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German Pages 306 Year 2017
Andreas Fickers, Rüdiger Haude, Stefan Krebs, Werner Tschacher (Hg.) Jeux sans Frontières? – Grenzgänge der Geschichtswissenschaft
Histoire | Band 125
Andreas Fickers, Rüdiger Haude, Stefan Krebs, Werner Tschacher (Hg.)
Jeux sans Frontières? – Grenzgänge der Geschichtswissenschaft
Festschrift für Armin Heinen Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung
Andreas Fickers, Rüdiger Haude, Stefan Krebs und Werner Tschacher | 11
G RENZEN DER ERZÄHLUNG Entre vérité et dire du vrai Ein geschichtstheoretischer Grenzgang
Andreas Fickers | 29 Das Kartenspiel Unterwegs zu einer grenztranszendierenden ›euregionalen‹ Identität?
Rüdiger Haude | 41 »Glanz und Elend der Kunstkopf-Stereophonie« Eine technik- und medienarchäologische Ausgrabung
Stefan Krebs | 57 Über Grenzen unterrichten Elsass-Lothringen in deutschen und französischen Geschichtsbüchern 2000 bis 2016
Bärbel Kuhn | 71 Ellenbogs Bücher, oder: Wie man eine Bibliothek auch benutzen kann
Harald Müller | 85 Raum und Grenze des Jungle von Calais Eine politisch-geographische Skizze
Thomas Müller | 95
G RENZE ALS RAUM Algeriens Guerillakrieg und die deutsch-französische Grenze (1954-1962)
Jean-Paul Cahn | 111 Grenzerfahrungen – eine Erinnerungsrevolution Oder: Vom Speichergedächtnis zum kulturellen Gedächtnis
Rainer Hudemann | 131 ›Populär-Musik-Transfer‹ Überlegungen zu einer Geschichte deutsch-französischer Musikverflechtungen nach dem Zweiten Weltkrieg
Dietmar Hüser | 143 Grenzen überschreiten durch den historischen Vergleich
Hartmut Kaelble | 157 The transnational origins of Dutch miners’ unionism A differential history, 1907-1926
Ad Knotter | 161 Multiple oder rhizomatische Identitäten Dora d’Istria zwischen nationalen Vereinnahmungen und den Grenzziehungen des Selbst
Hans-Christian Maner | 173 Zwischen Osmanen und Österreichern Temeswarer Banat – ein europäisches Experiment des 18. Jahrhunderts
Victor Neumann | 187 Alles nur Theater? Über die Selbst(er)findung der Rolle des Europäischen Abgeordneten
Ines Soldwisch | 197
G RENZGÄNGE(R) UND G RENZZIEHUNGEN Der Major, die Partisanen und die Frage der Gewalt
Daniel Brewing | 209 Bilder als Grenzerfahrung Visuelle Darstellung der sogenannten ›Contergan-Kinder‹ in den 1960er Jahren
Anne Helen Crumbach | 221 Grenzüberschreitungen: Denken in die Zukunft Vision und Dystopie des Internets
Martina Heßler | 235 Hannah Arendts Frage nach dem Bösen
Helmut König | 247 Vom ›Kampf des deutschen Menschen‹ zur ›Deutschen Daseinsverfehlung‹ Ernst Niekischs Geschichtsnarrative
Sascha Penshorn | 259 Vergnügen im Grenzbereich Spielzeug als Erziehungsmittel in ausgewählten pädagogischen Ratgebern der Aufklärung
Anika Schleinzer | 271 Von der Gotteslästerung zur Störung des öffentlichen Friedens Grenzverschiebungen in der Geschichte der Blasphemiegesetzgebung
Werner Tschacher | 285
Autorinnen und Autoren | 297
Vorwort
Am 19. November 2017 feiert Armin Heinen seinen 65. Geburtstag. Herzlich gratulieren wir aus diesem Anlass unserem akademischen Lehrer und Kollegen mit dem vorliegenden Band. Wir hoffen, mit dem inhaltlichen Konzept dieser Festschrift die vielfältigen Anregungen, die Armin Heinen uns auf unseren Wegen als Wissenschaftler mitgegeben hat, angemessen widerzuspiegeln. Nicht weniger herzlich wollen wir uns bei den Autorinnen und Autoren bedanken, die sich im Rahmen des Leitthemas »Jeux sans frontières« mit Ergebnissen ihrer jeweiligen Forscherneugier an der Festschrift beteiligt haben. Für uns Herausgeber war es eine besondere Freude, bestätigt zu finden, dass die Beitragenden sich Armin Heinen in hohem Maße verbunden fühlen und, nicht zuletzt durch Einhaltung der am Ende recht sportlichen Zeitvorgaben, unsere Arbeit an dem Band zu einem Vergnügen machten. Für das Lektorat des englischsprachigen Beitrags danken wir Sarah Cooper. Dem transcript Verlag sind wir für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Produktion des Buchs zu Dank verpflichtet. Nicht zuletzt danken wir dem Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History, welches das Erscheinen dieses Bandes möglich gemacht hat. Aachen, Luxemburg u. Köln, im September 2017 Die Herausgeber
Einleitung A NDREAS F ICKERS , R ÜDIGER H AUDE , S TEFAN K REBS UND W ERNER T SCHACHER »Das Spiel lässt sich nicht verneinen. Nahezu alles Abstrakte kann man leugnen: Recht, Schönheit, Wahrheit, Güte, Geist, Gott. Den Ernst kann man leugnen, das Spiel nicht. Mit dem Spiel aber erkennt man, ob man will oder nicht, den Geist«.1 JOHAN HUIZINGA
»Zwischen Grenzen erfahren und Grenzen überschreiten kann ein ganzes Leben liegen«, so sinnierte der deutsche Aphoristiker Alexander Saheb in seinem Buch Gedankenzoo aus dem Jahre 2001.2 Dass es nicht immer so lange dauern muss, dafür liefert der durch diesen Band zu Ehrende einen guten Beleg. Armin Heinen als einen Grenzgänger zu bezeichnen, der sein akademisches Leben der Erkundung von Grenzen verschrieben hat, scheint uns eine angebrachte Charakterisierung, die sowohl sein Werk wie sein Denken umfasst. Schon die Kombination seiner Studienfächer an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main – Geschichte, Politische Wissenschaften und Mathematik – zeugen von einem breiten wissenschaftlichen Interesse, welches sich im Laufe der akademischen Karriere in einer großen Palette von Forschungsthemen und Projekten wiederspiegeln sollte. Bereits in der Doktorarbeit über die rumänische Legion
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Huizinga, Johann: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 242015, S. 11. Saheb, Alexander: Gedankenzoo, Dahn: Eigenverlag 2001.
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»Erzengel Michael« als faschistische Bewegung,3 mit der er 1984 an der Universität Trier bei Prof. Wolfgang Schieder promoviert wurde, treten zwei Themenfelder hervor, welche ihn in seiner beruflichen Laufbahn ständig begleiten sollten: zum einen die Frage nach den Bedingungen und Auswirkungen von Gewalt im Kontext von Faschismus und Krieg; zum anderen ein Interesse an der rumänischen und im weiteren Sinne zentral- und osteuropäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Problem des historischen Verständnisses von Gewalt – sei es im Kontext des Holocaust,4 der Todesstrafe5 oder allgemein im Rahmen autoritärer Herrschaft – zählt bis heute zu den grundlegendsten Fragestellungen historischer Sinnbildungsversuche, vor allem in der Zeitgeschichtsschreibung des age of extremes. Wie originell – und meist innovativ provokant – Heinens Thesen dabei sind, zeigt sich auch in seiner kürzlich publizierten selbstreflexiven Studie Wege in den Ersten Weltkrieg. Hier vertritt er die These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht als Resultat schlafwandlerischen Taumelns in eine prinzipiell abwendbare Katastrophe (Christopher Clarke), sondern als Ausdruck und Resultat moralisch begründeter Ehrvorstellungen zu deuten ist. Ehrverletzungen – sowohl der Standesehre als auch der nationalen Ehre – hätten eine »Kette von Ehrverpflichtungen« in Gang gesetzt, die letztlich die politischen Handlungsspielräume der entscheidenden Akteure maßgeblich bestimmten.6 Neben seinen Arbeiten zur Gewaltgeschichte und zur Geschichte Rumäniens durchzieht ein dritter Themenbereich Heinens Forschungsaktivitäten wie ein roter Faden: Spätestens seit seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München (1981 bis 1984), wo er als Projektmitarbeiter zur Geschichte der Säkularisation und Nationalgüterveräußerung im linksrheinischen Gebiet 1803-1813 forschte, entwickelt Heinen ein großes Interesse für die komplexe Geschichte von Grenzregionen. Diese ›Grenzgeschichten‹ vor allem bestimmen seine Forschungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, wo er ab 1989 als Hochschulassistent arbeitet und sich 1995 mit einer Studie zur Politik- und Wirtschaftsgeschichte des Saarlandes 1945-1955 3 4 5
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Heinen, Armin: Die Legion »Erzengel Michael« in Rumänien – soziale Bewegung und politische Organisation, München: Oldenbourg 1986. Heinen, Armin: Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München: Oldenbourg 2007. Heinen, Armin: »Das ›Neue Europa‹ und das ›Alte Amerika‹. Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, Frankreich und den USA und die Erfindung der zivilisatorischen Tradition Europas«, in: Themenportal Europäische Geschichte, www.euro pa.clio-online.de/essay/id/artikel-3313 vom 1.1.2006. Heinen, Armin: Wege in den Ersten Weltkrieg, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2016, hier S. 258.
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habilitiert.7 Die Grenzräume von Saarland, Lothringen und Luxembourg, sowie nach seiner Berufung zum Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an die RWTH Aachen im Jahre 1998 zunehmend auch die Euregio Maas-Rhein – also der Grenzraum zwischen Aachen, Maastricht und Lüttich – werden zu privilegierten Objekten zahlreicher überregionaler und transnationaler Forschungsprojekte und Publikationen.8 Es wäre unredlich, die intellektuelle Neugierde Armin Heinens auf jene thematischen Schwerpunkte reduzieren zu wollen. Nicht nur, weil er sich für zahlreiche andere Themen interessiert – sei es die Umweltgeschichte, 9 Kulturgeschichte der Technik,10 Fragen der historischen Repräsentation von Identitäten oder Räumen11 oder die Geschichte der europäischen Einigung – sondern vor allem, weil sein historisches Denken immer mit der Lust am Hypothetischen, dem Formulieren von provokanten Thesen und nicht zuletzt von der Freude am spielerischen Umgang mit Konzepten, Fragestellungen und dem Experimentieren mit neuen Methoden und Herangehensweisen geprägt ist. Dieser Mut zum intellektuellen Selbstversuch ist Ausdruck eines professionellen Selbstverständnisses des Historikers als geistigem Handwerker, dessen Tätigkeit sich als »hermeneutisches Herantasten« 12 an das ko-konstruierte epistemische Objekt (die ›Vergangenheit‹) begreifen lässt. ›Spielerisch‹ heißt, wenn wir Huizinga ernst nehmen, eben nicht: anything goes; sondern neugieriges Austesten und Ausweiten der Spielregeln – der Grenzen des Spiels. 7
Heinen, Armin: Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland 1945-1955, Stuttgart: Steiner 1996. 8 Beispielhaft seien hier genannt: Armin Heinen/Rainer Hudemann (Hg.), Das Saarland zwischen Frankreich, Deutschland und Europa, 1945-1957. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Saarbrücken: Komm. für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 2007; Armin Heinen et al. (Hg.), Grenz-Controle/Grens-Kontrolle. Aachen, Eupen, Maastricht – oral histories, Remscheid: Gardez! 2008. 9 Heinen, Armin: »Umweltgeschichte. Ein lexikalischer Versuch zur Geschichte der Neuzeit«, in: Horst Kranz/Ludwig Falkenstein (Hg.), Inquirens subtilia diversa. Dietrich Lohrmann zum 65. Geburtstag, Aachen: Shaker 2002, S. 515-536. 10 Heinen, Armin: »Technikkulturen der europäischen Moderne. Zeitmessung und soziale Zeit«, in: Lotte Kéry (Hg.), Eloquentia copiosus. Festschrift für Max Kerner zum 65. Geburtstag, Aachen: Thouet 2006, S. 335-350. 11 Heinen, Armin: »›Bessarabien‹ 2.0. Kognitive Kartierung einer walachisch-moldauisch-osmanisch-russisch-rumänisch-sowjetisch-autonomen Provinz in deutschen, englischsprachigen und rumänischen Lexika vom 18. Jahrhundert bis heute«, in: SüdostForschungen: internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas 71 (2012), S. 401-417. 12 Zum Begriff des »hermeneutischen Tastens« als experimentellem Erkenntnismodus siehe Olaf Breidbach et al. (Hg.), Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, München: Fink 2010, S. 18.
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Das Explizitmachen der subjektiven Eingebundenheit des Historikers in die Konstruktion von historischen Interpretationsangeboten und Sinnzuweisungen ist nicht nur Pflichtbestandteil der Heinen’schen Wissenschaftsprosa, sondern kennzeichnet auch sein geschichtspädagogisches Wirken als akademischer Lehrer und Professor. Dabei finden die notwendigen geschichtstheoretischen Reflektionen nie im ›luftleeren‹ Raum statt, sondern werden immer an die konkrete Praxis historischen Arbeitens in all seinen Phasen und Dimensionen rückgebunden. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Schriften, die sich mit dem Benutzen von Bibliotheken13 oder dem Einfluss von Hilfsmitteln und technischen Werkzeugen 14 sowie von Konzepten 15 auf die Geschichtsschreibung auseinandersetzen. Das Spielerische im Werk – oder gar die Verspieltheit des Autors (?) – lässt sich schon an den Titeln ablesen, die er einigen seiner Artikel angedichtet hat. So handelt etwa der Aufsatz mit dem verführerischen Titel »SABINE – Eine Schönheit im Werden« von den Freuden und Frustrationen, welche sich bei der Benutzung eines neuen Online Public Access Catalogues an der Universität des Saarlandes Mitte der 1990er Jahre ergaben;16 von den nihilistischen Gedanken eines Nietzsche inspiriert entsteht »Vom Nutzen und Nachteil der ›dienstbaren Leiche‹ für die Toten und die Lebenden: ein Ideenskelett«; 17 im Rausch des rheinischen Karnevals geschrieben dagegen »Jeckes Geschichten: Bewerbungs13 Heinen, Armin/Grund, Uwe: Wie benutze ich eine Bibliothek? Basiswissen – Strategien – Hilfsmittel, München: UTB 21996. 14 Heinen, Armin: »Mediaspektion der Historiographie. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft aus medien- und technikgeschichtlicher Perspektive«, in: Zeitenblicke, Online-Journal Geschichtswissenschaften 10 (2011), S. 1-43; Heinen, Armin: »Fragmente einer Geschichte der Historiographie als Exploration ihrer technisch-medialen Kultur«, in: Victor Spinei/Gheorghe Cliveti (Hg.), Historia sub specie aeternitas. In honorem magistri Alexandru Zubed, Brăila: Editura Istros a Muzeului Brăilei u.a. 2009, S. 95-116. 15 Heinen, Armin: »Technomorphie, Medialität und Geschichtlichkeit: Die »Wirklichkeiten« der HistorikerInnen – oder – ANT als neuer Zugang zur Historiographiegeschichte?«, in: Stefan Haas/Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-) konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Steiner 2015, S. 205-222. 16 Heinen, Armin/Müller, Matthias: »SABINE – Eine Schönheit im Werden. Mehr Durchblick bei der Nutzung des neuen Online Public Access Catalogues der Universität des Saarlandes«, in: Bibliotheksdienst 29 (1995), S. 2029-2033. 17 Heinen, Armin: »Vom Nutzen und Nachteil der ›dienstbaren Leiche‹ für die Toten und die Lebenden. Ein Ideenskelett”, in: Dominik Groß (Hg.), Objekt Leiche. Technisierung, Ökonomisierung und Inszenierung toter Körper, Frankfurt/M. u. New York: Campus 2010, S.429-451.
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gespräche für Helden, Harlekine, Könige, Prinzen«.18 Dass mit dem Tod und mit der Zeit des Karnevals zugleich zwei eminente Phänomene der »Liminalität« (Victor Turner), also der Grenzüberschreitung angesprochen sind, wird an dieser Stelle nicht mehr verwundern. Die Gegenwartsbezogenheit vieler von Heinens Fragestellungen ist ohne Zweifel Ausdruck des Bewusstseins, dass Geschichte neben der rein wissenschaftlichen Funktion immer auch als Orientierungswissenschaft für das Verständnis gegenwärtiger Problemlagen und Debatten gilt. Zahlreiche Beiträge zu Ringvorlesungen und Podiumsdiskussionen zeugen von der aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen Debatten und Diskussionen – so erst kürzlich geschehen mit einem Vortrag über »›Flüchtlinge‹ in Deutschland West und Ost, 1945-2016. Über ›Wellen‹ der ›Einwanderung‹ und die sprachliche Herstellung von Solidaritätsgrenzen« im Kontext der Ringvorlesung »Entwurzelt? Flucht, Vertreibung und Migration in Geschichte und Gegenwart« an der RWTH Aachen im Juni 2016. Die hier nur kursorisch angedeuteten Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete von Armin Heinen haben die Herausgeber dazu inspiriert, die Festschrift unter das Motto »Jeux sans frontières? Grenzgänge der Geschichtswissenschaft« zu stellen. Die im Titel zum Ausdruck kommende Anspielung auf die bekannte Fernsehunterhaltungsshow, die – übrigens auf Anregung de Gaulles – 1965 erstmals unter Beteiligung des italienischen Staatssenders RAI, des Westdeutschen Rundfunks und der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in Frankreich und Belgien (ORTF, RTBF und BRT) unter dem internationalen Titel »Jeux sans frontières« ausgestrahlt wurde,19 ist Programm: Schon in jener Show sollte der Anspruch einer Grenzenlosigkeit durch einen Wettbewerb nationaler Teams und überdies durch ›originelle‹, aber strikte Spielregeln eingelöst werden – eine höchst widersprüchliche Konstellation. Die in dieser Festschrift versammelten Beiträge setzen sich – teils in spielerischer Art und Weise, teils in wörtlichem Sinne – mit jenem ambivalenten und vielschichtigen Thema der ›Grenzen‹, genauer gesagt mit Phänomenen der Grenzüberschreitung oder Grenzziehung sowie der räumlichen Dimension von Geschichte in Grenzgebieten und entsprechenden Grenzerfahrungen der dort lebenden Bevölkerung auseinander. Es war nicht leicht, dieses Themenspektrum einzugrenzen!
18 Heinen, Armin: »Jeckes Geschichten: Bewerbungsgespräche für Helden, Harlekine, Könige, Prinzen«, in: Werner Pfeil/Fabian Müller-Lutz (Hg.), Weststadt statt Weltstadt. Aachens Grenzerlebnisse 1914-1929, Aachen: AKV Sammlung Crous 2014, S. 236-239. 19 In Deutschland und Österreich wurde die Sendung unter dem Titel »Spiel ohne Grenzen«, in Großbritannien unter »It’s a knockout« bekannt.
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Dennoch haben wir versucht, die Beiträge inhaltlich in drei übergreifende Fragestellungen bzw. Rahmenthemen einzuteilen: erstens Grenzen der Erzählung, zweitens Grenze als Raum, und drittens Grenzgänge(r) und Grenzziehungen. Alle drei Bereiche spiegeln sich auch im Werk von Armin Heinen wider. So hat er sich immer wieder mit Fragen der historischen Repräsentation und mit den Möglichkeiten, aber auch Grenzen unterschiedlicher narrativer Formen von Geschichtserzählungen beschäftigt. In der Einführung des von ihm herausgegebenen Themenheftes »Historizität, Materialität und Narrativität. Zum Zusammenhang von Technikkultur und Historiographiegeschichte« der Online-Zeitschrift Zeitenblicke formuliert er im Jahre 2011: »Der Geschichtswissenschaft sind also vielfache Grenzen gesetzt, Grenzen des Denk- und Sagbaren, Grenzen, die aus Personal- und Finanzausstattung resultieren, Grenzen, die aus den jeweiligen Sozialverhältnissen resultieren, aber auch Grenzen, die in Zusammenhang stehen mit dem sozio-technischen System einer Zeit.«20 Die Grenzen des Sagund Darstellbaren in der Geschichtswissenschaft hängen also nicht nur von den Gegenständen und Fragestellungen der historischen Forschung ab, sondern stehen in einem direkten und unmittelbaren Bezug zu den narrativen Konventionen und technischen Möglichkeiten der Medien, derer sich der Historiker bedient, zu den politischen und ökonomischen Machtstrukturen, innerhalb derer er arbeitet, und schließlich auch zum Sprachraum, welcher wiederum in komplexen Wechselbeziehungen mit der Geschichte politischer Grenzen steht. Allerdings stellt sich das Problem der Medialität nicht nur auf Seiten der Produktion historischer Darstellungen, sondern ist inhärent bereits den unterschiedlichen Quellengattungen eingeschrieben, die Historiker zur Rekonstruktion des Vergangenen heranziehen. Die Problematisierung von Schulbüchern,21 Lexika,22 Karikaturen23 oder Fotografien 24 in diversen Publikationen zeugen von der systematischen Auseinandersetzung und kritischen Methodenreflexion in diesem Bereich. 20 Armin Heinen (Hg.), Historizität, Materialität und Narrativität. Zum Zusammenhang von Technikkultur und Historiographiegeschichte, in: Zeitenblicke 10 (2011), H. 1, http://www.zeitenblicke.de/2011/1 vom 9.8.2011. 21 Heinen, Armin: »Auf den Schwingen Draculas nach Europa? Die öffentliche Debatte um neue Schulbücher als Indikator der Transformationskrise der rumänischen Geschichtskultur«, in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas, Bd. 2. München: Slavica-Verlag Kovac 2000, S. 91-104. 22 A. Heinen: Bessarabien 2.0. 23 Heinen, Armin: »Marianne und Michels illegitimes Kind. Das Saarland 1945-1955 in der Karikatur«, in: Rainer Hudemann/Burkhard Jellonnek/Bernd Rauls (Hg.), GrenzFall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland, 1945-1960, St. Ingbert: Röhrig 1997, S. 45-62. 24 Heinen, Armin: »Erinnerungen, Fotografien und die Sprache der Bilder«, in: J.v.d. Boogard u.a.: Grenz-Controle, S. 53-54.
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Wahrscheinlich hat das Arbeiten an den grenznahen Universitäten in Trier, Saarbrücken und Aachen ganz selbstverständlich dazu beigetragen, sich mit dem Thema Grenze aus historischer Perspektive auseinander zu setzen. Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im politischen wie sozio-kulturellen Sinne als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft zu begreifen, bedarf wahrscheinlich keiner weiteren Explizierung.25 Die politischen, geografischen, ökonomischen oder mentalen Folgen von Grenzziehungsprozessen oder Grenzüberschreitungen historisch zu erforschen und gegenwartsbezogen zu deuten, ist eine Herausforderung, der sich besonders die Regionalgeschichte der letzten Jahrzehnte gestellt hat.26 Die Geschichte von Grenzräumen und Grenzregionen stärker erfahrungsgeschichtlich zu begreifen, erfordert neue methodische Herangehensweisen, wie sie beispielhaft auch im Projekt Grenz-Controle/GrensKontrolle. Aachen, Eupen, Maastricht – oral histories erprobt worden sind. Auf der Basis mündlich erfragter bzw. in Schreibwerkstätten produzierter Geschichten wurden hier in transnationaler und euregionaler Perspektive die Lebenserfahrungen von deutschsprachigen Belgiern, niederländischsprachigen Limburgern und deutschen Anwohnern des Aachener Grenzraumes erforscht, die auch die Leser zu Grenzüberschreitungen auffordern. 27 Es sind solche Projekte, die dazu beitragen können, Grenzgeschichten jenseits der dominierenden nationalen Narrative zu konstruieren und damit der komplexen ›sozialen Tatsache‹ von Grenzen historisch gerecht zu werden.28 Dies forschungsmäßig umzusetzen bedeutet, grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht nur zu predigen, sondern – trotz der vielen praktischen und kommunikativen Herausforderungen, die damit verbunden sind – konkret umzusetzen. Die Ergebnisse solcher Experimente leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die Geschichte von Grenzregionen nicht mehr als ›Randerscheinungen‹ von nationalen oder europäischen Meistererzählungen zu betrachten, sondern im Gegenteil den 25 Medick, Hans: »Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit«, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.), Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg: Könighausen und Neumann 1995, S. 211-224. 26 Heinen, Armin: »Grenzlage als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft. Projekte – Ideen – Probleme universitärer Kooperation in der Euregio Maas-Rhein«, in: Manfred Schmeling/Michael Veith (Hg.), Universitäten in europäischen Grenzräumen. Konzepte und Praxisfelder, Bielefeld: transcript 2005, S. 113-128. 27 Heinen, Armin: »Einleitung«, in: J.v.d. Boogard u.a.: Grenz-Controle, S. 8. 28 Es war Georg Simmel, der erstmals von der Grenze nicht nur als räumliche, sondern soziale Kategorie schrieb. In Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung aus dem Jahre 1908 heißt es: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt«. Zitiert nach der Ausgabe Berlin, 61983, S. 467.
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besonderen kulturellen Reichtum jener von Philip Ther als »Zwischenräume« charakterisierten Regionen zu beschreiben.29 Jener kulturelle Reichtum erwächst aus der ständigen Konfrontation mit den Paradoxien von Grenzen: Orte besonderer Verdichtung staatlicher Geltungsansprüche darzustellen, die zugleich als Peripherie vernachlässigt werden; Barriere für Handlungsoptionen zu sein und gleichzeitig listiges Handeln in den Nischen der Macht zu ermöglichen; Menschen zu trennen und sie dadurch zugleich interessant füreinander zu machen; die Möglichkeit unterschiedlicher Spielregeln stets bewusst zu halten. Vielleicht lassen sich diese Paradoxien nur dann wirklich konstruktiv wenden, wenn man mit ihnen – spielerisch umgeht. Auch in der Geschichtswissenschaft. Sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen heißt unweigerlich auch, sich als Historiker mit anthropologischen Grenzerfahrungen oder den Grenzen des Humanen auseinander setzen zu müssen. Die Geschichte des age of extremes als eine vergleichende Geschichte der Gewaltausbrüche und Gewalterfahrungen zu erzählen, ist spätestens seit den Bestsellern von Mark Mazower,30 Niall Ferguson31 oder Timothy Snyder32 zum Standard avanciert. Seltener sind aber die wesentlich schwierigeren Versuche, dem ›Rätsel der Gewalt‹ wie es Jörg Baberowski kürzlich in seiner Studie Räume der Gewalt formuliert hat, systematisch auf die Spur zu kommen.33 Genau dies war bzw. ist das Anliegen von zahlreichen Arbeiten Armin Heinens, der sich seit seiner Dissertation mit einem spezifischen Gewaltraum und -ausbruch beschäftigt hat – dem Holocaust in Rumänien. Um die komplexe ›Logik der Gewalt‹ historisch zu begreifen ist es nicht nur notwendig, die unterschiedlichen Phasen von Gewaltausbrüchen im Detail zu rekonstruieren, sondern auch zwischen unterschiedlichen Formen von Gewalt – etwa diktatorischer, faschistischer, militärischer, kollektiver Ge29 Ther, Philip: »Einleitung: Sprachliche, kulturelle und ethnische ›Zwischenräume‹ als Zugang zu einer transnationalen Geschichte Europas«, in: Philip Ther/Holm Sundhausen (Hg.), Regionale Beziehungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Marburg: Herder-Institut 2003, S. 9-29. Siehe auch Fickers, Andreas/Brüll, Christoph: »Zeit-Räume im langen 19. Jahrhundert. Erfahrungen von Verdichtung, Beschleunigung und Beharrung«, in: Carlo Lejeune (Hg.), Code civil, beschleunigte Moderne und Dynamiken des Beharrens (1794-1919). Grenzerfahrungen. Eine Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Bd. 3, Eupen: Grenz-Echo 2017, S. 8-27. 30 Mazower, Mark: Dark Continent: Europe’s Twentieth Century, London: Penguin Books 1998. 31 Ferguson, Niall: The War of the World. History’s Age of Hatred, London: Penguin Books 2009. 32 Snyder, Timothy: Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin, New York: Basic Books 2010. 33 Baberowski, Jörg: Räume der Gewalt, Frankfurt/M.: Fischer 2015.
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walt oder Polizeigewalt zu unterscheiden. Genau dies unternimmt Armin Heinen in seinem Buch Rumänien, der Holocaust und die Gewalt, welches die sozialen Logiken und kulturellen Praxen der Gewalt gegen Juden und Roma im Zeitraum von 1940 bis 1944 untersucht. Mentalitätshistorische Fragestellungen mit Hilfe soziologischer Konzepte und kulturanthropologischer Überlegungen zu problematisieren, um so das Phänomen Gewalt im Habermas’schen Sinne als ›Akt kommunikativen Handelns‹ zu begreifen, zeugt von der disziplinären Grenzüberschreitung, die als Voraussetzung für problemorientiertes historisches Denken gelten muss. Die folgenden Beiträge, die aus Anlass des 65. Geburtstags von Armin Heinen verfasst wurden, nähern sich den Grenzen der Geschichtswissenschaft und den Grenzen in der Geschichte aus unterschiedlichen Richtungen und orientieren sich dabei an den drei bereits genannten Schwerpunkten – »Grenzen der Erzählung«, »Grenze als Raum« und »Grenzgänge(r) und Grenzziehungen« –, wobei die meisten Beiträge durchaus in mehr als eine der drei Kategorien verortet werden könnten. In einem ersten Teil »Grenzen der Erzählung« geht es um historische Narrative, ihre fachspezifischen Logiken und möglichen Alternativen. Andreas Fickers fragt in seinem geschichtsmethodologischen Grenzgang nach den Marksteinen des historischen Erzählens. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie bzw. ob sich historische Wahrheit in einem Text erzählen lässt. Ausgehend von der Herausbildung des Ideals objektiver Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert schildert er die verschiedenen Strategien der Glaubhaftmachung des Historikers und ihre im 20. Jahrhundert zunehmende Herausforderung durch neue narrative Konventionen in filmischen und fotografischen Erzählungen. Abschließend geht es um neue Formen der historischen Erzählung etwa durch transmedia storytelling und database histories. Können digitale Medien dabei helfen, die klassischen, autoritativen Narrative der Historikerzunft aufzubrechen, indem die Rezipienten ihre eigenen nicht-linearen Erzählungen verfertigen? Ein spezielles, durchaus traditionsreiches Bildmedium, das von jeher Grenzen thematisiert, hat Rüdiger Haude zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht: die politische Landkarte. Dieser von Historikern sonst vor allem im Hinblick auf Nationalgeschichte ausgewertete Quellenstrang wird auf sein Potenzial zur Stiftung einer grenzüberschreitenden kollektiven Identität hin untersucht. Als empirischer Fall dient die Euregio Maas-Rhein. Die Kartenmacher – so Haudes Argumentation – haben die ›Spielregeln‹ nicht verstanden; so trägt gerade die Leugnung der vorhandenen Binnengrenzen zum Scheitern des Identitätsstiftungs-Projekts bei; und eine kartografische ›Logobildung‹ misslingt: Trotz einer Vielzahl kartografischer Repräsentationen und trotz des hohen Symbolisierungsaufwandes der einzelnen Karten ist streng genommen kein Diskurs entstanden.
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In seinem Manuskript des Hörspiels »Glanz und Elend der KunstkopfStereophonie« überschreitet Stefan Krebs die Erzählkonventionen der akademischen Geschichte. Die technikhistorischen Rechercheergebnisse zu dieser 3DAudiotechnik der 1970er Jahre hat er in einem fiktiven Dialog verarbeitet. Der Wechsel ins Genre des Radiohörspiels zielt dabei nicht nur auf eine breitere Leser- bzw. Hörerschaft, sondern auch darauf, Technik- und Mediengeschichte unmittelbar hörbar zu machen. Das Hörspiel, in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Rundfunk in Kunstkopf-Stereophonie produziert, thematisiert nicht nur die hörbare Ausweitung des zweidimensionalen Raums der konventionellen Stereophonie sowie die damit einhergehenden Probleme, sondern macht Vor- und Nachteile unmittelbar auditiv erfahrbar. Zugleich war der gesamte Produktionsprozess ein medienarchäologisches Experiment, ein disziplinärer wie epistemischer Grenzgang, der die diskurszentrierte Technik- und Mediengeschichte erweitern soll. Bärbel Kuhn beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Darstellung des ›Grenzkonflikts‹ zwischen Frankreich und Deutschland am Beispiel der wechselhaften Geschichte Elsass-Lothringens in deutschen und französischen Schulbüchern. Dabei geht sie nicht nur auf den Wandel der vermittelten Geschichtsnarrative ein, sondern fragt auch danach, wo die Grenzen für eine offene und reflektierte Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema in Schulbüchern liegen sollten. Der Beitrag von Harald Müller widmet sich dem speziellen Verhältnis des Gelehrten zu seinen Büchern. Er regt dabei nicht nur zum kritischen Nachdenken über habitualisierte Formen der Gelehrsamkeit an, sondern reflektiert darin zugleich das eigene Fach und seine ausgesprochenen wie unausgesprochenen Konventionen, indem er Nikolaus Ellenbogs ›Hinwendung‹ an die Bücher seines Vaters (selbst ein Erzählkonventionen überschreitender Text, tritt dessen Autor doch in einen fiktiven Dialog mit den Büchern ein) elegant in den Kontext der auf Bücher und Text- wie Analysekonventionen zentrierten Geschichtswissenschaft stellt. Thomas Müllers Schilderung, die auch gut in der dritten Rubrik der »Grenzgänge« verortet werden könnte, stellt den Historiker als Geographen und Ethnologen vor. Seine politisch-geographische Skizze des New Jungle von Calais zeigt ein Territorium, das in vielfachen Hinsichten von Grenzen und ihren Übertretungen geprägt ist: den Abschottungsgrenzen zwischen Großbritannien (dem Ziel der Flüchtlinge im ›Jungle‹) und der kontinentalen EU; dem Schwanken zwischen dem Verzicht aufs Gewaltmonopol seitens der französischen Behörden und juristisch entgrenzten Polizeieinsätzen; aber auch den ethnisierten Binnengrenzen und Gewaltverhältnissen zwischen den Bewohnern. Müllers Beitrag ist
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nicht nur eine narrative wie disziplinäre Überschreitung der Grenzen der Geschichtswissenschaft. Sie zeigt zudem, dass der Historiker selbst, der einen solchen Grenzraum auslotet, mit dem Betreten des Ortes eine emotionale Grenze überschreitet – seine starke emotionale Erschütterung lässt ihn nicht mehr nur Historiker sein. Implizit stellt der Text damit auch die Frage, ob Historiker, die sich mit ähnlichen von physischer wie struktureller Gewalt geprägten Grenzräumen in der Geschichte auseinandersetzen, nur Historiker sein können, oder ob sie nicht viel offener über ihre eigenen Dispositionen wie ihre narrative Position reflektieren sollten. Der zweite Abschnitt des Bandes wendet sich der (historischen) Grenze als Raum zu. In seinem Beitrag zeigt Jean-Paul Cahn, wie der deutsch-französische Grenzraum zu einem wichtigen Rückzugsort des algerischen Widerstands gegen das französische Kolonialsystem wurde. Die staatliche Grenze schützte die algerischen Oppositionellen – aus Sicht des französischen Staates: Terroristen – weitgehend vor dem Zugriff der französischen Sicherheitsbehörden. Zugleich sah sich die westdeutsche Regierung zu einem Grenzgang herausgefordert, da sie einerseits die deutsch-französische Verständigung nicht gefährden wollte, andererseits aber den arabischen Staaten die grundsätzliche Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung signalisieren wollte, um zu verhindern, dass sich die DDR als deren privilegierter Partner positionieren konnte. Es zeigt sich also, dass die Struktur- und Handlungslogik in Grenzräumen von mehr als zwei Akteurskollektiven beeinflusst sein kann. In seinen Reflektionen zur transnationalen Erinnerungskultur geht Rainer Hudemann dem Wandel des Erinnerns an die ›deutsche‹ Geschichte im französischen Grenzraum Elsass-Lothringen nach. Anhand der Städte Metz und Straßburg verdeutlicht er zum einen die erinnerungspolitische ›Abspaltung‹ der Reichsland-Jahre und ihre Auslagerung ins Speichergedächtnis; zum anderen zeigt er die dazu teils quer liegenden Pfadabhängigkeiten, etwa in der Fortgeltung deutschen Rechts im droit local. 2006 erfolgte schließlich ein Umschwung des Erinnerns, und die ›deutsche‹ Geschichte wurde von den politisch Verantwortlichen in Straßburg und Metz aktiv in das kulturelle Gedächtnis der Grenzregion integriert. Dietmar Hüser entwirft in seinem Beitrag ein Forschungsdesign für die transnationale Geschichte popkultureller Verflechtungen zwischen Frankreich und Deutschland. Während populärkulturelle Verflechtungen bislang meist unter anglo-amerikanischen Blickwinkeln analysiert worden sind, lenkt Hüser den Blick auf spezifisch französisch-westdeutsche Transfers. Er zeigt auf, dass die Untersuchung solcher Verflechtungen Genres, Künstler und Szenen ebenso berücksichtigen muss wie die Einbettung in den gesellschaftlichen Wandel.
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Dabei werden auch Asymmetrien sichtbar, wurden doch z.B. französische Künstler stärker in Deutschland rezipiert als umgekehrt. Insgesamt geht es aber darum, die transnationale Perspektive solcher Verflechtungsgeschichten noch stärker zu berücksichtigen, als dies bislang geschehen ist. Hartmut Kaelble lotet in seinem Essay die epistemischen Grenzen des historischen Vergleichs aus. Er fragt danach, ob es nicht auch internationale Vergleiche gibt, die keine Grenzen überwinden, beispielsweise wenn Historiker aus eurozentrischer Perspektive das ›Europäische‹ in der Welt suchen. Kaelble hält vier Gründe für den Grenzen überschreitenden Vergleich dagegen: Zunächst sind Historiker stets Grenzgänger zwischen Vergangenheit und Gegenwart; dann überschreiten sie durch die ›Übersetzung‹ historischer Quellen Grenzen; betten diese interpretativ in unterschiedliche historische Kontexte ein; schließlich müssen sie Grenzen des Verstehens überschreiten, um zu verstehen, wie andere, vergangene Gesellschaften funktionierten. Den Einfluss mal mehr, mal weniger durchlässiger nationaler Grenzen auf die Gewerkschaftsbildung im deutsch-niederländischen Grenzgebiet untersucht Ad Knotter. Zwischen 1907 und 1914 begünstigten die vielen Grenzgänger und Arbeitsmigranten – deutsche Bergleute im Limburger Revier und niederländische Bergleute im Wurmrevier – die transnationale Ausrichtung der beiden neu gegründeten und miteinander konkurrierenden niederländischen Bergarbeitergewerkschaften: die eine christlich, die andere sozialdemokratisch. Beide versuchten gleichermaßen deutsche wie niederländische Bergmänner anzusprechen und zum Eintritt zu bewegen. Nach dem Ersten Weltkrieg, einhergehend mit der stärkeren Abschottung der niederländischen Grenze für deutsche Arbeitsmigranten, positionierte sich die christliche Gewerkschaft neu und schlug zunehmend regionalistische und nationalistische Töne an, während die sozialdemokratische Gewerkschaft ihre transnationale Ausrichtung beibehielt. Hans-Christian Maner untersucht in seinem Beitrag die ethno-nationalistischen Vereinnahmungen der Schriftstellerin Elena Ghica, besser bekannt als Dora d’Istria, die selber in ihrem Werk eher Grenzen überwand. So brachte sie einem westeuropäischen Publikum das südöstliche Europa, seine Menschen, Gebräuche und Sitten nahe. Zugleich zog sie aber auch eine imaginäre Grenze zwischen Okzident und Orient, dem sie Südosteuropa zurechnete, etwa in ihrer Schrift über die Frauen des Orients. Diese grenzüberschreitende und -ziehende Ambivalenz in Dora d’Istrias schriftstellerischem Werk erklärt sich aus ihrer rhizomatischen Identität, die netzwerkartig zugleich kosmopolitisch und panbalkanisch war, aber auch die nationalistische Emanzipation der verschiedenen Ethnien befürwortete.
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Einem besonders turbulenten Grenzraum widmet sich Victor Neumann in seinem Beitrag. Am Beispiel der Stadt Temeswar beschreibt er, wie die Region des ›Banats‹ zu einer verwaltungspolitischen, militärischen, industriellen und kulturellen Schnittstelle zwischen den ungarischen, osmanischen und habsburgischen König- und Kaiserreichen wurde. Der zweite Teil über die »Grenze als Raum« wird abgeschlossen von Ines Soldwischs Beitrag über die Identitätsfindung des Europäischen Parlaments bzw. der Europäischen Parlamentarier. Während in den Anfangsjahren des Europäischen Parlaments keineswegs ausgemacht war, was dieses Parlament eigentlich war und welche Rolle die europäischen Parlamentarier im Parlament, aber auch in Abgrenzung zu den nationalen Parlamenten wie auch den anderen europäischen Institutionen spielen sollten, zeigt sich, dass die Parlamentarier sehr schnell – nicht zuletzt über die theatralische Inszenierung scheinbar abgehobener parlamentarischer Debatten – einen Selbstfindungsprozess einläuteten. Das ›Theater spielen‹ diente also, obschon innerhalb und außerhalb des Parlaments als solches beklagt, der Rollenfindung des Europäischen Parlamentariers. Der dritte und letzte Abschnitt des Bandes ist überschrieben mit »Grenzgänge(r) und Grenzziehungen« und beschäftigt sich einerseits mit historischen Akteuren als Grenzgänger in ihrer Zeit, andererseits aus historisch-anthropologischer Sicht mit grundlegenden Grenzgängen und Grenzziehungen. Daniel Brewing stellt den polnischen Patrioten Henrik Dobrzański vor, ein zentraler und schillernder Akteur des bewaffneten Widerstands im vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Polen. Dobrzański widersetzte sich dem Aufruf der polnischen Exilregierung, keinen bewaffneten Widerstand zu leisten, da sie die gewalttätige Reaktion der Besatzer fürchtete. Tatsächlich reagierten die Besatzer mit brutaler, rücksichtsloser Gewalt auf die Partisanenaktionen von Dobrzańskis Gruppe. Brewing schließt hieran die Frage nach den Gründen für diese Entgrenzung der Gewalt an. Er zeigt, dass dafür nicht nur die institutionelle Konkurrenz zwischen Wehrmacht und Polizei/SS verantwortlich war, sondern beispielsweise auch die Erfahrung asymmetrischen Widerstands, bei der der rassistische Überlegenheitsdünkel der Besatzer damit konfrontiert wurde, dass der vermeintlich schwächere Gegner über Ort und Zeit bewaffneter Konfrontationen bestimmen konnte. Mit ›Grenzen des Zeigbaren‹ und damit wiederum mit Bildern als historischer Quellengattung beschäftigt sich Anne Helen Crumbach. Die Abbildung körperlich behinderter Kinder war bis 1961 ein Tabu im öffentlichen, medialen Diskurs der Bundesrepublik. Erst im Zuge des sogenannten Contergan-Skandals wurden körperliche Fehlbildungen von Kindern erstmals bildlich dargestellt und damit die Frage nach den Grenzen des Zeigbaren aufgeworfen. Dem stellt
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Crumbach den ›normaliserten‹ Umgang mit solchen bildlichen Darstellungen in der Medizin gegenüber. Es wird deutlich, dass die bildliche ›Grenzerfahrung‹ der 1960er Jahre die Sehgewohnheiten langfristig verändert hat, gleichzeitig verfestigte sich ein Bild der ›Contergan-Kinder‹, das bis heute auf die öffentliche Wahrnehmung dieser Menschen nachwirkt. Grenzgänge anderer Logik untersucht Martina Heßler, obschon sie ebenfalls mediale Phänomene betrachtet. Ihr geht es um die Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft und die Frage, inwiefern technologische Visionen die technische Zukunft vorausdenken können. Die dabei vorgenommenen Grenzgänge speisen sich u.a. daraus, dass Science Fiction oftmals technisch bereits Existierendes weiter denkt und in gesellschaftliche Nutzungszusammenhänge einbettet (oder, im Idealfall, noch nicht realisierte Möglichkeiten zum Vor-Schein bringt), technische Visionen also das Unvorstellbare für die Zeitgenossen denkbar machen und damit Grenzen verschieben und überschreiten. Heßler stellt dazu zwei eher unbekannte Beispiele vor: Robert Stoss’ grenzenlos optimistische Vision des drahtlosen Jahrhunderts, und Edward Morgans Dystopie der still stehenden Maschine. Dabei setzt sie diese beiden Geschichten in Beziehung mit bekannten technischen Utopien bzw. Dystopien, wie Georg Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schöne neue Welt, um daran anschließend unterschiedliche Formen technischer Kontroll- und Disziplinarvisionen zu diskutieren. Helmut König zeichnet in seinem Beitrag Hannah Arendts Nachdenken über totale Herrschaft als permanente Grenzüberschreitung nach. Die von den Nationalsozialisten verübte Überschreitung der Grenzen des Rechts, die eher eine totale Negation des Rechts war, warf für Arendt die Frage auf, ob diese Grenzüberschreitung innerhalb bestehender Rechtssysteme sanktioniert werde könne, bzw. ob es neuer Quellen des Rechts bedürfe, um ›Grenzübertreter‹ wie Adolf Eichmann zu bestrafen. Einerseits hielt Arendt Eichmanns Taten im Rahmen der bestehenden Rechtsordnungen für unbestrafbar, andererseits mussten sie dennoch unbedingt bestraft werden. Schließlich fand sie neue Quellen für eine Rechtsprechung über »Verbrechen gegen die Menschheit« im Denken Platons sowie in Kants Kritik der Urteilskraft. Der ideologische Grenzgänger Ernst Niekisch steht im Mittelpunkt des Beitrags von Sascha Penshorn. Niekisch war während der Weimarer Zeit ein exponierter Protagonist der ›Konservativen Revolution‹, nach dem Krieg, in seiner Zeit in der SBZ/DDR, wandelte er sich dann zu einem kompromisslosen Vertreter der sogenannten Misere-Sicht, der sozialistischen Variante eines negativen deutschen Sonderwegs. Penshorn zeichnet Niekischs normativ sich widersprechende, wenn auch einzelne Topoi durchhaltende Geschichtsnarrative nach, einmal das völkisch-ultranationalistische der Weimarer Zeit, dann das national-
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pessimistische der SBZ-Jahre, wobei sich Niekisch nach seinem ›Wandel‹ indirekt selbst kritisierte, ohne sich allerdings als Objekt seiner Kritik zu erkennen zu geben. Auch im Biographischen gibt es das Phänomen der Grenzverleugnung. Unter dem Titel »Vergnügen im Grenzbereich« schildert Anika Schleinzer die Herausbildung bürgerlicher Erziehungsideale im späten 18. Jahrhundert, sie stellt dazu zwei weniger bekannte Vertreter aufgeklärter Pädagogik vor: Christian Wolke und Johann Heusinger. In Wolkes und Heusingers Erziehungsratgebern werden unterschiedliche Vorstellungen davon deutlich, wie die Grenzen zwischen den Geschlechtern verlaufen, und ob diese durch die Erziehung gezogen und verstärkt werden sollten. Ferner zeigt sich, dass vor allem Wolke eine eher fließende Abgrenzung von spielerischer Weltaneignung und ernster Erziehungsarbeit vornahm – oder vielmehr die Grenzen zwischen Bildung und Spiel durch seinen pädagogischen Ansatz des Denklehrzimmers aufhob. In der genderspezifischen Sozialisation im Kinderspiel zeigt sich, so lässt sich Schleinzers Pointe reformulieren, dass »Spiele ohne Grenzen« recht eigentlich ein Oxymoron sind. Allenfalls lernen wir im Spiele, sozial konstruierte Grenzen als ›natürlich‹ zu verinnerlichen und nicht mehr wahrzunehmen. Ist die Gender-Dichotomie eine der fundamentalsten Grenzziehungen, die in menschlichen Kulturen konstruiert (und deren Konstruiertheit unkenntlich gemacht) wird, so gilt dies erst recht für die Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem Heiligen. Auch in modernen Gesellschaften findet dies, u.a. im Strafrecht, seinen Ausdruck. Der abschließende Text von Werner Tschacher berührt mit seiner Untersuchung zur Geschichte des Blasphemie-Paragraphen in Deutschland diese ›letzte‹ Grenze, die der radikalen Hinterfragbarkeit entzogen werden soll: Obwohl Gott doch allmächtig ist, bedürfen er, die privilegierte Religion und ihre kirchlichen Vertreter eines besonderen Schutzes durch menschliche Rechtsinstanzen. Die in der Reform des Blasphemieparagraphen 166 StGB 1969 vorgenommene Grenzverschiebung von der Gotteslästerung zur Störung des öffentlichen Friedens erweist sich bei näherer Betrachtung als Spiel der semantischen Konstruktion und Abwägung von Rechtsgütern mit dem offenkundigen Ziel, die gottgläubige christliche Religion als systemwichtigen Faktor auf dem Feld der Herrschaft zu bewahren. Die 21 Beiträge dieser Festschrift bieten Sondierungen in ein Themenfeld, das – von Grenzziehungen, Grenzüberschreitungen und Spielregeln in unausschöpfbarer Vielfalt durchzogen – als Ganzes kaum begrenzbar ist. Vielleicht ist das gewählte (und für eine Festschrift nicht untypische) Verfahren, alle Beteiligten ihren Blickwinkel und ihren Sondierungsort selbst wählen zu lassen, das geeignetste, um Einsichten über ein solches Rhizom zu generieren. Von den Ähnlichkeiten der Logik von Grenzverschiebungen und Grenzbekräftigungen in
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unterschiedlichen sozialen Tatbeständen (Kommunikationsmedien, Territorien, Handlungsformen) mögen die Lesenden sich anregen lassen, ebenso wie von der Dialektik zwischen Einengung und Ermöglichung, die Grenzen in all diesen Bereichen zeigen. Menschheitsgeschichte, hat Armin Heinen einmal geschrieben, ist als »Auseinandersetzung mit den von der Natur gesetzten Grenzen zu verstehen«.34 Vielleicht auch mit den von der Kultur gesetzten Grenzen, könnte man hinzufügen; und ebenso mit den von der Zunft gesetzten Grenzen, sobald es um Geschichtsschreibung geht. In diesem Sinne regt uns das Werk Armin Heinens immer wieder an. Wenn dieser Band davon Zeugnis ablegt, hat er seinen Zweck erfüllt. Möge das Spiel nun beginnen!
34 A. Heinen: Umweltgeschichte, S. 515.
Grenzen der Erzählung
Entre vérité et dire du vrai Ein geschichtstheoretischer Grenzgang A NDREAS F ICKERS
D IE G EBURT
DER G ESCHICHTSSCHREIBUNG ALS EXEGETISCHE T EXTWISSENSCHAFT
Seit Beginn der Geschichtsschreibung haben Historiker, Philosophen und Dichter über das komplexe Verhältnis von Geschichte und deren sprachliche Repräsentation, von Erzählung und der in ihr zum Ausdruck gebrachten Faktizität, von textlich formuliertem Wahrheitsanspruch und stilistischer oder rhetorischer Überzeugungsarbeit nachgedacht. Über Jahrhunderte, ja mehr als zwei Jahrtausende drehte sich diese Debatte letztlich immer um ein zentrales erkenntnistheoretisches Problem, welches der französische Historiker Ivan Jablonka kürzlich wie folgt zusammengefasst hat: »Comment peut-on dire du vrai dans et par un texte«?1 Ziel dieses kleinen geschichtstheoretischen Grenzganges ist es, über das Verhältnis von Erzählen, Schreiben, Interpretieren und Argumentieren in der Geschichtsschreibung nachzudenken, insbesondere darüber, wie sich diese Dimensionen des historischen Denkens und Arbeitens im Laufe der Zeit verändert haben, vor allem durch die Herausbildung des ›modernen Ideals‹ objektiver Geschichtserzählung im 19. Jahrhundert. Anschließend möchte ich kurz auf das komplexe Verhältnis von historischer Wirklichkeit und deren Repräsentation in Quellen und Medien eingehen, um schließlich mit einer eher allgemeinen Reflexion über die Möglichkeiten und Herausforderungen digitaler Darstellungsformen von Geschichte zu enden. Tauchen wir aber erst einmal in die Geschichte der Geschichtsschreibung ab. 1
Jablonka, Ivan: L’histoire est une littérature contemporaine, Paris: Éd. du Seuil 2014, S. 16 (Herv. i.O.).
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Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, also bis zu jenem Zeitpunkt, in dem das Rekonstruieren der Vergangenheit und dessen literarische Aufarbeitung im Zuge des sogenannten Historismus zur Wissenschaft ernannt wurde, war das ›Machen von Geschichte‹ im Sinne von Geschichtsschreibung eine anerkannte Kunstform, deren Meisterschaft sich neben fundierter Sachkenntnis auch und vor allem in der Art und Weise der Darbietung des versammelten Wissens zeigte. Gute Geschichtsschreibung, das war neben der Fähigkeit zur chronologischen Rekonstruktion des Vergangenen vor allem die Kunst, historische Ereignisse und Persönlichkeiten für den Leser möglichst lebendig und anschaulich literarisch wieder zum Leben zu erwecken. Diese von Jules Michelet als »résurrection«2 (Wiederauferstehung) oder von Roger Collingwood als »reenactment«3 bezeichnete Akt der geistigen Wiederbelebung des Vergangenen galt bis zur Etablierung der Geschichtswissenschaften als im Wesentlichen akademische Aktivität Ende des 19. Jahrhunderts als zentrale Aufgabe und wesentliche Herausforderung der Geschichtsschreibung, deren Ziel sich ja nicht in der Chronologie erschöpfte, sondern deren höhere Aufgabe und Mission in der moralischen Wegweisung und zeitgenössischen Orientierung politisch oder gesellschaftlich Verantwortlicher bestand. Schon der Name Geschichtsschreibung – nomen est omen – macht die enge Verbindung zwischen Geschichte als Objekt wissenschaftlicher Forschung und Geschichte als Erzählung deutlich, in der vergangene Ereignisse und Akteure zum Subjekt narrativer Konstruktionen werden. Bereits in der Antike wurde darüber diskutiert, welche Form bzw. welches Genre sich am besten für die literarische Darstellung der Vergangenheit eigne: War es die Tragödie, der Mythos, das Panegyrikon oder das pathetische Lehrgedicht? Zwischen Herodot und Cicero auf der einen, Thukydides und Polybius auf der anderen Seite zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen Geschichte als ›historia nuda‹ (nackte Chronologie) und Geschichte als ›historia ornata‹ (Kontextualisierung und Interpretation), welche sich in der christlichen Historiographie des Mittelalters fortsetzte. Hier äußerten sich die Spannungen in der Auseinandersetzung zwischen ›Chronisten oder Annalisten‹ und den scholastischen, sich auf das Wort der Kirchenväter und den Text der Bibel berufenden Vergangenheitsdeutern.
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Michelet, Jules: Histoire de France, Paris: Marpon et Flammarion 1869. Collingwood, Roger: The idea of history, Oxford: Clarendon Press 1946.
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ALS M ODELL MODERNER HISTORISCHER E RZÄHLUNG Wie Ivan Jablonka in seinem äußerst anregenden Essay L’histoire est une littérature contemporaine (2014) aufgezeigt hat, waren es gerade die Popularität des Romans als neuem literarischen Genre im 18. und 19. Jahrhundert und die damit einhergehende Geburt des ›Schriftstellers‹ als hommes de lettre, die in der Geschichtsschreibung für methodische Innovationen sorgten. Wie ist dies zu verstehen? Es seien Autoren wie François-René de Chateaubriand, Walter Scott oder Augustin Thierry gewesen, die – so Jablonka – zu einem kreativen Schub in der historischen Imagination (»éblouissement d’imagination historique«) beigetragen hätten und den historischen Roman in den Stand der wahren magistra vitae erhoben hätten. Wie? In der romanhaften Erzählung wurde das ganze Panorama menschlicher Beziehungen in seiner gesamten psychischen und sozialen Komplexität ausgebreitet und dieses dann oftmals als Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes oder epochaler Merkmale und Strukturen problematisiert. Gerade das Exemplarische, Typische und Symbolhafte, welches in Romanen des 19. Jahrhunderts wie Notre Dame de Paris von Victor Hugo (1831) oder der im England des 12. Jahrhundert spielende Ivanhoe (1820) von Walter Scott zum Ausdruck kam, hat Historiker wie Jakob Burckhardt, Leopold von Ranke oder Jules Michelet in ihrer Suche nach erzählerischem Ausdruck inspiriert. 4 Die Suche nach historischer Wahrheit dieser sogenannten Gründerväter der historischen Wissenschaften war eng verbunden mit dem Einsatz erzählerischer Strategien der Personalisierung, Dramatisierung oder Typisierung, für die Analogien oder Metaphern als stilistische Mittel eingesetzt wurden.
Z WISCHEN G LAUBE UND K RITIK : VON DES MODERNEN G ESCHICHTSIDEALS
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›Q UELLEN ‹
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich zunehmend jene ›histoirescience‹ universitären Charakters durch, die im Wesentlichen auf drei Glaubenssätzen beruhte: erstens dem Ideal der Objektivität, zweitens der Originalität von ›dokumentarischen Quellen‹ und drittens dem professionellen Habitus von akademisch ausgebildeten Historikern. Noch heute bilden diese drei Elemente 4
Hugo, Victor: Notre Dame de Paris, Paris: Hetzel 1831; Scott, Walter: Ivanhoe, London: Simpkin and Marshall 1820. Siehe Müller, Philipp: Erkenntnis und Erzählung: Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine, Köln: Böhlau 2008.
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das Fundament des epistemologischen Selbstverständnisses geschichtswissenschaftlicher Forschung – die äußerst problematische Metapher der ›Quelle‹ hat nichts von jenem Pathos verloren, der seit den Zeiten des europäischen Humanismus im Aufruf »ad fontes« mitschwingt.5 Tatsächlich haben wir es hier in den Worten Achim Landwehrs mit einem regelrechten »Quellenglauben« zu tun: Die historische ›Quelle‹ wurde zur Reliquie stilisiert, die ihren Wahrheitsanspruch aus der Singularität des Zeugnisses ableitet, welches sie über ein vergangenes Ereignis abgibt. 6 Diese wahrheits- und wirklichkeitsverbürgende Funktion der ›Quelle‹ ist bis heute weitgehend unangetastet, obwohl eine ›Quelle‹ nie in einem ursächlichen, sondern immer nur in einem abbildhaften bzw. repräsentativen Wirkungszusammenhang zur historischen Wirklichkeit steht. Die Kunst der Quellenkritik besteht ja gerade darin, das komplexe Verhältnis zwischen Vergangenheit und Repräsentation zu deuten, also jene unterschiedlichen Grade der indexikalischen Beziehung zwischen signe und signifié, zwischen vergangener Wirklichkeit und deren schriftlicher, bildlicher oder tonhafter Dokumentation in unterschiedlichen ›Quellengattungen‹ auf die Spur zu kommen.7 Schon die ›Quellen‹ des Historikers – eingeteilt in verschiedene ›Gattungen‹ oder ›Genres‹ – basieren also auf narrativen Konventionen, die erstens dem Material (z.B. in Stein gemeißelte Hieroglyphen), zweitens den technischen Eigenschaften dokumentarischer Mittel (man denke etwa an Wachszylinder von Edison Phonographen für erste Tonaufnahmen oder den Einfluss des Kollodiumgemisches für die Beschichtung von Glasplatten in der frühen Fotographie) und drittens den erzählerischen Ausdrucksmöglichkeiten unterschiedlicher Medien geschuldet sind (die Länge eines in Morse-Alphabet gesendeten Telegramms oder einer Grabinschrift unterscheiden sich deutlich von einem Zeitungsartikel, einer Fernsehsendung oder einem Radiofeature). Diese ›äußeren‹ (materiellen) wie ›inneren‹ (inhaltlich-formale) Qualitäten jener ›Spuren‹ aus der Vergangenheit zu ›decodieren‹ und als zeitspezifische Repräsentation vergangener Wirklichkeiten zu interpretieren gehört zum Werkzeug jedes ausgebildeten Historikers – zumindest theoretisch.8 Tatsächlich konzentriert sich die Ausbildung zum 5
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Barrelmeyer, Uwe: Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber, Münster: Lit 1997. Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit: Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt/M.: S. Fischer 2016, S. 58-59. Eine anschauliche Erklärung semiotischer Konzepte findet sich bei McCloud, Scott: Understanding Comics: The Invisible Art, Northampton/MA: Kitchen Sink Press 1993. Büttner, Sabine: »Arbeiten mit Quellen«, in: historicum-estudies.net, https://tinyurl .com/y7tbgae8 (abgerufen am 16.06.2017).
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professionellen Geschichtsschreiber auch heute noch vornehmlich auf das Studium schriftlicher Quellengattungen, und auch die Produktion und Vermittlung historischen Wissens geschieht im Wesentlichen über die Schrift, d.h. durch Aufsätze in Fachzeitschriften und Monographien. Obwohl der Beruf des Historikers immer wieder mit dem eines Detektivs verglichen wird, der – dem Ideal des gewissenhaft recherchierenden, kühl kombinierenden und scharfsinnig interpretierenden Ermittlers verpflichtet – der unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit auf die Spur kommt, lesen sich die meisten geschichtswissenschaftlichen Darstellungen kaum wie Detektivromane.9 Oft scheint sich die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten eher an der Menge der Fußnoten zu messen, d.h. an der Masse an Quellen- und Literaturverweisen, die zum Gradmesser des symbolischen Kapitals seriöser historischer Forschung aufgestiegen sind.10 Das komplexe und – wie gesehen – intrinsische Verhältnis von vérité de l’art (der künstlerischen und literarischen Qualität der Darstellung) und le vrai du fait (der faktischen Relevanz) wird dabei zum Nebenschauplatz einer auf Verweislogik basierenden historiographischen Fleißarbeit.11
R EALITÄTSEFFEKTE UND ANDERE S TRATEGIEN DER G LAUBHAFTMACHUNG Der Wahrheitsanspruch der historischen Erzählung basiert also auf Strategien der Objektivierung und Glaubhaftmachung, die darauf abzielen, den Erzähler möglichst unsichtbar zu machen. Zu den wichtigsten stilistischen Bausteinen dieser Strategie zählt neben der Fußnote die Verbannung des ›Ichs‹ als erzählen9
Saupe, Achim: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld: transcript 2007. Zur Metapher der Spurensuche und des Historikers als Detektiv siehe: Ginzburg, Carlo: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin: Wagenbach 2001. 10 Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin: BerlinVerlag 1995. 11 Diese Unterscheidung von vérité de l’art und le vrai du fait geht auf den französischen Poeten und Schriftsteller Alfred Comte de Vigny (1793–1863) zurück, der mit seinem Roman Cinq-Mars (1826) zu einem der Vorreiter des historischen Romans in Frankreich zählt. Für Vigny sind ›wahre‹ historische Fakten die Voraussetzung für eine wahrhafte Geschichtsschreibung, die ihre moralische Legitimität aber erst aus der schriftstellerischen Darstellung, d.h. artistischen Interpretation der »triste et désenchanteresse réalité« erhält. Siehe de Vigny, Alfred: »Réflexions sur la vérité dans l’art«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Gallimard 1993, S. 5-11. Hier zitiert nach I. Jablonka: L’histoire et une littérature contemporaine, S. 57-58.
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dem Subjekt und die Einnahme einer erzählerischen Metaperspektive, die den Historiker quasi als universellen und vor allem unbeteiligten Beobachter etabliert. Dieser narrative ›Habitus der Objektivität‹ erzeugt das, was Roland Barthes als l’effet de réel bezeichnet hat.12 Dieser Realitätseffekt als Resultat narrativer Konventionen sowie eines wissenschaftlichen Stilrepertoires ist sozusagen der literarische Ausdruck des methodischen Objektivismus und dient der sprachlichen Untermauerung des wissenschaftlichen Anspruchs historischer Rekonstruktionsarbeit. Mögen auch heute noch manche Historiker an dem positivistischen Objektivitätsideal festhalten, teilen weite Teile der historischen Community heute die Meinung, dass es in der Geschichtswissenschaft nicht um die Suche nach historischer Wahrheit gehen kann: »Faire des sciences sociales ne consiste donc pas à trouver la vérité«, so Ivan Jablonka, »mais à dire du vrai, en construisant un raisonnement, en administrant la preuve, en formulant des énoncés dotés d’un minimum de solidité et de pertinence explicative.«13 Dire du vrai – und nicht dire la vérité. Der jeder geschichtswissenschaftlichen Darstellung eigene Zwang zur narrativen Kohärenz, zur stimmigen Erzählung und Analyse verleitet laut Armin Heinen allerdings leicht dazu, widersprechende Darstellungen auszublenden und »unbequeme Quellen eher relativierend zu gewichten«.14 Das berühmte ›Vetorecht der Quellen‹ kann immer erst a posteriori zu einer Relativierung oder Infragestellung einer historischen Argumentation mobilisiert werden.15 Bei der Herstellung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung, die Siegfried Kracauer einst mit der filmischen Montagetechnik verglichen hat,16 ermöglichen Überblendungen, Objektivwechsel, Rückblenden oder Aufnahmen im Zeitraffer das Spiel mit Perspektiv- und Tempiwechseln, die einmal zur Erzeugung möglichst ›dichter Beschreibungen‹ oder Nahaufnahmen genutzt werden, ein anderes Mal zur Herstellung einer distanzierenden Vogelperspektive, die sich für makrohistorische Reflektionen eignet. Die Technik des ›Einzoomens‹ auf eine bestimmte historische Persönlichkeit oder einen historischen Akteur erlaubt die Individualisierung, Psychologisierung und Emotionalisierung von Geschichte mit großem G und beherrscht als Stilmittel nahezu alle populären historischen Fernsehformate und Filmproduktionen. Geschichtsvermittlung basiert hier im Wesentlichen auf der Dramatisierung und Emotionalisie12 13 14 15
Barthes, Roland: »L’effet de réel«, in: Communications 11 (1968), S. 84-89. I. Jablonka: L’histoire et une littérature contemporaine, S. 183. A. Heinen: Wege in den Ersten Weltkrieg, S. 12. Jordan, Stefan: »Vetorecht der Quellen«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupe dia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen vom 11.2.2010. 16 Kracauer, Siegfried: Geschichte. Vor den letzten Dingen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973; Siehe auch Baumann, Stefanie: Im Vorraum der Geschichte. Siegfried Kracauers »History. The Last Things before the Last«, Konstanz: Konstanz Univ. Press 2014.
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rung der Erzählung und der sakralisierenden Aufwertung des Zeitzeugen zum Garanten historischer Authentizität.17 In Doku-Dramen, Doku-Fiktionen und Re-enactments hat sich das historische Ereignisfernsehen von der Vetokraft der Quellen emanzipiert und spielt erfolgreich mit der Kombination von fiktionalen und faktionalen Erzählmustern. Die indexikalische Qualität des bewegten Bildes, kombiniert mit O-Tönen, Hintergrundgeräuschen und der autoritativen Stimme eines Erzählers erzeugt einen ›Realitätseffekt‹, dessen suggestive Kraft die von schriftlichen Darstellungen übersteigt. Wie die britische Filmwissenschaftlerin Elizabeth Cowie in ihrem Buch über den Dokumentarfilm Recording Reality, Desiring the Real überzeugend dargestellt hat, sprechen photographische und filmische Aufzeichnungen paradoxerweise zwei unterschiedliche und scheinbar kontradiktorische Bedürfnisse an.18 Zum einen kann unsere Faszination für das Wiedersehen von Originalaufnahmen als Teil unserer wissenschaftlichen Aneignung der Welt gedeutet werden – der Sehsinn gilt seit der Antike als der ›objektivste‹ weil distanzherstellende Zugang zur sinnlichen Aneignung unserer Umwelt. 19 Zum anderen existiert aber auch eine tief in unsere modernen Sehgewohnheiten eingeschriebene Freude am Schauen, eine dem Medium Photographie und Film innewohnende Faszination des Spektakels und des Spektakulären.20
N ARRATIVE K ONVENTIONEN , INSZENIERTE AUTHENTIZITÄT UND R EALITÄTSBEGEHREN Auch Dokumentarfilm und Photographie müssen demnach als narrative Formate gedeutet werden, die auf spezifischen narrativen Konventionen beruhen.21 Ähnlich wie bei textlichen Darstellungen sind es auch bei audiovisuellen Erzählungen narrative Konventionen, die den nicht-fiktionalen Wahrheitsanspruch begründen. Diese Konventionen prägen unsere Wahrnehmung so stark, dass wir 17 Sabrow, Martin: »Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart«, in: ders.: Zeitgeschichte schreiben: Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen: Wallstein 2014, S. 145. 18 Cowie, Elizabeth: Recording Reality, Desiring the Real, Minneapolis: University of Minnesota Press 2011. 19 Daston, Lorraine/Gallison, Peter: Objectivity, New York/NY: Zone Books 2007. 20 Kessler, Frank: »La cinématographie comme dispositif (du) spectaculaire«, in: Cinémas 141 (2003), S. 21-34. 21 Tagg, John: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Minneapolis: University of Minnesota Press 1993; Ellis, John: Documentary. Witness and Self-Revelation, London: Routledge 2011.
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große Mühen haben, audiovisuelle Aufzeichnungen als ›falsch‹ oder ›fake‹ zu erkennen – selbst wenn sie offensichtlich Unsinn repräsentieren. Viele Filme oder Fernsehsendungen sind das geschickte Resultat einer mise en scène, die mit der scheinbaren visuellen Evidenz von audiovisuellen Aufnahmen spielen: Die ›Authentizität‹ einer Live-Fernsehsendung wird oftmals gezielt mit den narrativen Konventionen des Dokumentarfilms kombiniert. Beide spielen mit dem Zuschauer und seinem ›desire for reality‹. Das Verlangen nach historischer Erfahrung in Echtzeit ist aber weder ein ursprüngliches Phänomen des digitalen Zeitalters, noch eine Eigentümlichkeit der durch Gleichzeitigkeit von Ausstrahlung und Rezeption charakterisierten liveness der Rundfunkära. 22 Vielmehr taucht dieses Verlangen bereits in der Romantik auf, in der Schriftsteller und Philosophen das Konzept der ›historischen Erfahrung‹ oder des ›historischen Erlebnisses‹ bemühten, um ihrer Sehnsucht nach authentischer Wiederbelebung bzw. geistiger Aneignung des Vergangenen Ausdruck zu verleihen.23 Wie der niederländische Geschichtstheoretiker Frank Ankersmit in seiner monumentalen Studie De sublieme historische ervaring gezeigt hat, sind selbst die kulturhistorischen Überlegungen eines Johan Huizinga oder das Konzept des ›re-enactment‹ des britischen Geschichtsphilosophen Roger Collingwood von diesen romantischen Vorstellungen der Möglichkeit einer sublimen historischen Wahrnehmung geprägt, welche dem geschulten Historiker einen unmittelbareren Zugang zur Vergangenheit ermöglicht – ja diese Erfahrung gar zur Grundlage wahrhafter historischer Erkenntnis macht.24 Dieses Begehren nach authentischer historischer Erfahrung kann selbstverständlich nur unerfüllt bleiben – Geschichte als Geschichtsschreibung kann nur in der Gegenwart stattfinden – was die Sehnsucht nach einem auratischen Erlebnis aber nur noch steigert. 25 Inwiefern bieten digitale Geschichtsdarstellungen dem Historiker neue narrative Möglichkeiten, diese Sehnsucht nach authentischem Geschichtserlebnis zu befördern, zu befriedigen oder zu enttäuschen?26 22 Couldry, Nick: »Liveness, ›reality‹, and the mediated habitus from television to the mobile phone«, in: Communication Review 7 (2004), S. 353-361. 23 Zwink, Christian: Imagination und Repräsentation. Die theoretische Formierung der Historiographie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich, Tübingen: Niemeyer 2006. 24 Ankersmit, Frank: De sublieme historische ervaring, Groningen: Historische Uitg. 2007. 25 Zum Verhältnis von Begehren, das, um als solches empfunden zu werden, a priori unerfüllt bleiben muss, und Bedürfnis, welches sich durch Erfüllung des Bedürfnisses auflösen lässt, siehe Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg u. München: Alber 1992. 26 Lambert, Joe: Digital Storytelling. Capturing Lives, Creating Community, London: Routledge 2002.
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Tatsächlich besteht die Neuheit verschiedener Formen von transmedialer oder crossmedialer Erzählung in der Kombination von unterschiedlichen Medien und damit in der Rekombination diverser narrativer Strategien und erzählerischen Ausdrucksmöglichkeiten.27 Waren wir bisher gewohnt, eine Geschichte entweder in Buchform, als Film, serielles Radio- oder Fernsehereignis, Graphic Novel oder Videospiel anzueignen, bieten das Internet bzw. digitale Plattformen die Möglichkeit, diese Medien samt narrativer Konventionen zu mischen bzw. zu kombinieren und so zu einem neuen sensorischen wie intellektuellen ›Gesamtkunstwerk‹ zu machen. Ferner betont die Fachliteratur, dass das Neue oder Besondere transmedialer Formen der Erzählung weniger im Spielen oder Experimentieren mit narrativen Strategien liegt, sondern in der Realisierung von interaktiven und partizipativen Elementen, die es dem Zuhörer, Zuschauer und Mausklicker ermöglichen, eine den individuellen Interessen angepasste Aneignung der angebotenen Inhalte zu realisieren.28
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UNBEQUEME O FFENHEIT DER G ESCHICHTE : TRANSMEDIA STORYTELLING UND NICHT - LINEARE E RZÄHLSTRUKTUREN
Tatsächlich ermöglichen es ›database histories‹, sich von vorgefertigten und argumentativer Kohärenz geschuldeten Meistererzählungen zu emanzipieren.29 Zahlreiche Computerspiele oder virtuelle Ausstellungen machen es möglich, eine bestimmte Geschichte optional aus unterschiedlichen Akteursperspektiven nachzuerleben, bzw. durch die Definition bestimmter historischer Parameter unterschiedliche historische Szenarien als virtuelle Handlungsspielräume zum Leben zu erwecken. 30 Durch diese Multiplikation möglicher Geschichten wird de facto der grundsätzlichen Offenheit historischer Prozesse Rechnung getragen – die ›Aneignung‹ von historischen Erzählungen bzw. Inszenierungen kommt in diesem Sinne einer Demokratisierung der Interpretation von Geschichte gleich. Der scheinbare Autoritätsverlust des professionellen Geschichtsdeuters, der mit dieser Vervielfältigung möglicher Szenarien und Interpretationen einhergeht, 27 Kalogeras, Stavroula: Transmedia Storytelling and the New Era of Media Convergence in Higher Education, London: Palgrave 2014. 28 Hartmut Koenitz et al. (Hg.), Interactive Digital Narrative. History, Theory and Practice, London: Routledge 2015. 29 Anderson, Steve: Technologies of History. Visual Media and the Eccentricity of the Past, Hanover/NH: Dartmouth College Press 2011. 30 Chapman, Adam: Digital Games as History: How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice, London: Routledge 2016.
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sollte in meinen Augen als Pluralisierung von historischen Interpretationsangeboten begrüßt werden. Insofern können multiperspektivische Erzählungen einen wichtigen Beitrag zur ›geteilten Autorität‹ von professionellen Historikern und der großen Masse historisch Interessierter leisten.31 Unabhängig von den hier kurz skizzierten geschichtstheoretischen Frageund Problemstellungen – die wahrscheinlich auch unter professionellen Historikern nur eine kleine Minderheit von geschichtsphilosophisch interessierten Kolleginnen und Kollegen interessieren dürfte, möchte ich zum Schluss dieses kurzen Exposés darauf hinweisen, dass sogenannte populäre Formate wie Romane (Name der Rose), Filme (Ben Hur), Fernsehserien (Holocaust), Radiofeatures (ZeitZeichen), Theaterstücke (Die Ermittlung), Comics (Maus), Videospiele (Total War), Brettspiele (El Grande), Lieder (Strange Fruit), Ausstellungen und Re-enactments die historische Imagination von Millionen, ja Milliarden von Menschen nachhaltiger geprägt haben dürften, als dies Fachbücher von professionellen Historikern vermochten. Wie Jerome de Groot in seinem Buch Consuming History. Historians and Heritage in Contemporary Popular Culture gezeigt hat, ist die massenhafte Produktion und Konsumption historischer Themen und Inhalte nicht nur ein Zeichen für die enorme Popularität von Geschichte als Unterhaltung, sondern zugleich Ausdruck der gesellschaftlichen Relevanz von Geschichte im öffentlichen Raum. 32 Wenn professionellen Historikern an der Wahrnehmung ihrer Forschungsergebnisse im Sinne der Produktion gesellschaftlicher Relevanz gelegen wäre, dann täten sie gut daran, neue und kreative Formen des Geschichtenerzählens auf spielerische Weise zu erproben, statt mit elitären Gesten zu ignorieren. Grenzgänge zwischen populären und wissenschaftlichen Textgattungen waren sowohl im 19. wie im 20. Jahrhundert fester Bestandteil der Geschichtskultur und erfreuen sich auch heute großer Beliebtheit.33 Gute und inspirierende Beispiele hierfür gibt es genug – sowohl in klassischen Formaten wie digitalen Medien. Hans Magnus Enzensberger literarische Verarbeitung der verhängnisvollen deutschen Geschichte in Hammerstein oder der Eigensinn oder Laurent Binets biografischer Essay über Reinhard Heydrich 31 Zum Konzept der ›shared authority‹ siehe Frisch, Michael: A Shared Authority. Essays on the Craft and Meaning of Oral and Public History, Albany/NY: State Univ. of New York Pr. 1990. 32 De Groot, Jerome: Consuming History. Historians and Heritage in Contemporary Popular Culture, London: Routledge 2008. 33 Siehe Nissen, Martin: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900), Köln: Böhlau 2009; Wolfgang Hardtwig/Erhard Schütz/Ernst Wolfgang Becker (Hg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2005.
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HHhH demonstrieren in systematischer Weise, wie fiktive Erzählung, historische Reflexion, selbst-reflexive Einschübe und Quellen auf kongeniale Weise zu einem Leseerlebnis zusammenfügt werden können, bei dem weder kreative narrative Komposition, noch sprachlicher Genuss und kritisches Nachdenken zu kurz kommen.34 Den historischen Nachdenkprozess – also das »in Dialog treten mit sich selbst« für den Leser explizit und damit nachvollziehbar zu machen, gehört zu den größten Herausforderungen guter Geschichtserzählung. In den Worten von Armin Heinen: »Der geplante Dialog mit mir selbst wird als Text für Fremde nur dann überzeugen, wenn ich mich als kenntnisreicher Ich-Autor meinem neugierigen Ich-Leser verständlich zu machen weiß. Sich auf kluge Weise selbst als Ich-Leser ›dumm‹ zu stellen, ist vermutlich eine der größten Fähigkeiten wirklich kluger Historiker«.35 Diesen Grenzgang zwischen narrativer Fiktion und faktenbasierter Erzählung zu meistern, ist eine Herausforderung – sowohl für Historiker als auch für Journalisten. Das Internet und neue digitale Werkzeuge bieten hier die Möglichkeit, neue Wege zu gehen. Ein Beispiel für das innovative Potenzial solcher transmedialen Erzählformen ist die animierte Graphic Novel The Boat der australischen Special Broadcasting Service Corporation (SBS), welche die Geschichte der so genannten ›boat people‹ (also der ca. 800.000 aufgrund des Vietnamkrieges über das Meer geflohenen Flüchtlinge) auf eindrucksvolle Weise in eine interaktive Bildersprache und immersive Soundcollage übersetzt.36 Ein ähnlich eindrucksvolles Beispiel transmedialer Erzählung im online-Modus bietet die preisgekrönte Webdokumentation The 21st Century Goldrush – How the Refugee Crisis is Changing the World Economy der beiden Journalisten Malia Politzer und Emily Kassie, die in vier Episoden eine verstörende Geschichte der aktuellen Flüchtlingskrise aus der Perspektive der ›Krisengewinnler‹ erzählt, indem sie Augenzeugenberichte, animierte Grafiken, Filmaufnahmen, Fotografien und Sekundärliteratur zu einer jeweils episodisch geschlossenen und narrativ kohärenten Darstellung zusammenfügt und dem Leser, Hörer und Zuschauer dennoch ganz unterschiedliche mediale Formate und Aneignungsmöglichkeiten mit entsprechend komplexem ›Authentizitätsgrad‹ und immersivem Potenzial anbietet.37 Es sind solche experimentellen Formate, welche gezielt die Grenzen monomedialer und monokausaler Erzählmuster und -konventionen spielerisch verschieben und somit das Potenzial haben, beim Nutzer und Konsumenten Grenz-
34 Enzensberger, Hans Magnus: Hammerstein oder der Eigensinn – Eine deutsche Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008; Binet, Laurent: HHhH, Paris: Grasset 2010. 35 Armin Heinen, Wege in den ersten Weltkrieg, S. 22. 36 Siehe http://www.sbs.com.au/theboat/ (abgerufen am 24.7.2017). 37 Siehe https://tinyurl.com/hxjorlr (abgerufen am 24.07.2016).
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erfahrungen in der ›Wahr‹-nehmung historischer Narrative zu evozieren. Leider sind diese Experimente in der academic community eher selten.38 Wer sich aber auf solche Grenzüberschreitungen einlässt – sei es als Produzent oder Konsument historischer Narrative – wird durch kreative Verunsicherung belohnt; also mit dem, was Wissenschaft leisten sollte.
38 Als eines der wenigen Beispiele transmedialer Erzählung im Bereich der akademischen Geschichtswissenschaft kann die »Megaprojects«-Webseite der kanadischen Historikerin Joy Parr gelten, welche, aufbauend auf ihrem sinnesgeschichtlich inspiriertem Buch Sensing Changes. Technologies, Environments, and the Everyday, 19532003 (2009), eine multi-mediale Erweiterung der im Buch literarisch erzählten Geschichten im virtuellen Raum anbietet. Siehe http://megaprojects.uwo.ca/ (abgerufen am 24.07.2017).
Das Kartenspiel Unterwegs zu einer grenztranszendierenden ›euregionalen‹ Identität? R ÜDIGER H AUDE
Spielen wir ein Meta-Spiel: die spielerische Entwicklung eines Spielbretts bzw. einer Spiel-Karte. Die Aufgabe jenes Karten-Spiels wäre, das Zusammenwachsen der Bevölkerung einer Region (der »Euregio Maas-Rhein«, kurz: EMR), deren Gebiet sich auf drei Staaten erstreckt,1 darzustellen und dadurch zugleich zu befördern. Spielziel also: Herausbildung einer grenzüberschreitenden, ›euregionalen‹ kollektiven Identität.2 Dieses Meta-Spiel wird tatsächlich seit einigen Jahrzehnten gespielt. Ein Problem für die Umsetzung der Spielidee liegt darin, dass jene Spielentwickler die Lo-
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Die Euregio Maas-Rhein (EMR) ist ein regionaler Zusammenschluss im belgisch-niederländisch-deutschen Dreiländereck; sie besteht aus den belgischen Provinzen Limburg und Liège, dem südlich der Stadt Roermond liegenden Teil der niederländischen Provinz Limburg, sowie auf deutscher Seite der Regio Aachen (die sich aus der »Städteregion Aachen« sowie den Kreisen Heinsberg, Düren und Euskirchen zusammensetzt). Die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, die auf Teilterritorien der Provinz Liège liegt, zählt als eigenständiges Mitglied der EMR, so dass in der Regel von fünf Konstituenten ausgegangen wird. Die Euregio Maas-Rhein wurde 1976 als Arbeitsgemeinschaft gegründet und hat seit 1991 die Rechtsform einer Stiftung niederländischen Rechts. Zu den erklärten Prioritäten der EMR gehört die »Stärkung der kulturellen Identität der Euregio Maas-Rhein«, die »Stärkung des euregionalen Bewusstseins und die Intensivierung der Kontakte zwischen den Bürgern der Euregio«. Unter den vier thematischen Kommissionen der EMR findet sich die Kommission »Jugend, Kultur, Unterricht und euregionale Identität«. Vgl. »Operationelles Programm, Ziel Europäische Territoriale Zusammenarbeit, INTERREG IV-A, Euregio Maas-Rhein, 2007-2013«, S. 11 u. 120.
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gik des Spielens nur unzureichend verstanden haben. So wird weithin davon ausgegangen, bei der EMR handele es sich um ein ›Land ohne Grenzen‹, wohl in der Annahme, dass man dort dann ein ›Spiel ohne Grenzen‹ entwerfen könne. Land ohne Grenze – so hatte der Lütticher Historiker Jean Lejeune sein Buch über die Region zwischen Maastricht, Aachen und Lüttich betitelt, in dem er auf kulturgeschichtliche Gemeinsamkeiten hinwies. Im Rückgriff auf die karolingische Reichsgründung im Mittelalter sollte die moderne Grenzüberwindung motiviert werden.3 Das war 1958, in einer Zeit, als die Staatsgrenzen, insbesondere nach Deutschland, noch sehr beträchtliche Hindernisse darstellten. Aber noch 2002 wiederholte der Aachener Wirtschaftsgeograph Helmut W. Breuer den Slogan »Land ohne Grenzen« als Aufsatztitel.4 Lejeune wollte das Zusammenwachsen der (späteren) EMR durch die historische Konstruktion der Region als karolingisches Kernland begründen. Aus jener mittelalterlichen Epoche wurde gerne auf die Geschichte insgesamt kurzgeschlossen, wie in einer EMR-Broschüre: »If the creation of the Maas-Rhein [sic] Euregion is to be restored in the context of the creation of Europe […], it is obvious that its origins must be found in history, this region having always enjoyed in the past a relatively high level of homogeneity.«5
Diese Strategie hat Armin Heinen einmal zutreffend mit Eric Hobsbawms Begriff als eine »invention of tradition« charakterisiert.6 Streng genommen war die Region nach dem Tod Karls des Großen nur noch in den zwei Jahrzehnten der napoleonischen Zeit politisch vereinigt.7 Die Annahme, dass die beim Wiener Kongress gezogenen Grenzen nur ein Betriebsunfall der Geschichte gewesen seien, 3 4
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Lejeune, Jean: Land ohne Grenze, Aachen u.a.: Dessart 1958. Breuer, Helmut W.: »Land ohne Grenzen. Entwicklung der Regio Aachen in der Euregio Maas-Rhein«, in: Richard Baum/Béatrice Dumiche/Gilles Rouet (Hg.), Europa der Regionen – L'Europe des Régions. Euregio Maas-Rhein – Région Champagne-Ardennes, Bonn: Romanistischer Verlag 2002, S. 297-315. Europa Konkret (Hg.), L’Euregio Meuse-Rhin/Die Euregio Maas-Rhein/De Euregio Maas-Rijn, Liège 2000. Z.n. Kramsch, Olivier Thomas: »Re-Imagining the ›Scalar Fix‹ of Transborder Governance. The Case of the Maas-Rhein Euregio«, in: Eiki Berg/Henk van Houtum (Hg.), Routing Borders Between Territories, Discourses and Practices, Aldershot: Ashgate 2003, S. 211-235, hier S. 226. Heinen, Armin: »›Weißt du noch?‹ Warum die Geschichte der Grenzregion zwischen Eupen, Maastricht und Aachen neu und anders geschrieben werden muss«, in: Jac van den Boogard et al. (Hg.), Grenz-Controle – Grens-Kontrolle. Aachen, Eupen, Maastricht – Oral Histories, Remscheid: Gardez! 2008, S.17-21, hier S.18. Knippenberg, Hans: »The Maas-Rhine Euroregion: A Laboratory for European Integration?«, in: Geopolitics 9 (2004), H.3, S. 608-626, hier S. 612. – Diese Aussage gilt im
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hat deshalb wenig Anhalt in der Realität. Überdies stand der katholisch-karolingische Gründungsmythos in Konflikt mit der eher durch Renaissance und Reformation geprägten allgemeinen europäischen Einigungserzählung, wie Etienne François gezeigt hat.8 Aber wenn das Lejeune’sche Argument gestimmt hätte: Wie spielt man auf einem grenzenlosen Spielfeld? Hatte nicht der große niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga »Abgeschlossenheit und Begrenztheit« als unverzichtbares Kennzeichen des Spiels, und insbesondere die Spielplätze – die Arenen und Spieltische, Tempel, Bühnen, Filmleinwände usw. – als »geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet« betrachtet?9 Obwohl Huizinga auch die moderne parlamentarische Politik als Spiel analysierte, thematisierte er weder hier noch in seinen Ausführungen über den Krieg die Kartographie, welche doch die ›Spielbretter‹ für groß angelegte, national oder transnational definierte Spielplätze liefert. Dabei ist doch evident, dass etwa das Schachspiel auf einer stilisierten Landkarte stattfindet. Dass Schachbretter Bretter seien, »die die Welt bedeuten«, wie der Aachener Kunsthistoriker Hans Holländer einmal formulierte,10 hat auch eine ziemlich konkrete topographische Semantik. Auch das ›Spielfeld‹ einer geographischen Karte, die ihrerseits die Welt (oder einen Ausschnitt davon) bedeutet, lässt sich überhaupt nicht ohne Grenzen denken. Und dies in zweifacher Hinsicht: Erstens ist die (in der Regel rechteckige) Begrenzung der Karte unhintergehbar,11 zweitens wird das auf der Karte Dargestellte kenntlich vor allem durch die Markierung seiner äußeren und inneren Begrenzungen, mögen diese geologischer oder historisch-politischer Herkunft sein.
Hinblick auf die Frage nach der Souveränität. Die Intensität grenzüberschreitender Alltagskontakte wäre davon unabhängig zu untersuchen. 8 François, Etienne: »Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? Eine Einleitung«, in: Bernd Henningsen/Henriette Kliemann-Geisinger/Stefan Troebst (Hg.), Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2009, S. 25-28. 9 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966. 10 Holländer, Hans: »›Bretter, die die Welt bedeuten‹. Das Schachspiel in der frühen Neuzeit: Strukturen, Bilder und Figuren«, in: Christiane Zangs/Hans Holländer (Hg.), Mit Glück und Verstand. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der Brett- und Kartenspiele. 15. bis 17. Jahrhundert. Aachen: Thouet 1994, S. 21-30. 11 Dies gilt im Prinzip auch für digitale kartographische Wiedergaben. Interaktive Karten wie OpenStreetMap oder Google Maps erlauben Ein- und Auszoomen sowie Scrollen, also quasi grenzenloses Navigieren; der begrenzende Rahmen bleibt gleichwohl in jedem Augenblick erhalten. Dies gilt, solange kartographische Repräsentationen auf zweidimensionale Projektionsflächen begrenzt bleiben. – Im Folgenden geht es durchwegs um nicht-navigierbare Karten.
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Wenn also Karten »Weisen der Welterzeugung sind«12 (weswegen wir diese Diskurssphäre hier rechtens als ›Spiel‹ betrachten), dann wäre die von einer grenzenlosen Karte geschaffene Welt nur weißes Rauschen. Die Landkarte wird zu einer wichtigen »Institution politischer Macht«, weil sie bei der Konstruktion imaginierter Gemeinschaften wirkt, wie unter anderem Benedict Anderson in seinem Nationalismus-Buch gezeigt hat.13 Die Karte ist in diesem Sinne nicht Abbild, sondern Vorbild politischer Realität.14 Indem man ein Territorium mit seinen Grenzen und seinem Eigennamen darstellt, erzeugt man ein »Bild der Homogenität« und »verknüpft Menschen und Land, um einen Sinn für den Ort und für […] Identität zu schaffen«.15 (In diesem sehr zeitgenössischen Zitat habe ich das Wort »nationale« vor »Identität« ausgelassen. Die Untersuchungen zur Macht von Karten pflegen sich immer noch auf Nationen zu beziehen, aber cum grano salis lassen sie sich auf Territorialbildungen schlechthin übertragen – gewiss dort, wo es eben um eine nicht selbstverständliche Identitätsbildung geht.) Ein Grund dafür, dass Karten dieses besondere identitätsbildende Potenzial besitzen, liegt in ihrer scheinbaren Objektivität. Man nennt dies den ›Realitätseffekt‹ von Karten. 16 Die Kartografin Karen Culcasi formuliert, Karten lieferten »den ›sichtbaren Beweis‹ der Existenz« der dargestellten territorialen Einheit.17
12 Dünne, Jörg: »Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2009, S. 49-69, hier S. 52. – Anhand deutsch-niederländischer Grenzregionen hat Anke Strüver diese Einsicht semiotisch gefasst; sie betrachtet Karten als »kulturelle Texte, die die Welt nicht nur widerspiegeln, sondern konstruieren«. Strüver, Anke: Stories of the ›Boring Border‹. The Dutch-German Borderscape in People’s Minds, Münster: Lit 2005, hier S. 49. – Vgl. ferner Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt 2006, hier S. 300. 13 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. u. New York: Campus 1996, hier S. 163. – Pickles, John: A History of Spaces. Cartographic reason, mapping and the geo-coded world, London u. New York: Routledge 2006, hier S. 12, geht so weit zu postulieren: »Kartographen fabrizieren Macht.« 14 Vgl. B. Anderson: Erfindung, S. 175. – Ähnlich auch J. Pickles: History, S. 5: »Maps and mapping precede the territory they ›represent‹.« 15 Culcasi, Karen: »Nation-State Formation and Cartography«, in: Mark Monmonier (Hg.), The History of Cartography 6, Chicago u. London: University of Chicago Press 2015, S. 1000-1009, hier S. 1001. 16 Caquard, Sébastien: »Narrative and Cartography«, in: M. Monmonier (Hg.), The History of Cartography 6, S. 986-991, hier S. 986. 17 K. Culcasi: Nation-State Formation, S. 1009.
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S PIELVORBEREITUNG Tatsächlich wurde ein Teil der Spielregeln unseres Meta-Spiels schon vorab just auf dem Boden der späteren EMR entwickelt. Freilich für ein ganz anderes Spiel, das damals sehr in Mode stand: den Nationalismus. Auch dabei ging es um Identitätsbildung. Der Geograph Max Eckert (seit 1934 Eckert-Greifendorff), der von 1907 bis 1935 an der TH Aachen lehrte und hier die mitteleuropäische Kartographie begründete, wies Landkarten die Funktion zu, »die Lage und Form der betreffenden Länder dem Gedächtnis einzuprägen«, wobei er über die Verwendung von Farbe sinnierte und dem »Flächenkolorit« gegenüber dem »Randkolorit« den Vorzug gab. 18 Gerade neuartige politische Gebilde, wie seinerzeit (1938) das »Großdeutsche Reich«, sollten nicht zuletzt in Schulatlanten »durch plakatartig wirkende Farbengebung in die Augen springen«.19 Auch wenn Eckert den Begriff ›Identität‹ nicht verwendete, so meinte er doch etwas Ähnliches; etwa wenn er das Rheinland als »eine politisch-geographische Charakterlandschaft« bezeichnen zu können meinte, »die insbesondere durch das Zusammengehörigkeitsgefühl und den wirtschaftspolitischen Betätigungswillen ihrer Bewohner ausgezeichnet« sei.20 Politisch-geographische Karten wollten »darstellen, wie ein Volk in seinem von politischen Grenzen umrissenen Lebensraum hineinwächst und darüber hinausquillt«.21 Grenzen waren ihm »organische[.] Gebilde«, hierin folgte Eckert seinem Lehrer, dem »Anthropo-Geographen« Friedrich Ratzel. Dass die deutschen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg »bloß als eine vorübergehende Erscheinung« aufzufassen seien, war Eckert bereits 1925 gewiss.22 Aber er wollte sie nicht aufgelöst, sondern verschoben sehen. In seinem Spätwerk erschien ihm nicht zuletzt auch die neue Grenze zwischen Deutschland und Belgien als ein »Unding«.23 In den 1970er Jahren, als man begann, Ernst zu machen mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, lag also als These Eckerts Spielregel eines sozialdarwinistischen Nationalismus vor, und als Antithese Lejeunes Leugnung der
18 Eckert, Max: Die Kartenwissenschaft. Forschungen und Grundlagen zu einer Kartographie als Wissenschaft, Bd. 2, Berlin u. Leipzig: De Gruyter 1925, hier S. 497. 19 Ders.: Kartographie. Ihre Aufgaben und Bedeutung für die Kultur der Gegenwart, Berlin: De Gruyter 1939, hier S. 339. 20 Ders.: »Politische Geographie der Rheinlande«, in: Alfred Philippson (Hg.), Düsseldorfer geographische Vorträge und Erörterungen. Teil 2: Zur Geographie der Rheinlande, Breslau: Hirt 1927, S. 32-43, hier S. 43. Z.n. Blotevogel, Hans-Heinrich: »Rheinische Landschaft« – zur geographischen Konstruktion des Rheinlands 1790-1945, Ms. Duisburg 2001, S. 30. 21 M. Eckert: Kartographie, S. 348. 22 Ders.: Die Kartenwissenschaft, S. 499. 23 Ders.: Kartographie, S. 349.
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Abbildung 1: Zweierlei kartografische Logiken. (links) Eichler, Max: Du bist sofort im Bilde. Lebendig-anschauliches Reichsbürger-Handbuch, Erfurt: Cramer 1940, S. 58 – maximaler Kontrast zur Unterscheidung zwischen innen und außen; (rechts) J. Lejeune: Land ohne Grenze, Titelseite – Abwesenheit jedes Kontrasts zwecks Negierung der Grenzen.
Grenzen, die die Möglichkeit jedes Spiels zerstören musste (siehe Abb. 1). Welche Synthese würden die euregionalen Identitäts-Pfadfinder bei ihrer kartographischen Arbeit daraus entwickeln? Betrachten wir dieses Meta-Spiel etwas genauer. Es lässt sich in ›Runden‹ gliedern, die nicht allzu streng chronologisch verstanden werden dürfen, sondern typologisch nach ihrem semantischen Gehalt abgegrenzt werden.
R UNDE 1 Ab wann die kartographische Kontur der EMR ihren Einwohnern vermittelt wurde – etwa in Zeitungen – ist hier nicht genau festzustellen. In dem von mir zusammengestellten kartografischen Sample 24 finden sich ab 1986 Darstellungen der
24 Für die EMR habe ich ein Sample von kartografischen Darstellungen erstellt, das bei Abschluss meines grenzregionalen Forschungsprojekts »Das Wörterbuch wechseln« im Jahre 2012 etwa 50 Karten umfasste, die fast ausnahmslos aus dem Internet stammten. Für den vorliegenden Text habe ich Ende 2016 / Anfang 2017 die Internetrecherche erneuert und überdies regionalgeschichtliche Buchveröffentlichungen sowie Schulbücher auf kartographische Repräsentationen der EMR hin ausgewertet. Nunmehr liegen insgesamt 83 verschiedene Euregio-Karten vor. Das Sample weist einen leichten Bias zugunsten deutscher Quellen auf, kann aber insgesamt als empirisch gesättigt gelten.
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Abbildung 2: Standarddarstellungen der EMR. (von links oben nach rechts unten) Burgen und Festungen in der Euregio Maas-Rhein, 2002 – noch keine Abgrenzung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens; Wikipedia (2008) – kräftige Farben, Farbverwandtschaft gemäß Staatszugehörigkeit; Euregio vis-à-vis (Schulbuch), 2010 – kräftige Farben, Farbverwandtschaft gemäß dominierender Sprache; www.lernen-ohne-grenzen.de (2008); www.ice-emperors.de (Aachener Hochschul-Eishockeymannschaft), 2008; www.eurorue .net (IT-Projektbüro in Heerlen), 2016 – Beschränkung auf zwei verwandte Farbtöne. Die kartografische Einsicht, dass starke Kontraste in der Regel für große Unterschiede bzw. Konfrontationsstellungen stehen, während verwandte Farben auch verwandte Phänomene ausdrücken sollen, wird teilweise krass missachtet.
Kontur der EMR mit den Binnengrenzen und den wichtigsten Städten. Zuerst 2002 nachweisbar, finden sich die vier territorialen Konstituenten Regio Aachen (D), Midden- und Zuid-Limburg (NL), Limburg (B) und Liège (B) in verschiedenen Farben auf diesem Territorium abgebildet; 2008 hat sich die farblich separate Darstellung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Teil der Provinz Liège) als fünfte Konstituente durchgesetzt. Dies ist bis heute die Standarddarstellung der EMR. Das Spielbrett – genau genommen eher eine ›Spiel-Karte‹ – lag damit vor und hätte qua Wiedererkennung zur Aufgabe der euregionalen Identitätsbildung beitragen können. Im Gegensatz zum alten Claim Lejeunes wird dieses Spielbrett gerade durch die äußeren und inneren Grenzen definiert. Es ist jedoch auffallend, dass eine Logo-Bildung25 insoweit konterkariert wurde, als die Farbenwahl immer 25 Karten dienen als »Logo« des von ihnen dargestellten politisch-territorialen Gebildes. Diesen Begriff verwendet K. Culcasi: Nation-State Formation, S. 1009 ebenso wie schon B. Anderson: Erfindung, S. 176f. Um diese Logo-Funktion erfüllen zu können, müssen Karten vor allem die Form des Territoriums wiedererkennbar darstellen. Das gilt für substaatliche oder transnationale Gebilde ebenso wie für Staaten. Insofern gelten kartographische Einsichten, wie sie etwa von Eckert pionierhaft entwickelt wurden,
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Abbildung 3: Die erweiterte EMR. (von links nach rechts) www.interregemr.info (2008) – Reichweite des Förderprogramms für die EMR im Rahmen von Interreg III; Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu: Infektieziekten Bulletin Okt. 2005, S. 278; www.grenz pendler.nrw.de (2008).
wieder aufs Neue vorgenommen wurde: Mal eine, mal drei, mal fünf Grundfarben; mal Pastelltöne, mal kräftige Farbtöne; mal Farbverwandtschaft gemäß der staatlichen Zugehörigkeit, mal gemäß der dominierenden Sprache; mal überhaupt nicht (siehe Abb. 2). Die geometrisch angelegte Logo-Bildung wurde also durch das Kolorit wieder zurückgenommen.
R UNDE 2 Diese Probleme wurden nicht kleiner dadurch, dass ein anderes Spiel mit dem gleichen Namen »EMR« erschien, das ein ganz anderes Ziel hatte, nämlich, möglichst viele europäische Fördergelder zu erhalten. Der Spielplan hatte – gemäß dem Zuschnitt der förderberechtigten Regionen – eine andere Kontur, was die EMR-Logo-Bildung weiter beeinträchtigte. Umso mehr, als vereinzelt Ausgaben des erstgenannten Spiels – nennen wir es das ›EMR-Identitätsspiel‹ – diesen abweichenden Spielplan verwendeten (siehe Abb. 3). Überdies erschienen weitere Spielpläne, die Karten abbildeten, deren Form in mannigfacher Weise von der Logo-Form abwichen. Mal wurde ein deutscher Landkreis oder ein Luxemburgisches Naturschutzgebiet stillschweigend der EMR zugeschlagen; mal die Provinz Belgisch-Limburg vergessen; mal die gesamte Provinz Niederländisch-Limburg eingemeindet, während die deutsche Konstituente auch hier, selbst wenn dies mit dessen nationalistischen Intentionen in Widerspruch steht.
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Abbildung 4: Abweichende EMR-Konstruktionen. (von links oben nach rechts unten) www. euregioweb.de (2009) – Standard-EMR plus Rhein-Erft-Kreis, deutsche Landkreise einzeln koloriert; www.mergelwind.com (2012) – Standard-EMR plus Naturpark Our; www.eure gio-info.de/ (2012), Arbeiten in der Euregio Maas-Rhein – Standard-EMR minus BelgischLimburg und Landkreis Euskirchen; Alfred Lang u.a. (Hg.), Education across borders, Eisenstadt: Burgenländische Forsch.-Ges. 2005, S. 51 – Standard-EMR plus Nordlimburg (NL), minus Landkreise Heinsberg, Düren, Euskirchen. Hier liegt eine besonders starke Akzentuierung der Staatsgrenzen vor; archive.interact-eu.net (2012) – Standard-EMR plus Landkreise Bitburg-Prüm, Daun (D), minus Midden-Limburg (NL), Arr. Hasselt, Waremme, Huy (B).
auf die Städteregion Aachen reduziert wurde; mal wurde das niederländische Midden-Limburg sowie die belgischen Arrondissements Hasselt, Waremme und Huy abgezogen und dafür die rheinland-pfälzischen Landkreise Bitburg-Prüm und Daun hinzuaddiert. Welche dieser Abweichungen aus der spezifischen Aufgabe der jeweiligen Karte folgten, und welche aus fehlerhafter Nachlässigkeit der Kartenmacher resultierten, lässt sich oft schwer herausfinden (siehe Abb. 4).
R UNDE 3 Wenn Identitätsbildung den Innen-Außen-Kontrast erfordert, dann lag es nahe, die EMR in einem breiteren Kontext abzubilden. Dies führte zu einem neuen Spielbrett-Typus, der die Standardkontur in einem größeren, meist von den Metropolen London, Amsterdam, Frankfurt/Main und Paris abgesteckten Areal zeigt. Hier
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Abbildung 5: Europäische Einbettung. (von links oben nach rechts unten) Operationelles Programm, Ziel Europäische Territoriale Zusammenarbeit, INTERREG IV-A, Euregio Maas-Rhein, 2007-2013, S. 12 (2007); eujazz.com (2012) – dreierlei europäische Maßstäbe, beim mittleren Maßstab ist die EMR so dargestellt, als stellte sie einen eigenständigen Staat zwischen B, D und NL dar; brankopopovic.blogspot.de (2012), Bewerbung Maastrichts als Kulturhauptstadt Europas 2018 – EMR-Kontur durch einen Isochronenkreis ersetzt; www.mosaica-aachen.org (2010), Europäisches Jugendgästehaus Aachen – außer Städten und der EMR-Kontur werden keine topografischen Details dargestellt (auch nicht das Meer).
ging es darum, die wirtschaftlich günstige Zentrallage der EMR zu verdeutlichen, wie bei der Übersichtskarte aus dem »Interreg-IVA«-Programm der EMR, oder auch ihre kulturell günstige Zentrallage, wie bei »Eujazz«, einem grenzüberschreitenden Zusammenschluss von Jazz-Initiativen und -veranstaltern; oder wie im Falle der Bewerbung Maastrichts als »Kulturhauptstadt Europas« 2018. Letztere Abbildung hat die EMR-Kontur durch einen etwa gleich großen Isodistanz-Kreis um Maastricht herum ersetzt (siehe Abb. 5). Mit dieser Horizonterweiterung wurde die EMR in einem semantisch dadurch bedeutsamen Europa verortet. Gewissermaßen wurde dadurch die EMRAußengrenze als Trennlinie zwischen Innen und Außen stärker betont, weil jenes Außen überhaupt thematisch wurde. Interessanterweise ist bei diesem Kartentypus
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Abbildung 6: EMR als London Tube. reportagebox.files.wordpress.com (2010) – »Eutropolitan«.
dann auch eine farbliche Binnendifferenzierung in der Regel abwesend; ja, hier sind auch die beiden (abgesehen von einigen geomorphologischen oder kulturhistorischen Karten) einzigen Exemplare verortet, welche auf die Darstellung von Innengrenzen der EMR ganz verzichten.
R UNDE 4 Die Symbolizität der bisher erwähnten Karten ist bereits überbordend. Die Entscheidungen über die Farbgebung, die Hervorhebung innerer und/oder äußerer Grenzen der EMR, die Nennung oder Weglassung zusätzlicher geographischer Details geben jeder einzelnen Karte ihre eigene Bedeutungs-Nuancierung. Dies könnte in Einzelfallanalysen gezeigt werden, für die hier der Platz fehlt. Viele Kartenmacher haben aber einen zusätzlichen Symbolisierungsaufwand getrieben. Zum Beispiel gibt es zwei Darstellungen, welche die EMR unter Verwendung von (oder Anspielung auf) die berühmte Tube Map von Harry Beck abbildet, welche das Liniennetz der Londoner Untergrundbahnen schematisiert darstellt. Indem nun etwa die Stationen dieses Netzplans mit Ortsnamen der EMR bezeichnet werden, assoziiert man der Euregio nicht nur einen metropolitanen Status, sondern auch die Konzepte von Geschäftigkeit und Geschwindigkeit, und vor
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allem: eine konsistente Vernetzung (siehe Abb. 6). Im Sinne des Spielziels, kollektive euregionale Identität zu stiften, ist das eine originelle Idee; aber da sie sich in Konkurrenz zu den Standardansätzen stellt, verstärkt sie wieder nur die Vielstimmigkeit und erschwert die Logo-Bildung. Andere symbolische Additive lassen sich im Wesentlichen in zwei Objektgruppen aufteilen: Pfeile und Herzen. Die Pfeile können ringförmig auf das EMRGebiet appliziert werden, um interne Austauschzirkel zu symbolisieren, oder radial von dem EMR-Gebiet ausstrahlen, um Einfluss und Bedeutung für die Außenwelt auszudrücken, wie oben in der Abb. 4 (rechts oben). Herzen hingegen reklamieren einerseits eine Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit, welche der Region bzw. ihren Bewohnern eignen soll; so in einer Abbildung einer touristisch orientierten Internetseite, wo die EMR-Kontur durch die Form eines Herzens ersetzt wurde. Zugleich wird andererseits an die Rede von der EMR als dem »Herzen Europas« angeknüpft, womit wiederum die günstige Zentrallage der Euregio angesprochen ist. Das Herz ist nun aber auch ein Bestandteil der Körpermetaphorik, bei der es sich um eines der wirkungsvollsten diskursiven Mittel überhaupt zur Identitätsstiftung handelt.26 Solche Körpermetaphorik auf die Erdoberfläche zu projizieren, gehörte eigentlich zu den Container-Vorstellungen des Nationalismus. Hatte nicht der Rhein 1925 als »Pulsader des deutschen Volkes« gegolten?27 Ließ sich diese Körperteil-Metaphorik auf ein transnationales Gebilde übertragen? Ja; wenn man den Körper und damit das Identitätskollektiv selbst transnational definierte: als Europa. Tatsächlich wurde dieser Gedanke 2007 künstlerisch umgesetzt (siehe Abb. 7, links). Auf dem Titel eines englischsprachigen Visionspapiers für die EMR sieht man die stilisierte Karte ganz Europas mit den Zügen eines Menschen, bei dem die Herzregion von der EMR gebildet wird, was durch eine herzförmige Lupe vergrößernd verdeutlicht wird. Neben der Zentrallage soll zum Ausdruck kommen, dass die EMR der ›Motor‹ dieses Organismus Europa ist, den europäischen Einigungsprozess also antreibt; gleichzeitig verweist der Motor-Gedanke auch auf die kreative Wissens- und Technologieregion, in der zugleich Lebensqualität groß geschrieben wird; diesem quirligen Bild soll wohl auch die kursive Strichführung
26 Haude, Rüdiger, »Kaiseridee« oder »Schicksalsgemeinschaft«. Geschichtspolitik beim Projekt »Aachener Krönungsausstellung 1915« und bei der »Jahrtausendausstellung 1925«, Aachen: Verlag des Aachener Geschichtsvereins 2000, hier S. 172-175. 27 So in einer Ausgabe der Berliner Börsen-Zeitung. Z.n. R. Haude: Kaiseridee, S. 172.
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Abbildung 7: Europa Regina. (links) Looking to the Future – A Vision for the Euregio www.euregio-mr.org (2007) – Europa in Gestalt einer Frau, die EMR, durch eine herzförmige Lupe vergrößert, als Herz dieser Gestalt; de.wikipedia.org/wiki/Europa_Regina (1582) – Heinrich Büntings Variante der triumphierenden »Europa Regina«.
der Zeichnung entsprechen.28 Die Idee von ›Einheit in Vielfalt‹ wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die fünf Teilregionen der EMR in jener Herzlupe in verschiedenen Farben dargestellt sind (bei äußerst geringer geographischer Akkuratesse). Bei der ganzen Avantgardistik des Bildes fällt ein archaisierendes Element ins Auge: Der Atlantische Ozean ist groß mit Serifenschrift auf Lateinisch bezeichnet und durch ein dreimastiges Segelschiff noch weiter historisiert. Durch dieses Detail verweist die Zeichnung auf einen frühneuzeitlichen Vorgänger: die »Europa Regina«-Karten des 16. Jahrhunderts. Diese zeigten den Kontinent ebenfalls in Gestalt einer weiblichen Person. Aber deren Kopf lag nicht im Norden, sondern im Westen; er wurde von der iberischen Halbinsel gebildet. Portugal war die Krone, das Königreich Sizilien der Reichsapfel, von Italien als dem rechten Arm gehalten, und Dänemark war der linke Arm, dessen Hand ein Szepter hielt. Böhmen hatte die Gestalt eines waldumkränzten Amuletts, das dieser Figur vom Hals herabhing. Dieser von dem habsburgischen Hofbeamten Johannes Putsch 1537 zuerst vorgestellte und oft kopierte Kartentypus überhöhte das Habsburgische Reich und seinen Universalherrschaftsanspruch. Er drückt nicht nur die Einheit
28 Im Text der Broschüre, deren Titel die anthropomorphe Europakarte ziert, heißt es: »Euregion Meuse-Rhine wants to profile itself as a creative knowledge and technology region in the heart of Europe, where quality of life is of the essence. ›United in Diversity‹ remains the strength and challenge of the Euregion Meuse-Rhine.« N.N.: »Looking to the Future – A Vision for the Euregio«, S. 8, https://tinyurl.com/y8vcexs2 (abgerufen am 31.7.2017).
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Europas unter einer iberischen Krone aus, sondern auch die Vorherrschaft dieses Europas in globaler Hinsicht.29 Wo bei der Europa-Regina-Allegorie das Herz zu denken sei, ist seit jeher umstritten. Putsch wollte es wohl in Böhmen verstanden wissen, das in all diesen Karten aber eher einen anderen körperlichen Zentralpunkt darstellt: den Nabel. Die hier (siehe Abb. 7, rechts) wiedergegebene Version des (protestantischen!) Pfarrers Heinrich Bünting (1582) wurde mit der Erklärung versehen, das Herz dieser Europa sei »mein hertzliebes Vaterland / das Fürstenthumb Brunschweig«. Anatomisch betrachtet, läge es aber eher am Niederrhein, nicht allzu weit entfernt vom Gebiet der heutigen EMR. Die EMR-Europafigur besitzt keine Herrschaftsattribute, vielmehr hat sie etwas Groteskes und wirkt wie ein Mensch, der ins Straucheln gekommen ist. Betrachtet man beide Abbildungen nebeneinander, könnte man fast meinen, dass Europa Regina, die ihren rechten Fuß auf den Bosporus gesetzt hatte, ausgerutscht ist und nach hinten hinüberstürzt, wobei sie sich um ihr eigenes Zentrum – das Herz – gedreht hat. Ist das die Bewegung zwischen pränationalen und postnationalen Europa-Bildern?
R UNDE 5 Die Spielrunden zeigen einen zunehmenden Symbolisierungsaufwand bei der Darstellung der EMR. Was sich aber kaum entwickelte, ist die Gestalt der EMR als Symbol, im Sinne der Kartographie seit Max Eckert. Streng genommen liegen bis heute nur zwei Beispiele hierfür vor. Eines davon findet sich in einer 2013 von der Provinz Belgisch-Limburg herausgegebenen Broschüre mit dem Titel EMR2020: Een toekomststrategie voor de Euregio Maas-Rijn. Eine Doppelseite dieser Broschüre ist mit Text gefüllt: dreisprachige Begriffe, welche die Aufgaben und die Vorzüge der EMR umschreiben. Durch Farbgebung der Buchstaben wird die Gestalt der EMR und ihrer Konstituenten hervorgerufen (siehe Abb. 8, links). Die Grafiker haben sich hier offensichtlich auf die spontane Wiedererkennung dieses Ensembles verlassen. 29 Gabaude, Florent/Maleval, Véronique: »Mapping als Bildrhetorik. Das karto- und abstrakt-graphische Denken der Frühneuzeitlichen Publizistik«, in: Marion Picker/Véronique Maleval/Florent Gabaude (Hg.), Die Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen, Bielefeld: transcript 2013, S. 135-157; Werner, Elke Anna: »Triumphierende Europa – Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit«, in: Almut Barbara Renger/Roland Alexander Ißler (Hg.), Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Bonn: Bonn University Press 2009, S. 241-260.
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Abbildung 8: Die EMR als Logo. (links) EMR 2020, Een toekomststrategie. S. 22f. (2013) – Kontur der EMR und ihrer Konstituenten aus Schrift gebildet; Aachener Verkehrsverbund (Hg.), Tickets und Preise. Übergangstarif AVV / Heerlen (2010) – Stilisierte EMR-Kontur als Bildmarke des Interreg-Projekts »mobility euregio«.
Dies gilt auch für das Logo des Projekts »mobility euregio«, das eine Koordination der öffentlichen Verkehrssysteme im Raum der EMR unternimmt. Dieses Projekt wurde im Rahmen des Förderprogramms Interreg IV-A lanciert, also des Nachfolgers eben jenes Programms, welches in der zweiten Spielrunde zur Verunklarung dieser Gestalt beitrug. Das Logo besteht aus dem Schriftzug »mobility euregio«, der in einem breiten Pfeil in die stilisierte, einfarbige und binnengrenzlose Kontur der EMR hineinragt (siehe Abb. 8, rechts). Dieses Logo wird mindestens seit 2010 verwendet. Dies sind die zarten Ansätze einer Logobildung, wie sie für kartographische Identitätsbildung nötig wäre. Sie stellen jedoch Schwalben dar, die noch keinen Sommer machen.
S CHLUSS Das Unvermögen, ein kartographisches Logo der EMR zu etablieren, ist letztlich nicht Ursache, sondern Ausdruck der Unwahrscheinlichkeit einer ›euregionalen‹ Identität. Auch der Irrtum, man könne ein ›Spiel ohne Grenzen‹ spielen, hat keine entscheidende Bedeutung im Ursachenbündel dieser Unwahrscheinlichkeit. Vielmehr sind es ganz andere Grenzen, die im Raum stehen wie ein Weißer Elefant, dessen Anwesenheit niemand anzusprechen wagt: Die objektiven Grenzen der Zuständigkeit dieses Gebildes EMR; und die Dominanz jenes fortwährend konkurrierenden Spiels kollektiver Identität, dessen Abschaffung ein sehr lobenswertes, aber überaus schwieriges Vorhaben ist: der ›Nation‹. Gewiss stimmt es, dass Karten »stets Machtinstrumente sind«, aber wenn sie für eine Idee eingesetzt werden, die über gar keine Machtressourcen verfügt, dann sind es recht stumpfe Instrumente.
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In einer Zeit, in der allenthalben in Europa die Lehren aus den Exzessen des Nationalismus im 20. Jahrhundert vergessen zu werden scheinen, möchte man sich eine Demokratisierung und damit Revitalisierung der transnationalen Versuche wünschen. Transnationale Kartographie könnte dadurch zu einem schärferen Machtinstrument werden. Und eine neue Partie des hier geschilderten Spiels mag dann erfolgreicher ausgehen.
»Glanz und Elend der Kunstkopf-Stereophonie« Eine technik- und medienarchäologische Ausgrabung S TEFAN K REBS
Dieser Beitrag ist das um Anmerkungen und Quellenhinweise ergänzte Manuskript für das gleichnamige Hörspiel des Verfassers, das am 29. und 30. November 2016 im Studio 9 des Bayrischen Rundfunk in Kunstkopf-Stereo aufgenommen und am 11. Juni 2017 vom Luxemburger Sender radio 100,7 urgesendet wurde.1 Das Hörspiel ist Teil des Forschungsprojekts »Failure and Success of Dummy Head Recording: An Innovation History of 3D Listening«.2 Das Hörspiel erzählt einerseits die Geschichte der Kunstkopf-Stereophonie in Kunstkopf-Stereo und macht so zugleich dreidimensionales Hören für den Hörer auditiv erfahrbar. Andererseits informiert die Produktion des Hörspiels, als medienarchäologisches Experiment,3 die daran beteiligten Historiker über die performativen Dimensionen 1
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»Glanz und Elend der Kunstkopf-Stereophonie« – ein Hörspiel von Stefan Krebs, mit Hans Peter Hallwachs als Kunstkopf; Stephan Wurfbaum als Journalist und Andreas Fickers als Medienarchäologe; Recherche, Buch und Regie: Stefan Krebs; Tontechnik: Christian Schimmöller; Produzent: Werner Bleisteiner; Historische und technische Beratung: Günther Hess und Stephan Peus. Eine Produktion des Centre for Contemporary and Digital History der Universität Luxemburg in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Rundfunk und dem EU-Forschungsprojekt ORPHEUS, 2017. Ursendung am 11. Juni 2017 auf radio 100,7: https://tinyurl.com/yaye28ws (abgerufen am 21.7.2017); siehe auch den Projektblog: binauralrecording.wordpress.com. Das Projekt wurde finanziert vom National Research Fund, Luxembourg (FNR) und co-finanziert durch Marie Curie Actions der European Commission (FP7-COFUND), Projektnummer 9151779. Zum methodisch-theoretischen Ansatz der ›Experimentellen Medienarchäologie‹ siehe Fickers, Andreas: »Hands-on! Plädoyer für eine experimentelle Medienarchäologie«, in: Technikgeschichte 82 (2015), S. 67-85.
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(historischer) binauraler Audiotechnik: von der ungewöhnlichen Aufnahmesituation, mit einem kopfähnlichen Mikrofon zu sprechen; über die Aufgaben- und Rollenverteilung im Produktionsteam; den Dynamiken des Produktionsprozesses; bis hin zur einsam gemeinsamen Abhörsituation im Regieraum.4 Die experimentelle Medienarchäologie kann als heuristisches Mittel dabei helfen, ein anderes historisch-kritisches Verständnis für die sozio-technische Konstruktion von Medieninhalten, in diesem Fall binauraler Aufnahmen, zu entwickeln und so zugleich den quellenkritischen Blick bzw. das quellenkritische Gehör zu schärfen. 5 Die Produktion des Hörspiels war dabei auch ein disziplinärer Grenzgang zwischen (Technik-)Geschichte, Medienwissenschaft und Archäologie. Der experimentelle Ansatz hinterfragte zugleich die Grenzen des historischen Arbeitens – gehört doch die Übersetzung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse in das Genre des Hörspiels gewöhnlich nicht zum narrativen Repertoire der Geschichtswissenschaft, sondern der (Radio-)Kunst oder des Journalismus. Schließlich sprengt der dreidimensionale Höreindruck die zumeist zweidimensionale Hörperspektive elektroakustisch vermittelter Klänge und hinterfragt damit die Hörgewohnheiten der Rezipienten. Es treten auf: ein Kunstkopf (K), ein Medienarchäologe (M), ein Journalist (J) und ein Regisseur (R) Der Kunstkopf (s. Abb. 1) liegt, zusammen mit anderen technischen Geräten, seit Jahren unbeachtet in einem Regal im Lagerraum. Aufblende der Szene: ein kaum wahrnehmbares entferntes Geräusch.6
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Die binaurale Qualität der Aufnahmen kann nur über Kopfhörer erfahren werden, so dass alle Beteiligten durch die Kopfhörer auditiv voneinander getrennt, aber doch gemeinsam den Aufnahmen im Regieraum lauschten, um sie anschließend zu kommentieren und zu diskutieren. Im Rahmen des Projekts wurden auch einige Dutzend historischer binauraler Aufnahmen analysiert. Ein Kunstkopf ist ein binaurales Mikrofon, das in seiner äußeren Form einem menschlichen Kopf nachgebildet ist und zwei Mikrofone in den Ohren hat. Binaurale Aufnahmen geben beim Abhören mit Kopfhörern einen sehr realistischen Raumeindruck der originalen Aufnahmesituation. Die Erfinder des ersten kommerziellen Kunstkopfes, dem KU 80 der Firma Neumann, der 1972/73 auf den Markt kam, sprachen auch davon, die Ohren des Zuhörers in den Konzertsaal zu versetzen. St.: »Die Philharmonie im Schlafzimmer«, in: Tagesspiegel vom 2.9.1973. Die Geschichte der Kunstkopf-Stereo-
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Abbildung 1: Der Kunstkopf KU 81 im Studio 9, davor steht das Sennheiser Ambeo, ein modernes 3D Mikrophon, im Hintergrund ist der angrenzende Regieraum zu sehen. Foto: Andreas Fickers, 2016.
K: [innere Stimme – in Mono aufgenommen]: War da was? ... [ein paar Sekunden Stille mit binauraler Atmo] ... Mmmh. [resigniert]. Doch nicht. [seufzt] Schon ewig liege ich vergessen hier im Regal rum. Keiner braucht mich mehr: das Hörspiel nicht; das Feature nicht; und die Musikproduktion schon gar nicht! Die wollte mich ja von vornherein nicht haben. Dabei habe ich doch so gute Ohren. Ich höre wie ein Mensch, wenn auch mit Mikrofonen. Aber seit Jahren lausche ich und lausche ich, aber ich höre nichts. Ich bekomme nichts zu hören! Wieder Stille. Dann doch ein Geräusch. Vor der Tür hört man zwei Personen sprechen.
K: Haben sich meine Membranen doch nicht getäuscht. Da kommt jemand! Tür geht auf, zwei Personen betreten den Raum und nähern sich dem Kunstkopf von rechts.
phonie ist bislang wenig aufgearbeitet, vgl. Paul, Stephan: »Binaural recording technology: a historical review and possible future developments«, in: Acta Acustica united with Acustica 95 (2009), S. 767-788; Krebs, Stefan: »Testing Spatial Hearing and the Development of Kunstkopf Technology, 1960–1981«, in: Alix Hui/Mara Mills/Viktoria Tadczik (Hg.), Testing Hearing: Science, Arts and Industry, University of Chicago Press (im Erscheinen); Ders.: »The Failure of Binaural Stereo: German Sound Engineers and the Introduction of Dummy Head Microphones«, in: ICON. Journal of the International Committee for the History of Technology (in der Begutachtung).
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M: Hier entlang bitte, hier geht es in unsere Mikrofonsammlung... J: Ah, das ist er also, der Kopf, mit dem alles begann. [nähert sich dem Kopf] Hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt – irgendwie lebensechter. Ist doch alles recht abstrakt geraten, keine Augen, kein Mund, eine eckige Nase [nähert sich dem Kopf], und ein bisschen Staub hat er auch schon angesetzt. M: [noch weiter entfernt] Er liegt schon seit recht vielen Jahren unbenutzt hier herum. Warten Sie. Ich hole ihn aus dem Regal, und dann nehmen wir ihn mit nach nebenan. Der Kunstkopf ›hört‹ wie er aus dem Regal genommen und dann auf dem Arm in das Zimmer (Studio) nebenan getragen wird. Dort wird er auf einem Stativ befestigt – die Untersuchung beginnt.
K: [neugierig] Was haben Sie denn jetzt mit mir vor? [kurze Pause, dann freudig] Werde ich vielleicht doch wieder gebraucht... J: ...na, [nähert sich dem rechten Ohr] immerhin die Ohren sehen ja doch recht originalgetreu aus. Und um die Ohren geht es doch hauptsächlich, wenn ich Sie recht verstanden habe. M: Ja, ja, die Ohren sind schon mit am Wichtigsten. Aber ich muss Sie erst mal enttäuschen, dies ist nicht der erste Kopf; dies ist sozusagen sein 8 Jahre jüngerer Bruder.7 Der Kopf, der 1973 auf der Berliner Funkausstellung für solch’ große Furore gesorgt hat und ein neues Radiokapitel des dreidimensionalen Hörens einzuläuten schien, sah in der ersten Laborversion tatsächlich lebensechter aus.8 Er 7
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Die Aufnahmen für das Hörspiel wurden mit einem Neumann KU 81 gemacht, der 1981 den ersten Kunstkopf KU 80 der Berliner Firma Neumann ablöste. Der KU 81 war eine verbesserte Version des KU 80. Auf der IFA 1973 wurde das erste in Kunstkopf-Stereophonie produzierte Hörspiel »Demolition« von Alfred Bester, Regie: Ulrich Gerhardt, Produktion: RIAS/BR/WDR 1973, vorgestellt und zeitgleich im RIAS urgesendet. Das Presseecho war gewaltig und fast durchweg begeistert. Ein zeitgenössischer Pressespiegel spricht von über 100 Zeitungsartikeln zum Thema Kunstkopf auf der IFA 1973. Archiv des Deutschen Museum München (zukünftig: ADM), Bestand: Kunstkopf, Ordner: Theile 1, N.N.: »Notiert – Zitiert – Registriert: Presse-Echo zum ›Kunstkopf‹«, in: RIAS Quartal 2 (1973), H. 4, S. 5-6. Der Kölner Stadt-Anzeiger sprach von der »wahrscheinlich sensationellsten Erfindung seit dem Fernsehen.« Durand, Ernst A.: »Ein Gipskopf verblüfft alle, die ihn hören«, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 3.9.1973. Zu den Hörerreaktionen siehe Fußnote 13.
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war zunächst ein originalgetreuer Gipsabguss und hatte sogar Haare auf dem Kopf; erst später wurde der Kunstkopf aus Produktionsgründen, und weil es seine akustischen Eigenschaften nicht veränderte, in der äußeren Form vereinfacht. Nur die Außenohren wurden nicht verändert, wie Sie richtig bemerkt haben. Das Prinzip der kopfbezogenen Stereophonie besteht ja darin, am Trommelfell des Zuhörers die gleichen Signale zu erzeugen, die dort herrschen würden, wenn der Zuhörer sich unmittelbar am Aufnahmeort befände. Zur Realisierung wird ein Kunstkopf verwendet, der bezüglich seiner akustischen Eigenschaften einem typischen menschlichen Kopf nachgebildet ist. In den Ohren des Kunstkopfes stecken Mikrophone, die die Ohrsignale aufnehmen, die möglichst unverändert an die Trommelfelle der Zuhörer gebracht werden müssen. Ist dies der Fall, hört der Zuhörer die Aufnahme räumlich – soweit zumindest die Theorie. J: Und was hat es nun mit den Ohrmuscheln auf sich, warum sind sie so entscheidend für das räumliche Hören? Sie hatten mir ja im Vorfeld unserer heutigen ›akustischen Ausgrabung‹ bereits erläutert, dass minimale Zeit- und Intensitätsunterschiede zwischen den beiden Ohren für die Lokalisation wichtig sind. 9 Das leuchtet mir auch sofort ein, wenn ich mich rechts einen Meter neben den Kunstkopf stelle [macht dies], dann erreichen meine Worte sein rechtes Ohr ein wenig früher und intensiver, als das von mir abgewandte linke Ohr, aber dafür sind doch nicht die Ohrmuscheln verantwortlich, oder? M: Das ist korrekt, aber unsere Außenohren prägen den Schallsignalen gewissermaßen zusätzliche (Raum-)Informationen auf, ohne die wir zum Beispiel Geräusche weder direkt vor oder hinter uns, und auch nicht über oder unter uns lokalisieren könnten. Unser Gehör schließt unter anderem aus den durch die Außenohren veränderten Klangfarben auf die Richtungen der Schallereignisse.10 9
Das menschliche Gehör wertet in erster Linie Zeit-, Intensitäts- und Klangfarbenunterschiede zwischen den beiden Ohrsignalen aus, um Klänge und Geräusche räumlich zu lokalisieren. Die klassische Stereophonie nutzt den Effekt der Zeit- bzw. Intensitätsunterschiede aus, um einen räumlichen Eindruck zu vermitteln, der sich aber auf die Linie zwischen den beiden Lautsprechern beschränkt. Die sogenannte Intensitätsstereophonie hat sich aufgrund ihrer Monokompatibilität im Rundfunkbereich als wichtigere Mikrofontechnik durchgesetzt, obschon die sogenannte Laufzeit-Stereophonie einen besseren Raumeindruck vermittelt. 10 Die Akustik spricht auch von der sogenannten Außenohr- oder Kopf-bezogenen Übertragungsfunktion (HRTF), das ist die mathematische Darstellung der abschattenden Wirkung von Oberkörper, Kopf und Außenohren. HRTF sind so individuell wie Fingerabdrücke, weshalb ein idealer Kunstkopf exakt die Außenohren des Hörers tragen müsste. Heute wird für die Erzeugung von virtuellen 3D Umgebungen stark zu individualisierten HRTF geforscht.
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J: Nun sind die Ohren ja, wie man an dem Kopf vor uns sehr gut sehen kann, detailliert nachgebildet, aber mit der Vorne-Ortung haperte es doch gewaltig; so wurde doch immer wieder beklagt, dass die Zuhörer das akustische Geschehen nur hinter ihrem Rücken oder vielleicht noch seitlich, aber nie direkt von vorne wahrnehmen konnten.11 M: In der Tat, dies war einer der großen Kritikpunkte und tatsächlich ein großes technisches Problem: die fehlende Vorne-Ortung. Aber lassen sie uns dies doch einmal ausprobieren, indem wir uns beide vor den Kunstkopf stellen, dann können die Hörer selbst entscheiden, ob sie uns vorne hören können, oder nicht.12 [beide stellen sich direkt vor den Kopf] J: Da bin ich ja mal gespannt, ob ich beim Abhören der Aufnahme später eine Vorne-Ortung haben werde. Bei den Aufnahmen, die ich bislang gehört habe, hatte ich eigentlich nie ein Vorne-Erlebnis; irgendwie war immer alles hinter mir zu hören, egal wie sehr ich mich angestrengt habe. M: Wobei es noch einen Unterschied macht, ob wir uns direkt vor den Kopf oder schräg links und rechts davor stellen [neue Positionen]. Jetzt J: sollten wir beide M: abwechselnd J: von schräg links vorne M: und schräg rechts vorne J: zu hören sein. M: Wobei die fehlende Vorne-Ortung im ersten Moment, J: zumindest für die meisten Zuhörer,
11 Dieser Effekt wurde bereits bei Kunstkopf-Experimenten in den 1930er Jahren festgestellt. Siehe S. Krebs: Testing Spatial Hearing. 12 An dieser Szene wird u.a. der Ansatz dieses medienarchäologischen Experiments deutlich, die Technikgeschichte der Kunstkopf-Stereophonie zu erzählen und zugleich auditiv erfahrbar zu machen.
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M: kein dringliches Problem darstellte.13 Sie waren von der neuen Räumlichkeit des Hörens, vom akustischen Realismus des Kunstkopfes schlicht überwältigt und auch die Produzenten schwärmten davon, den Zuhörer unmittelbar in die jeweilige akustische Atmosphäre einbeziehen zu können. Die Faszination, mit einfachsten technischen Mitteln, räumlich zu hören, schien eine neue Sensibilität des Hörens zu ermöglichen. Der Hörer sollte zum Klangforscher werden. J: Wobei die ersten Kunstkopf-Hörspiele doch viel auf den Überraschungseffekt setzten, wenn Stimmen und Geräusche auf einmal dicht neben dem eigenen Kopf zu sein schienen oder sich um diesen herum bewegten.14 M: Ja, mit diesen Effekten wurde recht viel experimentiert, und oft war es ein Trick ohne allzu großen künstlerischen Wert, wie es seinerzeit treffend bemängelt wurde.15 Wobei es die Hörer schon schwer beeindruckte [blättert in Unterlagen]; die Zeitungen schrieben damals viel: [beide sprechen abwechselnd nah an den Ohren und um den Kopf herum] J: von der gespenstischen Wirkung der Kunstkopf-Stereophonie, M: dass sie dem Hörer in Nacken und Ohr kriecht, J: dass »einige Damen [...] schon hysterische Anfälle« bekommen hätten, M: oder dass der Hörer das »Wundern und Gruseln lernen« könne, J: dass der Kunstkopftechnik eine »beklemmende Echtheit« innewohne,
13 Das Hörerecho war, nach zeitgenössischen Aussagen und soweit sich dies aus den Quellen rekonstruieren lässt, fast durchweg positiv. Eine Auswertung von 602 Zuschriften auf die WDR-Erstsendung von »Demolition« notierte 100% »positive Beurteilung der KK-Technik«, Historisches Archiv des WDR, Köln (zukünftig: HA-WDR), Sign. 13630, N.N.: Auswertung der Hörerpost zu »Demolition«, o.D. (ca. Januar 1974). Siehe auch die überlieferten Hörerbriefe in: HA-WDR, Sign. 13630; Historisches Archiv des BR, München (zukünftig: HA-BR), Sign. 7113. 14 Dies ist u.a. eine Anspielung auf das experimentelle Kurzhörspiel »Einflüsterungen« von Dieter Kühn, Regie: Dieter Kühn u. Friedrich Scholz, Produktion: BR 1974, in dem fünf Sprecher/innen dicht um den Kunstkopf herum gruppiert waren und ihm gewissermaßen ins Ohr flüsterten, damit sollte das auditiv-suggestive Potential des Kunstkopfes zugleich demonstriert wie kritisch reflektiert werden. 15 HA-WDR, Sign. 13630, Dugend, Enno: Bericht über Versuche mit dem Kunstkopf in der Zeit vom 7.-9.8.1974, o.D. (Typoskript).
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M: oder gleich von der »Pistole an der Schläfe des Hörers.«16 [tritt wieder einen Schritt zurück] K: [seufzt genervt mit innerer Stimme]: Ach du jemine! Jetzt flippen sie aber aus mit dem Rumgetänzel; was Besseres fällt denen noch immer nicht ein. Das haben die schon früher gemacht, um zu demonstrieren, wie ›natürlich‹ das alles klingt, wenn man das dann mit Kopfhörern anhört... M: Allerdings stellte sich nach der ersten Begeisterung auch recht schnell Ernüchterung ein. Denn wenn der Kunstkopf als Spielelement und künstlerisches Produktionsmittel ernst genommen werden wollte, dann stellte sich die Frage, welche dramaturgische Rolle der Kunstkopf haben könnte? Ähnelte er einer Filmkamera? Sollte er aktiver Beobachter sein, oder sollte sich vielmehr der Hörer mit ihm identifizieren können? Die Regisseure stritten über die mögliche oder unmögliche Subjektivierung des Kunstkopfes, wobei manche die starke Identifizierung des Hörers mit dem Geschehen auch als eine Gefahr ansahen: dass der Hörer mit der neuen Technik überwältigt und indoktriniert werden könne.17 Übrigens ein Thema, das in West- wie Ostdeutschland diskutiert wurde, denn auch der DDRRundfunk produzierte seit 1976 Kunstkopf-Hörspiele – aber das ist eine andere Geschichte.18
16 Zitate aus: HA-BR, Sign. 7113, N.N.: »Zauberwort: Kunstkopfhören«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 4.9.1973; ibid., Müller, Gabriele: »Dreidimensionales Hören mit dem künstlichen Kopf«, in: [unbekannt] vom 6.9.1973; ibid., Pistor, Gerhart: »Ein Kunstkopf führt zu neuem Hör-Gefühl«, in: [unbekannt] vom 4.9.1973; ibid., Nerth, Hans: »Die Pistole an der Schläfe des Hörers«, in: Die Welt vom 20.2.1974. 17 ADM, Bestand: Kunstkopf, Ordner: Wilkens 2, Gerhardt, Ulrich: Sendeformen des Rundfunks in Kunstkopf-Stereophonie. Erfahrungen durch Hörspiel und Dokumentation beim RIAS, ca. 1974 (Typoskript). Für die Kritik des WDR siehe HA-BR, Sign. 7113, N.N.: »Psychoterror durch den Kunstkopf?«, in: [unbekannt], ca. Okt. 1976. 18 Der Rundfunk der DDR produzierte ab 1976 eigene Kunstkopf-Sendungen. Es hatte in der DDR zwar bereits Anfang der 1960er Jahre eigene Kunstkopfentwicklungen zu Forschungszwecken gegeben, für die Aufnahmen griff man allerdings auf den Neumann KU 80 zurück. Im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg (zukünftig: DRA) finden sich zahlreiche Dokumente zur Kunstkopfnutzung im dortigen Bestand des Senders Radio DDR II. U.a. sind dort für die Zeit von 1976 bis 1983 38 größere Kunstkopf-Produktionen im Wort-Bereich verzeichnet. DRA, Sign. F017-01-04/0005, HA Funkdramatik: Zusammenstellung aller funkdramatischen Sendungen, die in kopfbezogener Stereofonie beim Rundfunk der DDR produziert wurden, 25.7.1983.
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J: War es nicht so, dass die Radiomacher neben der Frage der Subjektivierung viel über die neue Räumlichkeit der Kunstkopf-Stereophonie: der jetzt möglichen »Erschließung [ganz] neuer Hörräume« diskutierten? Ein Thema, das ja bei der Einführung der konventionellen Stereophonie und ihrer Verwendung im Hörspiel auch bereits eine wichtige Rolle gespielt hatte. M: In der Tat, die neue Raumwirkung konnte sich nur entfalten, wenn die Aufnahmen in interessant klingenden Räumen gemacht wurden, was meist bedeutete an Originalschauplätzen; denn die akustischen Eigenschaften des Studios entsprachen weder der Realität noch denen der Phantasie. Der Studioklang ist dagegen zu steril, zu wenig exakt. J: Aber das heißt ja, dass unsere Aufnahme hier im Studio 9 viel zu wenig räumlich ist.19 M: Nun, wir können ja zum einen mal [schreitet mit schnellen Schritten vom Kunstkopf weg] die Tiefe des Raums nutzen, um das Studio für die Zuhörer hörbar zu machen. Kommen sie doch einmal mit hier herüber. J: Oder wie wäre es, wenn ich in die andere Richtung gehen würde? M: Ja schön. Der Kunstkopf kann nämlich nicht nur die Schallrichtung, sondern auch die Schallentfernung, die ja ein Teil des räumlichen Hörens ist, ebenfalls wiedergeben. J: Man müsste also jetzt hören können, dass ich [J beschreibt seine Position] und Sie [J beschreibt Ms Position]. M: Ja, dies sollte für den Hörer transparent sein. Ich kann auch einmal hier hinaufsteigen [steigt Treppe hinauf], um zu demonstrieren, dass auch der Eindruck oben mit dem Kunstkopf hörbar ist. J: Wie jetzt aber ein anderer, normaler Raum klingen würde, wissen wir jetzt immer noch nicht.
19 Siehe zur Diskussion Kunstkopf und Raum u.a. HA-WDR, Sign. 13630, E. Dugend: Bericht; ADM, Bestand: Kunstkopf, Ordner: Wilkens 2, U. Gerhardt: Sendeformen des Rundfunks; Archiv der Akademie der Künste, Bestand: Ulrich Gerhardt, Ordner 177, Gerhardt, Ulrich: Die neue Räumlichkeit, o.D. (Typoskript).
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M: Dann lassen Sie uns dies doch ausprobieren... R: [durchs Intercom] Umbaupause! Studio wird umgebaut, um mehr Raumklang zu erzeugen; evtl. Parallelszenen in anderen Räumen.20
J: Und, hört es sich jetzt anders an? M: Das werden wir leider erst später hören können; aber vielleicht kann uns die Regie kurz ein Zeichen geben. R: [durchs Intercom] Ja, es ist jetzt deutlich mehr Raum zu hören. M: Leider kann man in der puristischen Kunstkopftechnik keine Klangatmosphäre in die Aufnahme hinzu mischen; sonst könnten wir uns jetzt mit Leichtigkeit durch ganz verschiedene, hörbare Räume bewegen. Generell war das Abmischen eines der großen Probleme, da Schnitte innerhalb einer Szene oftmals hörbar waren und die Mischung mit anderen Aufnahmen den Raumeindruck leicht zerstören konnte. J: Aber dann mussten ja alle Szenen ohne einen einzigen Schnitt durchgespielt werden. Dies ist doch eher ungewöhnlich für eine Hörspielproduktion, oder? M: Ja, dies war eine ganz neue Herausforderung an Regie und Schauspieler, sie mussten besser vorbereitet, besser im Text sein und konzentriert durchspielen, auch durfte nichts ›Unvorhergehörtes‹ passieren. Mehr wie am Theater als im Hörfunk.21
20 Die folgende Szene bis zur Rückkehr ins Studio 9 wurde dreimal an unterschiedlichen Orten aufgenommen, um dem Hörer unterschiedliche Raumeindrücke vorzuführen. Die Szene wurde erst im ›Badezimmer‹ des Studios aufgenommen, einer kleinen Nische unter der Studiotreppe, die umgeben von drei Betonwänden viele Schallreflexionen ermöglicht und so recht hallig klingt, danach im Innenhof des BR Sendegebäudes und anschließend im sogenannten Palisander-Foyer, einem großen holzgetäfelten Raum vor den Eingängen zu den großen Studios 1 und 2. In der Endfassung wurden die drei Räume hintereinander in die Szene montiert. Dies ist mit den benutzten digitalen Aufnahme- und Schnitttechniken relativ einfach zu realisieren im Vergleich zur Analogtechnik der 1970er Jahre. 21 Ende Dezember 1975 strahlte der RIAS das Hörspiel »Grünzone« von Anna Zepf aus, Regie: Ulrich Minke, Produktion: RIAS 1975. Das 4 ½-stündige Hörspiel wurde drei Wochen lang mit 25 Schauspielern an Originalschauplätzen am Zürichsee aufgenom-
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J: Wir haben jetzt so viel über technische Unzulänglichkeiten der Kunstkopf-Stereophonie und die damit verbundenen dramaturgischen Probleme gesprochen, erscheint es da nicht ganz zwangsläufig, dass nach einer kurzen Phase der Euphorie das Ganze bereits Ende der 1970er Jahre als gescheiterte Innovation ad acta gelegt wurde? M: Ja und nein, zum einen gab es ja noch eine kurze zweite Welle der Kunstkopfnutzung, die bis in die 1980er Jahre reichte; sie wurde ausgelöst durch die Kooperation des WDR mit der Aachener Hochschule, an der um 1975 ein neues kopfbezogenes Verfahren entwickelt worden war. 22 Die Zusammenarbeit war recht erstaunlich, da sich der WDR als einer der wenigen Sender anfangs der Kunstkopftechnik vollständig verweigert hatte, nun aber recht aktiv wurde in Sachen Kunstkopf. Zum anderen waren es wohl nicht nur technische Probleme – vielmehr müsste man von sozio-technischen Problemen sprechen. J: Was soll das jetzt wieder heißen? Es gab doch all diese technischen Probleme, ich habe selber auch nach intensivstem Kunstkopf-Hören bislang keine richtige Vorne-Ortung gehabt; vielmehr habe ich mich immer wieder darüber geärgert, dass sich gerade im Hörspiel alles immer nur hinter mir abgespielt hat. M: Nun, viele Toningenieure und Tonmeister lehnten den Kunstkopf von Anfang an ab – ohne überhaupt mit ihm experimentiert zu haben. Sie beriefen sich zwar oft auf die technischen Unzulänglichkeiten, aber wenn man etwas tiefer gräbt, dann zeigt sich, dass es ihnen vielmehr darum ging, ihre gerade erst gewonnenen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten nicht zu verlieren. Diese neuen technischen Möglichkeiten in Form von Bandmaschine, Langspielplatte, Mehrkanalmen. In der RIAS Sendung »Kunstkopf-Studio« vom 30.12.1975 berichtete der Regisseur Ulrich Minke im Gespräch mit Ulrich Gerhardt von seinen Erfahrungen. Er erzählte u.a. vom großen Produktionsaufwand und darüber, dass einige Szenen zehn bis fünfzehnmal wiederholt werden mussten, bevor sie ohne Störungen und Fehler aufgenommen waren. Es wurden dazu O-Töne von den misslungenen Aufnahmen eingespielt, die die zunehmende Verzweiflung einiger Schauspieler/innen erahnen lassen. 22 Ab 1974 wurde am Institut für Elektrische Nachrichtentechnik der RWTH Aachen die sogenannte Originalkopf-Stereophonie entwickelt, bei der mithilfe einer tragbaren Mikrofonanordnung die Signale in den Ohren eines menschlichen Trägers aufgenommen wurden. Damit wurden 1978 u.a. das Feature »Neues vom Kunstkopf oder Micros in den Ohren« von Hans-Joachim Platte, Produktion: WDR 1978, und das Hörspiel »Diginis Akritis oder Der zwiefach gezeugte Held« von Georg Wartenberg, Regie: Friedhelm Ortmann, Produktion: WDR 1978, aufgenommen. Zahlreiche Dokumente zur Zusammenarbeit zwischen RWTH Aachen und dem WDR finden sich in: HA-WDR, Sign. 13630.
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und Mehrspurtechnik erlaubten eine nie da gewesene Manipulation und Perfektion des Klangs und machten den Tontechniker zum künstlerischen Co-Produzenten. Und diese neuen Möglichkeiten und diese neue soziale Stellung wurden gleichermaßen vom Kunstkopf in Frage gestellt, da dieser alles so aufnahm, wie es tatsächlich in der Aufnahmesituation hörbar war. Nur wenn man diesen sozio-technischen Konflikt berücksichtigt, lässt sich der energische Widerstand der Techniker, an dem die kopfbezogene Stereophonie mit gescheitert ist, verstehen. 23 [kurze Pause] Ja, das war es eigentlich, was ich ihnen heute zum Kunstkopf erzählen wollte, wenn sie keine weiteren Fragen haben, schlage ich vor, dass wir ihn wieder zurück in die Mikrofonsammlung bringen. J: Ja, gerne. Vielen Dank, das war ein sehr interessantes Experiment. Der Kunstkopf wird zurück ins Studio 9 gebracht, wieder vom Stativ genommen und während der folgenden Passage zurückgelegt in das Regal im Lagerraum.24
J: Und, was bleibt dann nach zehn Jahren des Experimentierens und einigen interessanten Ergebnissen von der Kunstkopftechnik übrig?25
23 Wilhelm Schlemm, Tonmeister beim Sender SFB, schrieb 1974 dazu: »Die KunstkopfStereophonie kommt einfach zum falschen Zeitpunkt, und so ereignet sich folgendes Paradoxon: während die bisherige Geschichte der elektroakustischen Übertragung geprägt war vom Streben nach höchster Klangtreue [...], scheint man just in dem Augenblick, da das Ziel, die vollkommene Illusion, endlich erreicht ist, [dies] nicht zu schätzen und nicht mehr zu wollen.« Schlemm, Wilhelm: »Kunstkopf-Stereophonie eine Alternative zur Quadrophonie«, in: Paper of the 47th AES Convention, Kopenhagen 1974, Beitrag J-2, S. 9. Das Problem ist ausführlich dargestellt in S. Krebs: The Failure of Binaural Stereo. 24 Nach der Aufnahme im sogenannten Palisander-Foyer des BR wurde der Rückweg ins Studio 9 als improvisierte Szene aufgenommen und in die fertiggeschnittene Fassung montiert. Hierdurch kann der Hörer noch weitere Räume auditiv erkunden, u.a. einen Aufzug und den langen Korridor, der zu den Hörspielstudios führt. 25 In der Zeit von 1973 bis 1990 wurden im deutschsprachigen Raum (BRD, DDR, Österreich, Schweiz) mindestens 208 Wortproduktionen (Hörspiel, Feature usw.) und 135 Musikaufnahmen von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten produziert. Ein größerer Teil der Musikaufnahmen wurde allerdings nie gesendet. Hinzu kommen mindestens 137 Folgen des RIAS Kunstkopf-Studios, einer zweiwöchigen, halbstündigen Sendung, die teilweise Ausschnitte aus anderen Produktionen, teils aber auch eigene Aufnahmen gesendet hat. Die Kunstkopf-Produktionen wurden von Ulrich Gerhardt gesammelt und an alle Sendeanstalten verteilt. Die Listen des sogenannten Kunstkopf-Pools, der den Austausch zwischen den Anstalten vereinfachen sollte, sind überliefert in: HA-WDR, Sign. 13998; HA-BR, Sign. 25560; ADM, Bestand: Kunstkopf, Ordner: Wilkens 2; und
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M: Was bleibt, ist vielleicht der suggestive Realismus des Kunstkopfes, der dokumentarische Charakter der Aufnahmen, der ja auch heute hin und wieder in Hörspielen als dramaturgisches Element genutzt wird; zum Beispiel in Paul Plampers preisgekröntem Hörspiel »Der Kauf« von 2013.26 J: Aber gerade beim »Kauf« nervte es mich besonders, dass ich nichts vorne orten konnte! M: Dann bleibt nur abzuwarten, ob neuere 3D-Aufnahmeverfahren zu besseren Ergebnissen führen werden. Derzeit wird ja viel in der Richtung entwickelt. Angefangen hat das bei den Gamern, die den Sound in 3D-Computerspielen verbessern wollten. Aber auch Rundfunkanstalten wie BBC, Radio France und der Bayrische Rundfunk beschäftigen sich intensiv mit immersive audio. 27 Wir haben unser Gespräch übrigens parallel in Mehrspurtechnik und verschiedenen Mikrofonen aufgenommen.28 Damit können wir nun binaurale Raumsimulationen künstlich erschaffen. Lassen Sie uns doch einmal nachhören und vergleichen, wie gut das schon gelingt... M und J gehen raus, Tür fällt ins Schloss.
K: [zunächst erstaunt]: Ach was! Die Leute wollen also doch wieder »binaural« hören? Den Raum erleben? Weil heute fast alle nur noch mit Kopfhörern hören. Interessant. [dann ärgerlich werdend] Aber. Was hat er da noch gesagt: »künstlich erschaffen«? Im Computer, oder was? Das heißt ja... [jetzt resigniert] dann brauchen die mich ja auch in Zukunft nicht mehr...
DRA, Bestand RIAS, Sign. 502-03-00/34; ibid., Bestand Radio DDR II, Sign. F01701-04/0005. 26 »Der Kauf« von Paul Plamper, Regie: Paul Plamper, Produktion: WDR/BR/DLF/ Schauspiel Köln 2013. 27 Siehe z.B. die 3D-Initiative von Radio France, http://hyperradio.radiofrance.fr/son-3d/ (abgerufen am 2.8.2017). 28 Einige Szenen des Hörspiels wurden für spätere Hörvergleiche parallel mit dem Kunstkopf KU 81 und den neuen 3D Mikrofonen Schoeps ORTF-3D und Sennheiser Ambeo VR aufgenommen.
Über Grenzen unterrichten Elsass-Lothringen in deutschen und französischen Geschichtsbüchern 2000 bis 2016 B ÄRBEL K UHN
»La propagande: L’Alsace-Lorraine et l’esprit de revanche« ist ein Kapitel des Geschichtsbuches für die Mittelstufe des Verlages Hachette aus dem Jahre 2011 überschrieben.1 Bereits die Überschrift signalisiert eine medial und mentalitätsgeschichtlich konnotierte Zugangsweise zur Elsass-Lothringen-Thematik. Der Perspektivwechsel oder vielmehr die Perspektivenerweiterung gegenüber einer bis Ende der 1990er Jahre vor allem politikgeschichtlichen Darstellung der ElsassLothringen-Frage seit der Annexion von 1871 als Folge des deutsch-französischen Krieges2 wird durch die Rahmung des Kapitels noch deutlicher: ›thematisch‹ wird 1
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Sandrine Lemaire (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Hachette 2011, S. 178. Für die vorliegende Untersuchung wurden die Bände 2 und 3 des Deutsch-Französischen Geschichtsbuches sowie rund 30 französische und 25 deutsche Bücher der Jahre 2000 bis 2016 verschiedener Verlage und für die Jahrgangsstufen, in denen die Ereignisse 1870/71, 1919 und 1940/1945 Gegenstand sind, analysiert. Sehr erleichtert wurde die Arbeit dadurch, dass viele der hier besprochenen Bände im Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig eingesehen werden können. Im Unterschied zu den im Folgenden zitierten wissenschaftlichen Werken werden bei den untersuchten Schulbüchern die Verlage angeführt, die für französische wie deutsche Geschichtsschulbücher eine wichtige und zumeist raschere Orientierung bedeuten als etwa die Herausgeber. Riemenschneider, Rainer: »Grenzprobleme im Schulbuch. Die Annexion von Elsass und Lothringen in deutschen und französischen Geschichtsbüchern von 1876 bis zur Gegenwart«, https://tinyurl.com/ycna5k7z (abgerufen am 31.7.2017). Eine erste Fassung der Untersuchung bis zum Jahr 1976 erschien in: Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung 2 (1980), S. 85-107.
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Abbildung 1: Doppelseite »La propagande: l’Alsace-Lorraine et l’esprit de revanche«, 2011. Quelle: Sandrine Lemaire (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Hachette 2011, S. 178f.
die Fragestellung, die mit einem Gemälde, einem Gedicht und einem Denkmal als Quellen bearbeitet werden soll,3 den Bereichen »Kunst, Staat und Macht« zugeordnet, ›Bezugspunkte‹ sollen sein: »Propaganda, Nation, engagierte Kunst«.4 Rainer Riemenschneider hatte für rund 125 in den Blick genommene Jahre (1876 bis 2000) der Repräsentationen der Grenzfrage zwischen Frankreich und Deutschland in Schulbüchern resümierend festgestellt, dass einerseits der Umfang der Information zur Elsass-Lothringen-Frage deutlich abnimmt, und teilweise nur noch die entsprechenden Fakten im Kontext der Bestimmungen von 1871, 1919 und 1945 genannt werden, andererseits dem Thema aber in manchen Büchern ein eigenes Kapitel gewidmet wird.5 Die erste Beobachtung trifft auch noch auf die neuesten Bücher, die ich für die vorliegende Untersuchung in Anknüpfung an diejenige von Rainer Riemenschneider ausgewertet habe, im Großen und Ganzen zu. Auch die zweite Feststellung kann grundsätzlich bestätigt werden, doch erhalten diese Sonderkapitel nun einen neuen Schwerpunkt. Jetzt geht es nicht mehr allein 3
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»France! ou l’Alsace et la Lorraine désespérées«, Gemälde von Jean-Joseph Weerts (1906), »L’Année terrible«, Gedicht von Victor Hugo (1871) und »Le Souvenir ou la Lorraine pleurant sur l’épaule de l’Alsace«, Statue von Paul Dubois auf dem Platz Maginot in Nancy. S. Lemaire (Hg.), Histoire/Géographie 4e, S. 178f. Ebd., S. 178. R. Riemenschneider: Grenzprobleme.
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um die Darstellung des Problems, sondern in erster Linie um die Mechanismen zeitgenössischer Versuche – vor allem der Zeit zwischen 1871 und 1918 –, Revanchegedanken und -forderungen zu wecken und zu befeuern. Damit ist das wichtige Lernziel verbunden, Geschichte als Konstrukt zu begreifen. Doch das Aufzeigen und Hinterfragen von Elementen der Manipulation gelingt unterschiedlich gut, und die Dekonstruktion geht mehr oder weniger in die Tiefe.
F RANZÖSISCHE S CHULBUCH -N ARRATIVE Bevor ich verschiedene deutsche und französische Bücher zunächst in ihren chronologisch-ereignisgeschichtlichen Darstellungen im Hinblick auf die Elsass-Lothringen-Problematik analysiere, will ich zunächst die dem Thema eigens gewidmeten Kapitel oder Dossiers näher beleuchten, die diese Frage in verdichteter Weise aufgreifen und deshalb besonders aussagekräftig sind. Während bei Hachette das Dossier im Kapitel »L’affirmation des nationalismes« erscheint, hat der Verlag Nathan ein Sonderdossier zur Elsass-Lothringen-Thematik unter »Le cadre démographique et territorial de la France (1850-1914)« eingeordnet. Obwohl von Hachette 2003 für die Mittelstufe und von Nathan 2007 für die Oberstufe – die Première – vorgesehen, ist es dennoch lohnend, beide ›Dossiers‹ in ihrer Herangehensweise und ihren Anliegen zu vergleichen. Das Kapitel im Hachette-Band, das die drei Kunstwerke präsentiert, unterscheidet in den Arbeitsaufträgen zwischen historischen und kunstgeschichtlichen Fragen. Interessanterweise zielen die historischen Fragen vor allem auf Beschreibung. Nur die letzte Frage geht darüber hinaus, indem überlegt werden soll, inwiefern die Werke das patriotische Gefühl der Franzosen verstärken sollten. Die kunsthistorischen Fragen münden nach Aufforderungen zur Beschreibung in den Auftrag: »Zeigen Sie, dass die Werke das gleiche Revanchedenken fördern.« Eine weitergehende Beurteilung wird nicht angeregt. Ein entsprechendes Dossier im Buch für die Première des Verlages Nathan ist überschrieben mit: »L’Alsace-Lorraine, un traumatisme national«. Auch hier werden verschiedene Quellentypen präsentiert, neben den künstlerischen Darstellungen Bild6 und Lied7 auch ein patriotischer Text von 1913 und die Erklärung der Abgeordneten Elsass-Lothringens vor der Nationalversammlung in Bordeaux von 1871, die trotz ihrer fehlenden »Zustimmung« erfolgte Abtrennung von Frank-
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Eine Lithographie von Jonas Lucien aus dem Jahr 1914, die eine weibliche Allegorie für das Elsass, angekettet an einer Wand mit einer Inschrift »Deutsches Reich« zeigt. Guillaume le Quintrec, (Hg.), Histoire 1e L/ES/S, Paris: Nathan 2007, S. 112f. »Le fils de l’Allemand« Text von Gaston Villemer und Lucien Delormel, ebd.
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reich nicht anzuerkennen. Die Fragen zu den Quellen zielen in dem Oberstufenbuch auf eine weitergehende Dekonstruktion als im vorher beschriebenen Beispiel, indem nach den Mitteln gefragt wird, mit denen der »Kult der verlorenen Provinzen« aufrecht erhalten werden sollte und danach, welche Vorstellungen von den Gefühlen und der Situation der Elsass-Lothringer hier widergespiegelt werden. Sie bewegen sich damit zwar auf einer Metaebene, die schon in der Überschrift mit dem Begriff des »Traumas« anklang und sonst selten im Zusammenhang mit dem Thema in französischen Schulbüchern angesprochen wird. Wenn auch etwas subtiler, scheinen jedoch hier wie in dem vorherigen Beispiel die Quellen vor allem zur Bestätigung und Illustration einer bereits durch die Arbeitsaufträge und die Überschriften nahegelegten Interpretation zu dienen. Die Erklärung von Bordeaux taucht in einigen der untersuchten Bücher als Quelle auf. Es lohnt sich deshalb, ihre Bedeutung genauer in den Blick zu nehmen. Wenn hier von einer nicht erfolgten »Zustimmung« – »consentement« – gesprochen wurde, setzte dies ein ›Selbstbestimmungsrecht‹ implizit voraus. In der Tat wurde ein solches Recht nach François Roth seit etwa zwei Generationen bereits als Argument vorgebracht, 1860 im Falle der Angliederung Savoyens an Frankreich in Form eines Plebiszits auch angewandt, jedoch war es in internationalen Verhandlungen noch nicht Gegenstand.8 1871 ließ die Idee von einer möglichen Selbstbestimmung der betroffenen Bevölkerung lediglich die ›Option‹ zu, die Region persönlich zu verlassen. Diejenigen, die 1871 von diesem Angebot des Deutschen Reiches Gebrauch machten, ließen Familienangehörige zurück und hielten dadurch eine starke Bindung der Region an Frankreich aufrecht. Sie machten auf der anderen Seite zugleich Platz für deutsche Neusiedler. Bereits fünfzehn Jahre nachdem Metz eine Stadt im deutschen Reichsland geworden war, bildeten die deutschen Einwanderer die Mehrheit gegenüber der vorherigen Metzer Bevölkerung9 eine Gemengelage, die notwendigerweise Konfliktstoff enthielt. Mit zu-
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Roth, François: Alsace Lorraine. Histoire d’un »pays perdu«. De 1870 à nos jours, Strasbourg: Éd. Place Stanislas 2010, S. 12. Vgl. auch Mayeur, Jean-Marie: »Une mémoire-frontière: L’Alsace«, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Paris: Gallimard 1986, Bd. 2: La Nation, S. 63-95 u. 88; und Höpel, Thomas: »Der deutschfranzösische Grenzraum: Grenzraum und Nationenbildung im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Europäische Geschichte Online (EGO), http://www.ieg-ego.eu/hoepelt-2012de vom 11.4.2012 (abgerufen am 29.7.2017), der darauf hinweist, dass das Prinzip der Selbstbestimmung zum ersten Mal bei der Réunion Avignons im Jahr 1791 angewendet wurde. Vgl. dazu ausführlicher Steiger, Heinhard: »Das natürliche Recht der Souveränität der Völker. Die Debatten der Französischen Revolution 1789-1793«, in: Jörg Fisch (Hg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, München: Oldenbourg 2011, S. 51-86. F. Roth: Alsace Lorraine, S. 30.
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nehmender wirtschaftlicher Prosperität der Region und dank verschiedener Formen von – nun grenzüberschreitenden – Verflechtungen z.B. durch Filialgründungen beiderseits der Grenze entspannte sich die Situation jedoch.10 Eine wiederkehrende Kategorie des Umgangs mit der Elsass-Lothringen-Frage jenseits der bloßen Erwähnung im chronologischen Darstellungsteil der Schulbücher stellt seine Behandlung im Rahmen von Fragen zu nationaler Zugehörigkeit und Identität dar. Anders als in den Dossiers ist das Thema in diesem Kontext auch in den neuesten Bänden sehr affirmativ behandelt. Etwa im Buch des Verlages Hachette für die Première aus dem Jahr 2003: Unter der Überschrift »La France et les Français« wird im Verfassertext erklärt, dass das Elsass und Teile Lothringens von Frankreich »amputiert« wurden, was die Idee der Revanche für den fast ein halbes Jahrhundert währenden »Verlust« genährt habe. Illustriert wird der Text durch die Lithographie »Elle attend« von Leopold Flameng aus dem Jahr 1871.11 Über beschreibende Fragen hinaus soll aufgezeigt werden, inwiefern durch ein solches Bild das Nationalgefühl wach gehalten wurde. Im gleichen Buch wird im Kapitel zur Ausrufung der Republik und zu dem Vertrag von Frankfurt, mit dem 1871 der deutsch-französische Krieg beendet wurde, ein Gemälde aufgenommen, das auch in einigen anderen Büchern auftaucht:12 Die Illustration eines anonymen Künstlers zum Vertrag, die am 11. März 1871 in der Zeitschrift L’Illustration erschien, zeigt, wie der am Boden zerstörten weiblichen Allegorie Frankreichs von deutschen Soldaten die Kinder Elsass und Lothringen entrissen werden. Es wird nach dem Bild des Krieges, das diese Illustration vermittelt, sowie nach der beabsichtigten Wirkung gefragt. Auch hier wird keine Ebene der Einordnung und Beurteilung angestrebt, auch nicht danach gefragt, welche Bedeutung der Veröffentlichung in einer populären Zeitschrift zukommt. Im gleichen Kontext werden unter der Überschrift »Construction territoriale et sentiment national« neben Textquellen aus der Zeit zwischen 1871 und 1914 Illustrationen abgebildet, die zum einen die Versuche der Aufrechterhaltung von französischem Patriotismus elsässischer Kinder durch Schulunterricht zum Ge-
10 Vgl. ebd., S. 48; vgl. zu wirtschaftlichen Verflechtungen in der Region: Leiner, Stefan: »Wanderungsbewegungen im saarländisch-lothringisch-luxemburgischen Grenzraum 1856-1914«, in: Angelo Ara/Eberhard Kolb (Hg.), Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen: Elsaß-Lothringen / Trient-Triest: 1870-1914, Berlin: Duncker & Humblot 1998, S. 55-69, S. 55f. 11 Jean-Michel Lambin (Hg.), Histoire Première ES/L/S, Paris: Hachette 2003, S. 100, ebenso in der Ausgabe Paris: Hachette 2007, S. 103 hier unter der Überschrift »Le territoire national«. 12 Ebd., S. 131. Auch in Guillaume Bourel/Mareille Chevalier (Hg.), Histoire/Géographie 1re L/ES/S, Paris: Hatier 2007, S. 129.
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genstand haben, zum anderen eine Grenzsituation: Ein französischer und ein deutscher Soldat stehen sich an der Grenze gegenüber. Der Deutsche mit Pickelhaube wild gestikulierend und mit Pfeilsymbolen drohend, der Franzose gelassen, auf sein Gewehr gestützt. Der Text zu der auf der Titelseite des Petit Journal vom 24. September 1911 veröffentlichten Illustration lautet: »Les deux côtés de la frontière: là-bas les vaines menaces, ici le calme et le sang-froid.«13 Die über die reine Beschreibung hinausgehende Frage lautet: »Wie haben die Franzosen die Deutschen gegen 1900 wahrgenommen?« Form, Mittel, Perspektive, Veröffentlichungskontext und Absicht der karikaturesken Illustration werden nicht näher hinterfragt. Vielmehr wird die Karikatur distanzlos als Ausdruck eines Ist-Zustandes verstanden, der lediglich verbalisiert werden soll. In ähnlicher Weise ist auch in dem Buch für die Première des Verlages Bordas unter der Kapitelüberschrift »L’affirmation du patriotisme républicain« Jean-Joseph Weerts’ Gemälde »France!! ou l’Alsace et la Lorraine désespérées« von 1906 eingesetzt (siehe Abb. 1):14 Nach der Frage, wofür die beiden Frauen auf dem Bild stehen, soll überlegt werden: »Comment le peintre a-t-il traduit les sentiments des populations concernées?« Dass es Weerts ist, der mit seiner Darstellung wie mit dem Titel diese Gefühle der »Verzweiflung« zunächst kreiert – malt und in Worte fasst – und nicht »übersetzt«, wird nicht problematisiert. Im Kontext der Nationalstaatsbildungen im 19. Jahrhundert wird die ElsassLothringen-Frage in den französischen Büchern auch unter dem Thema der Einigung Deutschlands aufgegriffen, die vergleichend mit derjenigen Italiens verhandelt wird. Hier geht es um die territoriale Entwicklung Deutschlands, das u.a. durch die Annexion des Elsass und eines Teils von Lothringen arrondiert wurde.15 Auch in anderen Büchern wird die Thematik in diesen Kontext unterschwellig eingearbeitet, zum Beispiel als Methodenübung im Buch von Belin: Ein Text aus einem Schulbuch, der das Zughörigkeitsgefühl eines elsässischen Kindes zu Frankreich zum Ausdruck bringt und die Lithographie »Seid einig« von 1870 mit der Darstellung einer personifizierten Germania, die mit dem Schwert die Deutschen zur Einigkeit und zur Verteidigung der Rheingrenze ermahnt, sollen zur
13 Jean-Pierre Lauby u.a. (Hg.), Histoire 1res: Le monde contemporain du milieu du XCIXe siècle à 1945. ES/L/S, Paris: Magnard 2007, S. 141. 14 Guy Baudelle/Jérôme Grondeux (Hg.), Histoire/Géographie 1re , Paris: Bordas/Sejer 2006, S. 19. 15 Z.B. Rachid Azzouz/Marie-Laure Gache (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Programme 2011, Paris: Magnard 2011, S. 160f. Vgl. auch Éric Chaudron/Rémy Knafou (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Belin 2006, S. 153, hier besonders plump-suggestiv mit der Frage: »A quel pays l’Allemagne prend-elle l’Alsace et la Lorraine?«
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Abbildung 2: Arbeitsabschnitt mit der Lithographie »Seid einig!« (1870), 2006. Quelle: Eric Chaudron/Rémy Knafou (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Belin 2006, S. 156.
schriftlichen Beantwortung der Frage, auf welche Weise Deutschland seine Einheit und Vergrößerung realisiert hat, analysiert werden (siehe Abb. 2).16 Der gleiche Schulbuchtext wird in einem anderen Buch mit einer Illustration aus einem Schulbuch aus dem Jahr 1900 kombiniert.17 Das Bild eines Klassenzimmers zeigt an der Wand eine Karte Frankreichs mit einem schwarzen Fleck dort, wo das Elsass und der abgetrennte Teil Lothringens liegen. 18 Der Lehrer schreibt an die Tafel: »Tu seras soldat« (siehe Abb. 3).
16 Ebd., S. 156. Vgl. auch Marie-Hélène Baylac (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Bordas/Sejer 2006, S. 159, wo das Bild unter dem Kapitel »Nationale Bilder und Symbole« erscheint oder Rachid Azzouz (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Magnard 2006, S. 155 als Beispiel für nationale Einheitsbestrebungen. 17 Martin Ivernel (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Hatier 2006, S. 176. In der Geschichte, die erzählt wird, stattet ein Schulinspektor für deutsche Schulen einer Schule im Elsass einen Besuch ab. Auf eine Europakarte an der Wand deutend fragt er: Wo ist Frankreich? Der aufgerufene Junge antwortet: Hier – und zeigt auf sein Herz. 18 Vgl. zu dem bekannteren Bild »Der schwarze Fleck« von Albert Bettannier mit diesem Motiv: Kwaschik, Anne: »Das Eigene und das Fremde. Der Fall Elsass–Lothringen in kulturgeschichtlicher Perspektive«, in: Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht: Grenzen, Grenzüberschreitungen, Medialisierung von Grenzen, St. Ingbert: Röhrig Univ.-Verl. 2014, S. 11-26.
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Abbildung 3: Arbeitsseite mit der Illustration »Tu seras soldat« (um 1900), 2006. Quelle: Martin Ivernel (Hg.), Histoire/Géographie 4e, Paris: Hatier 2006, S. 176.
An den Arbeitsaufträgen in diesem Buch von 2006 lässt sich ein Wandel der Darstellung – zumindest dem Anspruch nach – seit 2000 gut ablesen: Wurde noch 1992 konkret mit dem Bild gearbeitet und gefragt, welche Region schwarz markiert ist und warum die Schüler eines Tages ihren Militärdienst leisten,19 soll nun, 2006, auf einer Metaebene bestimmt werden, welche Botschaften die beiden Quellen vermitteln wollen und welche Schlüsse man auf die Einstellungen der Franzosen gegenüber Deutschland um 1900 daraus ziehen kann. Abgesehen von den Dossiers oder der Einordnung des Themas in einen bestimmten Kontext wird die Abtretung Elsass-Lothringens an Deutschland mit dem Frankfurter Frieden 1871 in der chronologisch-ereignisgeschichtlich organisierten Darstellung üblicherweise nur in einem Satz erwähnt – manchmal mit dem lapidaren Hinweis, dass der Verlust Revanchegedanken weckte.20
19 R. Riemenschneider: Grenzprobleme, im Kapitel zu 1945 bis Gegenwart, B. Französische Schulbücher. 20 So in R. Azzouz (Hg.), Histoire/Géographie 4e, S. 152; S. Lemaire (Hg.), Histoire/Géographie 4e, S. 168 und auch S. 204 im Zusammenhang mit den Spannungen in Europa als Gründe für den Krieg 1914-1918.
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Im Zusammenhang mit der Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg ist die Rückkehr der Provinzen zu Frankreich entweder in den 14 Punkten Wilsons oder den Bestimmungen des Versailler Vertrages buchstäblich versteckt. Die wiederkehrende und zumeist einzige Frage, die dazu gestellt wird, lautet: Welche Territorien sind in § 51 des Versailler Vertrages oder Punkt 8 der 14 Punkte gemeint?21 Nicht angesprochen werden die Ausweisungen seit Dezember 1918. Neben freiwilligen Auswanderungen waren etwa 100.000 Menschen bis Anfang 1920 betroffen, die zum Teil zwanzig, dreißig, vierzig Jahre in der Region gelebt hatten und diese nun mit wenigen Habseligkeiten verlassen mussten eine historische Bürde, an der noch länger zu tragen sein sollte, denkt man etwa daran, dass die nationalsozialistische Besatzungsmacht 1940 ihrerseits Elsass-Lothringer aus ihrer Heimat vertrieb.22 Nur selten wird die De-facto-Eingliederung Elsass-Lothringens in das Deutsche Reich im Zusammenhang mit der Besetzung Frankreichs 1940 erwähnt.23 Sicherlich ist das Thema komplex. Jedoch wäre es geeignet, die Zerrissenheit auch innerhalb der Bevölkerung bewusst zu machen. Die Leerstelle ist zugleich die Nahtstelle zwischen französischen und deutschen Büchern, wie sie das Deutsch-Französische Geschichtsbuch von 2003 zu sein beansprucht. Dieses Geschichtsbuch widmet dem Thema »Das annektierte Elsass-Lothringen (19401944)« eine Doppelseite und versucht mit entsprechenden Quellen und Darstellungen für das Schicksal der betroffenen Menschen in der Grenzregion, vor allem auch der ›Malgrés-nous‹, der zwangsweise in die Wehrmacht oder die Waffen-SS eingezogenen Elsässer und Lothringer, zu sensibilisieren. Der abschließende Arbeitsauftrag fordert zur Meinungs- und Urteilsbildung auf: »Versuchen Sie nachzuvollziehen, wie die Bewohner des Elsass und Lothringens die Kriegsjahre erlebt haben.«24 Dies wird allerdings nur unvollständig gelingen. Die Zerrissenheit in Teilen der Bevölkerung, die sich zum Beispiel im »Totendenkmal« von 1936 in 21 Vgl. etwa Rachid Azzouz (Hg.), Histoire/Géographie 3e, Paris: Magnard 2006, S. 32, oder Éric Chaudron/Rémy Knafou (Hg.), Histoire/Géographie 3e, Paris: Belin 2008, S. 30f. hier jeweils beide Texte. 22 F. Roth: Alsace Lorraine, S. 152f. Vgl. zur Ausweisung der »Unerwünschten« auch ders.: »Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich«, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919: Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen: Klartext 2001, S. 126-144, hier S. 133. 23 Z.B. V. Adoumié/C. Braizat (Hg.), Histoire Géographie Education civique 3e, Paris: Hachette 2007, S. 124f.; Martin Ivernel (Hg.), Histoire/Géographie 3e, Paris: Hatier 2007, S. 110. Zur De facto-Eingliederung – über Elsass-Lothringen wurde im Waffenstillstandsvertrag nichts bestimmt und die französische Seite protestierte gegen eine »verschleierte Annexion« (annexion déguisée) vgl. Wolfanger, Dieter: Die nationalsozialistische Politik in Lothringen (1940-1945), Diss., Saarbrücken 1977, S. 40f. 24 Daniel Henri et al. (Hg.), Geschichte/Histoire. Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945, Stuttgart: Klett 2008, S. 352f.
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Straßburg ausdrückt, auf dem eine Mutter zwei gefallene Söhnen betrauert, der eine in der deutschen, der andere in der französischen Armee, war komplexer als hier vermittelt. Viele der 1939 angesichts der drohenden nationalsozialistischen Herrschaft geflohenen oder evakuierten Elsässer und der in den Jahren 1940/41 Ausgewiesenen dienten 1944 in der französischen Armee. Die Größe der elsässischen Diaspora lässt sich nach François Roth nur schwer beziffern, belief sich aber nach der Rückkehr eines Großteils der 1939 evakuierten oder geflohenen Bevölkerung (insgesamt ca. 600.000) auf ca. 260.000 Menschen.25 Das brisante Thema, in dem Aspekte von Widerstand, Verfolgung, Repression wie Kollaboration gleichermaßen zu diskutieren wären, ist weder in deutschen noch in französischen Büchern ausführlicher angesprochen. Dem Anspruch des Buches entsprechend wird jedoch im Deutsch-Französischen Geschichtsbuch die Beziehungsgeschichte der beiden Nationen differenziert und in beiden Perspektiven im Sinne von ›regards croisés‹ über einen längeren Zeitraum in den Blick genommen und zur Diskussion angeregt. Eine Sonderseite zum »Zeitalter der Nationen 1814-1914« lädt mit verschiedenen Texten zum ›deutsch-französischen Perspektivwechsel‹ ein und problematisiert unter anderem die ›Konstruktion‹ des deutsch-französischen Verhältnisses als »Erbfeindschaft«.26
D EUTSCHE S CHULBUCH -N ARRATIVE Auch in einigen deutschen Schulbüchern seit 2000 finden sich eigene Kapitel zur Elsass-Lothringen-Frage. Wie der Blick in Geschichte und Geschehen von 2004 zeigt, hatte Riemenschneider zu Recht dem 1996 erstmals in diesem Werk erschienenen Kapitel »Das Elsass – Region zwischen zwei Nationen« einen »richtungsweisenden« Charakter zugeschrieben.27 Die richtungsweisende Bedeutung hatte das Schulbuch schon selbst reklamiert: Das Sonderkapitel erscheint unter der übergeordneten Überschrift: »Europa: Welche Traditionen führen in die Zukunft?« 28 Dieses ›Europa-Kapitel‹ war im Lehrplan von Nordrhein-Westfalen Ende der 1990er Jahre verankert, und die Frage der Überwindung alter Antagonismen und von trennender ›Erbfeindschaft‹ wurde in den meisten Büchern am
25 F. Roth: Alsace Lorraine, S. 168-172. 26 D. Henri et al. (Hg.), Geschichte/Histoire. S. 77. Hier wird auch auf die Webseite http//www.deuframat.de des Georg-Eckert-Instituts verwiesen. 27 R. Riemenschneider: Grenzprobleme, o.S. (erste Seite des Fazits: Hinweise zur Interpretation – Periode 1945 bis zur Gegenwart). 28 Michael Epkenhans (Hg.), Geschichte und Geschehen, Leipzig u.a.: Klett 2004, S. 4 u. 31-34.
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deutsch-französischen Beispiel behandelt.29 Vor allem in Geschichte und Geschehen wird die wechsel- und leidvolle Geschichte des Elsass ausführlich erzählt und auch erklärt, warum die Integration des ›Reichslandes‹ nach 1871 in das neu gegründete Deutschland nicht gelang. Es wird dabei sowohl auf die Widerständigkeit der Elsässer gegen alle Versuche, sie zu ›deutschen Nationalisten‹ zu machen, als auch auf die Revanchegedanken für den Verlust der Region auf französischer Seite hingewiesen. In dem Buch erhält auch die Versöhnungsgeschichte einen besonderen Stellenwert. Über die Anerkennung der französischen Ostgrenze und damit der Zugehörigkeit des Elsass und Lothringens zu Frankreich im Vertrag von Locarno 1925 bis hin zum Elysée-Vertrag von 1963 – immer wird die besondere Rolle der Grenzregion hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Grenzerfahrung der Verhandlungspartner Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hingewiesen. Lebenserfahrung und Sozialisation des Lothringers de Gaulle und des Rheinländers Adenauer mögen in der Tat einen Beitrag geleistet haben zu dem Wunsch, Grenzen zu überwinden. Beide sind aktive Konstrukteure Europas gewesen. In dem Sonderkapitel spiegeln sich natürlich zugleich die im Unterschied zum zentralistischen Bildungssystem Frankreichs anderen Möglichkeiten in einem föderalen System mit Bildungshoheit der Länder wider: NordrheinWestfalen kann seinem politischen und didaktischen Anliegen, die Grenzlage zu zwei Ländern als Chance hervorzuheben, in einer eigenen Akzentsetzung im Lehrplan gerecht werden. Für die Gegenwart wird das Elsass als Scharnier zwischen Frankreich und Deutschland gesehen oder – mit einem Zitat von Tomi Ungerer – als »eine schön geheilte Wunde auf der Karte Europas«.30 Die Texte und Quellen sind geeignet, den anspruchsvollen Arbeitsauftrag zu bewältigen. Dieser lautet: »Zeige anhand der Geschichte des Elsass, wie sich das deutsch-französische Verhältnis in den letzten drei Jahrhunderten entwickelte.«31 Diese sehr sinnvolle Betrachtung der deutsch-französischen Geschichte als Beziehungsgeschichte über eine lange Zeit am Beispiel des Elsass ist in den Kapiteln rein chronologischer ereignisgeschichtlicher Darstellung nicht möglich. Hier wird zumeist wie in den französischen Büchern die Abtretung bzw. Rückgabe nur erwähnt. Wichtig ist dann in Anbetracht der Kürze der Mitteilung die gewählte Ausdrucksweise. In einigen Büchern wird von der »Demütigung« gesprochen, die
29 Wie ebd., S. 31-34, auch in Hans-Jürgen Lendzian/Christoph Andreas Marx (Hg.), Geschichte und Gegenwart 3, Paderborn: Schöningh 2001, S. 338f. 30 M. Epkenhans (Hg.), Geschichte und Geschehen, S. 33, als Quelle zit. nach einem Kommentar Ungerers von 1999 zu einer Ausstellung seiner Werke. 31 Ebd., S. 34.
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die Ausrufung des deutschen Kaiserreichs gerade in Versailles bedeutete,32 oder von der »Erbitterung« über den »Verlust« der Region, und so wird die französische – »tief verletzte«33 – Perspektive, in der »Raub« empfunden und nach »Revanche« verlangt wurde, verständlich zu machen versucht. Das Angebot und die Aufforderung zum Perspektivwechsel wird noch deutlicher in einem neueren Buch, in dem als Quelle die Rede Gustav Heinemanns zum einhundertsten Jahrestag der Reichsgründung aufgenommen wurde, die schließt mit den Worten: »Für unsere französischen Nachbarn war es eine tiefe Demütigung, dass unser Nationalstaat in ihrem Lande ausgerufen und ihnen zugleich Elsass-Lothringen weggenommen wurde. Diese Demütigung konnte Frankreich nicht vergessen.«34 Bedauerlicherweise gibt es zu dieser Passage der Rede keinen Arbeitsauftrag, der den angesprochenen Perspektivwechsel hätte explizit machen und sichern können. Die Rückgabe oder Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich mit dem Versailler Vertrag wird zumeist nur konstatiert – in Horizonte von 2009 mit der Zusatzinformation »ohne dass die Bevölkerung gefragt wurde«. Kontext ist zwar, dass im Unterscheid dazu in anderen Gebieten Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit stattfanden, jedoch könnte die Nichtbeteiligung der Bevölkerung ohne jegliche Erklärung zunächst auch als Unrecht gedeutet werden.35 Korrektiv dafür könnte dann aber ein später folgendes Kapitel »Frankreich und Deutschland – vom Erbfeind zum Partner« sein. Hier wird ausführlich und differenziert die Beziehungsgeschichte der Nachbarländer entwickelt. Vor allem werden die demütigenden Bedingungen des Frankfurter Friedens mit der Abtretung Elsass-Lothringens und in der Folge die Politik im Reichsland als die Revanche-Forderungen Frankreichs erklärende Faktoren erläutert. Als eines der ganz wenigen Beispiele wird hier auch im Zusammenhang mit der deutschen Besatzung 1940 der erzwungene Militärdienst von 130.000 Elsässern und Lothringern in der Wehrmacht oder der Waffen-SS an der Ostfront angesprochen.36
32 Guiskard Eck (Hg.), Zeitreise 2, Leipzig: Klett 2005, S. 134. 33 Thomas Berger v.-d. Heide/Hans-Gert Oomen (Hg.), Entdecken und verstehen. Geschichte Nordrhein-Westfalen 4, Würzburg: Cornelsen 2013, S. 126, hier im Kapitel: »Wie kam es zur deutsch-französischen Freundschaft«, das unter »Konfliktlösungsstrategien« eingeordnet wird. 34 Heinemann, Gustav: Reden und Interviews, Bd. 2, Bonn: Presse- u. Informationsamt 1971, zit. nach Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hg.), Horizonte 2. Geschichte Gymnasien Nordrhein-Westfalen, Braunschweig: Westermann u.a. 2008, S. 159. 35 Dies. (Hg.), Horizonte 3. Geschichte Gymnasien Nordrhein-Westfalen, Braunschweig: Westermann u.a. 2009, S. 37. 36 Ebd., S. 265.
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In dem Mittelstufenbuch Mosaik wird im Kontext des Versailler Vertrages explizit mit Hilfe einer Karte die durch den Vertrag geschaffene Grenzsituation hervorgehoben.37 Im Hinblick auf die deutlich markierte Sicherheitszone zwischen Deutschland und Frankreich wird die Frage gestellt: »Wurde Frankreichs Wunsch nach Sicherheit und Wiedergutmachung ausreichend erfüllt? Begründe Deine Meinung.«38 Die Perspektive, die hier eingenommen werden soll, ist diejenige Frankreichs und diejenige eines traditionellen, militärstrategisch argumentierenden Sicherheitsdenkens durch Grenzsicherung und Herstellung einer Pufferzone. Deren Sinnhaftigkeit wird nicht hinterfragt. Ähnliche Argumente finden sich auch in neuesten Oberstufenbänden, etwa in Geschichte und Geschehen wo die Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich 1919 und der Wunsch nach Anerkennung der Rheingrenze nach wie vor mit »Sicherheitsinteressen« begründet werden.39 Jedoch wird im gleichen Band im Unterschied zu dem Vorgängerband, wo die harten Friedensbedingungen 1871 als friedenssichernde Maßnahme erscheinen,40 für den Vertrag 1871 zugestanden: »Der hohe Preis, den Frankreich für die Niederlage zu zahlen hatte, fünf Milliarden Francs und die Abtretung Elsass-Lothringens, war mehr als ein Siegespreis oder eine Sicherheitsgarantie. In ihm dokumentierte sich der Anspruch einer neuen Großmacht in Europa.«41 Dass auch 1989 die deutsch-französische Grenze mindestens unterschwellig wieder Thema wurde, zeigt das Buch Horizonte von 2009 anhand einer Karikatur von Poncho aus Le Monde: Helmut Kohl und François Mitterand sitzen am Verhandlungstisch. Mitterand sagt zu Kohl: »Sie haben nichts zur Oder-Neiße-Grenze gesagt...« Darauf Kohl: »Auch nichts zu Elsass-Lothringen…«.42
F AZIT Perspektivwechsel und Lernen durch ›regards-croisés‹, von Riemenschneider noch vor allem durch die Gegenüberstellung und den Vergleich deutscher und 37 Joachim Cornelissen et al. (Hg.), Mosaik. Der Geschichte auf der Spur 2, München: Oldenbourg 2008, S. 208f. 38 Ebd., S. 208. 39 Peter Johannes Droste et al.: Geschichte und Geschehen. Gesamtband Oberstufe Nordrhein-Westfalen, Stuttgart/Leipzig: Klett 2015, S. 649. 40 Tobias Arand et al.: Geschichte und Geschehen. Qualifikationsphase Oberstufe Nordrhein-Westfalen, Stuttgart: Klett 2011, S. 59 mit der Erklärung für den harten Frieden: »Bismarck wollte Frankreich dadurch schwächen und so einen möglichen Revanchekrieg verhindern«. 41 P.J. Droste et al.: Geschichte und Geschehen, S. 525. 42 U. Baumgärtner/K. Fieberg (Hg.), Horizonte 3, S. 270.
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französischer Schulbuchdarstellungen angestrebt, sind in neueren Büchern vielfach schon in den jeweiligen nationalen Repräsentationen der Grenzfragen um Elsass-Lothringen aufgenommen. Die Problematisierung geht unterschiedlich tief, so dass es nach wie vor sinnvoll ist, durch Einbeziehung auch früherer Bücher für das lange virulente und brisante Thema zu sensibilisieren und den langen Weg zur gegenwärtigen entspannten Situation nachzuverfolgen. In der diachronen Perspektive kann zudem der jeweilige Kontext für bestimmte Darstellungsweisen in die Untersuchung einfließen und das Wechselverhältnis von Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein verdeutlichen.
Ellenbogs Bücher, oder: Wie man eine Bibliothek auch benutzen kann H ARALD M ÜLLER
Bücher sind (noch) die Gehhilfen der Gelehrten. Sie stützen fundamental unser Wissensgebäude, geben Halt bei ungewissen Gedankenexpeditionen und helfen über die Klippen theoretischer Herausforderungen. Der Umgang mit ihnen ist vorrangig instrumentell. Man benutzt sie, exzerpiert sie, schlachtet sie aus – das alles nach den Regeln des Faches. Man spricht martialisch von »Rüstzeug«, mit dem in die akademische Schlacht gezogen werden kann. Der Jubilar hat ein Buch darüber geschrieben, eine Anleitung zum erfolgreichen Benutzen von Buch und Bibliothek, vom Hinausschieben der eigenen Wissensgrenzen – insgesamt ein hilfreicher Leitfaden zum handwerklich sauberen geschichtswissenschaftlichen Glück.1 Neben dieser streng akademischen Nutzung kann man Bücher, gerade in großer Zahl, auch als Inszenierung der eigenen Bildung einsetzen. Das ist seit jeher ein Lieblingsmotiv der Gebildeten. Hieronymus im Gehäus’ ist der Prototyp des Buchmenschen in der Gelehrtenikonografie, Dürer malte Erasmus 1526 schreibend vor einem Stapel Bücher und vergaß nicht (auf griechisch) ins Bild zu setzen, dass die Schriften den Charakter des Porträtierten am allerbesten zu erläutern vermöchten.2 Eine Definition von Gelehrsamkeit lautete im 15. Jahrhundert schlicht,
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Grund, Uwe/Heinen, Armin: Wie benutze ich eine Bibliothek?, Stuttgart: UTB 1996. Ich danke Ines Soldwisch herzlich für kritische Lektüre und kluge Hinweise, Klaus Scherberich für Hilfe beim eigenwilligen Griechisch des Redners. Zu Hieronymus im Gehäus’ vgl. Elm, Kaspar: »Monastische Reformen zwischen Humanismus und Reformation«, in: Lothar Perlitt (Hg.), 900 Jahre Bursfelde. Reden und Vorträge zum Jubiläum 1993, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 59-111, hier S. 59-63.
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aber zutreffend: »Du wirst für gelehrt gehalten, weil Du viele, sehr alte und obendrein seltene Bücher gelesen hast.«3 Diese Logik inspiriert grundsätzlich Abertausende Fotos nicht nur auf den Homepages geisteswissenschaftlicher Akademikerinnen und Akademiker: Mensch vor Bücherwand als emblematische Codierung eines klugen, weil belesenen Kopfs, der das Weltwissen zur Verfügung hat. Das pittoreske Motiv wird wohl entfallen, wenn einmal die gesamten Bestände der französischen Nationalbibliothek auf die Größe eines USB-Sticks zusammendigitalisiert sein werden. Die (Selbst-)Inszenierungsgewohnheiten spätmittelalterlicher Gebildeter folgen ähnlichen Mustern, weichen hiervon aber auch ab, indem sie den Büchern einen anderen, weit höheren Stellenwert zumessen. Bücher sind für sie keine anonyme Bildungsmasse, sie repräsentieren sehr direkt ihre Autoren. Bekannt ist, dass Niccolò Machiavelli nach eigenem Bericht allabendlich eine besondere Freizeitgestaltung pflegte: »Wenn es Abend geworden ist, gehe ich zurück nach Hause und betrete mein Studierzimmer; auf der Schwelle ziehe ich meinen gewöhnlichen Anzug, der dreckig und verschmutzt ist, aus und lege königliche und zeremonielle Gewänder an. Schicklich gekleidet betrete ich so die antiken Höfe der Klassiker, wo diese mich liebenswürdig empfangen und wo ich mich erquicke mit Nahrung, die allein für mich bestimmt ist und für die ich geboren bin, wo ich mich nicht schäme, mit ihnen zu sprechen und sie nach den Gründen ihrer Taten zu befragen; und aus Freundlichkeit antworten sie mir dann. Vier Stunden lang empfinde ich keine Langeweile, vergesse all meine Sorgen, fürchte die Armut nicht, und der Gedanke an den Tod schreckt mich nicht: Ich bin völlig in die Klassiker vertieft.«4
Machiavelli beschreibt den gedanklichen Dialog in auffälliger Weise. Den Alltag hinter sich lassend, überschreitet er mit der Türschwelle eine Grenze, betritt mit dem Studierzimmer eine eigene Welt. Das Anliegen der feinsten Kleider verleiht ihr eine geradezu sakrale Würde. Die Lektüre der antiken Autoren ist Machiavelli Erholung, geistige Nahrung und vollständige Erfüllung der Lebenszeit zugleich. 3
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Doctissimus es, quia libros te legisse tam varios, tum antiquissimos, tum etiam rarissimos quidam affirmarent. So der Dominikaner Wigand Wirt über den Benediktinerabt und Büchersammler Johannes Trithemius (1462-1516). Der Brief ist gedruckt bei Arnold, Klaus: »Ergänzungen zum Briefwechsel des Johannes Trithemius«, in: Studien und Mitteilungen aus der Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 83 (1972), S. 176-204, hier S. 190f. Nr. IV, 1494 Dez. 11. Corrado Vivanti (Hg.), Niccolò Machiavelli, Opere II: Lettere, legazione e commissarie, Turin: Einaudi 1999, S. 294-297, 1513 Dez. 10, hier S. 295f. Übersetzung nach Mout, Nicolette (Hg.), Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München: Beck 1998, S. 360-363, bes. S. 362.
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Tagsüber, so können wir demselben Brief entnehmen, sind Petrarca, Dante, Ovid und andere Dichter ebenfalls seine ständigen Begleiter.5 Er liest in ihren Werken, entspannt sich, denkt nach, wann immer das Tagesgeschäft ihm Zeit dazu lässt. Abends aber inszeniert er eine feierliche, geradezu intime Begegnung mit denselben Klassikern. Könnte man aus dieser Machiavellischen Dichotomie aus Alltags-Lesen und Feierlich-Lesen wohl auch eine Typologie der Medien ableiten? Hier das Taschenbuch, dort der prächtige Codex? Es scheinen Grenzen auf, die teils pragmatisch konstituiert sind, teils kulturelle Formationen symbolisieren oder durch Distinktion erst schaffen. Doch Machiavelli hebt diese inszenierten Trennungen durch seinen Umgang mit dem Buch auf. Der Brief nennt keine Werke, sondern Autoren der Antike, denen Machiavelli in geradezu feierlichem Ambiente geistig begegnete. Der Verfasser stilisiert sich dabei als Gesprächspartner dieser Autoren, befragt sie und lässt sich von ihnen beraten. Die auctores stehen ihm als auctoritates zur Seite.6 Dies ist eine in der Renaissance gut eingeübte Pose. Die Handschriftenjagden italienischer Humanisten in die Gegenden nördlich der Alpen führten stets zur Befreiung antiker Autoren, die aus den dunklen und feuchten Büchertürmen der Klöster um Hilfe riefen. In bezeichnender Weise gingen die wiederentdeckten Handschriften oft verloren, nachdem der enthaltene Text kopiert und dadurch für die Gemeinschaft der Gebildeten gesichert worden war.7 Am deutlichsten wird die Gleichsetzung von Buch und Autor in einem Diktum des Gothaer Kanonikers Konrad Mutian (1470-1526). An seinen vertrauten Heinrich Urban gerichtet kritisierte er das Urteil der Erfurter Universität über Johannes Reuchlins »Augenspiegel«. Knapp beschied er dem Adressaten: Qui librum odit, scriptorem odit – »Wer das Buch hasst, hasst (eigentlich) den Schriftsteller.« Eine Gleichsetzung, die bis in die Gegenwart furchterregend emblematischen Charakter entfaltet.8
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Vgl. C. Vivanti: Machiavelli, Opere II, S. 295; N. Mout: Kultur des Humanismus, S. 361. Vgl. oben bei Anm. 4. Vgl. statt vieler den Brief des Cincius Romanus an Francesco da Fiano über Handschriftenfunde in St. Gallen (1416), in: N. Mout: Kultur des Humanismus, S. 96-99; sowie die einführenden Bemerkungen ebd., S. 93. Zu den Handschriftenjagden schon Voigt, Georg: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd. I, Berlin: Reimer ³1893 [1859], S. 232-265. Karl Gillert (Hg.), Der Briefwechsel des Conradus Mutianus, Teil I–II, Halle: Hendel 1890, S. 411-413 Nr. 320, 1513 Okt. 3. Es prägt das im Zuge des Erinnerns an die Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten populär gewordene Heine-Zitat (Almansor, 1821) »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.« Es kennzeichnet unter anderem das Mahnmal der Verbrennung von 1933 auf dem Berliner Bebelplatz.
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Es ist also nicht allein die schiere Zahl der Handschriften und gedruckten Bücher, mit der Renaissance-Gelehrte im Sinne von Bourdieus symbolischem Kapital zu beeindrucken verstehen, es ist die demonstrative Interaktion mit den von Papier und Pergament repräsentierten Autoritäten selbst, die den Mehrwert ausmacht. Die Bibliothek ist multifunktional oder besser: Sie funktioniert auf mehreren Ebenen. Kaum ein Zeugnis vermag einen besseren Eindruck von dieser spezifischen Wirkungsweise zu geben als ein Brief des Ottobeurer Benediktiners Nikolaus Ellenbog aus dem Jahre 1512. Genauer gesagt ist es eine Rede, die er den Büchern seines Vaters hielt, die nach dessen Tod verwaist in den Regalen standen und ein ungewisses Schicksal erwarteten. Nikolaus (1481–1543) war Sohn des Memminger Stadtarztes Ulrich Ellenbog (1435-1499), der in höchsten gelehrten Kreisen Süddeutschlands verkehrte. Nikolaus studierte in Leipzig, Krakau und Montpellier unter anderem Medizin und Astronomie und war auf bestem Wege, in die Fußstapfen seines Vaters als Arzt zu treten. Dann aber legte er 1506 im Benediktinerkloster Ottobeuren Profess ab.9 Er brach mit seinem vorherigen Leben, nicht aber mit seinen Interessen. Gerade hierfür sah er in Ottobeuren den besten Nährboden. Garant hierfür war der Abt Leonard Widenmann, den Ellenbog in einem Brief an einen Freund wie folgt beschrieb: »Ich (…) habe einen äußerst würdigen Vater Abt gefunden, der die schönen Wissenschaften genauso fördert wie den rechten Glauben. Er arbeitet Tag und Nacht daran, lateinische, griechische und auch hebräische Bücher herbeizuschaffen. Und er hat sogar an Johannes Reuchlin geschrieben, damit dieser einen konvertierten Juden in unsere Abtei schicke, der mich im Hebräischen unterrichten soll.«10
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Zu Ellenbog, seinen Briefen und seiner Einordnung in den Humanismus vgl. Dörner, Gerald: »Ellenbog, Nikolaus«, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin: De Gruyter 2006, Sp. 600-614 (mit weiterer Literatur); Müller, Harald: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen: Niemeyer 2006, S. 245-293; vgl. »Ulrich Ellenbog (GND: 100965008)«, in: RAG, Repertorium Academicum Germanicum, http://www.rag-on line.org/pnd/100965008 (abgerufen am 7.3.2017). 10 Andreas Bigelmair/Friedrich Zoepfl (Hg.), Nikolaus Ellenbog, Briefwechsel, Münster: Aschendorf 1938, S. 34f. Nr. I.53, 1508 Nov. 7, an den Kemptener musicus Alexius Wagner: Caeterum gratulari te mihi velim de foelicitae mea, quam nactus sum in abbate patre meo dignissimo, qui tam politiores fovet literas, ut fidem superet. Laborat ille dies noctesque, ut codices, non Latinos modo, verum et Hebraicos ac Graecos conquirat. Pro neophyto praeterea ex Hebraeis converso, qui me in Hebraeo instituat, ad Capnionem, virum doctissimum, scripsit.
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Es war dies aber nur die eine Seite der Medaille, denn schon bald erfuhr er Widerstand von seinen Mitmönchen. Ellenbog sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, er betreibe nutzlose und sogar gefährliche Dinge. Er wurde heimatlos in seiner Abtei, lange bevor der Bauernkrieg das Kloster in Schutt und Asche legte. Denn auch der Abt ging wegen Ellenbogs forciertem Interesse an Griechisch und Hebräisch und für die Philosophie Platons allmählich auf Distanz. Vollends unerträglich wurde es für Ellenbog, als 1542 in Ottobeuren ein Studienzentrum des Ordens eingerichtet wurde. Er hatte gehofft, dort am Ende seines Lebens noch einmal Vorlesungen in Griechisch und Philosophie belegen zu können, doch der Abt verweigerte ihm die Zustimmung. Ellenbog hat diese Niederlage nie verwunden und nur um kurze Zeit überlebt. Ellenbog war ein Büchermensch par excellence. Und als er die Rede an die Bücher seines Vaters verfasste, waren die Zeiten im Kloster Ottobeuren für ihn noch golden. Gleichwohl löste ein Schicksalsschlag den Brief aus. Nikolaus’ Bruder Ulrich, auf dem die Hoffnung der Familie ruhte, Vater Ellenbogs Praxis weiterzuführen, starb auf der Heimreise in Österreich, nachdem er in Siena frisch promoviert worden war. Somit waren die medizinischen Pläne durchkreuzt und die Zukunft der Ellenbogschen Bibliothek ungewiss. Nikolaus nahm dies zum Anlass, den Vater und seinen Umgang mit Büchern und Wissen zu charakterisieren – eine Art Nachruf auf den wissenschaftlichen Habitus des renommierten Arztes und zugleich ein fast zeitloses Idealbild des seriösen, buchgestützten, ja buchbegeisterten Gelehrten.11 Der Text ist in Nikolaus’ fast 900 Stücke umfassenden, autographem Briefbuch überliefert und bislang nur durch ein ausführliches Regest erschlossen. Schon dies lohnt die Mühe einer Transkription und Übersetzung. Dies hier zu tun, ist indes ein besonderes Vergnügen, verweist die wunderbare, geradezu elegische Rede doch kontrastierend auf den rationalen Bibliothekskompass aus der Feder Armin Heinens.12 Ellenbog schwelgt in Erinnerung an den Vater: ein Buchbenutzer, der seine Lesefrüchte eifrig annotierte, indizierte, verbesserte; den selbst ein päpstliches Verbot – so die köstliche Anekdote – nicht abgehalten hätte, sich dem Buch mit spitzer Feder zu nähern; ein Bücherliebhaber, der die Kodizes als Autoritäten konsultierte und sie wie Familienmitglieder hochschätzte. Doch genug der Paraphrase! 11 Einen guten Zugang zu dieser Welt eröffnet Verger, Jacques: »Les bibliothèques de professeurs comme témoignages de leur culture et de leurs méthodes de travail (France XIIIe–XVe siècles)«, in: Frank Rexroth (Hg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter, Ostfildern: Thorbecke 2010, S. 101-116. 12 Vgl. Anm. 1 Die Tatsache, dass der Brief Ellenbogs auf den Tag genau 450 Jahre vor der Geburt des Verfassers dieser Zeilen niedergeschrieben wurde, war für die Auswahl zweitrangig.
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Mit Blick auf die Leserschaft dieser Festschrift stehen die Gepflogenheiten des Mediävisten zurück; die Übersetzung rückt in den Mittelpunkt, der lateinische Text mit den nötigen Nachweisen wird aus Gründen der methodischen Verlässlichkeit (und als Spielwiese für die allgegenwärtigen gestrengen philologischen Kontrolleure) erst an zweiter Stelle und in kleinerer Type geboten.
N IKOLAUS E LLENBOGS R EDE AN DIE B ÜCHER DES V ATERS 13 Reinste und unschuldigste Bücher, ich werde Euer Verlassensein mit so heftigen Wehklagen betrauern. Ihr seid von Eurem hochgelehrten Vorleser, der Euch in der Nacht und am Tage durchblätterte, zu Witwen gemacht worden. Ihr wart sein Vergnügen und, sage ich, nach getaner Arbeit der größte Trost für meinen allerfrommsten Erzeuger und Vater Ulrich Ellenbog – Gottes Gnade komme über ihn! –, der sich Tag und Nacht der Wissenschaft hingab. Dem nichts süßer, nichts angenehmer war als das fortwährende Lesen, und der weder leichtfertig noch sprunghaft zu lesen pflegte, um nicht allenthalben durch verschiedene Themen umherzuirren. Aber er pflegte mit größtem Eifer und größter Anstrengung, Euch, oh allervornehmste Bücher, nicht bloß zu lesen, sondern nochmals zu lesen und immer wieder durchzuarbeiten. Und wenn er an irgendeinem durch die Unkenntnis der Drucker verursachten Fehler in Euch Anstoß genommen hätte, war flugs die Feder zur Hand, damit sie verbessere und tilge, was verderbt war. Es war offensichtlich der Brauch unseres Vaters, sich niemals der Lektüre hinzugeben, wenn nicht Schreibfeder und Tinte griffbereit waren. Auch pflegte er öfters zu sagen, es sei bei ihm von Natur aus so, dass er sich selbst dann überhaupt nicht zurückhalten könne, in einem Band herum zu schreiben, zu verbessern und die Fehler mit spitzer Feder zu notieren, wenn der Papst selbst ihm ein Buch nur unter der Bedingung geliehen hätte, bloß keinerlei Hand an den Kodex zu legen. So kommt es, dass man Euch von unserem Vater bestens durchgesehen und gereinigt vorfindet, in hervorragender Verfassung. Und es ist kaum das eine oder andere Versehen in Euch zurückgeblieben, sondern es sind sogar Scholien und Anmerkungen zur Erleichterung gewisser Stellen eingefügt und hinzugesetzt worden; was die Hebräer ›Masaroth‹ nennen, findet man in Euch sehr zahlreich von des Vaters Hand. Darüber hinaus hat er für fast alle einzelnen Bücher Kapitelverzeichnisse zusammengestellt und niedergeschrieben. Und aufs Ganze gesehen ist nichts in Euch geblieben, das einen Leser behindern oder das Zweifel wecken
13 Eigentlich »Hinwendung zu den Büchern...«.
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könnte, sondern er hat derart verbessert und ausgestrichen, dass einem jeden eifrigen Leser eine leichte und vollständige Lektüre bevorsteht. Aber, oh je, Ihr seid Eures Lesers beraubt worden, allerbeste Bücher, der Euch wie Freunde und eben menschlich zu behandeln pflegte, dem der vertraute Umgang mit Euch belebend und willkommen war; dem es sogar allzu beschwerlich war, ohne Euch zu leben, mit Euch aber angenehm. Nichts tat er üblicherweise ohne Euren Rat. Derart häufig sah ich, dass er Rat und Urteil bei der Einschätzung von Krankheiten aufschob oder keine voreilige Entscheidung fällte; und dass er nicht auf der Stelle Medikamente verordnete (wie nicht wenige es zu tun pflegen), sondern das Gewohnte sagte: »Ich werde gehen und meine geschulten Ratgeber befragen (er sprach von Euch Büchern!), die ich zuhause habe, und ich werde tun, was sie beschließen.« Aber auch wenn er zuhause in seiner Studierstube war, zeigte er oft mit der Hand auf Euch und sagte: »Seht, meine Ratgeber!« Wer, beste Bücher, befolgt nun Euren Rat? Ihr habt Euch ruhmlos versteckt, wart mehr als ein Jahrzehnt eingeschlossen, verborgen und wie in einem Kerker gefangen. Weder Mond noch Sonne zu sehen, war Euch erlaubt, stattdessen habt ihr ehrlos als Eingeschlossene in schwarzen Schatten gelegen. Niemand hat das Gespräch mit Euch genutzt, niemand Euren Rat gesucht. Ihr habt vielmehr erheblichen Schaden erlitten, von Vergessenheit und Fäulnis geplagt und kein geringes Unheil durch Würmer erduldend. Nun solltet Ihr schließlich nach dem Schmutz des langandauernden Kerkers aus den Schatten und allem Unrecht, das ihr bislang zu erdulden hattet, durch täglichen Gebrauch in die übliche Helligkeit gerettet werden. Wenn nur der grausame Tod nicht Ulrich Ellenbog verschlungen hätte, meinen jüngeren leiblichen Bruder (Gottes Gnade komme über ihn!), der mir einzigartig lieb war; auf ihm ruhte all meine Hoffnung. Er, der Erbe der väterlichen Wissenschaft, starb in Innsbruck am 14. Juli 1512, nachdem er in Siena die Doktorwürde erlangt und sich wieder auf den Heimweg gemacht hatte. Ich weiß nicht recht, ob dieser Tod mir oder doch noch mehr Euch beklagenswert sein muss. Ich habe den hochgeschätzten Bruder verloren, der mir Ein und Alles war, mit dem ich meine literarischen Arbeiten teilen konnte, dem ich vertraute Briefe voller Menschlichkeit schicken und umgekehrt die vergnüglichsten Briefe von ihm erhalten, ja sogar einige Male auch öffentlich eine höchst angenehme Unterredung mit ihm führen konnte. Aber, oh je, ich bin all dieser guten Dinge beraubt. Der eine Tod entreißt beiden so viele Annehmlichkeiten. Wer aber wollte Euch nicht am meisten bedauern, wenn die lange Klausur, die ihr halten müsst, solange anhielte, bis ich weiß nicht wer aus dem Hause Ellenbog heranwüchse, der Eure Werke nutzen, der Euch umblättern und lesen wird. Dazu nämlich seid ihr ungeteilt geblieben: Damit wer auch immer aus dem Geschlecht der Ellenbogs (der Vater sei Zeuge!) sich der Literatur und am allermeisten der
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Heilkunst befleißigen würde, durch den Gebrauch und die Vertrautheit mit Euch ans Ziel gelänge. Es war nicht die kleinste Sorge meines Vaters im Hinblick auf Euch, wann jemand mit dem Wert der menschlichen und schönen [Künste] wuchern werde, und er hat es oft beschworen: Er erachtete es als unwürdig, dass Ihr, die er über einen langen Zeitraum und nicht gerade für Kleingeld zusammengetragen hatte, leichtfertig und zu niedrigem Preis auseinandergerissen würdet. Er hoffte, dass der Sohn nach ihm kommen und zugleich auch Erbe der väterlichen Wissenschaft werde. Aber der Lauf des Schicksals war anders als der Vater es gedacht, vorhergesehen und bestimmt hatte. Onofrius allein ist übrig geblieben, um den Namen und das Geschlecht der Ellenbogs weitertragen zu können. Der allmächtige Gott, der in der Lage ist, aus Steinen die Söhne Abrahams zu erschaffen, möge es in seiner Güte und Sanftheit geschehen lassen, dass aus diesem ein Sohn hervorgehe, der sich mit den guten Künsten und der Medizin beschäftige, der Euch aus dem Kerker befreie und Eurer Würde angemessen behandle! Wenn nun Onofrius ohne Erben stürbe, wird es um Euch geschehen sein, beste Bücher, denn ihr werdet zerstreut und kommt an einen Euch unbekannten Ort. Gebe Gott, dass ihr dann einen beflissenen Herrn erhaltet, der Euch zu häufiger Lektüre aufsuchen, der Eure Unterhaltung genießen, Eure Ratschläge befolgen und der Euch in ebenso großer Verehrung behalten wird, wie Ihr von meinem Vater gehalten wurdet. So sei es! Ottobeuren, 6. Oktober 1512.
APOSTRAPHE N ICOLAI E LLENBOG
AD LIBROS PATERNOS
Abschrift im Briefbuch: Stuttgart, Württembergische Landesbibl., Cod. hist. 99, fol. 153r-156r. – Regest: BIGELMAIR/ZOEPFL, Briefwechsel Ellenbog (wie Anm. 10), S. 94, Nr. II.39. Tersissimi castigatissimique codices | (fol. 153v) quibus quantisve gemitibus14 vestram condolebo desolationem. Viduati estis vestro studiosissimo anagnostou 15 qui vos nocturna versabat manu, versabat diurna16. Vos delitiae eius eratis et post labores solatium maximum pro genitorem ac patrem meum piissimum loquor Udalricum Ellenbogium, misericordia Dei veniat super eum, qui litteris diu noctuque vacabat. Cui nihil dulcius, nihil iucundius quam perpetua lectio, nec perfunctorie17 quidem legere solebat aut saltuatim aut, ne passim 14 15 16 17
gemittibus. ༁µαγµώζου statt ༁ναγνώςτου. Horaz, Ep. 2,3. perfunctoriae.
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vagabatur per diversa. Sed summo studio et conamine vos, o eminentissimi codices, nedum legere, sed et relegere crebroque perlegere solebat. Et si quam mendam chalcographorum ignorantia factam in vobis offendisset, mox erat in manum calamus, ut emendaret et expungeret quod erat depravatum. Erat nempe is18 genitori mos, ut numquam lectioni vacaret, nisi presto esset calamus scriptorius cum atramento. Saepius etiam dicere solebat, ita se natura comparatum, ut si etiam a summo pontifice mutuo accepisset codicem, addita quinetiam obtestatione, ne codici manum imponeret, continere tamen se | (fol. 154r) minime posse, quominus in eo scriberet, emendaret et mendas transverso calamo notaret. Huiusmodi est, ut optime a genitore recogniti et castigati, emendatissimi inveniamini. Vixque una aut altera in vobis menda reliqua sit. Sed et tà schólia19 et annotationes quaedam intercisae pro caeterorum locorum commoditate adiectae; quas Hebrei Masaroth appellant, creberrimae in vobis visuntur paterna manu exaratae. Indices insuper capitum per singulos ferme libros edidit et conscripsit. Et in universum nihil in vobis reliquit quod lectorem suspendere aut dubium reddere posset. Sed ita ad amussim correxit et expungit, ut facilis ac plena studioso cuivis lectori lectio relinquatur. Sed heu orbati estis, optimi codices, lectore vestro, qui comiter tractare vos humaniterque solebat, cui iugis ac grata vobiscum erat familiaritas. Cui etiam sine vobis vivere permolestum erat, vobiscum vero dulce. Absque vestro etiam consilio facere solebat nihil huiusmodi crebro distulisse eum sententiam et consilium vidi in iudicandis morbis vel precipitem tulisse | (fol. 154v) sententiam, nec illico (ut nonnulli facere solent) adhibuisse medicamina, sed dice(ns?) solitum: Vadam et consultos habebo consiliarios meos (de vobis libris loquens) quos domi habeo et quod decreverint faciam. Sed et domi residens in officina sua literaria saepe manu vos demonstrans. Ecce (ait), consiliarii mei! Quis nunc, optimi libri, vestro utitur consilio? Inglorii nunc delituistis plus decennio clausi et absconditi20 et quasi in carcere vinculati fuistis. Non solem, non stellas videre vobis concessus est, sed atris inclusi tenebris sine honore iacuistis. Nemo vestro usus est colloquio, nemo vestrum imploravit consilium. Sed situ et carie infecti et a vermibus non parvam passi iniuriam, iacturam vestri non mediocrem fecistis. Nunc tandem post diutini carceris squalorem vendicandi eratis de tenebris omnique iniuria quam hactenus affecti fuissetis solitumque candorem quotidiano usu accepturi. Si non dura mors depasta esset Udalricum Ellenbogium iuniorem fratrem ac germanum mihi (misericordia dei veniat super eum) | (fol. 155r) unice dilectum: in quo spes mea omnis reposita erat. Is paternae scientiae heres, quum doctoratus insignia Senis assecutus fuisset et ad natale solum pedem direxisset, morte decessit in Eniponte pridie idus Julii, anno natalis dominici duodecimo super millesimum et quingentesimum. De huius morte mihi ne plus an vobis sit dolendum non satis scio. Amisi ego fratrem mihi unum omnem dilectissimum cum quo labores meos literarios communicare
18 Folgt gestrichen mos. 19 τα σχóλια. 20 abscondi.
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poteram, ad quem familiares humanitatisque plenas dare potui literas rursumque suavissimas ab eo accipere epistolas, sed et nonnumquam coram dulcissimum miscere colloquium. Sed heu me bonis his omnibus privatus sum et mors una utrisque tantas preripuit suavitates. Quis vero non condoleat vobis maxime, si perpendat longa vos detinendos esse clausura, donec oriatur nescio quis de domo Ellenbogensi, qui vestra utatur opera, qui vos revolvat et legat. Ad hoc enim indivisi estis, ut quisquis de progenie cubitensium (patre ita testante) bonis litteris et potissimum medicae21 arti insudaret, vestro fine- | (fol. 155v) retur usu et familiaritate. Fuit parenti meo de vobis non minima cura, qui dum in humanis esset bonaeque feneretur valetudine, ne disiungeremini saepius obtestatus est; indignum iudicans, ut quos longo tempore et aere haud parvo comparaverat, leviter et vili precio distraheremini. Sperabat etiam filium post se venturum paternae scientiae haeredem. Sed mutatio dexterae excelsi secus quam genitor putabat, previdit et ordinavit. Solus Onophrius superest qui genus et nomen Cubitensium protelare possit. Deus optimus maximus qui potens est de lapidibus suscitare filios Abrahae pro sua bonitate et clementia faciat, ut exurgat aliquis ex eo filius, qui bonis artibus ac medicinae operam det; qui vos de carcere liberet et pro dignitate tractet. Quod si sine herede Onophrius discesserit, actum est vobiscum, optimi libri, dispergimini enim venietisque quo nunc nescitis. Faciat deus ut consequamini dominum studiosum qui frequenti lectione vos visitet, qui vestro | (fol. 156r) fruatur colloquio, vestra sequatur consilia, in tantoque vos honore habeat, in quanto a parente meo habiti fuistis. Amen. Ex Ottenpurra, pridie nonas Octobris 1512.
Der letzte Satz dieser Rede bündelt die Perspektiven der Bücherbenutzung. Wissbegierig soll der Leser sein, die Bücher häufig in die Hand nehmen – nicht nur zum Fototermin. Besuchen soll er die Bücher, das Gespräch mit ihnen genießen, ihren Rat befolgen. All dies kann man funktional deuten, als Wissenserwerb und Wissensverarbeitung. Aber entscheidend ist für den Renaissance-Gelehrten und sein Lese-Selbstverständnis, dass er die Bücher und damit die Autoren als Autoritäten schätzt, sie wie Menschen behandelt, ihnen Ehre erweist – ganz so wie Machiavelli, der die intensive Lektüre wie ein Gespräch unter Gleichgesinnten im Salon besonders feierlich gestaltete. Und wie Vater Ellenbog, der seine Bücher in paradigmatischer Weise für die Arbeit zu vielwissenden Kollegen machte und zu gelehrten Vertrauten im täglichen Leben, mit denen er im Wortsinn des Humanismus wie mit gebildeten Menschen Umgang pflegte. So kann man eine Bibliothek eben auch benutzen.
21 merdicae.
Raum und Grenze des Jungle von Calais Eine politisch-geographische Skizze T HOMAS M ÜLLER
Der vorliegende Beitrag beschreibt die bedeutendste migrantische Ansiedlung im Kerngebiet der europäischen Integration: den New Jungle am Rande von Calais.1 In den nur knapp anderthalb Jahren, in denen diese Siedlung bestand und in denen sie eine ungeheure Dynamik entfaltete, besuchte ich sie fünfmal für jeweils einige Tage, um mir einen Eindruck von ihrem Entstehungskontext, nämlich dem Zusammentreffen einer globalen Migrationsroute mit einer nationalen Grenze, zu verschaffen. Es war also immer auch eine Recherche in einem Grenzraum, doch sollte sich zeigen, dass es in diesem Raum mehrere Grenzen gibt: nicht nur die Staatsgrenze Frankreichs zu Großbritannien, sondern auch eine zweite Grenze ganz eigener Art, die den Raum des New Jungle vom Raum staatlicher Normalität trennte. Weder die eine noch die andere Grenze verliefen dabei linear, vielmehr konstituierten beide abgestufte und verschachtelte Zonen mit eigenartigen Formen der Überlagerung, Okkupation, Exklusion und Autonomie.
1
Keine textbasierte Methodik ersetzt die Anschauung vor Ort. Einen guten Eindruck hiervon vermittelt der Kurzfilm The bridge (YouTube) von Babak Inaloo und Ali Haghooi, zwei Filmemachern aus dem New Jungle, und die Anthologie Calais Writers (Hg.), Voices from the »Jungle«. Stories from the Calais Refugee Camp, London: Pluto Press 2017. Unverzichtbar ist der Sammelband von Lequette, Samuel/le Vergos, Delphine: Décamper. De Lampedusa á Calais, un livre de textes et d’images & un disque pour parler d’une terre sans accueil, Paris: Editions La Découverte 2016. Nicht minder relevant sind der Weblog Passeurs d’hospitalités von Philippe Wannesson, das Internetportal Calaidipedia, die Website Calais Migrant Solidarity, der Atlas d’une ville potentielle (https://reinventercalais.org/) der Gruppe PEROU und die zahlreichen Untersuchungen des Refugee Rights Data Project (http://refugeerights.org.uk/reports).
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Beginnen wir mit der Staatsgrenze. Sie verläuft als Seegrenze im Ärmelkanal und fungiert, da Großbritannien dem Schengener Abkommen im Jahr 2000 nur bedingt beigetreten ist, gegenüber Migranten ähnlich wie eine Außengrenze der Europäischen Union. Mit dem Bau des Eurotunnels (1987-93) entstand ein modernisiertes Grenzregime, das zwischen 1991 und 2009 im Vertrag von La Touquet (2003) und anderen zwischenstaatlichen Vereinbarungen festgeschrieben wurde. Es beruht im Wesentlichen auf der Vorverlagerung der britischen Kontrollbefugnisse auf französisches Staatsgebiet und umgekehrt. In der Region Calais werden diese (analog zum räumlich externalisierten Grenzregime der EU) auf den Betriebsgeländen des Fährhafens und des Eurotunnels ausgeübt, doch auch die übrigen relevanten Häfen sowie einige innerfranzösische und belgische Fernbahnhöfe sind in das System einbezogen. Fährhafen und Eurotunnel sind heute von weiträumigen Grenzbefestigungen umgeben, deren weiterer Ausbau immer wieder Gegenstand politischer und finanzieller Vereinbarungen auf Regierungsebene war. So verwandelten sich die beiden Verkehrsknotenpunkte seit 2000 sukzessive in großräumige, mehrfach gestaffelte Kontrollzonen, deren massive Zaunarchitektur entlang der Autobahnen und Bahnstrecken weit in die umgebende Landschaft hinein ausstrahlt und an neuralgischen Punkten von glacisartigen Freiflächen oder künstlich geschaffenen Hindernissen noch vergrößert wird. Dies soll verhindern, dass sich Menschen auf ihrem Weg nach Großbritannien in, unter oder auf Lastwagen (sowie Eisenbahnwaggons) verstecken, was in der Region die häufigste Migrationstechnik darstellt. Mit dem Ausbau der Grenzbefestigungen verlagerte sich das Geschehen an die Rast- und Schlafplätze der Fernfahrer; viele wurden daher geschlossen und die Fahrer angewiesen, in einem Umkreis von bis zu 150 Kilometern keinen Stopp mehr einzulegen. Die Grenze setzt, strukturiert durch die Verkehrsinfrastrukturen, mithin schon tief im Landesinneren ein. Alles in allem wurde die Passage des Ärmelkanals damit zur schwierigsten und gefährlichsten im Kerngebiet der europäischen Integration. Immer wieder kamen und kommen hier Menschen zu Tode, ohne dass das genaue Ausmaß bekannt ist. Inoffiziell wurden seit 1998 über 100 Todesfälle erfasst, davon allein 73 ab 2014 (bis Anfang August 2017). Die meisten dieser Menschen starben bei Versuchen, mithilfe von Lastwagen oder Zügen nach Großbritannien zu gelangen – meistens im Umfeld des Fährhafens, des Eurotunnels und der hinführenden Autobahnen.2 Die tatsächliche Anzahl der Todesfälle dürfte noch höher liegen.
2
Die Fälle wurden durch die International Organization for Migration (IOM) im Rahmen des Missing Migrant Project, dessen Datenbankauszug mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, und die Aktivisten der Calais Migrant Solidarity (vgl. http://ti nyurl.com/hz9pmee, abgerufen am 15.8.2017) listenmäßig erfasst. Vgl. auch Lambert,
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In diesem Grenzraum sind in den vergangenen drei Jahrzehnten immer wieder Verstecke und kleine Camps von Migranten entstanden, die phasenweise zu informellen Siedlungen anwuchsen und seit den späten 2000er Jahren als »Jungles« (im deutschen Diskurs meist: »Dschungel«) bekannt sind. Die größte Siedlung, der New Jungle in Calais (2015-16), erreichte ein Ausmaß und eine Dynamik, die manche Beobachter von einer Urbanisierung sprechen lässt – er war, spitzt man diese Sicht zu, die erste migrantische Stadt im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts.3 Allein dies macht ihn zu einem der aufschlussreichsten Orte der neuesten europäischen Geschichte, und doch bleibt unser Wissen in hohem Maße fragmentarisch, da sein Eigenleben sich der Beobachtung des europäischen Besuchers in weiten Teilen entzieht. Ich werde mich daher im Wesentlichen auf das unmittelbar Wahrnehmbare beschränken, nämlich den Raum, seine Zonierung und seine sichtbaren Grenzen.
K URZE G ESCHICHTE
DER
J UNGLES
Der medial verfestigte, eingedeutschte Terminus »Der ›Dschungel‹ von Calais« ist in mehrfacher Hinsicht eine Verkürzung, denn er suggeriert die Vorstellung eines Ortes, der wie ein Dschungel sei, und bindet ihn damit in eine Vorstellungswelt des Mythischen, Exotischen, Abenteuerlichen, Bedrohlichen, Undurchdringlichen oder Naturgewaltigen, d.h. immer auch des Fremden und Fremd Bleibenden, ein. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein historisch entstandenes Toponym, das, ausgehend von einer Ursprungssiedlung, auf wechselnde Orte Anwendung fand (z.B. Pashtun Jungle, Sudanese Jungle, New Jungle). In diesem Sinne verwende ich den Begriff in seiner vor Ort geläufigen und polyglotten Form. Außer in Calais haben sich auch in der Nähe anderer nordfranzösischer Seehäfen wie Dunkerque, Dieppe, Ouistreham oder Cherbourg migrantische Camps entwickelt, die den frühen Jungles von Calais ähneln. Eines von ihnen entwickelte sich auf einem Morast in Grande-Synthe bei Dunkerque und wuchs bis zum Winter 2015/16 zu einer Siedlung von etwa 2.500 meist kurdischen Migranten an. Es hatte damit etwa halb so viele Bewohner wie der Calaiser Jungle, obschon die Lebensbedingungen bedeutend schlechter waren. Im März 2016 siedelten die Behörden die Bewohner in ein neues Hüttencamp namens La Linière um, von dem am Ende dieses Beitrags noch einmal die Rede sein wird. Weitere Camps bestan-
3
Nicolas/Galisson, Maël: »La mort au bout du chemin«, in: S. Lequette/D. le Vergos: Décamper, S. 100-105 (mit Karte). Vgl. Hanappe, Cyrille: »Les leЀons urbaines de la jungle«, in: Libération vom 6.3.2016.
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den (oder bestehen) in Reichweite der von Paris bzw. Lille nach Calais bzw. Dunkerque führenden Autobahnen, etwa bei Tatinghem, Norrent-Fontes, Angres und Steenvoorde, sowie in Paris selbst. Die Anzahl ihrer Bewohner lag oder liegt zwischen etwa 50 und etwa 300 Menschen meist gleicher Herkunft. Waren die kleinen Camps in der Vergangenheit immer auch Alternativen zu einem Leben im (jeweiligen) Jungle von Calais, so beschleunigte ihre teilweise Räumung im Sommer 2016 dessen rapides Wachstum und manifestierte so dessen Zentralität. Nach dessen Räumung im Herbst 2016 wuchsen umgekehrt vor allem die Pariser Camps und La Linière rapide an (letzteres von zwischenzeitlich etwa 800 auf zuletzt 1.500 Personen), was den systemischen Charakter des Siedlungsnetzwerkes eindrucksvoll belegt. Die Jungles lassen sich gut in eine lange Geschichte von Migrationen und grenzbezogenen Konflikten in der Kanalregion situieren, doch liegt ihr unmittelbarer Ursprung in den 1990er Jahren, als kosovarische Flüchtlinge an der Küste campierten, um ihre Weiterreise nach Großbritannien zu organisieren. Stefan Mörsch, der die Entwicklung seitdem beobachtet und unter dem Gesichtspunkt ihrer Architekturen und Raumstrategien analysiert, 4 unterscheidet mehrere klar voneinander abgrenzbare Phasen: Erste Phase (bis 2002): Angesichts der unmenschlichen Lebensbedingungen der kosovarischen Migranten richtete das Rote Kreuz 1999 in Sangatte, einer Nachbargemeinde von Calais, eine Notunterkunft ein – und zwar auf einem Gelände, von dem aus der Eurotunnel fußläufig leicht erreichbar war. Dieses Lager war bald mehrfach überbelegt und fungierte im medial-politischen Diskurs als Symbol eines Magneteffekts auf Flüchtlinge, den es um jeden Preis zu verhindern gelte. Bei einer Bewohnerzahl von etwa 1.800 wurde es am 23. Dezember 2002 auf Betreiben der britischen und französischen Regierung geschlossen. In der Folgezeit lebten einige hundert Migranten obdachlos und versteckt in Calais, woraus später die Vorläufer der Jungles hervorgingen.5 Zweite Phase (um 2009): Forciert durch die Vertreibung aus solchen Provisorien entwickelte sich in einer bewaldeten Parzelle am östlichen Stadtrand eine versteckt angelegte afghanische Siedlung aus Behelfsbauten, die einem Dorf ähnelte, eine Moschee besaß und »Jungle« hieß. Dieser Name leitete sich wahrscheinlich
4
5
Bei der folgenden Beschreibung folge ich weitgehend Mörsch, Stefan: »Der Jungle von Calais«, in: Amalia Barboza et al. (Hg.), Räume des Ankommens. Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht, Bielefeld: transcript 2016, S. 207-216. Vgl. auch: Coordination FranЀaise pour le droit d’asile (Hg.), La loi des »jungles«. La situation des exilés sur le littoral de la Manche et de la Mer du Nord. Rapport de mission d’observation mai-julliet 2008, https://tinyurl.com/yc5h9mak (abgerufen am 26.5.2017).
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aus dem Paschtunischen (dzhangal) ab und bedeutete Wald oder Dickicht. In dieser Phase stieg die Anzahl der Migranten auf ihrem Weg nach Großbritannien erneut an. Nichtstaatliche Hilfsorganisationen schufen Infrastrukturen, um eine rudimentäre Grundversorgung etwa durch die Ausgabe von warmen Mahlzeiten und Kleidung zu sichern. Aktivisten des linken No Borders-Netzwerks führten 2009 ihr jährliches Grenzcamp in Calais durch und erschlossen das Erfahrungswissen europäischer anarchistischer Bewegungen. Besetzte Häuser und Gewerbebauten konnten dadurch für eine gewisse Dauer in einen halblegalen Status überführt werden, sodass vergleichsweise sichere Unterkünfte entstanden, die zugleich Kristallisationskerne politischer Aktionen waren. Dritte Phase (um 2014): Waren die frühen Jungles ethnisch homogene Orte gewesen, so siedelten verschiedene Gruppen nun verstärkt auf einem gemeinsamen Platz; es entstanden also multiethnische Jungles mit ethnischer Segmentierung und ersten gewerblichen Betrieben (Läden, Restaurants). Kennzeichnend für diese Phase sind die Gleichzeitigkeit verschiedener Siedlungsformen und ihr Hineinrücken in den öffentlichen Raum. Syrische Flüchtlinge siedelten in demonstrativ exponierter Lage am Fußgängerzugang des Fährhafens, weitere Besetzungen und Siedlungsgründungen im Stadtkern folgten, und Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung nahmen zu. Diese Entwicklungen vollzogen sich in hohem Tempo bei gleichfalls hoher medialer Präsenz und symbolpolitischer Aufladung – auch durch die extreme Rechte in Frankreich und Großbritannien. Alles in allem existierte, soweit bekannt, kein Jungle länger als neun Monate. Innerhalb dieser Zeitspanne erfolgte in der Regel eine polizeiliche Räumung – oft in extrem gewalttätiger Weise – mit anschließender Neukonstitution an einem anderen Ort.6 Die Geschichte der Jungles birgt daher eine enorme Dynamik und ist von wiederkehrenden Ausnahmezuständen und Krisensituationen gekennzeichnet. Auch der New Jungle – er stellt die vierte Phase dar – ist Teil dieses durch Zerstörungen periodisierten Prozesses. Man kann also erahnen, wie sehr jeder neue Zyklus, also jede Neuformierung nach erfolgter Verwüstung, immer auch eine neuartige Konstellation darstellte, auf die es sich einzustellen galt. Immer entstanden die Jungles dort, wo ein guter Zugang zum Fährhafen, zum Eurotunnel oder zum Lastkraftverkehr gegeben war. Die meisten konzentrierten sich daher in einem Gewerbegebiet entlang der Rue de Garennes, das an den Fährhafen und seinen Autobahnzubringer A216 grenzt und über zahlreiche Anlaufstellen für Fernfahrer wie etwa 24-Stunden-Tankstellen mit Imbiss verfügte. Die sicherheitstechnische Überplanung des Gebiets reduzierte die Schwachstellen der Grenzanlagen. Der Zugang zu ihnen und vor allem zu den Lastwagenparkplätzen 6
Zahllose Beispiele finden sich in den seit 2009 vorgelegten Dossiers of Violence der Calais Migrant Solidarity.
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des Umlandes wurde zur ökonomischen Ressource, um die Verteilungskämpfe entbrannten, und zwar sowohl zwischen migrantischen Communities, die für ihre Angehörigen einen bestimmten Migrationspfad freizuhalten versuchten, als auch gegenüber gewerblichen Schleusern, die entsprechende Claims beanspruchten. Diese Kämpfe um räumliche Hegemonie eskalierten im Sommer 2014, als Gruppen mehrerer Communities versuchten, von der jeweils anderen die Kontrolle über einen Lastwagenparkplatz zu übernehmen oder ihr umgekehrt den Zugang zu ihm zu versperren. Die Konflikte eskalierten entlang ethnischer Linien und verlängerten sich hinein in die Siedlungen, wo es zu Überfällen und kollektiven Vertreibungen mit zahlreichen, teils schwer Verletzten kam. Profiteur war vor allem die organisierte Kriminalität: »Smugglers’ networks have been greatly reinforced as a result of the border’s closure, prices have grown up, and the police themselves are saying they never arrested so many smugglers – but they are only catching small fishes, not dismantling any networks. Independent and semi-independent smugglers who are generally nice to people and do not ask for too much money tend to be replaced by proper mafia men who are very violent, armed to the teeth with guns, knives and gas, some are known to abuse women and children.«7
Der Preis einer aufwändig organisierten Schleusung lag im New Jungle bei rund 10.000 Euro gegenüber 500 bis 1.000 Euro für den bloßen Zugang zu einem Lastwagenparkplatz. Da die finanziellen Ressourcen der Geflüchteten in Calais meist schon aufgebraucht waren, musste die geforderte Summe zumindest teilweise im Jungle erwirtschaftet werden.
D ER N EW J UNGLE –
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J UNGLE
NEUEN
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War 2015/16 vom »Dschungel von Calais« die Rede, so war damit der Siedlungsplatz der vierten Phase gemeint. Anders als seine Vorläufer war er in begrenztem Maße staatlich reguliert und entwickelte sich in einem grotesken Spannungsfeld (begrenzt) humanitärer und (entgrenzt) repressiver Taktiken. Er entstand als Versuch, die Situation im städtischen Raum dadurch zu befrieden, dass man die Migranten jenseits der (wie eine bauliche Grenze zwischen Stadt und Umland wirkenden) A216 konzentrierte. In einer ehemaligen Freizeiteinrichtung, dem Centre
7
Die Schilderung stammt aus der Feder eines mit der Konfliktkonstellation vertrauten Aktivisten. N.N.: »One more death at Calais border/Clashes over the points of passage and in the ›jungle‹/A shooting«, https://tinyurl.com/ya6mshdv (abgerufen am 26.5.2017).
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Abbildung 1: Staatliches Lager aus Schiffscontainern mit je zwölf Betten innerhalb des Jungle (sogenanntes CAP). Das Lager ist durch einen Zaun von der gewachsenen Siedlung separiert. Foto: Thomas Müller, April 2016.
Jules Ferry, eröffnete die bis dahin auf die Betreuung behinderter Menschen spezialisierte Organisation La Vie Active im Frühjahr 2015 mit Hilfe staatlicher und europäischer Gelder eine Tageseinrichtung (Service d’Accueil et d’Aide aux Personnes Migrantes). Sie bot Mahlzeiten, Duschen, Waschmaschinen und elektrischen Strom zum Aufladen der Mobiltelefone, jedoch keine Unterkünfte. Vielmehr forcierte die Präfektur die Ansiedlung der Migranten auf einem angrenzenden Grundstück: ein teils als Müllkippe genutztes Dünengebiet, das von einem See in zwei Hälften, die Southern bzw. Northern Section, geteilt wurde. Das Areal grenzte auf einer Länge von etwa 1.000 Metern an einen besonders neuralgischen Abschnitt der A216, wo sich fortan die Konflikte mit der Polizei zuspitzten und auch die Todesfälle häuften. Zuweilen setzten Flüchtlinge hier brachiale Mittel ein, um Fahrzeuge zu stoppen und in sie zu gelangen. Bereits 2015 war der Zuzug so stark, dass sich die Versorgungsleistungen des Centre Jules Ferry als völlig inadäquat erwiesen. Ein großer Teil der Nahrungsund Gesundheitsversorgung, die Bereitstellung von Zelten, Baumaterial und Hütten und nicht zuletzt die medizinischen, psychologischen, schulischen, juristischen und kulturellen Infrastrukturen lagen vielmehr in den Händen von Freiwilligen und Aktivisten, die in professionellen Organisationen (Médecins Sans
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Abbildung 2: Glacisartige Zone zwischen der Autobahn A216 (rechts) und einem Wohnviertel. Von links nach rechts: Wall, Freifläche, Straße für Einsatzfahrzeuge, Bewegungshindernis (Wassergraben bzw. Steinreihe), Böschung, beleuchteter Doppelzaun, Postenkette der Polizei. Foto: Thomas Müller, April 2016.
Frontières, Secours Catholique u.a.) sowie in etwa 100 weiteren Initiativen organisiert waren. Von diesen erlangten vor allem die Warehouses, zwei außerhalb des Jungle gelegene Distributionszentren für Lebensmittel-, Kleider- und Sachspenden, eine hohe infrastrukturelle Bedeutung. Hinzu kamen migrantische Institutionen wie Gemeinschaftshäuser, Küchen und Moscheen sowie über 70 gewerbliche Betriebe, meist Restaurants und Läden. Auf diese Weise interagierte der Jungle jenseits behördlicher Kontrolle und medialer Moderation mit der europäischen Zivilgesellschaft (und war Teil der regionalen Ökonomie), was immer auch eine Art von Gegenöffentlichkeit herstellte. Mehr und mehr wurde er zu einem Raum kultureller, architektonischer, künstlerischer und akademischer Interventionen bis hin zu Musik-, Film-, Kunst-, Buch- und Theaterproduktionen.8 Eine Gruppe französischer Architekten um Cyrille Hanappe deutete ihn offensiv als »laboratoire de la ville du XXI° siècle«9 und entwickelte eine Vielzahl von Vorschlägen, um die mit der Urbanisierung einhergehenden Risiken für die Bewohner zu minimieren. 8
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So dokumentieren etwa S. Lequette/D. le Vergos: Décamper und PEROU zahlreiche Arbeiten. Exemplarisch seien außerdem das Album The Calais Sessions (2016), das Good Chance Theatre im Jungle und das Theaterstück To be or not (2016) genannt. C. Hanappe: Les leЀons urbaines de la jungle.
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Abbildung 3: Siedlungsgebiet der Northern Section mit Wohn- und Gewerbebauten von einer zentral gelegenen Düne aus. Im Hintergrund ist der Doppelzaun entlang der Autobahn erkennbar. Foto: Thomas Müller, Oktober 2016.
In der Tat nahm der New Jungle einen stadtähnlichen Charakter in dem Sinne an, wie auch ein Slum urban sein kann, nur dass die fluktuierende und zugleich rapide wachsende Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt sesshaft wurde. Während meiner Besuche war der New Jungle bereits ein mehrfach zergliederter Raum. Insgesamt viermal hatten staatliche Interventionen neue Zonen mit je eigenem Status konstituiert: Inmitten der gewachsenen Siedlung der Northern Section war Anfang 2016 zunächst ein umzäuntes Lager aus 125 weißen Schiffscontainern mit 1.500 einfachen Schlafplätzen errichtet worden (siehe Abb. 1). Mit seiner geometrischen Ordnung, seinem septischen Weiß und seinen Kontrollprozeduren war es der radikale Gegenort zum umgebenden Jungle. Es diente als provisorische Erstaufnahmeeinrichtung (Centre d’Accueil Provisoire, CAP) und sollte die Weiterverteilung auf ein dezentrales Centre d’Accueil et d’Orientation (CAO) vorbereiten. Da das landesweite Netz solcher CAO jedoch erst im Aufbau begriffen war, kam es im Jungle später zu einem Rückstau von Flüchtlingen, die einen Zugang zum französischen Asylsystem suchten. Ebenfalls Anfang 2016 räumte die Polizei entlang der Autobahn und einer Landstraße einen Streifen von 50 bis 100 Metern Breite und schuf damit eine etwa 1.500 Meter lange Grenzzone, die vor Ort meist als Niemandsland bezeichnet wurde (siehe Abb. 2). Wie das Glacis einer Festung bestand sie, vom Jungle her kommend, aus einem zwei
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Abbildung 4: Kartenskizze des New Jungle zur Orientierung freiwilliger Helfer der Organisation Care4Calais. Die Karte bildet das Siedlungsgebiet der Northern Section (mit dem Containerlager) ab und gibt die nationale Herkunft der Bewohner an. Foto: Thomas Müller, Oktober 2016.
Meter hohen Wall, der planierten Freifläche mit einer Straße für Einsatzfahrzeuge, einem Bewegungshindernis (Wassergraben oder Steinreihe) entlang der Böschung der Autobahn sowie einem 4,7 bzw. drei Meter hohen Doppelzaun entlang der Fahrbahn mit einer Krone aus Klingendraht. Immer wieder war das Glacis Schauplatz individueller und kollektiver Durchbruchsversuche, deren Abwehr mit Hilfe von CS-Gas allmählich zu einer routinemäßigen und großflächigen Beschießung des Jungle wurde, die phasenweise wöchentlich bis täglich stattfand. Wiederum wenige Wochen später räumte die Polizei im März 2016 das verbliebene Siedlungsgebiet der Southern Section. Teils wechselten die Bewohner ins Containerlager, teils siedelten sie in die Northern Section über oder wichen auf Camps der Umgebung aus. Lediglich einige öffentliche Gebäude (wie die äthiopische Kirche St. Michael vom Jungle, die Ibad Alrahman- und die Al Nour-Moschee, zwei Schulen, eine Bibliothek und zwei Jugendzentren) blieben erhalten und lagen fortan wie Inseln in der planierten Wüstung. So entstand eine groteske Zone, die weder ganz zum Jungle gehörte, noch ganz aus ihm herausgelöst war.
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Danach war die Northern Section das einzige verbliebene Siedlungsgebiet. Es bestand aus einem reinen Gewerbeviertel – einer Straße mit zahlreichen Restaurants und Läden – und den eigentlichen, ethnisch segmentierten Wohnquartieren (siehe Abb. 3 und 4). An die Stelle einer älteren Bauweise aus Europaletten, Baustellenzäunen und Planen traten hölzerne Modulhütten, die von Helfern seriell vorgefertigt werden konnten. Allerdings stieß dieses System an seine Grenzen, als im Sommer 2016 eine fast doppelt so große Bevölkerung auf halbierter Fläche siedelte. Neuankömmlinge lebten nun meist in alten Campingzelten, die bis zum Rand des umgebenden Sanddorndickichts jeden freien Raum füllten. In einer vom Rest des Jungle nicht einsehbaren und daher auch von den meisten Besuchern nicht wahrgenommenen Lichtung siedelten Frauen bzw. Familien mit Kindern. Wie ein Team der Universität Birmingham feststellte, herrschten insgesamt Bedingungen wie in einem humanitären Krisengebiet. Die international gültigen Mindeststandards des UNHCR für Flüchtlingslager wurden zu keinem Zeitpunkt erfüllt.10 Elementaren Fürsorgepflichten kam der Staat nicht nach, und es bestand trotz grassierender Kriminalität (Straßenraub, Drogenhandel, Zwangsprostitution, Sexual-, Körperverletzungs- und Tötungsdelikte) keine Ordnung stiftende Instanz, sodass die Opfer außerhalb eigener Bezugsgruppen und ohne die Hilfe der Freiwilligen keinen Schutz erwarten konnten. Konflikte konnten nicht nach den legalen Regularien der Außenwelt, sondern allenfalls durch Autoritäten innerhalb des Jungle, etwa die Imame oder die jeweils Erfahrensten einer Nachbarschaft, moderiert werden. Die Polizei stellte im Jungle keinen Rechtsraum her, sondern erzeugte um ihn herum (und in Calais selbst) seit Jahren ein Klima permanenten Ausgeliefertseins, ständiger Angst und unberechenbarer Bedrohung, oft in illegaler Weise und gepaart mit physischer Gewalt oder demütigenden Akten. Ein Team des Refugee Rights Data Project stellte Anfang 2016 fest, dass sich drei Viertel der Migranten nicht sicher fühlten. Als Grund gaben die meisten »fear of police violence« an – noch vor Ängsten in Bezug auf die Lebensbedingungen, auf Rechtsextremisten oder Rassisten, das Fehlen einer Ordnungsmacht, kriminelle Gruppen und interne Konflikte. Ebenfalls 76 % der Bewohner (und 90 % der Minderjährigen) hatten selbst Polizeigewalt erfahren, meist in Form von CS-Gas und körperlichen Attacken.11
10 Vgl. Dhesi, Surindar/Isakjee, Arshad/Davies, Thom: »An Environmental Health Assessment of the New Migrant Camp in Calais«, Oktober 2015, https://tinyurl.com/qhtvtkh (abgerufen am 26.5.2017). 11 Vgl. Refugee Rights Data Project (Hg.), »The Long Wait. Filling data gaps relating the refugees and displaced people in the Calais camp«, https://tinyurl.com/y6ut7gzl (abgerufen am 26.5.2017).
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Mehrfach führten Freiwillige in dieser Zeit einen Zensus und andere empirische Untersuchungen durch. Demnach verdoppelte sich die Einwohnerzahl zwischen April und September 2016 von 5.188 auf 10.188 Menschen mit steigender Tendenz, um erst angesichts der bevorstehenden Räumung auf 8.143 zurückzugehen. Diese Menschen waren zumeist Flüchtlinge aus Regionen mit lange andauernder Kriegs- und Verfolgungsgeschichte, teils waren es Schauplätze eines Genozids. Die größten Gruppen stammten aus dem Sudan (meist aus Darfur) und Afghanistan, wobei der Anteil der Afghanen mit etwa 33 % ungefähr gleich blieb und der Anteil der Sudanesen stark auf zuletzt 43 % zunahm. Andere Gruppen stammten aus Pakistan, Eritrea, Äthiopien (oft aus Oromia) sowie Syrien, Irak, Kurdistan, Kuwait, Palästina und anderen Ländern. Meist waren es Männer (93 %) zwischen 18 und 25 Jahren (51 %); unter 18 Jahren und zwischen 26 und 35 Jahren waren jeweils 23 %. Bis zur Räumung stieg die Zahl der Minderjährigen kontinuierlich und erreichte zuletzt 1.496, darunter 1.291 unbegleitete Kinder und Jugendliche. Das jüngste unbegleitete Kind war acht Jahre alt.12 Vieles spricht dafür, dass der Anteil derjenigen, die auf dem Weg nach Großbritannien waren, stark zurückging. So traf ich Flüchtlinge, die aus Angst vor einer Abschiebung gemäß dem Dubliner Abkommen im Jungle lebten, eigentlich aber in Frankreich bleiben wollten. Andere waren aus kleineren Camps der Umgebung vertrieben worden, hatten trotz ihrer Asylantragstellung in Frankreich keine Unterkunft, warteten auf einen Platz in einem CAO oder kannten ihre Optionen und Rechte nicht, weil sie keinen Zugang zu den erforderlichen Informationen und Institutionen hatten. In manchen Fällen hatten die Behörden sich schlicht geweigert, überhaupt irgendwelche Verfahren zu beginnen – dies selbst bei Kindern und Jugendlichen, die Familienangehörige in Großbritannien und damit ein Recht auf Einreise hatten. Eine Woche vor der endgültigen Räumung begegnete ich im New Jungle vielfach orientierungslosen Menschen, von denen sich die meisten (etwa 7.000) widerstandslos in ein CAO bringen ließen. Alles in allem hatte sich der Charakter des Jungle also grundlegend gewandelt: Aus der Etappensiedlung war eine Art Getto für Menschen mit unterschiedlichen Migrationszielen geworden, die durch die Maschen der Migrationsbürokratie gefallen waren, keinen Zugang zu ihr erhalten hatten oder ihr misstrauten. Im Zentrum der Northern Section ereignete sich am 25. Mai 2016 eine der heftigsten Auseinandersetzungen in der Geschichte der Jungles. Ausgelöst durch einen Streit bei einer Essensausgabe des Centre Jules Ferry und vor dem Hintergrund der umrissenen Verteilungskämpfe und ethnischen Spannungen, war der Konflikt zu einem offenen Kampf zwischen afghanischen und sudanesischen 12 Die Daten beruhen auf einem Zensusverfahren der Hilfsorganisation Help Refugees, http://www.helprefugees.org.uk (abgerufen am 26.5.2017).
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Gruppen eskaliert, der über Stunden andauerte und zeitweise mit Schusswaffen ausgetragen wurde. Ein großes sudanesisches Wohnviertel wurde durch Brandschatzung vollständig verwüstet. 250 Hütten und Zelte sowie Gemeinschaftseinrichtungen und Betriebe wurden zerstört, mehr als 500 Menschen verloren ihre Unterkunft und ihren Besitz. Während dieser Kämpfe blieben die massiv angerückten Spezialkräfte der Polizei, wie ich beobachten konnte, an der Außengrenze des Jungle; sie beschränkten sich auf den Schutz des Containerlagers und schossen CS-Gas in das brennende Viertel, während Freiwillige und Aktivisten Feuerlöscher zum Kampfplatz trugen, Verletzte evakuierten und andere Nothilfe leisteten. In dieser konkreten Situation lag die politische Geographie des New Jungle offen zutage. Es war evident, dass Frankreich ihn faktisch aus seinem Rechtsraum exkludiert hatte und sich drauf beschränkte, ihn durch Pufferzonen abzukapseln, die Menschen in einem Kernbereich zu konzentrieren und sie dort im Wesentlichen sich selbst zu überlassen. Insofern war die scheinbar informelle Grenze des New Jungle in Wirklichkeit sehr real, denn sie konstituierte einen Raum suspendierter Normalität und suspendierter Normativität. An dieser Grenze endete jenes Konzept, das im politischen Diskurs als europäische Wertegemeinschaft kanonisiert war. Die Räumung des New Jungle begann bei starker Medienpräsenz am 24. Oktober 2016 und war nach offizieller Lesart nach wenigen Tagen abgeschlossen, wenngleich sie faktisch bis zum 10. November andauerte. Die Wüstung ist seit Anfang 2017 nicht mehr legal zu betreten und bildet faktisch ein erweitertes Glacis. Im April 2017 brannte außerdem das Camp La Linière in Grande-Synthe nieder. Insgesamt lebten bei Drucklegung dieses Textes bereits wieder rund 700 Menschen irregulär in Calais, ohne dass sie eine neue Siedlung konstituieren konnten. Eine fünfte Phase hat also begonnen, doch waren Konturen und Dynamiken noch diffus.
R EFLEXION Die Historiographie der Jungles wird einige Abgründe ausleuchten müssen, darunter die Entstehung eines humanitären Notstandsgebietes und einer Zone suspendierter menschenrechtlicher Normen im Kerngebiet der Europäischen Union. Aus meiner Sicht bedarf es jedoch einer multiperspektivischen Analyse, deren Ausgangspunkt der Gedanke einer Autonomie der Migration sein könnte. Ein solcher Ansatz würde den Jungle, ohne ihn in seiner Inhumanität zu relativieren, als einen Raum begreifen, in dem sich eine ungeheure soziale Dynamik entfalten konnte – und dessen weitere Entfaltung im Oktober 2016 radikal unterbrochen
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wurde. Er könnte diesen Raum in seiner Verflechtung mit anderen migratorischen Orten, in seinen Kämpfen um Grenzüberwindung und in seiner zivilgesellschaftlichen Interaktion mit Europa ausloten, ohne dabei seine Schrecken zu übersehen. Er würde ein Flüchtlingscamp im Prozess einer zumindest bedingten Urbanisierung beschreiben, ohne zu wissen, wohin dieser sich hätte entwickeln können. Im Zentrum einer solchen Historiographie stünden migrantische Akteure und erst in zweiter Linie europäische. Der Jungle wären gleichwohl keine Ort außerhalb Europas, sondern nur außerhalb seiner identitären Imaginationen.
Grenze als Raum
Algeriens Guerillakrieg und die deutschfranzösische Grenze (1954-1962) J EAN -P AUL C AHN
Für Frankreichs Vierte Republik waren die kolonialen Sorgen bis zum Algerienkrieg nur ein Problem, nicht das Problem.1 Das in der Verfassung von 1946 als Union française bezeichnete Gebilde von früheren Kolonien, assoziierten Staaten usw., das seinen Vorrang in dem ehemaligen Empire colonial français garantieren sollte, funktionierte mehr schlecht als recht. Regierungschef Pierre Mendès France konnte 1954 z.B. den steigenden Unruhen in Marokko und Tunesien nur dadurch Einhalt gebieten, dass er ihnen Ende Juli eine ›interne Autonomie‹ versprach.2 In Algerien, staatsrechtlich Teil des Mutterlandes, nährten währenddessen diskriminierende Verhältnisse Selbständigkeitserwartungen, die allerdings dank der Persönlichkeit des langjährigen nationalistischen Führers Messali Hadj nur auf der Ebene des politischen Kampfes zum Ausdruck kamen – eine Linie, die allerdings in den 1950er Jahren intern, innerhalb des Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (MTLD) infrage gestellt wurde. Die Verfechter des
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Während ich folgenden Beitrag schrieb, den ich ursprünglich auf die saarländisch-französische Grenze zu fokussieren beabsichtigte, wurde ich im Landesarchiv Saarbrücken von der Vorbereitung einer Doktorarbeit in Kenntnis gesetzt, von der ich z.Z. allerdings weiter nichts weiß, als dass sie sich mit der Anwesenheit von Algeriern im Saarland in den 1950er u. -60er Jahren befasst, diese mit dem Problem der Grenze in Zusammenhang bringt, und das Verfahren nun zu Ende ist. Es war nicht mehr Zeit, thematisch umzusatteln. Allerdings konnte ich, obgleich mir der genaue Titel der Arbeit nicht bekannt ist, die Form noch derart umgestalten, dass mein Text einem jungen Forscher nicht im Wege steht. Ich werde mich nachstehend also auf einige allgemeine Bemerkungen begrenzen, und das Thema Saar nur punktuell anschneiden. Mendès France, Pierre: Œuvres complètes, Bd. 3, »Gouverner, c’est choisir« 1954-55, Paris: Julliard 1986, S. 181-185.
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bewaffneten Kampfes um Autonomie innerhalb des MTLD verübten am 1. November 1954 Attentate, die dem Algerienkrieg den Auftakt gaben. Mit diesem Krieg erlebte Frankreich seine schwerste nationale Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges, denn, so Klaus-Jürgen Müller, er war in Wirklichkeit ein dreifacher Krieg, ein franko-algerischer, ein algero-algerischer (in dem beide algerischen Selbständigkeitsbewegungen, Front de libération nationale und Mouvement national algérien, einander bekämpften) und ein franko-französischer ›Bürgerkrieg‹,3 der das politische System der Vierten französischen Republik zerstörte, das Land verunsicherte, die Armee spaltete und einen Teil der Truppen zum Meutern führte. Dennoch weigerte sich Paris stets, ihn einen »Krieg« zu nennen.4 Offiziell ging es nur um die Wiederherstellung der Ordnung. Unter besonderer Berücksichtigung der algerischen Seite bezeichnete CharlesRobert Ageron den Algerienkrieg 1995 als einen politischen Krieg innerhalb eines unaufhaltsamen Entkolonisierungsprozesses. 5 Die Befreiungsarmee Armée de libération nationale (ALN) hatte weder Artillerie noch Panzer oder Flugzeuge. Mit ihren 20.000 bis 25.000 Mann konnte sie den französischen Truppen keinen strukturierten Verband gegenüberstellen. Es blieb ihr die Strategie der ›Befreiung unterjochter Völker‹ als ein Kampf mit extremer Gewalt, unter Missachtung geltender Normen und Gesetze, so wie ihn etliche ihrer militärischen Führer in Indochina selbst in französischer Uniform erlebt hatten. Keine Entkolonisierungsbewegung kann innerhalb ihrer Grenzen unabhängig existieren. Die Waffen der Nationalen Befreiungsfront (FLN) kamen aus dem Ausland, 1957 verließ ihre Führung Algerien, 1958 wurde ihre provisorische Regierung (GPRA) in Kairo gegründet. Die ALN selbst blieb z.T. in Tunesien und drang nur zu kurzen Angriffen nach Algerien ein. Die arabischen Nachbarländer gehörten also von Anfang an zur Strategie der Nationalisten. Diese reichte allerdings mit der Zeit immer weiter über diese Nachbarländer hinaus, ja gar über ihre ideologisch ›natürliche‹ Stütze in Europa: die Ostblockstaaten. Erstaunlich ist dennoch, und dies soll der Fokus dieses Beitrages sein, dass die FLN auch die Bundesrepublik Deutschland in ihren Krieg einbezog, zum einen, indem sie sie zum Hinterland ihres Kampfes im Mutterland, der ›Metropole‹, machte, zum anderen, indem sie die Bundesrepublik zum Standort ihrer Öffentlichkeitsarbeit in
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Müller, Klaus-Jürgen: »Französische Zustände III, Vergangenheitsbewältigung à la française: Der Algerienkrieg«, Vortrag Blankenese, o.D. Der erste französische Präsident, der das Wort gebrauchte, war Jacques Chirac: 1995. Ageron, Charles-Robert: »Guerre d’Algérie«, in: Jean-François Sirinelli (Hg.), Dictionnaire historique de la vie politique française au XXe siècle, Paris: Presses Univ. de France 1995, S. 462.
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Europa machte. Beide Aktivitäten sowie der Einfluss dieser Initiativen auf die deutsch-französischen Beziehungen sollen im Folgenden problematisiert werden.
D EUTSCHLAND WIDER W ILLEN IN DEN ALGERIENKRIEG INVOLVIERT Als der Algerienkrieg ausbrach, war die deutsch-französische ›Freundschaft‹ noch ein ›zartes Blümlein‹. Im August 1954 hatte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft vor der Nationalversammlung einen kläglichen Schiffsbruch erlitten, und Ende Oktober hatte Regierungschef Pierre Mendès France Konrad Adenauer, der sich seit 1949 in dieser Frage durchlavierte, eine Saarlösung aufgezwungen, die den Bonner Wünschen nicht entsprach. Die französischen Kolonialsorgen waren, verglichen z.B. mit den europäischen Angelegenheiten, für die Bonner Diplomatie absolut nebensächlich. Sie ermöglichten es höchstens, dem westlichen Nachbarn Solidarität zu bezeugen: Trotz punktueller Spannungen, die sich aus der Anwerbung junger Deutscher für die Fremdenlegion und deren massivem Einsatz auf der südostasiatischen Halbinsel ergaben, stand die Bundesrepublik Deutschland Paris während des Indochinakrieges (1946-1954) fest zur Seite. Mit dem Algerienkrieg wurde Frankreichs Kampf um Erhaltung seiner Position in Übersee dann aber zur Bewährungsprobe für die deutsch-französische Annäherung. 1958/59 bildete eine Zäsur für die deutsch-französischen Beziehungen. In Frankreich wurde de Gaulle zum letzten Regierungschef der Vierten französischen Republik berufen, bevor er die Fünfte gründete. In Deutschland standen bisher drei Komplexe im Mittelpunkt der bundesdeutschen Diplomatie: »erstens Fragen der Deutschlandpolitik, zweitens die mit der Einbeziehung der jungen Bundesrepublik in das westliche Bündnis verbundenen Probleme und drittens die sich entwickelnde west-europäische Zusammenarbeit«. 6 Ab 1958 überwog die Berlin-Krise – bei der Paris die Einstellung annahm, die Adenauers Wünschen am nahesten stand. Bis weit ins Jahr 1955 akzeptierte die Bundesrepublik die Formel L’Algérie, c’est la France vorbehaltlos. In Bonn galt das Problem als innerfranzösische Angelegenheit. So wurde Algerien in der Instruktion, die der neue deutsche Botschafter in Paris, von Maltzan, vor seinem Amtsantritt im April 1955 erhielt, überhaupt nicht erwähnt.7 Der Perspektivwechsel kam kurz danach, als sich die Dritte Welt mit der Konferenz von Bandung auf internationaler Bühne zu Wort meldete (April). Mit der Gründung des Bagdad-Paktes (November) rückten der Nahe Osten 6 7
Müller, Klaus-Jürgen: »Rolf Lahr – Ein Bonner Staatssekretär über Afrika«, Ms., o.D. Müller, Klaus-Jürgen: »Algerien – UniBW« Ms., Nov. 2003.
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und Nordafrika unübersehbar in das Gesichtsfeld der Koblenzer-Straße. Es zeichneten sich Schwierigkeiten ab, weil die arabischen Botschaften in Bonn unter Drohung einer Anerkennung der DDR Druck zugunsten der FLN ausübten. Außerdem traten die neu gegründeten Staaten im Schlepptau der Blockfreien (i.B. vor der UNO) auf die internationale Bühne. Das Auswärtige Amt bemühte sich zu verhindern, dass neue Spannungen mit Paris in der Zeit auftauchten, in der der saarländische »Alptraum«8 eine Lösung fand und sich das Verhältnis Paris-Bonn besserte.9 Das Kanzleramt befürchtete, die FLN sei kommunistisch. Adenauer-Berater Hans Globke befragte die Diplomaten diesbezüglich mehrmals. Diese Sorge hielt lange an, obgleich die FLN – anders als viele Unabhängigkeitsbewegungen – nicht ideologieorientiert war; sie verstand es aber, den Kommunismus als Hebel ihres ›diplomatischen‹ Kampfes zu benutzen. Fritz Taubert hat gezeigt, dass sie gar nicht zur staatlichen Anerkennung der DDR bereit gewesen wäre;10 ihre kommunistische Neigung wurde in Bonn und Paris demnach überschätzt. 1957 suchten ›moslemische Rebellen‹, wie Frankreich sie bezeichnete, ihre Zuflucht jenseits der Grenze. Das Polizeinetz hatte sich verdichtet, die FLNFührung im Mutterland (Fédération de France) war großer Gefahr ausgesetzt und nahezu handlungsunfähig. Sie musste sich aus dem Souveränitätsbereich der französischen Behörden entfernen. Gleichzeitig stand aus Sicht der ›Rebellen‹ fest, dass weiterhin Aktionen in der Metropole durchgeführt werden mussten. Deshalb verlagerte sich die »siebte Wilaya«11 (es gab deren sechs in Algerien) mit etlichen Kämpfern nach Deutschland. Diese FLN-Männer kamen insgeheim, täglich etwa 40 bis 50,12 es blieben aber nicht alle. Sie meldeten sich bei ihrer Ankunft bei keiner Behörde, tauchten unter, 8
Regierungserklärung vom 15.12.1954, abgegeben von Bundeskanzler Dr. Adenauer vor dem Deutschen Bundestag, hgg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1954, ohne Seitenangabe. 9 U.a. Cahn, Jean-Paul/Müller, Klaus-Jürgen: La République fédérale d’Allemagne et la guerre d’Algérie (1954-1962), Paris: Félin 2003; von Bülow, Mathilde U.: The foreign policy of the Federal Republic of Germany, Franco-German relations, and the Algerian war, 1954-1962, Diss., Cambridge 2006; Dies.: West Germany, Cold War Europe and the Algerian War, Cambridge: Cambridge UP 2016. 10 Taubert, Fritz: La guerre d’Algérie et la République Démocratique Allemande. Le rôle de l’»autre« Allemagne pendant les »événements« (1954 à 1962), Dijon: Ed. Univ. de Dijon 2010; Hervé Bismuth/Fritz Taubert (Hg.), La guerre d’Algérie et le monde communiste, Dijon: Ed. Univ. de Dijon 2014. 11 Haroun, Ali: La 7e wilaya. La guerre du FLN en France (1954-1962), Paris: Ed. du Seuil 1986. 12 Schätzung des Bundesmin. des Inneren, 16.7.1959, in: Archiv Auswärtiges Amt (zukünftig: AAA), Abt. 2, Ref. 205, Mappe 12.
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blieben Außenseiter und verhielten sich als solche. Beim Überqueren der Grenze behielten sie ihre Eigenschaft als Kämpfer, ihre Ziele, soweit es ging ihre Lebensweise. Man kann von etwa 3.000 Mann ausgehen. Bonn, Hamburg, Köln, die Ruhr, Stuttgart usw. wurden Zufluchtsort und Rückzugsbasis, von denen aus Operationen in Frankreich durchgeführt wurden. FLN-Führer trafen sich auf deutschem Boden. Es wurden Waffen gekauft. Die Bundesrepublik wurde zur Drehscheibe, Hamburg – angesichts günstiger juristischer Gegebenheiten – zur Hochburg des Waffentransitverkehrs nach Ägypten, Tunesien, usw. Die BRD eignete sich nicht nur als Nachbarland Frankreichs an der Nahtstelle zwischen Ost und West, auch ließ ihre föderale Struktur mehr Handlungsfreiheit erhoffen, da die Algerier davon ausgingen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Landespolizeien weniger wirksam wäre als in zentralistischen Ländern. Zudem war die BRD ein Rechtsstaat, so konnte man mit Garantien der Rechtsprechung rechnen, die es im Osten so nicht gab. Wie sehr den Algeriern ihre Position Vertrauen einflößte, zeigte sich Ende 1958, als Ali Haroun, Mitbegründer von Résistance Algérienne (später El Moudjahid) und politischer Verantwortlicher der Fédération de France schlicht ein Falschmünzerprojekt initiierte: Es sollten im Rheinland falsche französische Francs hergestellt werden, die anlässlich der Réforme Pinay, dem Übergang vom ›alten Franc‹ zum ›neuen Franc‹, von Sympathisanten gegen (echte) neue Währung eingetauscht werden und die Kasse der FLN bereichern sollten. Dieses Unternehmen, das den französischen Staat zum Stifter des Befreiungskampfes gemacht hätte, den er bekämpfte, scheiterte nur, weil das Benehmen derjenigen, die es ausführen sollten, Nachbarn auffiel, die die Polizei benachrichtigten. Die Anwesenheit algerischer Kämpfer stellte die Bundesrepublik vor rechtliche Schwierigkeiten: Sie konnte z.B. eine Aufnahme dieser Leute nicht unter Berufung auf Art. 16a GG rechtfertigen, ohne Frankreich als undemokratischen Staat darzustellen. Auch das Nürnberger Zentralamt für Flüchtlinge aus Diktaturstaaten erklärte sich nicht zuständig. Besonders heikel wurde diese Angelegenheit, wenn Algerier der Forces françaises en Allemagne unter Berufung auf die Gewissensklausel desertierten. Laut Truppenvertrag (›Anhang‹ zum Truppenvertrag, § 13) war die Bundesrepublik zur Strafverfolgung der Verleitung zur Fahnenflucht oder deren Erleichterung von Mitgliedern der Stationierungsstreitkräfte verpflichtet. De facto gab es aber keine einheitliche Strafverfolgung13 – die Deserteure wurden den einzelnen Landesbehörden überlassen, was zu wenig homogenen Entscheidungen führte.
13 Abschrift Brief Bundesmin. des Inneren, 5.10.1960, in: Landesarchiv des Saarlandes, St K 4637.
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UND PRIVILEGIERTER
Im März 1958 hielten sich an der Saar etwa 350 Nordafrikaner mit ordnungsgemäßen Aufenthaltspapieren auf, schätzungsweise 250 bis 300 illegal. Das »Fehlen einer Zollgrenze in geringerer Dichte« 14 ermöglichte ziemlich einfache Grenzüberquerungen. In jenen Jahren kannte das Saarland drei verschiedene Rechtslagen: Bis Ende 1956 galt die Autonomie mit wirtschaftlicher Bindung an Frankreich, während der Übergangszeit politische Zugehörigkeit zur Bundesrepublik bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Nähe an Frankreich, schließlich ab 1959 Rückgliederung in den Stand eines Bundeslandes. Diese Veränderungen wirkten sich auch auf die Art und Weise aus, wie das Land den Algerienkrieg erlebte. Das Territorium wurde primär als Transitland betrachtet: Es war angesichts der Anwesenheit französischer Dienste ungünstig. Den Luxemburger Verträgen entsprechend erfolgte am 1. Januar 1957 »die Anwendung des Grundgesetzes und die Einführung der Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland im Saarland«, während »das Saarland und Frankreich weiterhin ein einheitliches Zoll- und Währungsgebiet« bildeten. Die bislang »geltenden französischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Zollwesens« blieben in Kraft. Konkret war die französische Zollverwaltung an der Grenze tätig, um die »französischen Rechtsvorschriften im Saarland sicherzustellen«.15 An der Goldenen Bremm wurden mehrmals Algerier mit Waffen oder Geld gefasst. Art. 15 sah eine »gegenseitige und volle Unterstützung und Zusammenarbeit« 16 vor, Art. 16 die Durchführung von militärischen Streifen, ggfs. unter Mitwirkung der deutschen Polizei.17 Grundsätzlich war die saarländische Polizei zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung berufen, aber auch die stationierten französischen Streitkräfte konnten mit Zustimmung der saarländischen Regierung zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eingesetzt werden. Solche Formulierungen konnten flexibel gedeutet werden. Französische Polizeikräfte waren befugt, gegen Straftäter gegen die äußere Sicherheit Frankreichs oder gegen im Saarland stationierte französische Truppen vorzugehen und hatten
14 Niederschrift über eine Besprechung in der Staatskanzlei Saarbrücken am 6.3.1958 betreffend den Aufenthalt von Algeriern französischer Staatsangehörigkeit im Saarland, in: Ministère des Affaires étrangères (zukünftig: MAE), AOFAA, »Titres de séjour et voyages«, JUR 990. 15 Zitate aus: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Regelung der Saarfrage vom 27. Oktober 1956, Art. 1.2, http://ti nyurl.com/y7p286uh (abgerufen am 2.8.2017). 16 Bundesgesetzblatt, Jg. 1956, Teil II, Nr. 36, Ausgabe vom 24.12.1956, S. 1750. 17 Ebd., S. 1751.
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das Recht, Verhaftungen vorzunehmen. Entsprechende Taten wurden vom Militärtribunal in Metz abgeurteilt, das seine Verhandlungen auch im Saarland abhalten konnte, wenn die Schuldigen nicht ausgeliefert werden konnten. Außerdem war die feindliche Mouvement National Algérien (MNA) an der Saar stark vertreten. Die MNA war im Dezember 1954, nach der Auflösung des MTLD Messali Hadjs, gegründet worden. 18 1955 waren Annäherungsversuche mit der FLN gescheitert.19 Letztere setzte sich durch, aber beide lieferten sich weiterhin einen blutigen Kampf. Im Mai 1959 erreichte die Auseinandersetzung mit den 300 Opfern von Mechta Kasbah ihren Höhepunkt.20 Im gleichen Jahr beschuldigte die FLN den ohnehin der französischen Unterwanderung verdächtigen MNA schlicht des Verrats.21 Die Ermordung von dessen Führer Soualem Tahar am Saarbrücker Bahnhof im Januar 1959 veranschaulicht die Gefahr, die sich aus dem Nebeneinander beider Gruppen ergab. Tahar war zur FLN übergelaufen. Die Ermittlungen führten zu einem Mitglied der messalistischen ›Kommandotruppe‹,22 die ihre Leute von einem möglichen Verrat abhalten sollte. Dies war kein Ausnahmefall: Es wurden mehrere Leichen entdeckt – etwa in Saarbrücken oder in Saarlouis. Da die ›Hinrichtungen‹ oft auf französischen Boden durchgeführt wurden, kann man vermuten, dass die Opfer häufig Überläufer von einer nationalistischen Bewegung zur anderen waren. Dennoch war die FLN im Saarland präsent und aktiv – sehr zum Ärger Frankreichs. Am 6. März 1958 verlangte Paris bei der Saarbrücker Staatskanzlei ein größeres Engagement gegen sie, und im September protestierte die französische Regierung in Bonn, weil das Landratsamt Saarlouis einem gewissen Sid Ramdane aufgrund Art. 27 des Ausländergesetzes einen Fremdenpass ausgestellt hatte. Gegen Ramdane war 1957 ein Haftbefehl wegen Waffenschmuggels erlassen worden. Am 18. September 1958 protestierte die FLN de Sarre ihrerseits in einem
18 Deshalb wurden die MNA-Kämpfer auch weiterhin im Sprachgebrauch als »Messalisten« bezeichnet. 19 De Rochebrune, Renaud/Stora, Benjamin: La guerre d’Algérie vue par les Algériens. Des origines à la bataille d’Alger, Bd. 1, Paris: Denoël 2011, Zeittafel. 20 Pervillé, Guy: »Terrorisme et guérilla: de la Toussaint rouge à la tragédie des harkis«, guy.perville.free.fr/spip/article.php3?id_article=65 vom 15.8.2006. 21 Davidson, Naomi: Only Muslim: Embodying Islam in Twentieth-Century France, Ithaca/NY u.a.: Cornell UP 2012. 22 Bericht vom 23.7.1959, in: AAA, Abt. 2, Ref. 205, Mappe 10. Aus Sicherheitsgründen – damit Gefolterte keine wichtigen Aussagen machen konnten – waren sowohl FLN wie MNA in möglichst kleine, zumeist drei bis vier Mann große Gruppen eingeteilt. Dies galt sowohl bei Kommandounternehmen wie beim Sammeln der sog. ›revolutionären Steuer‹. Da Überläufe von einer algerischen Bewegung zur anderen – besonders von MNA zur FLN – nicht selten waren, galt es, abschreckend vorzugehen.
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Brief an die UNO »gegen die dem algerischen Volk auferlegte Volksabstimmung«. 23 Dies entsprach den Bemühungen der FLN, die sich als einziger Gesprächspartner Frankreichs bei der Regelung der Algerienfrage zu behaupten und so auf der internationalen Bühne als legitimer Vertreter des algerischen Volkes anerkannt zu werden. Um diese Strategie umzusetzen, musste sie auch in der Bundesrepublik sicht- und erkennbar sein.
O RGANISIERTE R EPRESSION ALS POLITISCHES M ACHTINSTRUMENT War der Druck, der in Algerien auf die Bevölkerung ausgeübt wurde, in seiner brutalen Kollektivform in Europa nicht möglich, so musste die FLN dennoch hier ihre ›staatliche Hoheit‹ veranschaulichen. Da sie nicht über staatliche Druckmittel verfügte, harte Bestrafungen aber als abschreckend galten und die Angst vor Repressalien die Opfer davon abhalten sollten, Klage einzureichen, wurde den Widerspenstigen die Angst individuell eingeflößt. Um unnötigen Schwierigkeiten mit den Behörden aus dem Wege zu gehen, zwang die FLN ihre Landsleute zu anständigem Verhalten: Sie verbot den Alkoholverbrauch nicht aus religiösen Gründen, sondern um Zwischenfälle zu verhindern (2.000 Francs Strafe), Schlägereien (5.000), Diebstahl (10.000), usw. Das genügte nicht, ihren Krieg zu finanzieren. So wie die ›revolutionäre Steuer‹ im Mutterland durch die Organisation spéciale eingetrieben (und z.T. in der Bundesrepublik verwaltet) wurde, so wurden die Algerier auch in Deutschland als steuerpflichtig betrachtet: »Und bist Du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt«. Allein an der Saar waren 25 Gruppen mit dem Kassieren der Gelder beauftragt, die (wie stets bei der FLN) unabhängig voneinander wirkten. Wer bezahlte, erhielt eine Quittung, wer nicht, musste Strafe zahlen, es wurde ihm zuerst gedroht, dann wurde er misshandelt, und schließlich ermordet. Diese Maßnahmen innerhalb des deutschen Territoriums riefen in Bonn auf die Dauer Spannungen zwischen Innen-, Justiz- und Außenministerien hervor: Die beiden ersten wollten Verbrechen nicht ungestraft lassen. Ihr Standpunkt war durchaus vertretbar. Was bei der ›Steuereintreibung‹, wie bei dem inneralgerischen Kampf, geschah, waren stricto sensu gemeinrechtliche Taten, von der Erpressung bis zum Mord, die durch eine organisierte Täterbande durchgeführt wurden – also eine kriminelle Vereinigung. Die Diplomaten hielten es für opportun, ein Auge zuzudrücken, um den arabischen Staaten den guten Willen der Bundesrepublik zu bezeugen. 23 MAE, AOFAA, Sarre, JUR 881.
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Die Bundesrepublik ging also zweigleisig vor: Offiziell stand sie fest auf Seiten Frankreichs, aber auf der Ebene der Tagespolitik kam es zu einem do ut des: Sie blickte zumeist von den FLN-Machenschaften weg und die verantwortlichen Algerier sorgten dafür, dass sich ihre Landsleute gut verhielten. Konkret duldete die Bundesrepublik also, dass sie die FLN weitgehend zur Dependance ihres Krieges gegen Frankreich machten. Diese Haltung südlich des Mittelmeers geltend zu machen, empfahl Karl Carstens im Oktober 1959 den deutschen Botschaftern, um die (freundliche) Nachsicht der BRD darzustellen.24 Merkmal der FLN-Präsenz in der Bundesrepublik war, dass das Land, das sie zum Hinterland ihres Kampfes machte, im Gegensatz zu ihrem arabischen Rückhalt nicht auf Seiten der Emanzipationsbewegung stand, sondern Nachbar, Partner (Europa) und Verbündeter (NATO) der Kolonialmacht war. Neu war auch, dass sich dieses Land auf einem anderen Kontinent befand als der Hauptschauplatz des Krieges. Die FLN passte sich an, sie europäisierte den Guerillakrieg: Keine Massengewalt, aber auch keine Präventivmaßnahmen, sondern ausschließlich Strafen. Dadurch, dass man ihr nolens volens einen politischen Charakter zuerkannte, um die deutsche Position südlich des Mittelmeeres zu stärken, war die deutsche Nachsicht möglich.
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Noch bevor die FLN in die Bundesrepublik kam, war eine Entscheidung getroffen worden, die im Nachhinein von Bedeutung sein sollte. 1956 organisierte der oft als ›Architekt der Revolution‹ bezeichnete Abane Ramdane mit einem Mitbegründer der Front, Larbi Ben M’hidi, und deren historischen Führer Krim Belkacem ein Treffen, das unter der Bezeichnung ›Summamtalkonferenz‹ in die Geschichte eingegangen ist. Diese fand in Ouzellaguen statt, also in der Kabylei, die Frankreich nie richtig in den Griff bekam. Die algerische Front gab sich angesichts der Intensivierung des Krieges während dieser Konferenz eine Charta, die u.a. eine Exekutive schuf, die die ALN als reguläre Truppe organisierte, den Kampf gegen die französischen ›Ultras‹ verstärkte und, last but not least, die Internationalisierung ihres Kampfes beschloss. Ziel war es, mit Unterstützung der Blockfreien Staaten und der nun unabhängigen Gebiete, Frankreichs Kolonialkrieg vor der UNO wie vor der Weltöffentlichkeit unter Anklage zu stellen. Bonn wurde 1958 zur europäischen Zentralstelle dieses Unterfangens. Der erste Vertreter der FLN in Deutschland war ein Rechtsanwalt, Améziane Aït Ahcène. Die tunesische Botschaft stellte ihm als »soziale Hilfestelle« getarnte Räume zur Verfügung und gab 24 AAA, PA, Büro Staatssekretär, Bd. 342.
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ihm diplomatische Immunität, was zu heftigem aber wenig wirksamem französischem Protest führte. Finanziell hing Aït Ahcène von der Fédération de France ab. Am 2. September 1958 kündigte er von Hamburg aus die Gründung einer provisorischen algerischen Regierung an, die 17 Tage später erst offiziell gebildet wurde. Er hatte zu dieser Zeit Kontakt zu Heinrich von Brentano.25 Aït Ahcène sollte im November 1958 einem Attentat zum Opfer fallen. Seine Nachfolger, Hafid Keramane und Mouloud Kassim, der deutsch sprach, setzten seine Arbeit jedoch fort. Aït Ahcènes (diskreter) Ansprechpartner im Auswärtigen Amt war der Leiter der Westeuropa-Abteilung Paul Frank. Frank war zuvor in der Botschaft in Paris tätig gewesen, wo er festgestellt hatte, dass die internationale Solidarität mit Frankreich seit dem Indochinakrieg nachgelassen hatte. Er gehörte auch zu der Generation jener jüngeren Diplomaten die, anders als ihre Kollegen (die z.T. bereits während der Weimarer Republik gedient hatten), die Bedeutung des Dekolonisierungsprozesses anerkannten und deshalb die Tragweite der Partnerschaft mit Paris zwar nicht grundsätzlich infrage stellten, aber doch relativierten.26 Richtlinie der Bundesregierung wurde, auf die Beziehungen zu den arabischen und asiatischen Mächten bis zu der Grenze Rücksicht zu nehmen, an der eine Gefährdung der deutschen Bündnisinteressen beginne – was Klaus-Jürgen Müller eine »asymmetrische Spagatpolitik« nannte.27 Es deutet vieles darauf hin, dass Aït Ahcène die Möglichkeit erwog, Bonn zum Vermittler zwischen FLN und Paris zu machen.28 Dies bedeutet, dass die Algerier die Erfordernisse der deutschen Außenpolitik akzeptierten und nichts dagegen einzuwenden hatten, dass sich Adenauer freimütig auf die Seite Frankreichs stellte – und u.a. dessen Politik erläuterte. So erklärte der Bundeskanzler am 29. Januar 1960 zum Beispiel vor dem Bundesvorstand der CDU, er habe Eisenhower gesagt, »dass es sich [in Algerien] nicht um eine koloniale Frage handelt [...] sondern die Frage ist eine europäische Frage«.29 Tatsächlich neigte die Regierung aber zu einer gewissen Polyphonie und überließ algerienfreundlichen Parlamentariern eine zunehmende Rolle in der öffentlichen Debatte zur Algerienfrage, erst recht als aus 25 Telegramm François Seydoux an Ministère des Affaires étrangères vom 24.9.1958, in: MAE, MLA, Bd. 2. 26 Zu dieser Frage, siehe Frank, Paul: Entschlüsselte Botschaft. Ein Diplomat macht Inventur, Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 1981; Blankenhorn, Herbert: Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs. 1949 bis 1979, Frankfurt/M. u.a.: Propyläen 1980. 27 K.-J. Müller: Algerien – UniBW. 28 Französische Botschaft in Bern, 11.10.1958, in: MAE, MLA, Bd. 2. 29 Günter Buchstab (Hg.), Adenauer: »... um den Frieden zu gewinnen«, Düsseldorf: Droste 1994, S. 580f.
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de Gaulles Reden deutlich wurde, dass man sich auf künftige Beziehungen zu einem unabhängigen Algerien vorzubereiten habe. Hans-Jürgen Wischnewski (MdB SPD, Köln) engagierte sich ab 1957 besonders. Ihm kam auf die Dauer die halb-offizielle Rolle eines Mittlers zwischen Bonn und der Befreiungsbewegung zu, aber auch andere SPD-Politiker wie Willi Eichler (Parteivorstand) und die Hamburger Hellmut Kalbitzer oder Peter Blachstein gehörten dazu (letztere sorgten für einen guten Kontakt zu deutschen Medien).30 Später kamen einige CDUAbgeordnete (u.a. Ernst Majonica, 31 Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses seiner Fraktion im Bundestag) hinzu. Hilfe leisteten karitative Gruppen oder Gewerkschaften, die sich – im Gegensatz zu den Jusos, dem SDS oder einigen Trotzkisten – nicht auf politischer Ebene engagierten, sondern auf beruflicher und karitativer.32 Allerdings kam es zu punktuellen Differenzen, so z.B. als der DGB in Baden-Württemberg 1960 auf Einwirken von Otto Brenner und HansJürgen Wischnewski klar Stellung bezog gegen den französischen Terror in Nordafrika und in der Bundesrepublik, die Einverleibung Deutscher in die Fremdenlegion, die Atomversuche in der Sahara, usw. Nach der Gründung der Union générale des travailleurs algériens (UGTA) übernahm der DGB die Ausbildung algerischer Gewerkschafter.
F RANKREICH REAGIERT Was innerhalb der Grenzen des deutschen Verbündeten vor sich ging, war für Frankreich einfach nicht akzeptabel. Das Außenministerium am Quai d’Orsay beauftragte die Botschaft in Bonn mit zahlreichen Protesten. Diese wurden mit letzter Höflichkeit und ausführlichen Erklärungen entgegengenommen, bevor sie versumpften. Die Machenschaften der Algerier, die in der Bundesrepublik geduldet wurden, waren aber für Paris umso weniger akzeptabel, als sie außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches mutatis mutandis die Verhältnisse herzustellen geeignet waren, derer die französische Armee in Nordafrika nicht Herr wurde. Ab 1957 drangen also FLN-Kämpfer von außen nach Frankreich ein, sie verschwanden dann nach vollendeter Tat in Nachbarländer – u.a. in die Bundesrepublik, wo ihre Führer außerdem ihre Gelder verwalteten und Waffen erkauften (s.u.). Deutsche Waffenhändler belieferten seit Anfang des Krieges die ALN – heimlich und illegal. Nachdem die FLN auf deutschem Boden vertreten war, wurde das 30 Scheffler, Thomas: Die SPD und der Algerienkrieg, Berlin: Verl. das Arab. Buch 1995. 31 Archiv der Christlich-demokratischen Partei, Nachlass Heinrich Krone, I-028-056/1. 32 Leggewie, Klaus: Kofferträger: Das Algerien-Projekt der deutschen Linken im Adenauer-Deutschland, Berlin: Rotbuch 1984, S. 169-178.
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Problem dadurch noch verkompliziert, dass deutsche Firmen völlig legal Waren an arabische Länder lieferten, die sowohl zu zivilen wie militärischen Zwecken benutzt werden konnten, wie etwa geländegängige Fahrzeuge oder Funkgeräte.33 Dem gegenüber waren die Bundesbehörden machtlos. Konkrete Folge dessen war aber für Paris, dass eine derartige Stärkung der auf Mobilität beruhenden Kampfkraft der Algerier Frankreich angesichts der Grenzgesetzgebung mit offiziellen Abwehrmitteln genauso unzugänglich war, wie die Waffenversorgung der feindlichen Armee durch den Ostblock. Was in Deutschland vor sich ging war auch aus diplomatischen Gründen unerträglich: Die wichtigsten Alliierten, USA und Großbritannien, gingen seit der Suez-Krise 1956 klar auf Distanz, um ihre Einflussmöglichkeiten in den sich verselbständigenden Gebieten der Solidarität mit Paris nicht zu opfern. Der Einfluss der blockfreien Staaten, die den Freiheitskampf unterstützten, nahm zu. Es drohte diplomatische Isolierung zu einem Zeitpunkt, als Frankreichs Position bei der UNO bereits seit Ende 1955 kritischer wurde. Da eine rein militärische Lösung ausgeschlossen war, und mit Perspektive auf eine unumgängliche Verhandlungslösung, benötigte Paris die Solidarität der ›Freien Welt‹ dringend. Dies war aber immer weniger der Tenor im Auswärtigen Amt: Am 17. Juli 1959 schrieb Karl Carstens z.B. an Staatssekretär Hilger van Scherpenberg: »Man kann verstehen, dass Frankreich seine Nordafrikapolitik einzig und allein aus seinen nationalen Interessen sieht. Die freie Welt aber sieht und muss das nordafrikanische Problem von einer höheren und damit richtigeren Ebene beurteilen, damit eine Zusammenarbeit mit [den arabischen] Ländern auch für den Fall möglich bleibt, dass die französische Algerienpolitik scheitern sollte«.34 Der Druck auf das Quai d’Orsay wuchs dessen ungeachtet umso schneller, als sich der Algerienkrieg mit der Zeit immer deutlicher zum Sammelbecken der französischen Frustrierungen entwickelte. Diese betrafen insbesondere die Armee: U.a. beruhte die Stärke der französischen Armee selbst in Europa weitgehend auf Soldaten aus den Kolonien. Mit der Abschwächung der »Union française« befürchtete das Militär zudem das Schwinden seines politischen Einflusses. Die Krise zwischen Offizieren einerseits, Exekutive und Legislative andererseits, wurde stets offensichtlicher. Was sich in Nordafrika abspielte war ein Guerillakrieg, also ein totaler Krieg sui generis, bei dem die Mobilisierung des Volkes, wenn nötig mit Gewalt, vorrangig ist. Und konventionelle Heere sind dem Guerillakrieg schlecht gewachsen. Nach 1940, der Niederlage in Indochina und dem Suez-Debakel setzte sich vielerorts die Überzeugung durch, dass sich Frankreichs 33 Müller, Klaus-Jürgen: »Marburg-Vortrag, Version 18.1.2004«, Ms. 34 Horst Möller (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich: Dokumente 1949-1963, München: Saur 1997, Bd. 1, S. 733f.
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Zukunft und Macht in Algerien entscheide. Etliche Soldaten sahen bald vor lauter algerischen Bäumen den Wald der allgemeinen Entkolonisierung nicht mehr. Unter Einfluss von Oberst Roger Trinquier, dem Theoretiker der ›subversiven Kriegsführung‹,35 und von Oberst Lacheroy, dem Initiator des sogenannten ›psychologischen Krieges‹,36 die u.a. General Raoul Salans Ohr hatten, verstieg sich ein Teil der Armee in Algerien, um die FLN mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen und den ›Moslems‹ mehr Angst einzuflößen als die FLN, in eine Eskalation der Gewalt.37 Die Polizei wurde auch in der Metropole immer brutaler, wie es die Niederschlagung algerischer Demonstrationen in Paris zeigte. 38 Beides wurde weitgehend von der Justiz gedeckt.39 Die Franzosen wollten es mehrheitlich nicht wissen, weil dies die Institutionen der Republik diskreditierte. Damit wurde aber Frankreichs ohnehin verrufener Kolonialkrieg für die internationale Öffentlichkeit noch abschreckender. Die FLN-Propaganda nutzte die ihr dadurch zugespielten Argumente aus. In Deutschland wurde spürbar, was auch anderswo der Fall war: Folter, Mordtaten, usw. wurden nicht mit gleichen Maßstäben gemessen je nachdem, ob sie von dem einen oder dem anderen Lager begangen wurden. Die Verbrechen des französischen Heeres wurden als Staats- bzw. als Kriegsverbrechen im Dienste einer Aufrechterhaltung der kolonialen Ausbeutung mit letzter Empörung verurteilt, währenddessen ähnliche Taten der FLN, die nicht in ihrer Algerien-internen Dimension wahrgenommen, sondern nur als Kampf gegen die unterdrückende Macht gesehen wurden, durch die Überzeugung legitimiert wurden, Gewaltausübung sei für sie der einzige Weg zur Befreiung und zur Selbständigkeit. Sichtbar wurde dies bereits 1957, z.Z. der Bataille d’Alger. Die Empörung nahm mit der Zeit zu. Angesichts der Wirkungslosigkeit seiner diplomatischen Bemühungen beschloss Paris, unter Missachtung der Grenze, auf dem Territorium einer befreundeten Macht selbst zu intervenieren, was die seit 1955 souveräne Bundesrepublik erst recht von einer ehemaligen Besatzungsmacht nicht dulden konnte. Sie wies
35 Zusammenfassung seiner Thesen in Trinquier, Roger: La guerre moderne, Paris: La Table Ronde 1961. 36 Villatoux, Paul: »Le colonel Lacheroy théoricien de l’action psychologique«, in: JeanCharles Jauffret (Hg.), Des hommes et des femmes en guerre d’Algérie, Paris: Éd. Autrement 2003, S. 494-508; auch: Lacheroy, Charles: De Saint-Cyr à l'action psychologique: mémoires d'un siècle, Panazol: Lavauzelle 2003. 37 Aussaresses, Paul: Services spéciaux Algérie 1955-1957: mon témoignage sur la torture, Paris: Perrin 2001. 38 Blanchard, Emmanuel: La police parisienne et les Algériens (1954-1962), Paris: Nouveau Monde Ed. 2011. 39 Thénault, Sylvie: Une drôle de justice. Les Magistrats dans la Guerre d’Algérie, Paris: Découverte 2001.
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mehrmals französische Versuche ab, die Algerier in Deutschland zu kontrollieren – so weigerte sich auch Saarbrücken, dem französischen Konsulat zur Organisation der Volksabstimmung vom 28. September 1958 die Liste der an der Saar lebenden Algerier zu geben. Vor allem: Kein Algerier, dessen Ausweisung Paris verlangte, wurde vom Bund ausgeliefert. Die deutsch-französische Grenze war also für die FLN ein effizienter Schutzwall. Geheimdienste aber kennen keine Grenzen. Main Rouge, eine Tarnorganisation des Service de documentation extérieure et de contre-espionnage (SDECE), griff zu terroristischen Mitteln. Sonderkommandos sprengten in Hamburg und Rotterdam deutsche Schiffe in die Luft. Um der FLN Einhalt zu gebieten, wurden in Hamburg (Otto Schlüter), Frankfurt (Georg Puchert) oder München-Schwabing (Wilhelm Beisner) Attentate gegen deutsche Waffenhändler durchgeführt. Im November 1958 führte die Main Rouge vor der tunesischen Botschaft in Bonn, diesmal unter Mitwirkung von Messalisten,40 den Anschlag auf Ameziane Aït Ahcène durch, allerdings auch diesmal so ungeschickt, dass Beweise auf die Täter (und darüber hinaus auf die Auftraggeber) hinwiesen. Die deutsche Presse berichtete empört. Es war also der FLN durch ihr Tun und Handeln jenseits der französischen Grenze gelungen, Paris zu einem Verstoß gegen die internationale Ordnung zu veranlassen, genau wie die Strategie der ALN die französische Armee in Algerien zu kontraproduktiven Gewalttaten verleitet hatte. Die Marine nationale brachte ihrerseits u.a. deutsche Frachtschiffe, die sie des Transports militärischen Materials für die ALN verdächtige, auf hoher See auf. Solche Verletzungen des Seerechtes wurden ab 1959 von Premierminister Michel Debré beschlossen.41 Sie waren jedenfalls, wie die Attentate der ›Roten Hand‹ in Deutschland, klare Verletzungen der deutschen Souveränität. De facto ging also auch Frankreich ab 1958 der Bundesrepublik gegenüber zweigleisig vor: zum einen unzweideutige Unterstützung in der Berlinfrage, zum anderen aber – außer diplomatischem Druck – Eingriffe auf deutschem Gebiet.
D EUTSCHER B EISTAND Im Saarland war die ›zweite Franzosenzeit‹ noch nicht vergessen. Das Engagement der sogenannten »Kofferträger«,42 das heißt Privatpersonen, die sich aktiv auf die Seite der Algerier stellten, auf diese Zeit zurückzuführen, wäre aber ebenso 40 K. Leggewie: Kofferträger, S. 49. 41 Melnik, Constantin: 1000 jours à Matignon. De Gaulle, l’Algérie, les services spéciaux, Paris: Grasset 1988. 42 K. Leggewie: Kofferträger.
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übereilt, wie es mit dem 23. Oktober 1955 in Verbindung zu bringen. Es gab auch im übrigen Deutschland ›Kofferträger‹. Diese waren nur in Einzelfällen antifranzösisch gesinnt, wenngleich sich einige, z.B. der spätere sozialdemokratische Staatssekretär Alwin Brück, für das ›Nein‹ zum Statut engagiert hatten. Dies, weil sie die ›europäische‹ Tarnkappe der Autonomie ablehnten und trotz der Rhetorik eines Teils der Verfechter der Ablehnung einsahen, wie es Armin Heinen hervorgehoben hat, dass eine Stimmabgabe für eine Rückgliederung in ein demokratisches Deutschland mit der Abstimmung von 1935 nichts zu tun hatte.43 Beweggrund war vielmehr die Distanz von der französischen Gewalt in Algerien wie im Mutterland und auf deutschem Boden, sowie die Überzeugung, dass die Bundesrepublik anderen das Recht auf Selbstbestimmung nicht absprechen dürfe, das sie für sich selbst beanspruche. Französische Proteste gegen Folterungen usw. wurden ab 1957 in der Presse thematisiert. Artikel aus Le Monde, Esprit oder Témoignage chrétien wurden zitiert oder übersetzt, sie stießen auf mehr Aufmerksamkeit als in Frankreich. Die Stellungnahme Generals Jacques Pâris de Bollardière, der Rücktrittsbrief Paul Teitgens wurden bekannt. Teitgens etwa schrieb: »Ich würde mir nie eine solche Behauptung erlauben, wenn ich nicht vor Kurzem, gelegentlich einiger Besuche in den Beherbergungszentren Paul-Cazelles und Beni-Messous bei einigen Zugewiesenen die tiefen Spuren jener Misshandlungen und Folterungen erkannt hätte, die ich selbst vor vierzehn Jahren in den Kellern der Gestapo in Nancy erlitt.«44
Auch geschätzte Schriftsteller erhoben Protest. François Mauriac befürchtete, dass die Republik »die Füße in die Stiefel der Gestapo stecken könnte«, Albert Camus schrieb, es wäre der schönste Sieg der Nazis, wenn sich ihre Opfer in Folterer verwandeln würden, Vercors gab seinen Orden der Ehrenlegion zurück usw. ›Kofferträger‹ sein hieß also zumeist, dass man für die Welt eine andere Zukunft träumte! Sie sorgten hauptsächlich für Unterkunft und halfen beim Transport von Geld und Kämpfern über die Grenze. Die Mehrzahl weigerte sich, Waffen zu befördern. Saarländer wurden von einem Vertreter der FLN, dem Assistenten an der Saarbrücker Universität Abd-El-Hamid Mattalah, 45 gewonnen, andere durch die 43 Heinen, Armin: Saarjahre, Politik und Wirtschaft im Saarland 1945-1955, Stuttgart: Steiner 1996, S. 234. 44 Brief an Robert Lacoste vom 24.3.1957, zit. nach J.-P. Cahn/K.-J. Müller: La République, S. 204. 45 Antwortschreiben des Bundesministeriums für Angelegenheiten des Bundesrats und der Länder an das Auswärtige Amt, 2. Februar 1961, in: AAA, PA, Abt. 2, Ref. 205, Bd. 30.
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Mund-zu-Mund-Propaganda, wieder andere engagierten sich spontan. Im Februar 1960 initiierten Mattalah und Friedrich Regitz (MdL-SPD) die Gründung eines Komitees zur Unterstützung eines unabhängigen Algeriens. Hier waren nicht nur karitative Organe oder Gewerkschaften, sondern auch saarländische Parteien beteiligt. Paris erhob Protest, auch bei Ministerpräsidenten Franz-Josef Röder, gegen eine solche »Unterstützung der Terrorkampagne in Algerien und in der Metropole«.46 Saarländische Christdemokraten wandten sich daraufhin an Paul Frank,47 der darauf hinwies, dass Parteien keine karitativen Aufgaben oblägen und im Interesse der Bundesrepublik und der Saar Zurückhaltung empfahl. Daraufhin soll das Komitee nur noch ein »vegetatives Dasein«48 geführt haben. Franks Argument entsprach der allgemeinen Linie in Bonn – Zurückhaltung der Parteien. Dass sich Regitz bei der Volksabstimmung stark für das ›Nein‹ eingesetzt hatte und ein Teil der französischen Presse danach seine Vergangenheit infrage gestellt hatte, verlieh dem Komitee eine Bedeutung, die man in seiner politischen Dimension nicht wünschte. Der Krieg nahm kein Ende, Bonn zum Verdruss: Die Bundesregierung musste nicht nur, das wurde immer deutlicher, ihre zukünftigen Beziehungen zu einem selbständigen Algerien vorbereiten, sondern gleichzeitig verhindern, dass die DDR in Algier Fuß fasste. Die OAS-Episode, mit der die französischen Durchhalteoffiziere der FLN ungewollt einen letzten Trumpf zuspielten, verzögerte aber die Feuereinstellung. Die bedingungslosen Vertreter der Algérie française hatten nämlich 1958, als sie ihn riefen, von de Gaulle erwartet, dass er ihren Kampf würdigen würde. Je mehr sich der Staatschef von ihrer Linie entfernte, desto kritischer wurden sie. Als sich de Gaulle im September 1959 für Selbstbestimmung entschied und die am 8. Januar 1961 (in Algerien, der Metropole und den Überseegebieten) durchgeführte Volksabstimmung diesem Recht mit 75% der abgegebenen Stimmen zustimmte, war der Bruch unwiderruflich. Am 11. Februar wurde die Organisation armée secrète (OAS) als politisch-militärische Gruppe zur Bekämpfung eines unabhängigen Algeriens durch alle Mittel, einschließlich Massenterror, gegründet. Nach dem Scheitern des Militärputsches in Algier (April 1961) schlossen sich ihr zahlreiche enttäuschte Soldaten an. Die OAS verzögerte durch
46 Direction générale des affaires politiques, ambassade à Bonn, 29.9.1960, in: MAE, MLA, Bd. 6. 47 Antwort Paul Frank an André, CDU-Saar, 6. Feb. 1960, in: AAA, PA, Abt. 2, Ref. 205, Bd. 30. 48 Consulat général de France à Sarrebruck à Quai d’Orsay, 29.9.1960, in: MAE, MLA, Bd. 6.
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ihre Machenschaften das Ende des Krieges, ihre Attentate riefen je nach Schätzungen 1.000 bis 2.000 Opfer hervor, und sie führte ihren Kampf selbst nach den Verträgen von Evian (18. Marz 1962) weiter (s.u.). Die FLN war aber inzwischen als Vertreter des algerischen Volkes nicht mehr diskutabel, und ihr Ziel war de facto erreicht. De Gaulle musste Schluss machen. Auch für die Bundesrepublik wurde es immer schwieriger, sich durchzulavieren. Sie überstand die Belastungsprobe des Algerienkrieges dennoch erstaunlich gut: Sie und nicht die DDR setzte sich als Partner Algeriens durch und die Reisen Adenauers und de Gaulles (1962) zeigten, dass der Algerienkrieg nach einer schwierigen Periode auch das Verhältnis zur Fünften Republik nicht gestört hatte: BerlinKrise und Algerienkrieg hatten gezeigt, wie notwendig eine enge Zusammenarbeit war. Dennoch kam es noch zu zwei für das Thema deutsch-französische Grenze relevanten Spannungsperioden: die erste z.Z. der letzten Verhandlungen in Evian, die zweite im Schlepptau des Algerienkrieges. Aufgrund zulänglich belastender Beweise hatte Generalbundesanwalt Max Güde Hafid Keramane und Mouloud Kassim, die beiden FLN-Führer in der Bundesrepublik, einsperren lassen. Paris beantragte ihre Ausweisung, während die FLN gegen ihre Inhaftierung wetterte. Bonn übergab auch sie nicht an Frankreich, sondern ließ sie diskret die Grenze nach Österreich und der Schweiz passieren. Dies war nicht nur eine Geste der captatio benevolentiae in Richtung FLN und arabische Welt, sondern auch ein Zeichen nach Paris: Was in der Bundesrepublik zu beschließen ist, beschließen die Deutschen selbst! Schwierigkeiten ergaben sich weiterhin nach dem Krieg (d.h. als die Algerier weg waren und Hafid Keramane algerischer Botschafter in Bonn war) durch ein letztes französisches Vergehen im deutschen Hoheitsbereich. Einige Führer der französischen OAS hielten sich nun in Deutschland auf. Der eine, der ehemalige Regierungschef Georges Bidault, wurde diskret nach Brasilien abgeschoben. Ein anderer aber, Oberst Antoine Argoud, wurde 1963 auf groteske Weise durch die Sécurité militaire in einem Münchener Hotel gekidnappt und insgeheim nach Frankreich überführt. Die Krise erbte Ludwig Erhard. Zu dieser Zeit waren die meisten ›Kofferträger‹ längst von den grauenhaften Machtkämpfen und Repressalien im selbständigen Algerien und über die allgemeine Entwicklung des Landes erschüttert. Die 1962 erworbene Selbständigkeit mündete nämlich in ein autoritäres Regime, dessen Folgen Algerien bis heute nicht überstanden hat.
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S CHLUSSBETRACHTUNG Die Ankunft von FLN-Leuten, ab 1957, stellte die Bundesrepublik vor zumindest drei Probleme: Erstens wurde sie, wenn auch nur als Hinterland, in einen Entkolonisierungsprozess einbezogen, der ihr Verhältnis zu einem ›Seniorpartner‹ ihrer Diplomatie auf die Probe stellte; zweitens konnte sie weder Form noch Dauer des Krieges beeinflussen; drittens kollidierte mit diesem Krieg die Berlin-Krise, in der die Unterstützung Frankreichs für sie unverzichtbar war. Die Algerier, die sich auf ihrem Gebiet niederließen, führten ihren Kampf vom deutschen Territorium aus weiter. Sie missachteten die Gesetze wie auch die Interessen des Gastlandes: Sie verhielten sich als Fremdkörper und stellten die Bundesrepublik oft vor vollendete Tatsachen. Die FLN machte die deutsch-französische Grenze geschickt zum Werkzeug ihres Kampfes. Ihre Diplomaten hingegen spielten die bundesdeutschen Zielsetzungen geschickt aus – nicht zuletzt, indem sie und ihre arabischen Verbündeten mit der Drohung, die DDR anzuerkennen, einen wunden Punkt berührten. Eine Achillesferse Frankreichs war, dass es sich zu lange ausschließlich an der militärischen Dimension eines Krieges orientierte, den die FLN primär auf der Ebene der Politik, der Diplomatie und der Öffentlichkeitsarbeit führte. Betrachtet man den algerischen Guerillakrieg und die Medienoffensive durch das Prisma der deutsch-französischen Grenze, so sieht man, dass die FLN anders als andere die Selbständigkeit anstrebenden Länder nicht nur die Grenzen ihr gegenüber positiv gesinnter Staaten in ihre Strategie einbezog, sondern selbst diejenigen eines Nachbarstaates und Verbündeten Frankreichs. Damit ging sie einen Schritt weiter in der Verachtung der geltenden internationalen Regeln, ja sie integrierte die zwischenstaatlichen Trennungslinien vollauf als Bestandteil ihrer Kampfführung. Die Internationalisierung des Konflikts erwies sich als wirkungsvoll: Indem sie sie konsequent durchführte, zwang sie ihren Landsleuten ihre Autorität auf, sie brachte westliche Diplomaten auf ihre Seite und sie setzte sich als einziger Vertreter Algeriens durch. Das geschickte Spiel mit der Angst vor einer Etablierung des Ostens in der Dritten Welt trug wesentlich dazu bei. Algerien brachte die Bundesrepublik in Verlegenheit. Auf diplomatischer Ebene war sie in einer schwierigen Lage, zwischen Solidarität zu Paris und der realpolitischen Perzeption der Vorgänge in der Dritten Welt, die Distanz zum Kolonialismus gebot. Die Lösung fand man in einem zwiespältigen Vorgehen: Aus innenpolitischen Gründen musste man flexibel vorgehen; eine normale Kontrolle der Undergroundkämpfer war nicht möglich. Diese Zwangslage wurde aber diplomatisch aufgewertet. Paris blieb der maßgebliche Partner, parallel wurden die Machenschaften der FLN geduldet, und es wurde ihr die Aufgabe überlassen, die
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eigenen Landsleute zu mäßigen. Somit erkannte die BRD der Befreiungsbewegung stillschweigend zumindest die Legitimität der Verwaltung ihrer Landsleute auf ihrem Territorium zu. Auch ließ man die Presse Kritik an Frankreichs Kolonialkrieg üben – was in Paris, wo die Medien starker Kontrolle unterlagen, zu Ärger führte. Bonn konnte somit den Staaten, die Frankreich verurteilten, zu verstehen geben, dass sie den algerischen Befreiungskampf unterstützte, soweit es der Imperativ des Zusammenhalts mit Paris zuließ. Indem die FLN die Bundesrepublik zum Hinterland ihres Kampfes machte, involvierte sie diese in ihren Krieg gegen Frankreich, das unmittelbar auf deutschem Boden agierte. Der algerische Guerillakrieg wurde zur Bewährungsprobe der deutsch-französischen Beziehungen. Wenngleich die Algerier selbst kein besonders gutes Ansehen in Deutschland hatten, wurde ihr Kampf um Selbständigkeit in der Öffentlichkeit ebenso unterstützt wie Frankreichs Methoden verurteilt wurden – erst recht sein (gewalttätiges) Eingreifen in der Bundesrepublik. Deutsche halfen der FLN aktiv. Auch an der Saar, die 1955 das Selbstbestimmungsrecht wider die deutsch-französischen vertraglichen Abmachungen vom Oktober des Vorjahres durchgesetzt hatte, waren einige bereit, den Algeriern beizustehen. Aber die doppelte Gefahr, die sich aus der Präsenz von Vertretern sowohl Frankreichs wie des MNA-Rivalen ergab, war Anlass zur Vorsicht, weshalb das Territorium für die FLN primär Transitland blieb. Deutschland machte aus dem Gebot der Stunde eine Tugend: Indem die BRD die Algerier gewähren ließ und Frankreich unterstützte, seine Gunst somit geschickt verteilte, konnte sie gleichzeitig anstelle Ost-Berlins eine Botschaft in Algier einrichten und das Verhältnis zu Paris bewahren. Ein Musterbeispiel diplomatischen Könnens! Allerdings kam es dabei zu einer Verzerrung der hergebrachten Bedeutung der Grenze: Durch ihre Haltung erkannte sie der FLN Legitimität zu, die Staaten vorbehalten ist. Das reichte über die Rolle des einfachen Schutzwalls hinaus, den die »siebte Wilaya« bei ihrem Umzug in die Bundesrepublik von der deutsch-französischen Grenze erwartet hatte.
Grenzerfahrungen – eine Erinnerungsrevolution Oder: Vom Speichergedächtnis zum kulturellen Gedächtnis R AINER H UDEMANN
Armin Heinen hat sich seit seinen Trierer Jahren mit Grenzregionen befasst: in seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit intensiv mit den Schicksalen der südosteuropäischen Länder und in den konkreten Kooperationen unter anderem mit Jean-Paul Lehners in Luxemburg. Als er 1984 an die Universität des Saarlandes wechselte, wurde dies zum Auftakt einer intensiven Zusammenarbeit mit den französischen Partnern besonders in den nahen Universitäten Metz und Nancy – Alfred Wahl und François Roth in erster Linie. In seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit nahmen nun die vielfältigen regionalen, interregionalen, (bi-)nationalen und internationalen Verflechtungen des Saarlandes für Jahre einen wichtigen Raum ein. Erinnerung spielte in all seinen Arbeitsfeldern dabei stets eine zentrale Rolle. Aber als in diesem deutsch-französischen Grenzraum die Erinnerungsrevolution ausbrach, war er längst nach Aachen enteilt. So sei ihm hier skizzenhaft erzählt, was es damit auf sich hat: Der Städtebau ist es, der die Revolution auslöste.
T ABUISIERUNGEN UND P FADABHÄNGIGKEITEN Viele Jahrzehnte lang war die Vielfältigkeit der Region Alsace-Moselle in der Zeit, als sie 1871-1918 als ›Reichsland Elsass-Lothringen‹ unter deutscher Herrschaft stand, in Frankreich tabu. Es war, so schien es, in den ›annektierten‹ Gebieten nur eine Zeit harter deutscher Germanisierungspolitik, die sich 1940 bis 1944
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wiederholt habe, wenngleich dann unter ungleich gewalttätigeren und weithin verbrecherischen Vorzeichen. War eine solche Qualifizierung für die nationalsozialistische Herrschaft zutreffend, so verstellte aber die Fülle an Wirkungsebenen, mit denen das halbe Jahrhundert nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 vor allem in Frankreich rund ein Jahrhundert lang verflochten blieb, den Blick auf weite Teile der Realität der Reichsland-Jahre. Die Perzeption als eine deutsche ›Annexion‹ – völkerrechtlich war es eine Zession im Friedensvertrag nach verlorenem Krieg – trug dazu bei, das Wissen darum zu verdrängen, dass die Bevölkerung im ›Reichsland Elsass-Lothringen‹ in diesen fünf Jahrzehnten gewaltige Modernisierungsleistungen erbracht hatte. HistorikerInnen und GeografInnen, welche Verlage für ihre Forschungen dazu suchten, trafen noch in den 1980er Jahren vielfach auf taube Ohren. Auch das auf dem ehemaligen Schlachtfeld in Gravelotte 2014 eröffnete, eindrucksvolle Musée de la Guerre de 1870 et de l’Annexion bricht mit dieser Perzeption indirekt nicht: In seinem Mittelpunkt stehen die dramatischen Ereignisse des Krieges selbst, das Leiden der Soldaten und der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten sowie der Friedensschluss 1871.1 Ungeachtet dessen bleiben große Forschungsleistungen früherer Jahrzehnte wissenschaftlich aktuell. Das gilt – um exemplarisch nur an einige zu erinnern – beispielsweise für die Werke von François Roth, der 2016 verstarb, für Alfred Wahl, François Igersheim, Michel Hau oder Bernard Vogler.2 Obgleich ihre Forschungen eine Vielzahl von Differenzierungen aufzeigen, wirkten zwar die Bücher selbst, jedoch kaum die Differenzierungen in eine breitere Öffentlichkeit hinein. Das hing natürlich eng zusammen mit der hohen Komplexität des Verhältnisses der beiden Regionen zur französischen Zentralmacht. 1919/20 war die Rückgliederung von Alsace-Moselle in die Französische Republik nicht nur ein überaus belastender, sondern auch ein extrem vielschichtiger Prozess. Ein deutsches oder als deutsch konnotiertes Erbe des vergangenen halben Jahrhunderts hatte darin
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https://tinyurl.com/y7ey3c5l (abgerufen am 19.6.2017). Den Zugang zur Forschung erleichtern die folgenden Werke, welche über die im Folgenden angesprochenen Problemfelder zugleich inhaltlich genauer informieren: Roth, François: La guerre de 1870, Paris: Arthème Fayard, 2011 [1990]; Ders.: La Lorraine annexée (1871-1918), Nancy: Presses universitaires, 1976, Metz: Éd. Serpenoise 22007; Wahl, Alfred: Une nouvelle histoire de l’Alsace contemporaine, Pontarlier: Éditions du Belvédère 2015; Roth, François: Alsace Lorraine [sic]. Histoire d’un »pays perdu«. De 1870 à nos jours, Nancy: Éd. Place Stanislas 2010; Bernard Vogler (Hg.), Nouvelle histoire de l’Alsace, Toulouse: [Privat] 2003; Ders.: Geschichte des Elsass, Stuttgart: Kohlhammer 2012 [nur deutsch erschienen]; Igersheim, François: L’Alsace politique 1870-1914, Strasbourg: Presses universitaires de Strasbourg 2016.
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politisch keinen Raum. Noch 1987 wurde die Bitte des Autors dieser Skizze um Zugang zu Akten aus der Rückgliederungszeit nach 1918 von dem Direktor eines großen Archivs der Region rundweg abschlägig beschieden mit der Begründung, dafür sei es noch viel zu früh. Vielleicht hatte er auch Aleida und Jan Assmann gelesen und festgestellt, dass der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis in der Tat 80 bis 100 Jahre erfordert.3 Schon nach dem Sturz Napoleons 1814/15 blieben viele unter französischer Herrschaft geschaffene Institutionen und Rechtssysteme in den Territorien des linken Rheinufers in Kraft und das langfristig, obwohl die Nachfolgeregime und vor allem Preußen sich als politischer Gegenentwurf gegen die napoleonischen Reformen verstanden: 4 Pfadabhängigkeiten sind wirkungsmächtig. Ähnliches, zwar nicht ganz so weitgehend doch bei ähnlicher Tabuisierung, geschah nach 1919 im Elsass und in dem neu geschaffenen Departement Moselle, wie der zuvor deutsch beherrschte östliche Teil Lothringens nun benannt wurde. Im juristischen Bereich fasste man den fortgeltenden Teil der Gesetze, Verordnungen und Dekrete unter dem Begriff des droit local zusammen und gründete dafür ein eigenes Institut. Das war der Ausdruck einer tiefergreifenden Entwicklung: Die Bevölkerung hatte sich schon in der Reichslandzeit mehr und mehr von nationalen Begriffen abgewandt und auch die politisch-kulturellen Konflikte zunehmend in Kategorien einer identité régionale überführt.5 Äußerlich ließ sich die Kontinuität an den mittleren und großen Städten buchstäblich auf Schritt und Tritt besonders deutlich verfolgen. Der große Urbanisierungsschub der Industrialisierungsperiode hatte die Städte auch im Elsass und in Lothringen erfasst und zwar gerade in der Zeit, in welcher die deutschen Einflüsse besonders prägend wurden. Eine Fülle von deutsch-französischen und internationalen Überlagerungen in Stadtplanung, Kunst, Technik, Ingenieurwesen, Architektur, Verkehrswesen war die Folge. Verkürzt auf den Punkt gebracht: In weiten 3
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Zu den im Einzelnen komplexen und im Laufe der Jahre von ihnen teilweise weiterentwickelten Kategorien siehe u.a. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 42002; Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck 2006. Siehe den Überblick von Gergen, Thomas: »Politische Entscheidungsjahre 1815, 1935 und 1955. Zäsuren und Übergänge aus Sicht der Rechtsgeschichte«, in: Gabriele Clemens (Hg.), Zäsuren und Kontinuitäten an der Saar 1815 – 1935 – 1955, Saarbrücken: Kommission für Saarländische Landesgeschichte 2017, S. 51-88. Maas, Annette: »Stadtplanung und Öffentlichkeit in Straßburg (1870-1918/25). Vom Nationalbewußtsein zur regionalen Identität städtischer Interessengruppen«, in: Christoph Cornelißen/Stefan Fisch/Annette Maas: Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870-1940, St. Ingbert: Röhrig 1997, S. 205-275.
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Teilen Europas folgten die Umbauten den mit dem Namen Eugène Haussmann verbundenen Prinzipien, des Pariser Polizeipräfekten unter Napoleon III. Geometrische und an wichtigen historischen, politischen, kulturellen oder technisch-wissenschaftlichen Bauten orientierte Straßenführungen strukturierten die tief greifenden Umgestaltungen der Stadtzentren. Um die Jahrhundertwende wurden in Österreich und dem Deutschen Reich Gegenkonzepte kleinräumiger und zugleich hoch technisierter Planung im ›künstlerischen‹ oder ›ästhetischen‹ Städtebau entwickelt. Die Modelle stießen nicht nur aufeinander, sondern überlagerten sich in vielfältigen Formen. In Straßburg kamen die Haussmann’schen Formen größtenteils in der Reichslandzeit und verwoben mit preußischen Traditionen an; ab 1900 nahmen sie sowohl in der Innenstadt wie in den großen östlichen Stadterweiterungen zunehmend Elemente des künstlerischen Städtebaues auf, welche diese Stadtteile bis heute prägen.6 In Metz ist das – anders als in Straßburg – einheitlich nach den Grundsätzen des künstlerischen Städtebaues gestaltete Bahnhofsviertel das letzte noch vollständig erhaltene seiner Art, nachdem die Bomben viele deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche legten. An diesen Stadtvierteln der Reichslandzeit sollte sich die Revolution ein Jahrhundert später entzünden. Armin Heinen kennt das, denn an der Universität des Saarlandes hat er rege die Arbeiten einer Forschergruppe in den Jahren 1986-2003 begleitet, welche zahlreichen konkreten Ausprägungen dieser transnationalen Verflechtungen und Überlagerungen nachging, teilweise in enger Kooperation mit François Roth in Nancy, Alfred Wahl in Metz und Jean-Paul Lehners in Luxemburg.7 Für Lothringen und Luxemburg hat sie unter anderem, aufbauend auf langjährigen gemeinsamen Seminaren mit diesen drei Partner-Universitäten, rund 800 architektonische Objekte aufbereitet, in denen sich die grenzüberschreitenden Erinnerungsstrukturen widerspiegeln – oder häufiger: verbergen.8 6 7
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C. Cornelißen/S. Fisch/A. Maas: Grenzstadt Straßburg. Unter den zahlreichen Publikation siehe u.a.: Ebd.; Wittenbrock, Rolf: Bauordnungen als Instrumente der Stadtplanung im Reichsland Elsaß-Lothringen (1870-1918). Aspekte der Urbanisierung im deutsch-französischen Grenzraum, St. Ingbert: Röhrig 1989; Rainer Hudemann/Rolf Wittenbrock (Hg.), Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. u. 20. Jh.). Développement urbain dans la région frontalière France-Allemagne-Luxembourg (XIXe et XXe siècles), Saarbrücken: Kommission für Saarländische Landesgeschichte 1991 (online: https://tinyurl.com /ybwbgzmh); Heil, Peter: Von der ländlichen Festungsstadt zur bürgerlichen Kleinstadt. Stadtumbau zwischen Deutschland und Frankreich. Landau, Haguenau, Sélestat und Belfort zwischen 1871 und 1930, Stuttgart: Steiner 1999. Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn/Gerhild Krebs/Johannes Großmann (Hg.), Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken:
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G ESPALTENE E RINNERUNG Um es in leichter Abwandlung der Begrifflichkeit von Aleida Assmann9 zu sagen: Die Kenntnis der Vielfältigkeit der Reichsland-Jahre verschwand in einem Speichergedächtnis, das sich jedoch spaltete und Teile des Wissens als Funktionsgedächtnis über die folgenden Jahrzehnte prägend werden ließ. Denn der öffentlich weiter bewusste Teil erfüllte zentrale Funktionen im Prozess der zweimaligen ReIntegration der Region in den Rahmen der Französischen Republik im 20. Jahrhundert. Er ließ die Kommunikation über die vermeintlichen oder tatsächlichen deutschen Untaten allgegenwärtig sein und blockierte damit hoch effizient und zusätzlich die Kommunikation über die zwischen 1871 und 1918 in einer Fülle von Bereichen in Wirklichkeit geleistete Aufbau- und Modernisierungsarbeit – trotz ihrer dauerhaften Wirkungen bis in den jeweils aktuellen Alltag hinein. Dazu diente bis weit in die wissenschaftliche Forschung hinein das semantische Instrument einer vermeintlich alles beherrschenden ›Germanisierungspolitik‹. Für die occupation im Zweiten Weltkrieg trifft der Begriff zu. In der Reichslandzeit ging es der Mehrheit der maßgeblichen deutschen Stellen einschließlich des – in Stadtplanung und Architektur zum Entsetzen der Architekten persönlich besonders engagierten – Kaisers tatsächlich darum, durch eine bis in eine Fülle von Details noch heute ablesbare Respektierung der regionalen Traditionen die Bevölkerung für eine dauerhafte Hinwendung zum Kaiserreich zu gewinnen und sie gerade nicht einfach ›umzudrehen‹. Diese Tendenz nahm nach 1871 allmählich größeren Raum ein und sollte die Gesamtzeit wesentlich mitprägen. Tatsächlich erwies sich die Rückgliederung des Reichslandes in die Französische Republik als voller Fallstricke. Denn die Bevölkerung verteidigte vehement viele Errungenschaften der Reichslandzeit. Das gilt für die Weitergeltung des Konkordats von 1801 und damit der staatlichen Besoldung von Pfarrern und Priestern oder auch für einige kirchliche Feiertage (Staat und Kirche sind in Frankreich seit 1905 getrennt, damals war die Region aber rechtlich deutsch und so blieb das napoleonische Konkordat in Kraft); es gilt für die von Bürgermeistern hoch geschätzten Anliegerbeiträge im kommunalen Straßenbau; es galt lange für Elemente der Bismarck’schen Sozialversicherung. Für die im jakobinischen Zentralismus auf die völlige Integration von Alsace-Moselle bedachte Republik war das hartes Brot. Mit dem deutschen Angriff auf Frankreich 1940 kam eine erneute Herrschaft, die diesmal zwar keine völkerrechtliche, aber eine faktische Annexion vornahm.
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2002 auf CD-ROM und online publiziert, 2009 nur online, www.memotransfront.unisaarland.de. A. Assmann: Der lange Schatten, S. 54-58.
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Dazu gehörten Massenausweisungen von weit über 100.000 als nicht ›germanisch‹ eingestuften Bürgern, nachdem weit über eine Million Menschen beiderseits der Grenze schon zu Kriegsbeginn evakuiert worden waren.10 Als die in den extrem harten Schlusskämpfen 1944/45 einmarschierenden amerikanischen Truppen und mitunter auch französische Militärs, denen die Kultur der Ost-Departements unbekannt war, viele Elsässer und Lothringer wegen ihrer Dialekte oder als zwangseingezogene ›deutsche‹ Soldaten für Deutsche hielten und entsprechend behandelten,11 spitzten sich die alten Konflikte ein weiteres Mal in all ihrer Komplexität zu und begründeten ein zusätzliches Tabu in der Region. Das trug nun erst recht dazu bei, eine Ausdifferenzierung der Verarbeitung der Reichslandzeit und damit des kommunikativen Gedächtnisses zu verhindern. Die Monuments Historiques stellten 1975 den Metzer und 1985 den Straßburger Hauptbahnhof unter Denkmalschutz und leiteten damit eine Fortentwicklung ein. Die Vielschichtigkeit war aber zunächst noch offensichtlich. Verfolgen wir es am Beispiel Metz: Buchstäblich schwarz verrußt blieb beispielsweise die Fassade des Hauptbahnhofs.12 An der Tabuisierung in der Bevölkerung änderte das zunächst auch noch nicht viel, in der Wissenschaft wurden die Positionen aber diversifizierter. In den 1990er Jahren begann die Reinigung der Fassaden der repräsentativsten Metzer Gebäude: Das Speichergedächtnis begann sich auszudifferenzieren, Bahnhof und die gleichfalls neoromanische Hauptpost erstrahlen seitdem wieder in ihrem originalen hellen Vogesengranit an dem gleichfalls nach künstlerischem Städtebau konzipierten Vorplatz mit den Hotels an der gegenüberliegenden Seite. All dies hatte zusammen mit den umliegenden Straßen und Alleen 1914 als zentrales Aufmarschgebiet für die Westfront und als Sitz des deutschen Truppenkommandos gedient: Der gesamte Stadtteil war für sowohl militärische wie zivile Nutzungsmöglichkeiten konzipiert worden. In Straßburg erregte im Jahr
10 Olivier Forcade et al. (Hg.), Les évacuations de population à la frontière franco-allemande en 1939-1940, Paris: Presses Universitaires de Paris-Sorbonne 2017 [im Erscheinen, deutsche Ausgabe Berlin: Metropol 2018]; weitere Bücher von Maude Williams, Nicholas Willams und Luise Stein aus diesem deutsch-französischen Forschungsprojekt sind in der Druck-Vorbereitung, die Bücher von Johannes Großmann und Eva Kübler noch in Arbeit. 11 Miot, Claire: Sortir l’armée des ombres. Soldats de l’Empire, combattants de la Libération, armée de la Nation: La Première armée française, du débarquement en Provence à la capitulation allemande (1944-1945), Thèse de doctorat, École normale supérieure de Cachan 2016, bes. S. 530-546; Alfred Wahl (Hg.), 1942 - L’incorporation de force, Strasbourg: Ed. de la Nuée Bleue 1992. 12 Zu einem Beispiel, das für die vielfältigen Erinnerungsüberlagerungen besonders instruktiv ist, s. Hudemann, Rainer: »Roland-Statue am Bahnhof Metz«, in: www.memotransfront.uni-saarland.de/rolandstatue_metz.shtml.
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1999 eine große Ausstellung Aufsehen, als sie erstmals die Reichslandzeit der Stadt für eine breite Öffentlichkeit thematisierte.13
R EVOLUTION 2006 die Revolution: Die Stadtverwaltung von Metz schlägt vor, das Quartier allemand bei der UNESCO zum Weltkulturerbe anzumelden. Fast exakt 100 Jahre nach der Einweihung des Metzer Hauptbahnhofs 1908, als hätten sie alle Jan und Aleida Assmann gelesen. Wie es sich für eine richtige Revolution gehört, erwiesen sich die skizzierten Entwicklungen als Vorboten. Und 2007 folgte Straßburg mit einem parallelen Antrags-Projekt zur Neustadt, den großen in der Reichslandzeit gebauten Vierteln östlich der Altstadt. Wie in anderen Städten, beispielsweise Luxemburg nach 1867 und Metz in den 1890er Jahren, hatte man für diese quartiers großteils die ehemaligen Gelände der nach 1871 geschleiften Festungen genutzt. Im Rückblick des Jahres 2017 markierten die Entscheidungen der beiden Städte den Auftakt einer Revolution in der öffentlichen Erinnerung – und die lokalen öffentlichen Reaktionen waren, nicht überraschend, demgemäß auch vielfach virulent. Die Metzer Stadtverwaltung hielt an dem Projekt auch ungeachtet eines politischen Wechsels an der Spitze nach lokalen Wahlen fest. Der lange Vorbereitungsprozess für den UNESCO-Antrag vereinte ab 2009 Historiker, Kunsthistoriker, Städteplaner, Verwaltungsfachleute und Politiker in einem StrategieKomitee. Ihm wurde als Aufgabe vorgegeben herauszuarbeiten: »La dimension internationale de la Nouvelle Ville [...], la persistance du plan malgré les divers rattachements nationaux. L’utilisation de la Nouvelle Ville comme vitrine technologique du savoir-faire allemand. La présence de signatures d’architectes venus de l’ensemble de l’Europe sur les bâtiments. L’inscription du plan général du quartier dans les courants de pensée de l’urbanisme naissant en Europe.«14
Etwa zur gleichen Zeit wurde das Viertel umbenannt in Quartier Impérial – man konnte, als der Begriff auftauchte, zunächst wie der ungläubig staunende Autor dieser Skizze vermuten, dass der Begriff an den noch viele Jahrzehnte später gerühmten Besuch Napoleons III. zur Weltausstellung 1866 auf der Esplanade anknüpfte. Aber nein: Metz meint damit tatsächlich das Deutsche Kaiserreich. 13 Das auf einer Tagung beruhende Begleitbuch: Ripetti, Rodolphe: Strasbourg 1900 – naissance d’une capitale, Straßburg: Somogy 2000. 14 Unterlagen der Strategie-Kommission, 2009. Archiv R.H.
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Doch Metz verfügt bisher, anders als Straßburg seit 1988 mit der pittoresken Grande Île in der Ill, noch über kein weiteres Weltkulturerbe, und der ›deutsche‹ Stadtteil ist recht klein. So neigte die Mehrheit der lokal Verantwortlichen bald – und zunächst eher antrags-pragmatisch – zu einem erweiterten Konzept, das die gesamte Innenstadt von Metz umfassen und damit eine historische transnationale Einheit vom Mittelalter bis in die Gegenwart repräsentieren soll. Das hing auch zusammen mit deutlichen, althergebrachten Widerständen gegen das ReichslandErbe in der Stadt, ablesbar beispielsweise in der lokalen Presse. Doch wurde das Projekt auf der Ebene der Verantwortlichen weiterverfolgt und das, obwohl deren politische Couleur wechselte – in Frankreich häufig der Anlass, große Vorhaben nach Wahlen wieder aufzugeben. In diesem Fall nicht. Daraus entwickelte sich schließlich ein nicht nur kunsthistorisches, sondern eminent politisches Konzept – in der Formulierung des der UNESCO durch die französische Regierung am 7. April 2014 vorgelegten Antrags: »L’appartenance successive de Metz à des nations opposées lui a créé un destin culturel, architectural et urbain unique. L’abondance et la diversité des chefs-d’œuvre que compte le territoire messin est exceptionnel. Cependant, c’est bien l’agencement de ces éléments dans l’espace urbain, le paysage qui en résulte et la continuité temporelle sous des appartenances nationales et des régimes politiques différents qui en constituent la singularité la plus remarquable.«15
Sowohl Metz wie Straßburg hatten sich zuvor gegen vielfältige innerfranzösische und nicht zuletzt gegenseitige Konkurrenz durchzusetzen. Die Verwaltungen blieben aber bei ihrer Linie. Nun fanden sich auch französische Verlage für die Thematik.16 Knapp anderthalb Jahrzehnte nach der genannten Straßburger Ausstellung erhielt eine 2013 in Straßburg und 2014 in Frankfurt gezeigte Ausstellung, welche die ›Interferenzen‹ in der Architektur beider Länder in ihre großen Zusammenhänge stellte, ein weit größeres internationales Echo,17 während 1999 lediglich die Begleittagung in deutsch-französischer Kooperation veranstaltet worden 15 »Metz Royale et Impériale, enjeux de pouvoir, confrontations stylistiques et identité urbaine«, Antrag vom 14.4.2014, http://whc.unesco.org/fr/listesindicatives/5882/ (abgerufen am 11.2.2017). 16 Wilcken, Niels: Metz et Guillaume II – architecture et pouvoir. L’architecture publique à Metz au temps de l’Empire allemand (1871 - 1918), Metz: Éditions Serpenoise 2007, 2 2013 [deutsch Saarbrücken 2000]; Pignon-Feller, Christiane: Metz 1848-1918. Les métamorphoses d’une ville, Metz: Éditions Serpenoise 2005; dies.: Metz 1900-1939: Un Quartier impérial pour une Nouvelle Ville, Paris: Éditions du Patrimoine 2013. 17 Jean-Louis Cohen (Hg.), Interférences/Interferenzen. Architecture Allemagne – France 1800-2000, Straßburg: Ed. des Musées de Strasbourg 2013.
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war. Am 2. Februar 2015 reichte Frankreich bei der UNESCO den Antrag auch für Straßburg ein, und zwar ähnlich wie Metz nunmehr in einem Gesamtkonzept für die Altstadt um die Kathedrale und die aus der Reichslandzeit stammende Neustadt: »Les influences françaises et germaniques ont permis une composition spécifique alliant les réalisations de grandes périodes significatives de l’histoire européenne: l’Antiquité romaine, le Moyen Âge et la Renaissance rhénane, le XVIIIe siècle classique français, puis le XIXe et le début du XXe siècle qui voient l’émergence de la ville moderne, capitale et symbole du nouvel État allemand. Soigneusement assemblées avec leur spécificité et leur diversité, ces réalisations composent une scène urbaine exceptionnelle représentative d’une culture de la ville proprement européenne, hautement significative en ce lieu d’affrontements passés et symbole aujourd’hui de la réconciliation franco-allemande.«18
Der Antrag enthält allerdings keinen Hinweis darauf, dass den Antragstellern die hohe Komplexität der seinerzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen in Straßburg bekannt wäre, welche die Vielfalt und Dynamik der Überlagerungsebenen erklärt. Am 9. Juli 2017 hat das UNESCO-Welterbe-Komitee die Annahme des Straßburger Antrags beschlossen, und zwar in Form einer extention, also einer Erweiterung des bestehenden Weltkulturerbes Grande Ile.19 Wie die UNESCO im Falle Metz entscheidet, bleibt abzuwarten – Metz hat seit der Antragstellung eine breite öffentliche Unterstützung mobilisiert. Doch würde auch eine Ablehnung nicht die Bedeutung dieser Revolution für die Dynamik des kulturellen Gedächtnisses der Regionen schmälern: Der Umbruch vom Speichergedächtnis zum Funktionsgedächtnis ist erfolgt. Es geht hier gerade nicht darum, in eine konfliktreiche Zeit rückblickend harmonisierende Kategorien hineinzuinterpretieren, wie man vermuten könnte. Im Gegenteil: Erst der Übergang zum kulturellen Gedächtnis erlaubt es, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch unter politischen Funktionsträgern und in einer breiten Öffentlichkeit die Vielschichtigkeit von Konfliktzeiten zu analysieren und aus der Überwindung von Konflikten heraus weithin wirksame zukunftsträchtige Konzepte zu erarbeiten und zu verankern.
18 »De la Grande-Île à la Neustadt, une scène urbaine européenne«, Antrag vom 2.2.2015, http://whc.unesco.org/fr/listesindicatives/5966 (abgerufen am 11.2.2017). Der erste Antrag der Stadt ist zu finden unter: »Patrimoine mondial Strasbourg Grande Île«, http://whc.unesco.org/fr/list/495 (abgerufen am 24.7.2017). 19 http://whc.unesco.org/fr/actualites/1691; https://tinyurl.com/yc9btkom. Aktuelle Liste der bisher weltweit aufgenommenen Objekte: http://whc.unesco.org/fr/list (alle abgerufen am 24.7.2017).
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Dass die Revolution in Alsace-Moselle der Ausdruck tiefer greifender Prozesse ist, zeigt sich auch in weiteren Bereichen. 2012 fegte ein Proteststurm durch die Region – nicht um die einst ›deutsche‹ Stadtplanung zu bewahren, sondern Rechtssysteme der Reichslandzeit. Der Conseil Constitutionnel hatte einem Handwerksmeister Recht gegeben, der die 300 Euro Beitrag zu den in den Ost-Departements aufgrund der alten deutschen Gewerbeordnung von 1900 weiterexistierenden Innungskammern, den Chambres des Corporations, nicht zusätzlich zu den Chambres des Métiers, den Handwerkskammern, bezahlen wollte, weil sie gleiche Funktionen erfüllten. Der Meister setzte seine Sparmaßnahme durch – und zugleich, so schien es, die Abschaffung der aus den alten Zünften stammenden, in Deutschland im Dritten Reich aufgelösten Innungskammern.20 Das nun rief eine weitere Revolution hervor, doch in anderem Sinn: Ihre Auflösung bedrohe die Interessenvertretung des Handwerks und damit die wirtschaftliche Prosperität der ganzen Region, so alarmierten die Kammern und andere Kräfte die Öffentlichkeit.21 Sie bestätigten damit eine Feststellung von Senator André Reichardt, Mitglied des Beirates der Handwerkskammer und ehemals Vorsitzender des Regionalrates des Elsass: Die Elsässer seien dem deutschen Rechts-Erbe »viscéralement attachés«.22 Die Richter hatten sich in ihrer Entscheidungsbegründung 2012 um eine Bilanz des Standes der Fortgeltung des droit local bemüht. Doch vermerkten sie: »L’identification exhaustive des textes qui subsistent est une tâche délicate compte tenu des abrogations qui peuvent implicitement résulter de textes nationaux.«23 Sie ließen ihr eigenes Leiden, nie übersetzte deutsche Gesetze in alter Frakturschrift entziffern zu müssen, in der Form eines Zitates eines Kollegen einfließen: »Les risques d’interprétation erronée s’accroissent avec l’écoulement du temps, les juristes connaissant bien la langue et la terminologie juridique allemande devenant de moins en moins nombreux«24 – es könne kaum mehr jemand verstehen, was da geschrieben steht. So begründeten sie die Verfassungswidrigkeit denn auch nicht mit einer Doppelfunktion der Kammern, welche diese ohnehin bestreiten,
20 https://tinyurl.com/y8v3xsaf (abgerufen am 24.7.2017), mit weiteren Verweisen. Für den Hinweis auf die bizarre Diskussion danke ich meiner Kollegin an Paris-Sorbonne Roseline Letteron, die auf ihrem Blog http://libertescheries.blogspot.de/search?q= alsace (abgerufen am 19.6.2017) als Juristin den Streit – recht sarkastisch – analysiert. 21 Vgl. die Argumentation der Chambre de Métiers d’Alsace: »Le droit local de l’Artisanat: Un Atout pour les départements de la Moselle, du Bas-Rhin et du Haut-Rhin«, o.D., www.cm-alsace.fr/file/223 (abgerufen am 20.6.2017). 22 So in der Diskussion in der Festveranstaltung der Amicale gaulliste des französischen Senats zum 50. Jahrestag des Elysée-Vertrages im Dezember 2012. 23 https://tinyurl.com/y8v3xsaf (abgerufen am 19.6.2017). 24 Ebd.
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sondern mit der Unverständlichkeit des deutschen Textes: Gesetzestexte müssten nach der Verfassung in französischer Sprache klar verständlich sein. In der Entscheidung wurden die Texte deutsch zitiert. Noch 2011 hatte der Verfassungsrat dagegen die Fortgeltung des Verbots der Sonntagsarbeit nach altem ReichslandRecht für die Ost-Departements bestätigt, weil die Bestimmungen nicht explizit aufgehoben worden seien.25 Justizministerin Christiane Taubira zählte in einem Dekret im Mai 2013 daraufhin 47 Gesetze und Verordnungen aus der Reichslandzeit auf, die noch ihre Gültigkeit besaßen – teilweise oder ganz, das vermochte sie allerdings auch nicht zu sagen: »Cette traduction officielle ne correspond donc pas nécessairement à l’état des textes qui est aujourd’hui en vigueur.«26 Betroffen sind weite Teile des Alltagslebens. Der breiten Öffentlichkeit in Frankreich außerhalb von Alsace-Moselle war der Umfang dieser Sonderregeln im als solchen durchaus bekannten droit local nicht geläufig. Pragmatisch erklärte die Ministerin nicht-amtliche Übersetzungen, die das Institut du droit local in Straßburg 1925 herausgegeben hatte, für amtlich – vorbehaltlich weiterer Prüfung. Die Ergebnisse der Prüfung liegen zur Zeit der Abfassung dieses Essays noch nicht vor. Der öffentliche Kampf um die Handwerksvertretungen zeigt gleichfalls und exemplarisch, dass das Erbe der Reichslandzeit, soweit es sich nach Urteil der betroffenen Bevölkerung bewährt hat, nach einem Jahrhundert nicht mehr eher insgeheim, sondern vehement und mit möglichst allen medialen Mitteln verteidigt wird.
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Die SNCF veranstaltete im Februar 2017 auf Facebook eine wochenlange Abstimmung, welches der schönste Bahnhof Frankreichs sei. Rund 31.000 Voten gingen ein. Straßburg und Metz kamen unter die ersten zehn Bahnhöfe. Sieger wurde Metz. Ein internaute kommentierte das Ergebnis in Grenoble in der Tageszeitung
25 https://tinyurl.com/y93bwltm (abgerufen am 31.7.2017). Die langfristige und laufende Entwicklung ist über die Publikationen des Institut du droit local alsacien-mosellan (www.idl-am.org) in Straßburg und des Centre juridique franco-allemand de l’Université de la Sarre (www.cjfa.eu) zu verfolgen. 26 Décret n° 2013-395 du 14 mai 2013 portant publication de la traduction de lois et règlements locaux maintenus en vigueur par les lois du 1er juin 1924 dans les départements du Bas-Rhin, du Haut-Rhin et de la Moselle, https://tinyurl.com/y9g7rpjo (abgerufen am 12.3.2017).
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Le Dauphiné libéré: »Ne serait-ce pas les Allemands qui l’auraient construite?«27 Die Spaltung des Speicher- und Funktionsgedächtnisses ist für ihn Vergangenheit. Die Erinnerung hat die Phase des kulturellen Gedächtnisses mit ihren symbolträchtigen Manifestierungen erreicht. So als hätte die SNCF den Wettbewerb für Armin Heinen ausgeschrieben: Die Grenzerfahrungsrevolution ist zum Spiel geworden.
27 https://tinyurl.com/y92ud7cm, Leserkommentar vom 20.2.2017 um 20:04 (abgerufen am 11.3.2017).
›Populär-Musik-Transfer‹ Überlegungen zu einer Geschichte deutsch-französischer Musikverflechtungen nach dem Zweiten Weltkrieg D IETMAR H ÜSER
Zeithistorisches Beschäftigen mit transnationaler Populärkultur nach 1945 erfolgte seit seinen Anfängen zumeist unter anglo-amerikanischen Vorzeichen. Ganz besonders gilt dies für Phänomene und Genres aus dem Bereich der populären Musik in den 1950er und 1960er Jahren. Zunächst war es Rock ’n’ Roll, der in diversen Spielarten 1954/55 über den Atlantik nach Europa schwappte und Debatten über eine Amerikanisierung europäischer Gesellschaften nach sich zog. Dann mischte seit dem globalen Erfolg der Beatles 1963/64 die Beatmusik die kontinentaleuropäischen Musikmärkte auf, eroberte als british invasion zugleich Nordamerika, setzte dort für einige Jahre erfolgreich neue Trends und legte den Grundstein für neuerlich adaptierte Sparten moderner Rockmusik, deren Klangteppiche dann wiederum weltweit kreative Aneignung erfuhren. Solche populärmusikalischen Austauschprozesse im angelsächsischen Raum wie auch der Transfer rockmusikalischer Spielarten in Ländern wie Deutschland oder Frankreich können inzwischen als vergleichsweise gut ergründet gelten.
F ORSCHUNGSSTAND & P ERSPEKTIVEN Ganz anders stellt sich der Forschungsstand für eine konsequent europäische, selbst eine engere französisch-westdeutsche Geschichte populärmusikalischer Transfers und Verflechtungen in den Nachkriegsjahrzehnten dar. Empirischen Studien, die einmal systematisch nach ähnlichen oder unterschiedlichen Aneig-
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nungen von Rock ’n’ Roll-, Beat-, Pop- oder Rock-Sounds in beiden Ländern fragen, liegen bislang nicht vor. Ebenso fehlt es an Untersuchungen, die konkrete, damals ebenso zunehmende innereuropäische und bundesdeutsch-französische Grenzüberschreitungen populärer Musik betrachten. Unterbelichtet bleiben damit Transfers, die im Abgleich mit anglo-amerikanischen Klängen das landläufige Bild einbahnstraßenartiger flows mit komplexeren Zirkulationsprozessen und Verflechtungsbilanzen konfrontieren könnten. Von einem gezielten zeithistorischen Aufarbeiten der Materie oder gar einer französisch-westdeutschen Verflechtungsgeschichte populärer Musik auf der Folie innereuropäischer wie transatlantischer Austauschdynamiken der frühen Nachkriegsjahrzehnte kann demnach keine Rede sein. Erforscht sind allenfalls kleinere Ausschnitte und einzelne Aspekte und dies oft eher bruchstückhaft, empirisch unbefriedigend und ohne erkenntnisleitende Konzepte. Um zu einer Gesamtschau zu gelangen, sind methodisch Ansätze des historischen Vergleichs, des Kulturtransfers sowie einer selbstreflexiven histoire croisée aufzugreifen, die Vergleichs- und Transfermomente miteinander kombiniert und die Potenziale transnationalen Austauschs betont, ohne nationalspezifische Bezugsrahmen oder Ausprägungen kultureller Artikulationen zu negieren.1 Im Zentrum steht, den komplexen, wandelbaren, selten reziproken populärmusikalischen Interaktionen nachzugehen und – über die zweipolige Anlage klassischer Transferforschung hinaus – mannigfaltige Bewegungsrichtungen zu berücksichtigen. Den Fokus auf selektive Aneignung in je spezifisch geprägten Aufnahmegesellschaften zu legen, teilt die histoire croisée zudem mit einer transnational erweiterten Feldtheorie à la Bourdieu. Gemeint sind kulturelle Felder und offene dynamische Räume verdichteter Transfers, wechselseitiger Referenz und permanenter Aushandlung, die Nationales relativieren oder auch bestärken können, zugleich neue, eigenständige Denkfiguren, Handlungslogiken und Dialogstrukturen ermöglichen. Doch welche wären nun die zentralen Gegenstände, Problemfelder und Leitfragen einer französisch-westdeutschen Geschichte populärmusikalischer Verflechtung in den 1950er und 1960er Jahren, welche die möglichen Erkenntniszuwächse, die ein zeithistorisches Beschäftigen mit Phänomenen, Produkten und Praktiken populärer Musik in beiden Ländern unter den genannten Prämissen erwarten lässt? Mit der Absicht, den Mehrwert eines solchen Vorhabens zu unterstreichen und den Reiz künftiger empirischer Arbeiten zu veranschaulichen,
1
Zuletzt Werner, Michael: »Kulturtransfer und histoire croisée. Zu einigen Methodenfragen der Untersuchung soziokultureller Interaktionen«, in: Stephan Braese/Ruth Vogel-Klein (Hg.), Zwischen Kahlschlag und Rive Gauche. Deutsch-französische Kulturbeziehungen 1945-1960, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 21-42.
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werde ich auf den folgenden Seiten zentrale Aspekte populärmusikalischer Verflechtung skizzieren, die zugleich eng wechselseitig aufeinander bezogen sind.
AMERIKANISCHES & E UROPÄISCHES Dass sich die Zeitgeschichtsforschung transnationaler Populärkultur nach 1945 jahrzehntelang unter dem Amerikanisierungsparadigma europäischer Nachkriegsgesellschaften angenähert hat, kann kaum verwundern. Die Vereinigten Staaten übernahmen bei Kriegsende endgültig die Rolle als westliche Vormacht, galten zudem als Vorreiter einer modernen Massenkonsumgesellschaft. Amerikanisches setzte auch in der Populärkultur mehr und mehr Zeichen, weckte Sehnsüchte der Einen, Sorgen der Anderen, verband sich mit verheißungsvollen wie mit traumahaften Zukunftsszenarien. 2 Gleichwohl sind schematische Vorstellungen einer ›Populärkultur der Welt‹, die mit Ausnahme des Sports nach 1945 amerikanisch gewesen oder provinziell geblieben sei,3 aus europäischem Blickwinkel näher zu hinterfragen. Zwar war Populärkultur gewiss ein Herzstück dessen, was Europa als faktische oder scheinbare ›Amerikanizität‹ wahrnahm und was gerade jüngeren Menschen daran attraktiv erschien. Doch ›Amerika‹ war stets auch Chiffre und Subtext.4 Europäerinnen und Europäer, die dies wollten, haben sich letztendlich selbst amerikanisiert, haben Verfügbares ausgewählt, alltagspraktisch genutzt und dabei in den einzelnen Ländern wieder Europäisches ›gebastelt‹.5 Mithin sind Amerikanisches und Europäisches selten trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern in mancherlei Hinsicht eng und komplex miteinander verflochten. Schon angesichts solcher Vorannahmen stellt sich die Frage, ob nicht etliche gängige Amerikanisierungsgeschichten für Populärkultur der frühen Nachkriegsjahrzehnte offener und differenzierter als Europäisierungs- oder transatlantische Verflechtungsgeschichten zu erzählen sind. Bei aller prägenden öffentlichen Wirkung, die der Rock ’n’ Roll wie auch damit konnotierte Jugendkulturen – speziell die europaweiten ›Halbstarken‹-Phänomene – seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre beanspruchen können, sind doch Vorstellungen einer eindeutig zugunsten 2 3 4
5
Vgl. Schröter, Harm G.: Winners and losers. Eine kurze Geschichte der Amerikanisierung, München: C.H. Beck 2008, S. 63f. So Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: Hanser 1995, S. 251f. Vgl. Kroes, Rob: »Cool hand luck. How America played its hand entertaining the world«, in: Astrid M. Fellner (Hg.), Is it ’cause it’s cool. Affective encounters with american culture, Münster: Lit 2014, S. 75-92. Vgl. z.B. Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn: BPB 2009, S. 187-189.
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der USA ausfallenden musikalischen Verflechtungsbilanz zu relativieren. Oft waren es europäische Künstler mit ›nationalisierten‹ Cover-Versionen, in Frankreich und Westdeutschland auch gern mit Texten ohne jeglichen Bezug zu den Originalen, die Rock ’n’ Roll und den US-Stars nachträglich Bekanntheit verschafften. In den einheimischen Jahreshitparaden und Verkaufsbestenlisten fanden sich bis weit in die 1960er Jahre hinein fast durchgängig deutsche bzw. französische Titel auf den Spitzenpositionen.6 Zugleich begannen sich innereuropäische Verflechtungen populärer Genres zu verstärken. Grenzüberschreitend nachgefragte Jugendradioformate kommerzieller, dann auch öffentlich-rechtlicher Anbieter mochten eine Rolle spielen oder auch ›junge‹ Musiksendungen im Fernsehen, die bewusst aus den eingefahrenen Bahnen national dominierter Szenen ausscherten.7 Auch der Grand Prix Eurovision de la Chanson mauserte sich im Laufe der 1960er Jahre mehr und mehr von einer gediegenen Komponistenkonkurrenz zu einem Populärkultur-Event.8 Bislang gibt es kaum mehr als rudimentäre Informationen und Erkenntnisse über massentaugliche oder spartenorientierte audio-visuelle Formate in der Bundesrepublik, die Sängerinnen und Sänger aus dem Nachbarland präsentiert, über Fangemeinden und Fanclubs, die sich gebildet, über Perzeptionsmuster und Verständigungseffekte, die sich daran geknüpft haben. Für Transfers in die umgekehrte Richtung stellt sich die Situation nicht anders dar, so dass für einen Abgleich transatlantischer und europäischer bzw. deutsch-französischer Interaktionen populärer Musik weiter die Grundlagen fehlen.
R OCK ’ N ’ R OLL & B EAT -R EZEPTION Eine vergleichende Rezeptionsgeschichte des Rock ’n’ Roll seit Mitte der 1950er Jahre liegt für Deutschland und Frankreich erst in Ansätzen und in Form allgemeiner Aussagen vor.9 Hier wie dort begannen sich damals junge Leute als soziale
6 7 8
9
Dazu Maase, Kaspar: Was macht Populärkultur politisch?, Wiesbaden: VS 2010, S. 5254. Vgl. Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen: Wallstein 2006. Vgl. Fickers, Andreas: »Eventing Europe. Europäische Fernseh- und Mediengeschichte als Zeitgeschichte«, in: Dietmar Hüser/Jean-François Eck (Hg.), Medien – Debatten – Öffentlichkeiten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2011, S. 283-306, hier S. 299f. Vgl. Hüser, Dietmar: »Amerikanisches in Deutschland und Frankreich. Vergleich, Transfer und Verflechtung populärer Musik in den 1950er und 1960er Jahren«, in: Frankreich-Jahrbuch 18 (2005), S. 199-218.
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Gruppe mit spezifischer Handschrift, als culture jeune bzw. Jugendkultur wahrzunehmen. Hier wie dort orientierte sich nun Jugend mehr und mehr an eigenen Werten und Worten, Produkten und Praktiken, Filmstreifen, Radiosendungen und Zeitschriften, nicht zuletzt an eigener Musik – besonders dem Rock ’n’ Roll. Als Rock ’n’ Roll seinen Siegeszug antrat, stellten sich die Rezeptionskontexte in Frankreich und Westdeutschland teilweise recht ähnlich dar, teilweise aber auch grundverschieden. Bei allen Abweichungen im Detail drückten der europaweite Nachkriegsboom, das einsetzende Zeitalter des Massenkonsums für immer breitere Schichten, der Baby-Boom und die neue Jugend- und Medienkultur beiden Gesellschaften den Stempel auf. Ebenso gleichförmig fielen kurz- und mittelfristige Reaktionsmuster aus: die anfangs massive, nicht nur elterliche Abwehrfront gegenüber Rock ’n’ Roll, später dann – im Laufe der 1960er Jahre – das immer massenhaftere Aneignen von rockmusikalischen Spielarten und Beat, der seit 1963/64 von Großbritannien aus die populäre Musikwelt eroberte. Zugleich fallen gewichtige Unterschiede ins Auge. Neben gewissen Zeitverschiebungen im öffentlichen Wahrnehmen von Rock ’n’ Roll, ›Halbstarken‹ bzw. blousons noirs sind besonders die viel negativeren US-Diskurse und -Bilder in Frankreich hervorzuheben, daneben die Rolle einer kulturell hegemonialen parti communiste und einer außenpolitischen Strategie des ›schwierigen Partners‹ gegenüber Washington: beides im Adenauer-Staat undenkbar. Auch blieb die populäre Musikszene im französischen Fall stärker national eingefärbt, die Eindringtiefe amerikanischer Klänge geringer, der Wille hingegen umso größer, im Zuge der Aneignung daraus eine Stilrichtung à la française, eine synthèse locale zu basteln.10 Über die späten 1950er und frühen 1960er Jahre hinaus stellt sich die Frage nach strukturellen Parallelen und Divergenzen in den Aufnahmekontexten wie den Kulturbetrieben. Ohne näher vergleichend untersucht zu sein, dürften etliche nationale Rahmungen im Zuge selektiver Aneignung einer anglo-amerikanischen Rock-, Pop- und Beatmusik fortgewirkt haben, die nun immer schichten- und generationsübergreifender Erfolge feierte. In Westdeutschland ging die erdrückende Dominanz schlagerhafter Genres auf dem Musikmarkt dauerhaft verloren. Im Durchschnitt des Jahrzehnts 1956-1965 rangierten 16,4 deutschsprachige Stücke pro Jahr unter den 20 meistverkauften Single-Platten, 1966-1975 waren es im Schnitt noch 7,2 Titel.11 Mit dem weltweiten Siegeszug der Beatles und der Rockund Pop-Welle der Folgezeit hatten sich die Verhältnisse schlagartig umgekehrt; 10 Vgl. d’Angelo, Mario: Socio-économie de la musique en France: diagnostic d’un système vulnérable, Paris: La Documentation française 1997, S. 19. 11 Zahlen berechnet nach Herrwerth, Thommi: Katzenklo & Caprifischer. Die deutschen Hits aus 50 Jahren, Berlin: Rütten & Loening 1998.
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die im Januar 1969 anberaumte ZDF-Hitparade mit konsequent und exklusiv deutschsprachigem Schlagerliedgut vermochte nichts mehr zu ändern. Auch in Frankreich zogen englischsprachige Titel in die Bestenlisten ein. Freilich blieb der Nährboden für angelsächsische Kulturimporte weniger fruchtbar,12 aufkommende internationalistische Rhetorik im populären Musikbetrieb behielt konzeptionell »a nationalist tone«.13 In beiden Ländern meinte kreatives Aneignen im Zeichen von Rock ’n’ Roll, dann Beat das Nachahmen und Adaptieren angelsächsischer Vorbilder, in Frankreich entwickelten sich daraus aber vielfach eigenständigere, als heimisch wahrgenommene, dauerhaft stilbildende Szenen heraus: etwa eine génération yé-yé, die Rock, Beat und Pop adaptierte, zugleich als Exportschlager dem french touch europaweit Geltung verschaffte.14
B INNENEUROPÄISCHES & D EUTSCH -F RANZÖSISCHES Wenn es darum gehen soll, die geschilderte Präsenz und Rezeption anglo-amerikanischer Rock-, Pop- und Beatmusik in Bezug zu setzen mit den anschwellenden innereuropäischen, nicht zuletzt französisch-westdeutschen populärmusikalischen Transfers der frühen Nachkriegsjahrzehnte, dann gilt es – mehr noch als bei transatlantischen Transfers – zunächst einmal Grundlagenforschung zu betreiben. Wie stand es konkret um deutsche Stars und Sternchen in Frankreich, in Publikumsund Jugendzeitschriften oder audiovisuellen Medien? Welche Reaktionen lassen sich aufzeigen? Wie erfolgreich waren welche Stücke, Genres und Interpreten aus Frankreich in der Bundesrepublik? Wer trat zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort auf, in welchem Rahmen und mit welcher Resonanz? Besonders muss es darauf ankommen, die Aneignungsprozesse möglichst differenziert zu durchleuchten und zu plausibilisieren: Welche (Alters-, Sozial-, Geschlechts-)Gruppen hörten primär welche Genres aus dem Nachbarland und in welcher Form: individuell oder kollektiv, in Familie oder Freundeskreis, bei Großveranstaltungen? Zu welchen Zeiten geschah dies vornehmlich und in welchen Rhythmen, in welchen Räumen und an welchen Orten, eher regelmäßig und seriell zuhause oder eher einmalig und eventhaft außerhäuslich? Welche sinnlichen wie
12 Vgl. D. Hüser: Amerikanisches in Deutschland und Frankreich, S. 209f.; Eclimont, Christian-Louis: Rock’o’Rico. 25 ans de culture rock en France, Paris: Gründ 2012, S. 52f., 78 u. 82. 13 Briggs, Jonathyne: Sounds french. Globalization, cultural communities and pop music 1958-1980, Oxford: Oxford UP 2015, S. 42. 14 Vgl. Tinker, Chris: Mixed messages. Youth magazine discourse and sociocultural shifts in Salut les copains 1962-76, New York u.a.: Lang 2010, S. 83-93.
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körperlichen Erfahrungen verbanden sich damit, und welche Motive für das Aneignen deutscher oder französischer Musikstile waren unterscheidbar: Distinktionsgewinne, Anerkennungserfolge, Ermächtigungs- und Eigensinn-Chancen, Vergemeinschaftungseffekte, Unterhaltungsbedürfnisse? Welche Bedeutungszumessungen, welche modifizierten Weltsichten, welche alltags- und handlungspraktischen Konsequenzen gingen möglicherweise auf das Aneignen dieser oder jener Genres, Texte und Sounds zurück? Um Rezeptionsmuster im jeweils anderen Land oder in den Grenzräumen zu rekonstruieren bietet es sich an, zunächst massenmediale Formate auszuwerten: Jugendzeitschriften etwa, auflagenstarke Publikums- und Rundfunkzeitschriften, musikbasierte TV-Sendungen oder Radioformate kommerzieller Anbieter wie RTL und Europe1 oder grenznaher Rundfunkanstalten wie dem Südwest- oder dem Saarländischen Rundfunk, der damals mit Chanson de Paris und C’est ça qu’on chante en France regelmäßig die Musikszene im Nachbarland beleuchtete. Für Konzerte im Nachbarland bzw. im Grenzraum lassen neben Tagespresse und Stadtarchiven die bislang als Quelle unterschätzten Bild- und Interviewbände sowie die (auto-)biographischen Schriften ausgewählter Künstlerinnen und Künstler weitere Aufschlüsse erwarten. Um Alltagswelten und Lebenspraktiken junger Menschen zu erhellen wird über Zeitzeugengespräche hinaus systematisch auf verfügbare Zuhörer- und Zuschauerpost, auf überlieferte Materialien früherer oder bis heute existierender Fanclubs sowie auf aktuelle Internet-Portale zurückzugreifen sein.
V ERFLECHTUNGEN & ASYMMETRIEN Für die Prämisse steter Dynamik und komplexer Zirkulation populärkultureller Akteure, Phänomene und Praktiken sind Musikstile – wie etwa die kaum abgrenzbaren Rock-, Beat- und Popklänge, 15 aber auch Chansons, Protestlieder oder Schlagermelodien der langen 1960er Jahre – ein Paradebeispiel. Denn transatlantisch wie innereuropäisch funktionierten Kulturtransfers im Bereich populärer Musik der 1950er und 1960er Jahre weder als Einbahnstraße noch gleichmäßig in alle Richtungen. Auch im französisch-westdeutschen ›Musik-Feld‹ lässt sich begründet von ›asymmetrischen Interdependenzen‹16 ausgehen: Auf der Hand liegt,
15 Dazu Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek (Hg.), Popgeschichte, Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: transcript 2014. 16 Fickers, Andreas: »Looking east – Watching west? On the asymmetrical interdependencies of Cold War European communication spaces«, in: Kirsten Bönker/Sven
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dass sich bundesdeutsche Klänge und Sternchen in Frankreich seltener, allenfalls – was bislang niemand erforscht hat – in germanophonen Grenzräumen breiter und beständiger rezipiert fanden. Dagegen gelang es zahlreichen französischen bzw. frankophonen Sängerinnen und Sängern verschiedenster Genres, beim Nachbarn populär zu werden und massenmedial Fuß zu fassen: Charles Aznavour, Barbara, Brigitte Bardot, Gilbert Bécaud, Dalida, France Gall, Serge Gainsbourg, Juliette Gréco, Johnny Hallyday, Françoise Hardy, Mireille Mathieu – um nur einige zu nennen.17 Westdeutsche Künstler in Frankreich konnten damals keine vergleichbaren Erfolge verbuchen. Weder Gastspiele von Peter Kraus in TV-Jugendmusiksendungen um 1960, später dann sporadische TV- und Bühnenauftritte von Udo Jürgens, Alexandra oder Mary Roos noch die Anerkennung, die Reinhard ›Frédérik‹ Mey mit seinen frühen französischen Alben ab 1968 erfuhr, widersprechen dem Befund. Wer einmal daran geht, das wissenschaftliche Brachland für die 1950er und 1960er Jahre zu beackern, wird wohl weitere spannende, im kollektiven populärmusikalischen Gedächtnis weitgehend verschollene Fundstücke zutage fördern: etwa ein binationales Fernsehformat wie Rendez-vous sur le Rhin / Rendez-vous am Rhein seit 1963, eine deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion, moderiert von Albert Raisner, aufgenommen im Straßburger Hafen, dann in beiden sowie Drittländern zeitversetzt ausgestrahlt.18 Stets wird es sich dennoch um prominente Ausnahmen von der Regel einer Nicht-Rezeption deutscher Lieder und Interpreten im Nachbarland handeln. Damit stehen die geschilderten Austauschprozesse fraglos für ein ›Musik-Feld Europa‹ mit anschwellenden binneneuropäischen flows parallel zu den transatlantischen Transfers, zugleich aber für asymmetrische Interaktionen und deutschfranzösische Ungleichzeitigkeiten in der wechselseitigen Kulturrezeption, die doch selten gleichmäßig in beide Richtungen verlief.19
Grampp/Julia Obertreis (Hg.), Television beyond and across the Iron Curtain, Cambridge: Cambridge UP 2016, S. 2-24. 17 Vgl. Siegmund Helms (Hg.), Schlager in Deutschland. Beiträge zur Analyse der Popularmusik und des Musikmarktes, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1972, S. 177-236. 18 Als Beispielsendung vgl. Rendez-vous sur le Rhin, aufgenommen vom 6.-8. Juni 1967, ausgestrahlt im SWF am 18.7.1967, im ORTF am 19.8.1967. 19 Vgl. Christadler, Marieluise: Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen seit 1945, Auswahlbibliographie 1991-2000, Ludwigsburg: Deutsch-Französisches Institut 2001, S. 2 u. 8.
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G ENRES , K ÜNSTLER & S ZENEN Doch welche Genres, Künstler und Szenen sind vorrangig gemeint? Ein eindeutiges Nischenkultur-Phänomen waren seit den 1950er Jahren die sog. Exis, die sich Cool Jazz-Spielarten verpflichtet fühlten und an der Existentialisten-Szene des Pariser Rive Gauche orientierten. Die vielfach schattierte ›Exi-Jugend‹ stammte meist aus bürgerlich-bildungsnahen Kreisen mit Hochburgen im gymnasialen und studentischen Milieu. Kurze Haare im ›Cäsarenschnitt‹, dunkle Hosen und Rollkragenpullover galten als männliche Markenzeichen. Auch die Mädchen trugen vorzugsweise schwarz, lange Haare mit Pferdeschwanz und Pony à la Juliette Gréco oder Kurzschnittfrisuren wie Jean Seberg in Godards A bout de souffle. Distanziert gegenüber dem american way of life, setzten sich die Exis bewusst von arbeiterjugendlichen Ausdrucks- und Verhaltensformen ab, kombinierten antiproletarische Grundhaltungen mit konventionslos-antibürgerlichen Attitüden zu einer jugendlichen Gegenkultur und Zivilisationskritik. Nicht wildes Tanzen und ostentative Körperlichkeit im Zeichen des Rock ’n’ Roll standen im Vordergrund, eher schon kennerhaft-genießerisches Zuhören in düsterem Ambiente und Fachsimpeleien über die gehörte Musik, über Philosophie und Literatur.20 Auf schichten- und geschlechterübergreifend offene Ohren gerade jugendlicher Musikfans stießen im Zeichen der einsetzenden Beatwelle die junge Garde der yé-yé-Idole mit eingängigen, meist deutsch vorgetragenen schlagerähnlichen Liedern à la française.21 Anfangs eng angelehnt an angelsächsische Vorbilder, war im Frankreich der späten 1950er Jahre eine stilbildende génération yé-yé entstanden, die mit weiblichen Trendsettern – Françoise Hardy, France Gall oder Sylvie Vartan – Rock-, Beat- und Pop-Klänge zunächst ›nationalisierte‹, dann den french touch auch ›transnationalisierte‹: Besonders massiv war die Nachfrage in südeuropäischen Ländern wie Spanien, Portugal und Italien, auf der britischen Insel sowie beim westdeutschen Nachbarn.22
20 Vgl. Krüger, Heinz-Hermann: »Viel Lärm um Nichts? Jugendliche ›Existenzialisten‹ in den 50er Jahren - Spurensuche«, in: Willi Bucher/Klaus Pohl (Hg.), Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand, S. 263-268; Braese, Stephan: »Die ›Exis‹: Eine westdeutsche Jugendbewegung aus dem Geiste des Pariser Jazz«, in: ders./R. Vogel-Klein (Hg.), Zwischen Kahlschlag und Rive Gauche, S. 199-212. 21 Vgl. Schmitz-Gropengießer, Frauke: »›Hinter den Kulissen von Paris‹. Französische Interpretinnen und Interpreten im deutschen Schlager der jungen Bundesrepublik Deutschland«, in: Michael Fischer/Fernand Hörner (Hg.), Deutsch-französische Musiktransfers, Münster: Waxmann 2012, S. 219-246. 22 Vgl. Pozzuoli, Alain: Dictionnaire des yé-yés à l’usage des fans, Paris: Pygmalion 2009, S. 487-503.
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Deutschlandweit präsent und populär zu sein oder sogar – wie etwa Françoise Hardy – von der Bravo als marktführender Jugendzeitschrift jahrelang ›adoptiert‹ zu werden, das gelang damals vielen weiteren französischen bzw. frankophonen Sängerinnen und Sängern. Auch anspruchsvolle französische Chansons in deutscher Sprache durften – egal ob von einheimischen oder Originalinterpreten wie Adamo, Aznavour, Bécaud, Dalida oder Barbara vorgetragen – auf eine treue Fangemeinde zählen. Zu Dutzenden sind solche Stücke bis weit in die 1970er Jahre hinein ins Deutsche übertragen worden, häufig allerdings in eher freier Übersetzung oder mit völlig neuem Text.23 Für Teilpubliken überaus attraktiv waren auch die ausdrücklich politik- und sozialkritischen Sparten im engeren Sinne. Aus der Perspektive einfacher Menschen und in Solidarität zu gesellschaftlich Benachteiligten boten damals Georges Brassens, Jacques Brel, Jean Ferrat, Léo Ferré und andere ein stattliches Repertoire an nonkonformistischen und anarchistisch-libertären Liedern dar, die Politisches und Poetisches in Einklang brachten, zudem bei einem französischen Massenpublikum auf offene Ohren stießen. Viele derer, die sich – bei geringerer Resonanz freilich – seit den 1960er Jahren im deutschsprachigen Raum sozialkritisch-politischen Liedern verschrieben, fanden die maßgeblichsten Inspirationsquellen im Nachbarland. Besonders faszinierte Georges Brassens mit seinen literarischen Anspielungen und intertextuellen Spielereien, die klassisches Bildungsgut mit Straßenjargon verwoben. Immer wieder bezeichnete später ein Franz Josef Degenhardt, ein Hannes Wader oder ein Walter Mossmann die Auseinandersetzung mit seinen Stücken als Initialzündung für den eigenen musikalischen Weg in die frühe westdeutsche Protestsänger- und LiedermacherSzene.24 Eine Inspiration, die wiederum französische Medien dazu brachte, über das Phänomen der faiseurs de chants zu berichten.25
23 Als einheimische Interpreten wären etwa Alexandra, Joana, Hildegard Knef, Gisela May zu nennen, in den 1970er Jahren dann auch Michael Heltau, Erika Pluhar, Klaus Hoffmann oder auch Katja Ebstein. Vgl. Bonnermaier, Andreas: »›Paris besingt man immer wieder, von Göttingen gibt’s keine Lieder‹ – Das französische Chanson in Deutschland«, in: Französisch heute 34 (2003), S. 32-47, hier S. 40f. 24 Zu Degenhardt vgl. Rupprecht, Siegfried P.: Chanson-Lexikon. Zwischen Kunst, Revolution und Show, Berlin: Imprint 1999, S. 101-103; zu Wader vgl. Funk, Anne: »So eine Art Heino, der es nie geschafft hat«, in: Saarbrücker Zeitung vom 12.3.2002; zu Mossmann vgl. Frey, Jürgen: »Der Streitbare«, in: Badische Zeitung vom 3.7.2004. Überblicksartig Böning, Holger: »Die Anfänge musikalischen Protestes in der Bundesrepublik und der DDR. Ausländische Einflüsse im politischen Lied«, in: Arnold Jacobshagen/Markus Leniger (Hg.), Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968, Köln: Dohr 2007, S. 183-192. 25 Vgl den Artikel N.N.: »Les ›faiseurs de chants‹«, in: Le Monde vom 22.1.1971.
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K ULTURELLES & P OLITISCHES Zeitgeschichte, die sich mit Populärkultur befasst, kann keine l’art-pour-l’artÜbung sein, sondern muss, dem Nexus von populären Künsten und dem Wandel politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse auf den Grund gehen. Zwar hat Populärkultur als ernstzunehmender Faktor sozio-kultureller und politisch-kultureller Transformation zuletzt durchaus an wissenschaftlicher Relevanz gewonnen. Gleichwohl sind im deutschen wie im französischen Fall zeithistorische Betrachtungen, die konsequent Politisches im Kulturellen erforschen, eine ebenso markante Ausnahme wie Studien, die eine stets gern eingeforderte Kulturgeschichte des Politischen von der Kulturseite statt von der Politikseite her angehen. Eine französisch-westdeutsche Verflechtungsgeschichte populärer Musik hat deshalb die Genres, flows und Szenen systematisch auf inhärente gesellschaftliche und politische Veränderungspotenziale hin abzuklopfen und ein besonderes Augenmerk auf die Rolle des Transnationalen für Liberalisierungs-, Pluralisierungs- und Demokratisierungsprozesse in den 1950er und 1960er Jahren zu legen. Die Ausgangsprämisse lautet, dass verschiedene Muster politisch aufgeladener Musikgenres in den Nachkriegsjahrzehnten auf jeweils spezifische Art und Weise eine hohe Veränderungsdynamik entfaltet haben und dass gerade junge Menschen die eng miteinander verzahnten Klang- und Lebenswelten als Experimentierfeld nutzten, um tradierte Repräsentationsformen und Autoritätsstrukturen kritisch zu beleuchten, um Informalisierungstrends hin zu autonomeren Verhaltenspraktiken zu befördern,26 um neue nicht-institutionalisierte Formen politischer Artikulation und Partizipation als eine ›Demokratisierung durch populäre Musik‹ hoffähig zu machen.27 Es sind transnationale Musikformen und Musikgenres, die überall in Europa, fraglos auch in Frankreich, ähnliche, dauerhaft spürbare gesellschaftliche Konsequenzen nach sich gezogen haben. Mehrere Muster des potenziell Politischen im Populären lassen sich ausmachen. Dabei standen Genres wie Rock ’n’ Roll und seine Spielarten seit Mitte der 1950er Jahre für ein erstes Muster des ›Populär-Politischen‹ durch Fremd-Zuschreibung, das eher indirekt und mittelbar Effekte erzielte: durch moral panics, durch öffentliche Debatten, Reaktionen und Widerstände in Politik, Wissenschaft, Medien, Verbänden, Kirchen und unter all denen, die sich aus Sorge vor Kontrollverlust, vor verrückten Grenzen im Normen- und Wertegefüge berufen fühlen, vor
26 Elias, Norbert: »Zivilisation und Informalisierung«, in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Suhrkamp 41990, S. 31-158. 27 D. Siegfried: Time is on my side, S. 108.
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heimischem, erst recht von fremdem ›Schmutz und Schund‹ zu warnen.28 Einem zweiten Muster des ›Populär-Politischen‹ durch Selbst-Einmischen entsprachen Protestsongs der 1950er und 1960er Jahre aus Rock- und Folk-, Liedermacherund engagierten Chanson-Richtungen, die ganz ausdrücklich und unmittelbar politisiert waren: sei es als greifbare gesellschafts- und politikkritische Botschaften in Musiktexten, sei es als Künstler-Statements zu den herrschenden Verhältnissen oder die gesuchte Nähe zu Protestbewegungen. Ein drittes Muster des ›PopulärPolitischen‹ durch Eigen-Sinn und Habitus machten mainstreamorientierte Schlager-, Beat- oder yé-yé-Varianten aus, die weder ›fremd-‹ noch ›selbst-politisiert‹ waren, wohl aber generationelle Spannungen über Konsum, Kleidung, Sprache etc. emotional begleiten konnten wie auch jugendliche Wünsche nach einem Weniger an gesellschaftlichen, elterlichen, schulischen oder beruflichen Zwängen, einem Mehr an Freiheit, an erlebter oder imaginierter Grenzüberschreitung und Horizonterweiterung.29 Herauszufiltern aus diesen pragmatisch unterscheidbaren Mustern einer ›Fremd-‹, ›Selbst-‹ und ›Habitus-Politisierung‹ sind besonders die jeweils spezifischen Effekte und Potenziale transnationaler Sounds für das Verschieben von Grenzen des Sag- und Machbaren im öffentlichen Raum, für ähnliche oder verschiedene, häufig kontroverse Umgangsformen mit ›fremden‹ Artefakten und Praktiken. Analysen über soziale Eindringtiefe und nationales Überformen populärer Musik erlauben letztlich politisch-kulturelle Rückschlüsse auf länderspezifische Selbst- und Demokratieverständnisse, auf gesellschaftliche Toleranz und politische Liberalität. Auch im französischen und westdeutschen Fall fanden sich in den 1950er und 1960er Jahren tradierte Repräsentationsformen und Autoritätsstrukturen musikalisch und lebensweltlich hinterfragt, ›anti-respektable‹ Verhaltensstile befördert, neue Wege politischer Artikulation und Partizipation angebahnt.30 Meinungsumfragen zufolge gingen traditionelle Pflichtwerte zurück, Toleranz- und Selbstentfaltungswerte nahmen zu. Debatten über kulturell Fremdes, über lange tabuisierte Gesellschaftsfragen entspannten sich. Im Zusammenspiel von Jugend, Musik, Medien, Mode, Kulturindustrie, auch im Gegeneinander von Befürwortern und Wi-
28 Für Frankreich vgl. Middendorf, Stefanie: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880-1980, Göttingen: Wallstein 2009, S. 423f. 29 Vgl. Hüser, Dietmar: »Miracle démocratique dans l’Allemagne de l’Ouest des décennies d’après-guerre - Histoire de la culture de masse comme histoire culturelle du politique«, in: Histoire, économie et société – Époques moderne et contemporaine 35 (2016), H. 2, S. 14-31, hier S. 19-27. 30 Pointiert Kaelble, Hartmut: Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989, Bonn: BPB 2011, S. 98-107.
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dersachern, war allenthalben zu erkennen, wie sich Weltsichten, Bewusstseinshorizonte und Lebensentwürfe zu verändern begannen: häufig zunächst im Denken und Handeln kleinerer Gruppen, dann infolge öffentlicher Debatten und verschobener Machtbalancen als neue dominante Diskurse, Werte und Praktiken breiterer Bevölkerungskreise.31 Auch büßten gängige Negativdiskurse über populäre Künste mehr und mehr an Boden ein gegenüber einer Sichtweise, nach der es sich um eine Art ›Normalkultur‹ westlich-liberaler Massendemokratien handele.32
F AZIT & AUSBLICK Die vorliegenden Ausführungen verstehen sich als aktuelle Bestandsaufnahme und künftiges Forschungsdesign für eine deutsch-französische Verflechtungsgeschichte populärer Musik auf der Folie innereuropäischer wie transatlantischer Austauschdynamiken der frühen Nachkriegsjahrzehnte. Einige der relevanten Spannungsfelder, in denen sich eine solche Geschichte verorten müsste, sind beleuchtet worden, andere wären noch genauer zu benennen. Etwa im Bereich der Medialisierung und Medienpraktiken, der Zeiten und Rhythmen, der Orte und Räume musikalischer Aneignung. Dazu gehört das Nutzen serieller Formate, aber auch die Dialektik aus ständigem Musikhörenkönnen, regelmäßigen Offerten und prägenden Highlights, aus routinisierter und eventhafter Teilhabe, die im damaligen Medienensemble wechselseitige Verstärkereffekte gehabt und das Entstehen einer ›Stil-‹ und ›Konsumgeneration‹ befördert haben dürfte. Auch gender- und class-Aspekte drückten kulturellen Praktiken wie öffentlichen Debatten mit Rockund Popbezug den Stempel auf, von ›kreischenden‹ Mädchen in Konzertsälen bis zu jungen Leuten aus bürgerlichen Familien, die ›klassenfremde‹ Dress- und Sprachcodes fernab elterlicher Statuskultur kopierten, um Eigen-Sinn zu demonstrieren. All dies wird eine europäische und deutsch-französische Zeitgeschichte künftig noch weiter und breiter zu erforschen haben, auch viel konsequenter als bisher in transnationaler Perspektive.33 31 Dazu Rödder, Andreas: »Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept«, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hg.), Gab es den Wertewandel? – Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München: Oldenbourg 2014, S. 18-39, hier S. 36f. 32 Vgl. Maase, Kaspar: »Happy Endings? Massenkultur und Demokratie in Deutschland im 20. Jahrhundert«, in: Angelika Linke/Jakob Tanner (Hg.), Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa, Köln: Böhlau 2006, S. 137-160. 33 Programmatisch nun Dietmar Hüser (Hg.), Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld: transcript 2017 [im Erscheinen].
Grenzen überschreiten durch den historischen Vergleich H ARTMUT K AELBLE
Überschreiten wir Grenzen, wenn wir international vergleichen? Begeben wir uns in neue Situationen, in denen unsere gewohnten Begriffe und Konzepte in unsicherem, neuem Gelände ins Schwanken geraten, sie umdefiniert werden müssen und wir einen neuen Blick auf das Eigene bekommen? Oder mauern wir uns beim Vergleich ein, weil wir im Vergleich nur das Eigene suchen wollen, den Anderen nur als Projektionsfläche benutzen, das konstruierte Eigene dem konstruierten Anderen gegenüberstellen und damit gleichsam den kleinstmöglichen Grenzverkehr, aber keine Grenzüberschreitungen suchen? Es gibt durchaus den internationalen Vergleich ohne wirkliche Grenzüberschreitung. Wir verfügen über eine Sprache, in der wir im internationalen Vergleich keine wirklichen Grenzen überschreiten. Der Ausdruck der Europäisierung, wie er noch bis vor rund zwanzig Jahren verwandt wurde, konnte in einen solchen Vergleich ohne Grenzüberschreitung hineinführen. Europäisierung bedeutete damals Europäisierung der Welt, also die Verbreitung europäischer Wertvorstellungen, Konzepte und Technologien in der ganzen Welt. Vergleichen hieß, die gewohnten europäischen Konzepte in der Welt außerhalb Europas zu suchen und sich zu vergewissern, dass das europäische Eigene auch außerhalb Europas zu finden war. In einer Weltgeschichte um 1960 wurde dieser Vergleich ohne Grenzüberschreitung besonders radikal so ausgedrückt: »Weltgeschichtliche Betrachtung verlangt etwas anderes als eine möglichst große Zahl von Einzeltatsachen. Ihr Objekt ist nur das universalhistorisch Bedeutsame. […] Von unserem heutigen Standpunkt aus können wir die Geschichte ganzer Kulturvölker ignorieren, wie beispielsweise die vorspanischen
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Kaiserreiche in Mittel- und Südamerika oder die indischen und ostasiatischen Kulturen.«1 Dieses Verständnis des Ausdrucks ›Europäisierung‹ ist heute weitgehend aufgegeben, aber in Ausdrücken wie ›Kolonialismus‹, ›Konsumrevolution‹ oder ›Amerikanisierung‹ kann dieser Vergleich ohne Grenzüberschreitung immer noch fortleben. Alle diese und andere Ausdrücke für weltweite Prozesse können suggerieren, dass ein Konzept an einer Stelle der Welt entwickelt und dann kaum verändert überall auf der Welt übernommen wurde. Der Vergleich besteht dann darin, dass anderswo in der Welt koloniale Herrschaftskonzepte oder Konsumgegenstände jenseits des europäischen oder amerikanischen Ausgangspunkts gesucht und aufgefunden werden. Charles Tilly hatte diesen Vergleich ohne Grenzüberschreitung in dem Ausdruck des einschließenden Vergleichs (encompassing comparison) zu fassen versucht. Er meinte damit, dass man bei diesem Vergleich letztlich in der eigenen Welt bleibt, etwa im eigenen Imperium, und sich mit einem Teil dieser eigenen Welt befasst, ohne wirkliche Grenzen zu überschreiten.2 Allerdings ist der historische internationale Vergleich in der Regel doch grenzüberschreitend, und zwar aus vier Gründen: 1) Historiker sind es gewohnt, in ihrem ureigenen Feld fortwährend Grenzen zu überschreiten. Sie müssen die Grenzen zwischen der eigenen Zeit und der Epoche, die sie untersuchen, passieren. Sie sind es gewohnt, diese Grenze zu reflektieren und zu respektieren, nicht einfach Fragen und Begriffe der Gegenwart auf die vergangene Epoche anzuwenden, sondern die untersuchte Epoche aus ihrem eigenen Kontext zu verstehen. Sie wissen, dass trotz derselben Worte eine Universität, ein Handwerksbetrieb oder eine Familie um 1800 ganz anders funktionierte als eine Universität, ein Handwerksbetrieb, eine Familie um 2000. Historiker kennen auch die Spannungen, die sich aus dieser Grenzüberschreitung ergeben, den Balanceakt zwischen dem Aufwerfen von Fragen der eigenen Zeit und den ganz anderen Grundfragen der fremden, anderen Epoche. Sie haben meist die Erfahrung gemacht, sich in den untersuchten, ihnen fremden, früheren Epochen erst einmal zurechtfinden zu müssen. Das gilt sogar für vergangene Epochen, die Historiker selbst erlebt haben. 2) Historiker sind an Grenzüberschreitungen auch durch ihre Quellenarbeit gewohnt. Sie wissen aus den schriftlichen und bildlichen Quellen, die sie benutzen, dass die historische Sprache und die historischen Bilder andere Bedeutungen haben als in der eigenen Gegenwart, man sich in die Sprache und die Bildzeichen der Quellen eindenken muss und sich dadurch auch der Blick auf die Gegenwart 1 2
Meyer, Karl: Weltgeschichte im Überblick, Zürich: Büchergilde Gutenberg 1961, S. 21. Vgl. Tilly, Charles: Big structures, large processes, huge comparisons, New York: Russell Sage Foundation 1984.
G RENZEN
ÜBERSCHREITEN
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verändern kann. Sie wissen, dass Quellenarbeit Übersetzen im doppelten Sinne des Worts ist, einerseits ›Übersetzen‹ im Sinne des Dolmetschens, anderseits aber auch ›Übersetzen‹ im Sinne des Übergangs an ein anderes Ufer. 3) Historiker sind trainiert, bei internationalen Vergleichen nicht nur einzelne Aspekte einander gegenüberzustellen, sondern auf die unterschiedlichen Kontexte der verglichenen Gesellschaften zu achten. Sie stellen nicht nur die Jahre der Abschaffung der Todesstrafe einander gegenüber, sondern versuchen auch heraus zu bekommen, welche Bedeutung die staatlichen Exekutionen in der Geschichte des Landes besaßen und wie überhaupt Bürger und Staat zu einander stehen, um die unterschiedlichen Kontexte der Todesstrafe und ihrer Abschaffung herauszuarbeiten. Dahinter steht die oft gar nicht mehr überprüfte Vorstellung, dass jedes Land eine Welt für sich ist und deshalb gleiche Sachverhalte unterschiedliche Bedeutungen bekommen, die man erst einmal ausleuchten muss. Der Vergleich bedeutet deshalb für Historiker normalerweise das Überschreiten der Grenze von einer Welt zur anderen Welt. 4) Im historischen Vergleich versuchen Historiker meist erst einmal mit der Methode des Verstehens zu arbeiten und zu begreifen, wie eine andere Gesellschaft funktioniert, welche anderen inneren Spannungen, Konsense und Prioritäten sie besitzt. Zu diesem Verstehen gehört auch, den Austausch zwischen den verglichenen Gesellschaften zu untersuchen, teils um über die Veränderungen von Bedeutungen beim Transfer die Unterschiede zwischen zwei Gesellschaften besser zu begreifen, teils aber auch, um sich von Beobachtungen von klugen Zeitgenossen über von ihnen erlebte Transfers anregen zu lassen. Diese Methode des Verstehens ist kein Alleinstellungsmerkmal der Historiker. Auch andere Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften verwenden diese Methode. Aber sie prägt die Grenzüberschreitung der Historiker im internationalen Vergleich erst einmal. Das schließt nicht aus, dass Historiker im historischen Vergleich auch analysieren und die Gründe für Unterschiede herauszufinden versuchen. Es schließt auch nicht aus, dass Historiker über den historischen Vergleich Urteile über bessere oder schlechtere Gesellschaften fällen. Aber ein verständnisloser historischer Vergleich wird bei den Fachkollegen in der Regel auf Kritik stoßen. Die Analyse und das Urteil sollte durch das ›Bad des vorhergehenden Verstehens‹ gelaufen sein, also durch die Grenzüberschreitung, die auch die eigene Gesellschaft anders aussehen lässt. Insgesamt bedeutet der historische Vergleich zwar nicht immer Grenzüberschreitung, aber die Ausbildung und Tätigkeit als Historiker sichert in der Regel, dass der internationale historische Vergleich am Ende meist doch eine Grenzüberschreitung ist und zu einem neuen Blick auf das Andere und auf das Eigene führt.
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Der historische Vergleich ist daher ein zentraler Bestandteil der transnationalen Geschichte.
The transnational origins of Dutch miners’ unionism A differential history, 1907-1926 A D K NOTTER
Several authors have argued that in the twentieth century European states experienced a ›transformation of territoriality‹ through a process of ›nationalization‹.1 Labour markets became increasingly organised and regulated nationally, by national social security schemes, collective agreements, systems of labour exchange, and migration control. As a consequence, members of the working classes began to consider themselves, and to be considered, as national citizens, and labour movements became nationalised.2 In this protracted and multiform process, which started well before 1914, the First World War is generally thought of as a watershed. Developments in two areas stand out as particularly significant: increased control of migration and monitoring of migrants to protect national labour markets, and the regulation of these markets through unemployment insurance organised or supported by the state.3
1
2
3
Maier, Charles: »Transformations of Territoriality 1600-2000«, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (eds.), Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, pp. 23-55; Noiriel, Gérard: La tyrannie du national. Le droit d’asyle en Europe 1793-1993, Paris: Calmann-Lévy 1991. Van der Linden, Marcel: »The National Integration of European Working Classes, 18701914: Exploring the Causal Configuration«, in: International Review of Social History 33 (1988), pp. 285-311. For a similar argument (partly referring to Van der Linden): Gallisot, René: »La patrie des prolétaires«, in: Le Mouvement Social 147 (1989), pp. 11-25. Lucassen, Leo: »The Great War and the Origins of Migration Control in Western Europe and the United States (1880-1920)«, in: Anita Böckler et al. (eds.), Regulation of Migration. International Experiences, Amsterdam: Het Spinhuis 1998, pp. 45-72.
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In the Netherlands, the state became more heavily involved in regulating migration and welfare arrangements such as unemployment insurance from 1918 onwards.4 Trade unions were incorporated into this system as the state began to support unemployment insurance schemes run by the unions themselves. In this contribution I will explore how this development influenced the attitude of the two Dutch miners’ unions. It is based on a close reading of both unions’ (bi)weekly magazines: De Christelijke Mijnwerker and De Mijnwerker.5 Since a much longer version of this text will be published as a chapter in a volume with full references, I will refrain from detailed annotation here and will refer to that publication.6
C ROSS - BORDER LABOUR MARKET BEFORE W ORLD W AR I
INTEGRATION
Trade unionism arrived relatively late at the Dutch coal industry, in 1907 and 1909.7 This can be explained by the small scale of coal mining in the Netherlands during the nineteenth century. Expansion only began in around 1900 with the opening of new mines, both private and state owned. In the nineteenth century, Dutch coal mining was restricted to one mine, the Domaniale Mijn, in the mining town of Kerkrade on the German border near Aachen. Geologically, socially and culturally, the Kerkrade mine was part of the Aachen mining district, which had a long history of coal mining dating back to mediaeval times. In the nineteenth and early twentieth century, Dutch miners from Kerkrade and the surrounding villages on the Dutch side of the border regularly went to work in the Aachen mines on the other side of the border, just as German miners crossed the border to work in Kerkrade. Dutch-German labour market integration was facilitated by the free and abundant circulation of German currency in the Dutch mining district. World War I brought an end to both the labour market and monetary integration. In the first decade of the twentieth century the expanding new mines around mining town Heerlen encountered several difficulties in recruiting skilled miners. 4 5 6 7
Ebd., pp. 57-58. These are available in digital form on www.shclimburg.nl/bibliotheek/mijnwerkers tijdschriften. Knotter, Ad: »Transformations of Trade Unionism (18th-21st Centuries): Comparative and Transnational Perspectives« (forthcoming). Overviews from completely different perspectives in: Dieteren, Remigius: Mens en mijn. Een halve eeuw strijd, groei en bloei van de Nederlandse Katholieke Mijnwerkersbond, Heerlen 1953; Kreukels, Loek: Mijnarbeid: volgzaamheid en strijdbaarheid. Geschiedenis van de arbeidsverhoudingen in de Nederlandse steenkolenmijnen, 19001940, Assen and Maastricht: van Gorcum 1986, here pp. 146-199.
T RANSNATIONAL ORIGINS OF DUTCH
MINERS ’ UNIONISM
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There was no tradition of mining in this area, and it had to compete with the nearby German district for attracting experienced Kerkrade miners. The Heerlen mines tried to overcome these difficulties by recruiting migrants from outside the Limburg district, both from other parts of the Netherlands and from abroad. The number of migrant workers born outside the Netherlands in all Limburg mines grew from 429 in 1905 to 2.500 in 1913 (i.e., from 17 to 24 percent). These migrant workers were mainly Germans, Slovenes and Poles, arriving from the Ruhr or the Aachen district. But many Dutch miners from other parts of the Netherlands also arrived in Limburg via German mines.
T HE
TRANSNATIONAL ORIGINS OF MINERS ’ UNIONISM
The oldest miners’ union, the Algemeene Bond van Christelijke Mijnwerkers in Nederland, commonly shortened to Christelijke Mijnwerkersbond (Christian Miners’ Union, CMB), established in 1907, was what was known as an ›inter-confessional union‹. It was modelled after the German Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands (dating from 1894).8 Since 1905 the Christliche Gewerkverein had been sending propagandists across the border to unionise Dutch miners and to prevent them from working in Germany at sub-German wage levels. Local branches of the German union sprang up in Kerkrade and mining villages at the border. This union drive was boosted by the return of Dutch miners from Germany who had been active in the Christliche Gewerkverein but were expelled after the German miners’ strike of 1905. They campaigned for an inter-confessional trade union for Dutch miners working in Limburg, and even started to set up branches themselves. By unionising Dutch miners in this way the German inter-confessional trade union competed with the existing Catholic federation of local miners’ associations in Limburg, the Centrale Bond van Roomsch-Katholieke Mijnwerkersverenigingen (Central Association of Roman Catholic Miners’ Unions), set up by the higher clergy and approved by the bishop of Roermond, the diocese in which the mining district was situated. The bishop initially opposed the foundation of an inter-confessional trade union based on the German model, but the propaganda and growing popularity of the Christliche Gewerkverein put pressure on the clergy. In the end the bishop had to accept the foundation of an inter-confessional 8
Schneider, Michael: Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn: Neue Gesellschaft 1982, here pp. 55-74; Hiepel, Claudia: Arbeiterkatholizismus an der Ruhr. August Brust und der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1999.
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miners’ union in the Limburg diocese. On 25 October 1907 it was decided to establish the Christelijke Mijnwerkersbond (from 1 January 1908) as a trade union alongside the Catholic Centrale Bond, which would now function as a separate standsorganisatie (from the German Standesorganisation, perhaps best described as a religious professional association) to promote Catholicism among the miners. In this way the German two-tiered structure of inter-confessional trade unions and Catholic professional organisations was replicated in the Limburg mining district (as were debates about this issue).9 During 1908 the new organisation was promoted in meetings throughout the mining district, with speakers even coming from the German Christliche Gewerkverein itself to endorse the German model. In 1909 a Gegenseitigkeitsvertrag between both unions was signed, regulating the conditions of membership for cross-border migrants. In December 1908, 969 Limburg miners belonged to the Christelijke Mijnwerkersbond out of a total of 5.075 employed in the district as a whole. In the early years of the twentieth century there had already been attempts to form a non-confessional union by Dutch members of the German Verband der Bergarbeiter Deutschlands who had returned to Limburg after working in Germany. This German union, generally known as the Alte Verband, was established in 1889, and had social-democratic leanings. The Alte Verband itself was present in the Limburg mining district with at least six Zahlstellen (branches).10 On 22 August 1909, some 50 members of this German union, both Dutch and German miners, founded the Algemeene Nederlandsche Mijnwerkersbond (ANMB). Speakers and representatives of the German union from the Wurmrevier coal region, just across the border, attended meetings and debates. In this way disputes between the German Christian union and the Alte Verband were transplanted to the Limburg mining district. The ANMB soon grew, reaching about 700 members in 1910, but its membership then stagnated. It recruited some former members of the Christian union, but most of them were migrants, either from the Netherlands outside Limburg or from Germany. The German contingent in the ANMB was quite large: in 1910, 300 out of 700 members were German. The ANMB also recruited miners originating from other parts of the Netherlands who had acquired their skills in the Ruhr area and from there had migrated to Limburg. By 1914 it had a core group of members,
9
See M. Schneider: Die Christlichen Gewerkschaften, pp. 172-211; on its repercussions in the Netherlands: Koppenjan, Joop: »Interconfessionalisme en verzuiling in Limburg 1900-1920«, MA thesis, Erasmus University Rotterdam 1984. 10 Wöltgens, Th.: Mislukte doorbraak. Geschiedenis van de socialistische mijnwerkersbond 1909-1965, MA thesis, Utrecht University, 1966, p. 8.
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MINERS ’ UNIONISM
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including native Limburgers, but there can hardly be any doubt that the ANMB found its largest following among miners who were born outside Limburg.
M EMBERSHIP
CRISIS IN THE CMB AND ITS INCORPORATION INTO THE C HRISTLICHE G EWERKVEREIN
(1914) In the years before World War I, in addition to the long-established mining population living in Kerkrade and the surrounding area, the migrants and commuters from Germany and the migratory workers from the Netherlands outside Limburg, a fourth category of miners was recruited by the expanding mining industry from the rural population in the villages around Sittard and in the Meuse Valley in the west, and in the Heuvelland district south-east of Maastricht. These were often part-time farmers and agricultural labourers; only the younger generation became full-time miners. Figures on local membership of the Christian union from late 1915 show that by this stage the union had made some headway in the villages around Sittard, but also that there were still many blank spots in rural areas. Efforts to unionise these rural Limburg miners from 1911 onwards had not been very successful. The Christian union also had great difficulties spreading to the thriving Heerlen area, unlike the ANMB, which, as a result of the immigrant background of most of its members, found its strongest support there. In 1915 the CMB still very much relied on its original base in the Kerkrade region: 56 percent of its membership were living there, as against 46 percent of the total number of miners in 1909.11 In 1910, however, precisely in its Kerkrade stronghold, a conflict arose with a significant minority within the Christian union, led by one of its former presidents, Joh. Ankoné. In 1911 the conflict resulted in a split and the formation of a new union in Kerkrade, the Algemeene Nederlandse Mijnwerkersbond ›Recht en Plicht‹ (General Dutch Miners’ Union ›Right and Duty‹). Only in 1916 did Ankoné and his followers return to the Christian union. In the first years of the
11 Figures from: Anonymous: »Onze districtsvergadering«, in: Christelijke Mijnwerker, 25.3.1916; »Ledenstatistiek« (monthly), in: De Mijnwerker, January 1913-February 1914; Anonymous: »Ned. Mijnwerkersbond« in: De Mijnwerker, 27.1.1917; CBS: Uitkomsten der Beroepstelling in het Koninkrijk der Nederlanden gehouden op den een en dertigsten december 1909. Eerste deel. Overzicht voor iedere gemeente van Nederland van de voornaamste beroepen [...], The Hague 1912.
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10000
9000 8000 7000 6000
5000 4000 3000 2000 1000
CMB
1930
1929
1928
1927
1926
1925
1924
1923
1922
1921
1920
1919
1918
1917
1916
1915
1914
1913
1912
1911
1910
1909
1908
1907
0
ANMB
Figure 1: Membership development of the CMB and the ANMB, 1907-1930 (31 Dec.). Source: L. Kreukels: Mijnarbeid, p. 578.
war, membership of the Christian union gradually started to rise again (see fig. 1), perhaps for this reason, but also because the union was starting to gain ground in villages around Sittard and in the Meuse Valley. The breakaway union Recht en Plicht in the Christian union’s stronghold around Kerkrade added to the lack of success in the new mining district around Heerlen and among rural miners in the villages to the west and south. It plunged the Christian union into a membership crisis from 1911 onwards, its membership reaching an all-time low of 500 at the end of 1913 (see figure 1). It was this membership crisis which led the union to seek support from the German mother organisation Gewerkverein christlicher Bergarbeiter. In February 1914 the Christelijke Mijnwerkersbond became a branch of the German union. The main motive to merge was the general weakness of the Limburg union, but this was argued for within the transnational paradigm in which the union had been formed and had been operating: »Our mining industry is in fact a continuation of the [German, AK] mining industry in the Wurmrevier. […] Hundreds of workers from Kerkrade and other communities along the border are employed by German mines, and there are many branches of the German Christian miners’ union on Dutch soil. These workers often change employers and are frequently also employed in Limburg mines. This means they need to register with different unions. […] Also, for these workers, pension rights earned at German mines are lost. Therefore, an agreement between the pension funds of the Limburg and the German mines is needed. This
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will be more easily attained if there is a connection between the Limburg and German miners’ unions.«12
M EMBERSHIP SHIFTS DURING W ORLD W AR I AND THE 1917 MINERS ’ STRIKE After the outbreak of World War I in August 1914 everything changed. From the first year of the war many German miners left the Limburg mining district, partly because they were called up for military service. They were replaced by increasing numbers of skilled Dutch miners returning from abroad and previously employed (mainly) in the Ruhr area. Rising demand for skilled miners was also met by Belgian miners from the nearby Liège district fleeing German occupation. At the end of 1914 there were 1.098 Walloon miners in the Dutch mines. In 1918 their number had grown to 3.155. Because most of its German members had been called up for military service, the ANMB particularly suffered when war broke out. Looking back in 1917, the union recalled that »at the outbreak of the war, our organisation was almost completely torn apart; only a few hundred paying members were left«.13 According to this report, at the end of 1914 membership had risen again to 615, and two years later to 1.104 (see also figure 1). Adopting the slogan »Hold international solidarity high«, the ANMB called upon »workers of German, Austrian and Belgian nationality to join the Dutch miners’ union«,14 but there are no signs that this was really happening. Because Belgians were not allowed to join a trade union run by the Dutch government, they were seen as a ›hindrance‹ to the union’s efforts to improve working conditions, but they ultimately proved to be an asset, becoming actively involved in the strike called by the Dutch socialist union in June 1917. In the first months of 1917, the rate of growth in ANMB membership started to increase. Figures indicating the rise in numbers in different sub-regions of the Limburg mining districts show that this growth was exclusively concentrated in the Heerlen region and in Maastricht. Membership in the Kerkrade region even declined. The conclusion can hardly be avoided that this growth in Heerlen and the surrounding area was mainly due to Dutch miners returning from Germany and settling there. They had probably already experienced trade unionism and industrial action in the German coalfields. Maastricht is another story. It was no 12 Anonymous: »De aansluiting van den Christelijken Mijnwerkersbond bij den Duitschen Christelijken Mijnwerkersbond«, in: Christelijke Mijnwerker, 21.2.1914. 13 Anonymous: »Ons ledental«, in: De Mijnwerker, 10.11.1917. 14 Anonymous: »Hoog de internationale solidariteit«, in: De Mijnwerker, 27.2.1917.
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mining town; its main industry was pottery works. During World War I this industry was cut off from its markets and plunged into a crisis, with hundreds of pottery workers made redundant. Many of these workers turned to the booming Heerlen mining industry. Since the late nineteenth century many Maastricht pottery workers had been leaning left; the Social Democratic Party and its trade unions had a relatively large following there. Now Maastricht workers poured into the socialist miners’ union.15 In April 1917 the ANMB started a campaign for a wage rise, a minimum wage and an eight-hour working day, after the CMB had rejected a proposal to cooperate. Meetings attracted large numbers of miners supporting these demands. On 21 June a strike was called. Until 24 June, 81 percent of the miners joined the strike, but participation then declined quickly, as the ANMB’s strike fund was not large enough to provide for the mostly non-unionised strikers. Despite outright opposition from the Christian union, its long-established Kerkrade branch, which had a tradition of dissidence, also participated in the strike. So, from a social perspective, a coalition of new members of the ANMB (both Limburg workers returning from Germany and former pottery workers from Maastricht) and Liège refugees working in the mines, all likely to have experience of industrial action, as well as Kerkrade dissidents in the Christian union, who were also used to industrial action, were able to lead the many non-unionised Limburg miners (most of them with a rural background) into a mass movement, albeit short-lived. By the end of 1917 the ANMB had outstripped the Christian union with 2.309 against 1.656 members. In 1918, a year of great social and political turmoil in nearby Germany and also in the Netherlands, ideological tensions rose to a maximum. In this confrontational atmosphere, the socialist and Christian unions both saw their membership rise to unprecedented heights. Figures about the regional distribution of membership growth of both unions in their most successful year, 1918, show remarkable and significant differences. While the ANMB gained 95 percent of its new members in mining and other towns, again with a clear concentration (64 percent) in the Heerlen region, the CMB gained only 40 percent in towns. The remaining 60 percent lived in villages in the countryside, 66 in total, where apparently it had managed to set up a whole series of new branches.16 Only a few years before, it had not been able to reach miners living there. This clearly demonstrates that the Christian union had finally made a breakthrough among Limburg miners of rural origin. 15 Figures from: Anonymous: »Ned. Mijnwerkersbond«, in: De Mijnwerker, 27.1.1917; Anonymous: »Onze ledenstatistiek«, in: De Mijnwerker, 14.4.1917. 16 Algemeene Bond van Christelijke Mijnwerkers in Nederland: Kort verslag over 1918, Heerlen 1919, pp. 2-3; »Nieuwe leden«, in: De Mijnwerker, February 1918-January 1919.
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B ORDER ISSUES
AFTER THE WAR : CURRENCIES AND COMMUTERS In the period after the war, divergent economic developments in Germany and the Netherlands caused a much sharper demarcation of the border and a split in the Dutch-German labour market, which had a major influence on the Christian union’s attitude. As a consequence of the war and the reparations forced on Germany by the Treaty of Versailles, the German monetary situation deteriorated quickly; it was the period of hyperinflation, when the German mark lost value on a daily basis. Salaries in the Netherlands were paid in stable Dutch guilders, which presented a huge advantage for German commuters who could spend their wages in Germany. As a consequence, it became extremely attractive for German miners to commute to the Netherlands. The result was a massive influx of experienced German workers leaving their former German employers to cash in in the Netherlands. Contemporaries referred to them as ›Guldenmänner‹ (men of the guilders). Dutch miners who had left to work in German mines returned, and German miners from the mining communities at the border flooded into the Netherlands, as both migrants and commuters. Their number rose sharply from 1.670 in 1919 to 5.342 in 1923. With the stabilisation of the Reichsmark in November 1923 hyperinflation came to a halt, and this immediately affected the flow of commuters from Germany: most of them returned to their former employers. After 1923 their number declined to a steady 1.000-1.200 between 1925 and 1931. As a consequence of German migrants arriving in the Netherlands, German membership of the ANMB started to rise again. In 1920 the union held meetings and called upon ›German comrades‹ to join the ANMB to prevent competition over wages. German-speaking propagandists were appointed to specifically address German miners. During a strike at the Dominiale Mijn in 1921, conducted in coordination with the Christian union, the ANMB held separate meetings with German strikers on both sides of the border. In 1921, the ANMB tried to unionise German cross-border commuters as well, arguing that they should belong to unions in the country where they worked, but in 1922 the union had to admit that it had hardly any members among the Germans who crossed the border on a daily basis. It called for a »tighter connection between our unionised members and their German counterparts«,17 and spoke out against the Christian union, which was protesting against the ›invasion‹ of German workers. The attitude of the Christian union towards German migrants and commuters was much more hostile. It warned against uncontrolled migration and German 17 Anonymous: »Ons congres«, in: De Mijnwerker, 15.4.1922.
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commuters working below national wage levels. The CMB demanded that the government take measures against the employment of miners from outside the Netherlands. In October 1922 the Christian union started a campaign against ›foreign workers in Limburg‹, with a large protest meeting on 5 November. It is highly significant that this campaign came after the CMB had seceded from the Christliche Gewerkverein on 1 October 1922. The fact that it needed to break away from the Gewerkverein is made clear by a statement from the Aachen Bezirksleiter (area manager) Peter Harsch in December 1922: »If the Christian Miners’ Union opposes the employment of German workers in the interest of Dutch workers, the Gewerkverein has nothing to do with this. Since 1 October, the Christian Miners’ Union has been completely independent. This union defends the interests of the Dutch workers, while the Gewerkverein has to defend those of the German workers. In the interest of the German miners the Gewerkverein has to take a stand against the demand that the borders should be closed for these workers.«18
For the Christian union, independence from the German union was necessary to participate in the state unemployment benefit scheme which had been in place since 1917. The union’s decision to join in 1922 was connected to cross-border migration: the unfavourable exchange rate prevented Dutch miners from avoiding unemployment by seeking work in German mines. The union reasoned that if exchange rates returned to normal, Limburg workers would no longer be bound to the Limburg labour market and would be able to find work in Germany again at reasonable wages. But as there was no prospect that such a situation would arise, the union had to change its attitude towards unemployment insurance and align with government regulations on this issue.
C ONTINUOUS SUPPORT FOR THE SOCIALIST UNION THE CMB’ S TURN TO C ATHOLIC REGIONALISM
AND
There was another, less obvious motive for the CMB’s national turn and breakaway from the Gewerkverein, however: at the election for workers’ representatives in the committees administering the general miners’ pension and sickness fund (Algemeen Mijnwerkers Fonds) in May 1922, the socialist union unexpectedly pulled off a resounding victory. The Algemeen Mijnwerkers Fonds (AMF) was established in 1919 as an insurance fund for the mining district as a whole. It was managed by representatives of employers and workers, assisted by committees at 18 Anonymous: »Een aanval op Harsch«, in: Christelijke Mijnwerker, 31.12.1922.
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each mine consisting of two representatives of management and five elected by the workers. Insurance premiums were paid by both employers and workers, but from the beginning the ANMB had campaigned for a premium-free fund which was fully paid for by employers. According to the Christian union, German votes had significantly contributed to the socialist majority, but it had to admit that German support had not been decisive. The ANMB had also gained a majority in CMB’s stronghold Kerkrade, and allegedly 90 percent of the ›train men‹ from rural villages had voted for a red candidate. According to the Christian union, the main cause was a lack of ideological conviction. Three years later, in the 1925 election for workers’ representatives in the AMF administrative committees, the socialist union achieved an even more substantial victory. The regional press blamed the successive wage cuts in the mining industry, which had been fiercely opposed by the socialist union but accepted by the Christian union. The CMB had to conclude that »our union cannot put confidence in the large non-unionised masses running loose«.19 As a reaction to this loss of confidence, the CMB deemed it necessary to strengthen the ideological convictions of Catholic miners. On 13 June 1926 the union was officially renamed Nederlandsche Roomsch-Katholieke Mijnwerkers Bond (Dutch Roman Catholic Miners’ Union). Its target was »the soul of the Catholic worker«.20 In cooperation with the workers’ professional religious organisation (standsorganisatie) a propaganda offensive was launched against free thinking, socialism, neo-Malthusianism and all other influences perceived as threats to the Limburg Catholic way of life. The aim was to encourage lukewarm or apostate workers to participate in Catholic unions. All this was underpinned by a regionalist discourse. And it worked: between 1926 and 1931, membership of the Catholic union doubled, while membership of the ANMB increased by less than 50 percent. In the 1930s, when a new generation of native Limburg miners were recruited into the industry, this tendency was reinforced.
C ONCLUSION As Patrick Pasture argues, 21 the anti-socialism of Christian trade union movements in Europe generally went hand in hand with nationalist and often outspoken
19 Anonymous: »De afloop van den strijd«, in: Christelijke Mijnwerker, 31.5.1925. 20 Anonymous: »Een nabeschouwing«, in: Christelijke Mijnwerker, 11.7.1926. 21 Pasture, Patrick : Histoire du syndicalisme chrétien international. La difficile recherche d’une troisième voie, Paris: L'Harmattan 1999, pp. 56-58; Patrick Pasture/Johan Verberckmoes (eds.), Working-Class Internationalism and the Appeal of National Identity.
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regionalist attitudes. In the Limburg mining district this was not initially obvious. In the period leading up to the First World War, cross-border mobility of Dutch and German miners logically led both miners’ unions, including the Christian union, to adopt a transnational approach. This changed during and after World War I. National economies grew further apart, borders became barriers, and labour markets stopped operating on an international basis and turned inwards. After the war, cross-border commuting returned, but while before the war this had been a twosided phenomenon of labour market integration, now it was a one-sided consequence of economic discrepancies, i.e. diverging monetary developments in Germany and the Netherlands. The Christian union started to change its attitude: while it had originally considered cross-border commuting by both German and Dutch miners as a logical phenomenon, it now developed a degree of mistrust towards German commuters. As a consequence, the Christian union lost its cross-border orientation. Ties with the German Gewerkverein were broken in 1922 and in 1926 the Christian union formally abandoned inter-confessionalism. This resulted in a much greater emphasis on the Catholic confessional character of the union. The aim was to draw Limburg Catholic miners together in the struggle against the worryingly strong influence of the socialist union. In this struggle, Catholicism and Limburg regionalism were intimately connected. It was a far cry from the union’s original transnationalism. In a significant contrast, the socialist union did not change its attitude towards migrants and commuters in the 1920s. Remaining true to its transnational origins, it tried to unionise miners regardless of nationality, and after the war it continued this inclusive strategy. Instead of opposing commuting from Germany, it tried to win over German commuters as members. In 1922 and 1925 it became clear that its strategies were widely supported among Limburg miners as well. Nevertheless, in the long run the ANMB continued to be perceived as an outsider and was not able to connect with the majority of Limburg miners.
Historical Debates and Current Perspectives on Western Europe, Oxford/New York: Berg 1998, pp. 9-10.
Multiple oder rhizomatische Identitäten Dora d’Istria zwischen nationalen Vereinnahmungen und den Grenzziehungen des Selbst H ANS -C HRISTIAN M ANER
Über Elena Ghica, bekannter unter ihrem Schriftstellernamen Dora d’Istria, kann in jüngeren Darstellungen gelesen werden, sie sei im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr präsent, sie sei vergessen worden.1 An anderer Stelle wird diese Einschätzung mit gutem Grund widerlegt und gar von einer ›Wiederentdeckung‹ gesprochen.2 Elena Ghica, 1828 in Bukarest geboren, stammte aus einer der ältesten und bekanntesten Bojarenfamilie, die in der Walachei und der Moldau mehrere Fürsten sowie Premierminister Rumäniens gestellt hat. Ihr Vater, der Banus Mihai Ghica, war der Bruder der Fürsten Grigore IV. Ghica (1822-1828) und Alexandru II. Ghica (1834-1842); die Mutter Catinca Faca entstammte einer griechischen Familie. 1842 musste die Familie ins Exil nach Wien gehen. Dort sowie in Berlin und Dresden erhielt Elena Ghica eine erlesene Ausbildung, in deren Folge sie mehrere Sprachen beherrschte. In einer immer wieder angeführten Episode wird über eine Begegnung mit Alexander von Humboldt in Berlin berichtet. Auf dessen Aufforderung übersetzte die junge Ghica in seiner Gegenwart eine altgriechische
1
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Hierzu Maksutovici, Cristia: Un nume pe nedrept uitat: Dora D’Istria, Bucureşti: Ararat 1997; oder Chapelan, Mihaela: »L’identité rhizomatique de Dora d’Istria«, in: Relief 6 (2012), H. 1, S. 126-135, hier S. 126. Diese Beobachtung mit Hinweisen bei Bordaş, Liviu: »Dor de Dunăre şi alte nostalgii cosmopolite«, in: Observator Cultural, Nr. 437, vom 21.8.2008; eine Monographie verfasste D’Alessandri, Antonio: Il pensiero e l‘opera di Dora d’Istria fra Oriente europeo e Italia, Roma: Gangemi 2007.
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Inschrift und beeindruckte den Gelehrten.3 1849 kehrte Elena Ghica nach Bukarest zurück. Sie lernte den russischen Fürsten Alexander Koltzoff-Massalsky kennen, heiratete ihn und zog nach St. Petersburg. Die Ehe dauerte nicht lang. 1855 verließ Elena Koltzoff-Massalsky Russland und ließ sich zunächst in der Schweiz nieder. Dort setzte sie das fort, was sie in St. Petersburg begonnen hatte: die schriftstellerische Tätigkeit unter ihrem neuen Namen Dora d’Istria. 1860 ging sie nach Italien, und nach Stationen in Turin und Genua wählte sie Florenz als ihre letzte Station. Dort starb sie 1888. Dora D’Istria, die in eine Reihe gebildeter Frauen aus der Oberschicht der Fürstentümer eingeordnet werden kann (u.a. Maria Cantemir, Elena Vacarescu, Anna Brancoveanu, Martha Bibescu), verfasste eine große Anzahl an Abhandlungen, die mehrere Wissens- und Wissenschaftsbereiche abdecken:4 Religions- und Kirchengeschichte, Geschlechtergeschichte sowie Kulturgeschichte im weitesten Sinn. In ihren Schriften erweist sich Dora d’Istria als eine Wanderin zwischen den Zeiten und den Welten. Ihr Leben und Werk stehen zeitlich gesprochen für den Übergang vom frühneuzeitlichen kosmopolitischen, übergreifenden Denken und Fühlen zur Betonung der neuzeitlichen nationalen bzw. ethno-nationalen Zugehörigkeit. Dass allerdings keine eindeutigen Zuschreibungen erfolgen, ist nicht zuletzt ein Merkmal der südosteuropäischen Region, in der die Wurzeln der Autorin liegen.5 Räumlich öffnete Dora d’Istria dem westlichen Europa, den Wohnorten in der Schweiz und Italien sowie dem Publikationsort Frankreich, die Augen für das östliche, insbesondere das südöstliche Europa. Auf diese beiden Aspekte soll im Folgenden stichpunktartig eingegangen werden. Die Ausführungen orientieren sich an folgenden Fragen: Welche identitären Selbstzuschreibungen finden sich im Werk von Dora d’Istria und wie sind diese einzuordnen? Wie präsentiert die Autorin die Region, aus der sie stammt? Überwindet sie oder setzt sie Grenzen? Im Hinblick auf das identitäre Selbstverständnis soll die These vorausgeschickt werden, dass Dora d’Istria nur unter Berücksichtigung von multiplen bzw. rhizomatischen Identitäten verstanden werden kann. Rhizomatische Identität meint, dass die Bezugspunkte netzartig in einem unhierarchisch vorgestellten Raum liegen. Diese stehen im Gegensatz zu den als Einheit vorgestellten Identitäten, wo der Lebenslauf als 3 4
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Dazu sowie zur Biographie im Detail vgl. A. D’Alessandri: Il pensiero, S. 52. Eine nicht erschöpfende Bibliographie listet 124 Veröffentlichungen auf. Hierzu die Titel auf der Internetseite der Familie Ghica: https://tinyurl.com/y7v6obnp (abgerufen am 14.9.2016). Holm Sundhaussen sah als ein konstituierendes Merkmal Südosteuropas die extreme ethnische Gemengelage. Sundhaussen, Holm: »Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas«, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 626-653, hier S. 638-640.
M ULTIPLE ODER
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Sukzession zusammenhängender Ereignisse gedacht wird.6 Bevor allerdings darauf eingegangen werden kann, muss noch eine andere Ebene angesprochen werden, nämlich der historiographische Blick auf Dora d’Istria.
E THNO - NATIONALE ABGRENZUNG
UND
Ü BERFORMUNG
Mehrfach ist über die Herkunft der Familie Ghica geschrieben worden, wobei stets die eindeutige ethnische Zugehörigkeit unterstrichen wurde und wird. Die meisten Autoren betonen die albanische Herkunft. So schrieb A.D. Xenopol, dass in der Geschichte der beiden Fürstentümer Moldau und Walachei vielfach ›Fremde‹ das Sagen gehabt hätten, von denen die meisten Griechen gewesen seien. Daneben habe es aber auch andere gegeben: »Vasile Lupu, von der Herkunft gräzisierter Albaner. […] Durch ihn eröffnen sich mehrere Landsleute den Weg auf die rumänischen Fürstenthrone, zuallererst die Familie der Ghiculeşti, verwandt mit Vasile Lupu, Albaner wie er.«7 Der rumänische Mediävist Panait I. Panait legte in einem Beitrag 1996 dar, dass die Gesellschaft der Fürstentümer direkten Kontakt hatte zu »Menschen, die aus Albanien gekommen waren oder aus albanischen Kreisen aus dem Balkan stammten und schließlich von naturalisierten Albanern« aus verschiedenen ethnischen und religiösen Milieus. »Zu dieser Kategorie zählten auch die Ghica, von denen zehn Herrscher der Moldau und der Walachei abstammten.«8 Insbesondere albanische Intellektuelle arbeiteten die albanische Herkunft der Familie Ghica heraus. In der breiten Öffentlichkeit finden sich sogar Einschätzungen, die von den Ghicas als »albanischer Dynastie in Rumänien« sprechen.9 Diese nationale Betonung geschah stellenweise in der Auseinandersetzung mit Positionen, die auf der aromunischen Ethnie beharrten.10 6
Siehe hierzu die Grundlage bei Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Rhizom, Berlin: Merve 1977, S. 10-41 [Original: Rhizome. Introduction. Paris 1976]. Vgl. dazu auch Kittner, Alma-Elisa: Visuelle Autobiographien: Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld: transcript 2009, S. 251; Wartenpfuhl, Birgit: Dekonstruktion von Geschlechtsidentität – Transversale Differenzen: Eine theoretisch-systematische Grundlegung, Wiesbaden: VS 2000, S. 157-167. 7 Xenopol, Alexandru D.: Istoria românilor din Dacia Traiană, vol. VIII, Kap. Epoca lui Constantin Brâncoveanu 1686-1714, Iaşi: Ed. Librărieĭ Şcoalelor FraĀii Şaraga 1896, S. 131. 8 Nach C. Maksutovici: Dora D’Istria, S. 10. 9 Hierzu im albanischen Internetforum: https://tinyurl.com/yczkecul (abgerufen am 12.05.2016). 10 Hierzu die Kontroverse zwischen dem Historiker Gelcu Maksutovici, Mitglied der albanischen Minderheit in Rumänien, und dem Literaturkritiker aromunischer Herkunft Hristu Cândroveanu in: C. Maksutovici: Dora D’Istria, S. 12.
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Während aromunische Argumente immer wieder aufleuchten, steht die albanische Position prominent im Vordergrund. Neben der Betonung der ethnischen albanischen Abkunft der Familie Ghica wird immer wieder auf die Person Elena Ghica verwiesen als ›Prinzessin albanischer Herkunft‹. Der bekannte albanische Schriftsteller Vehbi Bala brachte es in seiner Biographie Jeta e Elena Gjikës (Das Leben der Elena Ghica) auf den Punkt, wenn er schrieb: »Ich habe Elena Gjika (Dora d’Istria) als eine Figur betrachtet, die exklusiv im Dienst der albanischen Sache stand«.11 Nach der Erstveröffentlichung in Tirana erfuhr der Band eine weitere Erscheinung im kosovarischen Priština (alb. Prishtina oder Prishtinë) drei Jahre später.12 Die Zahl albanischer Monographien zu Elena Ghica reißt bis in die Gegenwart nicht ab, wobei die Darstellungen nicht nur in Albanien selbst erscheinen, sondern auch im Kosovo und in Makedonien.13 Deutlich wird die albanische Zusammenarbeit über nationalstaatliche Grenzen hinweg an der 2011 im makedonischen Tetovo stattgefundenen Tagung und dem im gleichen Jahr in Priština erschienenen Band Elena Gjika dhe kultura shqiptare (Elena Ghica und die albanische Kultur).14 In den albanischen Darstellungen steht dabei die Charakterisierung Dora d’Istrias als »prominente Kämpferin für die Befreiung Albaniens und seine Emanzipation«, als »Kämpferin in der nationalen albanischen Befreiungsbewegung« immer wieder im Mittelpunkt. Mit Eigenschaften wie Mut, Großzügigkeit, Stolz und Furchtlosigkeit sei sie ein Vorbild für ein originelles, einzigartiges und demokratisches Albanien.15
11 Bala, Vehbi: Jeta e Elena Gjikës (Dora d'Istrias). Tiranë: Naim Frasheri 1967, S. 5. 12 Bala, Vehbi: Jeta e Elena Gjikës (Dora d'Istrias). Prishtinë: Rilindja 1970. Der Verlag, in dem der Band erschienen ist, hieß bezeichnenderweise Rilindja (=Wiedergeburt). 13 Xoxi, Koli: Erasimi Roterdam dhe Helena Gjika, Tiranë: Marin Barleti 1994; Ders.: Zvicra dhe Dora d'Istra, Tiranë: Libra të vjetër 1995; Ders.: Franca sipas Dora D'Istrias, Tiranë: [Verlag unbekannt] 1997; Maksutovic, Cristia: Elena Gjika dhe shqiptarët e Rumanisë, Tetovë: Klubi Letrar '94 2001; Kondo, Ahmet: Dora D’Istria për çështjen kombëtare shqiptare, Tiranë: Flesh 2002; D'Istria, Dora: Rinia e një shqiptareje. Kombësia shqiptare sipas këngëve popullore. Gratë të para nga një grua: pjesë të zgjedhura, Tiranë: Elena Gjika 2002. Publikationen sind in Tirana auch in einem Verlag namens »Elena Gjika« erschienen. 14 Emin Kabashi (Hg.), Elena Gjika dhe kultura shqiptare: materiale nga Konferenca Shkencore e mbajtur më 27 maj 2011, kushtuar Elena Gjikës, Prishtinë: Kolegji Univ. »Biznesi« 2011. 15 Hierzu auch die Aussagen auf der Internetseite Elena Gjika, shqiptarja e famshme në Bukuresht, https://tinyurl.com/ybvudsth; Ymeri, Baki: Elena Gjika në 121 vjetorin e vdekjes (1828-1888), http://www.gazetakritika.net/Forumi/?itemid=1675 (beide abgerufen am 12.05.2016).
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Dora d’Istria ist in Albanien eine politische Persönlichkeit, ja ein Politikum, wie auch die Feierlichkeiten zum 90. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2012 zeigen. Der damalige Staatspräsident Alfred Moisiu ehrte historische Persönlichkeiten Albaniens, darunter auch Dora d’Istria, für ihren Einsatz für die nationale albanische Sache mit der Auszeichnung ›Ehre der Nation‹.16 In der albanischen medialen Öffentlichkeit gilt d’Istria allgemein als Persönlichkeit, die »der albanischen Nation gedient« habe.17 In Medien der Albaner in der Schweiz aus dem Jahr 2009, auf einer Internetseite über Die Albaner in der Schweiz sowie in der Zeitschrift Albsuisse, wird sie unkommentiert als ›Albanerin‹ vereinnahmt.18 Ein biographisches Lexikon aus dem Jahr 2006 geht soweit, das ›Albanertum‹ der Elena Ghica sogar mit ihrem Geburtsort zu verbinden. Darin heißt es, dieser befinde sich in Südalbanien in der Stadt Parga.19 Albanisiert werden im Artikel außerdem Namen – verwendet wird die unübliche Schreibweise ›Gjika‹20 – sowie die Aktivitäten der Dora d’Istria. In Italien, nachdem sie sich dort niedergelassen hat, habe sie die ›albanische Sache‹ verfolgt. »She acted as an intermediary between Albania and Albanian colonies in Italy (and elsewhere) and established contacts with foreign researchers of Albanian history and the Albanian national cause, thus facilitating the growing independence and Albanian cultural movements.«21
Elena Ghica wird hier ganz eindeutig für das albanische nationale Programm, die ethno-nationale albanische Ideologie, eingespannt.
16 Elena Gjika – Dora d’Istria (1828-1888), https://tinyurl.com/yczkecul (abgerufen am 12.05.2016). 17 Ebd. 18 Ramaj, Albert: Die Albaner in der Schweiz (I), https://tinyurl.com/yabr6yy7; Ders.: Die erste Frau (Albanerin), die Mönch bei Jungfraujoch im Jahre 1857 erreichte, in: Albsuisse, 15.12.2009, http://albsuisse.ch/pod/fajlovi/albsuisse_020_web.pdf (beide abgerufen am 12.05.2016). 19 Dibra, Zenepe: »Gjika Elena (Elena Ghica, pen-name Dora D’Istria) (1828?-1888?)«, in: Francisca de Haan et al. (Hg.), A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminism. Central, Eastern, and South Eastern Europe, Budapest u. New York: CEU Press 2006, S. 158-160, hier S. 158. Hierzu auch die kritischen Einschätzungen von Bordaş, Liviu: Dor de Dunăre şi alte nostalgii cosmopolite, in: Observatorul Cultural, Nr. 467, August 2008, S. 1-7, hier S. 3. 20 Ergänzt wird »Romanian writer of Albanian descent, known in Romania as Elena Ghica«, was eindeutig das Albanische als ursprüngliche Schreibweise in den Vordergrund stellt. Auch der erste Lehrer, der griechische Gelehrte G.G. Papadopoulos, wird als Grigor Papadhopuli angeführt. Z. Dibra: Gjika Elena. 21 Ebd., S. 159f.
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Auch Darstellungen in Publikationen eines internationalen Autorenkollektivs können sich nicht gänzlich von der ethno-nationalen Perspektive lösen. Dora d’Istria wird in der Textsammlung Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770–1945) zwar nicht als ›Albanerin‹ vorgestellt. In den Erläuterungen zu dem abgedruckten Textauszug aus »La nationalité albanaise d’après les songs populaires« wird auf die Bedeutung d’Istrias für den albanischen Nationalismus und die albanischen patriotischen Kreise hingewiesen. Darüber hinaus wurde ihr Name, insbesondere in der Historiographie der kommunistischen Periode, als Symbol der Freundschaft zwischen Albanern und Rumänen bemüht.22 Schwächer dagegen, doch ebenfalls vorhanden in den Darstellungen, sind die Konturierungen der ethnisch-rumänischen Bezüge. Wie die albanische Position, nur mit rumänischer Brille, liest sich stellenweise das Buch des Historikers Anastasie Iordache. Im Vorwort bereits erfährt der Leser Folgendes über die Ghicas: »Phanariotenherrscher, die Rumänen bleiben, denn niemals waren ihnen die nationalen Bestrebungen gleichgültig«.23 Die Ghicas seien außerdem im Kampf für die Verteidigung der Nation und des Staates des modernen Rumänien engagiert gewesen.24 Einen neuen Aspekt brachte hingegen der Historiker Vlad Georgescu in die Debatte, indem er zu bedenken gab, dass die Epoche der Phanarioten einer neuen Interpretation bedürfe. Diese sei in der Historiographie in sehr strikten ethnischen Kategorien betrachtet worden, nämlich, dass die Phanarioten Griechen seien und sich dadurch von den Einheimischen absetzen würden. Diese Gegenüberstellung und Beurteilung unter ethnischen Kriterien sei falsch. Die Phanarioten entstammten nicht nur den Griechen, ebenso wie die einheimischen Fürsten nicht nur Rumänen gewesen seien. So seien die Ghicas, die keine Griechen, sondern Albaner seien, bereits lang vor den Phanarioten Fürsten gewesen. »Ob Phanariote oder Einheimischer ist kein Problem ethnischer Herkunft. Es war ein politisches Problem.«25 In seiner viel zitierten Geschichte der Rumänen schreibt Georgescu: »Die
22 D’Istria, Dora: The Albanian Nationality on the Basis of Popular Songs, in: Balász Trencsényi/Michal Kopeček (Hg.), Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770-1945). Texts and Commentaries. Bd. II: National Romanticism. The Formation of National Movements, Budapest u. New York: CEU Press 2007, S. 168-173, hier S. 169f. 23 Iordache, Anastasie: Principii Ghica. O familie domnitoare din istoria României. Bucureşti: Ed. Albatros 1991, S. 5. 24 Ebd., S. 6. Die rumänische Perspektive vertritt auch L. Bordaş: Dor de Dunăre. 25 Nach C. Maksutovici: Dora d’Istria, S. 11.
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Phanarioten waren nicht nur Griechen, sondern auch Rumänen, Albaner, Bulgaren.«26 Im weiteren Verlauf heißt es: »Die Mavrocordat waren seit langem mit einheimischen Familien verwandt. RacoviĀă und Calimachi waren reine Moldauer und die Ghica, die aus Albanien kamen, sind seit fast einem Jahrhundert heimisch geworden.«27 In diesem Zusammenhang erscheint noch eine weitere Beobachtung von Georgescu wichtig, nämlich, dass das griechische Element ab dem Jahr 1774 dominant wurde und durch die Herrscherfamilien Ipsilanti, Moruzi, Caragea und SuĀu vertreten war. Es gab aber auch das Phänomen, dass aus Familiendynastien nach der Phanariotenzeit einheimische Herrscher hervorgingen wie RacoviĀă und Ghica; andere wiederum blieben griechisch (Mavrocordat, Ipsilanti) und schließlich andere teilten sich in einen griechischen und einen rumänischen Zweig (z.B. Callimachi).28 Von zentraler Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang die Betonung, dass im Fall der Phanarioten in den Fürstentümern nicht das ethnische Element entscheidend war: »Der Phanariotismus war eine soziale, politische und kulturelle Struktur, in die sich alle integrieren konnten, die willens waren, ein bestimmtes Wertesystem zu akzeptieren und zu respektieren, das auf einem konservativen Orthodoxismus, einem antiwestlichen Traditionalismus und der Achtung der Verbindung zur Pforte gründete.«29
G RENZÜBERSCHREITUNGEN IM W ERK D ORA D ’I STRIAS
UND
G RENZZIEHUNGEN
Die Identifizierung Dora d’Istrias mit den Rumänen und die Bezeichnung der Walachei bzw. des jungen Rumänien als ihre Heimat liegt nahe, hat sie doch die prägenden ersten 14 Jahre dort verbracht. Dies wird auch in ihren Schriften sogleich deutlich. In ihrem zweiten großen Buch La Suisse allemande et l’ascension du Moench verfasst sie ein gefühlsbetontes Vorwort voller Zuneigung »A mes frères Roumains«. Die Schweiz und die Schweizer werden darin als glückliches und freies Volk vorgestellt, dessen Unabhängigkeit sowie dessen religiöse und bürgerliche Freiheiten ein Modell und Vorbild seien. In ihrem Vorhaben zu der Darstellung sei sie, so Dora d’Istria, geleitet worden von der Liebe zur Heimat. Ihre gesamten Bestrebungen in ihrem Leben seien getragen worden von dem 26 Georgescu, Vlad: Istoria românilor de la origini pînă în zilele noastre, Bucureşti: Humanitas 1992, S. 84. 27 Ebd., S. 84f. 28 Ebd., S. 85. 29 Ebd., S. 84.
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Wunsch nach Freiheit und Glück ihres Geburtslandes. »Tous mes rêves ont été pour elle, toutes les luttes que j’ai engagées, toutes les souffrance auxquelles j’ai résisté n’ont eu qu’une seule cause: une ardent patriotisme, auquel je ne renoncerai qu’avec la vie.« Diesen Kampf für ihre Heimat, wie d’Istria es ausdrückt, vergleicht sie gar mit den Kämpfen der ersten Märtyrer »pour la sainte cause de l’Evangile«.30 In den albanischen Zuschreibungen findet der Bezug zum einen über die ursprüngliche Herkunft der Familie Ghica statt.31 In den Schriften, die sich in besonderer Weise mit den Albanern befassen, »Les Albanais des deux côtes de l’Adriatique et la nationalité albanaise d’après les chants populaires«32 – steht neben dem reinen Informationsbestreben der aufklärerische und emanzipatorische Gedanke als Motor im Hintergrund. Für ›die Albaner‹ stand Dora d’Istria ebenso ein, wie für ›die Serben‹ oder ›die Bulgaren‹.33 Es galt im 19. Jahrhundert als fortschrittlich, die jungen aufstrebenden, sich national formierenden Bevölkerungsgruppen gegen konservativ-autokratische Herrschaften zu unterstützen. Schließlich bleiben noch ›die Griechen‹, die sie ebenfalls stützte, zu denen sie sich über die Herkunft der Mutter hingezogen fühlte.34 Der starke Bezug zu Griechenland erfolgte über die Sprache und die Kultur, wie dieses aus der Widmung für ihren Lehrer G.G. Papadopoulos im Werk Les femmes en Orient hervorgeht.35 Dora d’Istrias Werke werden von zwei Ideen in besonderer Weise getragen: Zum einen die Sehnsucht nach grenzüberschreitender Freiheit, zum anderen der Glaube an den Fortschritt und die Ablehnung jeden Obskurantismus, sei dies der ›orientalische Despotismus‹ oder die ›jesuitische Tyrannei‹.36 In dem ersten Werk La vie monastique dans l’eglise orientale, das in der ersten Auflage 1855 in Brüssel erschienen ist, befasst sich die Autorin mit orthodoxen Klöstern aus der Walachei, der Moldau, Palästina, Griechenland und Russland. Eine Besonderheit stellt die Vorstellung des armenischen Mechitaristenklosters San Lazzaro in Venedig dar. Doch betrachtet man den Anspruch der Autorin, so 30 D’Istria, Dora: La Suisse allemande et l’ascension du Moench. Bd. 1, Paris u. Genève: Joël Cherbuliez 1856, S. V-XII, hier S. VI. 31 Dies geschieht in der Schrift: D’Istria, Dora: Gli Albanesi in Rumenia. Storia dei principi Ghica nei secoli XVII, XVIII-e XIX, Firenze: Tip. editr. dell'Associazione 1873. 32 Erschienen in: Revue des Deux Mondes 36 (1866), S. 382-418. 33 D’Istria, Dora: »La nationalité serbe d'après les chants populaires«, in: Revue des Deux Mondes 35 (1865), S. 315-360; Dies.: »La nationalité bulgare d'après les chants populaires«, in: Revue des Deux Mondes 38 (1868), S. 319-354. 34 Hierzu verfasste sie auch »La nationalité hellénique d'après les chants populaires«, in: Revue des Deux Mondes 37 (1867), S. 587-627. 35 D’Istria, Dora: Les femmes en Orient. Bd. 1, Zürich: Meyer et Zeller 1859, S. V-VII. 36 Hierzu auch Vasculescu, A.: Dora d’Istria, Bucureşti: Cartea Românească o.J. [1941], S. 106.
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fügt sich auch dieser Sonderfall in das Konzept. Für Dora d’Istria spielen bei ihren Betrachtungen Gedanken der Aufklärung und des Humanismus, das Evangelium sowie die »véritables intérèts des nations« eine grundlegende Rolle, während der Ultramontanismus sowie »les traditions du byzantinisme« abzulehnen seien.37 D’Istria versteht sich als bewusste Vertreterin der orthodoxen Kirche, deren Größe und ›unsterblichen Ruhm‹ sie aufzeigen will und weniger einen traurigen Niedergang. Zugleich ist sich d’Istria ihrer Rolle als Frau bei der Behandlung des Themas sehr wohl bewusst.38 Die ›wahre Religion‹ ist für sie die universelle Religion, »la religion en esprit et en vérité, qui contenait tous les élements d‘émancipation et de progrès«.39 Zugleich versteht sie sich als Kritikerin des Mönchtums. Dieses würde das Evangelium falsch auslegen und den Fortschritt verhindern. In den einzelnen Betrachtungen kommt die Autorin in ihrem Werk wiederholt auf ihre Familie und Rumänien zu sprechen. Das Kloster Căldăruşani wird in engen Zusammenhang mit der Familie Ghica und ihrer Geschichte in der Walachei gebracht. So schickt die Autorin zunächst eine ausführliche Erläuterung des nicht weit davon entfernten Herrensitzes der Familie Ghica, Pașcani-CăciulaȀi, voraus.40 Dies geht zugleich einher mit Reflexionen über den Fürsten Alexandru Ghica. Dieser habe das Land aus dunklen barbarischen Zeiten herausgeführt hin zu Humanität und Respekt.41 Auch die Geschichte des Klosters wird in engen Zusammenhang mit der Familie gebracht. So sei das Kloster durch die Fürstenfamilie Ghica gegründet worden, an anderer Stelle heißt es: ›Œvre des Ghika‹.42 Diese Information kann so allerdings nicht stimmen, zumal die Entstehung des Klosters auf den Fürsten Matei Basarab 1638 zurückgeht, während der erste Ghica-Fürst, Gheorghe I. Ghica, seine Herrschaft in der Walachei erst 1659 antritt.43 All das, was das Kloster und sein Umfeld an positiven Errungenschaften bieten, erscheinen als ›Werk der Ghicas‹: die unabhängige Verwaltung und die großzügige Gastfreundschaft. »Dans un pays comme le nôtre, où les hôtels n’existent qu’à l’état de projet, n’est-ce pas un grand 37 D’Istria, Dora: La vie monastique dans l’église orientale, Genève: Cherbuliez ²1858, S. VI-X. 38 Ebd., S. 2. 39 Ebd., S. 12. 40 In die naturkundliche Beschreibung des Landes schleichen sich aber auch Phantasie und Wunschvorstellungen ein, wenn sie Gebirgszüge innerhalb der Karpatenkette (Ceahlău und Bucegi) mit den Alpen (Jungfrau und Mönch) vergleicht und über erstere schreibt, diese seien von ewigem Schnee bedeckt. Ebd., S. 36. Neben dem Kloster Căldăruşani beschreibt d’Istria noch Cernica. Dieser Beitrag konzentriert sich auf ersteres. 41 D. d’Istria: La vie monastique, S. 39f. 42 Ebd., S. 41 u. 45. 43 Hierzu auch die Homepage des Klosters http://www.manastirea-caldarusani.ro (abgerufen am 12.05.2016); zu Gheorghe Ghica vgl. A. Iordache: Principii Ghica, S. 17.
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avantage de trouver dans les convents un refuge assuré?«44 Gemeint ist die ›Gastfreundschaft‹ auch im übertragenen Sinn. So wurden unter der Obhut des Klosters, so die Schriftstellerin, Schulen und Landwirtschaft sowie Wissenschaft betrieben. Ähnlich verfährt Dora d’Istria in der Moldau, wo sie das traditionsreiche Kloster NeamĀ sowie das nicht weit davon entfernte Kloster Văratec besuchte. In beiden Fällen gehen die Erläuterungen zum Kloster mit Ausführungen zu den weltlichen Wohltätern einher, verbunden mit einzelnen Porträts. Für NeamĀ steht die Person des Fürsten und Stifters des Klosters, Stefan des Großen, an erster Stelle.45 Aus der Liste der Nachfolger, die aufgezählt werden, richtet sich der Blick erneut auf die Dynastie der Ghicas vor, während und nach der Herrschaft der Phanarioten nicht nur in der Moldau, sondern auch in der Walachei. Die lobenden Einschätzungen fallen dabei besonders auf. So wird aus der Literatur über den Fürsten Grigore Ghica (1764–1772) zitiert, er hätte »a laissé un nom cher aux Roumains« und er sei als »martyr de l’indépendance nationale« gestorben.46 Nach der Periode der Phanarioten sei es dann erneut ein Ghica gewesen, Grigore IV. Ghica (1822– 1828), der aufgetreten sei als »protecteur résolu du paysan«47 und dessen Herrschaft »une ère exeptionelle de justice« gewesen sei.48 Die Darstellung der rumänischen Klöster kommt einer glorreichen Darstellung der Dynastie der Ghicas gleich. Darüber hinaus wird in dem Werk deutliche Kritik an der Haltung der Mönche laut. Diese hätten keine Anteilnahme oder Interesse am schweren Los der Bauern gezeigt und außerdem seien sie Gegner der liberalen Ideen gewesen. Einen besonderen Stellenwert im Werk Dora d’Istrias nimmt die Gender-Thematik ein, die zugleich mit sozialen Belangen verbunden wird. In einer ganzen Reihe von Schriften hat sich die Autorin mit dem Bild und dem Schicksal der Frauen befasst. Erwähnt seien hier neben mehreren Beiträgen zu dem Thema die beiden Bände von Les femmes en Orient sowie Des femmes par une femme. Der Leser begegnet in dem Buch Les femmes en Orient, das in Form von Briefen der
44 D. d’Istria: La vie monastique, S. 45. 45 Ebd., S. 116-120. 46 Ebd., S. 122. Dora d’Istria beruft sich dabei auf die Werke: Chopin, Jean Marie/ Ubicini, Abdolonyme: Provinces danubienne et roumaine, Paris: Firmin Didot Frères 1856, S. 105; sowie Regnault, Elias: Histoire politique et sociale des principautés danubiennes, Paris: Paulin et Le Chevalier 1855. 47 D. d’Istria: La vie monastique, S. 123. Die Autorin beruft sich erneut auf Regnault, wobei sie ihn nicht ganz korrekt zitiert. Es müsste heißen: »Grigoire Ghica, en Valaquie, se montra résolument protecteure de paysan«. E. Regnault: Histoire politique et sociale, S. 303. 48 D. d’Istria: La vie monastique, S. 123; Sie zitiert E. Regnault: Histoire politique et sociale, S. 304.
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Autorin an eine Freundin verfasst ist, einer ganzen Reihe von Beschreibungen von Traditionen und Lebensarten der Frauen im 19. Jahrhundert in den verschiedenen Regionen des ›Orients‹ mit dem Ziel, auf die Rechte der Frauen hinzuweisen und diese zu stärken. Zugleich nutzt die Autorin aber die Darstellungen auch, um herauszustellen, dass in den ausgewählten Regionen Frauen im Vergleich zum Okzident respektvoller behandelt werden, diese seien »[t]rès-supérieures à leurs maris par l‘énergie et par la gaîté […]. Rien dans leur position qui soit de nature à les umilier. Les services qu‘elles rendent les font respecter. Plus d’une fois j’ai vu les Occidentaux regarder le mariage comme un marché fort onéreux. Les paysans roumains ne sont pas de cet avis.«49
Dora d’Istria stellt die Frauen auf positive Art und Weise in allen Lebensumständen dar, die Art, wie sie sich unterhalten und ihre freie Zeit verbringen und wie sie sich anziehen. Über ›die Rumäninnen‹ heißt es, diese »ont un sentiment inné de l’élégance, s’habilent généralement avec une ingénieuse coquetterie«.50 Dem Leser präsentiert sich ein wahres ethnografisches Tableau. Dieses bleibt nicht auf Bäuerinnen beschränkt, sondern bezieht auch Bojarinnen mit ein, wobei auch grundlegende Beobachtungen über den Stand gemacht werden. So verdeutlicht d’Istria, dass die Bojaren im Gegensatz zum Adel im Westen kein abgeschlossener Stand seien: »La boyarie […] se recrute perpétuellement dans les classes inférieures de la nation«.51 Die Bojarinnen werden allerdings nicht gänzlich verschont. Ihr Leben sei geprägt von Leichtigkeit, Faulheit und fehlendem Engagement im sozialen Bereich. Erst »[l]a lumière de l’Occident« habe diesen »une meuilleure concience d’elle-mème« verliehen.52 Die Charakterisierungen sind sicherlich starke Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen, die stellenweise stereotypenhaft klingen. Dies wird besonders bei der Präsentation der ›Tsigani‹ deutlich. Die Frauen werden als besonders schön, mit anmutigem Gesicht und dunklen Augen vorgestellt.53 Diese ethnologischen, ›tsiganologischen‹ Studien, die typisch waren für das 19. Jahrhundert, befassten sich auch mit Überlegungen, wie die Roma zu sesshaften Bürgern in den sich konstituierenden modernen Staaten erzogen werden konnten. In diesem Zusammenhang griff d’Istria erneut auf ihre Familie zurück und lobte die Vorgehensweise
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D. D’Istria: Les femmes en Orient, S. 18f. Ebd., S. 21. Ebd., S. 56. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 107.
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des Fürsten Alexandru II. Ghica (1795–1862), der mit Maßnahmen versucht habe, »de les rettacher à la vie sociale«.54 Neben sozialen Bestrebungen treten in den Beschreibungen über die Frauen auf dem Balkan auch nationale Tendenzen auf. Die Bulgarinnen und Serbinnen werden als Opfer der osmanischen Herrschaft gesehen. Zugleich beteiligten sich serbische und bulgarische Frauen, die als liebende Mütter, treue Ehefrauen und gute Hausfrauen vorgestellt werden, am ›Befreiungskampf‹.55 Es findet nicht nur eine Identifizierung mit den Frauen statt. Hinzu kommt auch die eindeutige Positionierung zu der Region des ›Orients‹. Die Gastfreundschaft der Menschen, ihre Herzlichkeit und christliche Brüderlichkeit sah d’Istria u.a. als besondere Eigenschaften an, aufgrund deren sie sich vom Westen unterschieden. Dort würde der Egoismus und ›Fragen des Geldes‹ oder der ›Gott des Dollars‹ alles zerstören, was die Würde des Menschen betreffe.56 Dora d’Istria sieht den Vorwurf einer »atmosphère empoisonnée de l’Orient«, den wohl Touristen erfunden hätten, als in keiner Weise gerechtfertigt. Eine solche vergiftete Atmosphäre könne es genauso auch in westeuropäischen Städten und Regionen geben.57 Dem hält sie entgegen, dass die Frauen auf dem Balkan tags wie nachts sicher reisen könnten, auch auf den entlegensten Routen. Zugleich fragt sie angriffslustig, ob das auch in Rom, Wien und Paris der Fall sei. Was die Freiheiten des weiblichen Geschlechts angeht, so fragt sie abschließend: »et les sentiments ›catholiques et monarchiques‘ ont-ils jamais pu y asurer à notre sexe une pareille liberté?«58
F AZIT Den vielfach eindeutigen historiographischen Positionierungen, den exklusivistischen ethno-nationalen Überformungen und Abgrenzungen steht ein Bild, das aus den Schriften Dora d’Istrias entnommen werden kann, entgegen. Entsprechend multiplen, ja rhizomatischen Identitäten ist das Selbstverständnis netzartig verzweigt und ohne hierarchische Setzung verbunden. Als Spross aus dem in der Moldau und der Walachei residierenden Bojaren- und Herrschergeschlecht der Ghica rezipiert sie auch die albanischen Wurzeln. Zugleich bereist sie als vielfach interessierte Frau den Balkan und Westeuropa. Dora d’Istria identifizierte sich
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Ebd., S. 109. Ebd., S. 138, 190-196. Ebd., S. 35. Ebd., S. 207. Ebd., S. 264.
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darüber hinaus mit der orthodoxen Religion, in deren Umfeld sie geboren wurde. Allerdings befürwortete sie eine Religion, in der Freiheit, Humanität und Aufklärung einen Platz haben. Diese Eigenschaften durften im weiteren Zusammenhang nicht nur für Männer gegolten haben, sondern auch für die Frauen – stereotype Beschreibungen, z.B. bei den Roma, unterlagen dabei dem Geist der Zeit. Den starken emanzipatorischen Zug bezog die Autorin auch auf die jungen Nationalitäten Südosteuropas. Dora d’Istria hat durch ihre Publikationen die Regionen Südosteuropas sowie die kleinen, im Entstehen begriffenen Nationalitäten bekannt gemacht, die sozialen, politischen und kulturellen Angelegenheiten der Griechen, Albaner, Rumänen, Südslawen, Türken und Ungarn. Der kosmopolitisch-aufklärerische Zugang Dora d’Istrias und ihr panbalkanischer Blick sind von besonderer Relevanz und tun in der Gegenwart nicht nur dem südöstlichen, sondern dem gesamten Europa gut. Im Verständnis von d’Istria kommen Grenzen im modernen nationalen Sinn nicht vor. Die südosteuropäische Region, die Autorin umschreibt diese auch mit ›Orient‹, wird allerdings immer wieder deutlich vom ›Okzident‹ abgegrenzt und davon unterschieden. Deutlich wird diese Linie z.B. bei der Betrachtung der Frauen in Ost und West gezogen, allerdings mit einem positiven Urteil im Hinblick auf den Südosten des europäischen Kontinents und kritischen Anmerkungen zum Westen.
Zwischen Osmanen und Österreichern Temeswarer Banat – ein europäisches Experiment des 18. Jahrhunderts V ICTOR N EUMANN
Z WISCHEN
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Temeswar (Timișoara) ist eine der europäischen Städte im heutigen Rumänien, deren Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen.1 Ihre Geschichte in Mittelalter und Neuzeit weist unterschiedliche kulturelle und zivilisatorische Schichten auf. An der Grenze der ehemaligen ungarischen, osmanischen und habsburgischen König- und Kaiserreiche, derjenigen dreier aktueller Nationalstaaten – Rumänien, Serbien und Ungarn –, in einer geographischen Zone verortet, in der sich die drei großen monotheistischen Religionen getroffen haben – Christentum, Islam und Judentum – und in der Kulturen mit gemeinsamer Sprache und verschiedenen Konfessionen zusammengelebt haben, ist Temeswar eine der südosteuropäischen Städte, welche sich im Laufe der Zeit ihre Einzigartigkeit durch Multi- und Interkulturalität, Mehrsprachigkeit, Wettbewerb und Erneuerungsgeist erworben haben. Im Verlauf der Geschichte hat das Banat eine wichtige wirtschaftliche und kaufmännische Rolle in Zentral- und Südosteuropa gespielt, und Temeswar fungierte als dessen verwaltungspolitisches, militärisches, industrielles sowie kulturelles Zentrum. Infolge seiner Entdeckung und Beschreibung vonseiten aufklärerischer Reisender und Forscher und im Zuge seiner Eingliederung in
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Dies ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der zuvor in Rumänisch und Englisch unter dem Titel »Timisoara under the sign of Prince Eugen of Savoy« erschienen ist.
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die Besitztümer des Hauses Habsburg erlangte das Banat innerhalb Europas ab dem 18. Jahrhundert unter diesem Begriff Bekanntheit.2 Seit dem Mittelalter wurde die Festung und später die Stadt Temeswar Zeuge wichtiger europäischer Ereignisse: Hierzu zählen die Schlachten gegen die Osmanen, die späten Kreuzzüge, der Aufstieg Ungarns, der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, die unvergleichliche Expansion des Habsburgerreiches, das Verschwinden der österreich-ungarischen Monarchie und die Entstehung der rumänischen, serbischen und ungarischen Nationalstaaten. Temeswar verwandelte sich in jedem Jahrhundert, die Rolle der Festung und der Stadt werden in den Zeugnissen der politischen, militärischen und kulturellen Persönlichkeiten betont. Unterschiedliche königliche, kaiserliche und nationale Verwaltungen, welche sich im Laufe von siebeneinhalb Jahrhunderten ablösten, haben eine urbane Identität erschaffen, deren Besonderheit auf die unterschiedlichen kulturell-zivilisatorischen Schichten, beziehungsweise auf die multiplen Identitäten ihrer Bewohner zurückzuführen ist. Ein Anfang in diesem Sinne ist im 14. Jahrhundert zu verorten, als die Könige der Anjou-Dynastie Ungarns eine Festung an der Stelle einer antiken Siedlung errichteten. In den Herrschaftsjahren Karls I. Robert entwickelte sich die Stadt stark, »sie wurde bevölkerungsreich und wohlhabend und konnte der königlichen Familie eine angemessene Herberge bieten«.3 Karl I. Robert siedelte in der Region Familien aus unterschiedlichen Teilen Europas an, ein Experiment, welches von den Habsburgern im 18. Jahrhundert wiederholt werden sollte. In den Jahren zwischen 1552 und 1716 besetzten die Türken Temeswar und Umgebung. Die Festung weckte aus militärstrategischen wie auch gewerblichen Gründen Interesse. Man errichtete Moscheen in Temeswar, Häuser, Bäder, Basare, allesamt nicht nur eine religiöse Kultur symbolisierend, sondern eine des Wohnens und des offenen Wettbewerbs. Als Ort, an dem Kapitalakkumulation bereits im 16. Jahrhundert stattfand, förderte der Basar wiederum die transparenten Beziehungen zwischen Verkäufer und Käufer. So wie wir die Existenz der multi- und interkulturellen sozialen Mittel in den osmanisch besetzten Regionen anerkennen, so müssen wir auch das Aufkommen der offensichtlich damit einhergehenden Zeichen von Mo-
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Munteanu, Ioan/Munteanu, Rodica: Temeswar. Monografie, Temeswar: Mirton 2002; Eintrag »Banat«, in: Holm Sundhausen/Konrad Clewing (Hg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 2016, S. 127-128; Neumann, Victor: Banat: Zwischen orthodoxem Byzanz und katholischem Europa, in: ders. (Koordinator), Istoria Banatului. Studii privind particularitãȀile unei regiuni transfrontaliere, Bukarest: Editura Academiei Române 2016, S.19-42. Griselini, Francesco: Încercare de istorie politicã și naturalã a Banatului Timișoarei, Temeswar: Editura de Vest, 22006, S. 37.
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dernität feststellen. Der Ort und die Welt Temeswars waren für die Osmanen anziehend, weil sie sich am Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident befanden. Generell repräsentierte Europa in den Augen der Türken einen exotischen, beliebten und interessanten Raum.4 1719-1779 wird zur Epoche, in der Temeswar massiv in den westlichen Einflussbereich gerät. Die österreichische Verwaltung sollte die Festung verwandeln und dabei die gesamte Region reformieren. Das vonseiten des Hauses Habsburg kultivierte aufklärerische Ideal hat nicht nur die Erneuerung der alten Banater Siedlung ermöglicht, sondern auch die Gründung einer neuen. Der Statthalter Claudius Florimund Mercy gründete viele neue Dörfer und besiedelte diese mit Deutschen, Italienern und Spaniern. Was die Besiedlung der Dörfer anbelangt, beabsichtigte Mercy die Ausbeutung der reichhaltigen Böden der Temeswarer Ländereien mit Hilfe der Förderung einer neuen Landwirtschaftsbranche, der Ankurbelung des Handwerks und eines aktiven Tauschhandels mit Europa. Um solcherlei Projekte in die Tat umzusetzen, »rief er erfahrene Landwirte und gewandte Handwerker ins Banat, vornehmlich aus Italien, die er mit Großzügigkeit unterstützte«.5 Einige dieser Vorhaben wollten die Gründung von Fabriken begünstigen und zielten letztendlich auf eine Industrialisierung Temeswars ab. Das Zusammenleben mehrerer religiöser und europäischer kulturell-sprachlicher Gemeinden war eine Wirklichkeit, eine die gegenseitig vorteilhafte zwischenmenschliche Beziehungen schuf. Sie repräsentierte weniger die Festigung einer dogmatischen Perspektive.6 Hierbei ist nicht nur von der Politik Wiens die Rede, sondern auch von der bewussten Entscheidung und Haltung der Menschen, deren Wunsch es war, sich im Temeswar und dem Banat niederzulassen. Und aufgrund des letztgenannten Falles liegt der Fokus weniger auf gemeinschaftlicher Segregation als vielmehr auf interreligiösen und interkulturellen Beziehungen. Diese waren selbstverständlich für die weniger wohlhabenden Menschen, während diejenigen, die einem Beruf nachgingen und ihr tägliches Überleben sichern wollten, den auf existentiellen Prinzipien basierenden Wettbewerb akzeptierten. Aus sozialer Warte betrachtet, nahmen Temeswar und Umgebung rasch die kulturellen und zivilisatorischen Ideen an, die dem 18. Jahrhundert eigen waren und welche den Wunsch nach einer
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Ortayli, Ilber: »Prince Eugen and the Ottomans. Cultural Exchange in War and Victory Encampments from 1683 to 1717«, in: Agnes Husslein-Arco/Marie-Louise von Plessen (Hg.), Prince Eugen. General-Philosopher and Art Lover, Wien: Belvedere u. Hilmer 2010, S. 49-114, hier S. 52-53. F. Griselini: Încercare de istorie, S. 122 und 138-146, Zit. S.123. Neumann, Victor: Die Interkulturalität des Banats, Berlin: Frank und Timme 2015.
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absoluten Werteordnung ausdrückten. Vieles von dem, was in diesen Jahren stattfand, steht in Zusammenhang mit von Prinz Eugen formulierten und von Claudius Florimund Mercy umgesetzten Vorhaben.7 Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Prinz, Repräsentant der westlichen und der österreichischen Aufklärung, dadurch eine zentrale Rolle gespielt hat, dass er zur Entstehung der ersten europäischen Verwaltungen der Banater Lande beigetragen hat.
Ö STERREICHISCHE AUFKLÄRUNG : DAS Z USAMMENLEBEN MEHRERER RELIGIÖSER UND SPRACHLICH - KULTURELLER G EMEINDEN Bevor er Temeswar in Richtung Wien verließ, um Kaiser Karl VI. von der Wichtigkeit der Eingliederung und Verwaltung des Banats zu überzeugen, betraute Prinz Eugen Graf Franz Paolo von Wallis mit dem Kommando über die Festung und Graf Florimund Mercy mit der Verwaltung der Region.8 Die mutige und effiziente Unterstützung der österreichischen Armee während des Angriffs auf Temeswar vonseiten der Jesuiten entfachte Eugens Bewunderung und stellte den Grund dafür dar, dass er diese Missionare unmittelbar nach der Einführung der kaiserlichen Verwaltung mit der Reorganisation und Koordination der religiösen Aufgaben betraute. In Ermangelung eines Diözesan-Seminars und eines Spezialisten in kirchlichen Fragen, führten die deutschsprachigen Jesuiten der Gemeinschaft Jesu das Bistum Temeswar, später dann die Bischöfe Ladislau Nádasdy (1711-1729), Adalbert Freiherr von Falkenstein (1730-1739), Nicolas Stanislawich (1739-1750) und Franz Anton Engel von Wagrein (1750-1777).9 Da das Banat Wien unterstellt war, operierte die katholische Kirche Temeswars zu besagtem Zeitpunkt auf der Rechtsgrundlage einer gegenüber der ungarischen Verwaltung unabhängigen Administration. Solche konfessionellen Friktionen waren keine Einzelfälle, finden wir sie doch auch zwischen Reformierten und Katholiken. Genauso existierten sie zwischen adligen Familien und dem Kaiserhaus oder zwischen Ungarn und Österreich, ein Umstand, der von Zeit zu Zeit auch Auswirkungen auf die Verwaltung des Banats haben sollte.
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Szentkláray, Jenõ: Mercy kormányzata a Temesi Bánságban, Budapest: Magyar Tudományos Akadémia 1909. F. Griselini: Încercare de istorie, S. 113. Juhász, Koloman: »Jesuiten im Banat (1718-1773). Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Temeswarer Banat«, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 11 (1958), S. 154-220, hier S. 158-159.
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Was die orthodoxe Kirche anbelangt, so akzeptierte diese die Unterordnung gegenüber der Verwaltung in Wien. Unter den Habsburgern war sie eine fundamentale Bezugsgröße des spirituellen Lebens der alten Einwohner der Stadt und des Großteils derer, die die Region bevölkerten. Im Laufe des gesamten 18. Jahrhunderts war die Metropolie von Karlowitz eine starke Institution der Orthodoxie, anerkannt von Wien und verantwortlich für die serbischsprachige und die rumänischsprachige Gemeinde. Ihre Rolle war derjenigen des römisch-katholischen Bistums gleichgestellt, und ihre Präsenz machte sich bemerkbar in der Dynamik des sozialen Lebens, in der Beteiligung der Kirchen und ihrer Diener an den kulturell-edukativen Reformen und an der Emanzipation der Menschen, sowie der Gründung schulischer Institutionen. Die doppelte Unterordnung der Banater und Temeswarer Orthodoxen, eine gegenüber Wien und eine gegenüber Sankt Petersburg, sollte den Bewohnern einen Sonderstatus verschaffen. In dieser Weise entstanden sowohl verschiedene Arten von Reformen, miteinander verwandte und nicht miteinander verbundene, aber auch unzählige Möglichkeiten der Neudefinition der Temeswarer und Banater Identität. Den Juden Temeswars, der am meisten verfolgten Bevölkerungsgruppe der mittelalterlichen Städte und Regionen Europas, welche oftmals in Ghettos wohnten, wurde die Möglichkeit angeboten, sich nicht nur in den Randbezirken anzusiedeln, sondern auch im Inneren der Festung. Gegen eine Gebühr und ein Gesundheitszertifikat erhielten die jüdischen Handwerker, Kaufleute und Händler das Recht, sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Corso niederzulassen. Auf einer der Parallelstraßen zum Domplatz, wo die vorherrschende Architektur von katholischen und orthodoxen Kirchen geprägt war, sowie vom Regierungspalast, wurde mit der Genehmigung der kaiserlichen Verwaltung des Temeswarer Banats in den Jahren zwischen 1760 und 1770 die erste Synagoge für Gläubige der sephardischen sowie aschkenasischen Glaubensgemeinden errichtet. Es handelte sich um eine kaiserliche Gunst, welche auf die Intervention des Barons Diego d’Aguilar (Mozes Lopez Pereira) zurückging, dem Verwalter und Generalintendanten des österreichischen Tabakmonopols, dem Beschützer und Mäzen der sephardischen Juden aus Wien und Temeswar.10 Die ›kulturellen Korridore‹ des 18. Jahrhunderts schließlich demonstrieren, der Reihe nach, wie die Stadt und die Region durchdrungen werden von einer Vielfalt von kulturellen Ausdrucksweisen, seien diese byzantinisch-orthodoxer oder barocker zentral- und westeuropäischer Natur. Die Ideen der Aufklärung brachen sich Bahn, wobei nicht nur der Eroberer bei ihrer Übernahme eine Rolle
10 Neumann, Victor: Istoria evreilor din Banat. O mãrturie a multi- și interculturalitãȀii Europei Central-Orientale, Bukarest: Atlas 1999, S. 37-39.
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spielte, sondern auch der Eroberte. Zahlreiche derjenigen, die die türkische Festung Temeswars bewohnt hatten, zogen es vor zu bleiben, nachdem diese in Habsburger Besitz übergegangen war. Gleiches gilt für die Kolonisten, diese wurden zu Beteiligten an den Reformen, durch die Temeswar und der Banat gehen sollten. Beim Wiederaufbau der Festung und der Region hatten die katholischen Kolonisten Prinz Eugen und Claudius Florimund Mercys die mehrheitlich orthodoxen Bewohner des Banats zum Partner. Mit anderen Worten war der Prozess der Modernisierung, der nach 1716 einsetzte, in gleichem Maße das Verdienst der Wiener Projekte Prinz Eugens, seiner Nachfolger und der katholischen Kirche, wie der von den orthodoxen Autoritäten akzeptierten und geförderten Reformen.
T EMESWARER B ANAT :
EIN EUROPÄISCHES
E XPERIMENT
Die Festung Temeswar wurde während der österreichisch-türkischen Kämpfe zerstört. Die Bevölkerung war mit den ökonomischen und organisatorischen Bedingungen unzufrieden. Die Historiker kreiden den Türken eine ineffiziente Verwaltung der Stadt und der Region an, die Entvölkerung und das Verschwinden mehrerer Ortschaften, die ökonomische Unterentwicklung und unzählige Sümpfe, die weite Flächen einnahmen und die sich in den 164 Jahren der osmanischen Herrschaft weiter ausgebreitet hatten und auf diese Weise ein trostloses Bild abgaben.11 In Ermangelung einer anderen Ortschaften des Kaiserreichs vergleichbaren Infrastruktur benötigten die Städte des Banats einen vollständigen oder partiellen Wiederaufbau. Dies diente Prinz Eugen als Argument, ohne Verzögerung Vorschläge für die imperiale Verwaltungsstruktur zu machen. Er empfahl, die Region von einem militärischen und von einem zivilen Statthalter regieren zu lassen, die Wien unmittelbar unterstellt sein sollten. Ihr Sitz sollte Temeswar sein. Die Militärregierung war von vorrangiger Bedeutung, da sie die einzige Instanz repräsentierte, die dabei helfen konnte, die großen und kleinen Unzulänglichkeiten auf lokaler Ebene zu überwinden. Nicht zufällig war eine der obersten Prioritäten der Verwaltung die Planung und Verwirklichung des Bega-Kanals, der Temeswar und der angrenzenden Zone eine industrielle und kommerzielle Entwicklungsperspektive eröffnete.
11 F. Griselini: Încercare de istorie, S. 117. Über die Sumpflandschaften des Banats und der Umgebung Temeswars ist auch in Chroniken und Beschreibungen die Rede, die älter sind als diejenigen Griselinis. Siehe Bozac, Ileana/Pavel, Teodor: Cãlãtoria împãratului Iosif al II-lea în Transilvania la 1773, Bd. 1, Cluj u. Napoca: Academia Românã, Centrul de Studii Transilvane 22007, Dokument Nr. 39, S. 419-422.
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Die Trockenlegung der Sumpflandschaften und die Kanallegung der Bega wurden in einem ersten Schritt 1730 zum Abschluss gebracht, ein Umstand, der sowohl die Versorgung der Bewohner Temeswars mit Trinkwasser sicherte, als auch den Beginn des Wassertransports der im Banat hergestellten, überschüssigen Erzeugnisse markierte. Den zentralen Beitrag zum Wiederaufbau der Festung und der künftigen Stadt leistete Claudius Florimund Mercy. Über diesen schrieb Francesco Griselini, dass er alle Eigenschaften mitbrachte, die notwendig waren, um den großen Plan des Wiederaufbaus der Festung zu entwickeln und umzusetzen. Bei ihm gingen die militärischen Tugenden mit profunden politischen Kenntnissen einher, beide ergänzt durch seine eigenen Erfahrungen. Mercy war »ein großes Genie und ein großer Menschenfreund«, und »hatte es somit aus allen Gesichtspunkten verdient, den besten Monarchen zu dienen.«12 Zu Mercys bemerkenswertesten Beiträgen gehört seine Beschäftigung mit der Zuteilung der Kavallerie und der Infanterie, welche das Banat, genauer das Donaugebiet, dort verteidigen sollten, wo sich die Grenze zum osmanischen Imperium befand. Diesem Statthalter, einem der langlebigsten (besagte Position hatte er bis 1734 inne), hat man die Konzipierung des Projektes der Restrukturierung Temeswars und des Banats zu verdanken – ein Vorhaben, welches unerwartete Früchte tragen sollte. Die Region wurde in zwölf Distrikte eingeteilt: Temeswar, Gross Becskerek, Csanad, Csakova, Lugos, Verschetz, Lippau, Faget, Karansebesch, Orschowa oder Mehadia, Pancsowa und Neue Palanka. Diese waren dem Banater Generalkommando untergeordnet. Das war der Kontext, innerhalb dessen die Ideen des Statthalters Mercy umgesetzt wurden. Er war es, der verschiedene Handwerker aus italienischen Städten nach Temeswar rief: Silberschmiede, Schweißer, Schmiede, Schuhmacher, Schneider, Hutmacher, Tuchmacher. Er eröffnete eine Papiermühle, eine Eisendrahtmanufaktur, holländische Keltereien zur Ölpressung, er errichtete eine Weberei usw.13 Zudem widmete er dem Wohnungsbau Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel, wobei er die Einwohner dazu einlud, Häuser innerhalb und außerhalb der Festung zu errichten. Gleichzeitig schenkte er den fruchtbaren Heidelandschaften der Temeswarer Umgebung besondere Aufmerksamkeit,14 der extensiven Kultivierung von Weizen, Mais und Weinreben, um mit deren Ernte zur Versorgung des Imperiums beizutragen. Selbiger Claudiu Florimund Mercy zeichnet sich für die Organisation der ersten Besiedlungen des Banats der Jahre 1717-1724, 1724-1727 und 1727-1734 mit
12 Zit. F. Griselini: Încercare de istorie, S. 120. 13 F. Griselini: Încercare de istorie, S. 124. 14 Marjanucz, László: »AdministraȀie, culturi și colonizări în vremea comitatelor«, in: V. Neumann: Istoria Banatului, S. 65-101, hier S. 65.
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Bevölkerungsgruppen aus Gesamteuropa verantwortlich.15 Die Rede ist von einem speziellen vom Hause Habsburg erarbeiteten Programm, auf dessen Grundlage Bevölkerungsgruppen katholischen Glaubens ins Banat übersiedelt wurden. Dessen Grundsätze wurden im Rahmen der sogenannten Neoacquisita Comissio (Kommission der erworbenen Territorien) erdacht und formuliert, später dann im Einrichtungswerk des Königreichs Ungarn festgehalten. Der Großteil der Kolonisten war schwäbischer Herkunft, also deutschsprachig.16 Sie gesellten sich zu den französisch-, italienisch-, spanisch-, tschechisch-, slowakisch-, ungarisch- sowie bulgarischsprachigen Gemeinden. Zu jener Zeit war die Religion das zentrale identitätsstiftende Merkmal und nicht die Sprache, die Herkunft oder die Geschichte. Da das Haus Habsburg römisch-katholisch war, stellte diese Konfession den zentralen Orientierungswert für die Akzeptanz der Kolonisten dar. Die Sicherung von Gebetsorten war eine der ersten vonseiten der Kaiserlichen ergriffenen Maßnahmen. Dies war nicht einfach, denn zum Zeitpunkt der Eroberung verfügte die Festung lediglich über Moscheen. Sie wurden in christliche Kirchen verwandelt, wobei »die größte Moschee den Jesuiten zugeteilt wurde und zugleich dem Bischof von Cenad diente, zu jener Zeit war dies Ladislau aus der Familie der Grafen Nádasdy«.17 Dieser bediente sich auch der Bistumskathedrale, wobei der erwähnte Repräsentant Gottes dort Gottesdienste abhielt. 18 Francesco Griselini erwähnt auch die zweite Moschee, die den aus Bosnien stammenden Franziskanermönchen überlassen wurde.19 All dies zeigt auf, wie stark die römisch-katholische Kirche in die Politik Wiens involviert war, in die Administration und Reorganisation der Stadt, in die im Laufe des gesamten 18. Jahrhunderts stattfindenden Besiedlungen. Es versteht sich von selbst, dass die Stadtplanung Temeswars die Sichtweise auf die lokale und regionale Geschichte verändert. Anhand der Architektur und des Städtewe-
15 Szentkláray, Jenõ: Mercy kormányzata a Temesi bánságban, Budapest: Magyar Tudományos Akadémia 1909, S.17-31. 16 L. Marjanucz, AdministraȀie, S. 67. 17 F. Griselini: Încercare de istorie, S. 121. 18 Die archäologischen Grabungen in Temeswar, die im Zuge der Renovierung des historischen Zentrums in den Jahren 2013-2015 durchgeführt wurden, bestätigen die Beschreibungen von Francesco Griselini. Der Archäologe Florin Drașovean, unter dessen Leitung die Grabungen am Marktplatz Sfântu Gheorghe stattgefunden haben, hat die Spuren einer Moschee und eines muslimischen Friedhofs entdeckt. Die Rede ist von der großen Moschee, über die Griselini schreibt und die nach der Eroberung Temeswars durch Eugen von Savoyen in eine christliche Kirche umgewandelt wurde. 19 F. Griselini: Încercare de istorie, S. 121. Siehe auch K. Juhász: Jesuiten im Banat.
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sens kann der Historiker ein besseres Verständnis des soziokulturellen Wertesystems Temeswars erlangen. Der Stadt und der Region wurde eine umfangreiche Umwandlung zuteil in den Jahrzehnten, in denen das Temeswarer Banat den Status einer besonderen Region im Rahmen des Imperiums und eines der Krone zugehörigen Gebiets innehatte und von einer Wien unterstellten Landesadministration profitieren konnte. Es fanden bemerkenswerte Fortschritte im Bereich der Agrikultur, der Industrie sowie des Handels statt. Die Banater Region wurde zu einem der größten Hersteller von Korn im gesamten Imperium, während für Temeswar Wiederaufbaupläne ausgearbeitet wurden. Die Stadt zog Ingenieure, Konstrukteure, Architekten, Militärs, aber auch Handwerker aus benachbarten oder weiter entfernten Regionen des Reiches an. Alle werden zur Rekonstruktion der Festung beitragen. Sie werden eine für die damalige Zeit in Europa beeindruckende Kaserne errichten, die Rede ist von der Transsylvanien- Kaserne, deren Länge 483 Meter betrug.20 Der Wiederaufbau des städtischen Zentrums mit Befestigungsmauern, geraden Straßen und mehreren Märkten wurde gemäß den Ideen Wiens erdacht und ist auf den Einfluss Prinz Eugens zurückzuführen. Die Architektur Temeswars im 18. Jahrhundert weist Züge auf, welche nicht verglichen werden können mit denjenigen der in der Nähe befindlichen Städte Arad, Lugos, Werschetz und Szeged. Letztgenannte erbten mittelalterliche Züge, während Temeswar nicht nur zerstört und neu erfunden, sondern auch als neue Stadt erdacht wurde, die nach den kaiserlichen Normen erbaut werden und den städtischen Ansprüchen der damaligen Zeiten genügen sollte, wofür das Vorbild des zentraleuropäischen Barock übernommen wurde. Zugleich wurde Temeswar nicht nur in eine Militärfestung, sondern auch in eine administrative, sozioökonomische sowie politische Bastion verwandelt, ähnlich anderen Festungsstädten innerhalb der Habsburgermonarchie. Wir müssen sehen und verstehen, dass besagte Projekte auf eine vollständige Rekonstruktion und auf die Eingliederung in den kulturellen und zivilisatorischen Kreis Zentraleuropas abzielten, sie waren jedoch zugleich an den städtischen Vorbildern Westeuropas orientiert. Zudem muss bedacht werden, dass die Geographie des Ortes gleich blieb, und die lokalen Werte weiterhin Bestand hatten und sich wiederum veränderten, manches Mal die imperialen Ideen akzeptierend, andere Male ablehnend. Die Pläne für die Rekonstruktion der Innenstadt Temeswars wurden im Jahre 1725 entworfen.21 Als Vorbild für die Festungsanlagen diente der Typus Vauban, weil Temeswar vor allem dafür bekannt war, eine Militärgarnison 20 Szekely, Gabriel: »Arhitectura orașelor libere regești Timișoara și Arad«, in: V. Neumann: Istoria Banatului, S. 203-239. 21 Opriş, Mihai: Timişoara, micã monografie urbanisticã, Bukarest: Editura Tehnicã 1987, S. 42.
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zu beherbergen. Der Transport und die Kommunikation zwischen den Kasernen der Stadt waren wichtig in der Neuerfindung Temeswars und zwar nicht nur aufgrund der Verteidigung der Festung, sondern auch weil sich dort die Militäreinrichtungen befanden, welche die südöstlichen Grenzen des Imperiums schützten. Die große Neuerung des Barock in städtebaulicher Hinsicht, war der Corso, der Raum der Begegnungen, der Spaziergänge und der Gemeinschaftlichkeit, welcher kennzeichnend war für die Städte des österreichischen Barock. Wien schickte die eigenen Ingenieure, um den städtischen Charakter teilweise oder in Gänze zu entwerfen. Auf diese Weise wurde eine Wiedergeburt der mittelalterlichen Strukturen unterbunden. Im Inneren der Temeswarer Festung befanden sich zwei Marktplätze, der Paradeplatz (heute LibertăĀii) und der Domplatz (heute Unirii), erstgenannter war für Militärparaden vorgesehen, zweitgenannter, wo sich die orthodoxen und katholischen Kathedralen befanden, übernahm die Funktion des Corsos. Aus architektonischer Perspektive waren im 18. Jahrhundert die wichtigen Gebäude auf dem Domplatz der römisch-katholische Dom, die Kathedrale des orthodoxen Bistums und der Regierungspalast (Barockpalast); auf dem Paradeplatz das Rathaus, das Haus des Generals, die Transsylvanische Kaserne, die Jesuitenkirche und die Franziskanerkirche. Ein Teil der erwähnten Konstruktionen zeichneten sich durch einen im barocken Stil dekorierten Turm aus, welcher von weitem zu sehen war.22 Die Größe und der Stil, in welchen die Häuser und Paläste erbaut wurden, ihre Ästhetik, weisen auf den vonseiten Wiens zugesprochenen Status des neuen regionalen Zentrums hin. Viel wichtiger jedoch war der Umstand, dass die beiden Kirchen auf dem Domplatz, katholisch und orthodox, einander gegenüber erbaut wurden und somit zu einer friedlichen Koexistenz der Anhänger dieser Religionen einluden. In einer von beiden wurde der Gottesdienst in lateinischer und deutscher Sprache abgehalten, in der anderen in slawisch-serbischer Sprache. Die gegenseitige religiöse Toleranz war ein Zeichen der Brüderlichkeit, eines das zur Vermehrung aufklärerischer Ideen führte, zur Entstehung des Temeswarer Geistes. Nicht alle Vorhaben entwickelten sich gemäß den Plänen zum Wiederaufbau, allerdings ist nach sechs Jahrzehnten Wiener Patronage die Emanzipierung Temeswars und des Banats von den althergebrachten religiösen, kulturellen und politischen Dienstbarkeiten evident. Die Stadt und die Region erlangten europaweit Bekanntheit, die Beiträge der Intellektuellen, die unter dem Einfluss der von Prinz Eugen initiierten und von Josef II. fortgeführten europäischen Verwaltung und Reformen standen, waren beachtlich. Es wurde aufgezeigt, dass die Eroberung Temeswars durch Prinz Eugen auch als eine Expansion der westeuropäischen Kultur und Zivilisation verstanden werden kann. 22 G. Szekely: Arhitectura.
Alles nur Theater? Über die Selbst(er)findung der Rolle des Europäischen Abgeordneten I NES S OLDWISCH
»So etwas können wir machen, wenn wir hier Theater spielen wollen«,1 rief der deutsche Abgeordnete Egon Klepsch ärgerlich ins Plenum des Straßburger Plenarsaals. Seinen Ärger hervorgerufen hatte, dass sich das Europäische Parlament in der Junisitzung 1986 seiner Meinung nach mit inszenierten und für ihn weniger vordringlichen Anfragen an die Kommission (u.a. über die Lage in Südafrika) beschäftigte, anstatt sich der umfangreichen Tagesordnung des Parlaments im Vorfeld der Einheitlichen Europäischen Akte zu widmen. Nur zwei Tage zuvor ging es – skurrilerweise – um eine Abstimmung über eine Abstimmung über einige Entschließungsanträge, obwohl nur noch 25 Abgeordnete im Plenarsaal saßen. Hier platzte dem spanischen Abgeordneten Domenèc Romera i Alcazar der Kragen: »Mir scheint, daß wir in diesem Plenum Theater spielen, und beschämt muss ich sagen, Herr Präsident, nicht Ihnen, sondern dem Präsidium oder wen es sonst betrifft, daß Sie entweder Ordnung in das Hohe Haus bringen oder ich mich nicht daran gebunden fühle, weil ich mich dessen schäme, wie Sie die Dinge treiben lassen.«2
Am 10. Juli 1986 gab der deutsche Abgeordneten Otto von Habsburg in gewohnt pointierter Manier eine schriftliche Stellungnahme ab, in der er im Kontext der Einheitlichen Europäischen Akte forderte, das Parlament solle von Stellungnahmen zur Weltpolitik Abstand nehmen und sich den vornehmlichen Fragen, seiner Meinung nach die Schaffung eines politischen Europas, zuwenden: »Wir sollten 1 2
Verhandlungen des Europäischen Parlaments vom 13.6.1986, Nr. 2-340/286. Verhandlungen des Europäischen Parlaments vom 11.6.1986, Nr. 2-340/153.
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endlich, anstatt ein lächerliches Theater zu spielen, uns den wirklichen Fragen zuwenden.«3
V ORÜBERLEGUNGEN – T HEATER UND T HEATRALIK Diese drei Beispiele aus nur zwei Plenarsitzungen könnten wir um viele weitere ergänzen. Gemeinsam ist ihnen die Verwendung der Metaphorik des Theaters in der Parlamentssprache. Gemeinsam ist ihnen auch die negative Bewertung des Theaters oder dessen, was in unserem Fall auf der politischen Bühne des Europäischen Parlaments als Theater empfunden wurde. Während die Kunstform des Theaters, das Inszenieren von Geschichten dort, die Darstellung von künstlich geschaffenen Rollen auf der Bühne landläufig als positiv, als kulturell bereichernd empfunden werden, scheint die Metapher des Theaters in der Politik – und nicht nur dort – negativ konnotiert zu sein. In unseren Beispielen wird als Theater bezeichnet, was als politisch zweitrangig, unwichtig empfunden wird, als inszenierte, aber nicht real existierende Verantwortlichkeit in der Weltpolitik, und als das Verfolgen des parlamentarischen Drehbuchs, der Geschäftsordnung, obwohl die erforderliche Zahl von Abgeordneten dafür nicht anwesend war. Die drei eingangs zitierten Abgeordneten äußerten sich emotional, hatten eine Wahrnehmung, die sich von ihren Kollegen unterschieden haben mag, und appellierten an ihre Parlamentskollegen, das Parlament nicht zu einem Theater verkommen zu lassen, sondern in ihm ernsthafte Politik zu betreiben. Dabei lebt Politik von allen diesen Dingen, von Eindrücken, Appellen, Emotionen, Träumen, absurden Realitäten und nicht absurden Realitäten in Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen. All diese Dinge werden bewusst und unbewusst inszeniert und tragen dazu bei, dass Politik überzeugend ist und im Sinne der politischen Akteure funktioniert oder funktionieren soll. Darum wiederum sind Darstellungsformen und Inszenierungen unerlässlich und gleichsam unvermeidbar. Durch sie versuchen Kommunikatoren, Rezipienten zu überzeugen, gerade auch im politischen Bereich.4 Hier schließt sich der Kreis zum Theater, das von Darstellungen und Inszenierungen ureigenst getragen wird. 3 4
Verhandlungen des Europäischen Parlaments vom 10.7.1986, Nr. 2-341/256. Siehe weiterführend u.a. Fischer-Lichte, Erika: »Inszenierung und Theatralität«, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen u. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 81-90; Dies.: »Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe«, in: Jürgen Martschukat/Steffan Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln,
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Um hier aber doch eine notwendige Schärfung vorzunehmen, kann uns die Berliner Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch helfen. In einem 2008 publizierten Beitrag schreibt sie: »Die Theaterwissenschaft unterscheidet zwischen einem engen und einem weiten Theaterverständnis, zwischen Theater und Theatralität. Als Theater im engeren Sinn gilt die Kunstform Theater und alle mit ihr verbundenen Traditionen, Institutionen, Elemente und Funktionen. Theatrale Situationen hingegen sind gleichsam soziale Aufführungen. Hier präsentiert sich jemand außerhalb eines künstlerischen Kontextes, also beispielsweise in sozialen, politischen oder ökonomischen Zusammenhängen vor anderen, hier wird etwas gezeigt und von einem Publikum wahrgenommen, kommentiert und interpretiert.«5
Hier liegt der entscheidende Unterschied! Wenn der Präsident des Europäischen Parlaments in einer feierlichen Sitzung seine Eröffnungsansprache hält, wenn die Abgeordneten des Parlaments lieber über Menschenrechtsfragen in der ganzen Welt diskutieren, dann »spiel[en] sie kein Theater, sondern agier[en] in einer theatralen Situation«.6 Sie inszenieren sich in ihrer Rolle als Abgeordnete, wollen und werden so wahrgenommen, aber sie spielen diese Rolle nicht nur, sie sind in realitate die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Nichtsdestoweniger sind mit ihrem Verhalten bestimmte Rollenerwartungen und Funktionen verknüpft, denen sie entsprechen und auch entsprechen wollen. Und in dieser Koinzidenz inszenieren sich die Kritiker dieses ›Theaters‹, die eingangs zu Wort kamen, selbst innerhalb dieser Parlamentstheatralik. Rollenerwartungen an Abgeordnete und Theatralik von Situationen helfen, den Parlamentsalltag zu habitualisieren, ihn wahrnehmbar zu machen, ihn zu beleben und ihn zu einer eigenen Bühne zu machen, auf der schließlich Politik verhandelt wird. Dabei sind die Rollen, die die Parlamentarier vor (Plenum und anderen Gremien) und hinter (informelle Kommunikation) der Bühne spielen – die Erwartung an diese Rollen – wichtig für die Eigen- und Fremdwahrnehmung.7 Das betrifft gleichermaßen die Frage, wie ich mich als Abgeordneter selbst wahr-
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Weimar u. Wien: Böhlau 2003, S. 33-54; Dies. (Hg.), Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Meyer, Thomas/Kampmann, Martina: Politik als Theater. Die neue Macht der Darstellungskunst, Berlin: Aufau 1998. Kolesch, Doris: »Politik als Theater: Plädoyer für ein ungeliebtes Paar«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2008), S. 35-40, hier S. 35f. Ebd., hier S. 36. Vgl. hier die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne bei Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater, Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 102011, S. 100-102.
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nehme, wie ich möchte, dass meine Kollegen mich wahrnehmen und wie schlussendlich die parlamentsexterne Öffentlichkeit, die sich wiederum weit verzweigt, mich als Abgeordneten wahrnehmen soll. Diese Fragen sind deshalb spannend, weil es den Europäischen Abgeordneten vor 1979 faktisch nicht gab. Bis zum Sommer 1979 verhandelten Parlamentarier im Europäischen Parlament, die von ihren nationalen Regierungen entsendet worden waren. Das Doppelmandat und alle damit einhergehenden Konsequenzen prägten das Bild eines nationalen Teilzeitabgeordneten, der über Europa und die Welt diskutierte. Das Parlament hatte nur geringe Befugnisse, hatte deshalb auch Zeit und Gelegenheit, über die nebensächlichen Dinge der Welt zu diskutieren. Nach 1979 sollte sich dies schlagartig ändern. Dafür verantwortlich waren jedoch nicht, wie vermutet werden könnte, neue Befugnisse und damit neue Erwartungen von außen an die Abgeordneten nach der Direktwahl.8 Nein, verantwortlich dafür waren, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, neue Erwartungen der Abgeordneten an sich selbst, die nun direkt gewählt worden waren und meist nur einem, dem Europäischen Parlament, angehörten. Wie jedoch in eine Rolle hineinfinden, die vorher so nicht existiert hatte? Die Zuweisung klassischer parlamentarischer Aufgaben, der Beratungs-, Kontroll- und Beschlussrechte, an ein supranationales Parlament war ein Novum. Zudem waren die Aufgaben des Parlaments, wie oben schon angedeutet, sehr beschränkt. Die Herausforderung für alle Abgeordneten bestand gerade in der ersten Wahlperiode darin, eine eigene Legitimität zu konstruieren.9
E IGENINSZENIERUNG
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P ARLAMENT
Die Losung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments lautete 1979 und in den folgenden Jahren: aktive Inszenierung als europäische Abgeordnete! Die Aushandlung dieser Inszenierung, die natürlich nicht ohne Reibung verlaufen konnte, erfolgte auf mehreren Ebenen. Einmal auf der personellen habituellen Ebene: Es ging darum, die Rolle als Abgeordneter10 zwischen Kollegen, aber auch gegenüber Rat, Kommission, Mitgliedstaaten und Öffentlichkeit zu finden. Während es sich im ersten Fall um eine Gemeinschaftsbildung handelte, ging es 8
Vgl. zu den Kompetenzen des Europäischen Parlaments 1979: Schöndube, Claus: »Das Europäische Parlament«, in: Jahrbuch der Europäischen Integration 1 (1980/81), S 7388, hier S. 78. 9 Grabitz, Eberhard/Läufer, Thomas: Das Europäische Parlament, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1980, S. 35. 10 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Text, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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im zweiten Fall mehr um eine Positionsbestimmung, um selbstbewusstes Auftreten, um die Anerkennung als gleichberechtigter und ernstzunehmender Partner. Um diese Rollen auszufüllen, entwickelten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments Strategien, die ihre Position im europäischen Politiksystem sichern sollten. Souveränes politisches Handeln wurde inszeniert und damit eine vermeintliche politische Entscheidungskompetenz suggeriert, die den geringen Einfluss auf die europäische Politik verschleierte. Und da der Einfluss auf die europäische Politik so gering war, war das Europäische Parlament bis zur Einführung der Einheitlichen Europäischen Akte, die ihm mehr Rechte verlieh, mehr ein Diskussionsgremium, das sich auf zukünftige Aufgaben vorbereitete, sie einforderte, aber eben auch über Probleme in der Weltpolitik debattierte, auf die es keinen Einfluss haben würde. Nicht zuletzt der niederländische Politikwissenschaftler van Schendelen hat jedoch 1997 überzeugend dargelegt, dass konstitutionelle Kompetenzen nicht das einzige Indiz für Einfluss in der Politik seien und dies am Beispiel des Europäischen Parlaments erörtert.11 In den ersten zwei Wahlperioden standen sich durchaus konträre Positionen gegenüber, wie die Rolle eines europäischen Abgeordneten in Zukunft aussehen sollte. Waren es vor der ersten Direktwahl eher die nationalen Repräsentanten, die über Europa diskutierten, so waren es seit 1979 mehr und mehr selbstbewusste Mitgestalter europäischer Politik, die im Europäischen Parlament miteinander verhandeln sollten. Den meisten Abgeordneten gemeinsam war die Überzeugung, das Europäische Parlament als politische Institution zu begreifen und nach außen zu vertreten, ähnlich den nationalen Parlamenten, von denen es sich jedoch erheblich unterschied. Nicht ohne Grund hatte sich die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl schon 1957 in Europäisches Parlament umbenannt.12 Nationale Parlamentstraditionen fanden Einzug in die Organisation und in die Arbeitsweise des Parlaments und wurden ›europäisiert‹. Schon früh hatten die Abgeordneten entschieden, dass sie in Fraktionen arbeiten würden. Allerdings war auch von vornherein klar, dass dies in europäischen und nicht in nationalen Fraktionen geschehen sollte.13
11 Van Schendelen, Rinus: »Das Geheimnis des Europäischen Parlaments, Einfluß auch ohne Kompetenzen«, in: Winfried Steffani/Uwe Thaysen (Hrsg.), Parlamente und ihr Umfeld, Opladen u. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997, S. 157-168. 12 Woyke, Wichard: Die Europäische Gemeinschaft, Entwicklung und Stand. Ein Grundriß, Opladen: Leske + Budrich 1989, S. 94. 13 Generaldirektion Wissenschaft des EP (Hrsg.): Ein Parlament in voller Entfaltung: Europäisches Parlament 1952-1988. 30 Jahre, Luxemburg: Amt für Amtl. Veröff. d. Europ. Gemeinschaften 31989, S. 117.
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Die Bildung von Fraktionen zeigte die eigene parlamentarische Wahrnehmung in der aktiven Inszenierung des Parlaments als politische Institution. Es war Ort der interfraktionellen Macht; dort wurden Kompetenzen verhandelt, die Stellung des einzelnen Abgeordneten bestimmt und wahrgenommen. Hier konnte der Abgeordnete seine Alltagsarbeit bewältigen und strukturieren. Jeder Abgeordnete hatte innerhalb der Fraktion seine Rolle, die er auszufüllen hatte. Insofern waren die Fraktionen maßgebliches Element der Sozialisation innerhalb des Parlaments, gerade in den Anfangsjahren nach der Direktwahl. Die ersten Wahlperioden standen so im Zeichen der Orientierung, Selbst(er)findung und Eigenorganisation. Es herrschten unterschiedliche Vorstellungen bei neuen und alten Abgeordneten vor, wo Möglichkeiten und Grenzen der Parlamentsarbeit im europäischen Kontext lagen. Nach der Direktwahl war die Zahl der Abgeordneten von 198 auf 410 gestiegen, das Parlament musste sich neu organisieren, sich eine neue Geschäftsordnung geben, um handlungsfähig zu bleiben, und wollte sich mit dem weiteren Weg der Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses befassen. Die bisherige Praxis des langen und ausführlichen Diskutierens im Plenum musste also einer gestrafften Tagesordnung weichen. Doch die Umsetzung dieses Ziels war nicht einfach und fand bis zu Beginn der zweiten Legislaturperiode nur in kleinen Schritten statt. Noch 1982 forderte Louise Weiss von der Fraktion der Europäischen Demokraten, die Tagesordnung durch sinnvolle Verfahren zu entlasten und ›zweitrangige‹ Fragen aus den Plenarsitzungen zu verbannen.14 Neue Abgeordnete waren besonders bemüht, sich als Europapolitiker, als die sie Wahlkampf betrieben hatten, zu profilieren und zu inszenieren. Nur 15 Prozent der Abgeordneten der ersten Wahlperiode hatten dem Parlament vor 1979 und den Versammlungen davor angehört. 125 Abgeordnete hatten bei der Konstituierung des Parlaments noch ein Doppelmandat. Somit prallten Erfahrung, Habitus, Ideologien, Strategien und Nationalitäten in einer Intensität aufeinander, die es in dieser Komplexität in den folgenden Wahlperioden nicht mehr geben sollte. Dies betraf die Kommunikation und die Art der Verhandlungsführung in nahezu allen Gremien des Parlaments, angefangen vom Plenum bis zu den Fraktions- und Ausschusssitzungen.15 Auch waren die Verantwortlichkeiten des Parlaments sehr eingeschränkt, die Fragen, mit denen es sich befassen musste, waren meist technischer Natur und in manchen Nationalstaaten Aufgabe der Verwaltung gewesen. Die Abgeordneten
14 »Sitzungsprotokoll vom 18.-22. Januar 1982«, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. 1-279, Verhandlungen des Europäischen Parlaments, Straßburg, S. 6. 15 C. Schöndube: Das Europäische Parlament, S. 74.
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des Parlaments wollten aber politisch diskutieren und entscheiden. Hier inszenierten die Abgeordneten ein neues Stück, indem sie aus ihrer Not des Nichtentscheidens ihre Tugend machten: Ventil für die Diskussion technischer Verfahren und für die mangelnde Entscheidungskompetenz schienen die seit 1979 ausufernden Dringlichkeitsdebatten zu sein, in denen Abgeordnete tatsächlich politisch Stellung nahmen, etwa zum Olympiaboykott der Moskauer Spiele 1980, zur Situation in Afghanistan, zur Folgekonferenz der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zu den Hilfen für Polen. Den größten Teil nahmen jedoch Debatten zu Menschenrechtsfragen und -problemen der ganzen Welt ein. In den Worten Claus Schöndubes, Journalist und europäischer ›Überzeugungstäter‹: »Das Parlament wurde fast zum Mekka der Unterdrückten und Verfolgten überall in der Welt (die einzeln und in Gruppen demonstrativ zum EP kamen). Zumindest war es mit diesen Debatten das erste Parlament in Europa, das diese Fragen aufgriff. Aber es verschenkte durch diese – meist im Dringlichkeitsverfahren ausgelösten – Aussprachen, die wegen der noch vorhandenen Unstimmigkeiten zwischen und innerhalb der Fraktionen interfraktionell häufig nicht gut vorbereitet waren, nach Ansicht vieler Mitglieder des Hauses und Beobachter viel Zeit.«16
Viele Abgeordnete waren ob ihrer Rolle verunsichert, probierten sich aus und versuchten, durch learning by doing ihre Rolle zu finden. Kennzeichnend für die Alltagsarbeit im Europäischen Parlament war immer wieder der Mangel an Verstetigung im politischen Handeln und im Umgang miteinander. In nationalen Parlamenten ist immer von einem kleinsten gemeinsamen Nenner auszugehen, der parlamentarisches Arbeiten, Kommunikation und gegenseitiges Miteinander bestimmt. In nationalen Parlamenten sprechen die Parlamentarier kaum je mehr als eine Sprache, agieren in ihrem Heimatland, in dem sie meist sozialisiert worden sind. Bei Neuwahlen können neue Parteien, die künftig eine Fraktion bilden, das Parlamentsleben bereichern, es aber nur selten fundamental beeinflussen. Dies war auf europäischer Ebene anders. Waren Vertreter des nichtgewählten Parlaments noch zuerst Mitglieder ihrer nationalen Parlaments und ›nur‹ ins Europäische Parlament delegiert, um dort zwar europäisch, aber doch nationalpolitisch sozialisiert zu diskutieren, so waren nun die gewählten Abgeordneten mit ihrem Einzelmandat Europäische Abgeordnete, die ihre Arbeit im Parlament als ihren Beruf ansahen. Nicht anders ist die Motivation zu interpretieren, diese Arbeit immer weiter zu professionalisieren und im Spiegel zu Kommission und Rat zu betrachten.
16 Ebd., S. 80.
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S ELBSTBEWUSSTE I NSZENIERUNG K OMMISSION UND R AT
GEGENÜBER
Mochten Unsicherheit, Unerfahrenheit, nationale Befindlichkeiten und Improvisation das Alltagsleben im Parlament bestimmen, nach außen trat es selbstbewusst und überzeugend auf. Hier hatten die Abgeordneten schnell ihre Rolle gefunden, als kämpferische Politiker, die für ihr Parlament mehr Macht und Beachtung durch die anderen europäischen Institutionen einforderten. In den Zahlen der Anfragen an Kommission und Rat spiegeln sich gestiegener Arbeitseifer, Leistungsanspruch und das gestärkte parlamentarische Selbstverständnis als gewählte Institution wider. Betrugen die Sitzungstage des Plenums 1979 noch 52 Tage, waren es ein Jahr später schon 64 Tage, an denen das Plenum tagte.17 Von 1979 bis 1980 nahmen die schriftlichen Anfragen an die Kommission oder den Rat um 54,76 Prozent zu, die Fragen in den Fragestunden sogar um 60,15 Prozent.18 Die Zahl der Sitzungen der Parlamentsgremien verdoppelte sich fast, die der offiziellen Sitzungsdokumente wuchs von 1979 bis 1980 um 48,05 Prozent.19 Der Trend setzte sich in den nächsten Jahren fort. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten nahmen die meisten Abgeordneten ihre Rolle als gewählte Parlamentarier sehr ernst und zeigten dies selbstbewusst gegenüber Rat und Kommission. Ein erster Beleg hierfür war die Haushaltsablehnung in der Plenarsitzung am 13. Dezember 1979. Mit 288 gegen 64 Stimmen bei einer Enthaltung wurde von Kommission und Rat eine neue Vorlage verlangt.20 Die geringen Befugnisse, die die Europäischen Verträge dem Europäischen Parlament erteilten, wurden gleich zu Beginn aktiv wahrgenommen. Im darauffolgenden Jahr, am 18. Dezember 1980, erhöhte das Europäische Parlament den Nachtragshaushalt 2/1980 gegen den Willen der Mehrheit des Rates von 100 auf 366 Mio. Europäischen Rechnungseinheiten.21 Gleiches geschah 1984, als das Europäische Parlament den gesamten Haushalt der Europäischen Gemeinschaft ablehnte.22 Das zeigt deutlich, dass das Parlament gewillt war, die geringen Rechte, die es hatte, selbstbewusst wahrzunehmen. Das Haushaltsrecht, innerstaatlich als
17 18 19 20 21 22
Schöndube, Claus: Europa-Taschenbuch, Bonn: Europa Union 71980, S. 223. C. Schöndube: Das Europäische Parlament, S. 77. Ebd. Das Parlament (1/1980) vom 5. Januar 1980, S. 11f. Das Parlament (6/1981) vom 7. Februar 1981, S. 12f. Hänsch, Klaus: Kontinent der Hoffnungen: Mein europäisches Leben, Bonn: Dietz 2010, S. 68.
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»Königsrecht des Parlaments«23 geltend, schien hier ein gutes, aber auch schon das einzige Mittel zu sein, um sich gegen Kommission und Rat zu behaupten und in der medialen Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Selbstkritisch bemerkte der spätere Parlamentspräsident Klaus Hänsch über die Haushaltsdiskussionen: »Das alles war wichtig für die innere Aufwertung der parlamentarischen Arbeit, nach außen aber blieb es so gut wie unsichtbar. Ein Ersatz für eine Stärkung des Parlaments durch eine Reform der Verträge war es nicht.«24 Dies war ein klares Zeichen für die innere Emanzipation und äußere Inszenierung des Parlaments, die fast die einzigen Machtmittel bis zum Vertrag von Maastricht blieben. Diese Eigeninszenierung des Parlaments liegt in der Logik eines Parlaments, das sich vor Maastricht nur so in den politischen Raum einbringen, die politische Bühne bespielen konnte. Auch in anderen Bereichen erzielte das Parlament durch zähes Verhandeln mit Rat und Kommission einzelne Vereinbarungen, die seinen Einfluss erweiterten, z.B. bei Durchführungsbefugnissen für die Kommission, den Abschluss internationaler Verträge oder der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. 25 Diese Rechte forderte das Parlament vehement und aktiv ein. Es verlangte z.B. 1981 anlässlich des griechischen Beitritts »die förmliche Konsultierung bei weiteren Beitrittsverträgen sowie die Beteiligung bei der Ratifizierung und der Festlegung der Mitgliederzahl von neuen Mitgliedern für das Europäisches Parlament.«26 So ist der »Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union«, der 1984 verabschiedet wurde, zu lesen als ein gemeinsames europäisches Bekenntnis, das das Parlament dort verortete, wo es nach Meinung seiner Parlamentarier schon lange hingehörte, an der Spitze der Entscheidungsfindung in Europa. Die steigenden Kompetenzen und die damit steigenden Aufgaben wurden von den Abgeordneten positiv wahrgenommen, sie emanzipierten sich von Rat und Kommission und schrieben ihren Erfolg ihrer eigenen ›kämpferischen‹ Initiative zu. »Seit den 70er Jahren geht das Europäische Parlament als Gewinner aus jeder institutionellen Reform hervor«,27 schrieb der deutsche Abgeordnete Elmar Brok triumphierend 2010. Die seit 1979 erlangten Kompetenzen waren aus der Sicht
23 Lewinski, Kai von: »Nationale und internationale Staatsverschuldung«, § 217 in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, Heidelberg u.a.: Müller 3 2012, S. 461-506, hier S. 483. 24 K. Hänsch: Kontinent der Hoffnungen, S. 69. 25 Ebd. 26 C. Schöndube: Das Europäische Parlament, S. 83. 27 Brok, Elmar: »Das Europäische Parlament nach dem Lissabon-Vertrag«, in: Doris Dialer/Eva Lichtenberger/Heinrich Neisser (Hg.), Das Europäische Parlament, Institution, Vision und Wirklichkeit, Innsbruck: Innsbruck Univ. Press 2010, S. 77-88, hier S. 77.
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der Abgeordneten hart erkämpft. Nicht umsonst formulierte der ehemalige Generalsekretär (1997-2007) Sir Julian Priestley die Überschrift: »Being there: the battle to get in the room.«28
F AZIT Und so können wir heute die Geschichte des Europäischen Parlaments und seiner Abgeordneten nach über 38 Jahren als doppelte Emanzipationsgeschichte schreiben, als Emanzipation von eigenen nationalen Prägungen, politischen Vorstellungen und Sozialisationen, und andererseits als Emanzipation gegenüber dem Rat, der Kommission und den fortschreitenden Anforderungen an das Europäische Parlament. Im gleichen Maße, wie sich das Europäische Parlament veränderte – seien es Orte, die Geschäftsordnung oder die Erweiterung seiner Kompetenzen durch die Europäischen Verträge – veränderten sich Verhaltensweisen, Kommunikation und die eigene Wahrnehmung und Inszenierung. Die Abgeordneten schufen ihre eigene Rolle auf der politischen Bühne Europas, die sie parlamentsintern und parlamentsextern spielten – mithin schufen sie neue Grenzen und Abgrenzungen zwischen dem Parlament und den anderen europäischen Institutionen, aber auch zwischen dem europäischen und den nationalen Parlamenten. Ihre neue Rolle kleideten die Parlamentarier inszenatorisch aus, durch offensives, selbstbewusstes Auftreten gegenüber Rat und Kommission, durch parlamentarische Routinen auf der eigenen Bühne – dem Plenum –, durch ›Rollenzuweisungen‹ in der eigenen Geschäftsordnung, die immer wieder neuen Erfordernissen angepasst wurde. Sie inszenierten sich in ihrem eigenen Kollegenkreis, in ihren Reden auf ihrer Bühne, in ihren gegenseitigen Verhandlungen in und zwischen den Fraktionen und in Ausschüssen, um Kollegen zu überzeugen und mitzureißen. ›Theater spielen‹, also die Inszenierung, war hier nicht – jedenfalls nicht nur – ein ›Selbstzweck‹, der der eigenen Profilierung eines Abgeordneten oder einer politischen Richtung diente, sondern diese Inszenierung half – bewusst oder unbewusst – bei der Stärkung und Emanzipation des Parlaments insgesamt. Wenn also das Europäische Parlament über alle möglichen Fragen diskutierte, die gar nicht in seiner Kompetenz lagen, so mag das kritisch als ›Zeitverschwendung‹ oder ›Theater‹ angesehen worden sein. Allerdings hat das bewusste Hinausgehen über die eigenen Kompetenzen, das ›sich größer machen als man ist‹, eben auch einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation und Selbstidentifikation des Parlaments geleistet. 28 Priestley, Julian: Six Battles that shaped Europe’s Parliament, London: Harper 2008, S. 23.
Grenzgänge(r) und Grenzziehungen
Der Major, die Partisanen und die Frage der Gewalt D ANIEL B REWING
E INLEITUNG Das Schwarzweißfoto zeigt in Naheinstellung vier Soldaten der deutschen Wehrmacht (s. Abb. 1).1 Ihre Blicke fixieren den Fotografen. Die Sonne scheint ihnen in die Gesichter, Schattenwürfe verdunkeln ihre Augenpartien. Umringt sind diese vier von weiteren Soldaten, von denen allerdings nur Arme und Hände zu sehen sind. Im Bildmittelpunkt steht ein lächelnder Soldat mit scharfkantigen Gesichtszügen, der dem Betrachter den Leichnam eines bärtigen Mannes präsentiert, indem er den Toten mit beiden Händen an dessen pelzbesetztem Mantelkragen hochzieht. Der Kopf des Toten ist zur rechten Seite gedreht, so dass lediglich seine linke Gesichtshälfte zu erkennen ist. Aufgenommen wurde das Bild am 30. April 1940 in Studzianna-Poświętne, einem kleinen Dorf im Distrikt Radom des Generalgouvernements. Wer das Foto geschossen hat, bleibt offen. Die Soldaten sind Angehörige der 372. Infanteriedivision, die sich nach einer – wie der Einsatzbericht verzeichnete – »Regimentsübung mit scharfem Schuß«2 in ihre Ruheräume zurückgezogen hatten. Das Gesamtarrangement des Bildes erinnert dabei an klassische Motive des Tötens exotischer Tiere: Für die Kamera inszenierten sich die Soldaten als Großwildjäger,
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Das Bild ist u.a. abgedruckt bei: Sawicki Jacek: »Hubal« i jego oddział wydzielony wojska polskiego 1939-1940, Warszawa: Bellona 2015, S. 32. 372. Inf. Div., Dr. Schreihage: Geschichte des Korück 581 (OFK 581) und der 372. Inf. Div. (OFK 372) 1939-1940, Bundesarchiv-Militärarchiv (zukünftig: BA-MA), RH 26372/2.
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Abbildung 1: Angehörige der 372. Infanteriedivision posieren mit dem Leichnam Henryk Dobrzańskis, 30. April 1940. Quelle: S. Jacek: Hubal, S. 32.
und stellten sich mit ihrer erbeuteten Trophäe, dem Leichnam, in Positur.3 Den Toten, der in das Bild gehievt wird, kennt in Polen bis heute jedes Schulkind: Henryk Dobrzański, genannt ›Hubal‹, war der charismatische Kommandeur der ersten polnischen Partisaneneinheit unter nationalsozialistischer Herrschaft, eine legendäre Figur, deren trotziger Stolz und widerborstiger Eigensinn mittlerweile als Ausdruck des nationalen Charakters verehrt wird.4 3
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Zu ähnlichen Kontexten siehe: Bopp, Petra: »›Die Kamera stets schussbereit‹. Die Fotopraxis deutscher Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg«, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 164171; Hesse, Klaus/Springer, Philipp: Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen: Klartext 2002; Mallmann, Klaus-Michael et. al.: Deutscher Osten 1939-1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt: WBG 2003; anregend auch: Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn: Schöningh 2004. So tragen Hunderte von Organisationen und Institutionen seinen Namen, unter ihnen zahllose Schulen, Verbände der Pfadfinderbewegung und Einheiten des polnischen Militärs. Siehe: J. Sawicki: Hubal, S. 58. Dass Dobrzański im Westen, zumal in der Bundesrepublik, nahezu unbekannt ist, vermag angesichts der nach wie vor divergierenden Erinnerung an das ›Zeitalter der Extreme‹ kaum verwundern. Wohlmeinende Versuche,
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Für die deutschen Besatzer wiederum erschien das Auftreten der ›Hubalczycy‹ als etwas Unerhörtes: als Unterwerfungsverzicht, der kein zögerliches Verharren in der Passivität erlaubte, sondern das sofortige Zeigen von Stärke, eine unmittelbare Demonstration von Macht verlangte. Das Foto markiert hierbei auf einer symbolischen Ebene den erfolgreichen Abschluss eines Unternehmens zur ›Bandenbekämpfung‹: Es dokumentiert das Selbstverständnis der Soldaten, die sich am Leiden und Unglück eines Menschen weiden und den endgültigen Triumph über die Partisanen höhnisch feiern.5 Zugleich zeigt es eine Geste der Unterwerfung und Erniedrigung, die über den Moment hinaus fixiert und erinnert werden sollte.
G EWALTLOSER W IDERSTAND Am 1. September 1940, ein Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen, bilanziert der polnische Arzt Zygmunt Klukowski aus Szczebrzeszyn (Kreis Zamość) das Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft: »Das nervöse Leben von Tag zu Tag zehrt uns ungemein aus, ständig Unruhe und Unsicherheit, nicht nur darüber, was mit uns in einem Monat oder in einer Woche, sondern sogar, was mit uns in einer Stunde sein wird. Wir leben in permanenter Angst vor Durchsuchungen, Verhaftungen, Prügeln, der Inhaftierung oder Internierung in irgendeinem entfernten Lager, vor der Aussiedlung und natürlich vor der Erschießung, die angesichts des unmenschlichen Quälens in den Gefängnissen und Lagern letztlich nicht immer der schlechteste Ausweg ist.«6
Das deutsche Gewaltregime im besetzten Polen löste tiefgreifende Ängste und große Verunsicherung innerhalb der polnischen Bevölkerung aus: Ein geregeltes Zusammenleben von Besatzern und Besetzten war angesichts der Neuordnungsund Ausbeutungsziele eines entgrenzten Gewaltregimes sowie der deutschen
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Dobrzański in das Gedächtnis der Deutschen einzuschreiben, sind verpufft, kleine Miszellen für die scientific community zogen keine weiteren Forschungen nach sich. Siehe: Elbin, Günther: Der Schimmelmajor. Dokumentation einer polnischen Legende, Nördlingen: Ehrenwirth 1969; Jacobmeyer, Wolfgang: »Henryk Dobrzański (›Hubal‹): Ein biographischer Beitrag zu den Anfängen der polnischen Résistance im Zweiten Weltkrieg«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 63-74. Siehe hierzu die Überlegungen bei: Wildt, Michael: »Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 349-371, hier: S. 367. Klukowski, Zygmunt: Dziennik z lat okupacji Zamojszczyzny (1939-1944), Lublin: Lubelska Spółdzielna Wydawnictwa 1958, S. 154.
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Selbstzuschreibung eigener rassischer Überlegenheit weitgehend ausgeschlossen.7 Diese von Klukowski eindringlich beschriebene Suspendierung elementarer Normen bot »der Widerstandsbewegung ideale Wachstumsbedingungen […], weil das Bedürfnis nach Schutz […] die Abwehrmöglichkeiten des Individuums überstieg und folglich seinen Übertritt zu organisierten Gruppen der Untergrundbewegung geradezu erzwang«. 8 Zugleich konnte die polnische Gesellschaft an eine spezifische Tradition der Herausbildung konspirativer Untergrundstrukturen zurückgreifen, die bereits im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Teilungen, erfolgreich erprobt worden waren. Sie bildete einen wichtigen Erfahrungshintergrund für die polnische Gesellschaft und legte ihr bestimmte Umgangsmuster und Bewältigungsstrategien für eine Konstellation der Fremdherrschaft nahe.9 In diesem Kontext entfaltete sich im Laufe der Zeit ein vielgestaltiger Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft. Die größte und bedeutendste Bewegung war der Polnische Untergrundstaat (Polskie Państwo Podziemne), welcher der polnischen Exilregierung in London unterstand und als Kristallisationskern eines wieder zu errichtenden polnischen Staats nach dem Ende der deutschen Herrschaft dienen sollte.10 Das strategische Denken der Führungsspitze des Untergrundstaates kreiste dabei um einen nationalen Aufstand, dessen Ausbruch für den Zeitpunkt anvisiert wurde, an dem der Zusammenbruch deutscher Herrschaft in unmittelbare zeitliche Nähe gerückt war.11 Bis dahin sollten sämtliche Formen des bewaffneten, gewalttätigen Widerstands – insbesondere die Aktivitäten von Partisanengruppen – vermieden werden. Unzweifelhaft zielten diese Überlegungen auf den Schutz der polnischen Zivilbevölkerung; es sollten keine Anlässe für blutige deutsche
7
Zu den Zielen und der Praxis der deutschen Besatzungspolitik in Polen ausführlicher: Brewing, Daniel: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945, Darmstadt: WBG 2016, S. 105-128. 8 Jacobmeyer, Wolfgang: »Die polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement und ihre Beurteilung durch deutsche Dienststellen«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 658-681, hier: S. 667. 9 Borodziej, Włodzimierz: »Politische und soziale Konturen des polnischen Widerstands«, in: Christoph Klessmann (Hg.), September 1939. Krieg, Besatzung und Widerstand in Polen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 95-116, hier: S. 95f.; Hahn, Hans-Henning: »Die Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen«, in: ders./Michael G. Müller (Hg.), Gesellschaft und Staat in Polen. Historische Aspekte der polnischen Krise, Berlin 1988, S. 15-48. 10 Siehe umfassend hierzu die Beiträge in: Bernhard Chiari (Hg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2003. 11 Borodziej, Włodzimierz/Chmielarz, Andrzej/Friszke, Andrzej/Kunert, Andrzej Krzysztof: Polska Podziemna 1939-1945, Warszawa: WSiP 1991, S. 80-82.
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›Vergeltungsmaßnahmen‹ geliefert werden: »Die polnische Regierung gestattet im Heimatgebiet auf keinen Fall kriegerische Aktionen; […] der Effekt dieser Aktionen stünde in keinem Verhältnis zu den Repressalien«,12 hieß es etwa in einem Schreiben der Exilregierung.
L EBEMANN UND H ASARDEUR Wolfgang Jacobmeyer hat Henryk Dobrzański einmal als eine schillernde Persönlichkeit gezeichnet: ein hochdekorierter Kavallerist, ein Veteran der Legionen Piłsudskis, ein Lebemann und international erfolgreicher Springreiter, ein Berufssoldat, der gleichwohl aufgrund seiner Eigensinnigkeit »nicht recht in den Kommißbetrieb des Garnisonsdienstes passte«. 13 Dobrzański war zwar offenkundig versierter Soldat, galt jedoch als unbequem und hatte – wie sein Biograph Jacek Sawicki betont - ein hitziges Gemüt und einen ausgeprägten Hang zu Taktlosigkeiten und Unverschämtheiten.14 Aufgrund seines Unwillens, sich in die hierarchischen Strukturen des Militärs einzuordnen, geriet seine Karriere in der Vorkriegszeit zunehmend ins Stocken. Im Jahre 1938 führte diese Renitenz schließlich zu seiner Versetzung in eine Reserveeinheit, deren Ausbildung er als Kommandeur sicherstellen sollte. Doch auch hier entzog er sich immer wieder den Anforderungen, die das Militär an ihn richtete: Immer wieder verließ er den Stützpunkt für wochenlange, ausgedehnte Jagd- und Lustreisen mit seiner Geliebten.15 Einer Entlassung aus dem Militärdienst kam wohl nur der deutsche Überfall im September 1939 zuvor. Bei Kriegsausbruch wurde er zum stellvertretenden Kommandeur eines neu aufgestellten Ulanen-Regiments ernannt, das in Grodno, am östlichen Rand der Zweiten Polnischen Republik eingesetzt wurde. Als seine Einheit nach dem 17. September 1939 durch den Angriff der Roten Armee in eine aussichtslose Lage geraten war, setzte sich Dobrzański mit Teilen seiner Einheit nach Westen ab, um die Truppen im belagerten Warschau bei der Verteidigung zu unterstützen. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen, da die polnische Hauptstadt noch vor Eintreffen Dobrzańskis kapitulierte. Der Krieg war zu Ende. Dobrzański jedoch weigerte sich, die Niederlage des polnischen Heeres zu akzeptieren, und entschied, 12 Młynarczyk, Jacek Andrzej: »Die zerrissene Nation. Die polnische Gesellschaft unter deutscher und sowjetischer Herrschaft 1939-1941«, in: Klaus-Michael Mallmann/ Bogdan Musial (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939-1941, Darmstadt: WBG 2004, S. 145-169, hier: S. 152. 13 W. Jacobmeyer, Dobrzański, S. 65. 14 J. Sawicki, Hubal, S. 38-40. 15 Ebd.
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sich mit einigen Offizieren in die Wälder des Distrikts Radom abzusetzen. Dort versammelte er unter dem Pseudonym ›Hubal‹ in den Wintermonaten 1939/40 zwischen 15016 und 30017 versprengte Soldaten der polnischen Armee, die den Kern der ersten Partisaneneinheit unter nationalsozialistischer Herrschaft bildeten. Im Kern verfolgte ›Hubal‹ mit der Aufstellung der Truppe zwei Ziele: Zum einen ging es ihm um die symbolische Repräsentation der polnischen Armee im besetzten Land, darum, der polnischen Bevölkerung zu signalisieren, dass weiterhin Soldaten in polnischer Uniform existierten: »Die Truppe trug polnische Uniformen ohne Abzeichen und legte offenbar Wert darauf, als reguläre Soldaten aufzutreten. So wurden Urkunden mit einem Stempel versehen, der den polnischen Adler mit einer Unterschrift ›Sonderabteilung des polnischen Heeres, Major Hubal‹ zeigte.«18 Zum anderen sollte sein Verband, so Dobrzańskis Hoffnung, die für das Frühjahr 1940 erwartete britisch-französische Offensive abwarten, um dann im Rücken der deutschen Truppen den Widerstand zu entfachen. Seiner Einheit wies er dabei die Funktion einer Brücke zu, die eine für die nahe Zukunft antizipierte Rückkehr der polnischen Armee erleichtern und beschleunigen sollte. Vor dem Hintergrund dieser Ziele handelte es sich bei ›Hubal‹ und seinen Männern nicht um eine Partisaneneinheit, die mit Attentaten oder Überfällen auf Angehörige des deutschen Besatzungsapparats in Erscheinung getreten ist. 19 Gleichwohl setzte die Gruppe gelegentlich auch auf spektakuläre Aktionen: So drangen die Männer in das Wildgehege des Jagdschlosses Spała ein, den Sitz des Ober Ost, töteten eine Wisentkuh, weideten sie aus und hängten das blutige Fell über das Gatter.20 Darüber hinaus standen die ›Hubalczycy‹ unter einem für Partisaneneinheiten typischen Handlungsdruck: Sie mussten sich Nahrungsmittel, Pferde, aber auch Unterkünfte besorgen. Dazu führten sie einige Überfälle auf Angehörige der polnischen Selbstverwaltung durch und sicherten ihre Grundversorgung durch allerlei Requisitionen auf umliegenden Bauernhöfen. Dabei war ihnen ein korrektes Auftreten besonders wichtig: »Bei der Beschlagnahme von Pferden beschränkte sie sich auf polnische Militärpferde, die die deutsche Verwaltung […] an polnische Bauern abgegeben hatte. In diesen Fällen wurden regelrechte Requisitionsbescheinigungen ausgestellt. Die erforderlichen Geldmittel 16 Diese Zahl entspricht der zeitgenössischen deutschen Wahrnehmung: Schreihage, Geschichte, BA-MA, RH 26-372/2; siehe auch: W. Jacobmeyer: Dobrzański, S. 68. 17 Hillebrandt, Bogdan: Partyzantka na Kielecczyźnie 1939-1945, Warszawa: MON 1967, S. 27. 18 Schreihage, Geschichte, BA-MA, RH 26-372/2. 19 Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939-1945, Darmstadt: WBG 2005, S. 56. 20 Schreihage, Geschichte, BA-MA, RH 26-372/2.
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wurden durch Überfälle auf polnische Steuereinnehmer beschafft, die Steuern im Auftrage der Besatzungsmacht eintrieben.«21
Aus der Perspektive des polnischen Untergrundstaates war jedoch die schiere Existenz eines bewaffneten Verbandes eine Provokation, stand sie doch in scharfem Kontrast zur Widerstandkonzeption der Bewegung. Vor diesem Hintergrund forderte man Dobrzański mehrfach dazu auf, seine Einheit aufzulösen und sich in die Strukturen des Untergrundstaates zu integrieren. Dobrzański jedoch war nicht bereit sich in die Hierarchie des polnischen Untergrundes einzuordnen und widersetzte sich jedes Mal. Im März 1940 suchte Leopold Okulicki, eine zentrale Figur des Untergrundstaates, ein persönliches Gespräch mit ›Hubal‹. Er forderte Dobrzański auf, sich dem Führungsanspruch des Untergrundstaates unterzuordnen und seine Männer aus dem Verband zu entlassen. Ansonsten, so begründete Okulicki seine Forderungen, »würden wir die Zivilbevölkerung der Rache der Deutschen aussetzen«.22 Außerdem betonte Okulicki, »dass die Zeit für den großen Aufstand noch nicht gekommen sei«.23 Dobrzański entgegnete, dass er sich von niemanden vorschreiben lasse, sich den Deutschen zu ergeben. Außerdem sei bislang noch kein Dorf zerstört und kein Einwohner des ländlichen Raums getötet worden, obwohl seine Einheit dort bereits seit Monaten operiere. Keineswegs wolle er einen großen Aufstand auslösen, er arbeite hier auf eigene Rechnung. Er werde sich daher dem Befehl des Untergrundstaates widersetzen und seine Einheit nicht auflösen.24 Fassungslos registrierte man auf der Führungsebene des Untergrundstaates die Widerspenstigkeit Dobrzańskis, der sich partout ihrem Herrschaftsanspruch entzog, der die polnische Uniform nicht auszog und damit – so befürchtete man – die Bevölkerung der umliegenden Dörfer, Ortschaften und Weiler in große Gefahr brachte. Auch die finale Androhung, ihn als Diversanten vor ein Untergrundgericht zu stellen, blieb folgenlos: »In Końskie ist das Verhalten von Major Dobrzański unverantwortlich, denn er hat zweimal dem Befehl zur Auflösung der Partisanen nicht gehorcht […]. Ich verfolge Dobrzański; ich will ihn über die Grenze schicken; und in Zukunft übergebe ich ihn einem Gericht.«25 Alle diese Initiativen blieben wirkungslos, während sich die Befürchtungen bestätigen sollten.
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Ebd. J. Sawicki: Hubal, S. 34. Ebd. Ebd. Meldung Nr. 17, 15. April 1940, zitiert nach: W. Jacobmeyer: Dobrzański, S. 69.
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E NTGRENZTE G EWALT Aus der Perspektive der deutschen Besatzer erschien ›Hubals‹ Partisaneneinheit als finale Bestätigung einer spezifischen Feindbildkonstruktion, deren Wurzeln in den Freikorpskämpfen nach dem Ersten Weltkrieg liegen, genauer: in der Perzeption und Erinnerung dieser Ereignisse durch die Zeitgenossen.26 In einer auflagenstarken Freikorpsliteratur etablierte sich dabei das Feindbild der ›polnischen Banden‹, die als antizivilisatorische, unmenschliche Horden deutsche Zivilisten jeden Alters und beiderlei Geschlechts einer entgrenzten Gewaltpraxis aussetzen würden.27 Hier verknüpfte sich das tradierte Vorurteil der Polen als kulturloser Barbaren mit der Vorstellung grausamer polnischer Bandenkriegführung. Diese Zuschreibung einer spezifischen polnischen Gewaltaffinität war eine zentrale Legitimationsressource für die Entgrenzung nationalsozialistischer Gewalt. Denn an diese kollektiven Bilder und Vorstellungen konnten die Nationalsozialisten mühelos anknüpfen, um eigene Gewalthandlungen zu legitimieren. Konfrontiert mit der vermeintlichen Hinterhältigkeit, Grausamkeit und rücksichtslosen Gewaltbereitschaft der ›polnischen Banden‹ erschien die Ausdehnung der Zone erlaubter Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig. Eine solche Konstruktion erlaubte es, die eigenen Gewalthandlungen als defensive Reaktion auf polnische Gewalt zu deuten und dabei allen Beteiligten das Gefühl zu geben trotz allem doch ›anständig geblieben‹ zu sein: Die Mörder, das waren die anderen.28 Vor diesem Hintergrund reagierte der deutsche Besatzungsapparat auf die Herausforderung durch ›Hubal‹ und seine Männer mit den Methoden der ›Bandenbekämpfung‹. Erstmals wurde hier eine Gewaltpraxis umgesetzt, die ab 1941 die Konfrontation mit Partisanengruppen im deutsch besetzten Europa insgesamt prägen sollte, zunächst in Südosteuropa und der Sowjetunion, schließlich aber auch in Westeuropa. Es lassen sich dabei einige Faktoren benennen, die der Eskalation der Gewalt Vorschub geleistet haben. Analytisch lassen sie sich voneinander trennen, in der historischen Konstellation verzahnten sie sich jedoch und bildeten einen Handlungsrahmen für ein breites Spektrum von Gewalt gegen die Einwohner des ländlichen Raums der Region Kielce. Es sind insgesamt vier Faktoren, auf die im Folgenden näher eingegangen wird: die Kompetenzkonflikte, die
26 Dazu ausführlicher: Brewing, Daniel: »Murderers are Other People. ›Polish Cruelties‹ and the Legitimization of Nazi Violence«, in: The Polish Review 62 (2017), S. 37-58. 27 Chodera, Jan: »Das Bild Polens in der deutschen Literatur«, in: Kommunität. Vierteljahreshefte der Evangelischen Akademie 18 (1974), S. 28-47. 28 Brewing, Daniel: »Viktimisierung und Gewalt. Helmuth Koschorkes ›Polizeireiter in Polen‹ und der September 1939«, in: Stephan Lehnstaedt/Ruth Leiserowitz (Hg.), Czytania. Lesestunde, Warszawa: Neriton 2013, S. 269-281.
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Konstellation des Partisanenkrieges, der Generalverdacht gegenüber der Zivilbevölkerung und die Befehlstechnik. (1) Ursprünglich war es der militärische Besatzungsapparat, genauer: die Oberfeldkommandantur 372, die im März 1940 auf ›Hubals‹ Partisaneneinheit aufmerksam wurde. Mit Unterstützung polnischer V-Männer gelang es, den Standort der Partisanen zu lokalisieren, woraufhin innerhalb der Oberfeldkommandantur erste Planungsschritte für ein größeres Unternehmen zur Partisanenbekämpfung einsetzten.29 Diese wurden jedoch schnell Makulatur, denn der SS-und Polizeiapparat reklamierte erfolgreich seine Zuständigkeit im Politikfeld ›Sicherheit‹. Diese Zuständigkeit war jedoch bereits im Frühjahr 1940 nicht unumstritten: So herrschten bei der Oberfeldkommandantur erhebliche Zweifel an der Kompetenz des SS- und Polizeiapparates.30 Nun dürfen diese Kompetenzkonflikte nicht überinterpretiert werden: Die Fronstellung gegenüber den Polen war immer stärker als die im eigenen Lager.31 Und so engagierten sich Einheiten der Oberfeldkommandantur mit Absperrdiensten an den Aktionen gegen ›Hubal‹ und seine Männer. Dennoch wirkte dieser Kompetenzkonflikt als eigenständiger Radikalisierungsfaktor: Denn der SS- und Polizeiapparat sah sich umso mehr unter Zugzwang gesetzt, die eigenen Kompetenzen nachzuweisen, je stärker diese von außen bezweifelt wurden. Und in der Logik der Sicherungsstrategien implizierte dies eine kontinuierliche Intensivierung des Gewalteinsatzes. (2) Zur Bekämpfung ›Hubals‹ und seiner Männer zog der verantwortliche Höhere SS- und Polizeiführer Ost, Friedrich-Wilhelm Krüger, starke Einheiten der Ordnungspolizei und der Waffen-SS zusammen.32 Für diese Einheiten bedeutete der Einsatz den Eintritt in die spezifische, asymmetrische Konstellation des Partisanenkrieges. Es waren im Kern zwei Erfahrungen, die sie dabei machten: Zum einen kämpften sie gegen einen Feind, der sich keiner offenen Konfrontation stellte, kaum aufzuspüren war, sich durch geschicktes Ausweichen immer wieder dem deutschen Zugriff entzog. ›Hubal‹ konnte dabei auf überlegene Ortskenntnisse zurückgreifen, die es ihm ermöglichten, jederzeit abzutauchen und sich zu verstecken. Der Partisanenkrieg erwies sich für die Einheiten des SS- und Polizeiapparates so als eine frustrierende Phantomjagd. Zum anderen – und eng damit verbunden – machten sie die ernüchternde Erfahrung, dass es ›Hubal‹ und seine
29 Schreihage, Geschichte, BA-MA, RH 26-372/2. 30 Drastisch ausgedrückt bei: ebd. 31 Pohl, Dieter: »Die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland: Koloniale Verwaltung oder Modell für die zukünftige Gauverwaltung?«, in: Jürgen John/Horst Möller/Thomas Saarschmidt (Hg.), Die NS-Gaue: regionale Mittelinstanzen im zentralistischen »Führerstaat«, München: Oldenbourg 2007, S. 395-405, hier S. 398. 32 Zum Folgenden ausführlicher: D. Brewing: Schatten, S. 180-182.
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Männer waren, die über den Ort und den Zeitpunkt einer Konfrontation entschieden. Dadurch wurden die zahlenmäßig unterlegenen Partisanen zu einer tödlichen Gefahr für die eingesetzten deutschen Truppen. Mit Hinterhalten und überfallartigen Aktionen waren sie jederzeit in der Lage, die Männer des SS- und Polizeiapparates zu überraschen und zu töten. In dieser Konstellation blieb den überrumpelten deutschen Einheiten vielfach nur der überhastete Rückzug. Aus nationalsozialistischer Perspektive entpuppte sich der Partisanenkrieg mithin als frustrationsgeladenes und angstbesetztes Szenario: Im Kampf gegen einen Feind, der nicht zu greifen war, drohte potentiell überall tödliche Gefahr.33 Diese Bedrohungs- und Unsicherheitsgefühle standen dabei in einem scharfen Kontrast zum rassistischen Überlegenheitsdünkel der deutschen Besatzer, der ihnen doch eigentlich eine physische und statusmäßige Unangreifbarkeit suggerierte. (3) Vor diesem Hintergrund setzten die deutschen Einheiten die Einwohner des ländlichen Raums einem umfassenden Generalverdacht aus, der potentiell keine Unbeteiligten und Unschuldigen mehr kannte. Sie unterstellten der Zivilbevölkerung, Dobrzański und seinen Männern auf vielfältige Weise Unterstützung geleistet zu haben: So behauptete etwa der Kommandeur der 8. SS-Totenkopfstandarte: »Feind zieht sich überall zurück und sucht Unterschlupf in Zivilkleidung in den Dörfern des eingeschlossenen Gebietes.«34 Die Unterstellung bot zugleich die Möglichkeit, jene Frustrationserfahrungen des asymmetrischen Partisatisanenkrieges zu plausibilisieren, ohne dass die rassistische Vorstellung von der Ordnung der Welt irritiert wurde: Man kämpfte eben nicht nur gegen Partisanen, sondern gegen die Einwohner ganzer Landstriche. In der Konsequenz machten die deutschen Truppen kaum noch Unterschiede zwischen Dorfeinwohnern und ›Hubals‹ Partisaneneinheit. So hieß es etwa in einer Anweisung an Einheiten der SS-Kavallerie: »Im Gefechtsstreifen im Hinblick auf die Kampfmethoden der irregulären polnischen Truppen sofort auf Nichtdeutsche schiessen.«35 Eine Aktennotiz, die nach dem Einsatz angefertigt wurde, deutet die Konsequenzen dieser Zuschreibung für Einwohner des ländlichen Raums an: »Geschossen wurde auf alles, was sich irgendwie zeigte.«36 Zweifellos hatte dieser Gewaltschub auch eine kommunikative Dimension: So sollte in der interinstitutionellen Kommunikation
33 Siehe zu einer vergleichbaren Konstellation auch: Greiner, Bernd: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg: Hamburger Edition 2007, S. 44. 34 Bericht an den Generalinspekteur der SS-Totenkopfstandarten über Einsatz in der Zeit vom 5.-9.4.1940 nordwestlich Kielce bei Mniow, BAL, B 162/3798, Bl. 74. 35 KTB 3. Schwadron, 7.4.1940, BA-MA, RS 4/310. 36 OB Ost an OBdH, 9.4.1940, BA-MA, RH 1/v.58.
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der Wehrmacht signalisiert werden, dass die Truppen des SS- und Polizeiapparates tatkräftig und – gemessen an den Zahlen erschossener ›Banditen‹ – erfolgreich die Herausforderung des Partisanenbekämpfung meistern würden. (4) Die neuere Holocaustforschung hat gezeigt, dass Prozesse massenhafter Gewalt nicht stringent ablaufen und keineswegs auf einem einheitlichen Aktionsplan und zentraler Befehlssteuerung beruhen.37 Massenhafte Gewalt entgrenzt sich vielmehr in einem dynamischen Zusammenspiel von Deutungs- und Handlungsangeboten der Zentrale und Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene. Dieser Annahme liegt ein bestimmtes Verständnis des Handelns innerhalb hierarchischer Strukturen zugrunde: Dieses wurde in der Regel gesteuert durch Rahmenbefehle, die vielfach unscharf und ambivalent waren und zumeist einen mehr oder weniger großen Auslegungsraum aufwiesen. Sie schufen dabei – in den Worten Michael Wildts und Alf Lüdtkes – »ein Terrain der Möglichkeiten zur Gewalt«,38 das die Zonen erlaubter Gewalt massiv ausdehnte. Auf Grundlage von Situationsdeutungen und spezifischen Erfahrungen waren es die Kommandeure vor Ort, die diese Rahmenbefehle an die konkreten Anforderungen und Bedingungen vor Ort anpassten. Sie verfügten damit über beträchtliche Entscheidungskompetenzen und einen situativen Ermessensspielraum, den sie vor Ort nutzen konnten. Was diese Überlegungen konkret für Gewalt im Rahmen des Unternehmens gegen ›Hubal‹ und seine Männer bedeutete, lässt sich beispielhaft an einem Befehl Krügers vom 7. April 1940 verdeutlichen: Nachdem seine Truppen abermals in einen Hinterhalt geraten waren, ordnete Krüger an: »Bei diesem Auftrag kommt es darauf an, die gesamten, im Gefechtsstreifen liegenden Dörfer für die nachrückende Polizeitruppe zu umstellen und die gesamte männliche Bevölkerung gefangen zu nehmen.«39 Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei also um einen Befehl, der die Zone erlaubter Gewalt deutlich eingrenzt: Explizit wies Krüger an, Gefangene zu machen. In den nun folgenden Sätzen des Befehls nahm er diese Eingrenzung jedoch wieder zurück und dehnte den Bereich erlaubter Gewaltanwendung deutlich aus: »Bei Widerstand werden sämtliche Männer im Alter zwischen 17 und 60 Jahren erschossen und das gesamte Dorf eingeäschert. Jeder Fluchtversuch bedingt sofortiges Erschießen.«40 Was als Widerstand zu werten war, welche Handlungen unter diese Kategorie fielen – die Entscheidung darüber überließ Krüger seinen Kommandeuren im Feld, die aufgrund ihrer Situationsdeutung so zu Herren über 37 Zum Folgenden: Stone, Dan: Histories of the Holocaust, New York: OUP 2010. 38 Lüdtke, Alf/Wildt, Michael: »Einleitung. Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes«, in: dies. (Hg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 7-38, hier S. 22. 39 Befehl 1. SS-T-RS an 3. Schwadron, 7.4.1940, BA-MA, RS 4/683. 40 Ebd.
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Leben und Tod wurden. Hier öffneten sich ganz erhebliche Handlungsspielräume für die lokalen Kommandeure. Über den Verlauf der Aktion sind nur wenige Spuren erhalten geblieben. Mit Sicherheit sind über 2.000 Männer aus mindestens 15 Dörfern in die umliegenden Gefängnisse verschleppt worden. Jedoch blieb es nicht bei den angeordneten Verhaftungen: Immer wieder nutzten SS- und Polizeitruppen die Gelegenheit, unter dem Hinweis auf ›Fluchtversuche‹ oder ›Widerstandshandlungen‹ auf Festnahmen zu verzichten und die männliche Bevölkerung ganzer Ortschaften zu erschießen. In zahlreichen Orten fanden Massenerschießungen statt, denen über 500 Menschen zum Opfer fielen, unter ihnen auch alle 265 Männer des Dorfes Skłoby.
F AZIT Henryk Dobrzański konnte sich diesem massiven Vergeltungsschlag des SS- und Polizeiapparates entziehen. Er sollte erst einige Woche später durch Soldaten der 372. Infanteriedivision erschossen werden. Seine Handlungen schienen sämtliche Befürchtungen der polnischen Exilregierung und ihrer Vertreter im besetzten Land zu bestätigen: Die überschießende Gewalt gegen polnische Bauern, die im Einzugsbereich der Partisanengruppe lebten, wäre in ihrer Perspektive zu vermeiden gewesen, wenn sich ›Hubal‹ ihren Führungsansprüchen gefügt hätte. Angesichts der umsichtigen und besonnenen Strategie des Untergrundstaates ist es kaum verständlich, dass die Beurteilung ihrer Kommandeure mittlerweile ausschließlich auf den Warschauer Aufstand reduziert wird. Es ist nicht frei von einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet sie vielfach als Hasardeure und Desperados gezeichnet werden, die polnische Zivilisten sehenden Auges massenhafter deutscher Gewalt ausgesetzt hätten. Henryk ›Hubal‹ Dobrzański hingegen ist inzwischen zur Legende geworden: als stolzer polnischer Patriot, der auf verlorenem Posten in großer Verzweiflung für sein Vaterland kämpfte.
Bilder als Grenzerfahrung Visuelle Darstellung der sogenannten ›Contergan-Kinder‹ in den 1960er Jahren A NNE H ELEN C RUMBACH
E INFÜHRUNG Als die Eltern des kleinen Jan 1962 in der BILD von ihrem Sohn berichteten, da erzählten sie eine Heldengeschichte. Zwei Bilder begleiteten die Geschichte: Auf dem ersten Bild war Jan mit seinen Eltern zu sehen, die ihn liebevoll von rechts und links flankierten und mit ihm spielten. Das zweite Bild zeigte Jan in einem Hochstuhl sitzend, Bauklötze liegen vor ihm. Bei genauerem Hinsehen fällt auf: Seine Hände sind fehlgebildet. Die Beine sind verdeckt, so dass nicht zu erkennen ist, ob auch sie betroffen sind.1 Warum zeigte die BILD diesen Jungen Jan?2 Die Fotografien sind Anfang der 1960er Jahre eine Sensation. Erstmals druckte die Boulevardzeitung Bilder eines contergangeschädigten Kindes, was für die damalige Presse Neuland war. Mit dem BILD-Artikel »Was soll ich Jan sagen?« aus dem Sommer 1962 erhielten die sogenannten ›Contergan-Kinder‹ ein Gesicht und mehr noch: Auch ihre körperlichen Fehlbildungen wurde visualisiert. Betont vorsichtig und bedächtig führte die Zeitung ihre Leser an die körperliche
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Dietrich Beyersdorff: »Was soll ich Jan sagen?«, in: BILD vom 9.7.1962. Vgl. zur Bedeutung von Fotografien im Contergan-Fall Günther, Anne Helen: »Der Contergan-Fall als Zäsur in den 1960er Jahren? Eine mediengeschichtliche Analyse«, in: Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslage von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt am Main: Campus 2016, S. 142-165.
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Behinderung der Kinder heran. Nun war das ›Andere‹, das ›Abnormale‹ nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich sichtbar.3 Mit dieser bildlichen Präsenz, die nicht nur von der BILD-Zeitung, sondern auch von anderen Presseorganen übernommen wurde, veränderte sich die mediale Berichterstattung. Grenzen des optisch Zeigbaren wurden ausgetestet. Was konnte dem Leser bildlich zugemutet werden? Was durfte der Leser sehen und was nicht? Gleichzeitig verdeutlichten die Bilder jedoch auch ein neues Selbstbewusstsein der Eltern contergangeschädigter Kinder. Sie hielten ihre Söhne und Töchter nicht hinter verschlossenen Mauern versteckt, sondern zeigten sie in der Öffentlichkeit, was zum damaligen Zeitpunkt, Anfang der 1960er Jahre, noch keinesfalls alltäglich war. Die Grenzen des bildlich Darstellbaren verschoben sich. Die öffentliche Präsenz körperlicher Behinderung war damals kein neues Phänomen, schließlich waren Kriegsinvalide tagtäglich in den Städten zu sehen.4 Die Erforschung und Behandlung körperlicher Behinderung gehörte längst zu den Aufgaben der Mediziner. Ihr Umgang mit körperlicher Differenz unterschied sich massiv von der medialen Präsentation. Dennoch verzahnten sich beide Sichtweisen im Laufe der 1960er Jahre miteinander. Im Gerichtsprozess 1968 bis 1970 präsentierten Mediziner als Gutachter medizinische Fotografien als Beweise. Diese unterschieden sich in ihrer nüchternen Detailliertheit deutlich von jenen Fotografien, die bisher öffentlich bekannt waren. Ziel des Aufsatzes ist es nachzuvollziehen, wie die Fotografien die Sehgewohnheiten der Zeitgenossen veränderten und wie Behinderung visualisiert wurde.
E IN MEDIZINISCHER B LICK : M EDIZINISCHE F OTOGRAFIEN IN DEN 1960 ER J AHREN Bevor sich Tageszeitungen und Magazine im November 1961 auf den ConterganFall stürzten, waren Mediziner bereits Ende der 1950er Jahre auf die Nebenwirkungen des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan aufmerksam geworden. Ihre Beobachtungen galten zunächst neurologischen Nebenwirkungen bei erwachsenen Patienten. Die ersten medizinischen Publikationen über Nebenwirkungen
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Vgl. A.H. Günther: Zäsur, S. 155-157. Vgl. Möhring, Maren: »Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2007, S. 175-197, hier S. 176.
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beschäftigten sich folglich auch mit diesen Fällen von Polyneuritis.5 Von teratogenen Nebenwirkungen, d.h. vorgeburtlichen Schädigungen an Embryonen im Mutterleib, war zunächst nicht die Rede. 1960 kam Bewegung in die medizinische Debatte, als der Arzt und Humangenetiker Widukind Lenz den Verdacht äußerte, das gehäufte Auftreten von Fehlbildungen bei Neugeborenen könne auf das Medikament Contergan zurückzuführen sein. Die Publikationen im medizinischen Raum konnten nur langsam auf die neuen Entdeckungen reagieren, schließlich bedürfen wissenschaftliche Veröffentlichungen bis heute Zeit für Korrekturen und Überprüfungen durch Herausgeber und Kollegen, bis sie in einer Zeitschrift erscheinen können.6 Dennoch, wenn auch zeitversetzt, diskutierten seitdem Humangenetiker, Kinderärzte und Orthopäden, ob die Fehlbildungen bekannten Mustern entsprachen oder aber völlig neu waren.7 Zugleich ging es auch um eine visuelle Darstellung der Krankheitsfälle. Hatten die pharmakologischen Abhandlungen Tabellen und Versuchsanordnungen als Illustrationshilfe,8 visualisierten in den Fragen der kindlichen Fehlbildungen Fotografien die wissenschaftlichen Abhandlungen.9 Diese Fotografien stellten die körperliche Differenz zur ›normalen‹ körperlichen Entwicklung eines gesunden Kindes in den Mittelpunkt. Zwei wissenschaftliche Aufsätze sollen hier als Beispiel dienen, um den damaligen wissenschaftlichen Umgang medizinischer Publikationen mit Fotografien zu verdeutlichen. Der Orthopäde Oskar Hepp publizierte 1962 eine Abhandlung
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Siehe dazu beispielhaft Kirk, Beate: Der Contergan-Fall: eine unvermeidliche Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1999. Vgl. B. Kirk: Contergan-Fall; Steinmetz, Willibald: »Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre«, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Wallstein 2003, S. 195-228; Lenhard-Schramm, Niklas: Das Land Nordrhein-Westfalen und der Contergan-Skandal. Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den »langen sechziger Jahren«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. Siehe dazu auch Freitag, Walburga: Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen, Münster/New York: Waxmann 2005. Siehe dazu beispielhaft die Arbeit der Grünenthal-Mitarbeiter Kunz, Wilhelm/Keller, Herbert/Mückter, Heinrich: »N-Phthalyl-glutaminsäure-imid. Experimentelle Untersuchungen an einem neuen synthetischen Produkt mit sedativen Eigenschaften«, in: Arzneimittel-Forschung 6 (1956), S. 426-430. Siehe dazu Hepp, Oskar: »Die Häufung der angeborenen Defektmißbildungen der oberen Extremitäten in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Medizinische Klinik 57/11 (1962), S. 419-426.
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über den Anstieg kindlicher Fehlbildungen, die er mit zahlreichen Fotografien belegte. So referierte Hepp darin über die Zunahme von Fehlbildungen, ihre geografische Verbreitung und die Arten der körperlichen Differenzen. In Anbetracht der zeitlichen Nähe zu den Verdachtsfällen wurden oftmals Bilder neugeborener Kinder abgedruckt, die unbekleidet und vor einem weißen Hintergrund liegend fotografiert worden waren. Darüber hinaus wählte Hepp Fotografien dreier Kleinkinder, die bereits selbständig stehen konnten. Bei ihnen lag der Fokus auf den Armfehlbildungen. Sie waren, anders als die Säuglinge, mit Hosen bekleidet. Im Gegensatz zu den Neugeborenen lachten zwei der drei Kinder in die Kamera.10 Obwohl die größeren Kinder durchaus emotionale Regungen zeigten, waren die Situationen, in denen sie sich befanden, unnatürlich, kalt und ausschließlich vom wissenschaftlichen Zweck geprägt. Das Interesse an diesen Fotografien lag primär in der körperlichen Behinderung, was durch die Atmosphäre der Bilder bestätigt wurde. In einer weiteren Arbeit von Jurczok und Schollmeyer, die ebenfalls 1962 erschien, verhandelten die Autoren explizit Fehlbildungen bei Neugeborenen, darunter waren auch Bilder von Totgeburten.11 Die Bilder medizinischer Publikationen dokumentierten somit nicht nur das Krankheitsbild von noch lebenden Kindern, sondern sollten auch als Grundlage dienen, mit Kollegen über eine Vielzahl von Fällen zu diskutieren und eventuell auch Eingang in die medizinische Lehre zu erhalten.12 Doch die medizinische Debatte war komplex und die Fotografien zeigten dies auch: Es gab nicht eine Form der Fehlbildungen, sondern unterschiedlichste Schweregrade, Kombinationen von Fehlbildungen der Gliedmaßen und inneren Organen etc. Dies wurde ansatzweise in den Fotografien sichtbar. Beide Arbeiten veranschaulichten die Bedeutung medizinischer Fotografie für die Forschung: Über die Bilder in ihren Arbeiten konnten sich Kollegen national wie international austauschen und informieren, schließlich die Befunde mit ihren eigenen Beobachtungen abgleichen. Für den medizinisch unkundigen Betrachter erscheinen diese Fotografien schockierend, grausam und entblößend. Der medizinischen Forschung dienten sie jedoch einer genaueren Beschreibungspraxis, deren dokumentarischer Wert für die wissenschaftliche Forschung entscheidend war. Für den medizinischen Be-
10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Jurczok, Fritz/Schollmeyer, Renate: »Zur Frage des gehäuften Auftretens von Extremitätenmißbildungen bei Neugeborenen«, in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 22/5 (1962), S. 400-421. 12 Vgl. Wolff, Eberhard: »›Fotoatelier‹ im Sanatorium. Die Patientenfotosammlung der Bircher-Brenner-Klinik Zürich«, in: Irene Ziehe/Ulrich Hägele, Ulrich (Hg.), Fotografien vom Alltag – Fotografien als Alltag, Münster: Lit 2004, S. 271-278, hier S. 271.
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trachter war die Darstellung körperlicher Behinderung bei Kindern nicht neu, gehörte es doch seit Beginn der Fotografie dazu, medizinische Krankheitserscheinungen festzuhalten und zu dokumentieren. Diese Fotografien blieben jedoch in der medizinischen Fachöffentlichkeit verschlossen. Nichtmedizinische Laien erhielten keinen Einblick darin. Sie erhielten vielmehr im Sommer 1962 ganz andere Bilder jener Kinder. Erst im Gerichtsprozess 1968 sollten sich beide Sichtweisen miteinander verknüpfen.
D AS S ICHTBARWERDEN VON KÖRPERLICHER B EHINDERUNG : F OTOGRAFIEN IN DER P RESSE Als die BILD-Zeitung die Geschichte von Jan im Sommer 1962 abdruckte und sich dazu entschloss, dieser Reportage zwei Bilder des Kindes zur Seite zu stellen, sollten sie den Leser emotional berühren und aufklären. So hieß es in der Bildunterschrift: »Das ist der kleine Jan. Professor Hepp in Münster hat die Hilfe für diese ›Contergan-Babys‹ zu seiner Lebensaufgabe gemacht. ›Es sind normale Kinder mit anders gearteten Gliedern‹, sagt der Orthopäde. ›Es sind keine Krüppel. Die Eltern müssen das wissen!‹ Und die Öffentlichkeit! Deshalb zeigt BILD dieses Foto.«13
Mit der Fotografie setzte die BILD-Zeitung neue Akzente in der Berichterstattung. Sie überschritt somit eine imaginäre Grenze des bildlich Darstellbaren, denn aus dem Text wird deutlich: Das Zeigen von körperlicher Behinderung sollte ein bewusster Tabubruch sein.14 Waren die Beschreibungen der ›Contergan-Kinder‹ bisher abstrakt hinter dem Begriff der ›Missbildung‹ verborgen geblieben, stellten die Fotografien von Jan und anderen Kindern eine Grenzerfahrung und einen Wendepunkt dar. Die körperliche Differenz zu ›gesunden Kindern‹ wurde erstmals fotografisch festgehalten. Dadurch entstand das Stereotyp des ›Contergan-Kindes‹, das Fehlbildungen an Armen und/oder Beinen aufwies. Ihnen konnte mit Hilfe der Prothetik und der orthopädischen Versorgung geholfen werden, so der Tenor der Artikel.15 Dass die
13 D. Beyersdorff: Was soll ich Jan sagen. 14 Vgl. A.H. Günther: Zäsur, S. 155-157. 15 Zum Bild des ›Contergan-Kindes‹ siehe beispielhaft: Ankündigung zum Artikel »Der Fall Contergan« in der BILD am Sonntag, in: BILD vom 1.9.1962. Siehe dazu auch Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in
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Fehlbildungen jedoch auch innere Organe oder die Hörfunktion beeinträchtigen konnten und in unterschiedlichen Schweregraden auftraten, konnte fotografisch nicht festgehalten werden, und so blieben diese Schädigungen oftmals unbekannt. Die BILD forcierte ihre Berichterstattung im Sommer 1962 und konzentrierte sich auf das familiäre Leben der ›Contergan-Kinder‹. Sie berichtete von den ›Contergan-Zwillingen‹,16 von einer ›Contergan-Mutter‹,17 die aufopferungsvoll nach dem Tod ihres Mannes für ihre Kinder lebte und schließlich von einer Familie, die von ihren Nachbarn verstoßen wurde, weil sie ein contergangeschädigtes Kind hatte.18 Die emotionalen Berichte unterstützen die Bildwirkungen der abgedruckten Fotografien. Es waren keine schockierenden Bilder, wie in den medizinischen Fachzeitschriften, sondern Fotografien, die familiäre Liebe und Fürsorge darstellten. Neben den Müttern und Vätern mit ihren Kindern kamen Ärzte, insbesondere Orthopäden als weitere Gruppe hinzu, über die auch fotografisch berichtet wurde. 19 So titelte die Zeitschrift Quick: »Deutsche Ärzte helfen den Contergan-Kindern: So lernen sie leben«.20 Der Orthopäde erhielt hier auch ein bildliches Heldendenkmal, wurde mit den Kindern in der Behandlung gezeigt, wie er sich liebevoll um sie kümmerte. Die Szenerie der medizinischen Behandlung wurde oftmals mit alltäglichen Handlungen ergänzt: Es ging darum, mit Hilfe von Prothesen zu laufen oder zu essen. Die Kinder wurden im zunehmenden Verlauf der Zeit immer häufiger mit technischen Hilfsmitteln, insbesondere mit Prothesen, abgebildet. Vergleichbar mit den Bildern medizinischer Fachzeitschriften waren diese natürlich nicht. Es ging nicht darum, medizinische oder anatomische Bilder der Behinderungen zu zeigen, sondern vielmehr Ärzte und Kinder im Zusammenspiel, insbesondere in der Nutzung von Prothesen. Die Grenze des bildlich Darstellbaren rückte ein Stück weiter. 1962 veröffentlichte die Illustrierte BUNTE einen Fortsetzungsroman, der auf der Titelseite mit CONTERGAN um Aufmerksamkeit warb. Auf der Titelseite war der Kopf eines blonden Mädchens zu sehen, ansatzweise ist eine Hand des
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der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: transcript 2009, S. 235-236 u. 303-304; W. Freitag: Contergan, S. 87. N.N.: »Contergan-Zwillinge«, in: BILD vom 19.9.1962. Neander, Joachim: »Als der Mann starb, nahm sie Contergan«, in: BILD vom 3.9.1962. Vgl. Jando, Fritz: »Herzloses Dorf stößt Contergan-Eltern aus«, in: BILD vom 11.9.1962. Vgl. A.H. Günther: Zäsur, S. 155-156. N.N.: »Deutsche Ärzte helfen den Contergan-Kindern: So lernen sie leben«, in: Quick vom 25.11.1962, S. 8-11.
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Kindes zu erkennen. Der Titel CONTERGAN lässt direkt den Schluss zu, dass es sich hierbei um ein contergangeschädigtes Kind handeln müsse.21 Der Fortsetzungsroman setzte sich, wie in diesem Genre üblich, über mehrere Wochen mit verschiedenen Schicksalen auseinander. In diesem Fall ging es um eine schwangere Frau, die aus Ehekummer zu dem Beruhigungsmittel griff, oder einen Geschäftsmann, der aufgrund beruflicher und familiärer Probleme das Medikament einnahm. In diesen Fortsetzungsgeschichten schilderte der Autor die Schicksale jener Erwachsenen, die vergleichbar mit Hunderten anderen Geschichten in der Bundesrepublik sein sollten. In dem Ankündigungstext hieß es: »Es hätte jeden von uns treffen können. Das Schlafmittel Contergan gab es in allen Apotheken ohne Rezept. Verkauf pro Monat: 20 Millionen Tabletten. Auch die Direktrice Edith Ritter und der Papierfabrikant Dr. Hüllstorf nahmen Contergan. Frank Dreesen schildert ihre Schicksale. Sie stehen für tausend andere […].«22
Hier rückten kurzzeitig erwachsene Geschädigten in den Mittelpunkt: die werdende Mutter ebenso wie der gestandene Geschäftsmann. War die Titelseite noch mit einer Fotografie eines ›Contergan-Kindes‹ versehen, so erzählte der Autor die Geschichte von Edith Ritter und Dr. Hüllstorf. Zeichnungen der Protagonisten und anderen Figuren ergänzten den Roman und verdeutlichten dessen Fiktionalität. Gleichzeitig betonte jedoch die Fotografie auf der Titelseite die ›Ikonisierung‹ des ›Contergan-Kindes‹, schließlich reichten das Bild eines Kindes und der Markenname »Contergan« aus, um die gewünschten Assoziationen zu erreichen. Die in Zeitungen und Zeitschriften vorgefundenen Fotografien konstruierten folglich das Bild des ›Contergan-Kindes‹ auf visueller Ebene. Somit rückte kindliche Behinderung in den Fokus des medialen Interesses – jedoch stark begrenzt auf die Behinderung jener Kinder, die als contergangeschädigt identifiziert werden konnten. Folgerichtig spricht Willibald Steinmetz von der Gruppe der ›Contergan-Kinder‹ als »Dauerprovokation für die bundesrepublikanische Gesellschaft«.23 Und so begleiteten die damaligen Leser das Heranwachsen der Kinder 21 Das Titelbild wurde abgedruckt in: Mork, Andrea: »Zur Ausstellung«, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bonn: Kerber 2007, S. 18. 22 N.N.: »Contergan. Der Roman einer unheimlichen Droge«, in: BUNTE vom 10.10.1962. Dort hieß es weiter: »Was hier erzählt wird, beruht auf Tatsachen. Und doch wären Ähnlichkeiten mit Lebenden nur zufällig. Denn mit Rücksicht auf die Betroffenen sind alle Namen erfunden worden, die Schicksale der handelnden Personen ebenfalls. Die chemischen, pharmakologischen, medizinischen und technischen Angaben in diesem Roman entsprechen der Wirklichkeit.« Ebd., S. 28. 23 W. Steinmetz: Politisierung, S. 200 (Herv. i.O.).
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über Jahre in Bildern permanenter Grenzerfahrung. Die Sehgewohnheiten der Leser veränderten sich systematisch: Niemand konnte sich hinter dem Nichtwissen und Nichtsehen verstecken. Die Leser wurden auf den Titelseiten mit Bildern konfrontiert und zum Hinschauen angehalten. Der von Steinmetz gewählte Begriff der »Dauerprovokation« 24 verdeutlicht, wie unbequem die Auseinandersetzung, sprachlich wie visuell, mit dem Thema Contergan war.
AUFKLÄRUNG UND I NFORMATION : B ILDER KÖRPERLICHER B EHINDERUNG BEI DER A KTION S ORGENKIND UND DER S TIFTUNG FÜR DAS BEHINDERTE K IND Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) gründete 1964 die Aktion Sorgenkind, eine landesweite Medienkampagne, die vor dem Hintergrund des Contergan-Falles über die Thematik Körperbehinderung aufklären und informieren sollte. In den nächsten Jahren entstanden unterschiedliche Fernsehformate, wie z.B. die Sendung Vergiss mein nicht, die von Peter Frankenfeld moderiert wurde. Hier verband die Redaktion des ZDF spielerische Elemente mit Spendenaufrufen. Das Thema Behinderung erhielt einen Sendeplatz in den bundesrepublikanischen Haushalten.25 Mit dem Titel Aktion Sorgenkind setzte sich jedoch neben der visuellen Darstellung von Behinderung auch ein weiteres Bild in den Köpfen der Zuschauer fest: Es war eine besondere Aktion notwendig, um den Kindern zu helfen, die als ›Sorgenkinder‹ umsorgt und behütet werden mussten. Gleichzeitig klärte die Aktion Sorgenkind auf und erweiterte das Wissen über Behinderung. 26 In den Informationsbroschüren der Aktion Sorgenkind wurden zahlreiche Formen von Behinderungen thematisiert. Fotografien untermalten diese Informationen und zeigten Kinder mit Behinderungen in ganz unterschiedlichen Situationen: während einer Behandlung, des Unterrichts oder beim Spielen. Ihnen standen Ärzte, Schwestern und Therapeuten zur Seite. Gleichzeitig wurden vielfältige Ar-
24 Ebd. 25 Vgl. Lingelbach, Gabriele: »Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964«, in: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2010, S. 127-150. Siehe dazu auch die Chronik der Aktion Mensch auf ihrer Homepage: https://tinyurl.com/y7vcaf2z (abgerufen am 21.7.2017). 26 Vgl. G. Lingelbach: Aktion Sorgenkind, S. 129-135; Bösl, Elsbeth: »Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History«, in: APuZ 23 (2010), S. 6-12.
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ten von Behinderung und des Umgangs damit visuell seh- und erfahrbar: Die Bilder zeigten u.a. ein contergangeschädigtes Mädchen mit fehlgebildeten Armen, das zwischen Spielzeug auf dem Boden saß, Kinder in Rollstühlen, an einer Krücke oder im Sprachunterricht.27 Bildunterschriften wie »Auch eine kleine Puppenmutter«28 oder »Mutti, ich kann laufen«29 sollten die Normalität der Kinder hervorheben. Die Vielfalt an Hilfsangeboten der Aktion Sorgenkind zeigte zugleich auch die Hilfsmöglichkeiten auf, die es bereits gab: Massagen, Sprech- und Schreibübungen oder das Lernen mit Prothesen zu gehen oder zu schreiben. Die Sehgewohnheiten wurden somit immer weiter ausdifferenziert, immer mehr war sichtbar, immer mehr präsent. Und so ging es nicht nur um die Darstellung von Behinderung, sondern um die Vermittlung einer Botschaft: Sie sind normale Kinder und können mit unserer Hilfe normal leben. Was genau unter ›Normal‹ zu verstehen war, war auch in den Bildern sichtbar: das Spielen und Laufen, wenn auch mit Hilfsgeräten, das Lesen und Schreiben.30 Von politischer Seite waren Bilder jedoch keinesfalls ein Mittel, das beständig eingesetzt wurde. Informationsbroschüren des Bundesgesundheitsministeriums, die Anfang der 1960er Jahre an Eltern contergangeschädigter Kinder verschickt werden sollten, enthielten keine Bilder, vielmehr nur Adresslisten von Ansprechpartnern und Informationen über Rehabilitationsmöglichkeiten. 31 Diese Zielgruppe musste nicht explizit mit Bildern geschädigter Gliedmaßen bekannt gemacht werden. 1968 rief die damalige Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) nach langjährigen Debatten die Stiftung für das behinderte Kind ins Leben. 32 Die Stiftung sollte vornehmlich Gelder für Hilfsprojekte sammeln und Spender aus der Wirtschaft und Industrie werben. Die Spendenakquise wurde durch Informationsmaterial unterstützt. Anders als die Aktion Sorgenkind, griff die Stiftung auf ein
27 Vgl. Informationsbroschüre »Sorgenkinder unter uns« um 1967, Archiv Aktion Mensch Bonn, S. 1 und S. 10. 28 Ebd., S. 28. 29 Ebd., S. 38. 30 G. Lingelbach: Konstruktion von Behinderung. 31 Vgl. Merkblatt für Eltern von Kindern mit fehlgebildeten Gliedern, überreicht vom Bundesministerium für Gesundheitswesen Bad Godesberg, Bundesarchiv (im Folgenden: Barch) B 142/2116. 32 Vgl. Ansprache von Frau Bundesminister für Gesundheitswesen Käte Strobel anlässlich der Konstituierung der Stiftung für das behinderte Kind des Deutschen Grünen Kreuzes am 12. Juni 1967 in Bad Godesberg, S. 1-2, BArch B 189/747, fol. 301-304; A.H. Günther: Zäsur, S. 162.
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künstlerisches Bild zurück.33 Die abstrakte Zeichnung des Kindes wandte sich von den bisherigen Darstellungsformen der Fotografie ab. Wahrscheinlich war dieser Rückgriff ein Versuch, sich den Zielen der Stiftung auch bildlich zu verpflichten, sich für alle Kinder mit Behinderungen einzusetzen und keiner Gruppe einen Vorzug zu gewähren. Doch das Bildnis des Säuglings verwies den Betrachter wieder auf zwei Bedeutungen: Zum einen wurde Behinderung hier auch bildlich mit hilflosen Kindern verbunden, zum anderen erinnerte es an die contergangeschädigten Kinder und ihre Geschichte.
B ILDER IM G ERICHTSPROZESS 1968-1970 Der Alsdorfer Gerichtsprozess (1968-1970) gegen Mitarbeiter der Herstellerfirma Chemie Grünenthal wurde wie kaum ein anderes Verfahren der damaligen Zeit von der Presse begleitet. Neben den täglichen Berichten aus dem Gerichtssaal gehörten auch Bilder dazu. Aus den Kleinkindern vom Anfang der 1960er Jahren waren in der über siebenjährigen Untersuchung der Staatsanwaltschaft Schulkinder geworden.34 Mit Beginn des Verfahrens 1968 war das Thema Contergan erneut ein mediales heißes Eisen: Täglich berichteten Gerichtsreporter aus dem Gerichtssaal, präsentierten Fotografien von den Angeklagten, Richtern, Anwälten und Schöffen. Da das Gerichtsverfahren zunächst die Fälle erwachsener Contergangeschädigter untersuchte, zeigten sich die Eltern der ›Contergan-Kinder‹ unzufrieden. Sie organisierten einen Protestmarsch und protestierten gegen den Verlauf des Verfahrens, von dem sie sich endlich Gerechtigkeit für ihre Kinder erhofft hatten.35 33 Das Bild ist eine Zeichnung von Pablo Picasso, Porträt eines Kindes, 1903, siehe Stiftung für das behinderte Kind: Aufgaben und Ziele, BArch B 189/9458, fol. 374; Stiftung für das behinderte Kind, Warum eine Stiftung?, BArch B 189/9458, fol. 446; Stiftung für das behinderte Kind, Es gibt kein größeres Wunder, BArch B 189/9458, fol. 450; Stiftung für das behinderte Kind, Schenken Sie Ihrem Kind eine Spardose, BArch B 189/9458, fol. 453; Stiftung für das behinderte Kind, Tausende von Müttern fragten »Warum?«, BArch B 189/9459, fol. 454. 34 Günther, Anne Helen: »Ein ›Jahrhundertprozess‹ oder ›Justitias Blamage‹? Der sogenannte Contergan-Prozess in Alsdorf (1968-1970)«, in: Sammlung Crous (Hg.), Recht und Unrecht – 1200 Jahre Justiz in Aachen, Aachen: AKV Sammlung Crous 2015, S. 200-209. 35 Vgl. dpa: »Protestmarsch durch Alsdorf. Eltern Contergangeschädigter Kinder klagen über Mangel an Verständnis«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.7.1968. Siehe dazu auch Laube, Manfred: »Eltern fordern: Mehr und bessere Sonderschulen für Contergan-Kinder«, in: Aachener Nachrichten vom 22.7.1968, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298314; ndy: »Sorgen wegen der Dysmelie-Kinder.
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Im laufenden Gerichtsverfahren wurden die Kinder zunehmend präsenter, als das Gericht sich im Sommer 1968 mit den Fällen der ›Contergan-Kinder‹ beschäftigte.36 Die Nebenkläger brachten ihre Kinder mit zum Prozess, was vom Gericht mit durchaus gemischten Gefühlen gesehen wurde.37 So berichtete der Journalist Zimmermann von einem Fall, in dem Mütter mit ihren Kindern den Gerichtssaal verlassen mussten. In seinem Artikel werden mehrere Vorurteile deutlich, die damals durchaus gängig waren: Konnten Kinder mit Behinderung hübsch sein? War ihr Anblick eine Zumutung für das Gericht? Der Journalist Zimmermann beschreibt die Szenerie als Grenzerfahrung: »Höflich, aber bestimmt weist ein Justizwachmeister drei Mütter mit ihren Kindern aus dem Kasinosaal der Alsdorfer Zeche ›Anna‹. Dem Gericht bleibt der Anblick dieser Kinder vorerst noch erspart. Es sind hübsche Kinder, wenn man nur ihre Gesichter betrachtet. […] Die Strafkammer will zuerst die Gutachten der Sachverständigen hören. Man will kühl, sachlich und wissenschaftlich bleiben, so lange es eben geht. Man will sich nicht durch den Anblick der unglücklichen Kinder unter Druck setzen lassen«.38
Doch die Kinder blieben auch im Gerichtssaal sichtbar und zwar über die medizinischen Gutachten, die nun im Gerichtssaal verlesen und diskutiert wurden. Die Gutachten enthielten Bilder, die wir bereits aus den medizinischen Publikationen kennen. Die medizinischen Fotografien – für den Laien nur schwer einzuschätzen – lösten emotionale Reaktionen der Gerichtsbeobachter aus. Von »harte[n], unerfreuliche[n] Bilder[n]«39 war die Rede, einige Beobachter mussten gar ihren Blick von den Bildern abwenden.40 So gerieten die Fotografien der Kinder zu Beweisen im Gerichtsverfahren, die nun gegenüber allen juristischen Argumenten überprüft werden mussten. Für jene Mediziner, die als Gutachter auftraten, gehörten die Fotografien zu ihrer Argumentation dazu. Sie waren Teil ihrer wissenschaftlichen
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Versagt die Gesellschaft?«, in: FAZ vom 22.7.1968, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298315 und 298316. Vgl. A.H. Günther: Zäsur, S. 157. Vgl. Gutachter: »Mit Contergan nahmen Mißbildungen zu. Geschädigte Kinder spielten vor Gerichtssaal«, in: NRZ vom 13.8.1968, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299014. Zimmermann, Horst: »Eine Chance für 400 Schadenersatzklagen? Zweite Runde im Contergan-Prozeß«, in: Tegernseer Zeitung vom 13.8.1968, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299020. Vgl. auch A.H. Günther, Zäsur, S. 157. H. Zimmermann: Eine Chance. Ebd.
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Arbeit und sollten den Stand medizinischer Forschung dokumentieren, keineswegs emotional aufwühlen. Doch genau dies geschah im Gerichtssaal, der kein wissenschaftliches Kolloquium war, sondern vielmehr von Eltern, Beobachtern und Journalisten besucht wurde. Hier trafen zwei unterschiedliche Sehgewohnheiten aufeinander, die nicht zu vereinen waren. Das Gerichtsverfahren erlebte in den zwei Jahren seiner Dauer Höhen und Tiefen, die emotional begleitet wurden von den Teilnehmern und Angeklagten, von den Nebenklägern und Beobachtern. Bilder waren ausschlaggebend für die öffentliche Wahrnehmung in der Presse. So waren nicht nur der Begriff des ›ConterganKindes‹, sondern auch die Bilder, die er erzeugte und jene Fotografien, die in den Zeitungen abgedruckt wurden, sprachgewaltig und bildmächtig. Der Gerichtsprozess wurde 1970 eingestellt.41
F AZIT Was im November 1961 als Sensationsmeldung begann, entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der Contergan-Fall. Zu Beginn waren die Berichte über die Nebenwirkungen des Medikaments abstrakt, wissenschaftlich, komplex. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hatte ihre eigene Darstellungsform: sie nutzten medizinische Fotografien zu dokumentarischen und wissenschaftlichen Zwecken. Jene Fotografien, die nichtmedizinische Leser irritierten, zeigten die körperliche Differenz, stellten die körperliche ›Andersheit‹ in den Mittelpunkt und nicht das Kind. Diese Darstellungsformen blieben der wissenschaftlichen Gemeinschaft bis zum Gerichtsprozess der Jahre 1968 bis 1970 vorbehalten. 1962 wendete sich das Blatt, und die Sehgewohnheiten erweiterten sich, Grenzen des bisher bildlich Zeigbaren wurden überschritten: Bilder von contergangeschädigten Kindern und ihren Behinderungen waren zu sehen, fehlgebildete Arme und Beine. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft waren diese Bilder neu und schockierend. Noch nie war so offensiv körperliche Behinderung bei Kindern gezeigt worden, noch nie waren die Leser mit dem Schicksal körperlich behinderter Kinder in solchem Maße konfrontiert worden. Die Sehgewohnheiten der Zeitgenossen veränderten sich: Körperbehinderung bei Kindern wurde zu einem gesellschaftlich relevanten Thema. Mit den Bildern contergangeschädigter Kinder entwickelte sich zugleich ein ›Typus‹ von Körperbehinderung, der mit den Nebenwirkungen des Medikaments 41 Ausführlich zum Prozess siehe A.H. Günther: Ein ›Jahrhundertprozess‹; N. LenhardSchramm: Nordrhein-Westfalen, S. 530-847.
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untrennbar verbunden war. Die Fehlbildungen an Armen und Beinen verbanden die damaligen Leser mit den Nebenwirkungen des Schlaf- und Beruhigungsmittels, die zahlreichen unterschiedlichen Varianten der Fehlbildungen konnten bildlich jedoch nicht erfasst werden. Mit der Aktion Sorgenkind und ihren Sendeformaten gelangte das Thema körperliche Behinderung nun auch in die Wohnzimmer der Bundesbürger, die in Spielshows aufgeklärt und informiert wurden. Durch zahlreiche Broschüren erhielten sie einen vertiefenden Einblick in die Rehabilitation und schulische Ausbildung der Kinder und konnten sich über das Engagement, nicht nur für contergangeschädigte, sondern für eine Reihe von Kindern mit Behinderung informieren. Der Blick auf unterschiedliche Arten von Behinderungen erweiterte sich, die Grenze dessen, was bisher visuell zu erleben war, verschob sich weiter. Mit dem Gerichtsprozess 1968-1970 wurden die ›Contergan-Kinder‹ zu einem Symbol für das Versagen des Medikaments. Doch die Zeitgenossen taten sich schwer mit diesen Bildern, ihr Anblick war ihnen noch keinesfalls vertraut, ebenso wenig der Umgang mit Behinderung. Die Fotografien der contergangeschädigten Kinder blieben in den Köpfen der Zeitgenossen und prägen bis heute unser Bild dieser Menschen: Sie sind die ›Contergan-Kinder‹ geblieben, so dass Ihnen bis heute sprachlich der Übergang in die Erwachsenenwelt verwehrt geblieben ist.
Grenzüberschreitungen: Denken in die Zukunft Vision und Dystopie des Internets M ARTINA H ESSLER
In der Süddeutschen Zeitung fand sich Ende letzten Jahres ein kurzweiliger Artikel mit der Überschrift »Mr. Spock lebt«.1 Der Artikel fragte, inwieweit Ideen aus der Kultserie Star Trek Wirklichkeit wurden. Dabei kam der Autor zu erstaunlichen Erkenntnissen. Er konstatierte, dass einiges von dem, was in den 1960er Jahren utopisch wirkte, heute eine Selbstverständlichkeit geworden sei, wenn auch nicht in der Version, wie sie damals »auf den gerade bunt gewordenen Fernsehbildschirmen« zu sehen war: So glichen die futuristischen Funkgeräte vom Typ Kommunikator den Klapphandys von Motorola, wie sie vor über 20 Jahren gebaut wurden. Auch die Videotelefonie, in der Serie von hoher Bedeutung für die intergalaktische Diplomatie, gehöre heute zu den selbstverständlichen Funktionen eines Smartphones. Der Verwirklichung nahe sei auch der Replikator, der in groben Zügen dem 3-D-Drucker entspreche. Das Beamen allerdings stelle noch immer eine technische Vision dar, auf deren Verwirklichung wir warten müssten. Die Frage, ob Visionen Wirklichkeit werden, ist scheinbar naheliegend. Nicht selten wird sie gestellt. Gleichwohl verkürzt diese Frage die Bedeutung und Funktion von Visionen. Auch wenn es erstaunlich ist, wie hellsichtig einige Zukunftsentwürfe im Nachhinein erscheinen, so erschöpft sich ihre Bedeutung nicht in der Frage nach ihrer Vorhersagekraft. Dass Science-Fiction vielfach als Inspirationsquelle für Naturwissenschaftler und Ingenieure diente, ist bekannt; dass einiges in ähnlicher Form wie ausgemalt eintrifft, anderes nicht, auch.
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Endt, Christian: »Mr. Spock lebt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Dezember 2016.
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Technikvisionen ermöglichen es aber vor allem, wie Birgit Felderer in ihrem Buch »Wunschmaschinen« schreibt, »Unvorstellbares denkbar zu machen, ein Bild des Noch-nie-Gesehenen zu entwerfen«2 und dieses Bild gewissermaßen zur Verhandlungsmasse zu machen. Daher ist nie nur die Technik, das Objekt, die Maschine allein das Thema. Vielmehr werden Geschichten erzählt, die Technik in ihren Möglichkeiten präsentieren, verständliche Erklärungen bieten für das, wozu sie zu gebrauchen sind, indem sie Technik in gesellschaftliche Kontexte, in das soziale Zusammenleben einbetten. Technikvisionen stiften »plausible Bedeutungen [...] für Vorgänge, die eigentlich außerhalb unseres Wissens und unserer Vorstellungswelt liegen«.3 Lange bevor etwas technisch realisierbar ist, wird es uns vorgeführt, können wir uns darin einüben, es uns vorzustellen, uns daran gewöhnen oder es ablehnen. Felderer verweist auf Jules Verne als eine »exemplarische Figur«, da er auf den Pariser Weltausstellungen den zeitgenössischen Stand der Technik recherchiert habe, um die Technik in seinen Erzählungen mit sozialem Sinn zu versehen.4 Damit wurde eine von Experten geschaffene, nur für solche verständliche Technik zu etwas, mit dem ein größeres Publikum Geschichten verbinden konnte. Visionen gleichen daher auch immer Grenzgängen. Sie verschieben oder überschreiten dabei unterschiedliche Grenzen: Erstens führen sie mit ihrer grundsätzlichen Zukunftsgerichtetheit das Denken in neue Zeithorizonte, die teils weit über die nahe Zukunft hinausgehen. Sie überschreiten das gegenwartsorientierte Denken. Zweitens verschieben sie die Grenzen der Phantasie, indem sie neue Möglichkeiten aufzeigen, bislang Nichtgekanntes als nahe Realität zeichnen, Ungedachtes denkbar machen. Drittens vermischen sie die Grenze von Realität und Fiktion, wie noch ausgeführt werden wird. Viertens verschieben Visionen mit diesen verschiedenen Grenzgängen schließlich die (angenommene) Grenze des gegenwärtigen Zustands, indem sie Handlungen auslösen können; sie sind Vehikel für Veränderungen – üblicherweise, so ihr Versprechen, hin zu einer besseren Welt. Fünftens eignet den Visionen auch selbst immer eine Grenze dessen, was mit ihnen an Optionen für die Zukunft gedacht werden kann. Diese Grenze der Vorstellung liegt im je zeitspezifischen Kontext begründet. Gleiches gilt für Dystopien, auch sie überschreiten die Grenzen der Gegenwart, malen Bilder einer 2
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Felderer, Birgit (Hg.), Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien u. New York: Springer 1996, S. 5. Vgl. auch Sturken, Marita/Thomas, Douglas/Ball-Rokeach, Sandra: Technological Visions. The Hope and Fears that Shape New Technologies, Philadelphia: Temple Univiversity Press 2004; Gitelman, Lisa: Always Already New. Media, History and the Data of Culture, Cambridge/MA u. London: MIT Press 2008. B. Felderer, Wunschmaschine Welterfindung, S. 5. Ebd.
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nicht existenten Welt. Sie entwerfen allerdings eine düstere, bedrohliche Zukunft, von der die Menschen hoffen, dass sie nicht eintrifft. Zwei solcher Grenzgänge, zwei Geschichten zur Zukunft, 1909 bzw. 1910 publiziert, beschäftigten sich mit einer vernetzten Welt. Beide wurden kürzlich neu aufgelegt, was kein Zufall ist. Vielfach wurde ihnen bestätigt, sie seien die Vorwegnahme des heutigen Internets. Beide erschienen zu einer Zeit, die jeweils als Hochphase der Beschäftigung mit der Zukunft gilt und einer Zeit, in der ein schneller technischer Wandel die Zeitgenossen beschäftigte und mannigfach Technikvisionen entstehen ließ.5 Es handelt sich um eine euphorische Vision einer total vernetzten Welt sowie eine Dystopie zum gleichen Thema.
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100 J AHREN : D RAHTLOS
1910 brachte der Journalist Arthur Brehmer das Buch Die Welt in 100 Jahren auf den Markt.6 Es versammelte Experten verschiedenster Gebiete, die Prognosen für die Zukunft, eben die Welt in 100 Jahren, abgeben sollten. Darin befindet sich eine Vision, die sich mit der drahtlosen Kommunikation befasst. Kurz und bündig nannte der Autor Robert Stoss seinen Beitrag »Das drahtlose Jahrhundert«.7 In diesem 20-seitigen Artikel finden sich typische Elemente von Technikvisionen wieder, so erstens das narrative Element, das die neue Technik und ihre Verwendungen anschaulich macht, zugleich ihre Vorteile erklärt und dabei das Bild einer unbeschwerten, bequemen und von vielen Zwängen befreiten Welt zeichnet. Zweitens sind zwischen diese verschiedenen Geschichten stets sachlich-technische Erläuterungen geschaltet, die in wissenschaftlicher Manier die Plausibilität, ja mehr noch, die Faktizität dieser zukünftigen Entwicklung aufzeigen sollen. Es wechseln also narrative, fiktionale Elemente mit sachlich-wissenschaftlicher Argumentation, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden bewusst verwischt. Drittens bewegt sich der Beitrag in unterschiedlichen Zeitdimensionen. Einerseits werden die im Titel des Buches stehenden 100 Jahre thematisiert, also 5 6 7
Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 152-161. Brehmer, Arthur (Hg.), Die Welt in 100 Jahren, Hildesheim: Georg Olms 2010 [Berlin 1910]. Stoss, Robert: »Das drahtlose Jahrhundert«, in: Brehmer, Die Welt in 100 Jahren, S. 27-48. Anzumerken ist hier, dass sich unterschiedliche Schreibweisen des Namens des Autors finden. Im Faksimile-Druck der Neuauflage sowie im Projekt Gutenberg des Buches wird Stoss »Sloss« geschrieben. Zudem gibt es andere zeitgenössische Werke eines amerikanische Journalisten Robert Thompson Sloss (1872-1917). In der hier verwendeten Publikation von Brehmer, neu aufgelegt 2010, findet sich dagegen die Schreibweise Stoss. Ich danke Stefan Krebs für diesen Hinweis.
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ein weit in die Zukunft hineinreichender Horizont entworfen, vor allem aber werden kurz bevorstehende Entwicklungen angekündigt, die im Duktus des Gegenwärtigen, des Faktischen präsentiert werden. Stoss steigt mit einer Erzählung ein, die die vielen Abenteuer- und Heldendarstellungen zu den Polarexpeditionen der Zeit aufnimmt. Der Autor erzählt von Polarforschern, die auf dem Weg zum Südpol unterwegs sind – ein ungemein riskantes Unternehmen. Kurz bevor sie es tatsächlich schaffen, den Südpol zu erreichen, lässt sich der Kapitän drahtlos mit seiner Frau verbinden, um ihr mitzuteilen, dass er sein Ziel in Kürze erreichen werde. Die Kommunikation geschieht über Sprache und Bild, die Einzelheiten, inkl. der kleinen Tochter, die mit ihrem Vater plaudert, werden in rührseliger Weise geschildert. Um sich vor dem Erreichen des Pols noch zu entspannen, verbinden sich der Kapitän und sein Offizier dann mit der New Yorker Oper und hören in behaglicher Stimmung »im ewigen Eise der Polarregion den Stimmen und Klängen der New Yorker Oper«8 zu, nicht zufällig auch noch ein Stück mit dem Titel »Der Held der Lüfte«. Der Autor beginnt mit dieser Fiktion, in der die drahtlose Kommunikation und Unterhaltung kaum einem ernsthaften Zweck dienen. Nur kurz werden Probleme mit dem Luftschiff, mit dem sie zum Südpol unterwegs sind, per Funk besprochen. Diese erfundene Geschichte ist jedoch nur der Einstieg für verschiedenste Szenarien, die im Folgenden fast alle Gesellschaftsbereiche umfassen und zeigen, wie Drahtlosigkeit diese verändern wird. Geschrieben wird hier im Futur 1 mit einem Duktus des Zweifellosen. Es ist von »Tathsachen« die Rede, »die nur darauf warten, in unser praktisches Leben eingeführt zu werden«.9 Der Autor betont gar gelegentlich, dass seine Szenarien »die Wahrheit«10 seien. Stoss unterstreicht dies mit Bildern von Telefunkenstationen oder Porträts von bedeutenden »Erfindern« wie Marconi. Offensichtlich verlängert der Autor Marconis drahtlose Telegrafie in die Zukunft, deren Existenz er mit den Bildern als Selbstverständlichkeit unterstreicht.11 Er entwirft eine Gesellschaft der Zukunft, in der auch Stimmen und Bilder drahtlos übertragen werden können und präsentiert ein Panorama der Verwendung des Mobiltelefons und des Internets, tatsächlich von den Grundideen her ungefähr so, wie wir es heute kennen.
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Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. 1897 war es Guglielmo Marconi gelungen, telegraphische Nachrichten drahtlos zu übertragen. Er gründete im gleichen Jahr eine Firma. 1909 erhielt er gemeinsam mit Ferdinand Braun den Nobelpreis für Physik. Vgl. zu Marconi und der drahtlosen Telegrafie: König, Wolfgang: »Massenproduktion und Technikkonsum«, in: ders./ Weber, Wolfhard (Hg.), Netzwerke, Stahl und Strom, Berlin: Propyläen 1997, S. 511-519.
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So betont der Autor, dass bald »jedermann sein eigenes Taschentelephon haben [wird], durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können, einerlei, wo er auch ist, ob auf der See, ob in den Bergen, ob in seinem Zimmer, oder auf dem dahinsausenden Eisenbahnzuge […], dem durch die Luft gleitenden Aeroplan oder dem in der Tiefe der See dahinfahrenden Unterseeboot«.12 Er nennt es »das Telephon in der Westentasche«.13 Auch werde man seine Augen »nicht mehr durch Zeitunglesen anzustrengen brauchen, denn [man] wird sich in der Untergrundbahn oder auf der Stadtbahn« oder wo immer man sei, »mit der gesprochenen Zeitung in Verbindung setzen, und alle Tagesneuigkeiten erfahren«.14 Gleiches gilt, wie schon im fiktiven Einstieg präsentiert, für das kulturelle Angebot der Welt: die Verbindung in alle Konzertsäle, Theater etc. der Welt werde möglich sein. Etwas ungeniert beschreibt der Autor die Möglichkeit, auch Katastrophen live zu verfolgen und dabei gar »das Angstgewimmer der Leute, das Verröcheln der Sterbenden und die Schreie der Hungrigen«15 zu hören. Weiter werde, so der Autor, die drahtlose Kommunikation der Verbrecherjagd dienen, indem Photographien an Schiffe, Züge, Autos und Luftschiffe geschickt werden können. Auch was die Arbeitswelt angeht, entwarf der Autor eine neue Ortlosigkeit, die uns heute fast selbstverständlich erscheint, wenngleich nicht in der 1910 erdachten Dimension. Man könne arbeiten, von wo aus man wolle: Direktoren würden eine »Versammlung abhalten können, wenn der Eine an der Spitze des Himalayas ist, und der Andere in einer Oase der afrikanischen Wüste, der Dritte in irgendeinem Badeorte und der Vierte sich gerade auf einer Luftreise befindet. Sie werden sich sehen, miteinander sprechen, werden ihre Akten austauschen und werden sie unterschreiben. [...] Überall ist man in Verbindung mit allem und jedem«.16 Immer wieder erzählt Stoss rührende Geschichten, wie die der jungen Braut, deren Hochzeitskleid einen Tag vor der Hochzeit ein Loch hat. Da es unbedingt ein bestimmtes Kleid sein muss, bleibt nur der drahtlose Einkauf bei der entsprechenden Firma. Das Kleid wird dann per »drahtlosem Luftmotor«17 gebracht, wir würden heute von einer Drohne sprechen. An Drohnen fühlen sich heutige Leserinnen auch erinnert, wenn Stoss die Zukunft der Kriege im drahtlosen Zeitalter skizziert. Er malt das Bild eines Feldherren, der nicht im Feld steht, sondern am Bildschirm das Geschehen verfolgt und dank der drahtlosen Kommunikation
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R. Stoss, Das drahtlose Jahrhundert, S. 35. Ebd. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 43. Ebd., S. 47.
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gleichzeitig verschiedene Schlachtfelder verfolgen und aus der Ferne Entscheidungen treffen kann. Betrachten wir allerdings den zeitgenössischen Kontext, so sind die Vorstellungen vielleicht nicht ganz so überraschend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit dem Phonograph war es gelungen, Stimmen aufzuzeichnen, das Telefon war bekannt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Zeitgenossen die erste Radiosendung erlebt, Menschen konnten seit 1881 über das Telefon an Opernaufführungen partizipieren und die Funktelegrafie ermöglichte die drahtlose Übertragung von Nachrichten.18 Als genauer Beobachter seiner Zeit denkt Stoss diese verschiedenen Technologien weiter; vor allem verschränkt er ihre Anwendungen und experimentiert gedanklich, indem er diese Ideen auf alle gesellschaftlichen Bereiche überträgt. Er verlängert, verbreitert und verknüpft die Grundkonzeptionen vorhandener Technologien zu etwas Neuem. Das Ergebnis ist eine wunderbare, über die »Drahtlosigkeit« verbundene Welt. In dieser Technikvision ist alles großartig, von Vorteil und kurz bevorstehend. Nachteile oder Probleme mit der Technik werden nicht thematisiert. Es wird eine heile, fröhliche und unbeschwerte Welt der drahtlosen Kommunikation gezeichnet, die das Leben bequem, mobil und ortlos gemacht hat.
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Ein anderer Autor, Edward Morgan Forster, eher bekannt für die Romane Wiedersehen in Howards End oder Zimmer mit Aussicht, entwarf dagegen zur gleichen Zeit eine Dystopie, die gleichfalls jüngst neu aufgelegt und übersetzt wurde, weil ihr bescheinigt wurde, dass sie das Internet vorausgesehen habe.19 Der Informatiker Jaron Lanier meinte, es handele sich vermutlich um »die früheste und wahrscheinlich auch heute noch treffendste Beschreibung des Internets«.20 Ein anderer Rezensent schrieb: »Die Maschine steht still zu lesen, bedeutet, im Schnitt alle drei Seiten verblüfft zu sein und zu grübeln über den sanften Horror, der dem eigenen Alltag viel näher kommt, als einem angenehm wäre. Denn da folgen Sätze
18 Vgl. z.B. den Überblick bei Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt/M.: Suhrkamp 52016, Kapitel 10. 19 Forster, E.M.: Die Maschine steht still, Hamburg: Hoffmann und Campe 2016 [1909]. 20 Ebd., Klappentext des Buches.
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um Sätze, die, heute gelesen, lakonische, entlarvende Anmerkungen zum Zustand der Welt im Facebook-Zeitalter sind«.21 Forster bietet in der Tat keine fröhliche, heile Welt, in der man Hochzeitskleider bestellt oder vom Himalaya aus seine Arbeit erledigt, sondern eine sehr düstere, im Apokalyptischen endende Dystopie. Anders als in Stoss’ unbeschwerter Welt, in der die Ortlosigkeit Unabhängigkeit garantiert, ist sie in Forsters Dystopie einer starren Immobilität und sozialen Isolation gewichen, geradezu im Sinne Virilios, der prognostiziert hatte, dass die Menschen bei zunehmendem unterwegs sein, selbst immer immobiler würden, z.B. im dahinrasenden Auto.22 In Forsters Dystopie handelt es sich allerdings nicht nur um einen solchen »rasenden Stillstand«, sondern darüber hinaus um eine Ortlosigkeit bei gleichzeitiger völliger Unbeweglichkeit. Die Menschen leben in einer unterirdischen, abgekapselten Welt im Wohlstand und mit hoher Bequemlichkeit. Das ganze Leben ist durch »die Maschine« perfekt geregelt. Die immer etwas ominös und unscharf im Hintergrund bleibende Maschine garantiert eine Rundumversorgung und die Erfüllung aller Bedürfnisse. Die Menschen leben allein und voneinander isoliert in Zimmern, in die alles gebracht wird. In ihren wabenartigen Zimmern verfügen sie über eine große Anzahl an Knöpfen, die sie nur drücken müssen, um Nahrung, Kleidung, Musik, Unterhaltung etc. zu erhalten. Badewannen gleiten bei Knopfdruck aus dem Boden hervor, bei kleinen körperlichen Schwächen meldet sich sofort der Arzt. Via Kommunikationskanälen, auch Bildtelefon, haben alle Zugang zu vielen, vielen anderen Menschen, zu Literatur, Vorträgen, Unterhaltung. Die Dinge werden zu den Menschen gebracht, nicht die Menschen zu den Dingen, so die Devise. Den Menschen steht auch ein sogenannter »Isolationsknopf« zur Verfügung, mit dem sie sich der allgegenwärtigen Verbindung mit der Welt entziehen können. Nachdem die Protagonistin diesen Knopf gedrückt hat und später wieder ›online‹ geht, erreicht sie allerdings eine immense Flut von Nachrichten. Das Bedürfnis nach persönlichen Begegnungen ist verschwunden, man kommuniziert lieber über die Maschine. Die Maschine ist nicht nur das zentrale technische System, das alle diese Bequemlichkeiten bereitstellt. Sie wird von den Menschen verehrt. Sie ist »allmächtig und ewig«.23 Das »Buch der Maschine« ist einerseits ein Handbuch, das für alle Zwischenfälle die entsprechenden Handlungsanweisungen, meist in Form von Knopfdrücken gibt, andererseits gleicht das Buch einer Bibel der unterirdisch lebenden Menschen. 21 Boie, Johannes: »Als Facebook in Leinen gebunden war«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. November 2016 (Herv. i.O.). 22 Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Ein Essay, Frankfurt/M.: Fischer 1997. 23 J. Boie, Als Facebook.
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In diesem Setting erzählt Forster die Geschichte einer Frau und ihres Sohnes; es sind die einzigen Menschen, die in dieser Kurzgeschichte überhaupt Konturen gewinnen. Die Mutter Vashti hat sich in dieser unterirdischen, vollverdrahteten Welt eingerichtet und ist wunschlos, sie hat auch kein Bedürfnis, ihren Sohn zu sehen, der am anderen Ende der unterirdischen Welt lebt. Ihr Sohn, Kuno, dagegen hat eine gewisse Neugier entwickelt, empfindet Defizite. Ihm reicht die Bildtelefonie der Maschine nicht. Er kritisiert die technische Vermitteltheit des Kontakts: »Ich will dich nicht durch die MASCHINE sehen. Ich will dich auch nicht durch die lästige MASCHINE sprechen«. »Komm mich besuchen, dann können wir Auge in Auge über die Hoffnungen sprechen, die mich bewegen«, sagt er zu seiner Mutter. Eine solche Forderung nach ›realem‹ Besuch ist in dieser Welt außerordentlich, so dass die Mutter hoch irritiert ist. Da Kuno jedoch sehr insistiert, überwindet sie sich, ihn tatsächlich zu besuchen. Die Reise, im Grunde ausgesprochen bequem und bestens organisiert, verstört sie. Allein das Zimmer zu verlassen, empfindet sie als Zumutung. Sie empfindet Angst und Ekel, beispielsweise als eine andere Person sie anfasst. Insgesamt bedeutet die Reise das »Grauen des direkten Erlebens«.24 Was Kuno ihr zu berichten hat, ist für die Mutter schockierend. Kuno hatte ein Abenteuer gewagt, er hatte die Maschine verlassen und ein für ihn bereicherndes Erlebnis an der Erdoberfläche erfahren; er hat dort andere Menschen gesehen und Natur. Doch holte die Maschine ihn zurück. Die Geschichte endet schließlich mit dem, was im Titel angekündigt ist: Die Maschine steht still. Zwar ist die Maschine von Menschen geschaffen worden, ein Kontrollgremium wurde eingerichtet, dass die Maschine wartete. Doch gelingt es den Menschen nicht, die Maschine tatsächlich in Stand zu halten. Sie verloren das Wissen über die Maschine. Die Maschine geht kaputt, sie steht still, das unterirdische Leben ist zu Ende. Die Geschichte endet in der Apokalypse. Forsters Beschreibungen können in der Tat als Vorwegnahme vieler Elemente des Internets und auch heutiger Entwicklungen gesehen werden. Die Möglichkeit, alles aus dem privaten Zimmer zu bestellen, mit anderen zu kommunizieren, der Arzt, der automatisch bei Versagen einer Körperfunktion herbeigerufen wird, die Freunde, mit denen man technisch verbunden ist. Weiter die Verlagerung von immer mehr Tätigkeiten an die Maschine, was mit dem Verlust verschiedener Fähigkeiten einhergeht – was einige heute als »digitale Demenz« bezeichnen – bis hin zur Abhängigkeit von der Maschine.25
24 Zitate: E.M. Forster, Die Maschine, S. 7 (Herv. i.O.), 8 u. 21. 25 Vgl. beispielsweise die umstrittenen Thesen von Spitzer, Manfred: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München: Droemer 2012.
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H ELLSICHTIGKEIT
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Was bedeutet es nun, dass zwei Männer um 1910 zwei gänzlich unterschiedliche Varianten der zukünftig vernetzten Gesellschaft entwarfen? Sagt es uns etwas über das in jüngster Zeit geäußerte Erstaunen über deren Hellsichtigkeit hinaus? Um 1900 waren Visionen einer vernetzten Welt der Mobilität, der Freiheit und Bequemlichkeit weit verbreitet. Debatten um die Vernichtung von Raum und Zeit werden seit der Einführung der Eisenbahn, also bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, geführt.26 Das Telefon, die Telegrafie und vor allem die drahtlose Telegrafie, die ersten Radiosendungen stellen, wie bereits erwähnt, den Hintergrund der beiden Zukunftsentwürfe dar. Vor allem die drahtlose Telegrafie war – wie schon die Telegrafie überhaupt – ein die Zeitgenossen immens bewegendes und faszinierendes Phänomen – unsinnlich und für Laien unverständlich flitzten Botschaften und schließlich auch Musik durch Raum und Zeit.27 Es handelt sich also zum einen um die für Visionen typische phantasievolle Verlängerung gegenwärtiger Technikentwicklung, insbesondere bei Stoss’ heiler drahtloser Welt. Im Grunde ist die Dystopie überraschender. Die negative Bewertung der Bequemlichkeit, die zur Entmündigung und schließlich zur völligen Hilflosigkeit der Menschen und ihrer Abhängigkeit von der Maschine führt, die soziale Isolation, der Verlust der Körperlichkeit und der Sinnlichkeit, die Forster beschreibt, waren in seiner Zeit nur ansatzweise angelegt, so im Großstadtdiskurs der Zeit. Schließlich beschrieb Simmel beispielsweise die Blasiertheit der Großstädter.28 Das Verhältnis von Mensch und Maschine, die Abhängigkeit oder Unterordnung der Menschen unter die Maschine war im 19. Jahrhundert Thema der Arbeitswelt, jedoch sollte der Topos der Abhängigkeit von Technik vor allem im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Thema der Technikdiskurse werden. Beide, die Dystopie wie die Vision, verdeutlichen, wie sich bereits in der Konfiguration von Technologien, wie sie um 1900 bestand, Tendenzen und Entwicklungen erahnen lassen, die tatsächlich auch 100 Jahre später die Menschen noch beschäftigen. Ein Thema findet allerdings weitaus weniger Beachtung als heute. Kontrolle spielt selbst bei Forster eher implizit eine Rolle, Überwachung im Grunde kaum 26 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München u. Wien: Hanser 1977. 27 Vgl. J. Hörisch, Eine Geschichte der Medien. 28 Simmel, Georg: »Die Großtädte und das Geistesleben«, in: Theodor Petermann (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden: v. Zahn & Jaentsch 1903, S. 185-206. Er interpretierte die ›Blasiertheit‹ allerdings als eine Abstumpfung oder Abschirmung und eine Individualisierung als Reaktion auf eine Reizüberflutung um 1900.
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eine. Die Maschine ist keine böse oder gefährliche Überwachungsmaschine. Auch wenn die Maschine Kuno auf brutalste Art von der Erdoberfläche zurückholt und ihm »Heimatlosigkeit«, das meint den Tod an der Erdoberfläche, androht, so wird insgesamt kein Bild einer totalen Überwachung gezeichnet. Kuno kann sich durch die Kanäle der Maschine bewegen, frei mit der Mutter sprechen. In Forsters Dystopie sind Kontrolle und Überwachung im Grunde auch nicht notwendig, denn die Menschen sind – ähnlich wie später in Aldous Huxleys Brave New World – ganz im Einklang mit sich.29 Sie haben sich gleichsam freiwillig der Maschine unterworfen. Sie leben in dem Gefühl, über alles verfügen zu können, sie haben sich der Maschine überantwortet, die alles für sie erledigt und deren Mechanismen sie nicht mehr verstehen. Die Maschine gleicht eher einer allmächtigen Gottheit, die für die Menschen sorgt, die dankbar für all den Service sind. Nur Kuno empfindet Unbehagen oder Leere in dieser komfortablen, problemlosen Welt. Was gänzlich fehlt in diesen Visionen der vernetzten Welt um 1900 ist die Angst vor Kontrolle. Kontrolle ist nicht das zentrale und beunruhigende Thema, ganz anders als es dann in den großen Kontrolldystopien von Jewgeni Samjatin oder Georg Orwell der Fall sein wird, in denen eine deutliche Angst und ein klares Bewusstsein von der Überwachung und Kontrolle herrscht. Selbst bei Huxley, der mit der Betonung der Betäubung der Menschen durch Konsum, Drogen und Vergnügen im Grunde einen ähnlichen Gedanken skizziert wie Forster, gibt es ein Bewusstsein dafür, dass gewisse Dinge nicht erwünscht sind und dass es eine Überwachung bzw. einen Konformitätszwang gibt. Bei Forster dagegen bleibt dieses Thema nur implizit, selbst die MASCHINE erscheint nicht als böse oder kontrollierend. So wie Visionen und Dystopien einerseits jeweils ihre Gegenwart spiegeln, die sie in die Zukunft verlängern, so sind andererseits die Grenzen ihrer Vorhersagekraft sichtbar, die in den zeitgenössischen Denk- und Problemkonstellationen liegen. Kontrolle war nicht das zentrale Thema um 1900. Anders wird dies nach dem Ersten Weltkrieg mit der Erfahrung totalitärer Systeme. In Samjatins Dystopie Wir von 1920 kontrollieren »Beschützer« die Welt.30 Eine autoritäre, alleswissende Macht ordnet und reguliert das Leben der Menschen bis ins kleinste Detail. In Georg Orwells 1984 schließlich wird die Möglichkeit der totalitären Kontrolle durch Technik thematisiert, beispielsweise mit dem Televisor, der Unterhaltung und Anweisungen sendet und gleichzeitig alles beobachten kann – was gerade heute als sehr hellsichtig erscheinen muss.31
29 Huxley, Aldous: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Frankfurt/M. u. Hamburg: Fischer 1953 [1932]. 30 Samjatin, Jewgeni: Wir, Köln u. Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1958 [1920]. 31 Orwell, George: 1984, Frankfurt/M. u. Berlin: Ullstein 1976 [1949].
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F ORMEN DER K ONTROLLGESELLSCHAFT Blickt man auf technische Dystopien des 20. Jahrhunderts, so finden sich also einerseits, wie bei Samjatin und Orwell, Entwürfe totalitärer Staaten, die alle und alles lückenlos überwachen und mit Gewalt und Repression ihre Macht sichern. Auf der anderen Seite Entwürfe wie bei Forster und Huxley, die eine Gesellschaft zeichnen, in der sich die Menschen freiwillig eingepasst haben, in einer unhinterfragten Zufriedenheit leben und gewissermaßen betäubt sind in ihrem Komfort. So heißt es am Ende bei Forster: »Aber in ihrem Verlangen nach Annehmlichkeit war die Menschheit zu weit gegangen«.32 Mithin werden unterschiedliche Formen von Kontrollgesellschaften beschrieben, einerseits autoritäre, totalitäre, in denen von zentralen Institutionen, meist dem Staat, eine lückenlose Kontrolle ausgeht, andererseits (Selbst-)Kontrollgesellschaften, die auf simpler Bequemlichkeit bzw. einer Selbstkontrolle und Selbstoptimierung der Menschen beruhen. Letzteres beschrieb auch Gilles Deleuze in einem kurzen Text aus dem Jahr 1990. Er konstatiert einen historischen Übergang von den von Foucault analysierten Disziplinargesellschaften in Kontrollgesellschaften. Die klassischen Institutionen der Disziplinargesellschaften wie Schule, Fabrik, Gefängnis befänden sich demnach mit ihren klassischen Disziplinarmechanismen in einer Krise. Diese seien stattdessen einer permanenten (Selbst-)Kontrolle gewichen, das starre in ein flexibles, sich stets änderndes System übergegangen, das scheinbar neue Freiheiten biete, aber den härtesten Einschließungen der Disziplinargesellschaften in nichts nachstehe. Wetteifern, Rivalität, Weiterbildung, permanenter Wandel, auch des Selbst, kontinuierliche Selbstüberwachung kennzeichnen diese neuen Kontrollgesellschaften. Deleuze nennt auch den Computer und die Option, Zugänge elektronisch zu kontrollieren, die jedoch in ihr Gegenteil, die Verweigerung des Zugangs umschlagen können.33 Deleuzes Text bleibt in vielem unbestimmt, doch schimmert das Bild einer Gesellschaftsform auf, die nicht auf harten, autoritär ausgeführten und berechenbaren Disziplinarmaßnamen beruht, sondern auf sich stets verändernden, permanenten Kontrollen basiert, die zugleich mit Momenten der Selbstoptimierung im Zeichen des Spaßes und der Freiwilligkeit arbeiten. Zukunftsentwürfe, seien sie euphorisch-visionär oder dystopisch, sind immer auch Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses darüber, wie die Zukunft aussehen soll. Sie bereiten auf das bislang Undenkbare vor bzw. fordern auf 32 E.M. Forster, Die Maschine, S. 63. 33 Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262.
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– in Auseinandersetzung mit den gezeichneten Bildern –, es anders zu wollen. Sie sind eine Möglichkeit, die Potentiale und Probleme neuer Technologien zur Diskussion zu stellen.34 Sie sind gleichsam Experimentalräume, in denen Zukünfte erforscht, ausprobiert und debattiert werden können. Auch historische, über 100 Jahre zurückliegenden Zukunftsentwürfe, können in der Gegenwart Teil solcher Überlegungen werden und Fragen für die Gegenwart formulieren. Ihre Kenntnis sensibilisiert für Verwendungsweisen von Technik, für Möglichkeiten ihrer Nutzung, damit verbundenen Problematiken sowie für ihre Potenziale. Sie sind Denkanstöße. Nicht zufällig wurden die beiden hier betrachteten Zukunftskonzepte kürzlich neu aufgelegt. Und nicht zufällig stiegen die Verkaufszahlen von Orwells Buch 1984 erneut, wie bereits im Jahr 1984, in jüngster Zeit wieder enorm an. Einerseits existieren Dystopien, die die gleichsam freiwillige Unterwerfung der Menschen thematisieren, die, wie bei Forster, unbeweglich in ihren Zimmern sitzen, in zufriedener und unwissender Abhängigkeit von der Maschine. Andererseits thematisieren Dystopien ein Unbehagen hinsichtlich der Vorstellung staatlicher Überwachung wie sie bei Samjatin oder Orwell geschildert werden. Eine Dystopie, die diese beiden Formen der Kontrollgesellschaft verbindet, wurde noch nicht entworfen.
34 Vgl. L. Hölscher, Die Entdeckung, S. 154.
Hannah Arendts Frage nach dem Bösen H ELMUT K ÖNIG
Das Wesen der totalen Herrschaft besteht nach Hannah Arendt in permanenten Grenzüberschreitungen. Ihr Signum ist nicht nur das nihilistische nichts ist wahr, sondern vor allem das Prinzip alles ist möglich, das die Allmacht des Menschen ausruft und unter der Terrorherrschaft der Konzentrationslager in der »Transformation der menschlichen Natur« seine deutlichste Manifestation erfahren hat. In dem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat für Arendt die totale Herrschaft das »radikal Böse« realisiert und damit etwas in die Welt gebracht, »was Menschen weder bestrafen noch vergeben können«.1 Die damit vollzogene Überschreitung einer früher allem menschlichen Tun stets inhärenten Grenze ist nach Arendt so einschneidend, dass sie ins Zentrum jeglicher Reflexion über die Bedingungen und Folgen totaler Herrschaft gehört. In einem ihrer ersten Texte nach dem Ende des Krieges schreibt Arendt: »The problem of evil will be the fundamental question of postwar intellectual life in Europe.«2 Diese Vorhersage hat sich jedoch nicht bewahrheitet. In den ersten zwei Jahrzehnten der Nachkriegszeit wurde das Böse, der Schrecken der totalen Herrschaft und der vollkommene moralische und politische Zusammenbruch der deutschen Gesellschaft, kaum je zum Thema gemacht. Die Prognose war eher eine Ankündigung von Arendts eigenen Absichten. Tatsächlich hat das Thema des Bösen sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1975 nicht mehr losgelassen. Ein Wendepunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Bösen ist der Bericht über den Eichmann-Prozess. Seitdem spricht sie nicht mehr vom »radikal Bösen«, sondern von der »Banalität 1 2
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München u. Zürich: Piper 1986, S. 701. Arendt, Hannah: »Nightmare and Flight«, in: dies.: Essays in Understanding, 19301954, hgg. von Jerome Kohn, New York u.a.: Harcourt Brace 1994, S. 133-135, hier S. 134.
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des Bösen«. Es ist zuerst zu klären, warum sie das tut und was damit gemeint ist. Sodann werde ich die strafrechtlichen und moralphilosophischen Elemente aufgreifen, die in Arendts Frage nach dem Bösen enthalten sind. Hinter sämtlichen Erörterungen, die Arendt dem Bösen widmet, steht ihre verzweifelte Überzeugung, dass im Terror der totalen Herrschaft etwas geschehen ist, was nie hätte geschehen dürfen und »womit wir alle nicht fertig werden«.3
V OM » RADIKAL B ÖSEN «
ZUR
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DES
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In ihrem Brief an Gershom Scholem schreibt Arendt am 20. Juli 1963: »Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. […] Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute.«4
An der Stelle, an der Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vom »radikal Bösen« spricht, ist allerdings von »Tiefe« und »Dämonie« und »Oberfläche« gar keine Rede. Im Zentrum steht dort vielmehr, dass das Böse radikal ist, weil es sich sowohl dem Bestrafen wie dem Verzeihen entzieht. Diese Aussage wird von ihr damit in Verbindung gebracht, dass man das radikal Böse »weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen.«5
Wie Arendt in Vita Activa erörtert, verfolgen Verzeihen wie Bestrafen die Absicht, etwas zu beenden, »was ohne diesen Eingriff endlos weitergehen würde«.6 Es sind Akte, mit denen wir etwas zu Ende bringen und damit zugleich einen neuen Anfang möglich machen. Die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, gehört nach 3
4 5 6
Arendt, Hannah: »Fernsehgespräch mit Günter Gaus«, in: dies., Ich will verstehen: Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München u. Zürich: Piper 2005, S. 44-70, hier S. 62. Arendt, Hannah: »Brief an Gerhard Scholem«, in: dies., Ich will verstehen, S. 31-38, hier S. 38. H. Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 701. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1981, S. 236.
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Arendt zu den Wesensbestimmungen politischen Handelns. Wenn das radikal Böse der totalen Herrschaft darin besteht, dass wir es nicht zu Ende bringen können, steht im nachtotalitären Zeitalter nichts Geringeres auf dem Spiel als die grundlegende Fähigkeit des Menschen, etwas Neues zu beginnen, mithin: zu handeln. Verzeihen und Bestrafen sind nach Arendt »stets eminent persönlicher Art«. Im Verzeihen wird zwar eine Schuld vergeben, aber es ist nicht diese Schuld, die im Mittelpunkt steht, sondern »der Schuldige selbst, um dessentwillen der Verzeihende vergibt«. »Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache«.7 Der springende Punkt in dieser Überlegung ist, dass es einen Unterschied zwischen der Person und ihren Taten gibt. Die Person ist mehr als das, was sie getan hat. Der Akt des Verzeihens knüpft an diese Differenz an und ist an die Existenz dieser Differenz gebunden. Im Umkehrschluss gilt dann, dass das radikal Böse deswegen unverzeihlich und unbestrafbar ist, weil die Differenz zwischen Person und Tat hier nicht existiert. Eben das ist es, was Arendt bei Eichmann diagnostiziert. Die Entdifferenzierung, die Tatsache also, dass die Person in dem aufgeht, was sie getan hat, bezeichnet Arendt mit dem Begriff »Banalität«. Das bedeutet, dass mit diesem Terminus keineswegs die Aussage widerrufen wird, nach der das Böse unbestrafbar und unverzeihlich ist. Zugleich gilt, dass die Taten, um die es hier geht, alles andere als banal sind. Der entscheidende Grund für die »Banalität des Bösen« liegt also darin, dass Eichmann sich sozusagen geweigert hat, eine Person zu sein, und damit die Differenz zwischen dem, was er getan hat, und dem, wer er ist, entfällt. Auf dieser Differenz aber beruht nicht nur die Möglichkeit des Verzeihens, sondern auch die Möglichkeit des Strafens. Eichmann ist weder ein perverser Sadist oder Dämon noch ein irgendwie imponierender Überzeugungstäter oder Ideologe, sondern ein »Hanswurst«, ein Angeber und Wichtigtuer. Man kann ihm »beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen«, und in diesem Sinne ist er »banal« und »sogar komisch«.8
S TRAFRECHTLICHE F RAGEN Obwohl die Verbrechen, die unter die Kategorie des »radikal Bösen« oder der »Banalität des Bösen« fallen, unbestrafbar sind, müssen sie dennoch bestraft wer-
7 8
H. Arendt: Vita activa, S. 236. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, Zitate S. 83 u. 16.
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den. Arendt unterzieht in ihrem Eichmann-Buch den Gerichtsprozess einer deutlichen Kritik, hält aber das Todesurteil, das das Gericht ausspricht, für richtig. Das Gericht hat das richtige Urteil allerdings falsch begründet. Um Arendts Position zu verstehen, ist es nötig, einige juristische bzw. strafrechtstheoretische Überlegungen einzubeziehen. Die NS-Verbrechen sind nach Arendt mit dem Terminus Völkermord nur unzureichend bezeichnet und schon gar nicht gehören sie unter die Rubrik der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Nach Arendt haben wir es stattdessen mit »Verbrechen gegen die Menschheit« zu tun. In ihnen geht es nicht um die Frage der reinen Quantität, die unermessliche Anzahl der Toten, die den Untaten der Nazis zum Opfer gefallen sind. Arendt verbindet mit ihrer Formulierung vielmehr zwei andere Gesichtspunkte. Zum einen sind die Verbrechen tatsächlich gegen »die Menschheit« gerichtet, deren Gesetz und Existenz in Frage gestellt wird. Zum zweiten wird durch diese Verbrechen einigen grundlegenden Voraussetzungen des abendländischen Strafrechts der Boden entzogen. Der erste Gesichtspunkt wird klar, wenn man zum Vergleich »normale« Verbrechen heranzieht. Herkömmliche Straftaten wie Mord, Totschlag oder Körperverletzung richten sich nicht nur gegen die Personen, die diesen Verbrechen zum Opfer fallen, sondern immer auch gegen die Rechtsgemeinschaft, der die Opfer angehören. Insofern sind es nicht allein die Opfer und nicht einmal in erster Linie sie, die Anklage erheben oder darauf, wenn sie wollen, auch verzichten könnten. Es ist vielmehr immer auch das Recht der Gemeinschaft, das in den Straftaten verletzt wird, und deswegen ist es auch die Gemeinschaft selbst, die, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, die Anklage erhebt. Ähnlich ist es beim »Verbrechen gegen die Menschheit«. In ihm geht es um die Auslöschung ganzer Völker: der Juden, der Polen, der Zigeuner. Aber das Verbrechen richtet sich damit zugleich gegen die Menschheit, deren Gesetze auf fundamentale Weise in Frage gestellt werden. Es handelt sich um Verbrechen gegen die Menschheit, »verübt am jüdischen Volk« 9 und anderen Völkern. In diesen Verbrechen ist »die völkerrechtliche Ordnung der Welt und die Menschheit im ganzen […] aufs schwerste verletzt und gefährdet«,10 und deswegen können und dürfen es auch nicht nur die Juden, die Polen, die Zigeuner und die anderen Opfer sein, die Anklage erheben, sondern es ist eigentlich die Menschheit, die die Anklage erhebt. Daraus folgt, dass für die Bestrafung dieser Verbrechen ein internationaler Strafgerichtshof vonnöten ist, der im Namen der Menschheit Anklage erhebt und dort Recht sprechen kann, wo die Menschheit als ganze in Frage gestellt ist. 9 Ebd., S. 318. 10 Ebd., S. 325.
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Verbrechen gegen die Menschheit stellen über die gerichtliche Zuständigkeit hinaus weitere Grundlagen des Strafens und des Strafrechts in Frage. Zum Selbstverständnis der abendländischen Rechtslehre gehört, dass die Übeltäter in der normalen Kriminalität für sich immer eine Ausnahme in Anspruch nehmen, mit ihrer Tat aber nicht das Gesetz selber in Frage stellen. Der Dieb will nicht das Recht auf Eigentum abschaffen, – er hat vielmehr ein Interesse daran, dass ihm seinerseits das Diebesgut nicht wieder abgenommen wird. Insofern ist der Bruch des Gesetzes ein Akt, in dem das Gesetz nicht negiert, sondern in seiner allgemeinen Gültigkeit bestätigt wird. Diesem Verständnis korrespondiert, dass die Verurteilung des Übeltäters im Namen von dessen eigenem Gesetz erfolgt und sich damit von Willkür unterscheidet. Das Gesetz, nach dem Verbrechen verurteilt werden, ist das eigene Recht des Verbrechers, kein fremdes Gesetz, nicht das Gesetz von Dritten, mit dem er gar nichts zu tun hat. Auf diesem Grundsatz beruht seit »mehr als zweitausend Jahren das Gerechtigkeits- und das Rechtsempfinden der abendländischen Menschheit«.11 Daraus folgt, dass es auf der Seite des Straftäters ein Bewusstsein seiner Schuld gibt und geben muss. Strafe und Schuld sind an die Überzeugung von der prinzipiellen Verantwortungsfähigkeit des Menschen gebunden. Für die NS-Verbrechen erweisen sich diese Annahmen als antiquiert. Die Verbrechen sind nicht die Ausnahmen, mit denen das geltende Recht zugleich anerkannt wird, sondern setzen sich selber an die Stelle des Gesetzes. Die NSVerbrechen sind Verbrechen in Gesetzesform. Auschwitz sollte nicht die Ausnahme sein, sondern Hitlers wirkliches Ziel war »die Verwandlung der Welt in Auschwitz«.12 Das Verbrechen gegen die Menschheit verstößt gegen die völkerrechtliche Ordnung der Welt, nach der eine Vielzahl von Völkern den Planeten bewohnt. Diese neue und nie da gewesene Art des Verbrechens korrespondiert mit der Tatsache, dass die NS-Verbrecher vor Gericht keinerlei Schuldbewusstsein an den Tag legten. Wie kann das radikal Böse, das eigentlich unbestrafbar ist, dann aber dennoch bestraft werden? Arendts Antwort lautet: Die Bestrafung des radikal Bösen beruht auf einer anderen Grundlage. Sie geschieht nicht im Namen eines Gesetzes, das der Verbrecher als sein eigenes Gesetz anerkennt, sondern sozusagen freistehend, als ein Akt der Gewalt, der der Vergeltung und Sühne ähnlicher ist als der Strafe. Zu dieser Konsequenz kommt Arendt im Epilog ihres Eichmann-Buches, in dem
11 Arendt, Hannah: »Organisierte Schuld«, in: dies., In der Gegenwart: Übungen im politischen Denken II, München: Piper 2000, S. 26-37, hier S. 31. 12 Kertész, Imre: Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991-2001, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016, S. 230.
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sie ihre eigene Begründung für das Todesurteil darlegt. An einer entscheidenden Stelle ihres Plädoyers zitiert sie eine Passage von Yosal Rogat, dass »ein großes Verbrechen der Natur Gewalt antut und die Erde selbst nach Vergeltung schreit; dass das Böse eine naturgegebene Harmonie zerstört, die nur durch Sühne wiederhergestellt werden kann; dass Unrecht der betroffenen Gruppe um der moralischen Ordnung willen die Pflicht auferlegt, den Schuldigen zu bestrafen«.13
Arendt kommentiert diese Sätze mit der Bemerkung: »all das sind für uns antiquierte Vorstellungen, die wir als barbarisch ablehnen.«14 Aber zu eben diesen antiquierten Vorstellungen müssen die Gerichte greifen, wenn sie es mit derartigen Verbrechen zu tun haben. Arendt fährt fort: »Und dennoch, scheint mir, lässt sich kaum leugnen, dass Eichmann auf Grund solcher längst vergessenen Vorstellungen überhaupt vor Gericht kam und dass sie allein schließlich die Todesstrafe rechtfertigen.«15 Schon in Vita Activa hatte sie gesagt: »Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich, und man kann, was den Täter der Untat betrifft, nur mit Jesu sagen: ›Es wäre ihm nützer, dass man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer‹, bzw. es wäre besser, er wäre nie geboren – zweifellos das Furchtbarste, was man von einem Menschen sagen kann.«16
M ORALPHILOSOPHISCHE F RAGEN Wenn, wie unter den Bedingungen totaler Herrschaft, auf Legalität keinerlei Verlass ist, hängt alles an der Moralität. Die moralische Frage lautet, wie wir von uns aus, ohne dass wir eine Stütze in den geltenden Gesetzen finden, Recht und Unrecht, Gut und Böse voneinander unterscheiden können. Arendt hat diese Frage mehrmals in ihrem Werk behandelt, vor allem in einer posthum publizierten Vorlesung aus dem Jahre 1965 Über das Böse. Immer wenn Arendt über moralische Fragen nachdenkt, wendet sie sich Sokrates, Platon und Kant zu. Für Sokrates sind zwei Aussagen, die der Gorgias-Dialog überliefert, maßgeblich. Erstens: Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Zweitens: Es ist besser, mit der ganzen Welt uneins zu sein als mit sich 13 14 15 16
H. Arendt: Eichmann, S. 327. Ebd. Ebd. H. Arendt: Vita activa, S. 236.
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selbst. Die beiden Sätze kann man nach Arendt nur dann angemessen verstehen, wenn man hinzunimmt, was Sokrates unter Denken versteht. Denken ist nach Sokrates ein stummer innerer Dialog zwischen mir und mir selbst. Der Mensch ist »Zwei-in-Einem«,17 und das Denken bewegt sich im Zwiegespräch zwischen diesen Zweien, die wir sind. Darin liegt zugleich das Fundament der Moral: Wenn ich eine Straftat begehe, so weiß ich, dass ich fortan dazu verurteilt bin, mit einem Straftäter, also z.B. einem Mörder, zusammenzuleben. Weil ich das nicht im Ernst wollen kann, unterlasse ich die Straftat und werde nicht zum Übeltäter. Die Übereinstimmung mit mir selbst ist mir so wichtig, dass ich das Unrecht unterlasse. Andernfalls müsste ich in ständiger Disharmonie mit mir selbst existieren. Das ist, sehr kurz und sehr verdichtet, nach Arendt die Quintessenz der Sokratischen Moral. Ihre Schwäche besteht darin, dass sie sehr voraussetzungsreich ist. Vor allem setzt sie voraus, dass wir über ein intaktes Erinnerungsvermögen verfügen und uns stets an das erinnern, was wir getan haben. Die Schurken aus Verzweiflung, die aus der Literatur bekannt sind, haben diese Erinnerung und deswegen auch einen »gewissen Adel«,18 – etwa Raskolnikow in Dostojewskis Schuld und Sühne oder die Übeltäter aus den Dramen von Shakespeare. Das Problem besteht aber darin, dass das radikal Böse gerade von denen getan wird, die sich nicht erinnern, »weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. Das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet für menschliche Wesen, sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so dass man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird. Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.«19
Arendt greift hier ihre Formulierungen aus dem oben zitierten Brief an Scholem auf. Im Anschluss daran kommt sie auf die Theorie der Person zu sprechen und bringt sie mit der sokratischen Bestimmung des Denkens zusammen. Über das Denken konstituiere ich mich als Person, und ich bleibe Zwei-in-Einem »in dem Maße, in dem ich immer wieder und immer neu zu einer solchen Konstituierung fähig bin«.20 Das hat nach Arendt nichts mit Begabung und Intelligenz zu tun,
17 Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München u. Zürich: Piper 2006, S. 77. 18 Ebd., S. 76. 19 Ebd., S. 77. 20 Ebd.
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sondern ist das »einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit«.21 Auf diesem Hintergrund wird sofort klar, dass es alles andere als eine triviale Aussage ist, wenn Arendt über Eichmann sagt, dass er unfähig war zu denken.22 Der erste, der anders dachte als Sokrates und nach anderen Grundlagen der Moral suchte, war Arendt zufolge Platon. Nach ihm liegt das moralische Fundament nicht im Denken, sondern in Mythen, von denen er behauptet, dass sie das Ergebnis einer schlüssigen Beweisführung sind, die zu einer ein für alle Mal feststehenden Unterscheidung von wahr und falsch, Recht und Unrecht führt, und es erlaubt, dieses Ergebnis in die Form von Gesetzen zu kleiden, ihre Einhaltung zu verlangen und bei Nichtbefolgung mit Strafe zu drohen. Bei Platon ist die Basis der Moral nicht mehr die Fähigkeit zu denken, sondern das Gesetz, das befiehlt und diktiert, was zu tun ist. Der Gorgias-Dialog endet damit, dass Platon einen Mythos erzählt, von dem er unterstellt, dass er ›die Wahrheit‹ ist.23 Es handelt sich um eine Geschichte von den körperlosen Seelen nach dem Tod, die vor einem ebenso körperlosen Richter erscheinen und von ihm, wenn sie Verbrechen begangen haben, in den Tartarus geschickt werden, und wenn sie rein geblieben sind, auf die Insel der Seligen kommen.24 Arendt interpretiert das so: Es gelingt Sokrates in diesem Dialog nicht, seine Gesprächspartner von seiner Position zu überzeugen und sie zum Denken zu bringen. Platon zieht daraus die Konsequenz, dass die Moral auf einem anderen Fundament errichtet werden muss. Die Philosophen sind in der glücklichen und privilegierten Lage, dieses Fundament zu kennen und unbezweifelbare Gesetze aufzustellen, die den Menschen in Befehlsform sagen, was sie zu tun haben. Verstoßen sie gegen das Befohlene, werden sie bestraft, befolgen sie das Befohlene, werden sie belohnt. Platon vertritt damit eine Art vorweggenommenes Christentum, mit Hölle und Paradies und einem göttlichen Richter, der am Ende aller Tage die Dinge geraderückt und für Gerechtigkeit sorgt. Mehr als zweitausend Jahre später formuliert Kant eine Moralphilosophie, die expressis verbis den Anspruch erhebt, rein aus den Quellen der Vernunft die Existenz des moralischen Gesetzes zu belegen. Aus dem »Faktum der Vernunft«25 ergibt sich nach Kant, dass es ein Sittengesetz gibt und was es beinhaltet: Wir sollen so handeln, dass die Maxime unseres Handelns 21 22 23 24
Ebd., S. 78. Vgl. H. Arendt: Eichmann, S. 78. H. Arendt: Über das Böse, S. 60. Vgl. Platon: Gorgias, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1957, Kap. 79-82. 25 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, Darmstadt: WBG 1975, S. 141.
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jederzeit ein allgemeines Gesetz werden kann. Mithin tritt auch bei Kant die Moral in Gestalt eines Befehls auf, der Befolgung verlangt. Allerdings sind die Menschen als vernünftige Wesen selber diejenigen, die dieses Gesetz aufstellen, und sie müssen diesen Imperativ nicht nur befolgen, sondern wollen es auch. Andernfalls würden sie ihrer Bestimmung, vernünftige Wesen zu sein, nicht nachkommen und ihre Selbstachtung verlieren. Kein vernünftiges Wesen kann das wollen. Dass die Menschen de facto immer wieder diesem Imperativ nicht folgen und ihrer Pflicht, als Gesetzgeber tätig zu sein, nicht genügen, hat damit zu tun, dass sie zugleich sinnliche Wesen sind, die sich von den Neigungen ihrer Triebnatur leiten lassen. Bei Lichte und durch das Prisma der Vernunft gesehen weiß aber jeder, dass das nicht gut ist, sondern böse. Diese Überzeugung Kants ist für Arendt jedoch so hinfällig geworden wie für Platon die Moral des Sokrates. Sie hat sich genauso wie die Zehn Gebote als kraftlos herausgestellt, sie ist widerlegt durch das pure Faktum des vollkommenen moralischen Zusammenbruchs der Gesellschaft in der totalen Herrschaft. Wir kommen also mit den Überlegungen, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft anstellt, nicht wirklich weiter. Aber wir kommen mit anderen Überlegungen Kants weiter und zwar irritierenderweise, meint Arendt, mit Kants Überlegungen zum Thema des Schönen und des Hässlichen, also mit dem Kant der Kritik der Urteilskraft. Kant stellt für das 18. Jahrhundert fest, dass alle meinen, die Frage, was schön ist, ist nicht vernunft- und einigungsfähig. Im Ästhetischen wird es immer Streit geben, oder, was noch schlimmer ist: nicht mal Streit, weil es ins Belieben des Einzelnen gestellt und seiner Willkür überlassen wird. Damit will sich Kant nicht abfinden. Arendt meint, dass wir uns theoretisch im Blick auf die Moral heute in der gleichen Situation befinden, in der sich Kant im Blick auf die Geschmacksurteile befand. Kant war empört darüber, dass die Frage nach der Schönheit willkürlich entschieden werden sollte. Arendt ist empört darüber, dass die Frage nach dem Guten und dem Bösen willkürlich entschieden werden soll. Nach Kant ist zentral, dass bei Geschmacksurteilen die Menschen immer im Plural vorkommen. Wenn es um die Pluralität der Menschen geht, ist entscheidend, dass sie einen »Gemeinsinn«26 haben, über den sie die Beziehung auf die Gemeinschaft mit Anderen herstellen. Für den Gemeinsinn benötigen sie die Fähigkeit der »Einbildungskraft«,27 d.i. die Fähigkeit, Abwesendes anwesend zu machen, und sie brauchen die »erweiterte Denkungsart«,28 die es möglich macht, »an
26 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Darmstadt: WBG 1975, S. 321. 27 Ebd., S. 324. 28 Ebd., S. 391.
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der Stelle jedes andern«29 zu denken, also in das eigene Denken die Perspektiven der Anderen einzubeziehen. Wenn jemand sagt, das ist schön, dann will er nach Kant nicht nur sagen, das gefällt mir, sondern er möchte von Anderen auch »Beistimmung«30 zu seinem Urteil haben. Und deswegen ist er gut beraten, beim Urteilen die Anderen stets in Betracht zu ziehen und zu hoffen, »dass seine Urteile eine gewisse allgemeine, wenn auch vielleicht nicht universale Gültigkeit besitzen mögen«.31 Glücklicherweise gibt es bei den Grenzziehungen, die wir beim ästhetischen bzw. moralischen Urteilen vornehmen, »Beispiele«,32 an die wir uns halten und auf die wir uns verständigen können. Im Beispiel ist das Allgemeine in einem besonderen Fall verkörpert und anschaubar. Beispiele nennt Kant den »Gängelwagen der Urteilskraft«33 und spricht ihnen eine »exemplarische Gültigkeit«34 zu, – sie sind eine Art »Wegweiser«35 des moralischen Verhaltens. Sokrates etwa ist in diesem Sinne beispielhaft für das Moralische, weil er seine Lehre durch sein eigenes Leben beglaubigte. Es ist aber an uns zu entscheiden, welche Fälle wir zu Beispielen erklären und in den »Gängelwagen« aufnehmen wollen. Diese Entscheidungen sind im Grunde Urteile darüber, mit wem wir zusammen sein wollen. Allgemein gesagt: »Wir urteilen und unterscheiden Recht von Unrecht, indem wir in unserem Kopf eine zeitlich und räumlich abwesende Person oder einen Fall gegenwärtig haben, die zu Beispielen geworden sind. Es gibt viele derartige Beispiele. Sie können weit zurück in der Vergangenheit liegen oder zum Lebenden gehören. Sie müssen nicht geschichtlich wirklich sein.«36
Hier schließt sich in gewisser Weise der Kreis zwischen Sokrates und Kant. Sokrates setzt nicht auf Gehorsam, sondern auf Denken. Denken ist der lebendige Kontakt zwischen mir und mir selbst, der innere Dialog, die Fähigkeit, mit mir selbst zu reden. Der innere Dialog findet seine Fortsetzung, wenn wir nach außen mit anderen in Kontakt treten und uns mit ihnen verständigen. Das ist dann der Freund, der allos autos, das andere Selbst, wie Aristoteles sagt, mit dem wir in Verbindung treten. In dieser Sicht ist dann auch bei Kant die Moral keine Sache 29 30 31 32 33
Ebd., S. 390. Ebd., S. 320. H. Arendt: Über das Böse, S. 141. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 458. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, Darmstadt: WBG 1975, S. 185. 34 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 323. 35 H. Arendt: Über das Böse, S. 147. 36 Ebd., S. 148.
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der Wahrheit, der Kenntnis und der Erkenntnis, keine Sache der Gesetzesbücher, keine Sache der Zehn Gebote oder des kategorischen Imperativs. In der Moral geht es vielmehr um das »urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll«.37 So geht bei Arendt die moralische Frage nach dem Bösen über in die allgemeinere Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Urteilens und des Handelns, – und in die Frage nach der Freundschaft.
37 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München u. Zürich: Piper 1994, S. 300.
Vom ›Kampf des deutschen Menschen‹ zur ›Deutschen Daseinsverfehlung‹ Ernst Niekischs Geschichtsnarrative S ASCHA P ENSHORN
E INLEITUNG Ernst Niekisch gehört zu den schillerndsten Figuren der sogenannten ›Konservativen Revolution‹. Im Vergleich zu Protagonisten wie Carl Schmitt und Ernst Jünger stellt er zwar eine eher marginale Figur dar, das Oszillieren zwischen den politischen Extremen, wie es das Milieu der ›Konservativen Revolution‹ auszeichnet, verkörpert er jedoch wie kaum ein anderer. Seine politische Karriere begann er in der teilweise anarchistisch inspirierten Münchner Räterepublik, in der Weimarer Republik brachte er Sozialdemokraten und radikalnationalistische Freikorpskämpfer unter dem Banner des ›Nationalbolschewismus‹ zusammen, er verachtete die Demokratie und die westliche Zivilisation und trat für ein Bündnis Deutschlands mit der Sowjetunion sein. Hitler begriff er als Marionette des Westens, in seiner Diktion ›Roms‹. Die Nationalsozialisten waren ihm zunächst nicht national genug. Nach der ›Machtergreifung‹ machte Niekisch im Gegensatz zu den meisten Akteuren des radikalnationalistischen Milieus der Weimarer Republik keine Karriere im NS-Staat, sondern agitierte weiter gegen Hitler und war sieben Jahre, bis zu seiner Befreiung durch die Rote Armee, inhaftiert. Er trat nach Kriegsende der KPD (bald dann SED) bei und war bis in die Mitte der 1950er Jahre prominenter politischer Publizist, Abgeordneter der DDR-Volkskammer und Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Die staatliche Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 verurteilte er öffentlich und siedelte
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wenig später in die Bundesrepublik über, wo er bis zu seinem Tod 1965 weiter, aber weit weniger prominent, als politischer Publizist aktiv war. Niekisch bleibt bis heute trotz – oder vielmehr wegen – seines exzentrischen politischen Denkens ein durchaus einflussreicher politischer Schriftsteller. Zwar darf Sebastian Haffners Behauptung von 1980, dass »der wahre Theoretiker der Weltrevolution, die heute im Gange ist, [...] nicht Marx und nicht einmal Lenin«,1 sondern Niekisch sei, als etwas hochgegriffen gelten. Im Milieu der sogenannten ›Neuen Rechten‹, gerade in deren ›Querfront‹-Flügel, also bei jenen, die sich in ihrer Agitation für die ›nationale Revolution‹ auch Versatzstücke linker Politik bedienen, genießt der Nationalbolschewist Niekisch jedoch kanonische Geltung. Auch für den russischen Nationalbolschewisten und ›Eurasier‹ Alexander Dugin, medial gern als ›Putins Rasputin‹ apostrophiert, bildet Niekisch einen wichtigen Referenzpunkt. In dieser politisch interessierten Rezeption bleibt, wie auch in der überschaubaren Forschung zu Niekisch, eine Episode ausgeblendet, die schlecht in das Bild des revolutionären Ultranationalisten passt. In der frühen Nachkriegszeit war dieser nämlich der kompromissloseste Exponent der sogenannten Misere-Sicht, der in der SBZ und der frühen DDR vorherrschenden marxistischen Variante eines negativen deutschen Sonderwegs. Während andere Misere-Autoren noch eine ›progressive‹ von einer ›reaktionären Linie‹ der deutschen Geschichte unterschieden, verwarf Niekisch die deutsche Geschichte als Ganzes und sprach von der ›deutschen Daseinsverfehlung‹. Auf den folgenden Seiten möchte ich beide Geschichtsnarrative Niekischs – das völkisch-ultranationalistische zur Zeit der Weimarer Republik und das nationalpessimistische der SBZ-Jahre – einander gegenüberstellen und ihren inneren Zusammenhang herausarbeiten. Dabei wird sich zeigen, dass diese sich gar nicht so grundsätzlich voneinander unterscheiden, wie es zunächst den Anschein hat. Niekisch operiert vielmehr mit einem Vorzeichenwechsel: Nicht seine Auffassung vom Verlauf der deutschen Geschichte ändert sich, sondern dessen Bewertung. Konzepte wie die ›Idee von Potsdam‹, die er in der Weimarer Zeit emphatisch propagierte, wertet er nach dem Krieg als Grundübel der deutschen Geschichte. Diese Selbstrevision macht er jedoch nicht explizit, sondern behauptet vielmehr, nie etwas anderes gemeint zu haben.
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Haffner, Sebastian: »Ernst Niekisch«, in: ders./Wolfgang Venohr, Preußische Profile, Berlin: Ullstein 1998, S. 287-298, hier S. 297.
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E RNST N IEKISCHS W EG ZUM N ATIONALBOLSCHEWISMUS Um den Zusammenhang der beiden Geschichtsnarrative darzustellen, ist es zunächst nötig, einen kurzen Abriss des Lebens und vor allem des Denkens Ernst Niekischs bis 1946 zu präsentieren.2 Hier soll vor allem deutlich werden, dass sein politisches und historisches Denken als Oberhaupt des Widerstandskreises seinen Auffassungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit geradezu diametral entgegenstand. Ernst Niekisch wurde 1889 als Sohn eines Handwerkers im schlesischen Trebnitz geboren. In seinem zweiten Lebensjahr siedelte seine Familie in das bayerische Nördlingen über. Aufgrund ihrer schlesischen – also preußischen Herkunft – fiel es der Familie schwer, Fuß zu fassen, Niekisch berichtet in seinen Memoiren von Diskriminierungserfahrungen. Er empfand sich daher – zumindest in der Rückschau – als Preuße in Bayern, eine Konstellation, die immensen Einfluss auf seine politische Gedankenwelt hatte und als Wurzel seiner metaphysisch übersteigerten Preußenbegeisterung gelten darf – bis mindestens in die 1930er Jahre hinein bildete die ›Idee von Potsdam‹, die er später so geißeln sollte, das Fundament seines politischen Denkens. Wegen eines Augenleidens nahm Niekisch nicht am Ersten Weltkrieg teil. 1917 tritt er der SPD bei. Als Sozialdemokrat war er in der Bayerischen Räterepublik aktiv, wurde nach der Ermordung Kurt Eislers sogar derer Zentralratsvorsitzender. Sein späterer Hang zur Kompromisslosigkeit zeigte sich hier noch nicht, er vertrat eher gemäßigte Positionen. Seine Rolle in der Münchener Räterepublik brachte ihm eine zweijährige Haftstrafe ein. Zwar stellt er in seinen Memoiren seinen Beitritt zur SPD als Ergebnis seiner Begeisterung für die Schriften von Marx dar, seine Lesart des Marxismus war aber schon zu diesem Zeitpunkt eigenwillig. Bereits in seinen frühen Aufsätzen der Jahre 1918 und 1919 steht der ›Staat an sich‹ im Mittelpunkt. Diese Apotheose des Staates ergibt sich aus Niekischs Rezeption des deutschen Idealismus, insbesondere Johann Gottlieb Fichtes. Auch Leopold von Ranke, Oskar Spengler und der völkische Autor Ernst Graf zu Reventlov beeinflussten sein Staatsdenken. Dezidiert nationalistisch beginnt Niekisch im Zuge der Ruhrbesetzung (1923) und des Dawes-Plans (1924) zu argumentieren. In rechtssozialdemokratischen Zeitschriften ehemaliger ›Kriegssozialisten‹ wie Alexander Parvus (Die Glocke) und August Winnig (Firn) agitierte er gegen die ›Erfüllungspolitik‹ der SPD gegenüber der Versailler Friedensordnung. 2
Der biographische Abriss stützt sich hauptsächlich auf: Rätsch-Langejürgen, Birgit: Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch, Bonn: Bouvier 1997; Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Erster Band. Gewagtes Leben. 1889-1945, Köln: Verlag Wissenschaft u. Politik 1974.
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In der Schriftenreihe des Firn forderte Niekisch die SPD auf, die marxistische Lehre vom Klassenstaat aufzugeben und sich wieder an Ferdinand Lassalles Konzept des ›Volksstaats‹ zu orientieren. Um den Geist des Widerstands des deutschen Volkes gegen den westlichen Imperialismus zu verkörpern, müsse sie sich zum Organ der Staatsräson machen, statt den Staat durch Klassenkampf zu schwächen. Mit den skizzierten Positionen befand sich Niekisch zwar am rechten Rand der Sozialdemokratie und in der innerparteilichen Opposition, aber durchaus noch im sozialdemokratischen Meinungsspektrum. Zwar warf ihm Eduard Bernstein die Übernahme deutschnationaler Argumentationsmuster vor und insinuierte gar, Niekisch habe Geldgeber in der Großindustrie, zum endgültigen Bruch mit der SPD kommt es aber erst 1926. Nach einer offiziellen Distanzierung der SPD von ihm tritt Niekisch aus der Partei aus und der sächsischen Abspaltung Alte Sozialdemokratische Partei (ASP) bei. Zunächst eine Partei der konservativen Sozialdemokratie, entwickelte sie sich 1927 und 1928 unter seinem Einfluss zu einer ›nationalbolschewistischen‹ Partei, die einen völkisch grundierten Radikalnationalismus vertrat. Unter Niekischs Leitung – der keine hohen Parteiämter innehatte, aber als eine Art spiritus rector fungierte – trat die sächsische ASP zu den Reichstagswahlen an. Dieser Versuch, reichsweit Geltung zu erlangen, endete im Debakel. Bei der Wahl erhielt die ASP ganze 65.000 Stimmen. Der gemäßigte sächsische Flügel der Partei machte Niekischs neuen Kurs für das desaströse Ergebnis verantwortlich, von dem dieser aber nicht abrücken wollte. Er kam seinem drohenden Parteiausschluss zuvor und trat im November 1928 aus der ASP aus. Die Partei trennte sich daraufhin von ihrem nationalistischen Flügel, blieb aber bedeutungslos und löste sich schließlich 1932 auf. Niekischs kurzes Wirken in der ASP darf als Inkubationszeit seiner ›Widerstandsideologie‹ gelten. Während dieser Zeit entwickelte er sich vom zwar extremen, aber letztlich noch in der Tradition Ferdinand Lassalles stehenden Etatisten zum ›Nationalbolschewisten‹.
N IEKISCHS RADIKALNATIONALISTISCHES G ESCHICHTSNARRATIV Niekisch konzentrierte sich nach dem Ende seines Engagements für die ASP ganz auf seine Zeitschrift Widerstand. Diese hatte er schon 1926, parallel zu seiner publizistischen und politischen Tätigkeit in der ASP, mit einigen Gleichgesinnten gegründet. Der Widerstand verstand sich als ein elitäres Avantgardeprojekt, das die
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nationale Revolution vorantreiben wollte. Zusammen mit einer Handvoll Gleichgesinnter – zu den Autoren gehörte auch Ernst Jünger – entwickelte Niekisch hier seine ›Ideologie des Widerstands‹, die er selbst als Nationalbolschewismus bezeichnete. Ausgehend von den konkreten politischen Forderungen nach Aufhebung des Versailler Vertrags und des Dawes-Plans sowie einer außenpolitischen Orientierung Deutschlands an der Sowjetunion fußt die ›Ideologie des Widerstands‹ auf der grundsätzlichen Ablehnung alles Westlichen, Urbanen und Bürgerlichen. Positiver Bezugspunkt ist ein metaphysisch überhöhter und völkischbiologistisch aufgeladener Begriff von Preußen, das für Niekisch vor allem Zucht und Entsagung verkörperte. ›Bolschewistisch‹ ist diese Ideologie wegen ihrer Affinität zur Sowjetunion sowie wegen ihrer Fokussierung auf den ›Arbeiter‹. Im Zentrum des Denkens Niekischs steht die unbedingte Gegnerschaft zu Liberalismus und Demokratie. Ausgangspunkt seiner politischen Agitation ist der Versailler Vertrag, den er geradezu obsessiv ablehnte. Die Versailler Friedensordnung bedeutete für ihn die Versklavung der Deutschen unter den Interessen Westeuropas. Bereits im programmatischen ersten Artikel der ersten Ausgabe des Widerstands, »Revolutionäre Politik« steht diese Agenda im Zentrum: »Diese Verträge zu zerreißen, ihre Verpflichtungen zu widerrufen, ihre Bindungen zu zerstören: das ist die einzige deutsche Politik, die den deutschen Arbeiter vor dem Schicksal hoffnungsloser Verknechtung bewahrt.«3 Als Ausweg propagierte er eine Ostbindung, Deutschland solle sich an die Sowjetunion binden, um sich aus der Abhängigkeit von den westlichen Siegermächten zu lösen. Aus der Opposition zur Versailler Friedensordnung wird eine radikale Gegnerschaft zum Westen überhaupt. Dieser Westen steht bei Niekisch nicht nur für die ›Ideen von 1789‹, also Liberalismus und Demokratie, sondern wird mit einem abzulehnenden Zivilisationsprozess verbunden, der weit in die Antike zurückreicht. Das Geschichtsnarrativ, mit dem Niekisch diese Gegnerschaft untermauerte, gründet eher auf völkischem Germanenmythos und einer überspannten Variante des preußischen Nationalprotestantismus als auf dem historischen Materialismus. Als Symbol für die politische Ordnung des Westens galt ihm Rom, er zog eine Linie von der antiken römischen Zivilisation über den Katholizismus bis hin zum Kapitalismus, den er als Endpunkt der römischen Entwicklung sah. Hierfür entwickelte er das Bild einer Achse Rom-Washington, der er eine Achse Potsdam-Moskau gegenüberstellte. Niekisch fasste die deutsche Geschichte als ein großes Nein gegen Rom auf. Der Beginn der Geschichte des deutschen Kampfes gegen das Prinzip Rom lag für ihn in der Varusschlacht, die
3
Alle Zitate aus der Zeitschrift entnommen aus der Auswahl: Niekisch, Ernst: Widerstand, Krefeld: Sinus 1982, hier S. 18.
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er als Akt erfolgreichen germanischen Widerstands gegen das römische Zivilisationsprojekt interpretierte. Der Vollender der römischen Unterjochung Deutschlands war für Niekisch Karl der Große. Karl ist in diesem Narrativ nicht nur der erklärte Nachfolger der römischen Kaiser und verantwortlich für die Zwangschristianisierung der Deutschen – bzw. deren ›geistig-seelische Überfremdung durch römisches Gedankengut‹ – sondern, da sein Standort ja ›links des Rheins‹ gewesen ist, auch die erste Inkarnation des französischen Erbfeinds: »Am Eingang der Knechtung durch Frankreich steht die Ehrfurcht vor Aachen, der Geist, der aus der Gruft von Aachen aufsteigt, erscheint immer wieder in den Leibern gewalttätiger französischer Staatsmänner.«4 Den Antagonismus zwischen einem germanischen und einem romanischen Prinzip sah Niekisch auch im hochmittelalterlichen Investiturstreit am Werk. Diesen deutet er als eine Art Proto-Reformation, der Papst habe im deutschen Kaiser und im deutschen Christentum überhaupt ein »verborgenes Protestantentum [...] [ge]spürt.«5 Die tatsächliche Reformation wurde von ihm ganz in diesem Sinne als Akt der Selbstbehauptung deutschen ›Andersseins‹ gedeutet, als ›großes Nein‹ gegen die romanische Zivilisation, das aber keine machtpolitische Entsprechung fand. Die Gegenreformation gilt ihm als der »planmäßige Aufmarsch der Feinde des Deutschtums.« Deren Grundgedanke sei gewesen, »dass Deutsch-sein bedeute: von Gott abgefallen und ein Abtrünniger zu sein.«6 Eine adäquate Staatenbildung gelang dem ›deutschen Lebenswillen‹ nach Niekisch schließlich in Preußen. Dieses bestand in einer Welt voller Feinde, in Napoleon erwuchs ihm ein säkularisierter Vertreter des ›römischen Universalismus‹ als Gegner. Nur in Preußen habe sich das Volk gegen Napoleon gewandt (der spanische Guerillakampf gegen die napoleonische Herrschaft hätte freilich auch schlecht in das antiromanische Narrativ gepasst), nur hier sei der ›Sturm losgebrochen‹. Höchste Blüte erreichte die staatliche Verkörperung des deutschen Selbstbehauptungswillens durch die Reichseinigung Bismarcks. Dieser habe einen ›unvermischt deutschen Staat‹ geschaffen und sich darauf des noch schärferen Vernichtungswillen ›Roms‹ (gemeint ist der französische Revanchismus) erwehren müssen. Als Vernichtungskampf gegen den ›deutschen Menschen‹ deutet Niekisch auch den Ersten Weltkrieg. Dieser sei erfolgreich gewesen, die Versailler Friedensordnung und die daraus hervorgehende Weimarer Republik eine Agentur der ›Entdeutschung‹: 4 5 6
Ebd., S. 85f. Ebd., S. 23f. Ebd., S. 25.
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»Der Kriegsschuldartikel [des Versailler Vertrags, SP] bestimmte: man ist schuldig, wenn man ein Deutscher ist. Das Diktat von Versailles verfügte: man wird bestraft, weil man ein Deutscher ist. Der Staat von Weimar ist der Staat jener Deutschen, die sich die Entdeutschung mit Ernst und Fleiß angelegen sein lassen; seine Existenz ist geradezu auf seinem Einverständnis mit dem Schuldparagraphen errichtet.«7
Niekischs Narrativ der deutschen Geschichte bietet die historische Grundierung seiner Frontstellung gegen die Weimarer Republik. Fast zwei Jahrtausende ›deutscher‹ Geschichte, beginnend bei Hermann dem Cherusker, werden hier als manichäischer Kampf gegen ›Rom‹ gedeutet. Die politische Gegenwart Deutschlands, die Weimarer Republik, erscheint als Kollaborationsregime. Eine Besonderheit in Niekischs Geschichtsnarrativ stellt die metaphysische Überhöhung Preußens dar: Germanische Antike, die Kaiser des Mittelalters und die Reformationen erscheinen nur als unbewusste Vorstufen des ›Geistes von Potsdam‹. Was hatte es mit diesem Geist auf sich? In der Definition des Preußischen erweist sich Niekisch als Verfechter des Totalitarismus, lange bevor dieser Begriff in dann freilich kritischer Absicht geläufig wurde:8 »Die preußische Herrschaftsidee enthält die Ordnungsregel, die der Raum östlich des Rheins und sein besonderes Menschentum erheischt. Sie ist Prinzip reiner Politik in dem Sinne, dass kein Gesichtspunkt neben dem staatlichen Gesichtspunkt Eigenbedeutung hat. Die Verwirklichung der Idee von Potsdam ist der Natur der Sache nach totaler Staat, innerhalb dessen Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur den Platz einnehmen, den ihnen der Staat unter Berücksichtigung seiner Lebensbedürfnisse zuweisen kann. Das Gesamtdasein ist im Grunde in allen seinen Bereichen auf die Notwendigkeit des Krieges ausgerichtet, von dem dieser Staat, weil er der romanischen Ausdehnung Schranken setzt, ständig bedroht ist.«9
Trotz seiner Begeisterung für den totalen Staat wurde Niekisch zum erbitterten Gegner der Nationalsozialisten. Er bekämpfte sie in seinen Publikationen zunächst offen, später klandestin. 1937 wurde er in Untersuchungshaft genommen, 1939 wegen Hochverrats zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
7 8
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Ebd., S. 29 (Herv. i.O.). Die Begriffe ›Totalitarismus‹ bzw. ›totaler Staat‹ wurden in den 1920er Jahren allerdings bereits von den – von Niekisch bewunderten – italienischen Faschisten zur Eigendefinition verwendet. Vgl. Rabinbach, Anson: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen: Wallstein 2009, S.7-27. E. Niekisch: Widerstand, S. 90 (Herv. i.O.).
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N IEKISCH ANTINATIONAL : D IE DEUTSCHE D ASEINSVERFEHLUNG Nach seiner Befreiung aus der Berliner Gefängnishaft Ende April 1945 versuchte Niekisch sofort im politischen Leben Fuß zu fassen, trat der KPD bei und nahm Kontakt zu führenden Funktionären wie Otto Grotewohl und Johannes R. Becher auf, um seine publizistische Mithilfe bei der kulturellen und politischen Neuordnung anzubieten. Seine erste Veröffentlichung in diesem Sinne ist die Broschüre Deutsche Daseinsverfehlung, die einen der Schlüsseltexte der Misere-Sicht in der SBZ darstellt, jenem Genre, das auf älteren Vorstellungen der marxistischen Tradition fußend, die Katastrophe des Nationalsozialismus aus der jahrhundertealten historischen Fehlentwicklung Deutschlands zu erklären suchte. Niekisch beginnt seinen Abriss der deutschen Geschichte mit der Reformationszeit. Luther figuriert darin aber weniger als heroischer Streiter gegen Rom denn als Verräter der aufständischen Bauern. Er übernimmt hier das tradierte, auf Friedrich Engels zurückgehende marxistische Narrativ vom Bauernkrieg als Urkatastrophe der deutschen Geschichte. Preußen gilt ihm als Gegengründung zum entstehenden englischen Liberalismus mit seinen Ideen von Freiheit und Menschenrechten. Ihnen sei von Preußen die ›Idee von Potsdam‹ entgegengesetzt worden. Diese Idee von Potsdam sei aber eigentlich keine Idee gewesen, im Gegenteil habe sie die Kraft von Ideen verneint und im offenen Bekenntnis zu nackter Macht und Gewalt gestanden. Die ›Idee von Potsdam‹ sei mithin schlicht die Absage an Ideale in der politischen Welt. Entsprechend verkommen sei dann die politische Kultur Preußens, in der fast nur Generälen, nach Niekisch also »charakterlich durchaus tief stehenden Menschen« Denkmäler erbaut worden seien.10 Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit ein Grundmuster in Niekischs Schriften der Nachkriegszeit. Er denunziert seine eigenen Ideen aus der Zeit der Weimarer Republik als Vorläufer des Nationalsozialismus, verleugnet aber seine Urheberschaft. Wo er also zuvor postulierte, dass die ›Idee von Potsdam‹ die Verkörperung des reinen ›Willens zur Macht‹ sei und sich dieser ›Idee‹ verschrieb, bleibt er nun bei dieser Interpretation preußischer Staatsphilosophie, bewertet sie aber diametral entgegengesetzt. Auch seine Deutung der Französischen Revolution und der vormals verhassten ›Ideen von 1789‹ unterzieht Niekisch in der Daseinsverfehlung einer Radikalrevision. Mit der Französischen Revolution sei der französische Demokratismus in die politische Arena getreten. Der Kampf gegen diesen Demokratismus in den ›Be-
10 Niekisch, Ernst: Deutsche Daseinsverfehlung, Berlin: Aufbau 1946, S. 20f.
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freiungskriegen‹ – von Niekisch nun als ›sogenannte Befreiungskriege‹ apostrophiert – markiert den nächsten Verrat des deutschen Bürgertums, das sich abermals auf die Seite des ständischen Obrigkeitsstaats geschlagen und die Sache der ›legitimistischen Donquichotterie‹ – also des monarchischen Prinzips – verfochten habe.11 Die kulturellen Leistungen dieser Zeit, die Weimarer Klassik und den deutschen Idealismus, interpretiert Niekisch als ›Ersatzimperialismus‹. Er bemüht hier den Topos des Faustischen, also des deutschen Menschen, der seine materielle und politische Rückständigkeit mit geistigen Höhenflügen kompensiert. Dabei seien selbst die Gipfel des philosophischen deutschen Idealismus durch preußischen Ungeist kontaminiert: Hegel habe dem Weltgeist die Pickelhaube aufgesetzt, Kant mit seinem kategorischen Imperativ den preußischen Unteroffizier ins eigene Gewissen installiert. Niekisch geht hier geradezu genussvoll mit seiner eigenen (unausgesprochenen) Vergangenheit ins Gericht, wenn er unter Verwendung antipreußischer Klischees die Heroen der preußischen Geistesgeschichte demontiert. Bei der Darstellung des weiteren Geschichtsverlaufs folgt Niekisch dem etablierten marxistischen Skript, wie es sich etwa in den Werken des sozialistischen Historikers Franz Mehring fand. In dieses Narrativ lässt er in bewährter Manier eigene überkommene Deutungen einfließen, übernimmt aber Wertungen, die in eklatantem Widerspruch zu seinem Vorkriegsdenken stehen. So betont er die antifranzösische Stoßrichtung des deutschen Nationalismus, die Reichsgründung Bismarcks sei eine Beleidigung aller Franzosen, weil sie mit »Fuß auf de[m] Nacken des niedergeworfenen Frankreichs« erfolgt sei.12 In den 1920er Jahren hat Niekisch Bismarck eben dafür bewundert, 1946 empört er sich darüber. Den deutschen Imperialismus und die alldeutsche Bewegung deutet Niekisch als Fortsetzung der ›Idee von Potsdam‹. Im Gegensatz zum englischen und französischen (!) Imperialismus, die eine segensreiche zivilisatorische Wirkung entfaltet hätten, beruhe der deutsche Imperialismus auf dem reinen Gewaltprinzip. Philosophischen Ausdruck habe die imperialistische Ideologie des Pangermanismus durch Friedrich Nietzsche gefunden. Dessen ›Übermensch‹ sei Ausdruck des alldeutschen Herrenmenschen, in Wirklichkeit freilich die ›blonde Bestie‹.13 Den Ersten Weltkrieg und den Aufstieg des Nationalsozialismus behandelt Niekisch ganz im Sinne des Geschichtsbilds der KPD, das in allen wesentlichen
11 Ebd., S. 34. 12 Ebd., S. 54. 13 Ebd., S. 67-69.
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Punkten das Gegenteil seiner vorherigen Positionen beinhaltet. So sei der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ganz allein Deutschland zuzuschreiben, die Debatte um die Kriegsschuld »dummdreist«.14 Der Nationalsozialismus, die radikalisierte und nunmehr völlig inhumane Fortführung des Pangermanismus, habe zwei Komponenten gehabt, die seinem alldeutschen Vorgänger fehlten: den Antisemitismus und den Antibolschewismus. Den Antisemitismus begreift Niekisch als eine »Schule der Bestialität«, der durch Entmenschlichung seiner Opfer, die er als »Raubopfer« begreift, die bedenkenlose Tötung auch von Frauen und Kindern erlaubt.15 Die volle völkermörderische Potenz entfaltete sich aber für Niekisch erst im Antibolschewismus, erst in dessen Zeichen sei Ausrottung ins Auge gefasst und verwirklicht worden. Neben dem Annexionismus, also der Lebensraumideologie, hatte der Antibolschewismus demnach auch ein klassenpolitisches Motiv, die bloße Existenz der Sowjetunion stellte für das deutsche Finanzkapital eine unerträgliche Provokation dar. Die Verurteilung des Antibolschewismus bildet einen der wenigen Punkte der Daseinsverfehlung, mit denen Niekisch einer alten Position treu bleiben und zugleich im Sinne der neuen Machthaber schreiben konnte. Auf eine Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft verzichtet Niekisch, nur sehr kursorisch streift er den innenpolitischen Terror und den Kriegsverlauf. Noch einmal unterstreicht er, dass die NS-Herrschaft die logische Endstufe des Ganges der deutschen Geschichte darstellt.16 Ausdrücklich vertritt er eine deutsche Kollektivschuld. Es sei unbegreiflich, mit welcher Geduld die Deutschen Hitler bis zum bitteren Ende folgten, und es sei entehrend gewesen, in diesem Krieg ein guter und tapferer Soldat gewesen zu sein. Die Broschüre verwirft die deutsche Geschichte und die Idee der deutschen Nation völlig. Sie endet mit dem Satz: »Der Ertrag der ganzen deutschen Geschichte erweist sich als ein schreckliches Nichts, wo aber das Nichts das letzte Wort ist, da ist das ganze Dasein, das dahin führte, verfehlt.«17 Niekischs Darstellung unterscheidet sich von vergleichbaren Werken durch eine hermeneutische Kritik der preußisch-deutschen Ideologie. Er wiederholt seine alten Ansichten, etwa die Interpretation des Preußentums als großes Nein gegen das universalistische Rom, stellt diese aber nun als zentrales Element der deutschen Misere dar – und erwähnt mit keiner Silbe, dass er selbst dieses große Nein propagiert hatte.
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Ebd., S. 73. Ebd., S. 79. Ebd., S. 83. Ebd., S. 86.
E RNST N IEKISCHS G ESCHICHTSNARRATIVE | 269
F AZIT In Summe stellt die Deutsche Daseinsverfehlung die radikalste Absage an die deutsche Nation dar, die in der Nachkriegszeit erschienen ist. Niekisch bezeichnet den Ertrag der deutschen Geschichte als schreckliches Nichts, behauptet vehement eine deutsche Kollektivschuld an den NS-Verbrechen und sieht keine Zukunft für einen neuen souveränen deutschen Staat. Wie lässt sich dieser Aufsatz nun einordnen? Der Verdacht liegt nahe, dass es sich hier um blanken Wendehals-Opportunismus handelt. Das Maß an Selbstverleugnung scheint verblüffend, Niekisch breitet häufig seine alten Positionen aus, um diese der deutschen Intelligenz im Allgemeinen anzukreiden und als protofaschistisch zu verdammen. Wie bereits erwähnt, präsentiert er sich aber nicht als ein vom Saulus zum Paulus Geläuterter. Auf seine alten Schriften geht er nicht ein, nur in einer Fußnote in der Daseinsverfehlung räumt er ein, zuweilen selbst national argumentiert zu haben, was aber der aufgeheizten Stimmung der Zeit geschuldet sei, anders habe man kein Gehör gefunden. Verklausuliert, ohne ausdrücklichen Selbstbezug, thematisiert er seine Umkehr im Vorwort der Daseinsverfehlung: »Man durfte wohl, wenn man ein guter Deutscher ist, ein paar Jahrhunderte lang den preußisch-deutschen Protest, der seit Luther nie verstummt ist, als Vorbereitung zu einem großen, weltbereichernden Ja gelten lassen, welches das deutsche Volk in sich zur Reife bringen wolle. Nach 1945 fernerhin noch auf diesem preußisch-deutschen Protest beharren zu wollen, ist bestenfalls verbohrter Eigensinn, wenigstens noch als weltpolitischer Querulant der Umgebung auf die Nerven zu fallen, schlimmstenfalls aber der bösartige Ehrgeiz, als Verbrecher gegen die Menschlichkeit sein Unwesen fortzutreiben.«18
So also die Selbstbeschreibung, die sicherlich von denjenigen Lesern, denen der Name Niekisch ein Begriff war, verstanden wurde. Entsprach sie Niekischs aufrichtiger Überzeugung? Oder handelte es sich um ein Lippenbekenntnis eines Dissidenten der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, der gerade aus langjähriger politischer Haft befreit worden war und mit den neuen Machthabern auf gutem Fuß stehen wollte? Mit letzter Sicherheit ist das nicht zu beantworten. Ein Blick in Briefe aus der Entstehungszeit der beiden Texte legt jedoch nahe, dass er von seinen neuen Thesen tatsächlich überzeugt war. Seine neue antinationale Haltung setzte er seinen nationalkonservativen Freunden, unter anderem Ernst Jünger, ausführlich auseinander. Er war tatsächlich in den ersten Nachkriegsjahren von
18 E. Niekisch: Daseinsverfehlung, S. 4.
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einem heiligen Furor gegen alles Deutsche beseelt, war angeekelt von der Larmoyanz der Nachkriegsdeutschen, insbesondere der Vertriebenen, warf der Mehrheit der Deutschen ihr Mitwissen am Holocaust und ihre Tatenlosigkeit vor und war der Meinung, dass man sich über den Besatzungsstatus Deutschlands nicht beklagen, sondern für diese milde Konsequenz des Krieges dankbar sein solle. Dies scheint auch nicht für eventuelle Geheimdienst-Mitleser geschrieben zu sein, er nimmt nämlich in seinen Briefen kein Blatt vor den Mund, wenn ihm die Politik der SED nicht passt, und sollte später auch immer wieder wegen einer gewissen Stur- und Querköpfigkeit in Konflikte mit Parteikadern geraten. Die Abkehr Niekischs von seinen alten Positionen war also wohl echt, auch wenn er sich weigerte, sie als Abkehr zu begreifen. Als Medium seiner uneingestandenen Konversion nutzte er ein Geschichtsnarrativ, das die Katastrophe der NS-Herrschaft aus den Bedingungen der deutschen Geschichte herleitete. Damit erfüllte er das gerade in der SBZ gefragte Bedürfnis nach einer Distanzierung vom traditionellen deutschen Geschichtsverständnis. Der Nationalrevolutionär Niekisch wurde so zu einem der wichtigsten Protagonisten der kurzen antinationalen Phase in SBZ und früher DDR.
Vergnügen im Grenzbereich Spielzeug als Erziehungsmittel in ausgewählten pädagogischen Ratgebern der Aufklärung A NIKA S CHLEINZER
Kinder haben schon immer gespielt. Nicht nur miteinander, sondern auch mit unbelebten Gegenständen, die sich über die Jahrhunderte hinweg gleichen. Bälle und Rasseln, Puppen und Pferdchen sind aus Antike und Mittelalter erhalten geblieben und finden sich in ähnlicher Form und Materialität, gleichsam als ›Spielzeug-Archetypen‹, auch in vielen Kulturen außerhalb Europas.1 Diese Dinge legen Zeugnis darüber ab, dass die Kindheit auch vor ihrer eigentlichen ›Entdeckung‹, wenn auch nicht als scharf vom Erwachsenenstatus abgegrenzte Lebensphase, so doch als Zeitspanne mit eigenen Bedürfnissen erkannt wurde. So wie das Großwerden aber nebenbei und nahe dran an der Gesellschaft der Erwachsenen ablief, nahmen die Spiele der Kinder unbeachtet ihren Lauf. Zu Füßen der Mutter in der Küche oder in der Werkstatt des Vaters verbanden sich Spiel und Arbeit, ging die freiwillige, lustvolle Beschäftigung in angeleitete Tätigkeit über. Dass Spielen für das Kind nicht selbstverständlich, sondern bedeutsam sei, die Mittel des Spiels mithin wertvoll – oder eben verhängnisvoll – sein mussten, ist als Konsequenz einer gesteigerten Wertschätzung der kindlichen Individualität seit dem 17. Jahrhundert zu verstehen.2 Im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik verfestigten sich neue Ideen über das Wesen des Kindes und seine Stellung in der Familie und setzten sich im
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Überblicke: Retter, Hein: Spielzeug. Handbuch zur Geschichte und Pädagogik der Spielmittel, Weinheim u.a.: Beltz 1979; Jaffé, Deborah: The history of toys. From spinning tops to robots, Stroud: Sutton 2006. Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, München: Hanser 41975, S. 103.
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Laufe des 19. Jahrhunderts zunächst im Bürgertum durch. Die Eltern-Kind-Beziehung wurde zunehmend weniger als reziproke Gemeinschaft des do ut des gesehen, Kindheit stattdessen zu einem emotionalisierten Lebensabschnitt stilisiert, für dessen spezifische Entwicklungsphasen und -aufgaben Eltern und Gesellschaft verantwortlich zeichnen sollten.3 Zum Erfolg des bis heute fortwirkenden Kindheitsideals trug der von John Locke und Jean-Jacques Rousseau maßgeblich geprägte pädagogische Diskurs bei, an den die Philanthropen in Deutschland inhaltlich anknüpften.4 Seit dem späten 18. Jahrhundert erschienen zahlreiche, von den Referenzautoritäten der Aufklärung inspirierte, Handreichungen für Eltern und Erzieher, die alle Einflüsse, denen Kinder ausgesetzt waren, eingehend reflektierten und das Aufwachsen insgesamt stärker reglementierten. Dazu gehörte auch ein kritischer Blick auf das, »was wir«, so hatte es schon Rousseau formuliert, »vermöge unserer eigenen Erfahrung, an den auf uns wirkenden Gegenständen lernen, [...] die Erziehung durch Dinge.«5 Spielzeuge, aber auch alle anderen Artefakte mit denen Kinder in Kontakt kamen, wurden im Zuge dieses Paradigmenwechsels von sinnlosen Mitteln des Zeitvertreibs zu wirksamen Agenten konvertiert, die in jeder Interaktion Eindrücke bzw. Abdrücke im kindlichen Geist hinterließen und die noch sensiblen und formbaren Wesen auf diese Weise unmerklich zum ›Guten‹ oder ›Schlechten‹ hin erzogen. »Whatever hath such an Influence«, fasste John Locke die neue Bedeutung des Artefakts in der aufklärerischen Pädagogik zusammen, »ought not to be neglected.«6 Welche konkreten Eigenschaften den Dingen zugeschrieben wurden und wie sie für hehre Ziele nutzbar gemacht werden sollten, wird im Folgenden aus den pädagogischen Ratgebern Johann Heusingers und Christian Wolkes – zweier in ihrer Zeit hoch geschätzten, in der heutigen historischen Bildungsforschung nur mehr am Rande beachteten Autoren – herausgelesen. Mit Hilfe des Begriffes der ›Grenze‹ sollen die Räume, innerhalb derer sie die Dinge zur Wirkung bringen wollten, umrissen, die pädagogischen Einsatzbereiche sichtbar gemacht werden. In der Gegenüberstellung ihrer Entwürfe wird die ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, die Kollision verschiedener moderner Vorstellungen darüber, wie der Mensch als Individuum und als soziales Wesen gedacht werden müsse, deutlich 3
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Vgl. Schmid, Pia: »Die bürgerliche Kindheit«, in: Meike Sophia Baader/Florian Eßer/ Wolfgang Schröer (Hg.), Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt/M. u. New York: Campus 2014, S. 42-71. Vgl. Barakat, Heike: John Lockes Education. Erziehung im Dienst der Bildung, Münster u.a.: Waxmann 2010. Rousseau, Jean-Jacques: Emil. Oder über die Erziehung, Bd. 1, Wien u. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1789, S. 38. Locke, John: Some Thoughts Concerning Education, Cambridge: Cambridge University Press 21889, S. 112-113.
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sichtbar werden.7 Im Einklang mit den Zielen der Aufklärung versuchte insbesondere Wolke darauf hinzuwirken, die sozialen Grenzen der Ständegesellschaft zu überwinden und die universale Gleichheit aller Menschen über sein Bildungskonzept zu befördern. Heusinger, andererseits, trachtete danach, den neuen gesellschaftlichen Realitäten Rechnung zu tragen, indem er die für das in Entfaltung begriffene Bürgertum konstitutiven Grenzmarkierungen zwischen den Geschlechtern aufgriff.
G RENZÜBERSCHREITUNG – C HRISTIAN W OLKES SPIELERISCHE E RZIEHUNG DES GANZHEITLICH GEBILDETEN M ENSCHEN Mit Jean Jacques Rousseaus Émile wurde das »gespannte Zugleich von menschlichen Verallgemeinerungen und geschlechtlichen Besonderungen«8 der modernen bürgerlichen Gesellschaft als Grundprinzip eingeschrieben. Rousseau differenzierte zwischen dem Menschen als Gattungs- und Geschlechtswesen und leitete daraus sowohl universale Erziehungsmaximen, als auch geschlechtsspezifische Handlungsorientierungen ab. Gegenstände aus der Natur hielt er zur Entwicklung des menschlichen Gattungswesens für besonders empfehlenswert. Sie unterhielten und zerstreuten Säuglinge und Kleinkinder und erfüllten damit den gleichen Zweck wie teure Beschäftigungsmittel der Spielwarenhersteller. Älteren Kindern vermittelten sie erste Eindrücke von der Beschaffenheit ihrer Umwelt, führten ein in die Grundprinzipien des Lebens.9 Gleichzeitig nährten sie in ihrer Schlichtheit die Hoffnung, Wissen und Werte für alle verfügbar zu machen und damit die Ungleichheit der Menschen von Lebensbeginn an spielerisch einzuebnen und langfristig aufzuheben. Der Pädagoge Christian Heinrich Wolke (1741-1825), der seine Erziehungsbemühungen auf diese ›allgemein menschliche‹ Ebene des paradoxen Rousseauschen Diktums ausrichtete, entwickelte sehr genaue Vorstellungen davon, wie ›richtiges‹ Spielzeug diesem Ziel dienlich sein könnte. Als Lehrer, später Direktor des Philanthropinum in Dessau, hatte er an der Seite Johann Bernhard Basedows versucht, die klassische ›Buchschule‹ zu reformieren und seinen Schülern die
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Hier nicht gedacht als Nebeneinander von Traditionellem und Modernem, sondern als Parallelität verschiedener Modernisierungsbestrebungen. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850, Frankfurt/M. u. New York: Campus 1991, S. 1. Rousseau, Jean-Jacques: Emil. Oder über die Erziehung, Bd. 4, Wien u. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1791, S. 55-58.
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Abbildung 1: Christian Wolkes Denklehrzimmer. Quelle: C.H. Wolke, Anweisung, Anhang, Tafel II.
Welt auch über Sinneserfahrungen und handwerklich-praktische Übungen begreifbar gemacht.10 In seinem um 1805 veröffentlichten Spätwerk, in dem er die vorschulische Erziehung stärker in den Blick nahm, entwarf er ein detailliertes Konzept, wie eine pädagogische Umgebung, die auf die erzieherischen Qualitäten des Materiellen setzte, theoretisch gestaltet und wie Neugier und Freude am Umgang mit Realien bereits im Kleinkindalter didaktisch genutzt werden konnten. Der »Plan und Vorschlag zu einer Bewahr- und Vorbereitanstalt für junge Kinder beiderlei Geschlechts, während drei bis vier Jahre vor ihrem Eintritt in die Schule«11 sah vor, die »Lerninge« genannten Vorschulkinder »in einem heitern, 10 Vgl. Keppeler-Schrimpf, Helga: »Bildung ist nur möglich auf der Grundlage des Volkstums«. Eine Untersuchung zu Richard Seyferts volkstümlicher Bildungstheorie als volksschuleigene Bildungskonzeption, Münster: Lit 2005, S. 263-271; Röhrs, Hermann: Reformpädagogik und innere Bildungsreform, Weinheim: Dt. Studien Verlag 1998. 11 Vgl. Wolke, Christian Heinrich: Kurze Erziehungslehre oder Anweisung zur körperlichen, verständlichen und sittlichen Erziehung. Anwendbar für Mütter und Lehrer in den ersten Jahren der Kinder, Leipzig: Voß 1805. Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Entstehung von Kleinkinderschulen und -bewahranstalten vgl.: Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt, Kleinkinderschule, Kindergarten. Aspekte nichtfamilialer Kleinkindererziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Weinheim: Beltz 1980; Berger, Manfred: Geschichte des Kindergartens. Von den ersten vorschulischen Einrichtungen
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geräumigen, mit Sitzen, Bänken, Schämeln, Tischen, einem Spiegel usw. versehnen« Denklehrzimmer (s. Abb. 1) unterzubringen. Dieses sollte ausgestattet werden mit einem »Vorrath von Werkzeugen, von Spiel- und Kunstsachen, von Dingen aus den drei Naturreichen, von Abbildungen einiger Thiere, Pflanzen, Blumen, Früchte, Werkzeuge, zweckdienlich auch von einem wilden Manne und Weibe, von einem Oran-Utan [sic] usw.«12 Um seinen Lesern eine möglichst genaue Vorstellung davon zu vermitteln, wie die Lerninge in und mit seinem geplanten Denklehrzimmer interagieren sollten, hatte Wolke einen Stich desselben anfertigen lassen. Dargestellt waren darauf – neben den zahlreichen Spiel- und Lehrmitteln – neun Angehörige der »wohlhabende[n], kinderreiche[n] Familie des Herrn Wahrliebs«.13 In Form eines fiktiven Dialogs zwischen drei mutmaßenden Kindern und ihrer, in die Geheimnisse der neuen Pädagogik eingeweihten Mutter, schilderte er ihre Tätigkeiten. Kind C fragte beispielsweise: »Ich mögte gern wissen, was Lerning und Minine [die beiden jüngsten Geschwister, die sich unter dem rechten Fenster befinden] da vornehmen. Ich glaube nicht, daß sie spielen. Denn Lerning hat da sein Steckenpferd und seine Peitsche hingeworfen, und Minine bekümmert sich nicht um ihre Puppe, die als Wärterin bei der Wiege sitzt, auch nicht um ihr Küchenzeug.« Die Mutter antwortete: »Lerning und Minine haben öfter gesehen, wie ihr älteres Geschwister sich übte, um durch bloßes Betasten mit den Fingerspitzen zu erkennen, von welchem Gewächse ein Blatt; oder eine Frucht, von welchem Baume ein Stück Holz, von welchem Zeuge eine Probe, welche Art Erz oder Miner, welche Art Metal, oder welche aus Metal verfertigte Sache von ihnen betastet sei. Amaline [die im Bild dargestellte Mutter] hat den beiden Lerning und Minine erlaubt, eine solche Uebung jetzt zu treiben, und sich dazu der Blätter, und der Früchte zu bedienen, die hier vor und in dem Korbe zwischen dem Sprachrohr und dem Hunde sichtbar sind, vielleicht auch der Werkzeuge und andrer Sachen.«14
Kind Cs Vermutung und die Erwiderung der Mutter geben deutlich Auskunft darüber, welche Art der Beschäftigung sich der Pädagoge Wolke für die jüngeren, noch nicht schulpflichtigen Kinder vorstellte. Zunächst einmal fällt auf, dass er
des 18. Jahrhunderts bis zur Kindertagesstätte im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Brandes & Apsel 2016. 12 C.H. Wolke: Erziehungslehre, S. 208-209. Vgl. auch: ders.: Anweisung für Mütter und Kinderlehrer, die es sind oder werden können, zur Mittheilung der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe, von der Geburt des Kindes an bis zur Zeit des Lesenlernens, Leipzig: Voß 1805, S. 486. 13 C.H. Wolke: Anweisung, S. 476. 14 Ebd., S. 490.
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traditionelles Spielzeug in seiner futuristisch anmutenden pädagogischen Umgebung augenscheinlich zuließ – sei es, dass Kinder ihre eigenen Utensilien mitbringen durften, oder dass Spielzeug bewusst als Alternative zu den Lehrmitteln im Denklehrzimmer zur Verfügung gestellt wurde. Sich im Spiel dem puren, nicht zweckgerichteten Vergnügen hinzugeben, scheint Wolke seinen Zöglingen freimütig zugestanden zu haben. In dieser Gelassenheit unterschied er sich von Locke und Rousseau, die ihre Forderungen nach reduziertem, gezielt dargebotenem Spielzeug offensiv vertreten hatten und alles Künstliche aus den Kinderzimmern heraushalten wollten. Grundsätzlich stimmte Wolke aber mit den Aufklärern über die ›richtige‹ Beschäftigung überein. Nur unterstellte er, dass Kinder, überließ man ihnen die Wahl, ihren Spielzeugen von selbst den Rücken zukehrten, sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihnen abwandten, sobald diese mit Gegenständen aus der Natur oder mit Lehrmitteln konkurrierten, die ihren Wissensdurst und ihre Interessen nachhaltiger zu befriedigen versprachen. Im Denklehrzimmer war die lautstarke Ausgrenzung der ›falschen‹ Dinge mithin obsolet, die Vorstellung, dass bestimmte Gegenstände ›natürlich‹ geeigneter für die kindliche Entwicklung seien als andere, im pädagogischen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts Wahrheit geworden. Die einzelnen Mitglieder der Familie Wahrlieb repräsentieren in ihren – mit zunehmendem Alter komplexer werdenden – Tätigkeiten, wie sich Wolke eine erfolgreiche Bildungskarriere nach Maßgaben seiner Pädagogik vorstellte. In den ersten Lebensjahren sollte das Kind seine Umwelt über alle Sinne kennen lernen und bevorzugt mit natürlichen Gegenständen in Kontakt gebracht werden. Die Freude am Wahrnehmungsprozess stand im Vordergrund. Im Vorschulalter, wenn die Kinder eine gewisse »Gewandheit des Körpers, einige Vorkenntnisse, eine Fertigkeit in regelrechtem Sprechen und Urtheilen erworben« hatten, würden sie sich, inspiriert von ihren im selben Raum schon selbstständig experimentierenden älteren Geschwistern, auf die Suche nach neuen Herausforderungen begeben.15 Die wissenschaftlichen Hilfsmittel im Denklehrzimmer boten sich in dieser Lernepisode an, die bis dahin gewonnenen sinnlichen Erfahrungen zu abstrahieren und einzuordnen. Alle Pflanzen und Tiere innerhalb des Raumes waren über ein an Boden und Wänden angelegtes Koordinatensystem erfasst, und damit einer permanenten »Ordnung des Einteilens und Tabellierens« unterworfen.16 Auch der mit 15 Das Lernen durch Nachahmung stellte ebenfalls ein zentrales Motiv in der Pädagogik der Aufklärung dar. Vgl. C.H. Wolke: Anweisung, S. 478-482 oder Heusinger, Johann Heinrich Gottlieb: Die Familie Werthheim. Eine theoretisch-praktische Anleitung zu einer regelmässigen Erziehung der Kinder vorzüglich von dem sechsten bis in das vierzehnte Jahr, Bd. 2, Gotha: Justus Perthes 1798, S. 298 u. 304. 16 te Heesen, Anke: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 1997, S. 192.
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Früchten gefüllte Korb, dessen Inhalt Lerning und Minine erkundeten, war von Zahlen und geometrischen Zeichnungen umgeben, von wissenschaftlichen Instrumenten, Gewichten und Körpern eingerahmt. Was Lerning in die Hand gelegt bekam, wurde erst einmal befühlt und wahrgenommen. Bevor zurück sortiert wurde, luden die unterhalb des Korbes positionierten Formen zum Vergleich der materiellen Beschaffenheit ein; die nahe gelegenen Messinstrumente ermöglichten eine noch exaktere Bestimmung. Letzlich stand es den Kindern frei, ob sie dieses Angebot annehmen wollten oder es bei einer spielerischen Auseinandersetzung mit den Dingen beließen. Ein weiteres Beispiel für die im Raum angelegten Möglichkeiten selbstbestimmt von lustvoller sinnlicher Erfahrung zu systematischer Feldforschung überzugehen, zeigt sich im Blick auf und durch den geöffneten Fensterflügel. Der ungeordnete Vogelflug, Ausdruck der nicht in letzter Instanz vorhersagbaren Natur, ließ sich beobachten und als Schauspiel genießen, er ließ sich lenken, wenn man den Vögeln auf der Fensterbank Futter anbot. Schließlich ließ er sich aber über die in den Fensterkreuzen fortgeführten Strukturlinien des Raumes auch in den Hort empirischer Erfahrung integrieren. Selbst das Lebendige konnte so eingehegt und messbar gemacht werden.17 Christian Wolke erdachte seine pädagogische Umgebung im Vertrauen auf den intrinsisch motivierten Wunsch des Kindes, die Grenzen seines Erfahrungsraumes und seines geistigen Vermögens ständig zu erweitern. Die Entwicklung des Individuums sollte idealerweise nicht durch von außen erzwungene Grenzüberschreitungen, die mit Erreichen einer bestimmten Altersstufe verbunden waren, vorangetrieben werden. Vielmehr sollten etablierte, verfestigte Strukturen aufgelöst und dem Kind maximale Freiheit in Ausrichtung und Tempo seines Lerneifers zugebilligt werden. Begrenzt wurde das Denklehrzimmer physisch durch die vier Wände, aber auch diese riegelten den Raum nicht hermetisch ab, sondern offerierten durch das geöffnete Fenster eine zwischenweltliche Passage hinüber in die Außenwelt und damit eine Verbindung von Natur und (Lern)kultur. Innerhalb dieses festgelegten Rahmens verschwammen die Grenzen zwischen den etablierten Ordnungsstrukturen des Alltags. Das Kind changierte – ohne es zu bemerken – zwischen vergnüglichem Zeitvertreib und systematischem Denken und Lernen, zwischen Objekten des Spiels und solchen der Forschung. Die Geschlechter und verschiedenen Altersgruppen wurden nicht voneinander separiert, sondern das Zusammenfinden unterschiedlicher Spiel- und Lernkoalitionen gefördert. Jungen fanden sich mit Mädchen zusammen, jüngere Kinder mit älteren und Erwachsenen oder man blieb für sich – gerade so wie es die Situation und die zu analysierenden Gegenstände erforderten.
17 C.H. Wolke: Anweisung, S. 495.
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Auf lange Sicht, das verdeutlichen die in den zentralen Fokus des Bildbetrachters gerückten älteren Geschwister, ging Wolke davon aus, dass in dieser wenig reglementierten Atmosphäre jeder Lerning erfolgreich zum selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten fortschreite. Das ebenfalls gegengeschlechtliche Forscherpaar Seline und Guthold, das entlang der gleichen Achse wie Lerning und Minine in der sich verjüngenden Raumperspektive agierend dargestellt ist, greift das kindliche Spiel unter dem Fenster auf und transformiert es in die Zukunft. Auch den älteren Geschwistern standen altersgemäße Spielzeuge zur Verfügung – Kreisel, Peitsche und Federballschläger lagen ihnen im wahrsten Wortsinne zu Füßen – aber sie verschmähten die Möglichkeit zur Zerstreuung und gaben sich stattdessen ganz ihren Experimenten hin. Ihrem jugendlichen Alter entsprechend, erforschten sie das Wesen der behandelten Gegenstände nicht mehr nur mit Hand und Auge, sondern überprüften ihre Sinneswahrnehmungen mit den angebotenen Hilfsmitteln. Die Waage ist das tragende Symbol in dieser letzten Szene eines fortschreitenden Prozesses abstrakt-mathematischer Verstandesbildung, 18 denn sie korrigierte das bloße Gefühl. In der Hand der Mutter, der neutralen Richterin, verkündete sie die letzte, ultimative Wahrheit über das Wesen der Dinge und die Beschaffenheit der Welt.
B EGRENZUNG – J OHANN H EUSINGERS SPIELERISCHE E INFÜHRUNG IN EINEN GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN ALLTAG Am Verhältnis zwischen dem »wahren Menschen«19 Émile und seiner, an diesem Referenzobjekt gemessenen, künftigen Partnerin Sophie, verfestigte Rousseau Elemente eines neuen, auf naturwissenschaftliche Argumente bauenden Diskurses, der fundamentale sexuelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern konstatierte. Mann und Frau seien aufgrund ihrer verschiedenartigen biologischen Bestimmung und der damit in Zusammenhang stehenden charakterlichen Differenz – Aktivität und Überlegenheit auf der einen, Passivität und Unterwürfigkeit auf der anderen Seite – für bestimmte Arbeiten in voneinander getrennten Wirkungssphären prädestiniert.20 In der Auswahl des Spielzeugs und in der Art des Spiels müsse diesen ureigenen geschlechtlichen Anlagen und Bedürfnissen Rechnung
18 A. te Heesen: Der Weltkasten, S. 192. 19 Gildemeister, Regine/Hericks, Katja: Geschlechtersoziologie: Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, München: Oldenbourg 2012, S. 16. 20 J.-J. Rousseau: Emil, Bd. 4, S. 10.
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getragen und das Kind auf ein Leben innerhalb der Grenzen dieser ›natürlichen Ordnung‹ vorbereitet werden: »Die Kinder von beiden Geschlechtern haben viele Zeitvertreibe unter einander gemein, und das muß seyn; haben sie es nicht auch, wenn sie erwachsen sind? Sie haben freilich auch eigenen Geschmack, der sie unterscheidet. Die Knaben suchen Bewegung, Geräusch, Kreisel, Wägen; die Mägdchen haben lieber was ins Auge fällt, und zum Zierrathe dient, Spiegel, glänzendes Spielwerk, Käppchen, vornehmlich Puppen; die Puppe ist der besondere Zeitvertreib dieses Geschlechts; der Geschmack desselben ist also hierin augescheinlich nach der weiblichen Bestimmung entschieden.«21
An der Puppe agierte das kleine Mädchen ›natürliche Triebe‹ aus, übte an ihr, was sie später an sich selbst vorzunehmen gedachte: Das ›Putzen‹, also ›Zurechtmachen‹ der eigenen Person, um Aufsehen zu erregen. Außerdem konnte eine Puppe das Mädchen zu ganz konkreten weiblichen Arbeiten motivieren und so spielerisch an ein Tätigkeitsfeld heran führen, dem die erwachsene Frau einen Großteil ihrer Zeit widmen sollte.22 Diese beiden Topoi – Identifikation mit weiblichen Vorbildern im Puppenspiel und Einübung geschlechtsspezifischer Arbeiten – griffen die Rousseau rezipierenden Philanthropen auf, diskutierten, differenzierten und verfestigten sie im Diskurs über die Ausbildung des weiblichen Geschlechtswesens. Johann Heinrich Gottlieb Heusinger (1766-1837), der in seinem pädagogischen Hauptwerk Die Familie Werthheim schwerpunktmäßig auf die Erziehung von Kindern im schulpflichtigen Alter abhob, brachte besonders deutlich zum Ausdruck, wie Spielzeug zur Förderung geschlechtsspezifischer Eigenschaften und Kenntnisse auch schon in frühen Lebensjahren eingesetzt werden könnte: »Es ist ein großer Vortheil für das weibliche Geschlecht, daß es so früh anfangen kann, Arbeiten und Geschäfte zu übernehmen, welche ihm das ganze Leben hindurch eigen bleiben. Das kleine Mädchen zieht seine Puppe an, es wäscht, und putzt und prügelt sie, wie die Mutter ihr Kind. Eine Küche mit kleinem Küchengeräthe, allerlei ökonomisches Geschirr im Kleinen – dies sind vortreffliche Spielsachen für kleine Mädchen. Sie machen mit ihnen, was es Mutter und Mägde mit den großen machen sieht. […] Mädchen dürfen mit ihren Puppen bis gegen das sechste Jahr umgehen, nur daß die Beschäftigung mit denselben immer solider werde. Anfangs begnügt man sich damit, daß das kleine Mädchen die Puppe anziehen und ausziehen lernt. Späterhin muß sie den Anzug der Puppe waschen, rollen und
21 Ebd., S. 61-62. 22 Vgl. ebd., S. 61-66.
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platten lernen, und noch weiterhin muß sie ihr die Strümpfe selbst stricken und die Kleider selbst nähen lernen.«23
Die Puppe würdigte Heusinger nicht mehr nur als Alter Ego der Spielenden, sondern verstand sie als Objekt, an dem sich ein Mädchen in verschiedene weibliche Figuren hinein phantasieren konnte. Sie ermöglichte ihr zur Jungfrau, die ihren Prinzen erwartete, zu werden, ließ das Mädchen, ein paar Jahre weiter gedacht, die Mutterrolle einnehmen oder den Küchendienst der Magd ausprobieren. Der mit seiner Forderung nach einer Verbindung von Praxis und Elementarunterricht als Vorläufer der späteren Arbeitsschulbewegung geltende Pädagoge ergänzte auch die Bandbreite nützlicher Tätigkeiten, die im Spiel mit der Puppe erlernt werden könnten. Einerseits lud sie dazu ein, handwerklich kreativ zu werden, sich im Nähen oder Stricken zu versuchen. Andererseits wurde die Nachahmung reproduktiver Tätigkeiten – waschen, plätten, kochen – angeregt, ebenfalls nach Regeln, die das Mädchen im Spiel selbst festlegte und die ihr die qua Geschlecht zugewiesene Arbeit als selbstbestimmtes Vergnügen erscheinen ließen. »Das Mädchen aber thut fast nichts neues, sondern macht nach, was es von Größeren sieht«, fasste Heusinger dieses weibliche Spiel zusammen.24 Die Dinge, die den ›natürlichen männlichen Geschlechtscharakter‹ zum Vorschein bringen sollten, mussten sich in ihrer Zweckbestimmung deutlich von diesen, an Haushalt und Alltäglichkeit gebundenen Spielzeugen abgrenzen: »Selten sieht ein Knabe seinen Vater etwas thun, was er ihm im Kleinen nachthun könnte. Der kleine Knabe muß gewissermaßen Schöpfer und Ausführer seiner Gedanken selbst seyn. Es folgt also hieraus, daß man vorzüglich die Knaben mehr mit zweckmäßigen Spielsachen versehen muß, als es gewöhnlich geschieht. Laßt Stecken- und Wiegenpferde weg und nehmt eure Knaben lieber in der Stadt, auf dem Land, auf Spaziergängen herum, damit sie allerlei sehen, was sie nachmachen können. Bleibt stehen, wo Heu oder Feldfrucht geladen wird, macht sie aufmerksam auf alle Werkzeuge, welche die Leute dabei haben, auf alle Vortheile, welche sie dabei anwenden, und schafft euren kleine Söhnen Leiterwägen, damit sie Papierschnitzchen, Lumpen und andere Dinge eben so geschickt laden lernen, als die Bauern das Heu. […] Euer Geld ist für solche Dinge gut angewendet, und ihr habt dagegen nicht nöthig, bleierne Soldaten, Zinnfiguren, kostbare ABC und Bilderbücher zu kaufen.«25
Diese Empfehlungen für eine rechtschaffene Erziehung des männlichen Nachwuchses spiegeln die andere Seite einer neuen, an den Grenzmarkierungen einer 23 J.H.G. Heusinger: Die Familie Werthheim, S. 301-303. 24 Ebd., S. 301. 25 Ebd., S. 301-303.
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bipolaren Geschlechterordnung entlang strukturierten modernen Lebenswelt. In der fiktiven Familie Werthheim hatten sich die mit der Industrialisierung einsetzenden sozialen und ökonomischen Veränderungen bereits Bahn gebrochen. Die Arbeitsplätze der Familienoberhäupter lagen außerhalb des eigenen Heims26, die Väter waren damit räumlich für einen Großteil des Tages von Privatleben und Erziehungsarbeit abgekoppelt.27 Ihren Söhnen konnten diese Männer weder in Bezug auf konkrete Erwerbstätigkeiten, noch für rollenkonformes Verhalten in der Öffentlichkeit als Identifikationsfiguren dienen. Klassisches Jungenspielzeug wie Bleisoldaten und Steckenpferde konnten zwar, ähnlich wie die Puppe, behilflich sein, sich in exklusive Geschlechtersphären hineinzuversetzen und eine der zulässigen männlichen Rollen auszuprobieren. Im Gegensatz zum Mädchenspiel waren Handlungs- und Phantasiewelt der Jungen aber nicht identisch. Die Erziehung hin zum Manne musste dementsprechend auch auf der Artefaktebene darauf abzielen, die zukünftigen außerhäuslichen Wirkungssphären kennen zu lernen und sie für sich einzunehmen. Heusinger empfahl – wie vor ihm Rousseau – die im Maßstab an Kindergröße angepassten Fortbewegungsmittel, die an die im männlich-aktiven Charakter begründet liegende Bewegungsliebe appellierten und das Heraustreten aus dem Haus und dem engeren Familienkreis erleichtern sollten. Die Erschließung neuer Orte konnte so tatsächlich in Angriff genommen und das Spielmittel mithin im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Vehikel der echten Erfahrung werden. Die von Johann Heusinger empfohlenen Spielzeuge beförderten, wie viele andere Lehrmittel, den Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten und erweiterten den persönlichen Erfahrungsraum des Kindes. Die Grenzen der individuellen Entfaltung vermittelten sie, anders als die Artefakte in Wolkes Denklehrzimmer, aber gleich mit. Die Puppe und ihre Ausstattung verpflichteten das Mädchen auf das Spiel innerhalb des Hauses. Insbesondere wenn es an die Eigenanfertigung von Kleidung und Accessoires ging, wurde nicht nur die physische Betätigung genau definiert, sondern auch das kreative Denken auf einen eng gesteckten Rahmen beschränkt. Das Spiel des Mädchens sollte unmittelbar zielführend sein, war an einen Zweck gebunden, wiederholte sich. Im Jungenspiel sollten genau diese Begrenzungen überwunden werden: Der Schritt über die Schwelle des Hauses hinaus
26 Ebd., S. 3-5. 27 Vgl. Frevert, Ute: »Geschlechter-Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts«, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 181-216. Zum Selbstverständnis von Bürgervätern vgl. Budde, Gunilla-Friederike: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 151166.
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war nicht nur eine physische Grenzüberschreitung, sondern auch die Überwindung einer inneren Hemmschwelle. Ein einfacher kleiner Wagen zeigte die grenzenlosen Optionen in der Welt da draußen auf, er vermittelte ein Gefühl der Freiheit, wenn es sein Besitzer nur wagte, über sich selbst hinaus zu wachsen und alles Vertraute hinter sich zu lassen.
S PIELERISCH
GROSS WERDEN
– F AZIT
Kinder haben schon immer gespielt – nicht nur, aber auch mit Dingen. Ihr Spiel und ihre Spielmittel wurden wichtig in dem Moment, in dem sie selbst zu etwas Besonderem wurden. In den Ratgebern John Lockes und Jean Jacques Rousseaus wurde die zunehmende Wertschätzung der Kindheit als »bevorzugtes Alter« 28 erstmals deutlich formuliert. Spielzeuge, als genuine Zeugnisse dieser eigenständigen Lebensphase, beschrieben sie in ihren »Rechtfertigung[en] für das Nutzlose«29 nicht nur, sondern bewerteten sie auch. Jedes Ding sollte ›einfach‹ und ›sinnvoll‹ sein, und nur mit Bedacht heraus gegeben werden. Diese Qualitätskriterien verfestigten sich über die breite Rezeption der aufklärerischen Werke unter den deutschen Philanthropen rasch zum verbindlichen Glaubenssatz. Die ›kleinen Dinge‹ erhielten in den ›großen Entwürfen‹ der Reformpädagogen immer mehr Aufmerksamkeit. Paradigmatische Artefakte, aber auch ganzheitliche Spielsysteme wurden erdacht und mit detaillierten Handlungsanweisungen versehen. In den neu geschaffenen Vorschulinstitutionen, aber auch in den Kernfamilien sollten sie den als verderblich hingestellten ›Nürnberger Tand‹ verdrängen und ungestört auf die Hervorbringung des modernen Menschen hinwirken. Das – nie realisierte – Denklehrzimmer Christian Heinrich Wolkes steht mit seinem eigens entworfenen Inventar beispielhaft für die eine Richtung dieser neuen Pädagogik, die sich von der Auseinandersetzung mit den ›richtigen‹ Dingen eine umfassende »Aktivierung von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten«30 erhoffte. Die Grenze zwischen Spielzeug, Alltagsgegenstand, Naturprodukt, Lehrmittel und wissenschaftlichem Instrument wurde in Wolkes utopischer Lernumgebung bewusst verwischt, die dem Kind zugewiesenen Objekte zu Hybriden stilisiert, die Elemente des Vergnügens und des Nutzens in sich vereinten. Wolke zielte darauf
28 P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 90. 29 Scheuerl, Hans: Das Spiel, Bd. 2: Theorien des Spiels, Weinheim: Beltz 111991, S. 3. 30 Zum Verhältnis von Spielen und Lernen und der Definition des Spielmittels als Mittel der Erziehung und Bildung des Menschen vgl. H. Retter: Spielzeug, S. 215-230.
V ERGNÜGEN
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ab, die Schönheit und Vielfalt der weiten Welt im Artefakt symbolhaft vorzuführen und im Umgang mit den Dingen allgemein bildende Lernprozesse in Gang zu setzen. Innerhalb dieses universellen Entfaltungsraums wurden die Freiheiten der Spielenden, wiederum über den Einsatz materieller Hilfsmittel, zur gleichen Zeit auch wieder begrenzt. Gemäß der Strukturen und Werte der bürgerlichen Familie wurden Jungen und Mädchen schon früh angehalten, die eigene Position in einer zunehmend bipolar organisierten Gesellschaft zu erkennen und sich in den für sie vorgesehenen Wirkungssphären einzurichten. Johann Heusingers Gedanken zu geschlechtsspezifischem Spielzeug offenbarten, welche typischen Wesenseigenschaften Jungen und Mädchen zugeschrieben wurden, wie diese im Spiel aufgegriffen und gefördert bzw. eingeschränkt werden sollten, aber auch wie die Einführung in voneinander abgegrenzte Erwachsenenwelten über eine spielerische Gewöhnung erleichtert werden könnte. Mittels Pferd und Wagen en miniature sollte der junge Mann Arbeit und Abenteuer als Lebens(t)raum erfahren, während das Puppenspiel des Mädchens Alltagsroutine in häuslichen und familiären Geschäften vermittelte, und die weite Welt dabei unmerklich einhegte. Im ›pädagogischen Jahrhundert‹31 verfestigte sich der Glaube daran, dass diejenigen Kinder, die von früh an mit dem ›richtigen‹ Spielzeug spielten, auf ihre Zukunft als Gattungs- und als Geschlechtswesen bestmöglich vorbereitet würden. Von klein auf spürten und erahnten sie im Materiellen die ursprüngliche Beschaffenheit der Welt in nuce, könnten sich diese aneignen noch bevor sie sie rational durchdringen. Sie würden im intensiven Zusammenwirken mit erzieherischer Führungskompetenz über das richtige Spielzeug zu Kontemplation, Lernen und vernünftigem Handeln angehalten, anarchisch-hedonistische Ausschläge und verfehlte Charakterbildung würden mittelbar unterbunden. Auf diese Weise wüchsen Persönlichkeiten heran, die als selbstbewusste Individuen für sich einstehen konnten und sich gleichzeitig als Teil eines familiären Kollektivs, in dem Männern und Frauen unterschiedliche Rollen und Räume zugedacht waren, ergänzten. Im Umgang mit den ›richtigen‹ Dingen spielte sich dieser neue Mensch gut ein – in die Gemarkung der modernen bürgerlichen Gesellschaft.
31 Die Bezeichnung »pädagogisches Jahrhundert« prägte Samuel Baur in Anbetracht der Flut pädagogischer Schriften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Schmitt, Hanno: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007, S. 16.
Von der Gotteslästerung zur Störung des öffentlichen Friedens Grenzverschiebungen in der Geschichte der Blasphemiegesetzgebung W ERNER T SCHACHER
Blasphemie ist der griechischen und lateinischen Wortbedeutung nach eine verbale oder bildliche Schmähung. Vorrangig handelt es sich dabei um die Lästerung einer Gottheit, um Gotteslästerung, es kann aber auch die Beschimpfung einer Religion gemeint sein. Die schändliche Tat selbst wird meist als Frevel bezeichnet. Die blasphemische Handlung besteht in einer mehr oder weniger bewussten Grenzüberschreitung: in der Profanisierung des Heiligen, des höchstens Wesens, der Heiligtümer und der Kernbestände der Glaubenspraxis. Betrachtet man Blasphemie im sozialen Kontext der vormodernen Gesellschaft, kann man den blasphemischen Sprechakt mit Gerd Schwerhoff als eine »Verbalstrategie der Selbstinszenierung auf der Bühne des Lebens« 1 bezeichnen. Die Menschen in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bezogen Gott, Maria und die Heiligen in die sozialen Alltagskonflikte ein, ohne den christlichen Glauben intentional in Frage stellen zu wollen. Das in der Bevölkerung offensichtlich weit verbreitete Fluchen und derbe Schwören auf den Namen Gottes, seine Haare, sein Haupt, Glied usw. spielte sich häufig bei Trunk und Spiel in Wirtshäusern ab – gewissermaßen ein wiederkehrendes Spiel mit der Grenzüberschreitung. Wenn guter Ruf und persönliche Ehre durch Schmähreden des Gegenübers angegriffen wurden, antwortete der Betroffene mit einem virilen Sprechakt: dem Gottesfluch oder -schwur. Diese Grenzüberschreitung diente dazu, die eigene 1
Schwerhoff, Gerd: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz: UVK 2005, S. 18.
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Macht und Unerschrockenheit zu inszenieren und der Gewaltandrohung Nachdruck zu verschaffen.2
G RENZZIEHUNGEN IN DER VORMODERNEN B LASPHEMIEGESETZGEBUNG Die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten sahen sich durch dieses öffentliche Verhalten herausgefordert und verfolgten einfache Blasphemie (blasphemia simplex), vor allem aber vorsätzliche, auf einem Glaubensirrtum basierende Blasphemie (blasphemia spiritualis) mit Argusaugen und Repression. Die inkriminierende Bezeichnung gotteslästerlicher Reden als Blasphemie war ein soziales Konstrukt. Es skandalisierte Redeweisen, die im höchsten Maße negativ von der Norm des christlichen Menschenbildes abwichen, weil sie dessen Grundlagen, den Glauben und das Heilige, radikal in Frage stellten. Die Stigmatisierung von Personen als Blasphemiker erscheint als diskursive Abgrenzungsstrategie, die den Zusammenhalt der Wir-Gruppe der christlichen Gläubigen und die religiös-soziale Exklusion der Anderen zur Folge hatte – mit anderen Worten: othering. Mit der semantischen Konstruktion von Kampfbegriffen wie Blasphemie vergewissert sich eine Gesellschaft ihres Wertesystems und ihrer sozialen Praktiken. Seit dem hohen Mittelalter unterstellte man vor allem den Häretikern einen blasphemischen Geist, da sie sich als irdische Vertreter des Teufels mit Vorsatz, polemisch und irrig über die Gottesvorstellung der Amtskirche äußern würden. Solche ketzerische Blasphemie (blasphemia haereticalis) betrachtete man als ein die Ketzerei noch verschärfendes Einzeldelikt. Sie galt als Mischdelikt, crimen mixtum, das von weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten mit drakonischen Strafen verfolgt wurde. Neben Geldstrafen, Pranger und Stadtverweis wurden schwerste Leibstrafen verhängt wie Durchbohren, Aufschlitzen oder Abschneiden der Zunge, im schlimmsten Fall nach biblischem (Leviticus 24, 10-16) und römischem Recht (Justinian, Novelle 77) die Hinrichtung durch Feuer oder Schwert. Das auf beidem basierende Kaiserrecht betrachtete Blasphemie als Angriff auf die göttliche Majestät, als crimen laesae majestatis divinae, und zugleich als Verbrechen gegen die weltliche Majestät des christlichen Kaisers im Sinne von Hochverrat und Majestätsbeleidigung. Einen Markstein der Blasphemieverfolgung in
2
G. Schwerhoff: Zungen wie Schwerter, bes. S. 222-254; Wils, Jean-Pierre: Gotteslästerung, Frankfurt/M. u. Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2007; Cabantous, Alain: Geschichte der Blasphemie, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1999; Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/M.: Insel 1984.
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der Epoche vormoderner Staatswerdung bildete der Wormser Reichsabschied Maximilians I. von 1495 mit der Formulierung einer allgemeinen Denunziationspflicht an alle Untertanen. Auch die erweiterte Blasphemiedefinition Martin Luthers in seiner heftigen Kritik an den aufständischen Bauern trug dazu bei, Blasphemie als todeswürdige Rebellion gegen die göttliche Ordnung und die irdische Obrigkeit einzustufen. 3 Die Beleidigung des Göttlichen wurde damit in quasi-totalitärer Formulierung auf den christlichen Herrscher, qua Amt Mittler zwischen transzendenter Sphäre und irdischer Welt, und den religiös fundierten Staat bezogen. Dieser grundlegende Konnex blieb trotz zwischenzeitlicher Abschaffung der Todesstrafe bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert hinein erhalten und soll im Folgenden anhand einer vergleichenden Betrachtung der Blasphemiegesetzgebung des Deutschen Kaiserreiches und der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden.
G RENZZIEHUNGEN IM B LASPHEMIESTRAFRECHT 1871 Nach Paragraph 166 im Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Reiches vom Mai 1871 sollte die Höchststrafe für Gotteslästerung und Beschimpfung einer Religionsgesellschaft drei Jahre Gefängnis betragen. Die Bestimmung geht auf das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851 und das darauf gründende Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 zurück und blieb bis zur bundesdeutschen Strafrechtsreform 1969 unverändert.4 Die deutliche Erhöhung der Haftstrafe gegenüber dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von zwei bis sechs Monaten auf drei Jahre war ein Ergebnis der Reaktionszeit nach der gescheiterten Revolution von 1848, als es darum ging, die alte Herrschaftsordnung in der neuen Form einer konstitutionellen Monarchie ›von oben‹ zu reformieren und freiheitlich-demokratische Bestrebungen als subversiv zu unterdrücken. Dies geschah durch eine repressive Zensurpolitik, polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und die Verschärfung der Strafgesetze. Die Nationswerdung Deutschlands beschleunigte die fortschreitende Verstaatlichung des Religionsschutzes. Im ersten Satz der Verfassungspräambel wurde vielsagend das Gottesgnadentum des Kaisers festgeschrieben, während auf die explizite Aufnahme eines Grundrechtskatalogs verzichtet wurde.
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4
G. Schwerhoff: Zungen wie Schwerter, S. 147-169. Vgl. Andreas Pečar/Kai Trampedach (Hg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne, München: Oldenbourg 2007. Leutenbauer, Siegfried: Das Delikt der Gotteslästerung in der bayerischen Gesetzgebung, Köln u. Wien: Böhlau 1984, S. 264f.
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Der Blasphemieparagraph von 1871 entsprach der konservativ-monarchischen Ordnungsvorstellung der Religion als Garant für Sicherheit, Ruhe und Ordnung, die im Bündnis von Thron und Altar ihren formelhaften Ausdruck fand. So war es folgerichtig, dass der Blasphemieparagraph die Lästerung Gottes vor die Beschimpfung der Religionsgemeinschaften, ihrer Einrichtungen und Gebräuche setzte. Der Tatbestand der Lästerung war an eine öffentliche Beschimpfung und die Erregung eines Ärgernisses gebunden: die unmittelbare, emotionale Empörung Dritter. Der Schutz der ›Pietätsgefühle Anderer‹, wie es in der damaligen Strafrechtstheorie hieß,5 bestätigte einerseits die Rolle des sich modernisierenden monarchischen Staates als Beschützer der ihn tragenden Religion, andererseits kam er den von weiten Teilen des Bürgertums geteilten Zivilisationsvorstellungen von Sittlichkeit und gutem Geschmack entgegen. Die mittelalterliche Vorstellung von der blasphemia spiritualis als schweres Sonderverbrechen wurde im Rahmen eines neuen, am Staats- und Gemeinwohl orientierten Blasphemieverständnisses politisch neu aufgeladen und mit dem Stigma des Staatsfeindes verknüpft, der sich böswillig an den Grundpfeilern der bürgerlichen Gesellschaft versündigt und ein permanentes Sicherheitsrisiko darstellt. 1871 wurden ausdrücklich nur die christlichen Kirchen und die vom Staat mit öffentlichen Körperschaftsrechten ausgestatteten Religionsgemeinschaften geschützt, was die privilegierte Stellung der christlichen Religion ebenso anzeigt wie den bürokratischen Anspruch des autoritären Nationalstaates zu entscheiden, welche Religionsgemeinschaft unter den Religionsschutz fallen sollte und welche nicht. Den zunächst auf die christlichen Kirchen und Vereinigungen beschränkten Religionsschutz erweiterte man 1874 durch die gesetzliche Ausstattung anderer Religionsgemeinschaften, insbesondere des Judentums, mit Körperschaftsrechten.6 Der Blasphemieparagraph antwortete damit auf die von Olaf Blaschke und anderen festgestellte Rekonfessionalisierung der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und spiegelte das Integrationsbestreben in der Gründungsphase des nationalen Einheitsstaats wider, die von heftigen innenpolitischen Kämpfen erschüttert wurde.7 5 6
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S. Leutenbauer: Das Delikt der Gotteslästerung, S. 267f. Gesetz vom 20.5.1874, RGBl 68 betr. gesetzliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Vgl. Korioth, Stefan: »Die Entwicklung der Rechtsformen von Religionsgemeinschaften in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Hans G. Kippenberg/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 113-122. Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh: Kaiser Gütersloher Verlagshaus 1996; Olaf Blaschke (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002.
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Ausgehend von den Bismarck’schen Sozialistengesetzen waren hauptsächlich Sozialdemokraten, Freidenker und Anarchisten von Anklagen wegen Gotteslästerung betroffen,8 was das gesteigerte Interesse des zunehmend in Bedrängnis geratenen monarchisch-reaktionären Staates an der Bekämpfung innerer Feinde verdeutlicht. 9 Die Oppositionellen im Kaiserreich bedienten sich in der Tat nicht selten der radikalen Religions- und Kirchenkritik als Mittel der politischen Auseinandersetzung und des gesellschaftlichen Protestes. Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts stellte das Heilige als das schlechthin unantastbare und unverfügbare Eigentum Gottes programmatisch zur Disposition und schuf dem Atheismus eine wissenschaftliche Grundlage.10 Allein im Zeitraum zwischen 1882 und 1903 fanden im Deutschen Reich 6.921 Gotteslästerungsprozesse statt. Das sind immerhin 329 Verfahren pro Jahr. Dabei wurde die Dauer einer zweijährigen Gefängnishaft in 22 Fällen erreicht oder überschritten.11 Zwischen 1871 und 1918 belegten deutsche Gerichte etwa die Bezeichnung Gottes als »blutleeres Gespenst«, Jesus als »erster Sozialist«, des Heiligen Geistes als »Grobian«, der christlichen Kirche als »Mördergrube«, der klerikalen Amtstracht als »Maskerade« oder des Heiligen Rockes in Trier als »Humbug« mit Freiheits- oder Geldstrafen.12 Da Blasphemie ein Offizialdelikt geblieben war, konnten die staatlichen Behörden auch ohne Antrag Betroffener mit Hilfe polizeilicher Spitzel eine Ermittlung eröffnen und vorantreiben. In die Strafe einbezogen wurden zugleich die hinter der Gotteslästerung stehenden politischen Motive, während die subjektiv verletzten Gefühle der Angehörigen der christlichen Kirche, der sittlichen »Normalmenschen«, wie sie im damaligen Juristendeutsch hießen, geschützt werden sollten.13
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Burghard, Klaus: Die Religionsdelikte der §§ 166, 167 StGB und ihre Novellierung durch das erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 30. Juni 1969, Diss., Universität zu Köln, 1973, S. 4-10. Nipperdey, Thomas: »Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900«, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 591-615; Halder, Winfried: Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914, Darmstadt: WBG 2003, S. 37-66. Prüfer, Sebastian: Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 128-133. Vgl. Böckling, Willi: Die Gotteslästerung und die Beschimpfung von Religionsgesellschaften, Bonn: Lucas 1933, S. 43, Anm. 223. S. Leutenbauer: Das Delikt der Gotteslästerung, S. 270; S. Prüfer: Sozialismus statt Religion, S. 130. Hütt, Wolfgang (Hg.), Hintergrund. Mit den Unzüchtigkeits- und Gotteslästerungsparagraphen des Strafgesetzbuches gegen Kunst und Künstler 1900-1933, Berlin: Henschelverlag 1990, S. 60-67; Skriver, Ansgar: Gotteslästerung, Hamburg: Rütten & Loening 1962, S. 61-134.
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N EUE G RENZEN
DER B LASPHEMIE IN DER BUNDESDEUTSCHEN S TRAFRECHTSREFORM
1969
Antikommunismus und Kalter Krieg führten in der frühen Bundesrepublik der Adenauer-Ära zu einer bemerkenswerten Strafrechtsverschärfung im Bereich der Religionsdelikte. Im April 1951 wurde der Paragraph 167 des Strafgesetzbuches über die Störung des Gottesdienstes verschärft, so dass für eine solche bislang mit maximal drei Jahren Haft geahndete Störung nun bei verfassungsverräterischer Absicht eine Zuchthausstrafe von bis zu fünfzehn Jahren verhängt werden konnte.14 Mit Zensurbestimmungen gegenüber Äußerungen, die als jugendgefährdend, blasphemisch und staatsfeindlich eingestuft wurden, führte die Bundesregierung 1953 weitere Repressionsmaßnahmen ein. Zudem wurde religionskritisch auftretenden Linksintellektuellen und Künstlern, bald aber auch rebellierenden Schülern und Studenten ihre kritische Haltung zu Nato-Mitgliedschaft, konservativer Regierungspolitik und herrschenden Moralvorstellungen juristisch zur Last gelegt. Ganz in der Tradition des Kaiserreiches rückte die junge Bundesrepublik Blasphemie in die Nähe der Staatsgefährdung. Wer die geschützte Institution ›Religion‹ in kritischer Absicht mit Sexualität oder Politik in Verbindung brachte, musste als »Subversiver« mit empfindlicher Strafverfolgung rechnen.15 Die obrigkeitliche Repression hatte in der sich zunehmend verwestlichenden und säkularisierenden bundesdeutschen Gesellschaft jedoch keinen langen Bestand.16 Der schwieriger werdende Umgang mit dem Blasphemieparagraphen entzündete sich formal an dem in den Verfassungsartikeln 4 und 5 begründeten Konflikt von Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensschutz auf der einen Seite, Kunst-, Meinungs- und Pressefreiheit auf der anderen Seite. Unter dem Einfluss der sich wandelnden gesellschaftlichen Atmosphäre gelangte der Bundesgerichtshof 1961 14 Schiffers, Reinhard: Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1951, Düsseldorf: Droste 1989, S. 351. 15 Zimmer, Dieter E.: »Bücher vor Gericht«, in: ders. (Hg.), Die Grenzen literarischer Freiheit. 22 Beiträge über Zensur im In- und Ausland, Hamburg: Nannen 1966, S. 203224; Brückner, Peter/Krovoza, Alfred: Staatsfeinde. Innerstaatliche Feinderklärung in der BRD, Berlin: Wagenbach 1972; Buschmann, Silke: Literarische Zensur in der BRD nach 1945, Frankfurt/M.: Peter Lang 1997; Roland Seim/Josef Spiegel (Hg.), Der kommentierte Bildband ›Ab 18‹. Zensiert, diskutiert, unterschlagen. Zensur in der deutschen Kulturgeschichte, Münster: Telos 22001; Buchloh, Stephan: »Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich«. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, Frankfurt/M. u. New York: Campus 2002. 16 Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2007, S. 119-149; Geppert, Dominik: Die Ära Adenauer, Darmstadt: WBG 2002, S. 97f.
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in einem Grundsatzurteil zu einer Stärkung der Kunstfreiheit bei der juristischen Bewertung von Religionsdelikten. Danach sollte nicht mehr, wie bisher, vorrangig die Wirkung der Lästerung auf die religiösen Gefühle der Gläubigen zum Maßstab gemacht, sondern das Wesen der zeitgenössischen Kunst mitberücksichtigt werden.17 Im Juni 1969 wurde schließlich der seit fast einem Jahrhundert unverändert gebliebene Blasphemieparagraph 166 nach langwierigen Reformdiskussionen geändert. In der bis heute gültigen Neufassung droht dieser demjenigen mit bis zu drei Jahren Gefängnishaft oder Geldstrafe, der »öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften […] den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.« Ebenso wird bestraft, »wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften […] eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.« 18 Neben den Schriften sind auch Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen in die Definition des corpus delicti einbezogen. Vergleicht man nun den älteren mit dem reformierten Paragraphen 166, so ist augenfällig, dass zum einen die nicht unbedeutende Gefängnishöchststrafe von drei Jahren, wie sie in der preußischen Reaktionszeit erstmals gesetzlich implementiert worden war, 1969 unverändert beibehalten wurde. Dagegen wurde bei der Reform Gott als explizit genanntes Schutzobjekt nicht mehr erwähnt, womit sich nun scheinbar die Erkenntnis der Aufklärung Bahn gebrochen hatte, dass jener nicht in seiner Ehre gekränkt werden könne. Die kurioserweise vor 1969 noch vereinzelt im Geiste Thomas von Aquins bestrafte Schmälerung der Vollkommenheit Gottes verschwand nun aus der Gerichtspraxis. Trotz dieser scheinbaren Grenzziehung zwischen göttlicher und irdischer Sphäre umfasste der Begriff des religiösen Bekenntnisses in der juristischen Praxis nach wie vor die Beschimpfung des geglaubten Gottes. Mit der Strafrechtsreform wurden des Weiteren, in Überwindung der älteren juristischen Gefühlsschutztheorie, nicht mehr vorrangig das religiöse Empfinden der Gläubigen und der Religionsfrieden als schutzwürdig angesehen, sondern der 17 Hüttemann, Renate: Gotteslästerung und Beschimpfung religiöser Gemeinschaften, ihrer Einrichtungen und Gebräuche im geltenden und kommenden Strafrecht, Diss., Universität Marburg, 1964, S. 27-29; Schick, Martin: Kunstwerkgarantie und Strafrecht, dargestellt am Beispiel der Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung, Diss., Universität Tübingen, 1968; Zirker, Hans: »Gotteslästerung oder Freiheit der Kunst? Religiöse Empörung in säkularer Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 43 (1991), S. 345-359. 18 Zit. nach http://dejure.org/gesetze/StGB/166.html (abgerufen am 30.7.2017).
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öffentliche Frieden. Damit definierte der Gesetzgeber eine neue Grenzlinie der Strafbarkeit. Der Friedensschutz als übergeordnetes Staatsinteresse sollte eine höhere Messlatte an die Strafbarkeit von Religionsbeschimpfungen setzen als das bloße Ärgernis, replizierte aber nur dessen problematische Abgrenzbarkeit und belohnte weiterhin die empörte oder gewaltsame ›Selbsthilfe‹ der ›Beleidigten‹ als Voraussetzung der Anklageerhebung.19 In dezidierter Neuerungsabsicht wurden 1969 die Bekenntnisse von Kirchen bzw. Religionsgesellschaften mit denjenigen der Weltanschauungsvereinigungen gleichgestellt. Durch den Verzicht auf das Merkmal der öffentlich-rechtlichen Körperschaft bezog man weitere nichtchristliche Religionsgesellschaften in die Schutzbestimmung von Paragraph 166 ein. Mit dieser Ausweitung sollte das Bemühen des Staates um religiöse bzw. weltanschauliche Neutralität angesichts der zunehmenden Pluralisierung der deutschen Gesellschaft demonstriert werden. Diese neutrale Haltung musste allerdings im verfassungs- und kirchenrechtlich festgeschriebenen Verhältnis zwischen Kirche und Staat ihre Grenzen finden. Von wirklicher Neutralität und strikter Trennung zwischen Kirche und Staat wie in Frankreich konnte und kann im bundesdeutschen Kirchenrecht de facto nicht die Rede sein. Das deutsche Kirchenrecht geht von einer ethischen Parität und von gemeinsamen Wertvorstellungen des hoheitlichen bzw. koordinierenden Staates und der christlichen Kirchen aus, woraus sich eine Privilegierung letzterer ableitet.20 Die mit der Gesetzesnovellierung von 1969 auf den Weg gebrachte Ausweitung des Straftatbestandes Blasphemie auf das politische und philosophische Feld war eher dazu geeignet, neue Auslegungsschwierigkeiten hervorzurufen, sie blieb in der Praxis allerdings folgenlos.21
F AZIT
UND
AUSBLICK
Der Vergleich der Blasphemiegesetzgebung vor und nach 1969 hat gezeigt, dass bei der Neufassung des Paragraphen 166 von einer Einhegung des Straftatbestandes und einer Strafrechtsliberalisierung nur bedingt die Rede sein konnte und so-
19 S. Leutenbauer: Das Delikt der Gotteslästerung, S. 289; Steinke, Ron: »Gotteslästerung im säkularen Staat. Plädoyer für die Abschaffung eines strafrechtlichen Relikts«, http://www.linksnet.de/de/artikel/20836 vom 24.10.2007 (eingesehen am 30.7.2017). 20 Leonore Siegele-Wenschkewitz/Friedrich Weber/Karin Weintz (Hg.), Religionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Konzepte der im Bundestag vertretenen politischen Parteien, der Bundesregierung, der evangelischen und katholischen Kirche, Frankfurt/M.: Haag und Herchen 2000. 21 S. Leutenbauer: Das Delikt der Gotteslästerung, S. 291.
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gar eine partielle Ausweitung des Tatbestandes stattfand. Der noch vor dem Antritt der sozialliberalen Regierung Brandt im Oktober 1969 beschlossene Reformparagraph atmete wenig vom Geist der neuen Ära. Er folgte weitgehend der bestehenden Strafrechtsregelung, zurückliegenden Reforminitiativen und demokratischen Verfassungsvorgaben. Damit verlief die Reform in den Bahnen einer gemäßigten Modernisierung des Staates unter konservativen Auspizien, wie sie die beiden Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik geprägt hatte. Die Staatsgewalt konnte sich offensichtlich bei der Reform des Blasphemieparagraphen, mitten in den von Studentenunruhen und Vietnamkrieg geprägten Krisenjahren, einer partiellen Modernisierung nicht verweigern, wollte aber einen wirklichen Bruch mit der tradierten obrigkeitsstaatlichen Tradition innenpolitischer Friedenswahrung vermeiden. Die Säkularisierung des Straftatbestandes bzw. die Rationalisierung des schutzwürdigen Gutes – die allein am Rechtstext vorgenommene Umbuchung und semantische Zurichtung von der Gottesehre zunächst auf den Gefühlsschutz der Gläubigen, dann auf die Wahrung des öffentlichen Friedens – kann als eine Abfolge scheinbarer Grenzziehungen bezeichnet werden. Dabei handelte es sich keineswegs um ein ›Spiel ohne Grenzen‹, sondern um ein durchschaubares ›Spiel mit den Grenzen‹: Der substantielle Kern der als strafwürdig deklarierten Handlung blieb ebenso erhalten wie das dahinterstehende Motiv der Möglichkeit zur Strafverfolgung radikaler Abweichler und Oppositioneller. Faktisch werden die weltanschaulichen Haltungen von Atheisten und Humanisten durch die neue Blasphemiegesetzgebung nicht geschützt – mit anderen Worten: Auf diesem kontroversen Spielfeld des Rechts gelten durchaus unterschiedliche Regeln, wobei nur die Fouls einer der beiden Mannschaften geahndet werden. Nicht nur wurde mit dem subjektiven Gehalt des schutzwürdigen Gutes die vergleichsweise hohe Strafandrohung beibehalten, sondern der Straftatbestand sogar in den Bereich der Säkularreligion ausgeweitet.22 In der bundesdeutschen Blasphemiegesetzgebung hat sich das rechtsethische Prinzip des normativen Individualismus letztlich nicht durchsetzen können, anders als bei der Abschaffung anderer älterer Strafrechtsbestimmungen, z.B. des ›Kuppeleiparagraphen‹ 180 StGB (1973), des ›Homosexuellenparagraphen‹ 175 StGB (1994) 23 oder aktuell des ›Majestätsbeleidigungsparagraphen‹ 103 StGB (2018).24 Eine denkbare Integration des Blasphemieparagraphen in den Kreis der anderen Beleidigungsdelikte (StGB 185-200) mit der Folge einer Reduzierung der Strafandrohung unterblieb.
22 K. Burghard: Die Religionsdelikte, bes. S. 96-99. 23 Von der Pfordten, Dietmar: Rechtsphilosophie. Eine Einführung, München: C.H. Beck 2013, S. 106-110 u. 115. 24 Una/LTO-Redaktion: »Abschaffung von § 103 StGB beschlossen«, http://tiny url.com/yat6y782 vom 25.1.2017 (abgerufen am 5.8.2017).
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Der letztlich fiktive Charakter des Blasphemiedelikts entsprach der Fiktion einer konsensualen Einheitskultur mit klarer Herrschaftsordnung, religiös fundierten Werten und sittlichem Normalgeschmack, während sich die moderne Gesellschaft in eine Vielzahl von Kulturen und Lebensstilen differenziert. Der nach der Reform eingetretene Wandel in der Strafrechtspraxis hatte andere Gründe: Die faktische Bedeutung der Religionsbeschimpfung als Gegenstand politischen Protestes nahm in der Bundesrepublik nach 1969 kontinuierlich ab.25 Selbst in den turbulenten 1970er Jahren blieb die Zahl der Blasphemieprozesse mit circa 50-60 Verurteilungen pro Jahr relativ gering. 1995 waren es dann 24 Urteile, 2004 nur noch 15. In der Praxis werden heute von den bundesdeutschen Gerichten fast nur noch Geldstrafen, Haftstrafen auf Bewährung oder Sozialstunden verhängt.26 Von der modernen Popkultur inspiriert, kommt es vorrangig zu künstlerischen oder kommerziell motivierten Tabubrüchen, während die Herrschaftsverhältnisse nicht mehr ideologisch und in einer die Eliten wirklich bedrohenden Weise in Frage gestellt werden. In gelegentlich aufflackernden Debatten wird nicht nur von den Linken, sondern auch von Teilen der FDP und Grünen die Strafbarkeit des Blasphemiedelikts grundsätzlich in Zweifel gezogen. Demgegenüber forderte die bayerische CSU im Februar 2001 und noch einmal 2006 anlässlich des Streites um die Mohammed-Karikaturen erfolglos,27 den Straftatbestand durch die Streichung des Passus über die Gefährdung des öffentlichen Friedens wieder zu verschärfen.28 Der relikthafte Fortbestand des Paragraphen als Damoklesschwert gegen drastische Formen der Religions- und Herrschaftskritik spiegelt die unverkennbaren Defizite der bundesrepublikanischen Streitkultur, das fortbestehende Selbstverständnis des Staates als alleiniger Garant innerer Friedenswahrung und das Interesse politischer Akteure an der Durchsetzung einer Leitkultur wider. Islamismus und Terroranschläge verschärfen das Dilemma der ›Toleranz gegenüber Intoleranten‹ und stellen die erreichten Spielräume der Blasphemie in 25 Schmied, Gerhard/Wunden, Wolfgang: Gotteslästerung? Vom Umgang mit Blasphemien heute, Mainz: Bischöfliches Ordinariat 1996, bes. S. 41-55; Zank, Michael: »Blasphemie, Staat und Religion, Christentum und Judentum«, http://www.bu.edu/mzank/trdeutsch/archiv/Blasphemie.htm [Mai 2004] (eingesehen am 30.7.2017). 26 Butz, Horst: »Religionsdelikte im europäischen Vergleich«, in: Manfred Baldus/Herbert Frost (Hg.), Liber amicorum Professor Dr. Herbert Frost zum 65. Geburtstag, Köln: Institut für Kirchenrecht und Rheinische Kirchenrechtsgeschichte 1986, S. 411-442, hier S. 413. 27 Jäger, Siegfried: »Der Karikaturenstreit im ›Rechts-Mitte-Links‹-Diskurs deutscher Printmedien«, in: ders./Dirk Halm (Hg.), Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis, Münster: Unrast 2007, S. 131-160; Baatz, Ursula: Bilderstreit 2006: Pressefreiheit? Blasphemie? Globale Politik?, Wien: Picus 2006. 28 Laubach, Thomas (Hg.): Kann man Gott beleidigen? Zur aktuellen Blasphemie-Debatte, Freiburg, Basel u. Wien: Herder 2007.
G RENZVERSCHIEBUNGEN
IN DER
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westlichen Gesellschaften auf den Prüfstand, wie die laufende Debatte um Blasphemie und Laizismus in Frankreich zeigt. Eine »Wiederkehr der Religionsdelikte« kann in der durch politischen Rechtsruck, zunehmende religiöse, kulturelle wie soziale Konflikte und mediale Entgrenzung gekennzeichneten Gegenwart nicht ausgeschlossen werden.29
29 Berkmann, Burkhard Josef: Von der Blasphemie zur »hate speech«? Die Wiederkehr der Religionsdelikte in einer religiös pluralen Welt, Berlin: Franke & Timme 2009; de Saint Victor, Jacques: Blasphemie. Geschichte eines ›imaginären Verbrechens‹, Hamburg: Hamburger Edition 2017.
Autorinnen und Autoren
Brewing, Daniel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der RWTH Aachen University, ist 2017/18 Gerda Henkel Fellow an der American University, Washington DC. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des Nationalsozialismus; Geschichte und Theorie der Gewalt; Geschichte der USA im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Publikationen: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945, Darmstadt: WBG 2016; »Murderers are Other People. ›Polish Cruelties‹ and the Legimitization of Nazi Violence«, in: The Polish Review 62 (2017), S. 37-58; »›Geschossen wurde auf alles, was sich irgendwie zeigte. ‹ Zu den Anfängen der nationalsozialistischen Partisanenbekämpfung im besetzten Polen«, in: Oliver von Wrochem (Hg.), Repressalien und Terror. ›Vergeltungsaktionen‹ im besetzten Europa 1939-1945, Paderborn: Schöningh 2017, S. 59-71. Cahn, Jean-Paul, war u.a. Professor für Civilisation Allemande an der Université de Paris-Sorbonne und Präsident des Comité Franco-Allemand de Recherche sur l’Histoire de la France et de l’Allemagne aux XIXe et XXe siècles. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Deutsch-Französische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Arbeiterbewegung, Geschichte der Saargegend. Ausgewählte Publikationen: Le parti social démocrate allemand et la fin de la quatrième République Française (1954-1958), Bern: Peter Lang 1995; La République fédérale d’Allemagne et la Guerre d’Algérie (1954-1962), Paris: Editions du Félin 2003 (mit Klaus-Jürgen Müller); Religion und Laizität in Frankreich und in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert / Religions et laïcité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles, Stuttgart: Steiner 2008 (mit Hartmut Kaelble). Crumbach, Anne Helen, geb. Günther ist Autorin im Geschichtsbüro Reder, Roeseling & Prüfer in Köln. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen
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Institut der RWTH Aachen University und Doktorandin von Armin Heinen. Ihre Dissertation befasst sich mit dem Contergan-Skandal in den 1960er Jahren. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im 20. Jahrhundert, insbesondere in den 1960er Jahren. Ausgewählte Publikationen: »Ein ›Jahrhundertsprozess‹ oder ›Justitias Blamage‹? Der sogenannte Contergan-Prozess in Alsdorf (1968-1970)«, in: Werner Pfeil (Red.), Recht und Unrecht – 1200 Jahre Justiz in Aachen, Aachen: AKV Sammlung Crous 2015, S. 200-209; »Der Contergan-Fall als Zäsur in den 1960er Jahren? Eine mediengeschichtliche Analyse«, in: Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2016, S. 142-165. Fickers, Andreas, ist seit 2013 Professor für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg und Direktor des 2016 gegründeten Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH). Seine Forschungsschwerpunkte sind: transnationale Mediengeschichte, Kulturgeschichte der Technik, europäische Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft. Ausgewählte Publikationen: »Politique de la grandeur« versus »Made in Germany«. Eine politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PALSECAM-Kontroverse, München: Oldenbourg 2007; Europe Materializing. Transnational Infrastructures and the Project of Europe, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010 (Hg., mit Alexander Badenoch); Communicating Europe: Technologies, Information, Events, London: Palgrave 2017 (mit Pascal Griset; im Erscheinen). Haude, Rüdiger, ist Privatdozent für Historisch orientierte Kulturwissenschaften am Historischen Institut der RWTH Aachen University. Er forscht u.a. zu Politischer Anthropologie, Kultur- und Technikgeschichte, mit Schwerpunkten in der Piratologie, Luftfahrtgeschichte, biblischer Institutionenanalyse und Klimageschichte. Ausgewählte Publikationen: Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung, Baden-Baden: Nomos 1999 (mit Thomas Wagner); Grenzflüge. Politische Symbolik der Luftfahrt vor dem Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Aachen. Köln u. Weimar: Böhlau 2007; Grenzfälle. Transfer und Konflikt zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden im 20. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron 2013 (Hg., mit Krijn Thijs). Heßler, Martina, ist Professorin für Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Stadt- und in der Technikgeschichte. Derzeit arbeitet
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sie zum Mensch-Maschinen-Verhältnis. Ausgewählte Publikationen: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt/M.: Campus 2012; »Der Mensch als Leib. Menschenbilder in einer technischen Kultur«, in: Jörg Sternagel/Fabian Goppelsröder (Hg.), Techniken des Leibs, Weilserswist: Velbrück Wissenschaft 2016, S. 217236; »Angst vor Technik und das Kontingentwerden ›des Menschen‹«, in: Markus Bernhardt/ Stefan Brakensiek/Benjamin Scheller (Hg.), Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz, Frankfurt/M.: Campus 2016, S. 209-234. Hudemann, Rainer, war u.a. Professor für Histoire contemporaine de l’Allemagne et des pays germaniques an der Universität Paris-Sorbonne und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität des Saarlandes. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören der politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wiederaufbau in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Geschichte der Sozialpolitik und der politischen Parteien, Urbanisierung im europäischen Vergleich, Deutschland und Frankreich im Vergleich, transnationale Transfer- und Erinnerungsprozesse, Geschichte von Behinderten. Ausgewählte Publikationen: Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Évacuations dans l‘Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe, Berlin: Metropol 2014 (Hg. mit Fabian Lemmes u.a.); Diskriminiert - vernichtet - vergessen. Behinderte in der Sowjetunion, unter nationalsozialistischer Besatzung und im Ostblock 1917-1991, Stuttgart: Steiner 2016 (Hg., mit Alexander Friedman); Historiographie allemande du Temps présent, Paris: Armand Colin 2016 (Hg., mit Mathieu Dubois). Hüser, Dietmar, hatte von 2004 bis 2013 den Lehrstuhl für Geschichte Westeuropas (19./20. Jh.) an der Universität Kassel inne und arbeitet seitdem als Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte Frankreichs und Westeuropas nach 1945. Ausgewählte Publikationen: Skandale zwischen Moderne und Postmoderne – Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin: De Gruyter 2014 (Hg., mit Andreas Gelz/Sabine Ruß); Populärkultur und deutsch-französische Mittler. Akteure, Medien, Ausdrucksformen, Bielefeld: transcript 2015 (Hg., mit Ulrich Pfeil); Populärkultur transnational – Lesen, Sehen, Hören, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld: transcript 2017 (im Druck). Kaelble, Hartmut, war u.a. 2004-2009 Professor am Europakolleg Brügge, 20042007 Sprecher des SFB 614, 1998-2009 Mitdirektor des Zentrums (später Berliner Kolleg) für vergleichende Geschichte Europas, 2004-2006 Vors. des Deutsch-
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französischen Historikerkomitees. Forschungsgebiete: Vergleichende Sozialgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, derzeit vor allem Geschichte des Wohlfahrtsstaats, der sozialen Ungleichheit, der Geschichte der europäischen Integration. Ausgewählte Publikationen: Der historische Vergleich: eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 1999 (auch chin.); Sozialgeschichte Europas: 1945 bis zur Gegenwart, München: Beck 2007 (auch jap., engl., pol. u. frz.); Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jh. bis zur Gegenwart, Frankfurt/M.: Campus 2017. Knotter, Ad, ist Professor für Comparative Regional History an der Universität Maastricht und Direktor des dortigen Sociaal Historisch Centrum voor Limburg (Zentrum für die Sozialgeschichte Limburgs). Forschungsschwerpunkte: historischer Einfluss der niederländisch-belgisch-deutschen Grenze auf Bergbau, Arbeit und Migration, Konstruktion regionaler Identitäten im Rhein-Maas-Gebiet. Ausgewählte Publikationen: Mijnwerkers in Limburg. Een Sociale Geschiedenis, Nijmegen: Uitgeverij Vantilt 2012; Limburg. Een Geschiedenis, 3 Bde., Maastricht: Limburgs Geschied- en Oudheidkundig Genootschap 2015 (mit A. M. J. A. Berkvens et al.); »Trade unions and workplace organization: regulating labour markets in the Belgian and American flat glass industry and in the Amsterdam diamond industry in the nineteenth and early twentieth centuries«, in: Labor History 57 (2016), S. 415-438. König, Helmut, ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen University. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur, Demokratietheorie, Kritische Theorie, Hannah Arendt. Ausgewählte Publikationen: Politik und Gedächtnis, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008; Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2016; Populismus und Extremismus in Europa, Bielefeld: transcript 2017 (Hg., mit Manfred Sicking/Winfried Brömmel). Krebs, Stefan, ist Senior Research Scientist in Contemporary History am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Medien-, Wissenschafts- und Technikgeschichte. Derzeit arbeitet er u.a. zur Geschichte der 3D-Tonaufnahme. Ausgewählte Publikationen: »›Dial Gauge versus Senses 1 – 0‹: German Auto Mechanics and the Introduction of New Diagnostic Equipment, 1950–1980«, in: Technology and Culture 55 (2014), S. 354-389; Sound and Safe: A History of Listening Behind the Wheel.
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Oxford u. New York: OUP 2014 (mit Karin Bijsterveld/Eefje Cleophas/Gijs Mom); »Memories of a Dying Industry: Sense and Identity in a British Paper Mill«, in: The Senses & Society 12 (2017), S. 35-52. Kuhn, Bärbel, ist Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Vergleichende Schulbuchforschung, Geschichte des Geschichtsunterrichts und der Geschichtsdidaktik, Deutsch-französischer/europäischer Kulturtransfer im 19. Jahrhundert, Geschichte der Hausarbeit und der Haushaltstechnisierung. Ausgewählte Publikationen: Grenzraum erfahren. Methoden, Themen und Materialien im bilingualen deutsch-französischen Geschichts- und Geographieunterricht, Saarbrücken: Fachrichtung Geographie der Univ. des Saarlandes 2006 (Hg., mit Sandra Duhem); Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht. Grenzen – Grenzüberschreitungen – Medialisierung von Grenzen, St. Ingbert: Röhrig 2014 (Hg., mit Astrid Windus); Geschichte für Augen, Ohren und Nasen. Sinnliche Wahrnehmungen in der Geschichte, St. Ingbert: Röhrig 2016 (Hg., mit Astrid Windus). Maner, Hans-Christian, ist Professor für Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas im Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsgebieten zählen: Fragen zur Nations- und Staatsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert sowie Aspekte der Geschichtskultur in Ostmittel- und Südosteuropa. Ausgewählte Publikationen: Parlamentarismus in Rumänien (1930-1940). Demokratie im autoritären Umfeld, München: Oldenbourg 1997 (rum. 2004); Multikonfessionalität und neue Staatlichkeit. Orthodoxe, griechisch-katholische und römisch-katholische Kirche in Siebenbürgen und Altrumänien zwischen den Weltkriegen (1918-1940), Stuttgart: Steiner 2007; Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München: IKGS 2007. Müller, Harald, ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere Geschichte an der RWTH Aachen University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der mittelalterlichen Kirchengeschichte und des Renaissance-Humanismus. 2014/15 war er Fellow des Historischen Kollegs, seit 2015 ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Historischen Instituts in Paris. Ausgewählte Publikationen: Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit in der Normandie (12. und frühes 13. Jahrhundert), 2 Bde., Bonn: Bouvier 1997; Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen: Mohr Siebeck 2006; Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien u.a.: Böhlau 2012 (Hg., mit Brigitte Hotz).
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Müller, Thomas, ist nach verschiedenen Tätigkeiten an der RWTH Aachen University und im Kulturbetrieb der Stadt Aachen nun Mitarbeiter des Stadtarchivs Aachen, Mitwirkung an der Neukonzeption des Zollmuseums Friedrichs als Grenzmuseum. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Grenzraum-, Grenzregime- und Migrationsforschung. Ausgewählte Publikationen: Imaginierter Westen. Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld: transcript 2009; »Grenze und Gewalt. Ermittlungen zu den Todesschüssen an der ›Aachener Kaffeefront‹«, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 117/118 (2015/16), S. 223-256. Neumann, Victor, ist Professor an der West University of Timișoara und Direktor des Centre for Advanced Study in History. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Rumänische Geschichte, Multi- und Interkulturalität in Zentral- und Osteuropa, Begriffsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: »Peculiarities of the Translation and Adaptation of the Concept of Nation in East-Central Europe. The Hungarian and Romanian Cases in the Nineteenth Century«, in Contributions to the History of Concepts, 7 (2012), S. 72-101; Die Interkulturalität des Banats, Berlin: Frank und Timme 2015; »Conceptualizing Modernity in Multi- and Intercultural Spaces: The Case of Central and Eastern Europe«, in: Willibald Steinmetz/Michael Freeden/Javier Fernandez Sebastian (Hg.), Conceptual History in the European Space, New York u. Oxford: Berghahn Publishers 2017, S. 237-262. Penshorn, Sascha, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte des Historischen Instituts der RWTH Aachen University. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation über den Topos der ›deutschen Misere‹ in der Geschichtspublizistik der SBZ und der frühen DDR. Die Arbeit berührt Probleme der Theoriegeschichte des Marxismus, der Begriffsgeschichte sowie der intellectual history der DDR. Schleinzer, Anika, ist seit 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der RWTH Aachen University tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Technik- und Geschlechtergeschichte, außerdem interessiert sie sich für die Bedeutung von Spiel und Spielzeug in kindlichen Lebenswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausgewählte Publikationen: GrenzControle, Grens-Kontrolle: Aachen, Eupen, Maastricht – oral histories, Remscheid: Gardez! 2008 (Hg., mit Jac v.d. Boogard/Armin Heinen/Herbert Ruland/Luise Clemens); »Spielzeug und Geschlecht«, in: Hannelore Faulstich-
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Wieland (Hg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaften Online (EEO), Weinheim u. München 2010; »Rehearsed Technology: The Definition of Technical Toys in the Early Twentieth Century«, in: ICON 20 (2014), H. 2, S. 20-39. Soldwisch, Ines, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der RWTH Aachen University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Liberalismusforschung, Geschichte der DDR, Europäische Integrationsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: »Alles hat seine Grenzen? Europäisierung als soziale Praxis im europäischen Parlament«, in: Gabriele Clemens (Hg.), The Quest for Europeanization. Interdisziplinary Perspectives on a Multiple Process, Stuttgart: Steiner 2017, S. 207-219; »Region im Umbruch – Parteien im Umbruch: Zur Geschichte der Liberalen und Christdemokraten in Mecklenburg-Vorpommern 1989/90«, in: Stefan Creuzberger/Fred Mrotzek/Mario Niemann (Hg.), Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem Ende der DDR, Berlin: be.bra wiss 2017 (im Druck); »Wer etwas verändern will, muss mit Widerständen rechnen, Zur Rolle der Frau im Liberalismus«, in: INDES, Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 6 (2016), H. 2, S. 50-58. Tschacher, Werner, ist seit 2009 Privatdozent für Mittlere und Neuere Geschichte an der RWTH Aachen University und seit April 2016 Akademischer Oberrat für Geschichte in Praxis und Beruf am Historischen Institut der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Stadtgeschichte, Herrschaftsgeschichte, Erinnerungskultur, spätmittelalterliche Dämonologie und Hexenverfolgungen. Ausgewählte Publikationen: Königtum als lokale Praxis. Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 8001918), Stuttgart: Steiner 2010; »›Mobilis in mobili‹. Das Meer als (anti)utopischer Erfahrungs- und Projektionsraum in Jules Vernes ›20.000 Meilen unter den Meeren‹«, in: Alexander Kraus/Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 47–66; »Ein vertuschter Sexskandal am Heumarkt 1484. Der Fall des Ratsherrn Johann Greveroide«, in: Mario Kramp/Marcus Trier (Hg.), Drunter und Drüber: Der Heumarkt, Köln: J.P. Bachem 2017, S. 114-119.
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Geschichtswissenschaft Manfred E.A. Schmutzer
Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 E (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book PDF: 49,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2
Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung — Politisierung — Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2
Thomas Etzemüller
Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt 2015, 294 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3183-8 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3183-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de