -länder veranlasst, die Hauptverantwortung für den Ausgleich dieses Ungleichgewichts zu überneh 17 Dieses Vorgehen entspricht einer negativen Einkommenssteuer für Familien, die trotz Vollzeitjob der Eltern arm sind; vgl. Davidson 1987/88. 18 Der konkrete Plan, wie die Schuldenlast verringert werden soll, wird im Einzelfall von vielen Parametern abhängen. Dazu zählen das relative Einkommen und Vermögen des Schuldners im Vergleich zum Gläubiger, die Möglichkeiten des Schuldners, das Pro-KopfEinkommen zu erhöhen, usw.

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men. Diese Last muss das Überschussland tragen, weil es über die zur Lösung des Problems erforderlichen Mittel verfügt. Ohne die Bestimmung Nr. 6, in einem herkömmlichen System, kann es unabhängig davon, ob es auf festen oder frei schwankenden Wechselkursen und/oder Kapitalverkehrskontrollen basiert, früher oder später (da ein dauerhaftes Leistungsbilanzdefizit die Devisenreserven eines Landes aufzehren kann) zu einer internationalen Liquiditätskrise kommen, die weltweit Rezessionskräfte entfesselt. Die Bestimmung Nr. 6 ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass das internationale Zahlungssystem keinen eingebauten Hang zur Rezession hat. Letztlich ist es also im ureigenen Interesse des Überschusslandes, dieser Verantwortung gerecht zu werden, denn dadurch schafft es weltweit die Voraussetzungen für mehr Wirtschaftswachstum, von dem naturgemäß zum Teil die eigene Bevölkerung profitieren wird. Untätigkeit dagegen wird weltweit für die Entfesselung von Rezessionskräften sorgen, und das wird nicht ohne negative Folgen für die eigene Bevölkerung bleiben.

11. Kapitel

Inflation Die klassische Theorie ging von einer Volkswirtschaft aus, in der Vollbeschäftigung herrscht, das Say’sche Gesetz gilt und das Geld sich neutral verhält, so dass eine Zunahme der Geldmenge keinen Einfluss auf Beschäftigung und Produktion hat. Jeder Anstieg der Geldmenge, so im 18. Jahrhundert der schottische Philosoph und klassische Ökonom David Hume, müsse daher unmittelbar zu einem höheren Preisniveau (sprich: zu Inflation) führen. Dem Nobelpreisträger Milton Friedman, einem Vertreter des klassischen Monetarismus, wird gemeinhin der Satz „In­f lation ist immer und überall ein monetäres Phänomen“ zugeschrieben, der Inflation als einen Zustand definiert, in dem es zu viel Geld und zu wenig Güter gibt. ­Keynes formulierte seine Allgemeine Theorie in den 1930er Jahren, zu einer Zeit, als Großbritannien seit mehr als zehn Jahren unter hoher Arbeitslosigkeit und schrumpfender Wirtschaftsleistung litt. Insofern überrascht es kaum, dass K ­ eynes den Großteil seiner theoretischen Analyse dem Problem der Arbeitslosigkeit widmete und seine Beschäftigung mit dem Schreckgespenst der Inflation sich auf wenige Randbemerkungen über „Flaschenhälse“ und die „Veränderung in der Lohneinheit“ beschränkte.1 ­Keynes’ Analyse zufolge ist Geld weder auf kurze noch auf lange Sicht neutral. Folglich ergibt sich aus seiner Allgemeinen Theorie, dass eine Geldpolitik, die Auswirkungen auf die im System zur Verfügung stehende Geldmenge hat, unmittelbare Folgen für die Realwirtschaft hat, nicht für das Preisniveau. Bereits 1930 schrieb ­Keynes, Bankkredite seien „der Boden, auf dem sich die Produktion bewegt, und die Banken würden, wenn sie ihre Pflicht kennten, Transporterleichterungen in solchem Umfang schaffen wie erforderlich ist, um die produktiven Kräfte des Gemeinwesens im Rahmen ihrer vollen Leistungsfähigkeit zu beschäftigen“.2 Solange in einer Volkswirtschaft Ressourcen in nennenswertem Umfang vorhanden sind, die sinnvoll eingesetzt werden könnten, besteht die Funktion einer Zentralbank, der Kontrollinstanz des Bankensystems, demnach darin, die Banken dazu zu veranlassen, möglichst billige Kredite (Liquidität) anzubie­ eynes, in der ten. In der nichtergodischen, von Ungewissheit geprägten Welt von K Geld niemals neutral ist, liegt die wichtigste Funktion der Zentralbank nicht darin, die Inflationsrate zu senken, so lange keine Vollbeschäftigung herrscht, sondern darin, ausreichend Liquidität zur Sicherung des Wirtschaftswachstums zur Verfügung zu stellen. 1

­Keynes 1936, S. 253 ff. ­Keynes 1932, S. 475 f.

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11. Kap.: Inflation

I. Verträge, Preise und Inflation Meine obigen Ausführungen zur Bedeutung des Geldes und zu Kassa- und Termingeschäften sind eine gute Grundlage, auf der man sich die Ursache(n) vor Augen führen kann, weshalb es in der realen Welt zu Inflation kommt. In allen modernen, auf Geldwirtschaft beruhenden Volkswirtschaften werden Produktion und Handel mit Hilfe von Geldverträgen organisiert, die entweder auf einem Kassa- oder einem Terminmarkt gehandelt werden. Demnach gibt es potentiell zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwei verschiedene Arten von Preisen: Barpreise3 für Geschäfte mit sofortiger Zahlung und Lieferung, sowie Terminpreise4 für Geschäfte, bei denen heute ein bestimmter Preis festgelegt wird, der zum Zeitpunkt der Lieferung fällig wird. Laut Alfred Marshall, Lehrer ­Keynes’ und selbst ein berühmter Ökonom, liegen die Preise auf einem Kassamarkt auf dem Niveau, das für die Räumung des Marktes sorgt – selbst dann, wenn der Barpreis die Produktionskosten nicht deckt. Die kurzfristigen (Termin)Preise Marshalls sind die Angebotspreise der Verkäufer, die Käufer zu zahlen bereit sein müssen, wenn sie eine Bestellung aufgeben wollen, die den Verkäufer dazu veranlasst, die Produktion in die Wege zu leiten, so dass die Lieferung zu einem festgelegten zukünftigen Datum gesichert ist. Die Angebotspreise der Verkäufer entsprechen den geldwerten Produktionskosten (einschließlich des Gewinns) bei Erfüllung eines bestimmten Produktionsziels zu einem bestimmten Zeitpunkt. In seiner Abhandlung „Vom Gelde“ unterscheidet ­Keynes zwei Arten von Inflation: Gewinninflation und Einkommensinflation.5 Erstere ist von allmählich steigenden Barpreisen charakterisiert, wobei zu jedem beliebigen Zeitpunkt ausschließlich bereits produzierte Güter gehandelt werden können, die auf Lager sind. Wenn die Nachfrage auf dem Kassamarkt plötzlich ansteigt, so kann man die Inflation nicht dadurch eindämmen, dass man das Angebot erhöht, denn die Pro­ duktion nimmt schließlich eine gewisse Zeit in Anspruch. (Besitzer von bereits produzierten Gebrauchsgütern können diese zu einem höheren Barpreis ver­kaufen und dadurch Gewinn machen.) Die zweite Art von Inflation, die Einkommensinflation, hat mit dem Anstieg der monetären Produktionskosten je Einheit produzierter Güter zu tun. Diese mone­tären Produktionskosten bestehen aus den Zahlungen an Lohn- und Gehaltsempfänger, Zulieferer, Kreditgeber und Gewinnbeteiligte. Steigen die monetären Produktionskosten, so erhalten mit anderen Worten die Besitzer von Voraussetzungen für den Produktionsprozess ein höheres Einkommen, das nicht durch 3 Barpreise entsprechen dem, was Alfred Marshall „Marktperiodenpreise“ (market period prices) nannte. 4 Terminpreise sind das, was Marshall als „kurzfristige Angebotspreise“ (short-run flowsupply prices) bezeichnete. 5 ­Keynes 1932, S. 421 f.

II. Der Inflationsprozess in einer keynesianischen Welt

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einen entsprechenden Produktivitätszuwachs ausgeglichen wird. Die mit der Einkommensinflation verbundene Terminologie wirft ein Schlaglicht auf die selbstverständliche, aber häufig übersehene Tatsache, dass angesichts der Produktivitätsverhältnisse ein inflationärer Anstieg der Preise von im Inland produzierten Gütern immer damit zusammenhängt (und eine Folge davon ist), dass das monetäre Einkommen eines am Produktionsprozess Beteiligten steigt. Will man die Inflationsrate bei im Inland produzierten Gütern begrenzen, so muss man demnach den Anstieg des monetären Einkommens der Besitzer von Produktionsmitteln pro produzierter Einheit begrenzen.

II. Der Inflationsprozess in einer keynesianischen Welt Barpreise reagieren per definitionem sofort auf Veränderungen der Marktnachfrage nach bestehenden Produkten (zumindest wenn wir Veränderungen der Reservationsnachfrage6 hier außer acht lassen). Jeder unerwartete, plötzliche Anstieg der Nachfrage nach sofort zu liefernden Produkten und/oder Dienstleistungen zieht daher steigende Barpreise nach sich. Entscheidend für die Entstehung eines dauerhaften Inflationsproblems sind jedoch nicht die Auswirkungen auf die Bar- sondern auf die Terminpreise. Unabhängig davon, wie hoch die Barpreise zu einem bestimmten Zeitpunkt steigen, können Käufer, die willens sind abzuwarten, bis zusätzliche Produkte hergestellt sind, jederzeit zum aktuell von den Unternehmern angebotenen Terminpreis zu einem zukünftigen Zeitpunkt auszuliefernde neue Produkte und Dienstleistungen bestellen. Bleiben die Terminpreise trotz eines hypothetischen Anstiegs der aktuellen Nachfrage dauerhaft stabil, so kann es sich bei der Inflation der Barpreise lediglich um ein vorübergehendes (auf eine Marktperiode beschränktes) Phänomen handeln. Sofern das Inflations­ problem in den Barpreisen von Produkten mit langer Herstellungsdauer besteht und es zu keinem Spillover in Form eines Anstiegs der monetären Produktionskosten kommt, empfiehlt sich als politische Maßnahme zur Inflationsbekämpfung das Vorhalten eines Pufferbestands durch den Staat. Da es zu einer Inflation der Bar- oder Warenpreise immer dann kommt, wenn eine plötzliche und unvorhergesehene Änderung der Nachfrage oder des verfügbaren Angebots an sofort lieferbaren Gütern eintritt, lässt sich diese Art von Inflation leicht vermeiden, wenn es irgendeine Institution gibt, die nicht aus Eigeninteresse handelt, sondern einen „Pufferbestand“ vorhält, der verhindern soll, dass unvorhergesehene Veränderungen der aktuellen Nachfrage und des aktuellen Angebots signifikante Änderungen des Barpreises auslösen. Ein Pufferbestand 6

Die Reservationsnachfrage ist die Nachfrage durch aktuelle Besitzer, die ihre bereits fertigen Produkte vom Markt fernhalten, um in der Zukunft einen höheren Preis zu erzielen. Eine solche Spekulation ist möglich, so lange die erhoffte Erhöhung des Barpreises in der Zukunft die Kosten für die Lagerhaltung der fertigen Produkte übersteigt.

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11. Kap.: Inflation

ist nichts anderes als ein Lagerbestand eines bestimmten Guts, den man auf den Markt werfen oder dem Markt entziehen kann, um den Markt vor ungeordneten Preissprüngen zu schützen, indem man die unvorhergesehenen Veränderungen in der aktuellen Nachfrage und dem aktuellen Angebot ausgleicht.7 Die Vereinigten Staaten haben zum Beispiel seit den Ölkrisen der 1970er Jahre eine „strategische Ölreserve“ angelegt, die in unterirdischen Salzstöcken an der Golfküste lagert. Diese Ölreserve kann im Notfall zur Stabilisierung des heimischen Kassamarkts für Öl eingesetzt werden, falls es plötzlich zu einer Reduzierung des Ölnachschubs aus dem politisch instabilen Nahen Osten kommt. Der strategische Nutzen einer solchen Ölreserve besteht darin, dass der Barpreis für Öl weniger stark ansteigen würde, wenn es beispielsweise im Nahen Osten zu einer politischen Krise käme. Anders ausgedrückt: So lange genügend Pufferbestand zur Verfügung steht, um eventuelle kurzfristige Engpässe des Angebots auszugleichen, kann eine Inflation des Barpreises für Öl vermieden werden. So hat die US-Regierung während des kurzen ersten Irakkriegs einen Teil der strategischen Ölreserve auf den Markt geworfen, um zu verhindern, dass mögliche (tatsächliche oder befürchtete)  Unterbrechungen des Ölnachschubs sich negativ auf den Barpreis von Rohöl auswirken. Nach Schätzungen des Energieministeriums hat die Freigabe der Ölreserve während der Operation „Desert Storm“ an den Zapfsäulen einen Preisanstieg von 6 Cent pro Liter verhindert. Die Idee, Pufferbestände zur Verhinderung einer Inflation des Barpreises einzusetzen, ist so alt wie die biblische Geschichte von Joseph und dem Pharao, dem im Traum sieben fette Kühe gefolgt von sieben mageren Kühen erschienen waren. Joseph, der Wirtschaftsprognostiker seiner Zeit, interpretierte den Traum des Pharao so, dass sieben gute Ernten zu erwarten seien, in denen die Produktion weit über, und die von den Bauern erzielten Preise weit unter dem normalen Niveau liegen würden. Dann würden sieben magere Jahre folgen, in der die Ernte nicht ausreichen werde, um alle satt zu machen, und die Bauern exorbitant hohe Preise verlangen könnten. Der soziale, politische Rat Josephs lautete, der Staat solle in den guten Jahren einen Pufferbestand an Getreide aufkaufen und einlagern, um ihn dann in den schlechten Jahren ohne Profit am Markt anzubieten. Dadurch könne man über alle 14 Ernten hinweg einen stabilen Preis garantieren, in den mageren Jahren Inflation verhindern und gleichzeitig in den fetten Jahren Einkommensverluste der Bauern vermeiden. Nach allem, was wir in der Bibel lesen, war diese soziale Politik der Pufferbestände ökonomisch ein durchschlagender Erfolg.

7 1942 schlug K ­ eynes als Ergänzung der von ihm vorgeschlagenen Clearingunion für internationale Zahlungen eine internationale „Warenkontrollagentur“ vor, die mit Hilfe von Pufferbeständen für die Stabilisierung der (Bancor-)Preise international gehandelter Güter sorgen sollte. Außerdem war ­Keynes der Auffassung, dass sich so die Einkommen der Produzenten dieser Waren stabilisieren ließen.

IV. Einkommenspolitik

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III. Einkommensinflation Ein Anstieg der Nominallöhne, Gehälter und anderer vertraglich vereinbarter Produktionskosten geht stets damit einher, dass irgendjemand ein höheres Einkommen verzeichnet. Das Einkommen der Menschen, die einem Unternehmen im Rahmen des Produktionsprozesses ihre Arbeitskraft oder ihren Besitz zur Verfügung stellen, sind die eine Seite der Medaille; die andere sind die Kosten der Firma. Da Sklaverei in aufgeklärten Gesellschaften illegal ist, stellen Arbeitsverträge den am weitesten verbreiteten Teil der Produktionskosten dar. Arbeitskosten machen in der Wirtschaft den Großteil der vertraglich festgelegten Kosten aus, selbst bei Hightech-Produkten wie einem Spaceshuttle der NASA. Vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg wird die von den Produktionskosten getriebene Inflation in der Regel auf die Inflation der Nominallöhne zurückgeführt. Lohnvereinbarungen legen einen bestimmten Nominallohn pro Zeiteinheit fest. Diese Arbeitskosten, zuzüglich eines Gewinn- oder Preisaufschlags, der zur Deckung der Betriebsausgaben und zur Sicherung eines Profits aus den Investitionen dient, stellt die Grundlage für unternehmerische Entscheidungen bezüglich der Preise dar, die man im Rahmen eines Kaufvertrags erzielen muss, damit die Produktion sich lohnt. Steigen die Nominallöhne schneller als die Produktivität, so erhöhen sich die bei der Herstellung einer bestimmten Menge von Produkten anfallenden Arbeitskosten. Wenn sie ihre Rentabilität aufrechterhalten wollen, müssen Unternehmen folglich ihre Verkaufspreise (auf dem Terminmarkt) erhöhen. Steigen in der gesamten Volkswirtschaft irgendwelche Produktionskosten und damit auch die Preise für Vorbestellungen, so haben wir es mit einer Markt- oder Einkommensinflation zu tun. Somit steht fest: Will man eine solche Einkommensinflation verhindern, so bedarf es irgendeines Mechanismus, der verhindert, dass die Einkommen schneller steigen als die Produktivität.

IV. Einkommenspolitik Warum hat in den meisten Industrieländern (zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg) die Erhöhung der Tariflöhne erheblich zur fortschreitenden Einkommensinflation beigetragen? Um das zu verstehen, müssen wir uns vor Augen führen, wie sehr sich unsere Industriegesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg verändert hat. John Kenneth Galbraith hat es so ausgedrückt: „Mit der Weiterentwicklung der Industriegesellschaft und ihrer politischen Institutionen […] verliert der Markt auf radikale Weise seine Autorität als normierende Kraft […]. Teilweise ist das Ausdruck unseres demokratischen Ethos.“8 8

Galbraith 1978, S. 8 f.

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11. Kap.: Inflation

Nach den schrecklichen Erfahrungen während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre setzte sich in demokratischen Staaten unter den einfachen Leuten zusehends die Ansicht durch, dass die Menschen mehr Einfluss auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen haben sollten. Die Weltwirtschaftskrise lehrte, dass Individuen niemals die Kontrolle über ihr wirtschaftliches Schicksal erlangen können, wenn sie die Entscheidung über die Höhe ihres Einkommens der Tyrannei des freien Marktes überlassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg forderten die Menschen in Ländern mit einem gewissen Maß an demokratischer Mitbestimmung nicht nur ein Wirtschaftssystem, in dem sie wirtschaftlich absichert sein würden; sie wollten selbst über ihr ökonomisches Schicksal mitbestimmen. Dafür mussten sie die Kontrolle über die Höhe ihres Einkommens erlangen. Das Ergebnis war ein Machtkampf zwischen Gewerkschaften, politischen Koalitionen, Kartellen und Monopolen, in dem um höhere Einkommen gerungen wurde. Kommt es im Rahmen dieses Machtkampfs zu Forderungen nach höherem Einkommen bei gleichbleibendem Produktionsniveau, so führt das zu Einkommensinflation. So lange die Regierung eine Politik zu verfolgen versichert, die auf Vollbeschäftigung abzielt, haben im Eigeninteresse handelnde Arbeiter, Gewerkschaften und Unternehmer keine Angst, ihre Forderungen nach höheren Preisen oder Löhnen könnten zu Umsatzeinbußen oder Arbeitslosigkeit führen. So lange die Regierung sich ihrer Verantwortung stellt, für eine gesamtwirtschaftliche effektive Nachfrage zu sorgen, die ein Produktionsniveau nahe Vollbeschäftigung garantiert, wird es keinerlei Marktanreiz geben, diesem immer wiederkehrenden Kampf um die Einkommensverteilung ein Ende zu machen. Eine Politik, die Vollbeschäftigung anstrebt, ohne bewusst und dezidiert Lohnzurückhaltung zu fordern, hätte zur Folge, dass es die „industrielle Reservearmee“ der Arbeitslosen, wie Marx es nannte, nicht mehr gäbe. In einem von Laissez-faire geprägten Marktumfeld jedoch ist diese „Reservearmee“ ein wichtiger Faktor, der Zurückhaltung bei Lohnforderungen sicherstellt. Aufgrund des weltweiten Freihandels gibt es seit den 1990er Jahren ein nahezu unbegrenztes Angebot an ungelernten und gering qualifizierten Arbeitskräften in Ländern wie China und Indien, die wesentlich geringere Löhne akzeptieren als im Westen üblich. Diese Arbeitskräfte haben eine ähnliche Rolle gespielt wie Marx’ „Reservearmee“ der Arbeitslosen, weil sie bewirkt haben, dass die Arbeiter im Westen das Lohnniveau im Durchschnitt nicht einmal konstant halten konnten. Für klassische Ökonomen, die vom segensreichen Wirken der „unsichtbaren Hand“ des Marktes überzeugt sind, gibt es nur einen Weg, eine etwaige Einkommensinflation zu bekämpfen. In einer freien Gesellschaft, in der die Menschen ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, können Arbeiter und Unternehmer einen beliebigen Preis für ihre Dienste fordern, selbst wenn diese Forderungen inflationär sind. Ein oft zitierter Ausspruch von Margaret Thatcher lautet: „Zu den Rechten, die das Leben in einer freien Gesellschaft mit sich bringt, gehört auch das Recht, sich durch zu hohe Preise selbst aus dem Markt zu drängen.“

IV. Einkommenspolitik

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Damit Arbeiter, Unternehmer und Produzenten die Chance haben, sich durch inflationäre Einkommensforderungen selbst aus dem Markt zu drängen, muss die Zentralbank unterbinden, dass diese inflationären Einkommensforderungen vom Bankensystem finanziert werden. Um zu verhindern, dass signifikante inflationäre Lohn- oder andere Einkommensforderungen auf dem Markt bestätigt werden, muss die Zentralbank die Liquidität so verknappen, dass ein Mangel an effektiver Nachfrage entsteht. Wenn eine unabhängige Zentralbank sich strikt weigert, Geld zu drucken, um inflationäre Einkommensforderungen seitens der Besitzer der inländischen Produktionsfaktoren zu finanzieren, so wird die daraus resultierende flaue Nachfrage nach im Inland produzierten Gütern einen disziplinierenden Effekt auf alle Arbeiter und Firmen haben, weil sie Umsatz- und Einkommenseinbußen fürchten müssen. Die Hoffnung ist, dass diese Furcht den Lohn- und Preisanstieg begrenzen kann. Um eine glaubhafte Drohkulisse aufzubauen, die alle Firmen und Arbeiter ernst nehmen, muss eine Zentralbank zur Eindämmung der Inflation eine restriktive Geldpolitik verfolgen. So lange man die Einkommenspolitik dem freien Markt überlässt und die Drohung mit Arbeitslosigkeit und unternehmerischem Misserfolg aufrecht hält, ist wirtschaftliche Prosperität bei annähernder Vollbeschäftigung völlig unmöglich. Wer sich für eine Geldpolitik seitens der Zentralbank ausspricht, die auf Inflationsbekämpfung ausgerichtet ist, setzt implizit auf eine Einkommenspolitik, in deren Mittelpunkt „Angst“ steht – vor Arbeitsplatzverlust, sinkenden Verkaufseinnahmen und Gewinneinbußen bei Unternehmen, die im Inland Güter und Dienstleistungen produzieren. Diese Angst, so die Annahme, werde verhindern, dass die Besitzer der inländischen Produktionsfaktoren übermütig werden. Wie flau die Nachfrage sein muss, damit diese auf Angst gegründete Einkommenspolitik Wirkung entfaltet, ist von dem abhängig, was einige moderne klassische Ökonomen als „natürliche Arbeitslosenquote“ eines Landes bezeichnen, sowie in Zeiten der Globalisierung von der Existenz bevölkerungsreicher Länder, deren Arbeiter sich mit Löhnen zufrieden geben, die deutlich unter denen in Industrieländern liegen. Verfechter einer solchen inflationsbekämpfenden Einkommenspolitik, die auf Angst setzen, insinuieren, dass die natürliche Arbeitslosenquote niedriger liegen werde, wenn Regierungen die Arbeitsmärkte „liberalisieren“, indem sie die langfristige Arbeitslosenunterstützung und andere einkommenssichernde Maßnahmen, wie Mindestlöhne, den Arbeitgeberanteil bei der Renten- und Krankenversicherung, Arbeitsschutzgesetze usw. zurückfahren oder gleich ganz abschaffen. Die Arbeiter seien dann weniger aufsässig. Durch verlässliche soziale Absicherung würden die Opfer des Kriegs gegen die Inflation nur verhätschelt, so dass andere denken könnten, sie hätten wenig zu befürchten, wenn sie sich der Schar der Arbeitslosen anschließen. Die notwendige Voraussetzung für den Erfolg dieser barbarischen Inflationsbekämpfungsstrategie ist, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft eine ständige, überwältigende Angst

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11. Kap.: Inflation

eingepflanzt wird. Das Erste, was einer solchen Strategie unweigerlich zum Opfer fällt, ist eine zivilisierte Gesellschaft. Durch die Integration bevölkerungsreicher Länder wie China und Indien in die Weltwirtschaft ist in der Volkswirtschaft vieler OECD-Staaten wie erwähnt eine zusätzliche „industrielle Reservearmee“ aufgetaucht. Angesichts des nahezu unbegrenzten Angebots an arbeitssuchenden oder unterbeschäftigten Arbeitern in diesen Ländern, die deutlich niedrigere Löhne akzeptieren als in den großen OECD-Ländern üblich, sowie in Anbetracht der zunehmenden Tendenz zum Outsourcing von Arbeitsplätzen im verarbeitenden und im Dienstleistungsgewerbe (in denen die Transport- und Kommunikationskosten vergleichsweise niedrig sind), sah sich die Arbeiterschaft in den wichtigsten Industrieländern in den letzten zwei Jahrzehnten in ihren Lohnforderungen zu deutlicher Zurückhaltung genötigt. Dadurch blieb die Einkommensinflation auf diejenigen Berufe und Branchen im verarbeitenden und im Dienstleistungsbereich beschränkt, in denen Outsourcing nicht in Frage kommt (wie z. B. im Bereich der Landesverteidigung). Die Folge war zunehmende Einkommensungleichheit zwischen ungelernten oder gering qualifizierten Arbeitern in den westlichen Industrieländern und den Managern und Eigentümern multinationaler Konzerne, die einfache Tätigkeiten outsourcen und Unternehmensbereichen, die Güter und Dienstleitungen vor Ort bereitstellen, höhere Gewinnmargen fordern können. Welche der Inflation entgegenwirkende Einkommenspolitik lässt sich aus ­Keynes’ revolutionärem analytischen Ansatz ableiten? Sidney Weintraub, dessen Ansatz auf dem von ­Keynes entwickelten analytischem Rahmen beruht9, ersann 1971 eine „intelligente“ Politik zur Inflationsbekämpfung, die er „steuerbasierte Einkommenspolitik“ nannte. Diese sieht vor, dass große inländische Firmen über das Unternehmenssteuersystem bestraft werden, wenn sie Lohnerhöhungen zustimmen, die über dem Wert der durchschnittlichen inländischen Produktivitätssteigerung liegen. Auf diese Weise sollten Unternehmen, die inflationstreibenden Lohnforderungen zustimmten, über das Steuersystem bestraft werden. Wenn es gelänge, Lohnerhöhungen auf das Maß der allgemeinen Produktivitätssteigerung zu begrenzen, so die Hoffnung, so würden sich die Arbeiter und alle anderen Besitzer von für die inländische Produktion nötigen Produktionsmitteln mit Einkommensverbesserungen zufrieden geben, die keine Inflation mit sich bringen. Damit eine solche steuerbasierte Einkommenspolitik die Einkommensinflation wirksam zügeln kann, ohne mit der Angst vor Einkommensverlust zu arbeiten, müssen nach Weintraubs Ansicht zwei Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Die steuerbasierte Einkommenspolitik muss dauerhaft institutionalisiert werden, und (2) sie muss auf Bestrafung setzen, nicht auf Belohnung (Subventionen). 9

Vgl. Weintraub 1958.

IV. Einkommenspolitik

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Einmal eingeführt, dürfte die steuerbasierte Einkommenspolitik niemals abgeschafft werden, denn sobald sie sich ihrem Abschaffungsdatum näherte, würde sie zum zahnlosen Tiger. (Die Höhe der Strafsteuern könne den Umständen angepasst werden, so Weintraub; damit die Wirksamkeit gewährleistet sei, müsse die Strafandrohung jedoch stets aufrecht erhalten werden.) Zweitens: Ein Belohnungssystem, bei dem sich die Steuern reduzieren, wenn man den landesweiten Lohnstandard einhält, wäre verwaltungstechnisch unpraktikabel, weil alle die Belohnung beantragen würden und die Beweislast, wer zur Inanspruchnahme der Steuervergünstigung nicht berechtigt ist, bei den Behörden läge. Weintraub verglich die steuerbasierte Einkommenspolitik mit der Durchsetzung einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen. Wer die (stets gültige) Höchstgeschwindigkeit überschreitet, muss Strafe zahlen. Keine Regierung käme auf die Idee, Autofahrer dafür zu bezahlen, dass sie die Höchstgeschwindigkeit einhalten. Leider haben die USA und viele andere Länder niemals ernsthaft versucht, eine dauerhafte, mit Strafen operierende steuerbasierte Einkommenspolitik einzuführen. Stattdessen wurde die Inflation mit Hilfe der typischen monetaristischen „Einkommenspolitik der Angst“ bekämpft, also durch die Begrenzung der Zunahme der Geldmenge, um so durch Schwächung des Wirtschaftswachstums für flaue Märkte zu sorgen. Unternehmer, die die Löhne über den Produktivitätszuwachs hinaus erhöhen, sind dann aufgrund ihrer zu hohen Preise nicht kon­ kurrenzfähig. Die realen Kosten einer solchen monetaristischen Einkommenspolitik waren in vielen Industrieländern in der jüngeren Vergangenheit erheblich. In Ländern wie Deutschland und Frankreich sind nahezu zweistellige Arbeitslosenquoten – die nach der Weltwirtschaftskrise lange Zeit unvorstellbar waren – zur Regel geworden. Weintraub war unbeirrbar davon überzeugt, dass man nicht auf rohe (Markt-) Kräfte, sondern auf die menschliche Intelligenz setzen sollte, um die Menschen zu gesellschaftlich akzeptablem, zivilisiertem Verhalten zu ermuntern. Irgendwann werde sich die Erkenntnis durchsetzen, dass es humaner wäre, die Inflation über eine zivilisierte Form der Lohnzurückhaltung zu bekämpfen, die ohne die unvermeidlichen, rezessionsfördernden Nebenwirkungen der traditionellen monetaristischen Politik auskäme. Im Kampf gegen die Inflation sind Wörter und Ideen wertvolle Waffen. Eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben besteht im Rahmen dieses Kampfes darin, die Öffentlichkeit in den wichtigsten Industrienationen darüber aufzuklären, dass es bei Verteilungskämpfen zwar vorübergehende Gewinner geben mag, unter dem Strich jedoch alle nur verlieren. So lange es keine vernünftige Politik gibt, die über die nationale und internationale Einkommensverteilung bestimmt, und die einzelnen Staaten weiter eine restriktive Geld- und/oder Fiskalpolitik verfolgen, ist das Ergebnis gesamtwirtschaftlich kein Nullsummenspiel, sondern ein realer Verlust an Einkommen, auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

12. Kapitel

Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? Eine Spurensuche In seinem Brief an George Bernard Shaw vom Neujahrstag 1935 schrieb­ Keynes, er arbeite an einem Buch, das die Wirtschaftswissenschaften revolutionieren werde. Es stelle nämlich eine realistische Beschreibung einer Volkswirtschaft dar, in der Liquidität und Geldverträge bei der Organisation von Produktion und Handel eine entscheidende Rolle spielten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sprachen Ökonomen jahrzehntelang von einer keynesianischen Revolution in der Wirtschaftstheorie und -politik. Im Jahr 1971 verkündete mit Richard Nixon sogar ein ­ eynesianer.“ Heute jedoch ist die keyneamerikanischer Präsident: „Jetzt bin ich K sianische Revolution – zumindest, was wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher, die Publikationen von Ökonomen des Mainstreams und die Reden von Regierungsvertretern betrifft, ob es sich nun um „Liberale“ oder „Konservative“ handelt – in der Theorie ebenso tot wie in der Politik. Wie lässt sich erklären, dass dieser revolutionären Analyse des größten wirtschaftswissenschaftlichen Denkers des 20.  Jahrhunderts der Todesstoß versetzt wurde? Wie ich in diesem abschließenden Kapitel aufzeigen werde, liegt die Ursache in einem ungewöhnlichen Zusammenspiel dreier Entwicklungen, die für die Nachkriegszeit prägend waren: Die Verwandlung der Ökonomie in eine mathematische Wissenschaft, die neue, bourbakische wirtschaftsmathematische Sichtweise, wie eine akzeptable allgemeine Theorie auszusehen habe, sowie die antikommunistischen politischen Tendenzen, von denen viele Lebensbereiche in den USA durchdrungen wurden und die unter anderem zu einer Hexenjagd an den Universitäten führten. ­Keynes’ revolutionäre Sicht der Dinge erforderte, vieles Althergebrachte zu hinterfragen und, wie er in der „Allgemeinen Theorie“ schreibt, grundlegende Axiome der klassischen Theorie über Bord zu werfen.1 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe heißt es explizit: „Das ist einer der Gründe, die es rechtfertigen, dass ich meine Theorie eine allgemeine Theorie nenne. Da sie sich auf weniger enge Voraussetzungen stützt als die orthodoxe Theorie, läßt sie sich umso leich­ eynes war auf der ter einem weiten Feld verschiedener Verhältnisse anpassen.“2 K Suche nach einer möglichst breit anwendbaren Theorie, die Umstände und Prozesse beschrieb, wie man sie in realen Geldwirtschaften antrifft. 1

Vgl. ­Keynes 1936, S. 14. ­Keynes 1936, S. XIII (erste Hervorhebung im Original, zweite durch den Verf.).

2

12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

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Alle Theorien des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams – wie die Allgemeine Gleichgewichtstheorie, die neoklassisch-keynesianische Synthese, der Mo­ eynesianismus, die post-walnetarismus, die neoklassische Theorie, der Neue K rasianische Theorie oder die Verhaltensökonomie  – beruhen auf zusätzlichen, einschränkenden Axiomen. Das bedeutet, dass diese Theorien Spezialfälle von­ Keynes’ Allgemeiner Theorie sind, da Letztere am breitesten anwendbar ist. Logisch betrachtet ist es an jenen, die die möglichst allgemeine Theorie durch zusätzliche Axiome einschränken, ihr Vorgehen zu begründen. Von Theoretikern, ­ eynes’ Allgemeiner Theodie sich mit der schmaleren axiomatischen Basis von K rie zufrieden geben, kann man aus logischer Sicht nicht den Nachweis verlangen, dass die zusätzlichen einschränkenden Axiome unnötig sind. Die bei Vertretern des ökonomischen Mainstreams gängige Auffassung war stets, dass die zusätzlichen einschränkenden Axiome aller Spielarten der klassischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, einschließlich stark mathematisch geprägter, computerbasierter Modelle wie die dynamischen, stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodelle (DSGE-Modelle) keiner Rechtfertigung bedürfen. Diese allgemeinen Gleichgewichtstheorien arbeiten mit „Tausenden Variablen“ und liefern für jede Variable eine Gleichung, mit der sich für jedes in einem Wirtschaftssystem gehandelte Gut und für jeden beliebigen Zeitpunkt der Preis und zugleich der Ausstoß errechnen lässt.3 Der wichtigste Ökonom, der sich dafür aussprach, den mathematischen Ansatz der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zur Mutter aller ökonomischen Analysen zu erklären, war der Wirtschaftsnobelpreisträger Gérard Debreu. In den 1930er Jahren versuchte eine kleine Gruppe Mathematiker (die sogenannte bourbakische Schule)  ausgehend von Frankreich den wissenschaftlichen Diskurs in allen Fächern zu „läutern“. Gérard Debreu studierte während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich Mathematik. Hauptsächlich durch seine Arbeiten fand das Denken der bourbakischen Schule in den 1950er Jahren Eingang in die Wirtschaftsmathematik. In seiner Autobiografie für das Nobelmuseum schreibt Debreu, während der prägenden Jahre an der Universität habe Bourbaki seinen „mathematischen Geschmack geformt“. Ende des Zweiten Weltkriegs, so E. Roy Weintraub in seinem Buch How Economics Became a Mathematical Science, „hatte sich in Mathematikerkreisen in Amerika die Sichtweise Bourbakis durchgesetzt: Die Mathematik sei ein autonomes, abstraktes Fach, das keines Inputs aus der realen Welt bedürfe […]. So wurde Bourbaki zum Bewahrer des Reinen gegenüber dem Angewandten, der Strenge gegenüber der Intuition.“4 Die Denkweise Bourbakis führte zu einer unüberwindlichen Kluft zwischen der Mathematik und ihrer Anwendung in Wissenschaften, die sich mit der Realität 3

Vgl. Samuelson 1947, S. 8. Weintraub 2002, S. 102.

4

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

auseinandersetzen, zwischen der strengen Anwendung der axiomatischen Grundsätze und der Strenge im Sinne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wonach jede Argumentation auf beobachtbaren, realen Phänomenen beruhen muss. Zu einer heftigen Gegenbewegung zum Streben Bourbakis nach Reinheit und Absonderung von der realen Welt kam es in den Naturwissenschaften Weintraub zufolge erst in den 1990er Jahren. Heute werde oft behauptet, in den Naturwissenschaften sterbe die „Bourbaki-Seuche“ allmählich aus.5 Der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream dagegen ist leider noch immer vom Denken Bourbakis verseucht. In die amerikanische Wirtschaftswissenschaft fand das Denken Bourbakis durch Debreu Eingang. Die Brutstätte der dominierenden Stellung dieses realitätsfernen Ansatzes in der Wirtschaftstheorie war Anfang der 1950er Jahre die „Cowles Commission for Research in Economics“.6 Debreu war der Auffassung, alle ökonomische Theorie habe ihren Ausgang beim Allgemeinen Gleichgewichtsmodell von Leon Walras aus dem 19. Jahrhundert zu nehmen.7 Aufgrund seiner mathematischen, an Bourbaki geschulten Herangehensweise an wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen, so Weintraub, stand für Debreu fest, dass „eine gute allgemeine Theorie nicht nach maximaler Allgemeingültigkeit, sondern nach dem richtigen Grad an Allgemeingültigkeit strebt“.8 Aus Sicht der von Bourbaki beeinflussten, mathematischen Wirtschaftstheorie war ­Keynes’ Suche nach der größtmöglichen Allgemeingültigkeit mit dem Ziel einer Allgemeinen Theorie, die ein möglichst kleines axiomatisches Fundament hat und doch „einem weiten Feld verschiedener Verhältnisse“ angepasst werden kann, wie wir sie in unserer Er­ fahrungswelt antreffen, inakzeptabel. ­Keynes’ scharfe Intuition führte ihn zu einer realistischen Beschreibung des Wirtschaftssystems, in dem wir leben; aus Sicht der Jünger Bourbakis jedoch war seine Allgemeine Theorie, die mit weniger Axiomen auskam als Debreus All­ gemeine Gleichgewichtstheorie, keine „gute“ Theorie. Debreus „Werttheorie“ dagegen, in der, wenn überhaupt, kaum jemand eine zutreffende Beschreibung einer realen Volkswirtschaft erkennen würde9, ist zwar nicht realistisch, arbeitet aber mit dem aus bourbakischer Sicht „richtigen“ Grad an Allgemeingültigkeit. Leider liefern weder Debreu noch andere Vertreter der Allgemeinen Gleichgewichts­ theorie irgendwelche Kriterien für die Bestimmung des „richtigen“ Grads an Allgemeingültigkeit. Sie behaupten einfach, die Allgemeine Gleichgewichtstheorie entspreche diesem idealen Grad – eine Argumentation, so Weintraub, die nichts mit Logik zu tun habe, dafür aber um so mehr „mit Stil […] und Politik […] und Geschmack“.10

5

Weintraub 2002, S. 103. Vgl. Weintraub 2002, S. 104. 7 Vgl. Walras 1874. 8 Weintraub 2002, S. 113 (Hervorhebung d. Verf.). 9 Vgl. Weintraub 2002, S. 114. 10 Weintraub 2002, S. 125. 6

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Debreus 1959 erschienene „Werttheorie“ setzt Weintraub zufolge „noch immer Maßstäbe, was die axiomatische Basis des walrasianischen Allgemeinen Gleichgewichtsmodells betrifft“.11 Aus heutiger Sicht ist der Einfluss des Denkens Bourbakis unverkennbar, aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dürfte wenigen Ökonomen die Tragweite der folgenden Passage klar gewesen sein: Die Behandlung der Werttheorie hier entspricht den strengen Maßstäben der zeitgenös­ sischen Mathematik. Das Bemühen um Genauigkeit setzt richtige Argumente und Resultate an die Stelle von falschen […]. Es führt gewöhnlich zu einem tieferen Verständnis der Probleme, auf die es sich richtet […]. Die Verpflichtung zur Genauigkeit gebietet die axiomatische Form der Analyse, wobei, streng genommen, die Theorie logisch von ihrer Interpretation völlig getrennt ist. Um diese Trennung voll zum Ausdruck zu bringen, werden alle Definitionen, alle Annahmen und die Hauptergebnisse der eigentlichen Theorie durch Kursivschrift hervorgehoben; darüber hinaus wird der Übergang von der nicht formalen Erörterung der Interpretation zur formalen Konstruktion der Theorie durch Redewendungen wie „in der Sprache der Theorie“ […] angedeutet. Eine derartige Dichotomie legt alle Annahmen und die logische Struktur der Analyse offen.12

Debreu erklärt hier die Theorie von der Anforderung, auf die Realität anwendbar zu sein, unmissverständlich für unabhängig. Die Bestandteile einer genauen Wirtschaftstheorie müssen laut Debreu keine exakte Entsprechung in der Er­ fahrungswelt haben. Für Debreu „bestand das Ziel nicht mehr darin, die Wirtschaft […] abzubilden, sondern die Essenz des […] walrasianischen Systems zu kodifizieren. Diese grundlegende Veränderung der Zielrichtung erklärt […] seine [Debreus] Verachtung für alle Versuche (etwa durch Kenneth Arrow und Frank Hahn), explizite Bezüge zwischen dem walrasianischen Modell und aktuellen theoretischen Problemen in der Makroökonomie herzustellen.“13 Debreu betrachtete seine Arbeit kühn als „definitive Grundlage, von der alle weitere wirtschaftswissenschaftliche Forschung ihren Ausgang nehmen werde, hauptsächlich durch Abschwächung ihrer Annahmen oder durch Überlagerung der bestehenden Formeln mit neuen Interpretationen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war jedoch eine Annahme, die nirgends explizit formuliert wurde: Die Annahme, dass das Modell des walrasianischen Gleichgewichts die Wurzel sei, aus der alle weiteren wirtschaftlichen Theorien erwachsen würden.“14 Als die Wirtschaftswissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer mathe­ matisch fundierten „Wissenschaft“ wurden, übernahmen die Vertreter des Mainstreams in ihrem Wunsch, als nüchterne Wissenschaftler wahrgenommen zu werden, diese von Bourbaki geprägte Sichtweise, und nur die Wenigsten erkannten oder durchschauten, was das bedeutete. In den vergangenen Jahren war die postwalrasianische Schule nur die jüngste Strömung, die sich mit Begeisterung der Herausforderung stellte, das axiomatische Fundament des grundlegenden mathe 11

Weintraub 2002, S. 114. Debreu 1976 (1959), S. VIII. 13 Weintraub 2002, S. 121. 14 Weintraub 2002, S. 121. 12

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matischen Modells nach Leon Walras zwar nicht aufzugeben, aber doch aufzuweichen, indem sie angesichts der Komplexität der mathematischen Beziehungen einen gewissen Grad an epistemologischer Ungewissheit annimmt. Nichtsdestotrotz setzen diese komplexen Modelle nach wie vor die Existenz eines „langfristigen (Gleichgewichts-) Zustand des Systems“ voraus.15 Aber weshalb, fragen Sie sich jetzt vielleicht, haben die Vertreter des Mainstreams Jahrzehnte nach der revolutionären Analyse ­Keynes’ die klassische Theorie mit ihren zusätzlichen einschränkenden Axiomen als einzig valide Grundlage von Lösungsansätzen für die wirtschaftlichen Probleme des 21. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt? Wie ich in diesem Kapitel aufzeigen werde, war diese scheinbare Apotheose der klassischen Theorie in Wirklichkeit keine Wiederauferstehung. Vielmehr hatten die etablierten Meinungsführer und Trendsetter unter den Ökonomen ­Keynes’ Analyse niemals wirklich verstanden. Kurz nach ih­ eynes’ revolutionärer Geldtheorie nämlich aus zwei rer Veröffentlichung wurde K Gründen umgehend der Todesstoß versetzt: 1. Die Unfähigkeit der Vertreter des Mainstreams, allen voran jener, die sich selbst als „­Keynesianer“ bezeichneten,­ Keynes’ Botschaft in der Frage der Liquidität und der Bedeutung von Geldverträgen für die Organisation von Produktion und Handel überhaupt zu verstehen; 2. die von antikommunistischen Tendenzen dominierte politische Atmosphäre in den USA während der „McCarthy-Ära“ unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. ­Keynes wäre vermutlich nicht sonderlich überrascht gewesen zu erfahren, dass seine Analyse die Art und Weise, in der Ökonomen Theorien aufstellen, um die Welt zu erklären, nicht revolutioniert hat. In seiner Antrittsvorlesung vor der British Academy am 22. April 1971 zitierte Austin Robinson folgende Passage aus einer unveröffentlichten Entwurfsfassung von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie: „In der Ökonomie können Sie einen Kontrahenten niemals eines Fehlers überführen – Sie können ihn höchstens davon überzeugen. Und selbst wenn Sie recht haben, können Sie ihn nicht überzeugen […] wenn sein Kopf bereits voller gegenläufiger Überzeugungen ist, so dass er die Schlüssel zu Ihrem Denken, die sie ihm zuwerfen, nicht zu fangen vermag.“

Wie wir sehen werden, waren nicht nur die Köpfe der Wirtschaftstheoretiker aus ­Keynes’ Generation, sondern vor allem auch die junger Ökonomen wie Paul Samuelson (dem später der Wirtschaftsnobelpreis verliehen wurde), so voller gegenläufiger, auf der klassischen Theorie fußender Überzeugungen, dass sie die Ideen, die ­Keynes allen zuwarf, die zuzuhören gewillt waren, nicht aufnehmen konnten.

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Durlauf 2005, S. F226.

I. Feste Löhne und das Problem der Arbeitslosigkeit

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I. Feste Löhne und das Problem der Arbeitslosigkeit Der Biograph von John Maynard ­Keynes, Lord Skidelsky, hat wie erwähnt darauf hingewiesen, „dass die Vertreter des wirtschaftswissenschaftlichen Main­ eynes’ Theorie als einen ‚Spezialfall‘ der klassischen Theorie behanstreams K delten, der nur unter Bedingungen anwendbar sei, in denen die Nominallöhne unbeweglich seien. Dadurch beraubte man seiner Theorie ihres theoretischen Bisses, ohne ihr die Relevanz für die praktische Politik zu nehmen.“16 Hätte K ­ eynes lediglich den Standpunkt vertreten, dass Arbeitslosigkeit die Folge von Lohn- und Preisrigiditäten ist, so wäre seine theoretische Auseinandersetzung mit der Frage, wie es sein kann, dass in vom Prinzip des Laissez-faire geprägten Geldwirtschaften keine Vollbeschäftigung herrscht, alles andere als revolutionär gewesen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Ökonomen argumentiert, die einzige Ursache der Arbeitslosigkeit sei der Mangel an frei beweglichen Löhnen und Preisen (also das, was zeitgenössische Ökonomen als Unvollkommenheiten auf der Angebotsseite bezeichnen). Wie bereits erwähnt, hat K ­ eynes in der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ ausdrücklich betont, seine Theorie der Arbeitslosigkeit stütze sich nicht auf die Annahme von Lohn- (und/oder Preis-) Rigidität.17 Trotzdem wurde Wirtschaftsstudenten nach dem Zweiten Weltkrieg beigebracht, die keynesianische Revolution setze zur Erklärung unfreiwilliger Arbeitslosigkeit die Annahme von unbeweglichen Löhnen und/oder Preisen voraus. Einige Mainstream-­Keynesianer versuchten ihre Argumentation mit der Lohnund Preisrigidität dadurch zu unterfüttern, dass sie als zusätzliche Ursache eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung eine Unbeweglichkeit des Zinssatzes anführten. Man spricht im Zusammenhang mit dieser Argumentation von der „Liquiditätsfalle“; demnach gibt es ein bestimmtes, niedriges aber noch positives Zinsniveau, bei dem die Nachfrage nach Geld zu Spekulationszwecken vollkommen elastisch ist (die Nachfragekurve also horizontal verläuft). Vertretern der These von der Liquiditätsfalle zufolge können die Zinsen dann nicht weiter fallen, und deshalb gebe es kein geldpolitisches Mittel mehr, um für einen Anstieg der Investitionsausgaben zu sorgen, der für das Erreichen des Vollbeschäftigungsniveaus notwendig wäre. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten ökonometrische Studien jedoch keinerlei Belege für die Existenz einer solchen Liquiditätsfalle in Form eines vollkommen elastischen Segments der Geldnachfragekurve finden. Hätten die Vertreter des ökonomischen Mainstreams die „Allgemeine Theorie“ gelesen, so hätten sie gewusst, dass K ­ eynes die spekulative Geldnachfrage als rechtwinklige Hyperbel beschreibt – eine mathematische Funktion, die niemals ein vollkommen elastisches Segment aufweist. Außerdem wies K ­ eynes darauf hin, 16 17

Skidelsky 1992, S. 512. Vgl. ­Keynes 1936, S. 217.

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dass ihm kein Beispiel dafür bekannt sei, dass die Liquiditätspräferenz irgendwann „sozusagen absolut“, also vollkommen elastisch geworden wäre.18 Kurz:­ Keynes hat die Existenz einer „Liquiditätsfalle“ bereits in der Allgemeinen Theorie sowohl aus theoretischer als auch aus empirischer Sicht bestritten. Die „­Keynesianer“ unter den Mainstream-Ökonomen der Nachkriegszeit haben­ Keynes’ Buch entweder nie gelesen oder nicht verstanden. An den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen der meisten Prestigeuniversitäten wurde den Studenten beigebracht, K ­ eynes’ „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ sei ein schwer verständliches und verwirrendes Buch, das sie weder lesen noch verstehen müssten. So schrieb beispielsweise N. Greg Mankiw, selbsternannter „Neuer ­Keynesianer“, Harvardprofessor und ehemaliger Vorsitzender des Wirtschaftsrates von Präsident George W. Bush, die „Allgemeine Theorie“ sei „ein schwer verständliches Buch […] ein überholtes Buch. […] Wir können die Funktionsweise der Wirtschaft heute sehr viel besser beschreiben als damals­ Keynes. […] Kaum ein Makroökonom hat heute ein derart schlechte Meinung von der Klassischen Ökonomie [wie ­Keynes] […] Langfristig betrachtet liegt die klassische Ökonomie richtig. Auch sind Ökonomen heute stärker am langfristigen Gleichgewicht interessiert. […] Die Klassische Ökonomie [genießt] weitverbreitete Akzeptanz.“19 Wenn angesehene Professoren wie Mankiw so etwas schreiben, überrascht es nicht, dass Wirtschaftsstudenten ­Keynes’ „schwer verständliche“ Botschaft weder lesen noch zu verstehen versuchen. Stattdessen wird ihnen erzählt, die „keyne­ sianische“ Argumentation laufe auf die klassische Sichtweise hinaus, wonach die eigentliche Ursache für Arbeitslosigkeit in unserer Erfahrungswelt in erster Linie Unvollkommenheiten auf der Angebotsseite seien – was vor allem an der Rigidität der Nominallöhne auf dem Arbeitsmarkt der letzten fünfzig Jahre liege, in denen der „Wohlfahrtsstaat“ die Arbeiter mit gesetzlichen Mindestlöhnen, die Förderung von Gewerkschaften, „großzügige“ Leistungen für Arbeitslose usw. ver­hätschelt habe. Und so ist es kein Wunder, dass Absolventen namhafter wirtschaftswissenschaftlicher Institute in ihrer späteren Funktion als Regierungsberater vorschlagen, ein Land, das die hartnäckig hohen Arbeitslosenquoten, mit denen in der globalisierten Wirtschaft von heute so viele Länder zu kämpfen haben, dauerhaft senken wolle, müsse seinen Arbeitsmarkt „liberalisieren“, sprich: vollständig deregulieren. Außerdem müsse es das soziale Sicherheitsnetz, das verhindert, dass der Verlust des Arbeitsplatzes zur absoluten Katastrophe wird, verkleinern oder sogar komplett abschaffen. Denkt man diese „Liberalisierung“ des Arbeitsmarkts konsequent zu Ende, so müsste man sogar staatliche Bestimmungen zur Arbeitsplatzsicherheit oder zum Verbot von Kinderarbeit aussetzen. Der orthodoxen klas 18

­Keynes 1936, S. 174. Mankiw 1992, S. 560 f.

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III. Die neoklassisch-keynesianische Synthese von Paul Samuelson

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sischen Theorie zufolge kann Vollbeschäftigung nur dadurch erreicht werden, dass die Macht der Gewerkschaften gebrochen, die etwaigen Systeme der sozialen Sicherung zerschlagen werden usw., bis die Bedingungen auf den Arbeitsmärkten von Industrieländern jenen in weniger stark entwickelten Ländern wie Indien, China oder anderen asiatischen Ländern ähneln, in denen es zahlreiche Arbeiter gibt, die bereit sind, für extrem niedrige Löhne zu arbeiten und sogar ihre Kinder unter gefährlichen, ausbeuterischen Bedingungen arbeiten zu schicken.

II. Wer hat der keynesianischen Revolution den eigentlichen Todesstoß versetzt? Der mathematische, an Bourbaki geschulte wirtschaftswissenschaftliche Ansatz Debreus wäre vermutlich nie im ökonomischen Mainstream angekommen, ­ eynes wenn mehr Ökonomen die revolutionäre neue Herangehensweise von K wirklich verstanden hätten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurde ­Keynes’ These, bei der klassischen Theorie handle es sich um einen Sonderfall, der zusätzliche, einschränkende, unrealistische Axiome erfordere, von führenden Wirtschaftswissenschaftlern einfach übergangen. Stattdessen brachten ­ eynes’ Theorie sei ein Sonderfall der klassischen Theosie ihren Studenten bei, K rie (mit Lohn- und/oder Preisrigidität). Weshalb ­Keynes’ revolutionäre These, die Erklärung für Arbeitslosigkeit sei im Wunsch der Menschen zu suchen, liquide Vermögenswerte als Wertspeicher zu nutzen, niemals eine Chance hatte, zur Grundlage makroökonomischer Analysen zu werden, möchte ich hauptsächlich am Beispiel Paul Samuelsons erklären, der unmittelbar nach dem Krieg versuchte, den K ­ eynesianismus zu propagieren. Im Anschluss daran werde ich darlegen,wie John Hicks, dem 1972 für seine „wegweisenden Beiträge zur Allgemeinen Gleichgewichtstheorie“ der Wirtschaftsnobelpreis zugesprochen wurde, letztlich erkennen musste, dass seine Erklärung von ­Keynes’ Analyse mit Hilfe der klassischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, Hicks’ neokeynesianisches IS/LM-Modell, ­Keynes’ Allgemeine Theorie nicht korrekt darstellt.

III. Die neoklassisch-keynesianische Synthese von Paul Samuelson Den meisten jungen Leuten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert Wirtschaftswissenschaften studierten, wurde beigebracht, Samuelson sei ein Anhänger­ Keynes’ und seiner revolutionären Allgemeinen Theorie. Samuelson gilt in der Regel als Begründer der amerikanischen keynesianischen Schule, die Samuelson als „neoklassisch-keynesianische Synthese“ bezeichnete, weil er überzeugt war, dass die klassische mikroökonomische Theorie die Grundlage von K ­ eynes’ makroökonomischer Theorie war.

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Für seine Doktorarbeit von 1937, die 1947 unter dem Titel „Foundations of Economic Analysis“ veröffentlicht wurde, erhielt Samuelson den „Wells Prize“ der Harvard University. Darin legte er präzise die mathematischen Grundlagen der klassischen (oder, wie sie häufig genannt wird, neoklassischen) mikroökonomischen Theorie des frühen 20. Jahrhunderts dar. Insofern überrascht es nicht, dass Samuelson seine Darstellung der neoklassischen Theorie in den 1940er Jahren zur Grundlage seiner Spielart des K ­ eynesianismus machte. Nur ist die neoklassischkeynesianische Synthese Samuelsons mit dem von ­Keynes in der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ entwickelten Analyserahmen leider nicht kompatibel. Angesichts der dominierenden Stellung, die Samuelson nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA auf dem Gebiet der Makroökonomie innehatte, verhinderte er mit ­ eynesianismus der axiomatischen Grundlage, die seine popularisierte Form des K von der „Allgemeinen Theorie“ unterschied, dass ­Keynes’ wahrhaft revolutionäre Analyse Teil  des makroökonomischen Mainstreams werden konnte. Denn dadurch war es in den 1970er Jahren für die Anhänger der „reinen“ klassischen Lehre, wie zum Beispiel den führenden Vertreter des Monetarismus, Milton Friedman von der University of Chicago, ein Leichtes, den „­Keynesianismus“ Samuelsons mit dem Nachweis logischer Widersprüche zwischen den mikroökonomischen Grundlagen, auf die Samuelson sich stützte, und seinen „keynesianischen“ makroökonomischen politischen Rezepten, zu entkräften. Als Folge dieses Sieges der Monetaristen und der klassischen Theorie kam es bei den gesellschaftlich durchsetzbaren wirtschaftspolitischen Maßnahmen (1) zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, (2) zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums, ja sogar (3) zur Finanzierung staatlicher Sozialversicherungssysteme zu einem tiefgreifenden ­ eynes’ „Allgemeiner Theorie“ kompatiblen Rezepten und Wandel: weg von mit K hin zur uralten, von der klassischen Theorie empfohlenen Laissez-faire-Politik, die das Denken des 19. und 20. Jahrhunderts dominiert hatte. Seit den 1970er Jahren sind gesellschaftlich akzeptable Maßnahmen zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit international auf dem Rückzug – mit der Folge, dass trotz des technologischen Fortschritts in den Wirtschaftswissenschaften das „goldene Zeitalter des Wirtschaftswachstums“, das OECD- und Entwicklungsländer zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1973 ein Vierteljahrhundert lang vergönnt war (siehe Tabelle 7.1. oben), ein jähes Ende fand. Vor dem Sieg der Monetaristen über die neoklassisch-keynesianische Synthese betrieben sämtliche Regierungen der Nachkriegszeit, liberale wie konservative, eine Wirtschaftspoli­ eynes sie in den 1930er und 1940er Jahren empfohlen hatte. tik, wie K In der Zeit, als die Welt sich an die wirtschaftspolitischen Rezepte ­Keynes’ hielt (wenn auch nicht an seine Theorie, denn in den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern dominierte die neoklassisch-keynesianische Synthese), lag das ProKopf-Wachstum in den kapitalistischen Ländern auf einem nie dagewesenen Niveau, das auch seither unerreicht blieb. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Wachs-

III. Die neoklassisch-keynesianische Synthese von Paul Samuelson

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tum zwischen 1950 und 1973 lag in den OECD-Ländern fast doppelt so hoch wie der Spitzenwert während der industriellen Revolution. Der Produktivitätszuwachs in den OECD-Ländern betrug im Vergleich zum Zeitalter der Industrialisierung mehr als das Dreifache (er lag 3,75 Mal höher). Über Welthandel, Entwicklungshilfe und direkte Investitionen im Ausland profitierten von dieser Blütezeit in den Industrieländern auch die Entwicklungsländer. Zwischen 1950 und 1973 verzeichneten die Entwicklungsländer ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 3,3 Prozent, das ist nahezu das Dreifache, was während der industriellen Revolution in den heutigen Industrieländern erreicht wurde. Insgesamt wuchsen die Entwicklungsländer fast so schnell wie die Industrieländer, um 5,5 gegenüber 5,9 Prozent; das geringere Pro-Kopf-Wachstum erklärt sich mit dem schnelleren Bevölkerungswachstum in den Entwicklungs­ ländern.20 Die Reaktion auf den wissenschaftlichen Triumph des Monetarismus über Samuelsons neoklassisch-keynesianische Synthese in den 1970er Jahren war die Entwicklung des „Neuen ­Keynesianismus“, der alsbald die neoklassische Synthese ablöste. Aber wie der Monetarismus Friedmans sich gegen Samuelsons Spielart des ­Keynesianismus durchgesetzt hatte, indem er dessen logische Widersprüche aufdeckte, hatten auch die Neoklassische Theorie und die Theorie der rationalen Erwartungen mit dem Neuen ­Keynesianismus, der auf die Annahme der Lohn- und Preisrigidität angewiesen war, um die Ergebnisse ­Keynes’ zu reproduzieren, leichtes Spiel. Die Theorie der rationalen Erwartungen setzt als logisches Fundament das Axiom der Ergodizität voraus, geht also davon aus, dass freie Märkte langfristig unweigerlich auf einen Zustand der Vollbeschäftigung hinauslaufen, eine Entwicklung, an der weder menschliches Handeln noch staatliche Eingriffe etwas ändern können. Daher konnten die Neoklassiker argumentieren, unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten seien auf kurzfristige Probleme auf der Angebotsseite zurückzuführen, deren Ursache in staatlichen Eingriffen in den freien Wettbewerb auf dem Arbeits- und Warenmarkt zu suchen sei. Gelänge es, die Märkte von staatlichen Eingriffen frei zu machen, so würde die Wirtschaft den Neoklassikern zufolge sogar auf kurze Sicht einen Zustand der Vollbeschäftigung erreichen. Wenn diese staatlichen Eingriffe nicht beseitigt werden, könne es etwas länger dauern, doch am Ende werde die klassische Theorie die richtigen Rezepte liefern (vgl. hierzu das obige Zitat des „Neu-­Keynesianers“ Mankiw). Infolge des Sieges der neoklassischen Theorie über die neoklassisch-keynesianische Synthese und den Neuen ­Keynesianismus gelangten Politiker zu der irrigen Überzeugung, „dass alles aufs beste in dieser besten der möglichen Welten geregelt ist, wenn nur alles sich selbst überlassen bleibt“21, und ergriffen entsprechende Maßnahmen, die auf die Liberalisierung aller Märkte hinausliefen.

20 21

Vgl. Davidson 2002, S. 1–3. Keynes 1936, S. 29.

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verblieb damit die postkeynesianische Schule als einzige wirtschaftswissenschaftliche Richtung, die in den analytischen Fuß­ eynes’ dessen Theorie und politische Rezepte weiterentwickelt und auf stapfen K die globalisierte Wirtschaft des 21. Jahrhunderts anwendet.

IV. Wie der ­Keynesianismus nach Amerika kam In ihrem großartigen Buch The Coming of K ­ eynesianism to America („Wie der­ Keynesianismus nach Amerika kam“) halten es David Colander und Harry Landreth Paul Samuelson zugute, mit seinem Lehrbuch das pädagogische Fundament der keynesianischen Revolution vor der Zerstörung durch die antikommunistischen Ressentiments der McCarthy-Ära in der unmittelbaren Nachkriegszeit gerettet zu haben.22 Der Kanadier Lorie Tarshis, der als Student in den frühen 1930er Jahren­ Keynes’ Vorlesungen in Cambridge gehört hatte, veröffentlichte 1947 eine Einführung in das Studium der Wirtschaftswissenschaften, die unter anderem auf seinen ­ eynes’ beruhten. Dieses Vorlesungsmitschriften zur „Allgemeinen Theorie“ K Lehrbuch war zunächst sehr populär, doch dann gingen die Verkaufszahlen rapide zurück, weil in den leitenden Gremien und seitens der Geldgeber amerikanischer Universitäten der Vorwurf laut wurde, das Buch verbreite eine ketzerische ökonomische Lehre. Ihren Höhepunkt erreichte die Aufregung um die Einführung Tarshis’ 1951, als William F. Buckley in seinem Buch God and Man at Yale ein ganzes Kapitel darauf verwendete, Tarshis vorzuwerfen, sein in Yale eingesetztes Lehrbuch sei kommunistisch inspiriert.23 In einem Interview vom August 1986 haben Colander und Landreth Paul Samuelson darüber befragt, wie er zum Ökonom und zum „­Keynesianer“ geworden sei.24 Nachdem er gesehen habe, „mit welcher Schärfe Tarshis angegriffen wurde“, so Samuelson, habe er sein eigenes Lehrbuch sehr „sorgfältig und wie ein Anwalt“ geschrieben.25 In der ersten Auflage dieses Lehrbuchs mit dem Titel Economics: An Introductory Analysis, die 1948 kurz nach den ersten Angriffen auf Tarshis erschien (dt. „Volkswirtschaftslehre. Eine einführende Analyse“, Köln 1952), sucht man den Begriff „neoklassisch-keynesianische Synthese“ noch vergebens; in späteren Auflagen spielt er jedoch eine entscheidende Rolle. Rückblickend deutet manches darauf hin, dass man Samuelsons Version des ­Keynesianismus im Vergleich zu Tarshis’ Darstellung von ­Keynes’ Lehre aufgrund der Behauptung und der Überzeugung Samuelsons, seine Makroökonomie sei eine Synthese aus den

22

Vgl. Colander/Landreth 1996, S. 23. Vgl. Colander/Landreth 1996, S. 69 f. 24 Colander/Landreth 1996, S. 145–178. 25 Colander/Landreth 1996, S. 172. 23

V. Wie lernte Samuelson ­Keynes’ Theorie?

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Ideen ­Keynes’ und der traditionellen klassischen Theorie, weniger leicht den Vorwurf der „ökonomischen Ketzerei“ machen konnte. Im Gegensatz zur Darstellung Tarshis’, die auf voneinander unabhängigen Angebots- und Nachfragefunktionen beruhte, basierte Samuelsons ­Keynesianismus auf dem sogenannten „keynesianischen Kreuz“. Dieses Diagramm leitete Samuelson von einer auf einer einzigen Gleichung beruhenden aggregierten Nachfragefunktion ab. Diese mathematische Herleitung machte es in Verbindung mit der behaupteten Synthese mit der neoklassischen Theorie schwieriger, der Samuelson’schen Version eines keynesianischen Lehrbuchs politische Hintergedanken zu unterstellen. So kam es, dass unterschiedliche Ausgaben von Samuelsons neoklassisch-keynesianischem Lehrbuch fast ein halbes Jahrhundert lang Bestseller waren und für mehrere Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern, die nach dem Zweiten Weltkrieg studierten, der Name Samuelson zu einem Synonym für keynesianische Theorie wurde. Selbst jene jungen Ökonomen, die sich von der überkommenen neoklassisch-keynesianischen Synthese lossagten und den Neuen­ Keynesianismus entwickelten, stützten ihren analytischen Ansatz auf Samuelsons volkswirtschaftliches Lehrbuch von 1948 und die ihm zugrunde liegenden klassischen mikroökonomischen Axiome. Historisch betrachtet hat Samuelson mit seinem Lehrbuch vermutlich in der Tat die pädagogischen Fundamente der keynesianischen Revolution vor der Zerstörung durch den antikommunistischen Furor der McCarthy-Ära bewahrt, indem er die weniger restriktiven axiomatischen Grundlagen von K ­ eynes’ analytischer Revolution schlicht ignorierte.

V. Wie lernte Samuelson ­Keynes’ Theorie? Vor dem Zweiten Weltkrieg, so Samuelson im bereits erwähnten Interview von 1986, hätten die Nicht-Ökonomen unter seinen Freunden ihn als sehr konservativ eingeschätzt.26 Samuelson studierte an der University of Chicago und hätte dort nach erfolgreichem Anschluss im Juni 1935 wohl auch promoviert, wenn er nicht ein Forschungsstipendium des Social Science Research Council erhalten hätte.27 Somit war es die unsichtbare Hand der Forschungsförderung, die dafür sorgte, dass Samuelson sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der „Allgemeinen Theorie“ 1936 an der Harvard University befand. Was erfuhr er dort über die „Allgemeine Theorie“? Der Kanadier Robert Bryce hatte zwischen 1932 und 1935 ­Keynes’ Vorlesungen in Cambridge gehört. Im Frühjahr 1935, so Bryce 1987 in einem Interview mit Colander und Landreth, habe er jeweils eine halbe Woche in Cambridge und eine 26

Vgl. Colander/Landreth 1996, S. 154. Vgl. Colander/Landreth 1996, S. 154 f.

27

202

12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

halbe Woche an der London School of Economics (LSE) verbracht.28 In London schrieb Bryce – ohne die „Allgemeine Theorie“ gelesen zu haben – mit Hilfe der Notizen, die er sich in den Vorlesungen K ­ eynes’ gemacht hatte, einen Aufsatz über­ Keynes’ revolutionäre Ideen. Friedrich Hayek, weltbekannter Vertreter der Österreichischen Schule und Professor an der LSE, war von diesem Aufsatz so beeindruckt, dass er Bryce in seinem Seminar an der LSE vier Wochen Zeit einräumte, um den Teilnehmern die Ideen ­Keynes zu erklären. Die Vorträge von Bryce waren ein durchschlagender Erfolg.29 Im Herbst 1935 ging Bryce für zwei Jahre nach Harvard. In dieser Zeit traf sich abends eine informelle Gruppe, um über K ­ eynes’ Buch zu diskutieren. Auf der Grundlage seines vor Veröffentlichung der „Allgemeinen Theorie“ entstandenen Aufsatzes, der auch Ausgangspunkt seiner Vorträge an der LSE gewesen war, legte Bryce vor dieser Gruppe dar, was er für die Argumentation der „Allgemeinen Theorie“ hielt – die er noch immer nicht gelesen hatte. „Über weite Strecken meines ersten Studienjahres [1935/36] war ich der einzige, der ausreichend vertraut mit ihr [­Keynes’ Theorie] war, um sie in Diskussionen zu verteidigen.“30 Damit wurde der Aufsatz von Bryce die Grundlage dessen, was die meisten Ökonomen in Harvard, vermutlich einschließlich Samuelson, für die Argumentation­ Keynes’ hielten  – und das, obwohl Bryce die „Allgemeine Theorie“ zu diesem Zeitpunkt gar nicht gelesen hatte. Noch 1987 meinte Bryce: „Wer sich mit diesem Buch auseinandersetzt, wird sehr verwirrt sein. Es war […] ein schwieriges, provokatives Buch“.31 Damit drängt sich die Frage auf: Hat Bryce die Grundlagen von ­Keynes’ Analyserahmen je wirklich verstanden? Und wenn nicht: Welchen Einfluss hatte das darauf, was Samuelson und andere in Harvard 1936 über den Analyserahmen­ Keynes’ gelernt haben? Die Vorträge von Bryce an der LSE und in Harvard ziel­ eynes’ leicht verständlich darzulegen – was K ­ eynes ten darauf ab, die Gedanken K in der „Allgemeinen Theorie“ nach Auffassung von Bryce nicht getan hatte. In ­ eynes-Experte weit Harvard, so Bryce, habe er das Gefühl gehabt, „der einzige K und breit“ zu sein.32 Das Erste, was Samuelson nach eigenen Angaben über ­Keynes’ „Allgemeine Theorie“ gehört hat, kam aus dem Mund von Bryce. Nachdem er sie 1936 selbst gelesen hatte, fand er sie (möglicherweise beeinflusst von der Ansicht Bryces, wie schwer dieses Buch zu verstehen sei) „schwer zu verdauen“ und unverständlich.33 „Am Ende kam ich zu dem Schluss“, so Samuelson, „dass ich mir darüber [über die Verständlichkeit von ­Keynes’ Argumentation] keine grauen Haare wach 28

Vgl. Colander/Landreth 1996, S. 39–48. Colander/Landreth 1996, S. 43. 30 Colander/Landreth 1996, S. 45 f. 31 Colander/Landreth 1996, S. 44 ff. 32 Colander/Landreth 1996, S. 45. 33 Colander/Landreth 1996, S. 159. 29

V. Wie lernte Samuelson ­Keynes’ Theorie?

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sen lassen sollte. Ich fragte mich: Warum lehnst Du ein Modell ab, das den Aufschwung unter Roosevelt zwischen 1933 und 1937 nachvollziehbar macht? […] Ich gab mich damit zufrieden, dass die relative Lohn-und Preisrigidität wohl groß genug ist, damit die keynesianische Alternative zu Walras funktioniert.“34 Offensichtlich war Samuelsons Kopf bereits so voller gegenläufiger Überzeugungen aus der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie von Walras, dass er gar nicht erst versuchte, ­Keynes’ Allgemeine Theorie wirklich zu begreifen – einer Theorie, deren analytisches Fundament die Beseitigung dreier klassischer Axiome war: 1. das Axiom der Neuralität des Geldes, 2. das Axiom der Substituierbarkeit und 3. das Axiom der Ergodizität. Jedenfalls sagte Samuelson noch 1986: „Wir ­[Keynesianer] sind stets davon ausgegangen, dass das keynesianische Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung auf einem Unterbau aus kontrollierten Preisen und unvollständiger Konkurrenz ruhe.“35 Auf die Nachfrage von Colander und Landreth, ob er diese Voraussetzung der Rigidität in seinen Schriften jemals formalisiert habe, antwortete Samuelson: „Dazu bestand keine Notwendigkeit.“36 Dabei hatte K ­ eynes die Frage, ob seine Analyse eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung unvollständige Konkurrenz, kontrollierte Preise und/oder Lohnrigidität voraussetze, bereits im 19. Kapitel der Allgemeinen Theorie, und noch deutlicher in seiner veröffentlichten Antwort an Dunlop und Tarshis37, eindeutig mit Nein beantwortet. Dunlop und Tarshis hatten argumentiert, da ein rein wettbewerbsorientiertes Modell nicht ausreichend empirisch unterfüttert sei, beruhe­ Keynes’ Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung auf monopolistischer und kontrollierter Preis- und Lohnrigidität. ­Keynes Antwort lautete schlicht: „Ich beschwere mich ein wenig, dass ausgerechnet ich dafür kritisiert werde, ein kleines Zugeständnis an die andere Sichtweise gemacht zu haben.“38 In den Kapiteln 17–19 der Allgemeinen Theorie hat ­Keynes explizit nachgewiesen: Selbst wenn es eine rein konkurrenzorientierte Volkswirtschaft mit vollkommen beweglichen Nominallöhnen und Preisen gäbe (sein „kleines Zugeständnis an die andere Sichtweise“), so existierte doch kein automatischer Mechanismus, der die effektive Nachfrage auf ein Niveau zu heben in der Lage wäre, bei dem Vollbeschäftigung herrscht.­ Keynes’ Allgemeine Theorie zeigt mit anderen Worten, dass in einer rein konkurrenzorientierten Volkswirtschaft mit frei beweglichen Löhnen und Preisen ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung bestehen kann. Samuelson, der zum wichtigsten amerikanischen K ­ eynesianer seiner Zeit wurde, hatte 1. ­Keynes’ Antwort auf Dunlop und Tarshis, und 2. das 19. Kapitel der Allgemeinen Theorie mit der Überschrift „Änderungen in den Nominallöhnen“ ent­ eynes wie weder nie gelesen oder nicht verstanden. Denn im 19. Kapitel weist K 34

Colander/Landreth 1996, S. 159 f. Colander/Landreth 1996, S. 160. 36 Colander/Landreth 1996, S. 161. 37 Vgl. ­Keynes 1939b. 38 ­Keynes 1939b, S. 411. 35

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gesagt explizit darauf hin, dass seine Theorie eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung keinerlei „Rigidität“ der Nominallöhne voraussetze.39 Wer annehme, Rigidität sei der alleinige Grund für die Existenz eines Gleichgewichts bei Arbeitslosigkeit, so ­Keynes, akzeptiere die Argumentation, dass „die Nachfragekurven einzelner Industrien […] nur auf irgendeiner bestimmten Voraussetzung über die Natur der Nachfrage- und Angebotskurven anderer Industrien und über den Betrag der aggregierten effektiven Nachfrage aufgebaut werden [können]. Es ist daher unzulässig, diese Beweisführung auf die Gesamtwirtschaft zu übertragen, es sei denn, dass wir auch unsere Voraussetzung, dass die aggregierte effektive Nachfrage festgelegt ist, übertragen. Diese Voraussetzung reduziert aber die Beweisführung auf eine Ignoratio Elenchi.“40 Bei einer „Ignoratio Elenchi“ handelt es sich um einen logischen Trugschluss, bei dem zwar ein Satz bewiesen wird, aber nicht der, der zu beweisen war. Leider saß auch Samuelson dieser klassischen Ignoratio Elenchi auf, als er argumen­ eynes’ Allgemeine Theorie beschreibe ein walrasianisches Allgemeines tierte, K Gleichgewichtssystem, in dem Lohn- und Preisrigidität im Falle einer exogenen Erschütterung der effektiven Nachfrage für ein vorübergehendes Ungleichgewicht sorgen, das verhindert, dass sich auf kurze Sicht wieder ein Zustand der Vollbeschäftigung einstellt. „Denn während niemand die Feststellung bestreiten möchte“, so ­Keynes weiter, „dass eine Kürzung der Nominallöhne, die mit der gleichen aggregierten effektiven Nachfrage wie zuvor einhergeht, mit einer Zunahme in der Beschäftigung verbunden sein wird, ist die genaue Frage, auf die es ankommt, ob die Kürzung der Nominallöhne von der gleichen aggregierten effektiven Nachfrage, in Geld gemessen, wie zuvor begleitet sein wird oder nicht, oder zum mindesten von einer aggregierten effektiven Nachfrage, die nicht genau proportional zur Kürzung der ­ eynes Nominallöhne vermindert wurde.“41 Den Rest des 19. Kapitels verwendete K darauf zu erklären, warum und wie eine Analyse auf Grundlage der Allgemeinen Theorie sich mit dem Zusammenhang zwischen Änderungen in den Nominallöhnen und/oder Preisen und Änderungen der effektiven Nachfrage beschäftigen müsse – mit einer Fragestellung, die in einem walrasianischen System ebenso irrelevant ist wie in Samuelsons neoklassisch-keynesianischer Synthese.42 39

­Keynes 1936, S. 217. ­Keynes 1936, S. 219 (Hervorhebung d. Verf.). 41 ­Keynes 1936, S. 219; vgl. auch Davidson 1998. 42 Der Beweis, den ­Keynes für irrelevant erklärte, war die Behauptung der klassischen Theorie, eine unveränderliche, abwärts geneigte Kurve des Grenzprodukts der Arbeit entspreche der Nachfragekurve nach Arbeitskräften, so dass sinkende Löhne für mehr Beschäftigung sorgen müssten. Im 20. Kapitel der Allgemeinen Theorie entwickelt ­Keynes eigens eine „Beschäftigungsfunktion“, die nicht der Kurve des Grenzprodukts der Arbeit entspricht und nicht davon ausgeht, die aggregierte effektive Nachfrage sei unveränderlich. Dieses Grenzprodukt der Arbeit veranschaulicht: Wenn private Unternehmer als Reaktion auf einen Anstieg der aggregierten effektiven Nachfrage mehr Beschäftigte einstellen, um den Ausstoß in einem vor 40

VI. Unterschiede zwischen Samuelsons Synthese und keynesia­nischer Theorie

205

Zur gleichen Zeit, als Samuelson zum ­Keynesianer wurde, indem er sich ein­ redete, ­Keynes’ eigentlicher Analyserahmen sei nicht so wichtig, hatte Tarshis eine Stelle an der Tufts University erhalten, nur eine halbe Stunde von Harvard entfernt. Tarshis traf sich häufig mit der Gruppe, die in Harvard über ­Keynes diskutierte und der auch Bryce angehörte. „Paul Samuelson war in der ­Keynes-Gruppe nicht dabei“, so Tarshis. „Er war viel zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken. Das er zum ­Keynesianer geworden sein soll, ist lächerlich.“43 Ungeachtet dessen hat Samuelson sich in mehreren Auflagen seines berühmten Lehrbuches als „­Keynesianer“, ja sogar als „Postkeynesianer“ bezeichnet. Dabei ist das axiomatische Fundament seiner „neoklassisch-keynesianischen Synthese“ keineswegs die von ­Keynes formulierte Allgemeine Theorie.

VI. Die axiomatischen Unterschiede zwischen der neoklassisch-keynesianischen Synthese Samuelsons und der keynesianischen bzw. postkeynesianischen Theorie Während Samuelson seine neoklassisch-keynesianische Synthese formulierte, arbeitete er gleichzeitig an seinen meisterhaften Foundations of Economic Analysis („Grundlagen der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse“). Darin erklärt Samuelson ganz bestimmte Axiome zum Fundament der klassischen Mikro­ theorie, und damit indirekt auch zum Fundament der makroökonomischen Analyse der neoklassisch-keynesianischen Synthese. So schreibt Samuelson unter anderem, (1) dass Nutzenfunktionen homogen vom grade Null sind44 und (2) dass es in einer rein wettbewerbsorientierten Welt töricht wäre, Geld als Wertaufbewahrungsmittel zu nutzen, so lange andere Sachwerte einen positiven Ertrag abwerfen würden.45 Aus Aussage (1) ergibt sich, dass das Geld neutral ist, und Aussage (2) beinhaltet die Annahme, dass alle realen, produzierbaren Investitionsgüter, die einen positiven Ertrag abwerfen, mit Geld substituierbar sind. Samuelson setzte in seinen Foundations of Economic Analysis voraus, dass alle Nachfragekurven auf dem allgemein gültigen Axiom der Substituierbarkeit basieren, so dass alles mit allem substituierbar ist. Im Gegensatz zur Liquiditätspräferenztheorie ­Keynes’ implizieren Samuelsons Foundations, dass alle nicht produzierbaren liquiden Mittel (einschließlich von Geld), sofern sie als Aufbewahrungsmittel für Ersparnisse gegebenen Zeitraum zu erhöhen, so wird angesichts sinkender Gewinne (bei unveränderten Wettbewerbsbedingungen) die Zunahme der Beschäftigung mit einem Sinken der Reallöhne einhergehen. Anders ausgedrückt: Unabhängig von der effektiven Nachfrage und dem Beschäftigungsniveau ist das Grenzprodukt der Arbeit für die Höhe der Reallöhne die eigentlich wichtige Kurve. Eine eingehendere Analyse dieses Punktes findet sich in Davidson 1998b und Davidson 2002. 43 Colander/Landreth 1996, S. 64. 44 Samuelson 1947, S. 119–121. 45 Samuelson 1947, S. 122–124.

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

verwendet werden, durch Produktionsgüter substituierbar sind. Dementsprechend leugnet Samuelson in seinen Foundations of Economic Analysis, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit logisch möglich ist, wenn alle Preise völlig frei beweglich sind.46 Darüber hinaus argumentierte Samuelson in einem 1969 veröffentlichten Artikel, wenn die Ökonomie als „exakte Wissenschaft“ gelten wolle, sei „die Hypothese [das Axiom] der Ergodizität“ eine notwendige Voraussetzung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien.47 Wie bereits erläutert, lehnte ­Keynes das Axiom der Ergodizität ab. Im 4. Kapitel habe ich dargelegt, dass in einer ergodischen, stochastischen Welt die Zukunft vorherbestimmt ist und durch das Verhalten von Menschen oder Regierungen nicht verändert werden kann. Somit kann jeder staatliche Eingriff in die normalen (angeblich ergodischen), konkurrenzorientierten Marktprozesse verhindern, dass im System auf kurze Sicht jener Zustand der Vollbeschäftigung erreicht wird, den die Axiome eines walrasianischen Systems garantieren. In einem ergodischen System, in dem die Zukunft verlässlich vorhersagbar ist, so dass man mit aktuarischer Sicherheit von einem positiven Ertrag auf Sachwerte ausgehen kann, und in dem allen Nachfragekurven das Axiom der Substituierbarkeit zugrunde liegt, muss – vorausgesetzt, dass die Preise flexibel sind – das Geld neutral sein und das System sich automatisch einem allgemeinen Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung annähern. Sind die Preise in solch einer ergodischen Welt auf kurze Sicht unbeweglich, so dauert es länger, bis das Axiom der Substituierbarkeit sich im ganzen System Geltung verschafft, aber zumindest auf lange Sicht wird trotzdem ein allgemeines Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung erreicht, da langfristig, so die Annahme, alle Preise flexibel sind. Samuelson hat explizit festgehalten, seiner Ansicht nach beziehe sich ­Keynes’ Theorie auf ein „System im Ungleichgewicht, das sich sehr langsam anpasst“ und in dem sich das walrasianische Gleichgewicht kurzfristig nicht vollständig einstelle, da die Preise und Löhne nicht schnell genug auf einen exogenen Schock reagierten.48 Nichtsdestotrotz werde es auch in einem solchen Wirtschaftssystem, wenn man es sich selbst überlasse, langfristig zu Vollbeschäftigung kommen, da nach und nach, wie auch Professor Mankiw schreibt, alle Preise angepasst würden. 46 In einem zeitübergreifenden Kontext das Axiom der Substituierbarkeit für ungültig zu erklären, ist wahrlich ketzerisch, denn es führt zu einem völlig neuen Blickwinkel darauf, was mit „rationalen“ und „optimalen“ Ersparnissen gemeint ist, sowie darauf, warum und wieviel Menschen sparen. Es widerspricht der Lebenszyklushypothese. Tatsächlich haben Danziger et al. (1982/83) gezeigt, dass die Fakten über die Konsumausgaben von Senioren unvereinbar mit der Idee der zeitübergreifenden Substituierbarkeit der Konsumpläne sind, die den in der makroökonomischen Theorie derzeit so populären Lebenszyklus- und generationsübergreifenden Modellen zugrundeliegen. 47 Samuelson 1969, S. 184. 48 Vgl. Samuelson 1969, S. 163.

VII. Wie steht es mit Hicks’ IS/LM-Modell?

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­Keynes’ Allgemeiner Theorie zufolge dagegen ist keineswegs sicher, ob kurzoder langfristig ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung erreicht wird. In einer auf Unternehmertum basierenden Geldwirtschaft, so ­Keynes, in der die Zukunft ungewiss (und daher nicht zuverlässig vorhersagbar) sei, könne Geld (ebenso wenig wie andere liquide Mittel) niemals neutral sein, da es als Wertspeicher für Ersparnisse diene. Bildhaft gesprochen bewegte sich für ­Keynes das Wirtschaftssystem auf einem Zeitstrahl von einer unabänderlichen Vergangenheit in eine ungewisse, statistisch nicht vorhersagbare Zukunft fort. Somit konnte ­Keynes gar nicht anders, als das Axiom der Ergodizität abzulehnen. Zusammengefasst macht Samuelson in seinem Buch Foundations for Economic Analysis von 1947 und in seinem Artikel „Classical and Neoclassical Theory“ von 1969 (in dem er sich für das Axiom der Ergodizität ausspricht) deutlich, dass eine gute, „wissenschaftliche“ Wirtschaftstheorie auf jene drei klassische Axiome gegründet sein müsse, die für K ­ eynes der Annahme der euklidischen Geometrie entsprachen, dass Parallelen keinen Schnittpunkt haben. Somit ist offensichtlich, dass Samuelsons Makroökonomie auf ein „nichteuklidisches“, auf Geldwirtschaft und Unternehmertum beruhendes Wirtschaftssystem, wie ­Keynes es in seiner All­ gemeinen Theorie beschrieben hat, nicht anwendbar ist.

VII. Wie steht es mit Hicks’ IS/LM-Modell? „Ich hatte das Glück“, schrieb Hicks 1946, „auf eine Analysemethode zu stoßen. […] Die Methode des Allgemeinen Gleichgewichts […] wurde gezielt entwickelt, um das Wirtschaftssystem in seiner Gesamtheit darzustellen. […] ­ eynes zu anderen Er[Mit Hilfe dieser Methode] werde ich aufzeigen, weshalb K gebnissen kommt als die Ökonomen vor ihm.“49 Auf der Grundlage dieser Methode hat Hicks sein berühmtes IS/LM-Modell ausgearbeitet, dass seiner Ansicht nach den analytischen Ansatz ­Keynes’ erklärte. Das IS/LM-Modell von Hicks stellt für den Gütermarkt und den Geldmarkt voneinander unabhängige Gleichungen auf. Damit sich Güter- und Geldmarkt auf diese Weise trennen lassen, muss man allerdings die Neutralität des Geldes voraussetzen. Hicks’ Modell ist daher nichts anderes als eine weitere Abwandlung von Samuelsons neoklassisch-keynesianischer Synthese im Sinne der klassischen Theorie. Ich habe John Hicks 1971 im Rahmen einer sechstägigen Konferenz der International Economics Association zu den mikroökonomischen Grundlagen der Makroökonomie kennengelernt. Die Schwerpunkte meines Tagungsbeitrags waren die Bedeutung von Verträgen, die Existenz von Kassa- und Terminmärkten, sowie die Notwendigkeit von Liquidität.50 In der Diskussion am Ende der Konferenz betonte ich, das klassische Modell des Allgemeinen Gleichgewichts gebe auf die 49 50

Hicks 1946, S. 1–4. Davidson 1977, S. 313–317.

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

interessanten makroökonomischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit Geld, Inflation und Arbeitslosigkeit stellten, keine Antwort und sei dafür auch nicht gedacht: „Wenn wir [Ökonomen] darauf beharren, ­Keynes’ makroökonomische Analyse mit dem Fundament der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie in Einklang zu bringen – einem Fundament, mit dem sie nicht kompatibel ist –, werden wir in der Makroökonomie keinen Schritt weiterkommen, sondern vielmehr auf die katastrophalen Lösungen für makroökonomisch-politische Probleme aus vorkeynesianischer Zeit zurückfallen.“51 Am Ende der Konferenz teilte Hicks mir mit, die mikroökonomischen Grundlagen seines makroökonomischen Ansatzes hätten mit den meinen mehr gemein als mit denen aller anderen Konferenzteilnehmer (zu denen die späteren Nobelpreisgewinner Tjalling Koopmans und Joseph Stiglitz gehörten). In den darauffolgenden Jahren traf ich mich in Großbritannien mehrere Male privat mit Hicks, damit wir unsere Diskussion über die mikroökonomischen Keynes’ Allgemeiner Theorie fortsetzen konnten. Mitte der Grundlagen von ­ 1970er Jahre gab Hicks zu, dass es sich bei seinem IS/LM-Modell um eine „verkürzte Version“ von ­Keynes’ Theorie handelt.52 1979 argumentierte Hicks, dass sich Wirtschaftswissenschaft nicht unter Ausklammerung des Faktors Zeit betreiben lasse und dass ein Zusammenhang, der für die Vergangenheit Gültigkeit besitze, nicht automatisch auch auf die Zukunft zutreffen müsse.53 In einem Arti­ eynesian Economcis mit der Überschrift „IS/LM: Eine kel im Journal of Post K Erklärung“ schwor Hicks seinem IS/LM-Modell ab, indem er schrieb: „Im Lauf der Jahre bin ich selbst immer unzufriedener damit [mit dem IS/LM-Ansatz] ge­ worden.“54 In diesem Artikel gestand Hicks ein, dass das IS/LM-Modell nicht den Ansatz der Allgemeinen Theorie ­Keynes’ wiedergibt. Schließlich, nachdem er meinen Aufsatz über den Trugschluss gelesen hatte, auf dem die Theorie der rationalen Erwartungen beruht55, schrieb mir Hicks in einem vom 12. Februar 1983 datierenden Brief: „Ich habe soeben ihren RE-Aufsatz gelesen. […] Er gefällt mir ausgesprochen gut. […] Sie haben damit meine Zweifel in eine rationale Form gebracht und mir vor Augen geführt, dass ich eine Chance verpasst habe, als ich meinen eigenen Standpunkt nicht als nichtergodisch bezeichnet habe. Man braucht ein solches Etikett, um eine Botschaft wirklich an den Mann zu bringen.“56

51 Davidson 1977, S. 392. Meine damalige Prognose zum Fortschritt in der Makroökonomie hat sich leider bewahrheitet. 52 Vgl. Hicks 1976, S. 140 f. 53 Vgl. Hicks 1979, S. 38. 54 Hicks 1980/81, S. 139. 55 Vgl. Davidson 1982/83. 56 Der Brief findet sich in der Sammlung meiner Korrespondenz im Archiv der Bibliothek der Duke University.

VIII. Schlussbetrachtung

209

Damit hat der Urheber des IS/LM-Modells seiner berühmten Darstellung von­ Keynes’ Argumentation abgeschworen und sich der postkeynesianischen Sicht des analytischen Fundaments von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie angeschlossen. Und schließlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass mehrere weitere Träger des Nobelpreises am Ende eingesehen haben, dass der Abschied vom Axiom der Ergodizität eine wichtige Voraussetzung für die Analyse unseres heutigen Wirtschaftssystems ist. So schrieb mir der Nobelpreisträger Robert M. Solow in einem Brief vom 21.  Mai 1985: „Zunächst möchte ich betonen, dass ich schon immer große Hochachtung für Ihren Artikel über nichtergodische Prozesse hatte, da er meiner Meinung nach den Nagel auf den Kopf trifft. […] Ich betrachte diese Sache in der Regel im Sinne der Knight’schen Unsicherheit, aber Ihre Darstellung trifft den Sachverhalt sehr genau.“ Auch der Nobelpreisträger Douglas North nimmt auf meine Argumentation Bezug, wenn er betont, wie wichtig die Anerkennung der Nichtergodizität ist, um den Prozess des wirtschaftlichen Wandels zu ver­stehen.57 Möglicherweise besteht also noch Hoffnung, dass der wirtschaftswissenschaft­ eynes’ Allgemeine Theorie als Ausgangspunkt jeglicher ökoliche Mainstream K nomischen Analyse wiederentdeckt.

VIII. Schlussbetrachtung Es ist das Verdienst Paul Samuelsons, dass der Begriff „­Keynesianer“ nicht den antikommunistischen Ressentiments der McCarthy-Ära zum Opfer fiel und nicht aus den Lehrbüchern der Nachkriegszeit getilgt wurde. Der Preis dafür war allerdings, dass das, was der ökonomische Mainstream fortan unter ­Keynes’ Theorie verstand, mit seinen analytischen Wurzeln in der Allgemeinen Theorie kaum mehr etwas zu tun hatte. Wie ­Keynes mit seiner revolutionären Geldtheorie aufzeigte, sind angebotsseitige Unvollkommenheiten des Marktes wie rigide Nominallöhne, rigide Preise oder eine Liquiditätsfalle in einer marktorientierten Geldwirtschaft keine notwendigen Bedingungen für die Existenz eines Gleichgewichts bei unfreiwilliger Unterbeschäftigung, und flexible Löhne, flexible Preise und uneingeschränkte Konkurrenz sind, auch auf lange Sicht, keine hinreichenden Bedingungen für ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung. Samuelsons Interpretation des ­Keynesianismus verhinderte, dass die revolutio­ eynes’ die Makroökonomie des Mainstreams in seinen Grundfesnäre Analyse K ten erschütterte. Dass Samuelson in einer Zeit, in der sich der bourbakische Ansatz der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie Debreus zunehmender Popularität erfreute, im Rahmen der Ausarbeitung seiner neoklassisch-keynesianischen Synthese ebenfalls auf die Mathematik zurückgriff, war ein zweifacher Schlag, der dem revolutionären Ansatz ­Keynes’ den Todesstoß versetzte. In der Konsequenz ist das, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Makroökonomie als allgemeiner 57

Vgl. North 2005, S. 19.

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

Konsens gilt, nichts anderes als eine mathematisch frisierte Hightechversion der klassischen walrasianischen Theorie des 19. Jahrhunderts. Indem er die Schlacht gegen jene Kräfte gewann, die zu verhindern trachteten, dass an unseren Universitäten eine vermeintlich kommunistisch inspirierte, „keynesianische“ Wirtschaftstheorie gelehrt wird, verlor Samuelson am Ende je­ eynes begonnen hatte, um den Zeiten ein Ende zu bereiten, in denen Krieg, den K nen die klassische Theorie als Grundlage für die Analyse realer wirtschaftlicher Probleme der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes diente. Wie aus folgender Äußerung aus dem Jahr 1986 hervorgeht, hatte Lorie Tarshis das erkannt: „Ich hatte niemals das Gefühl, dass das, was ­Keynes geschrieben hatte, ganz durchdrungen oder verstanden worden wäre. Dieses Gefühl habe ich bis heute nicht.“58 Der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream  – ob in Gestalt des neoklassischen oder des Neuen ­Keynesianismus, der klassischen oder der neoklassischen Theorie, der walrasianischen, der post-walrasianischen Theorie oder der Verhaltensökonomie59  – stützt sich auf eben jene drei klassischen Axiome, von denen­ Keynes sich in seiner Allgemeinen Theorie verabschiedet hat, damit diese auf die realen Probleme der Arbeitslosigkeit, des internationalen Handels und der internationalen Zahlungen anwendbar ist. Und deshalb schlagen sich weite Teile der globalisierten Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts noch immer mit diesen Problemen herum.

58

Colander/Landreth 1996, S. 72. Einige Ökonomen, darunter Verhaltensökonomen und einige Post-Walrasianer, haben versucht, Ad-hoc-Modelle zu entwerfen, die davon ausgehen, dass Wirtschaftssubjekte nicht immer mit der von der klassischen Theorie postulierten Rationalität handeln, weil die Entscheidungsträger oftmals nicht über die nötigen Kapazitäten verfügen, um genügend Informationen über die Zukunft zu verarbeiten. David Colander (2006, S.  2) merkt dazu an: „Post-Walrasianer gehen von einer geringen Fähigkeit zur Informationsverarbeitung und schlechten Informationsmöglichkeiten aus.“ Trotzdem liegt diesem post-walrasianischen Ansatz die Überzeugung zugrunde, dass die „wahre Struktur“, die über die wirtschaftliche Zukunft bestimmt, ein walrasianisches Wirtschaftssystem ist (vgl. Mehrling 2006, S.  78; Kirman 2006, S.  xx; Brock/Durlauf 2006, S. 116). Aber leider können sich derartige Theorien nicht auf eine übergreifende, allgemeine Theorie stützen, die erklärt, wie es zu „irrationalem“ Verhalten kommen kann. Verhaltensökonomen haben keinerlei Erklärung, warum diejenigen, die zu irrationalem Verhalten neigen, im Rahmen der Darwin’schen Selektion nicht längst ausgerottet wurden  – von jenen Entscheidungsträgern, die sich für rationales Handeln Zeit nehmen oder zumindest Entscheidungen treffen, die mit jenen vereinbar sind, die sie träfen, wenn ihnen das zugrundeliegende walrasianische System bekannt wäre. Hätten die Verhaltensökonomen als analytischen Rahmen die Allgemeine Theorie ­Keynes’ gewählt, so könnten sie irrationales Verhalten leicht erklären, da es in einem nichtergodischen System nur vernünftig ist. Oder wie Hicks es auf den Punkt gebracht hat: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Menschen in unseren Modellen nicht wissen, was passieren wird, und dass sie sich bewusst sind, dass sie nicht wissen, was passieren wird.“ (Hicks 1977, S. vii). Unter Bedingungen völliger Ungewissheit erkennen die Menschen, dass sie nicht die geringste Ahnung haben, welches Verhalten in ihrer Lage rational wäre. 59

VIII. Schlussbetrachtung

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So lange die wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften des Mainstreams ihre Seiten nicht für die revolutionäre (axiomatisch schmale) Basis von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie einer Geldwirtschaft öffnen, werden die Vertreter des ökonomischen Mainstreams außerstande sein, politische Rezepte zu entwickeln, mit denen sich die wichtigsten wirtschaftlichen Probleme der Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert (wie das Outsourcing, die hartnäckigen Leistungsbilanzdefizite der USA und die zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen, sowohl zwischen als auch innerhalb der einzelnen Länder) lösen ließen. So lange es nicht zu einer weltweiten wirtschaftlichen Katastrophe von der Größenordnung der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren kommt, sieht es leider danach aus, dass die Vertreter des ökonomischen Mainstreams ­Keynes’ Allgemeine Theorie weiterhin ignorieren und sich stattdessen immer kompliziertere mathematische, statistische und computergenerierte Spielchen einfallen lassen werden, um klassische Theorien mit walrasianischen und post-walrasianischen Fundamenten zu untermauern. Die Anhänger dieser Theorien erheben den Anspruch, wirtschaftliches Verhalten in der realen Welt zu „simulieren“ – obwohl sich in den theoretischen Grundlagen ihrer Modelle die restriktiven klassischen Axiome verbergen. So behauptet der Ökonom Alan Kirman, der dem renommierten Institute for Advanced Study an der Princeton University angehört und an einer Kategorie von Modellen mitarbeitet, die von einigen Leuten als post-walrasianisch bezeichnet werden: „[O]bwohl die Preise permanent schwanken und niemals einen Gleichgewichtszustand erreichen, können wir [Post-Walrasianer] zeigen, dass die Durchschnittspreise im Lauf der Zeit konvergieren werden, dass der Prozess ergodisch ist.“60 Allerdings kommen empirische Forschungen seit den 1990er Jahren61 zu dem Schluss, dass makroökonomische Zeitreihen nicht stationär sind, genau wie ­Keynes es in seiner Kritik an „der Methode von Herrn Tinbergen“ festgehalten hat62. Da nichtstationäre Zeitreihen eine hinreichende Bedingung für ein nichtergodisches System sind, steht die Behauptung von Alan Kirman offenbar im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen. Anstatt sich auf den Analyserahmen von ­Keynes zu stützen, ziehen die PostWalrasianer es offensichtlich vor, mit analytischen Spielchen sicherzustellen, dass sie statt ungefähr richtig genau falsch liegen. Die immer aufwändigeren mathematischen und statistischen Verfahren, die in post-walrasianischen Modellen zur Anwendung kommen und die nur leistungsfähige Computer so manipulieren können, dass sie „präzise“ Antworten ausspucken, sind die Blackbox (bzw. der Zauberhut), aus dem heutzutage klassische Kaninchen gezaubert werden, die bei der Entwicklung von wirtschaftspolitischen Lösungen für reale Probleme behilflich sein sollen. Wer diese post-walrasianischen „Computersimulationen“ als GIGO (garbage in garbage out: Wo man Müll hineinsteckt, kommt auch Müll heraus) kritisiert, 60

Kirman 2006, S. xx. Vgl. z. B. Christiano/Eichenbaum 1990. 62 Vgl. ­Keynes 1939a. 61

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12. Kap.: Wer versetzte der keynesianischen Revolution den Todesstoß? 

wird gerne als Technikfeind verspottet, dem jeder Sinn für die Schönheit derart komplexer, computergenerierter Modelle fehle. Doch tief vergraben unter komplexen post-walrasianischen Gleichungen liegen noch immer die drei grundlegenden klassischen Axiome (der Geldneutralität, der Substituierbarkeit und der Ergodizi­ eynes über Bord werfen müssen, um die Funktionsweise unsetät), die wir laut K res Wirtschaftssystems zu verstehen. So lange hoch entwickelte Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, die Eurozone usw. sich weiterhin mit einer Wirtschaftsleistung durchlavieren, die auf dem Niveau der letzten zwanzig Jahren liegt, werden die Vertreter des ökonomischen Mainstreams weiterhin mit ihren wirklichkeitsfernen Computersimulationen spielen, und Regierungen und Zentralbanken werden auf dieser Grundlage weiterhin ihre politischen Entscheidungen treffen. Doch sobald  – nicht: falls – es zu einer Neuauflage der Weltwirtschaftskrise kommt, werden die Ökonomen den Analyserahmen von ­Keynes’ Allgemeiner Theorie, der zum goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit beigetragen hat, vielleicht wiederentdecken. Für K ­ eynes wird das allerdings ein Pyrrhussieg sein.

Nachwort: Die große Finanzkrise 2008/20091 Die letzten Zeilen des ursprünglichen Manuskripts dieses Buches habe ich im Juli 2006 geschrieben. Sobald – nicht: falls – es zu einer Neuauflage der Weltwirtschaftskrise komme, so meine damalige Prognose, würden die Ökonomen­ Keynes’ Allgemeine Theorie wiederentdecken. Nun, da ich im Oktober 2008 dieses Nachwort schreibe, scheint dieser Zeitpunkt gekommen zu sein.

I. Wodurch wurde die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 ausgelöst? Nachdem der Mythos von der Effizienz des freien Markts dreißig Jahre lang von Ökonomen gepredigt und von Politikern unhinterfragt übernommen wurde, wird sich der Winter 2007/08 in der Rückschau als Winter des Unbehagens und als Anfang vom Ende der klassischen Theorie von der Effizienz der globalen Finanzmärkte erweisen. Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Große Depression und der Zusammenbruch der un­ regulierten Finanzmärkte, der auf die „Goldenen Zwanziger“ folgte, waren bei den Ökonomen in Vergessenheit geraten. Und so hat sich mit der immer weiter zunehmenden Deregulierung der Märkte und der Blütezeit der neunziger Jahre und Anfang des 21. Jahrhunderts, die schließlich 2008 in die größte Krise der Finanzmärkte seit der Weltwirtschaftskrise mündete, die Geschichte wiederholt. Angefangen bei der Hypothekenkrise in den Vereinigten Staaten Ende 2007 haben die Ereignisse die Vertreter der Markteffizienztheorie als Kaiser ohne Kleider entlarvt, die nichts als Nobelpreismedaillen haben, um ihre Nacktheit zu kaschieren. Innerhalb weniger Monate hat sich die sogenannte Hypothekenkrise von einem kleinen Alarmzeichen auf dem ökonomischen Radar zu einem Problem ausgewachsen, das zum Zusammenbruch der Finanzmärkte geführt hat und den Fortbestand von Finanzinstituten auf der ganzen Welt bedroht. Nichtsdestotrotz vermeldete das Wall Street Journal noch Ende Dezember 2007, Alan Greenspan, ehemaliger Vorsitzender der Federal Reserve und leidenschaftlicher Verfechter der Markteffizienztheorie, empfehle der Politik, keinerlei Maß 1 Dieses Nachwort ist teilweise deckungsgleich mit meinem Artikel in der Zeitschrift Challenge, Davidson 2008b.

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Nachwort: Die große Finanzkrise 2008/2009 

nahmen zu ergreifen, um eine eventuelle Rezession infolge der Hypothekenblase zu verhindern.2 Greenspan riet, die Lösung des Problems dem Markt zu überlassen und „die Hauspreise (und die hypothekenbesicherten Anleihen) so weit sinken zu lassen, bis Investoren sie als Schnäppchen betrachten, kaufen und so die Wirtschaft stabilisieren.“ In die gleiche Kerbe schlug im selben Monat in der New York Times der Wirtschaftsnobelpreisträger von 2008, Paul Krugman, als er das Problem als einen Zustand definierte, in dem die Häuserpreise im Vergleich zu den Mieten und Einkommen „unverhältnismäßig“ hoch seien.3 Wie Greenspan wandte sich auch Krugman dagegen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Folgen der geplatzten Immobilienblase abzumildern. Vielmehr war Krugman offenbar überzeugt, der effiziente Immobilienmarkt werde das Problem durch sinkende Häuserpreise selbst lösen. Bis wieder „Normalität“ einkehre, schätzte Krugman, würden die Häuserpreise um 30 Prozent sinken müssen. In den 1920er Jahren entstand eine Spekulationsblase nie dagewesenen Ausmaßes, weil die meisten Ökonomen überzeugt waren, die Börsenkurse spiegelten das Wissen des Marktes wider, dass der US-Wirtschaft auch in Zukunft ungebremstes Wachstum bevorstehe. Nach dem Börsenkrach vom Oktober 1929 ging jede fünfte amerikanische Bank bankrott. Einige Jahre nach dem Beginn der Großen Depression der 1930er Jahre kam es in einem Ausschuss des US-Senats zu einer Anhörung zu den möglichen Ursachen des Börsenkrachs. Dabei stellt sich heraus, dass Kleinanleger Anfang des 20. Jahrhunderts schwer geschädigt worden waren, weil Banken ihnen Anlagen verkauft hatten, von denen nur die Banken selbst profitierten. Dass die Banken den Handel mit Wertpapieren in den 1920er Jahren erheblich ausgeweitet hatten, so das Ergebnis der Anhörung, war eine der Hauptursachen des Börsenkrachs und der darauffolgenden Rezession. Als Konsequenz davon verabschiedete der Kongress 1933 den „Glass-Steagall Act“, ein Gesetz, das es Banken verbot, mit Wertpapieren zu handeln. Finanzinstitute mussten sich fortan entscheiden, ob sie ein einfaches Kreditinstitut oder eine Investmentbank (ein Broker) sein wollten. Außerdem räumte das Gesetz der Federal Reserve im Hinblick auf die Aktivitäten der Banken mehr Kontrollrechte ein. Im Ergebnis waren von Banken ausgegebenen Hypothekenkredite einige Jahrzehnte lang unverkäuflich  – sie waren illiquide Wertpapiere. Wenn eine Bank einen Kredit bewilligte, wusste sie, dass die Hypothek so lange in ihren Bilanzen auftauchen würde, bis sie vollständig abbezahlt war. Würde der Kreditnehmer zahlungsunfähig, so trüge die Bank die Kosten für die Zwangsräumung und alle etwaigen durch die Nichtbegleichung des Darlehens entstehenden Verluste. Bevor sie ein Darlehen bewilligte, machte sich die kreditgebende Bank daher ein genaues Bild von den Sicherheiten, der Zahlungsmoral und der Zuverlässigkeit des Kreditnehmers.

2

Vgl. ‚Don’t Count On A Stimulus Plan‘, Wall Street Journal, 20. Dezember 2007. ‚After The Money’s Gone‘, New York Times, 14. Dezember 2007.

3

I. Wodurch wurde die Finanzkrise von 2008 ausgelöst?

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Die Deregulierung des Bankensektors in den USA begann in den siebziger Jahren. Damals fingen Investmentbanken an, Geldmarkt- und Girokonten mit hohen Zinsen anzubieten und damit den traditionellen Banken Konkurrenz zu machen. Es war die Geburtsstunde dessen, was wir heute als „Schattenbankensystem“ bezeichnen. In den achtziger Jahren legte die Federal Reserve den Glass-Steagall Act neu aus und erlaubte den Banken ein gewisses Maß an Wertpapierhandel: Trotz der Einwände ihres Vorsitzenden Paul Volcker genehmigte der Vorstand der Fed Banken 1987, in beschränktem Umfang mit Wertpapieren zu handeln, auch mit hypothekenbesicherten Anleihen. Als Alan Greenspan im gleichen Jahr zum Vorsitzenden der Fed aufstieg, setzte er sich für eine weitere Deregulierung des Bankengeschäfts ein, damit amerikanische Banken im Wettbewerb mit Kreditinstituten im Ausland, wo gleichzeitig im Investmentgeschäft aktive Universalbanken die Regel sind, besser bestehen konnten. Im Jahr 1996 erlaubte die Federal Reserve Bankholdinggesellschaften den Besitz von Schwestergesellschaften, die Investmentbanking betrieben, sofern diese nicht mehr als 25 Prozent zum Gesamtgewinn der Holding beisteuerten. Nach zwölf gescheiterten Anläufen in 25 Jahren wurde der Glass-Steagall Act 1999 vom Kongress aufgehoben. Fortan gab es keine gesetzlichen Einschränkungen mehr, gleichzeitig Kredite zu vergeben und mit Wertpapieren zu handeln. Fortan bestand für Kreditinstitute aufgrund der Gewinnaussichten ein starker Anreiz, potentielle (auch weniger zahlungskräftige) Hauskäufer aufzutun und ihnen eine Hypothek einzuräumen. Die kreditgebende Bank konnte diese Hypothek, in der Regel innerhalb von 30 Tagen, mit Profit an eine Investmentfirma weiterverkaufen oder selbst damit handeln und ihren Kunden Pakete aus hypothekenbesicherten Wertpapieren verkaufen. Solange der Kreditnehmer zumindest die erste Monatsrate begleichen konnte, musste die kreditgebende Bank also keinerlei Angst vor einem möglichen Zahlungsausfall haben. Die Investmentgesellschaft schnürte aus diesen Hypotheken typischerweise esoterische Pakete aus hypothekenbesicherten Wertpapieren wie zum Beispiel CDOs (forderungsbesicherte Schuldverschreibungen) und verkaufte sie in Tranchen an nichtsahnende Pensionsfonds, regionale oder staatliche Steuerfonds, Einzelinvestoren und andere Finanzinstitute im In- und Ausland. In die Irre geführt von den guten Bewertungen dieser komplexen Wertpapiere durch die Ratingagenturen hielten die Käufer diese hypothekenbesicherten Wertpapiere für eine sichere, liquide Anlage, die höhere Zinsen abwarf als Staatsanleihen. Als jedoch die potenziellen Kreditnehmer mit exzellenter Kreditwürdigkeit knapp wurden, spürten die Kreditgesellschaften andere auf, die unter normalen Umständen nicht als kreditwürdig eingestuft worden wären, und brachten sie (nicht selten mithilfe betrügerischer Praktiken) dazu, Hypotheken aufzunehmen und Häuser zu kaufen, die sie sich gar nicht leisten konnten. Dieses Verfahren, Pakete aus hypothekenbesicherten Wertpapieren zu schnüren und zu verkaufen, führte zu der Immobilienblase, im Zuge derer die Immobilienpreise in den

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Nachwort: Die große Finanzkrise 2008/2009 

USA bis 2005 einen historischen Höchststand erreichten. Am Ende konnten viele zahlungsschwache Kreditnehmer ihre Raten nicht mehr bezahlen, und die Immobilienblase platzte. Als immer mehr Hypotheken nicht mehr bedient wurden, konnten die potenziellen Käufer hypothekenbesicherter Wertpapiere nicht herausfinden, wie viele nicht mehr bediente Kredite ein solches Paket enthielt und, noch wichtiger, wie viele Zahlungsausfälle noch zu erwarten waren. In der Folge wusste niemand, wieviel diese hypothekenbesicherten Wertpapiere eigentlich wert waren, und der Markt dafür brach zusammen. Zunächst war das Insolvenzproblem auf einige große Investmentbanken und andere beschränkt, die in hypothekenbesicherte Wertpapiere investiert hatten. Doch dieses Insolvenzproblem erwies sich als ansteckend: Das Marktversagen (bzw. die Illiquidität) griff auch auf den Handel mit börsengehandelten Wertpapieren und andere Märkte über, auf denen besicherte Wertpapiere gehandelt wurden, so dass niemand sich mehr auf eine stabile, geordnete Entwicklung der Marktpreise verlassen konnte. Wie kam es dazu, dass das Virus auch auf andere Märkte übersprang und einen enormen Anstieg des Marktversagens und der Illiquidität auslöste? Die Antwort ist einfach. Zu diesem Problem kam es, weil Ökonomen wie Marktteilnehmer K ­ eynes’ Liquiditätspräferenztheorie vergessen hatten und stattdessen dem Irrglauben verfallen waren, die klassische Markteffizienztheorie sei ein brauchbares Modell für das Funktionieren von realen Finanzmärkten. Alles, was man der Markteffizienztheorie zufolge tun muss, ist informierte Käufer und Verkäufer auf einem unregulierten Finanzmarkt zusammenzubringen, dann wird sich der Marktpreis stets geordnet dem auf den Marktrahmendaten beruhenden Markträumungspreis annähern. Vor dem Siegeszug des Computers mussten Käufer und Verkäufer auf Finanzmärkten durch Makler vertreten werden, die sich an einem realen Ort (zum Beispiel einer Börse) trafen. Diese Händler waren sich des Problems bewusst, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe eines Handelstages schwierig sein konnte, genügend ernsthafte Kaufinteressenten und Verkaufswillige zusammenzubringen, um einen geordneten Handel zu gewährleisten. Daher waren Finanzmarktregeln notwendig, die dafür sorgten, dass alle Marktteilnehmer ihre Transaktionen ausschließlich über autorisierte Broker abwickelten, die zum Handel auf dem Markt berechtigt waren. Diese manchmal auch als „Spezialisten“ bezeichneten Broker fungierten als Treuhänder, über die man Geschäfte mit anderen Maklern machen konnte. Jeder Spezialist führte Buch über alle Kaufs- und Verkaufswünsche zu einem bestimmten Preis. Überstieg beispielsweise die Zahl der Verkäufer zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des Handelstags deutlich die Zahl der zu einem Preis im Bereich des vormaligen Marktpreises kaufwilligen Käufer, so würde der Preis des entsprechenden Wertpapiers ohne das Eingreifen eines „Marktpflegers“ ungeordnet fallen. Daher wurde vom „Spezialisten“ erwartet, als „Marktpfleger“ aktiv zu werden und auf eigene Rechnung zu kaufen, um einen geordneten Markt

I. Wodurch wurde die Finanzkrise von 2008 ausgelöst?

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zu garantieren. (Entsprechendes galt, wenn die Zahl der Käufer die der Verkäufer deutlich überstieg.) Wie ich im siebten Kapitel dargelegt habe, ist ein geordneter Markt die Voraussetzung, die Besitzer des gehandelten Wertpapiers davon zu überzeugen, dass sie ihren Bestand jederzeit zu einem Preis im Bereich des zuletzt öffentlich bekanntgegebenen Preises liquidieren können. Ein geordneter Markt ist mit anderen Worten Vorbedingung, um auf Finanzmärkten Liquidität zu gewährleisten. Der modernen Markteffizienztheorie zufolge sind solche als Marktpfleger fungierenden Spezialisten im Computerzeitalter unserer Tage völlig überholt. Dank Computer und Internet könne man heute Käufer und Verkäufer in großer Zahl schnell und effizient im Internet zusammenbringen. Um der Öffentlichkeit zu versichern, dass der Markt gut organisiert und wohlgeordnet ist, bedürfe es keiner menschlichen Spezialisten mehr, die sich bei Bedarf als Marktpfleger einschalten. Der Computer könne über Kaufs- und Verkaufswünsche Buch führen und sie viel schneller und billiger geordnet abwickeln als Menschen das jemals vermocht hätten. Die Markteffizienztheorie der Finanzmärkte beruht auf der Annahme, der Wert gehandelter Wertpapiere sei (zumindest langfristig4) von den aktuellen „Marktrahmendaten“ bereits vorgegeben. Auf den vielen Finanzmärkten, die im Winter 2007/08 zusammenbrachen, sollte die zukünftige Liquidität der Investoren in der Regel mit Schuldpapieren wie Hypotheken oder Kommunal- bzw. Unternehmensanleihen mit langer Laufzeit sichergestellt werden. Die notwendige Vorbedingung für die Effizienz dieser Märkte ist, dass man mit statistischer Sicherheit „wissen“ kann, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Schuldner allen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen nachkommen. Auf der Grundlage dieses statistischen Wissens kann es für Versicherungsunternehmen einträglich sein, den Besitzern dieser Wertpapiere eine Versicherung zu verkaufen, die ihnen Solvenz und die Auszahlung der Schuldzinsen garantiert. In der Markteffizienztheorie gelten alle beobachteten Abweichungen vom statistisch ermittelten Wert (Preis) der gehandelten liquiden Wertpapiere, die auf den erwähnten Märkten die Schuldpapiere repräsentieren, als statistisches „Hintergrundrauschen“. Wie ihnen jeder Statistiker bestätigen wird, nimmt die Varianz (d. h. das quantitative Ausmaß des Hintergrundrauschens) mit der Größe der Stichprobe ab. Da Computer sehr viel mehr Käufer und Verkäufer auf der ganzen Welt zusammenbringen können als die antiquierten Marktmechanismen des Vorcomputerzeitalters, sollte die Zahl der Handelsteilnehmer in der Computerära drastisch ansteigen. Glaubt man an die Markteffizienztheorie, so wird die Marktorganisation durch Computer die Varianz signifikant verringern und dadurch die Wahrscheinlichkeit eines wohlgeordneten Marktes erhöhen. 4 Nimmt man zur Markteffizienztheorie die der rationalen Erwartungen hinzu, so sorgen langfristige Erwartungen dafür, dass sich die Marktpreise kurzfristig nicht allzu weit von den durch die „Rahmendaten“ vorgegebenen langfristigen Preisen entfernen.

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Nachwort: Die große Finanzkrise 2008/2009 

Die Verfechter der Markteffizienztheorie argumentieren daher, die Verteilung des Risikos sei im Computerzeitalter aus Sicht der Besitzer solcher Wertpapiere sehr viel effizienter, während die Kosten von Transaktionen deutlich reduziert würden. Letztlich beruht die Markteffizienztheorie auf dem Axiom der Ergodizität. Akzeptiert man dieses Axiom, so erscheint die Markteffizienztheorie zwingend logisch. Für die Anhänger dieser Theorie gewährleistet die angenommene Vielzahl von Marktteilnehmern, bestehend aus vom Computer erfassten Käufern und Verkäufern, dass die gehandelten Wertpapiere sehr liquide sind. In der Welt der effizienten Finanzmärkte kann ein Marktteilnehmer, der seinen Bestand an Wertpapieren reduzieren möchte, diese jederzeit und problemlos zu einem Preis verkaufen, der nur unerheblich vom zuletzt veröffentlichten Preis abweicht. Die Markteffizienztheorie hat keine Erklärung dafür, dass 2008 so viele Finanzmärkte zusammengebrochen sind – so dass Investoren ihre Anlagen nicht liquidieren konnten. Die Liquiditätspräferenztheorie von ­Keynes dagegen vermag das zu erklären. Sie geht davon aus, dass die wirtschaftliche Zukunft ungewiss und somit das klassische Axiom der Ergodizität, eine Grundvoraussetzung der Markteffizienz­ theorie, auf reale Finanzmärkte nicht anwendbar ist. K ­ eynes’ Ansatz zufolge sind makroökonomische Systeme und Finanzsysteme in der realen Erfahrungswelt von einem nichtergodischen, stochastischen System determiniert. In unserer ungewissen (nichtergodischen) Wirtschaftswelt sind Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktionen aus Gegenwart oder Vergangenheit keine verlässlichen Anhaltspunkte für die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ergebnisse. Ist die Zukunft auf der Basis von Daten aus Gegenwart und Vergangenheit jedoch nicht verlässlich vorhersagbar, so gibt es keine mathematische Grundlage, auf der Versicherungsgesellschaften den Besitzern solcher Wertpapiere einen Schutz gegen negative Ergebnisse verkaufen könnten. Insofern sollte es niemanden überraschen, dass die Verluste von AIG, einer Versicherungsgesellschaft, die Policen ausstellte, die Wertpapierbesitzern Schutz gegen unerwartet negative Ergebnisse bieten sollten, die unternehmensinternen Schätzungen um viele Milliarden Dollar überstiegen. In einer nicht­ ergodischen Welt ist es unmöglich, zukünftige Versicherungsleistungen statistisch zu schätzen, und deshalb nimmt es nicht wunder, dass die als systemrelevant eingestufte AIG mit Steuergeldern gerettet werden musste. Wie im siebten Kapitel ausgeführt, besteht die wichtigste Funktion allgemein zugänglicher Finanzmärkte in einer (nichtergodischen,) von Ungewissheit geprägten Welt darin, Liquidität zur Verfügung zu stellen. Der Grad der Liquidität der auf einem geordneten Markt gehandelten Wertpapiere wird durch die Existenz eines vertrauenswürdigen Marktpflegers erhöht; Besitzer solcher Wertpapiere können sich dann einigermaßen darauf verlassen, kurzfristig aussteigen und ihren Bestand zu einem Preis liquidieren zu können, der sehr nah am zuletzt veröffentlichten Preis liegt. Ist absehbar, dass es für die angebotenen Wertpapiere zu einem geordnet fallenden Preis nicht genügend Käufer gibt, so wird der Marktpfleger sein Bestes tun, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und die angebotenen

I. Wodurch wurde die Finanzkrise von 2008 ausgelöst?

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Wertpapiere auf eigene Rechnung aufkaufen. Verfügt der Marktpfleger im Falle einer Welle von Verkaufsanweisungen nicht über genügend Geld, um dieses Versprechen einzulösen, so bricht der Markt zusammen und das Wertpapier wird faktisch illiquide, denn der Handel muss so lange ausgesetzt werden, bis der Marktpfleger genügend zusätzliche Käufer gefunden hat, um wieder einen geordneten Markt garantieren zu können. Deshalb muss der Marktpfleger sehr reich sein, oder doch im Bedarfsfall Zugriff auf erhebliche Mengen Bargeld haben, um die Öffentlichkeit glaubhaft von seiner Liquidität überzeugen zu können. Im Falle einer Welle von Verkaufs­ anweisungen jedoch wären die Bargeldreserven jedes privaten Marktpflegers früher oder später erschöpft. Eine Liquiditätsgarantie selbst bei ungünstigster Marktentwicklung ist also nur dann möglich, wenn der Marktpfleger leichten, direkten oder indirekten Zugang zur Zentralbank oder zur Regierung hat, die ihm die für die Wiederherstellung einer geordneten Marktes nötigen Mittel zur Verfügung stellen kann. Nur ein privater Marktpfleger, der bevorrechtigten Zugang zu staatlichen Institutionen wie der Zentralbank und/oder dem Staatshaushalt hat, kann sich einigermaßen sicher sein, stets genügend Bargeld beschaffen zu können, um einen Zusammenbruch des Marktes mit potenziell katastrophalen Folgen zu verhindern. ­ organ Am 13. März 2008 zum Beispiel fädelte die Federal Reserve über J. P. M Chase einen Deal ein, wonach Bear Stearns ein Kredit eingeräumt wurde; als Sicherheit legte Bear Stearns seine im Grunde illiquiden hypothekenbesicherten Wertpapiere auf den Tisch. Dadurch konnte man bei Bear Stearns vermeiden, Wertpapiere auf einen Markt zu werfen, der ohnehin kurz vor dem Zusammenbruch stand, nur um genügend Liquidität zu beschaffen, um die am 14. März fälligen Zahlungsverpflichtungen aufgrund von Rückkaufsvereinbarungen zu erfüllen. Bear Stearns bekam auf diese Weise eine kleine Atempause, und der Abgabedruck auf den Finanzmärkten nahm, zumindest vorübergehend, etwas ab. J. P. Morgan diente bei diesem Kreditgeschäft als Mittelsmann, weil diese Bank der Aufsicht der Federal Reserve untersteht und Zugang zu deren Diskont­fenster hatte. Ungeachtet dessen war am 13. März 2008 völlig klar: Für den Fall, dass Bear Stearns bankrott ging und die Sicherheiten zur Deckung des Kredits nicht ausreichten, würde der Verlust nicht an J. P. Morgan hängen bleiben, sondern an der Federal Reserve. Am Abend des 16. März (eines Sonntags) gaben die Federal Reserve und J. P. Morgan bekannt, J. P. Morgan werde Bear Stearns zum Schleuderpreis von 2 Dollar pro Aktie übernehmen. (Der Schlusskurs von Bear Stearns am Freitag, den 14. März, hatte bei 30 Dollar gelegen.) Zugleich erklärte die Fed sich bereit, J. P. Morgan zur Finanzierung der von Bear Stearns übernommenen illiquiden Wertpapiere bis zu 30 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen. Indem sie es J. P. Morgan ersparte, zur Deckung der von Bear Stearns übernommenen Zahlungsverpflichtungen die geerbten Wertpapiere auf den Markt werfen zu müssen, handelte

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die Fed im Wesentlichen genau wie die während der Savings-and-Loan-Krise von 1989 gegründete Auffanggesellschaft „Resolution Trust Corporation“.5 Als sich im Oktober 2008 deutlich abzeichnete, dass die zögerlichen Maßnahmen der Fed nicht ausreichen würden, um die Finanzkrise einzudämmen, billigte die US-Regierung das Troubled Asset Relief Program (TARP), das dem Finanzministerium 700 Milliarden Dollar zur Verfügung stellte, um Finanzinstitute vor der Pleite zu bewahren. Seitdem hat die US-Regierung einen Teil dieses Geldes darauf verwendet, US-Banken zu rekapitalisieren, um ihre Insolvenz zu verhindern. Darüber hinaus hat das Finanzministerium in Aussicht gestellt, eventuell toxische Wertpapiere aufkaufen zu wollen, die sich in den Bilanzen der Finanzinstitutionen befinden. Regierungen anderer Länder, wie Deutschland, das Vereinigte Königreich usw., haben ähnliche Maßnahmen ergriffen, um ins Schlingern geratene Banken zu stützen. Betrachtet man die Finanzmärkte im Lichte von ­Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie, so leuchten die staatlichen Bemühungen, das Bankensystem mit Liquidität zu fluten und zu rekapitalisieren, unmittelbar ein. Wenn der Staat schnell und entschlossen genug handelt, können die Bürger ihre gestiegene Verkaufsneigung befriedigen und ihren Geldvorrat aufstocken, ohne dass der Kassakurs von Wertpapieren ungeordnet fällt. Die staatlichen Institutionen und die Marktpfleger können die überschüssigen liquiden Wertpapiere so lange halten, bis die allgemein gestiegene Verkaufsneigung nachlässt, an deren Besitz die Bürger kein Interesse haben. Kurz: Die Existenz eines Marktpflegers erhöht zwar unter ansonsten gleichen Bedingungen den Liquiditätsgrad der gehandelten Wertpapiere, doch in Zeiten ausgeprägter Verkaufsneigung könnte das Vertrauen versiegen, es sei denn, der Staat ist dazu bereit, dem Marktpfleger unmittelbar genügend finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Finanzmärkte neu zu beleben. Auf Märkten ohne Marktpfleger dagegen besteht keinerlei Garantie, dass sich die augenscheinliche Liquidität eines Wertpapiers nicht irgendwann von einem Augenblick zum anderen in Luft auflöst. Darüber hinaus gibt es in Ermangelung eines Markt­ pflegers nichts, was das Vertrauen darauf fördert, dass jemand etwas unternimmt, um die Liquidität des Marktes wiederherzustellen. Wenn die Befürworter der Markteffizienztheorie behaupten, es bedürfe lediglich einer computergestützten Marktorganisation, dann unterstellen sie, der Computer werde stets genügend Kaufwillige finden, wann immer zahlreiche Besitzer eines Wertpapiers ihren Bestand verkaufen möchten. Sie gehen hinsichtlich des „Hintergrundrauschens“ der zu einem anderen als dem Gleichgewichtspreis Kaufbeziehungsweise Verkaufswilligen von einer Normalverteilung aus. Damit impli 5

Die Notwendigkeit, die Resolution Trust Company wiederaufleben zu lassen, um die von der Hypothekenkrise ausgelöste Finanzmarktkrise zu lösen, habe ich bereits in meinem Aufsatz „How to Solve the U. S. Housing Problem and Avoid a Recession: A Revised HOLC and RTC“ (Davidson 2008a) unterstrichen.

I. Wodurch wurde die Finanzkrise von 2008 ausgelöst?

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zieren sie, es könne auf Finanzmärkten weder auf der einen noch auf der anderen Seite jemals einen Mangel an Marktteilnehmern geben. Angesichts des Zusammenbruchs der Märkte für hypothekenbesicherte Wertpapiere und andere verbriefte Anlagen sollte jedermann klar sein, dass die Computer nicht genügend Käufer auftreiben konnten. Im Übrigen sind diese Computer nicht darauf programmiert, im Fall eines drohenden Marktversagens, wenn fast alle ihren Bestand möglichst zum letzten Marktpreis liquidieren wollen, einzugreifen und zu kaufen. Die Investmentbanker, die die Märkte für hypothekenbesicherte Wertpapiere und andere verbriefte Anlagen organisieren und betreuen, übernehmen die Rolle des Marktpflegers nicht. Unter Umständen informieren sie ihre Kunden zwar vor Beginn des Handelstages im Rahmen eines „Price Talks“ darüber, in welchem Bereich der Markträumungspreis an diesem Tag voraussichtlich liegen wird.6 Doch Reden und Handeln sind bei diesen Finanzinstituten zweierlei. Falls der zu erwartende Markträumungspreis erheblich unter der im „Price Talk“ gemachten Schätzung liegt, sind sie keineswegs verpflichtet, als Marktpfleger einzugreifen. Demungeachtet wurde vielfach berichtet, dass Mitarbeiter dieser als Marktorganisator fungierenden Investmentbanken ihren Kunden erzählt hätten, diese Wertpapiere seien „Zahlungsmitteläquivalente“. Viele Besitzer dieser Wertpapiere hatten an der Liquidität ihrer Bestände keinerlei Zweifel, da die Märkte von großen Finanzinstituten wie Goldman Sachs, Lehman Brothers, Merrill Lynch etc. organisiert wurden. Häufig wurde Marktteilnehmern auf betrügerische Weise Glauben gemacht, sie besäßen Wertpapiere mit hoher Liquidität. Doch wie sich am Fehlen eines zuverlässigen Marktpflegers ablesen lässt, können diese Wertpapiere sehr leicht illiquide werden. Wären diese Investoren nicht von den süßen Worten der Markteffizienz­ eynes’ Liquiditätspräferenztheosirenen verführt und stattdessen über die von K rie beschriebene, harte Realität unterrichtet worden, wären sie in Märkte, deren Liquidität von Anfang an eine bloße Illusion war, vielleicht nie eingestiegen. Die Sicherheitsbestimmungen in den USA hätten auf eine ausreichende Information der Anleger bestehen sollen, damit diese eine fundierte Entscheidung hätten treffen können.

6 Vor Eröffnung des Handelstags informieren Investmentbanker ihre Kunden in der Regel im Rahmen eines „Price Talks“ über den voraussichtlichen Gleichgewichtspreis. In welchem Bereich dieser liegen wird, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie der Bonität des Emittenten, dem letzten Markträumungspreis für dieses und ähnliche Papiere, der allgemeinen makroökonomischen Lage etc.

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II. Finanzmarktpolitik Erstens: Was können wir unternehmen, um einen solchen Zusammenbruch öffentlicher Finanzmärkte auf breiter Front zukünftig zu verhindern? Und zweitens: Was können wir darüber hinaus tun, um den wachstumshemmenden Effekt der derzeitigen Kreditklemme auf den Finanzmärkten in Grenzen zu halten und eine Weltwirtschaftskrise zu vermeiden? Was die Verhinderung zukünftigen Marktversagens im Bereich verbriefter Anlagen betrifft, so besteht die Antwort darin, für alle Marktplätze für verbriefte Wertpapiermärkte einen Marktpfleger vorzuschreiben. Auf der Website der amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde SEC ist zu lesen: „Der Auftrag der U. S. Securities and Exchange Commission ist es, Investoren zu schützen, einen fairen, geordneten und effizienten Handel aufrechtzuerhalten und die Kapitalakkumulation zu erleichtern.“7 Der Securities Act von 1933, liest man im Weiteren, habe im Wesentlichen zwei Ziele verfolgt: „dafür zu sorgen, dass Investoren finanzielle und andere relevante Informationen zu öffentlich zum Verkauf angebotenen Wertpapieren erhalten, sowie Irreführung, Falschdarstellung und andere Formen von Betrug seitens Wertpapierverkäufern zu verhindern“.8 Die Regeln der SEC gelten im Prinzip für öffentliche Finanzmärkte, wo Käufer und Verkäufer sich einander in der Regel nicht zu erkennen geben. Auf einem öffentlichen Finanzplatz kauft jeder Käufer auf dem unpersönlichen Markt ein, und jeder Verkäufer verkauft an den unpersönlichen Markt. Investoren zuzusichern, dass dieser öffentliche Handel geordnet vonstatten geht, ist Aufgabe der SEC. Auf einem privaten Finanzmarkt hingegen geben sich der Käufer und der Verkäufer eines Wertpapiers einander zu erkennen. Kreditgeschäfte zum Beispiel sind in aller Regel private Transaktionen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Börsenaufsicht fallen. Unter normalen Umständen sollte es keinen Markt geben, auf dem Wertpapiere gehandelt werden, die auf private Finanzgeschäfte zurück­ gehen. Traditioneller Weise ist ein Wertpapier, das auf einer Transaktion auf einem privaten Markt beruht, unverkäuflich. Die SEC verkündet auf ihrer Website außerdem: „In einer Zeit, in der immer mehr unerfahrene Investoren sich den Märkten zuwenden, um ihre Zukunft zu sichern, ihr Zuhause zu finanzieren oder ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen, ist unser Auftrag, Investoren zu schützen, wichtiger denn je.“9 Vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen hinsichtlich der Ansteckungsgefahr auf zusammengebrochenen oder kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Finanzmärkten erscheint es so, als habe die SEC ihren selbst erklärten Auftrag, die­

7

Vgl. http://www.sec.gov/about/whatwedo.shtml [12.02.2014] (Hervorhebung d. Verf.). A. a. O. 9 A. a. O. 8

II. Finanzmarktpolitik

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Investoren zu schützen, nicht sonderlich ernst genommen. Der US-Kongress sollte daher von der SEC verlangen, dass sie genauestens auf die Einhaltung folgender Regeln achtet: 1. Öffentliche Bekanntmachung des Risikos der Illiquidität auf öffentlichen Märkten ohne vertrauenswürdigen Marktpfleger. In den letzten 25 Jahren haben große Emissionsbanken öffentliche Märkte geschaffen und organisiert, die auf dem Wege der Verbriefung Schuldpapiere mit langen Laufzeiten (von denen einige, wie z. B. Hypotheken, sehr illiquide sind) in das virtuelle Äquivalent ertragreicher, sehr liquider Geldmarktfonds und anderer kurzfristiger Sparkonten zu verwandeln schienen. Durch das hohe Ansehen der Emittenten dieser Wertpapiere und das, was die Mitarbeiter Kunden darüber erzählt haben, wurde Privatinvestoren glauben gemacht, sie könnten ihren Bestand jederzeit zu einem Preis liquidieren, der nur unerheblich vom zuletzt veröffentlichten Preis abweicht. Die vermeintlich hohe Liquidität dieser Wertpapiere hat sich mittlerweile als Illusion erwiesen. Wären potentielle Käufer darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass die Emissionsbank zwar auf eigene Rechnung kaufen kann, aber nicht verpflichtet ist, einen geordneten Markt aufrechtzuerhalten, so hätten Kaufinteressenten die potentiell geringe Liquidität dieser Wertpapiere vielleicht erkannt. Da es Sache der SEC ist, auf öffentlichen Märkten einen geordneten Handel sicherzustellen, „dafür zu sorgen, dass Investoren finanzielle und andere relevante Informationen zu öffentlich zum Verkauf angebotenen Wertpapieren erhalten, sowie Irreführung, Falschdarstellung und andere Formen von Betrug seitens Wert­ papierverkäufern zu verhindern“,10 läge es eigentlich nahe, entweder (1) alle öffentlichen Finanzmärkte, die über keinen vertrauenswürdigen Marktpfleger verfügen, zu schließen, weil sie keinen geordneten Handel garantieren, oder (2) zumindest die potentielle Illiquidität solcher Wertpapiere bekannt und es den Banken zur Auflage zu machen, jedem Käufer entsprechende Informationen zum erworbenen Wertpapier zur Verfügung zu stellen. Die unter Punkt (1) vorgeschlagene drakonische Maßnahme wird vermutlich auf heftigen politischen Widerstand stoßen, weil die Finanzwelt argumentieren wird, in einer globalisierten Wirtschaft mit freiem elektronischen Zahlungsverkehr werde ein solches Verbot lediglich dazu führen, dass Investoren auf der Suche nach guten Ertragsaussichten in Märkte und bei Instituten im Ausland investieren würden – zum Schaden der heimischen Finanzinstitute und der auf Investitions­ kapital angewiesenen heimischen Industrie. Würden sich die Staaten auf eine Reform des internationalen Zahlungssystems und die Einführung des IMCU11 einigen, wie ich es im zehnten Kapitel vorge 10

A. a. O. Mein Vorschlag eines auf IMCUs beruhenden internationalen Zahlungssystems ist eine Abwandlung des von den USA abgelehnten K ­ eynes-Plans, den ­Keynes 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods vorgestellt hat. 11

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schlagen habe, so hielte das IMCU-System US-Bürger natürlich von Investitionen in ausländischen Finanzmärkten ab, die die US-Regierung als Benachteiligung amerikanischer Firmen erachtet, die unter der Aufsicht der SEC stehen (während ausländische Firmen den Regeln der SEC nicht unterworfen sind). Solange das derzeitige internationale Zahlungssystem jedoch in Kraft bleibt, besteht die Gefahr, dass es in der amerikanischen Finanzindustrie zu Arbeitsplatzverlusten und Gewinneinbußen kommt, wenn US-Bürger lieber Geschäfte mit ausländischen Investmentbanken und Emittenten machen. Daher sollte die SEC öffentliche Finanzmärkte ohne vertrauenswürdigen Marktpfleger zulassen, von den Organisatoren dieser Märkte jedoch verlangen, dass sie den möglichen Liquiditätsverlust bei auf diesen Märkten gehandelten Wertpapieren deutlich anzeigt. Keine zivilisierte Gesellschaft würde es zulassen, dass auf Märkten, auf denen potentiell extrem gesundheitsschädliche Produkte verkauft werden, die Gewährleistung ausgeschlossen wird. Obwohl Informationen über die extremen Gesundheitsgefahren des Rauchens allgemein zugänglich sind, verlangt das Gesetz von Zigarettenherstellern, auf jede Packung in großen Lettern zu drucken, dass Rauchen gesundheitsschädlich sein kann. Auf ganz ähnliche Weise können Wertpapiergeschäfte auf öffentlichen Finanzmärkten, auf denen es keinen Marktpfleger gibt, schwerwiegende Folgen für die finanzielle Konstitution der Käufer haben. Deshalb sollte die SEC verlangen, dass Kaufinteressenten von Wertpapieren, die auf Märkten ohne vertrauenswürdigen Marktpfleger gehandelt werden, folgende Warnung erhalten: „Dieser Markt wird nicht von einem von der SEC zertifizierten Marktpfleger organisiert. Daher kann es sein, dass die Liquidität der hier gehandelten Wertpapiere nicht aufrechterhalten werden kann. Anleger müssen sich im Klaren darüber sein, dass ihr Wertpapierbestand eingefroren werden könnte, so dass sie ihn nicht liquidieren und gegen Bargeld eintauschen können.“ Außerdem sollte die SEC Regeln bezüglich des Minimums an finanziellen Ressourcen erlassen und durchsetzen, über die ein Unternehmen im Verhältnis zum Volumen des betreffenden Marktes verfügen muss, um als vertrauenswürdiger Marktpfleger zertifiziert zu werden. Vertrauenswürdige Marktpfleger müssen von der SEC regelmäßig neu evaluiert werden, mindestens einmal pro Jahr. 2. Verbot von Verbriefungen, die darauf abzielen, einen öffentlichen Markt für Wertpapiere zu schaffen, die auf Privatgeschäfte zurückgehen. Die SEC sollte alle Versuche unterbinden, einen Markt für ein verbrieftes Wertpapier oder Derivat zu schaffen, das auf Finanzinstrumenten beruht, die auf Privatgeschäfte zurückgehen (wie zum Beispiel Hypotheken, Firmenkredite, usw.). 3. Der Kongress sollte eine für das 21.  Jahrhundert geeignete Fassung des Glass-Steagall Acts verabschieden. Dieses Gesetz sollte Finanzinstitute zwingen, sich zu entscheiden, ob sie ein einfaches Kreditinstitut sein wollen, das auf dem privaten Finanzmarkt Kredite an Privatkunden vergibt, oder eine Investmentbank, die ausschließlich mit Instrumenten handelt, die auf einem öffentlichen Finanzmarkt angeboten und verkauft werden.

III. Erholung der Realwirtschaft 2009 fördern?

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III. Mit welchen Maßnahmen kann man die Erholung der Realwirtschaft 2009 fördern? Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen, im Oktober 2008, sagen viele für den Großteil des Jahres 2009 und wahrscheinlich auch noch 2010 einen flauen Immobilienmarkt und eine schwache Konjunktur voraus. Die Politik könnte jedoch eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um die Rezession abzukürzen und das Wachstum wieder in Gang zu bringen. Für den Fall, dass private Investitionen nicht ausreichen, um Vollbeschäftigung ­ eynes zur Belebung der Wirtschaft die „gesellschaftzu gewährleisten, empfahl K liche Steuerung der Investitionen“. Das bedeutet nicht, dass der Staat im Besitz der Produktionsmittel sein sollte. Vielmehr schlägt ­Keynes vor, der Staat solle Investitionen in produktive Unternehmungen fördern, und das müsse nicht „alle Arten von Zwischenlösungen und Verfahren ausschließen […], durch welche die staatliche Verwaltung mit der privaten Initiative zusammenarbeiten wird“.12 Wenn im Januar 2009 ein neuer Präsident die Amtsgeschäfte aufnimmt, sollte die Regierung Maßnahmen ergreifen, um (1) die verfallende Infrastruktur in den USA, wie Straßen, Brücken, sanitäre Anlagen etc. in Ordnung zu bringen, (2) in die Erforschung und Entwicklung alternativer Energie zu investieren, und (3) bundesstaatlichen und städtischen Einrichtungen mehr Steuergelder zur Verfügung zu stellen. Der bereits jetzt hohe Schuldenstand sollte die Regierung nicht davon abhalten, ein investitionsförderndes Umfeld zu schaffen, das Vollbeschäftigung ermöglicht. Um den Abwärtstrend auf dem amerikanischen Immobilienmarkt zu stoppen und zu verhindern, dass noch mehr Häuser aufgrund von Zwangsräumungen leerstehen, brauchen wir ein neues staatliches Unternehmen nach dem Vorbild der unter Präsident Roosevelt eingerichteten „Home Owners’ Loan Corporation“ (HOLC). Ein solches Unternehmen könnte Hypotheken (zu einem verbilligten Preis) aufkaufen und mit den Hausbesitzern bzw. -bewohnern neue Kreditbedingungen und erschwingliche Monatsraten aushandeln, etwa durch (a) eine Laufzeitverlängerung auf beispielsweise 40 Jahre, (b)  eine Verringerung der Darlehenssumme, oder (c)  einen ermäßigten Zinssatz. Kann der Besitzer/Bewohner auch die Raten des neu ausgehandelten Darlehens nicht bezahlen, so sollte das Staatsunternehmen das Haus so lange zu einer erschwinglichen Monatsmiete an den Be­ wohner vermieten, bis es mindestens zu dem Preis verkauft werden kann, den der Steuerzahler für die Hypothek bezahlt hat.13 Und schließlich sollte der neue Präsident umgehend eine internationale Konferenz einberufen, auf der nach dem Vorbild des in diesem Buch vorgestellten IMCU-Plans eine neue internationale Finanzarchitektur entworfen werden sollte. 12

­Keynes 1936, S. 319. Details zu diesem Vorschlag in Davidson 2008a.

13

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Erst dann kann jedes Land Vollbeschäftigung für seine Bürger anstreben, ohne sich Sorgen über eine mögliche Ansteckung durch ausländische Finanzmärkte machen zu müssen, die im Inland eine Rezession auslösen könnte. Die Erfahrung des reihenweisen Zusammenbruchs von Finanzinstituten auf der ganzen Welt im Jahr 2008 ist Beweis genug, dass eine Reform des internationalen Zahlungs­systems dringend erforderlich ist.

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Sachwortverzeichnis Abel, A. B.  159 abnehmender Ertrag  148, 153 –– Gesetz des komparativen Vorteils und  155 Adelman, Irma  12, 110 Afrika, Schuldenlast  176 aggregierte Angebotsfunktion 53 ff., 72 ff., 82 ff. aggregierte Nachfragefunktion  53 ff., 72 ff., 82 ff. AIG Versicherung  218 aktuarischer Wert (Preis)  75 Allgemeine Gleichgewichtstheorie –– ihre mathematischen Aspekte  191 ff. –– und die monetäre Produktionstheorie  39 f. –– und die Realität  104 Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes –– Axiome und Theoriebildung  40 f. –– ihr Ruf an Universitäten  50 –– und das Say’sche Gesetz  54 ff. –– und die offene Wirtschaft der Nachkriegszeit  136 ff. –– und Inflation  181 –– versus klassische Theorie  29–37 –– zu Arbeitslosigkeit  37 –– zu nichteuklidischen Prinzipien  37 Angebot und Nachfrage (siehe aggregierte Nachfragefunktion, aggregierte Angebots­ funktion) Angebotskurve nach Marshall  82 angebotsseitige Unvollkommenheiten 35, 195 f., 209 angewandte Ökonomie, Trennung von Eigentum und Kontrolle  100 Anm. 12 „animal spirits“ (spontane Regungen) der Unternehmer –– und die Sonnenfleckentheorie  128 –– und Investitionsausgaben  74–77 Antikommunismus und das Scheitern der keynesianischen Lehre (Siehe auch McCarthyÄra)  30, 190, 200 f.

Arbeitsbedingungen und Gesetz des komparativen Vorteils  151, 155 Arbeitslosigkeit –– als Folge des Laissez-faire  21 f., 25 –– aus Sicht der klassischen Ökonomie  33 f., 35 –– internationale Arbeitslosenquoten  138 f. –– Liquidität als Versicherung gegen  32 –– natürliche Arbeitslosenquote  187 –– und das Axiom der Neutralität des Geldes  90 –– und das offene Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit  135 f., 138 f. –– und die neoklassisch-keynesianische Synthese 31 –– und Effizienzlöhne  178 f. –– und Einkommenspolitik  185–189 –– und feste Löhne  195 f. –– und flexible Löhne  51, 66 –– Ursachen laut Keynes’ Allgemeiner Theorie 37 –– während der 1920er Jahre in Großbritannien  22, 25 Arrow, K. J. 31, 42, 52, 64, 89, 95, 102, 123 Asienkrise 174 Ausbeuterbetriebe und Gesetz des komparativen Vorteils  151 Axiom der Ergodizität  43–47 –– aus Sicht Samuelsons  75 –– Keynes’ Zurückweisung des  45 f. –– und das IS/LM-Modell  208 –– und das Say’sche Gesetz  54 –– und die externe Realität  126 –– und Wahrscheinlichkeitsrisiken  126 Axiom der Neutralität des Geldes –– Ablehnung durch Keynes  39 f. –– aus Sicht Samuelsons  205–207 –– und das Say’sche Gesetz  54 –– und die klassische Theorie  38 f. –– und die Sonnenfleckentheorie  129

Sachwortverzeichnis

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–– und Inflation  181 Axiom der Substituierbarkeit –– aus Sicht Samuelsons  203, 205 f. –– Keynes’s Ablehnung des  42, 65 –– und das Say’sche Gesetz  54 –– und die neolassisch-keynesianische Synthese 205 Axiome in der ökonomischen Theorie  38

China 99 f., 110 Anm.  29, 124, 138, 149, 152, 162, 186, 188, 197 Churchill, Winston  11 –– und der Goldstandard  26 Colander, David  200 ff., 210 Anm. 59 Coming of Keynesianism to America  200 Cowles Commission for Economic Research  192

Baker, James  160 Bancor 141 Bankenregulierung  174, 213, 215 Banking Policy and the Price Level  27 Bayes, Satz von  130 Bear Stearns  219 Bell, Vanessa  21 Bernanke, Ben  159 Bernstein, Peter L.  108 f., 112 Beschäftigung (siehe Vollbeschäftigung, Arbeitslosigkeit) Beschäftigungsfunktion (Keynes) 57, 204 Anm. 42 Blanchard, Oliver  39 f., 89, 129 Anm. 29 Börsenkrach von 1929  31, 214 Bourbakische mathematische Schule  190 ff. Bretton-Woods-Abkommen –– Keynes’ Teilnahme an  19, 143 –– und das internationale Zahlungssystem/ Freihandel 167–171 –– und die „Devisenknappheitsklausel“  169 Anm. 5 –– und Marktliberalisierung  143 –– und Währungsreform  109 Brock, W. A.  210 Anm. 59 Bruttoinlandsprodukt (BIP)  83 ff., 110, 151, 166, 170, 177 Bryce, Robert  201 f., 205 Buchführung im Internationalen Zahlungssystem 172 Buckley, William F.  200 Bush, George W.  12, 153, 156 Anm. 9, 162

Debreu, Gérard (siehe auch Gleichgewichtsmodell nach Walras, Arrow und Debreu) 31, 48, 52, 102, 116 Anm. 46, 123, 191 ff., 197, 209 Defizitpolitik  12, 80 f. Deregulierung der Banken  215 f. deterministische Wirtschaftstheorie  44 –– Chaostheorie   123 f. Deutschland, Bankenrettung  220 Dunlop, J.  51, 203 dynamische, stochastische allgemeine Gleichgewichtsmodelle (DSGE-Modelle)  191

„Cambridge Circus“  35 Anm. 10 Cambridge University, Keynes’ Vorlesungen an  17, 200 f. CDOs (forderungsbesicherte Schuldverschreibungen) 215 Chartalismus 91

Economic Journal, The  18 effektive Nachfrage 13, 51, 53, 55, 77–88, 99, 135, 153, 165, 172, 177 f., 186 f., 203 ff. Effizienzlöhne und der IMCU  177 ff. Effizienzmarkttheorie 106 Eichengreen, Tobin und Wyplosz  114 Eigeninteresse  14, 33, 105, 114, 186 Einkommen –– Einfluss der staatlichen Fiskalpolitik  79 ff. –– Einkommensinflation  182 f., 185 –– Hypothese des permanenten Einkommens  68 f. –– und das Say’sche Gesetz  53 –– und die aggregierte Nachfragefunktion  72–78 –– und die Handelsbilanz  136 –– und die Herleitung der aggregierten Nachfrage- und Angebotsfunktionen  82–88 –– und die offenen Weltwirtschaft der Nachkriegszeit 134–137 –– und Währungsabwertung  158, 178 einkommensabhängiger Konsum  53 Einkommensinflation aus Sicht von Keynes  182 Einkommenspolitik  185 ff.

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Sachwortverzeichnis

einkommensunabhängige Ausgaben (D2) 73 einseitige Transferzahlungen  161 Einstein, Albert  40 f. Einzelhandelsgeschäfte 94 Elementarer Vertrag (Definition)  93 f. Entscheidungsfindungsprozess  18, 125 Entwicklungsländer –– ihr Wachstum und das internationale Zahlungssystem  110 f., 166, 168 –– Kapitalstrom in  145 f. –– und internationale Märkte  198 f. Entwicklungsökonomie 12 Ergodische Wahrscheinlichkeitsmodelle und essentielle Entscheidunge  129 ff. Ersparnisse –– alternative Definition Friedmans  68–71 –– Entscheidungsprozess  61, 63 –– und das Axiom der Ergodizität  67 –– und das Axiom der Substituierbarkeit  66 –– und das Say’sche Gesetz  54 –– und die aggregierte Nachfragefunktion  62 –– und Investitionsausgaben  137 –– und liquide Mittel  46 Erster Irakkrieg  156 Anm. 9, 162, 184 Erster Weltkrieg und Folgen für Keynes’ ökonomische Theorien  17 ff. Essentielle Entscheidungen (crucial choice)  129 ff. Europäische Union  49 Europäische Zentralbank  49 exogene Investitionsausgaben  79, 84 ff. Exporte –– und das internationale Zahlungssystem  170, 177 –– und der internationale Handel 136  ff., 145 ff. –– und „exzessive“ Überschüsse  176 f. –– und Währungsabwertung  156–160 externe Realität  116 ff. Federal Reserve (USA) –– Goldreserven  170 f. –– und der Glass-Steagall Act  214 f. –– und der Oktober 2008  213 f. feste Löhne und Arbeitslosigkeit  195 ff. Finanzmärkte –– aus Sicht von Keynes  108

–– Regeln  146 f., 222 ff. –– und Keynes’ Liquiditätstheorie 100  f., 111 ff. –– Zusammenbruch  106, 213, 219, 221 f. Finanzminister, Keynes als Gesandter des  135 Finanztransaktionssteuer  173 f. Fisher, Irving  31 f. Fiskalpolitik  79, 81, 134, 145, 147, 165, 172 Fluchtkapital und der internationale Handel  146 Anm. 3, 172 Freihandel  145, 147–156, 166 f., 186 Friedman, Milton  68 ff., 75 f., 118, 120, 199 Funk, Walter  140 f. Funk-Plan, Keynes’ Haltung zu  140 funktionale Finanzpolitik  79 f. Galbraith, John K.  79 Anm. 12, 80, 185 Gebrauchsgüter  63 ff., 79 f. Geldmengentheorie 26 Geldschöpfung 103 Geldverträge  89 ff., 102 ff. Geldwert und Ableitung der aggregierten Angebots- und Nachfragefunktion  83 geordnete Finanzmärkte  216 ff. geschlossene Volkswirtschaften  135 f. Gesellschaft im Überfluss (Galbraith)  79 f. gesellschaftliche Steuerung der Investitio­nen  81 Glass-Steagall Act  214 f., 224 Gläubigerländer (siehe auch Überschussländer)  141 ff. –– und das internationale Clearingsystem  171 ff. –– und der internationale Handel  167 ff. Gleichgewichtsmodell nach Walras, Arrow und Debreu –– aus Sicht Samuelsons  203 f. –– und bourbakische Philosophie  192 f. –– und die Theorien der unveränderlichen Realität  118 f. Glickman, M.  107 God and Man at Yale  200 Goldman Sachs  221 Goldstandard, Keynes’ Haltung zum  25 f. Grant, Duncan  21 Greenspan, Alan  106, 213 ff. Greer, W.  14 Anm. 8, 18 Anm. 6

Sachwortverzeichnis Grenzprodukt der Arbeit und die Herleitung der aggregierten Angebots- und Nachfragefunktionen 82 Grenzproduktionskosten und die Herleitung der aggregierten Angebots- und Nach­ fragefunktionen 82 Große Depression (siehe Weltwirtschaftskrise)  31, 213 Hahn, F. H. 42, 64 Anm.  28, 65 f., 89, 95 Anm. 9, 101, 104, 132, 193 Handelsbilanz  24, 136 ff., 145, 156 ff., 165, 167 ff. Harrod, Roy  11 Anm. 2, 13 ff., 17 ff., 21, 25, 28, 55 Hawtrey, Ralph  35 Hayek, Friedrich  34 ff., 202 Hicks, John  44, 48, 58 Anm.  22, 117, 126, 197, 207 f., 210 Anm. 59 Hitler, Adolf  11, 140 Hitlers Plan für eine neue Wirtschaftsordnung  140 f. Home Owners’ Loan Corporation (HOLC)  225 Hoover, Herbert, und seine Wirtschaftspolitik 32 How Economics Became  a Mathematical Science 191 How to Pay for the War  135 Hume, David  181 Hypotheken  213 ff. hypothekenbesicherte Wertpapiere (MBS)  214 ff. Hypothekenkrise  213, 220 Anm. 5 Ignoratio Elenchi  37, 204 illiquide Mittel  63, 98, 108, 214, 219, 221, 223 Immobilienblase  214 f. Importe 136, 138, 142, 145, 147, 156 ff., 165, 168 f., 177 India Office  11, 17 f. Inflation  27, 30 f., 137, 145, 158, 165, 166, 177 f., 181 ff., 208 „Intelligent Design“ versus Evolutionstheorie 41 International Money Clearing Unit (IMCU)  173 ff., 223 f.

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Internationale Clearingagentur  173 Anm. 11, 176 Internationale Clearingunion, Bestimmungen  173–180 internationaler Handel  145 ff., 155, 158, 162, 210 Internationaler Währungsfonds (IWF) 109, 143, 168 f., 174 internationales Zahlungssystem 19, 135, 142–145, 171–180 Investitionsausgaben  73–78, 83 ff., 103, 137, 195 Investmentbanken  214 ff., 221, 224 IS/LM-Modell  197, 207 ff. J. P. Morgan Chase  219 J-Kurve der Währungsabwertung  159 Johnson, Harry  145 Anm. 2 „Just-in-Time“-Methode der Bestandskontrolle 96 Kahn, Richard  35 Anm. 10 Kapitalströme im internationalen Handel  109, 115, 145 f., 173 Kapitalverkehrsbilanz 175 Kapitalverkehrskontrollen  115, 140, 166, 173, 180 Kartelle und das Gesetz des komparativen Vorteils  152, 186 Kassageschäfte, elementare  93 Kassakurse 220 Kassamärkte  100, 106 Kaufkraft, Geldverträge und  60 ff., 91 f., 97, 99 ff., 112, 172, 177 f. Keynes, John Maynard –– Ablehnung seiner Theorien  12 f. –– Erbe 30 –– „gesellschaftliche Steuerung der Investitionen“ 81 –– gesundheitliche Probleme  134 –– intellektuelle Entwicklung  15 f. –– junge Jahre  13 f. –– Kritik an der klassischen Theorie 34 ff., 39 ff., 50 ff. –– Liquiditätspräferenztheorie  20, 62 ff., 99, 107 f., 196, 205, 216, 218, 220 f. –– Tod 143 Kirman, Alan  210 Anm. 59, 211

238

Sachwortverzeichnis

Knight, Frank  117, 122 f., 209 Kommunikationskosten  152, 156, 188 Kommunismus –– und das Scheitern der keynesianischen Theorie  30, 190, 200 f. –– und der Marshallplan  169 komparativer Vorteil, Gesetz des  145–155 Konjunkturzyklus  128, 163 Konsum  53, 59 ff., 68 ff. –– und Steuern/Staatsausgaben  79 f. –– und Steuersenkungen  42 Konsumneigung  61 ff., 69, 79, 83, 85 ff., 99 Konsumtheorie des permanenten Einkommens  68 ff. Kreditvergabe und Wertpapieremission  215 Kriegsdienstverweigerung im Ersten Weltkrieg, Keynes’ Haltung  19 Krugman, Paul  214 Kunst, Keynes’ Interesse an  21 Laissez-faire-Theorie  12, 14, 24 ff., 33, 57, 78, 93, 102, 139, 141, 151, 168, 171, 186, 195, 198 Landreth, H.  200 ff. langfristige Kaufkraft und der IMCU  177 f. langfristige Liquidität –– bei Keynes  69 –– und das Ordnungsaxiom  124 ff. Lebenszyklustheorie 58 Anm.  20, 206 Anm. 46 Lehman Brothers  221 Leid, Rolle des Staates aus der Sicht Keynes’  25 Leistungsbilanz (Definition)  161 Lerner, A. P.  79, 82, 158 f., 162 Liberal Party, Unterstützung für Keynes’ ökonomische Theorie  25 Liberalisierung der Märkte  47, 109, 147, 199 Liberalismus als Mittelweg bei Keynes  24–28 liquide Mittel (Definition)  63 „Liquiditätsfalle“  52 Anm. 6, 195 f., 209 Liquiditätspräferenztheorie  64, 99, 105, 107 f. Liquiditätsreserve, überhöhte  176 Lloyd George, David  18, 20, 25 Logik –– Rolle in der „Allgemeinen Theorie“  37 –– Rolle in der Ökonomie  29, 35, 192 Lucas, Robert  46 f., 116, 130 f.

Makroökonomie –– und das Axiom der Neutralität des Geldes  39 –– und das IS/LM-Modell  207 f. –– und Keynes’ „Allgemeine Theorie“  51 Mankiw, N. Greg  120, 153, 155, 196, 199, 206 Markteffizienztheorie  105 ff., 115, 213 Marktpfleger –– Preismanagement  216 f. –– Zugang zur Zentralbank  219 Marktrahmendaten 216 Marktversagen und Illiquidität  216, 221 f. Marktwirtschaft –– Beschäftigung und Output  41 –– Liquidität als Sicherheit  93 –– und das Axiom der Neutralität des Geldes  35 Marshall, Alfred  15, 17 f., 55 ff., 82 f., 182 Marshall-Lerner-Bedingung 158 f., 162, 165 Marshallplan  20, 164–170 Marx, Karl  29, 186 Mathematik –– und die Makroökonomie  193 –– und die ökonomische Theorie  190 ff. McCarthy-Ära, Scheitern der keynesianischen Lehre und  30, 190, 200 f. McKenna, Reginald  18 Meade, James  35 Anm. 10, 48 Mellon, Andrew  32 f. Merrill Lynch  221 mikroökonomisches Gleichgewicht –– und Angebot und Nachfrage  86 –– und das IS/LM-Modell  207 f. –– und Lohnrigidität  55 f. Mill, John Stuart  53 monetäre Produktionstheorie  39 f., 47 monetaristische Einkommenspolitik  189 Monopolgrad und Herleitung der Angebotsund Nachfragefunktionen  82 Moore, G. E.  15 f., 54 Morgenthau, Henry  142 f. multinationale Konzerne und das Gesetz des komparativen Vorteils  150 ff. Multiplikatoreffekt und die Herleitung der Angebots- und Nachfragefunktionen  84 My Early Beliefs  15

Sachwortverzeichnis Nachfragefunktion  53 ff., 72 ff., 82 ff. nachfragegesteuertes Wachstum (und das Gesetz des komparativen Vorteils)  153 Nachfragekurve nach Marshall  83 Nachfrageüberschusskurve 87 nationale Bankenregulierung  174 neoklassisch-keynesianische Synthese  197 ff. Nettoinvestitionseinkommen (Definition)  161 Neuer Keynesianismus  117, 124, 196 New York Times  214 Newton, Isaac  41, 116 nichtergodische Ungewissheit 46, 77, 101, 126, 181 nichteuklidische Geometrie 37, 41, 48, 66, 74 nichtprobabilistisches Wirtschaftsmodell und Axiom der Ergodizität  126 Niebuhr, Reinhold  133 Nixon, Richard M.  109 Anm. 27, 190 Nutzenmaximierung  18, 54, 58 f. offenes Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit  134 ff. öffentliche Finanzmärkte  222 ff. Ökonomische Chaostheorie  117, 123 Ölkrisen  171, 184 Ölreserve 184 Ordnungsaxiom  44, 124 ff., 131 Anm. 97 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)  110 f., 166, 188, 198 f. Österreichische Schule  117, 124, 130, 202 Outsourcing von Arbeitsplätzen 152–156, 188, 211 Paish, George  18 Postkeynesianische Theorie 27, 40, 102 f., 117, 200, 205 ff. post-walrasianische Ökonomie 117, 120 ff., 129, 191, 210 ff. Preisstabilität  26 f., 36, 115, 133, 166 „Price Talks“  221 Principia Ethica  15, 54 private Finanzmärkte  222 ff. Produktion auf Bestellung  94 Produktion für den Markt  94 Produktionselastizität  64 f. Produktionskosten 26, 92, 95  f., 150  ff., 177 ff., 182 f., 185

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Produktivität 100, 109  ff., 147  f., 152  ff., 177 f., 185, 188 f., 199 Räumliche Statistiken  43 Reagan, Ronald  12, 118 regionale Währungsunion  174 Reparationszahlungen  20 f., 168 Reservationsnachfrage 183 Reserven (im internationalen Clearingsystem)  172 ff., 176, 180 Resolution Trust Corporation (RTC)  220 Rezessionen und Währungsabwertung 138, 141 f. Ricardo, David  29 f., 33, 148 ff. Riemannsche Geometrie und Keynes’ Allgemeine Theorie  41 Risikomanagement auf Finanzmärkten  108 f. Robertson, Dennis H.  27 f., 34, 56 Robinson, Austin  194, 35 Anm. 10 Robinson, Joan  30 Anm. 3, 35 Anm. 10 roboterhafte Unternehmer  130 Rüstungsausgaben und Steuern  134 f. Samuelson, Paul  30, 48, 75 f., 116, 128, 194, 197–207, 209 f. Sargent, T.  116 Anm. 46, 121, 130 f. Savage, L.  117, 124 ff. Savings-and-Loan-Krise 220 Say’sches Gesetz –– Keynes’ Haltung zum  53–56  –– und das Axiom der Ergodizität  54 –– und das Axiom der Neutralität des Geldes 54 –– und die aggregierte Marktnachfrage  154 –– und die aggregierte Nachfragefunktion  55 f. Schacht, Hjalmar  140 f. Schattenbankensystem 215 Schmuggel und das internationale Clearingsystem  173 Anm. 11 schnelle Ausstiegsstrategie auf Finanzmärkten  108, 112 ff. Schock, Angebots- oder Nachfrage-  129 Schuldenerlass, Keynes über  20 Schuldenlast  20, 179 Anm. 18, 109, 166, 176 Anm. 13 Schuldnerländer  141 ff., 145, 167 ff., 176, 179 Schuldpapiere mit langer Laufzeit  217, 223

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Sachwortverzeichnis

Schumpeter’scher Unternehmer und essentielle Entscheidungen  129 ff. Schwellenländer, Exporte und  138 Securities Act  222 Securities and Exchange Commission (SEC)  222 Shackle, G. L. S.  117, 126 Anm. 76, 129 ff. Shaw, George Bernard, Keynes’ Korrespondenz mit  29 Shiller, R. J.  106 Skidelsky, Robert –– zu Keynes’ Gesundheit  134 –– zu Keynes’ jungen Jahren  14 –– zu Keynes’ Mittelweg  24 f. –– zum Funk-Plan  140 –– zur Genese von Keynes’ Allgemeiner Theorie 30 Sklaverei 134 Smith, Adam  24, 33, 148, 153 –– zur Rolle des Marktes  33 Snow, John  138 Anm. 17 Solow, Robert  127, 209 Sozialdarwinismus und die klassische Theorie  34, 41, 119 soziales Sicherheitsnetz und Einkommenspolitik 196 Sozialismus, Keynes’ Ablehnung des  81 Spekulationsblasen 106–108 spekulative Produktion (Definition)  94 Sraffa, Piero  35 Anm. 10 starre Löhne aus keynesianischer Sicht  35 f., 48, 51 starrer Zinssatz aus Sicht von Keynes  52 „Statistischer Schatten“ und das Axiom der Ergodizität 43 steuerbasierte Einkommenspolitik  27, 188 f. Steuererleichterungen und Vollbeschäftigung  156 Anm. 9 Stiglitz, Joseph  112 Anm. 33, 113, 208 stochastischer Prozess und das Axiom der Ergodizität 43 Strachey, Lytton  17, 21 subjektive Wahrscheinlichkeiten und die Theorie der rationalen Erwartungen  107, 118, 120 f., 128, 131 Substitutionselastizität und liquide Mittel  64 ff. Summers, Lawrence  105

Tarshis, Lori  200 f., 203, 205, 210 Termingeschäfte  93, 95 f., 102, 104 Terminmärkte  96, 116, 182, 185, 207 Terminpreise und Inflation  182 f. Thatcher, Margaret  186 The Nation, Keynes’ Artikel für  27 Theorie der rationalen Erwartungen  44, 46, ff., 117–129, 131, 199, 208, 67, 105  217 Theorie der unveränderlichen Realität  116 ff. Tinbergens ökonometrischer Ansatz, Kritik Keynes’ an  127, 211 Tobin, James  48, 113 ff. toxische Wertpapiere  220 Traktat über Währungsreform  26 Transaktionskosten und essentielle Entscheidungen 132 Transportkosten und Gesetz des kompara­ tiven Vorteils  154 Troubled Asset Relief Program (TARP)  220 Über Wahrscheinlichkeit  18 Überschussländer  171, 175 f., 179 f. Überziehungskredite (IMCU)  175 Uchitelle, L.  151 Anm. 6, 155 Ungewissheit der Zukunft  18, 44 f., 67, 74, 77, 89, 92, 101, 116, 122–129, 159, 167, 181, 194, 218 „unsichtbare Hand“ (siehe auch Freihandel)  24, 33, 48, 186, 201 unveränderliche Realität, Theorien der –– Chaostheorie 123 –– Österreichische Schule  124 –– Philosophie Bourbakis  191 ff. –– Sonnenfleckentheorie  128 f. –– Wert-Erwartungstheorie  124 ff. Vereinigte Staaten –– Börsenkrach von 1929  31, 214 –– Exportüberschuss 168 –– Hypothekenkrise 220 –– internationale Kredite  168 f. –– internationale Zahlungsbilanz  161 f., 170 f. –– Kongress  143, 160, 168 f., 214 f., 223 f. –– Politik im Zweiten Weltkrieg  142 f. –– Wirtschaftswachstum 162 Versailler Vertrag  19 f., 24 Verschuldung  80, 157

Sachwortverzeichnis Versicherungskosten in der Theorie der unveränderlichen Realität  123 Verträge (siehe auch Geldverträge)  89 ff., 102 ff. Volcker, Paul  215 Vollbeschäftigung –– und das Gesetz des komparativen Vorteils  154 ff. –– und die neoklassisch-keynesianische Synthese  196 f., 199 –– und die ökonomische Theorie  11, 34–37, 39, 51 ff., 167, 225 f. –– und Einkommenspolitik  80 –– und Steuererleichterungen  80 f. völlig liquide Mittel (Definition)  98 Vom Gelde  27 f., 35, 91, 182 vorprogrammierte externe Realität  116 vorübergehendes Einkommen  68 ff. Waffenstillstand vom November 1918  20 Wahrscheinlichkeitsrisiken und wirtschaftliche Entscheidungen  44, 120, 123 Wahrscheinlichkeitstheorie –– Keynes’ Arbeiten zur  18, 45 –– und die Finanzmärkte  108 Währungsreform  25 f., 144, 167 ff. „War and the Financial System, August 1914“ (Essay) 18 Wechselkurse –– Abwertung und Handelsbilanz  138 f. –– Auswirkungen von Bretton Woods und Marshallplan  109, 164 ff. –– und der IMCU  175 ff. –– und der internationale Handel  145 f. „Wein und Stoff“-Beispiel, Gesetz des komparativen Vorteils  150 Weintraub, E. Roy  191 ff. Weintraub, Sidney  188 f. Weltbank  168 f. weltweite Finanzmärkte  100 f., 105–116, 173, 213, 222 ff. Weltwirtschaft –– und das internationale Zahlungssystem  171 –– und das Nachkriegssystem von Keynes  140 –– und Einkommenspolitik  189 –– und Keynes’ Allgemeinen Theorie  137

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Weltwirtschaftskrise  28 f., 32, 109, 186, 189, 211 ff. Wert-Erwartungstheorie  117, 124 f. Wertpapiermarkt  108, 222 Wertspeicher, Geld als  26, 91, 97, 99 ff., 112, 173, 197, 207 White, Harry Dexter  142 f., 168 f. „white noise“ (Hintergrundrauschen) 105, 217, 220 Wider die Götter (Bernstein)  108 Wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, Die  19, 21 f., 24 Wirtschaftswachstum –– in der Nachkriegszeit  166 –– und Adam Smith  24, 148 –– und das Abkommen von Bretton Woods/ der Marshallplan  164 ff. –– und Exporte  137 f. –– Vergleich China/USA  99 f. Wissenschaft –– und die externe Realität in der Ökonomie  191 ff. –– und die Herleitung der aggregierten Angebots- und Nachfragefunktionen  84 f. –– und ökonomische Theorie 12, 37, 46 f., 127 f., 130, 190 –– und Zivilisation  13 Wohlfahrtsstaat und Arbeitslosigkeit  196 Wohlstand der Nationen  33 Wohlstand der Nationen, Handel und  138 f., 145 f., 147 f., 152 f. Woolf, Virginia  21 Zahlungsbilanz –– und internationale Märkte  170 f. –– und offene Volkswirtschaften der Nachkriegszeit  135, 141, 143 –– Verantwortung des Überschusslandes für  167, 175 Zauberei als Metapher für ökonomische Theorien  38, 47, 57 f., 211 zeitliche Statistiken und das Axiom der Ergodizität 43 Zeitmaschine für Liquidität, Geldverträge als  92, 97 Zeitmaschinen –– auf Finanzmärkten  63 –– und Geldverträge  92, 97

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Sachwortverzeichnis

Zeitpräferenz und aggregierte Nachfragefunk­ tion  61 f., 73 Zentralbanken  6, 26, 49, 97 f., 141, 147, 164, 170–175, 178, 181, 187, 212, 219 Zinsen in der Nachkriegszeit  164 Zivilisation und Ökonomie  13, 21 f., 189

Zivilvertragsrecht und Geldverträge  91 f. zukünftige Marktnachfrage und Investitionsausgaben  74 f., 77 Zweiter Weltkrieg, Keynes zur Finanzierung  134 f.

Die Lehren von John Maynard Keynes, einem der einflussreichsten Wirtschaftstheoretiker aller Zeiten, galten lange Zeit als überholt, bevor sie im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 / 2009 eine Wiedergeburt erlebten. Der vorliegende Band bietet eine höchst aufschlussreiche Einführung in Leben und Werk des großen Nationalökonomen. Paul Davidson beschreibt darin Keynes’ Wandlung vom orthodoxen Ökonomen zum innovativen Denker, der, angesichts der wirtschaftlichen Realität während des ersten Weltkriegs und in den Jahren danach, einen alternativen Ansatz zur klassischen Wirtschaftstheorie entwickelte. Keynes’ „Allgemeine Theorie“, entstanden unter dem Eindruck der Großen Depression, erschien 1936 und revolutionierte die Nationalökonomie. Davidson zeigt auf, welchen großen Einfluss Keynes’ Werk auf seine Disziplin hatte und warum seine Lehren heute aktueller denn je sind.