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German Pages 267 [269] Year 2018
Gary Cox
Jean-Paul Sartre Existentialismus und Exzess Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Graziano di Benedetto
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Existentialism and Excess. The Life and Times of Jean-Paul Sartre bei Bloomsbury Academic. © 2016 Gary Cox Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Bloomsbury Publishing Plc in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Dr. Malte Heidemann, Lektoratsbüro textbaustelle Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Umschlaggestaltung und Illustration: Christian Hahn, Babenhausen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3716-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3811-2 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3812-9
Inhaltsverzeichnis
Danksagung. ...................................................................
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Abkürzungsverzeichnis.....................................................
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1 Genie........................................................................
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2 Blinder Passagier. .......................................................
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3 Exil...........................................................................
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4 Der Himmel auf Erden. ...............................................
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5 Castor. ......................................................................
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6 Le Havre...................................................................
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7 Aprikosencocktails.....................................................
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8 Ostraconophobie........................................................
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9 Die kleine Russin........................................................
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10 Der mächtige Gallimard. .............................................
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11 Sex vor dem Krieg. .....................................................
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12 Krieg der Worte..........................................................
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13 Besatzungszeit. . ..........................................................
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14 Zoon politikon. .......................................................... 107 15 Differenzen................................................................ 118 16 Die Vernichtung Camus’ und Genets............................. 129 17 Der Blutdruck steigt.................................................... 144 18 Stalins Geist. .............................................................. 153 5
Inhaltsverzeichnis
19 Erzeugnisse aus Corydran............................................ 161 20 Der Philosoph und der Filmregisseur. ........................... 172 21 Eine explosive Situation............................................... 175 22 Nobel-Worte. . ............................................................ 186 23 Hilfe für die Hilflosen.................................................. 193 24 Revolution liegt in der Luft. ......................................... 203 25 Ultralinks.................................................................. 209 26 Der lange Weg bergab. ................................................ 226 27 Unsterblichkeit........................................................... 242 28 Eine Art Fazit............................................................. 247 Bibliographie................................................................... 250 Register. ......................................................................... 253
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Danksagung Mein Dank gilt den vielen Gelehrten, ohne deren umfassende Kenntnis von Sartres Leben und Werk diese Biographie unmöglich gewesen wäre. Besonderer Dank geht an Annie Cohen-Solal und Ronald Hayman, deren umfangreiche Biographien Sartre: 1905–1980 sowie Jean-Paul Sartre. Leben und Werk meine wichtigsten Orientierungspunkte waren. Auch Sartre selbst bin ich Dank schuldig, nicht nur dafür, das Leben gelebt zu haben, das Thema dieses Buches geworden ist, sondern auch dafür, vieles davon selbst dokumentiert zu haben, während er anderes in Literatur umsetzte. Zu guter Letzt bin ich Sartres großer Gefährtin Simone de Beauvoir zu Dank verpflichtet, die in ihrer großartigen Autobiographie und auch andernorts mehr über ihn geschrieben hat als er selbst.
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Abkürzungsverzeichnis Europäische Verteidigungsgemeinschaft École normale supérieure (dt. „Höhere Normalschule“, in Wahrheit eine Elitehochschule) Front de libération nationale (Nationale BefreiungsFLN front) M22M Mouvement du 22 mars (Bewegung des 22. März) Organisation de l’armée secrète (Organisation der geheiOAS men Armee) Parti communiste français (Kommunistische Partei PCF Frankreichs) Rassemblement démocratique révolutionnaire (RevoluRDR tionäre demokratische Versammlung) EVG ENS
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1 Genie Wer ist Jean-Paul Sartre? Wie dieses Buch zeigen wird, ist dies eine Frage, die Sartre eine lange Zeit selbst zu beantworten versucht hat, genauso wie allgemeinere Fragen der Art: „Was ist eine Person?“ oder konkretere wie „Wann kommt Castor an?“ und „Wo steckt schon wieder mein Pfeifentabak?“ In seinem Buch Ist der Existentialismus ein Humanismus? schreibt Sartre: „Es gibt keine andere Genialität als die sich in Kunstwerken ausdrückt“ (Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 39). Anders gesagt, „Ein Genie ist, wer Geniales tut“, oder sogar, um es mit einer zentralen existentialistischen Maxime auszudrücken: „Sein ist Handeln.“ Sartre war ein Genie, nicht weil er das war, was heutige Pädagogen als „talentiert“ oder „hochbegabt“ bezeichnen – obwohl er zweifelsohne außerordentlich talentiert und begabt war –, sondern dessentwegen, was er tat, und aufgrund der vielen außerordentlichen philosophischen und literarischen Werke, die er in den 74 Jahren und zehn Monaten schuf, die er lebte. Auch sein Leben war ein Kunstwerk. Es war ein außergewöhnliches Leben, wie Sie bereits anhand dieser kurzen Zusammenfassung sehen werden: eines jener Leben, die uns darüber staunen lassen, wie der betreffenden Person all das zu fassen gelang, was es ausmachte. Gewiss, Sartre lebte in einer aufregenden Zeit – andererseits, wer nicht? Ihm geschahen ständig aufregende Dinge, weil er sie geschehen ließ. Er sagte: „Ein Mensch bindet sich in seinem Leben, z eichnet sein Gesicht, und außerhalb dieses Gesichtes ist nichts vorhanden. Selbstverständlich kann dieser Gedanken jemandem hart erscheinen, dem sein Leben nicht geglückt ist. Aber andererseits bereitet er die Menschen vor, zu verstehen, daß allein die Wirklichkeit von Belang ist“ (Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 40). Sartre war ein richtiger Draufgänger, stets enthusiastisch bei allem, was er 9
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tat, und immer extrem beschäftigt. Seine außergewöhnliche Energie und Ausdauer halfen ihm dabei. Wenn Sartre über seine eigenen Errungenschaften reflektierte, weigerte er sich, sie als Produkt eines Geschenkes oder einer Gabe zu betrachten. In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1964 Die Wörter schrieb er: „Wo blieb die Angst, wo die Prüfung, wo die abgewiesene Versuchung, wo blieb schließlich das Verdienst, wenn ich begabt war?“ (Die Wörter, S. 142). Für ihn waren seine Errungenschaften nicht die Konsequenz seiner Sprachbegabung oder die Folge seiner erstaunlichen Fähigkeit, hochkomplexe, abstrakte und originelle Gedanken zu generieren und zu organisieren. Er bestand darauf, dass seine Errungenschaften gänzlich das Produkt eines höchsten Beschwörungsrituals waren, einer lebenslangen Mission, sich aus dem Nichts selbst zu erschaffen, die Marke „Sartre“. Er schrieb nicht, weil er außergewöhnlich war; er war außergewöhnlich, weil er schrieb. „Ich habe mich selbst nie als den glücklichen Besitzer eines ‚Talentes‘ betrachtet: Mein einziges Anliegen bestand darin, mich selbst zu retten – mit leeren Händen, mit leeren Taschen – durch Arbeit und Glauben“ (Die Wörter, S. 158). Diese Zeilen aus dem letzten Absatz von Die Wörter geben denselben Gedanken einer Passage aus dem Theaterstück Kean von 1953 wieder. Kean, der große shakespearische Schauspieler, der nicht mehr ist als die Rollen, die er spielt, und dessen Genie gänzlich in seinen Darstellungen liegt, sagt: „In einen fabelhaften Trug lebe ich in den Tag hinein. Keinen Heller, nichts in den Händen, nichts in den Taschen. Aber ich brauche nur mit den Fingern zu schnalzen, um unterirdische Geister herbeizurufen“ (Kean, 2. Akt, S. 384). Thema dieses Buches ist, wie Sartre sich selbst aus nichts erschuf oder zumindest aus nicht viel mehr als seinen lediglich 153 Zentimetern Körpergröße, seinen paar Kilogramm Körpergewicht, seinem einen guten Auge, seinem unbändigen Willen, seinem eisernen Arbeitseifer und ein wenig Hilfe von seinen außergewöhnlichen Freunden. Alle halbwegs anständigen Biographien führen die harten Fakten auf – Namen, Kalenderdaten und dergleichen –, aber jede Biogra10
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phie ist unvermeidlich immer auch der idiosynkratrische Blick des Biographen auf die Person. Neben seinen Tätigkeiten als Romanschriftsteller, Dramatiker und Philosoph war Sartre selbst auch ein bedeutender Biograph. Seine Biographien Baudelaires, Genets und Flauberts geben seine Sichtweise dieser Personen wieder, genauso wie seine Autobiographie Die Wörter seine Sichtweise seiner selbst ist – Sartres Versuch, Sartre darzustellen, Sartres Suche nach Sartre. Entsprechend ist diese Biographie mein Versuch, Sartre darzustellen, meine Suche nach Sartre. Obwohl ich bereits vorher mit ihm vertraut war, hat meine Sicht auf ihn sich beim Schreiben dieses Buches beträchtlich verändert und weiterentwickelt und wird sich auch in Zukunft ändern und weiterentwickeln, je mehr ich über ihn nachdenke. Und selbstverständlich wird die Sicht, die Sie beim Lesen dieses Buches über Sartre entwickeln, sich von meiner unterscheiden und vielleicht sogar keinerlei Ähnlichkeit mit ihr haben – und das trotz meiner subtilen Bemühungen, Sie in Bezug auf ihn wohlwollend zu stimmen. So ist das nun einmal. Worin liegt die Wahrheit eines Menschen? Ist sie irgendwo festgesetzt, festgestellt? Sartre behauptet, wir erfänden und interpretierten uns selbst in unserem Leben immer wieder neu. Wir erfänden und interpretierten auch unsere Mitmenschen immer wieder neu, wenn wir über sie dächten, sprächen und schrieben – sowohl während Sie noch am Leben als auch wenn sie gestorben sind. Vielleicht ist dies, was wir sind, ein fortwährendes Einüben in Erfindung und Interpretation, die wir und andere vornehmen, bis wir sowohl gestorben als auch vergessen sind. Es ist unmöglich, Menschen auf einen Nenner zu bringen; das ist es, was sie so faszinierend macht. Sartre ist am 15. April 1980 gestorben. Seine sterblichen Überreste liegen auf dem Friedhof Montparnasse in Paris, neben denjenigen seiner großen Lebensgefährtin und intellektuellen Sparringspartnerin Simone de Beauvoir, die ihm 1986 dorthin folgte. Er ist gestorben, aber er ist bestimmt nicht in Vergessenheit geraten. Er gab sein Äußerstes dafür, sich selbst unsterblich zu machen. Bereits seit seiner Kindheit war es sein Lebenstraum, ein großer verstorbener französischer Schriftsteller zu werden, der Voltaire des 11
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20. Jahrhunderts. Er spannte jede Faser seines Lebens bis zum Äußersten an, um andere Menschen dazu zu inspirieren, über ihn und seine Gedanken nachzudenken, seine Erinnerung und sein Vermächtnis am Leben zu erhalten, um seine Relevanz für unsere Zeit und für alle Zeiten anzuerkennen. Und hier sind wir und tun genau dies.
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2 Blinder Passagier Jean-Paul Sartre wurde am 21. Juni 1905 in Paris geboren. Wenn man an Sartre denkt, muss man ihn immer im Zusammenhang mit Paris denken. Für seine vielen Anhänger muss man Paris immer im Zusammenhang mit Sartre denken. Sartre war Pariser durch und durch. In der Pariser Innenstadt fühlte er sich zu Hause. Zwar verbrachte er nicht sein gesamtes Leben in Paris, aber es zog ihn immer dorthin zurück. „Jeder Mensch hat seinen natürlichen Standort; über die Höhenregionen entscheiden weder Stolz noch Wert: darüber bestimmt die Kindheit. Mein Standort ist ein sechster Stock in Paris mit Aussicht auf die Dächer“ (Die Wörter, S. 46). Er war der Sohn eines kleinwüchsigen, kränklichen Marineoffiziers namens Jean-Baptiste und eines hochgewachsenen, gebildeten, gelangweilten bürgerlichen Mädchens, Anne-Marie Schweitzer. Sie heirateten am 5. Mai 1904 in Paris und etwas über ein Jahr später kam das mit dem Spitznamen Poulou gerufene Baby zur Welt, von allen geliebt einschließlich seines Vaters, der schwer enttäuscht war, der Geburt nicht beiwohnen zu können. Er war in der Nähe von Kreta stationiert und an eine Laufbahn gebunden, die ihn nicht länger interessierte oder die zu gehen er nicht mehr die Kraft hatte, und litt an Enterokolitis, einer Entzündung der Darmschleimhaut, wie auch an Tuberkulose. Im November 1905 wurde Jean-Baptiste zur Genesung und Erholung zu Frau und Kind nach Hause geschickt. Er hatte immer wieder große Freude an dem gesunden, lachenden Baby, aber seine Freude konnte seine Gesundheit nicht wiederherstellen. Er verlängerte seinen Krankenstand mehrmals, währenddessen er nur seinen halben Sold bezog, und beschloss im Mai 1906, mit Kind und Kegel in seine Heimatstadt Thiviers im südwestfranzösischen Aquitanien zu ziehen. 13
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Jeder sagte ihm, dass die frische Landluft ihm guttun würde. Sie tat es nicht. Seine Familie kam und half ihm dabei, sich um das Kind zu kümmern und es zu pflegen. Doch in diesem heißen und schwierigen Sommer musste Jean-Baptiste der finsteren Wahrheit ins Auge sehen. Am Abend des 17. September 1906 verstarb er. Als Sartre senior verstarb, war Sartre junior kaum fünfzehn Monate alt. Demnach kann es kaum überraschen, dass Sartre keine unmittelbare Erinnerung an seinen Vater hatte. „Jean-Baptiste [hatte mir] die Freude verwehrt, ihn kennen zu lernen. Noch heute wundere ich mich darüber, daß ich so wenig über ihn weiß“ (Die Wörter, S. 15). Da er seinen Vater nicht kannte, hielt er daran fest, dass sein Vater keinen positiven Einfluss auf ihn ausgeübt hatte, obwohl er äußerlich fast sein Doppelgänger war. Vielmehr fand Sartre, dass sein eigener Vater er selbst sei. Sartre setzte sich tief damit auseinander, was einen Menschen ausmacht, und seine Autobiographie Die Wörter ist eine Übung in existentialistischer Psychoanalyse, die zeigt, wie das Kind der Vater des erwachsenen Menschen ist. Sartre interessierte sich nicht sehr für seinen Vater, dessen Familie oder Heimatstadt Thiviers. Er erhielt einst einen Familienstammbaum, den er kaum ansah, bevor er ihn in die Mülltonne warf, wie um zu sagen: „Es geht nicht darum, wo du herkommst, es geht darum, wo du stehst.“ Er hatte interessantere und wichtigere Dinge zu lesen und zu schreiben. Er konnte seinen Charakter ohne einen Druck ausübenden Vater ausbilden und betrachtete seinen Vater aus einer freudianischen Pers pektive. Anders als die meisten Jungen, wie etwa Gustave Flaubert, blieb Sartre die Last der väterlichen Erwartungen erspart. So hatte er die Freiheit, eine intimere Beziehung auf Augenhöhe zu seiner Mutter zu entwickeln. Er war froh, keinen Vater gehabt zu haben, und schwer betrübt, als seine Mutter 1917 wieder heiratete. Mutter und Sohn standen sich nahe, fast wie Bruder und Schwester. Sartre machte nie ein Geheimnis aus der tiefen und treuen Verehrung seiner Mutter, auch wenn er sie, wie es den meisten Jungen mit ihren Müttern geht, als etwas Selbstverständliches betrachtete. Dafür zeigte er sich in ihren späteren Jahren erkenntlich. 14
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Die junge Witwe lebte mit der Familie ihres verstorbenen Ehemannes in der französischen Provinz, ohne etwas zu haben, das sie festhielt. Thiviers erinnerte sie bloß an Jean-Baptistes Leiden. Unmittelbar nach der Beerdigung am 21. September 1906 nahm AnneMarie eine Kutsche nach Limoges und von dort aus einen Zug nach Paris. Ihr Ziel war ihr elterliches Haus in Meudon in den Pariser Vororten. Die Schweitzers stammten aus Elsass-Lothringen. Sie waren über viele Generationen eine wohlhabende und respektable Dynastie von Lehrern, ausgenommen Sartres Urgroßvater Philippe-Chrétien. Er wurde Kaufmann und, nachdem er sich in Deutschland niedergelassen hatte, von 1875–1886 Bürgermeister von Pfaffenhofen. Unter Philippe-Chrétiens fünf Kindern waren Sartres Großvater Charles sowie der fromme Louis. Er wurde Pfarrer und war Vater des berühmten Theologen und Missionars Albert Schweitzer, der 1952 den Friedensnobelpreis gewann. Sartre nannte den 1875 geborenen Albert aufgrund des großen Altersunterschiedes „Onkel“, obwohl sie Cousins waren. Charles nahm die alte Familientradition wieder auf und wurde Lehrer. Nach dem preußisch-französischen Krieg nahm er 1972 die französische Staatsbürgerschaft an. Während seiner Zeit als Lehrer in Macon heiratete er Louise Guillemin und siedelte später nach Paris über. Das Zimmer, das Sartre und seine Mutter im väterlichen Hause bewohnten, wurde etwas herablassend „das Kinderzimmer“ genannt. Obwohl ihre Eltern sie pflichtgemäß wieder aufnahmen, nachdem sie ihren Mann verloren hatte, konnten sie ihr niemals völlig verzeihen, einen Mann geheiratet zu haben, der so unanständig war, früh zu sterben. „[N]atürlich ist in einer Familie eine Witwe immer noch lieber gesehen als eine uneheliche Mutter, aber das ist auch alles“ (Die Wörter, S. 13). Anne-Marie wurde als Kind und Bedienstete behandelt und nahm ihre Rolle, ohne zu klagen, an. Doch obwohl sie wenig respektvoll behandelt wurde, wurde ihr Sohn, zumindest von seinem Großvater, geliebt und verwöhnt. Sartres Großmutter Louise zeigte 15
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sich gegenüber den Ambitionen ihres Enkels ungewöhnlich unbeeindruckt und reserviert. Doch auch sie war schwer besorgt, als im Jahre 1909 der vierjährige Junge neunzig Prozent seines rechten Augenlichts verlor. Eine am Strand zugezogene Erkältung führte zu einer Augeninfektion, die ihrerseits eine Linsentrübung nach sich zog. So kam Sartre zu seinem oft karikierten schielenden Auge. Doch dieses Leid trübte seine Kindheit keineswegs, stattdessen wurde er deshalb noch mehr verhätschelt als bis dahin. Doch er war nicht all den Erwachsenen wohlgesonnen, die ihn so verwöhnten. Sartre erforscht mit viel Einsicht und Humor das komplizierte Verhältnis zu seinem Großvater. Er nahm großen Anstoß an Charles’ Verhalten gegenüber seiner Mutter und es gibt keinerlei Anzeichen für eine echte Zuneigung zu diesem steifen, respektablen, dünkelhaften, herrischen Angehörigen der protestantischen Bourgeoisie, der zwar gebildet, aber engstirnig war, der Bücher liebte, aber Schriftsteller verachtete, der behauptete, die Armen zu lieben, aber sie nicht unter seinem Dach duldete. Scharfsinnig berichtet Sartre, wie Charles in zunehmendem Alter versuchte, das Kind als Himmelsgeschenk, als Beweis für das Erhabene und als Trost in seiner Todesangst zu betrachten. Die gesamte Familie bemerkte, dass der junge Poulou mit seinen vollen blonden Locken dem alten Mann den Kopf verdreht hatte. Sartre gibt offen zu, dass Charles die Person war, die den größten Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung ausgeübt hatte. Er kümmerte sich um die akademische und moralische Ausbildung seines Enkels und erlaubte ihm uneingeschränkten Zutritt zu seiner ausgedehnten, wenn auch konservativen Bibliothek. Diese Bibliothek wurde zu Sartres Spielplatz. „Ich habe mein Leben begonnen, wie ich es zweifelsohne beenden werde: inmitten von Büchern“ (Die Wörter, S. 31). Erfüllt von dem Wunsch, die Mysterien der staubigen Bände in der Bibliothek seines Großvaters zu erschließen, brachte er sich selbst bald das Lesen bei und begann sofort damit, Wörter zu erforschen wie andere Kinder Wälder; die Gedanken darin waren für ihn 16
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wirklicher als die Dinge um ihn herum. Da er aufgrund seiner unerträglichen Frühreife und angeblich anfälligen Gesundheit wenige echte Freunde hatte, wurden große tote Schriftsteller seine Spielgefährten. Er verschmolz sie mit ihren Werken: Corneille hatte einen Lederrücken und roch nach Kleber, während Flaubert klein und in Leinen gebunden war. Die beiden Teile von Die Wörter heißen „Lesen“ und „Schreiben“. Sartre erzählt darin, wie sein jüngeres Selbst den Sprung von Ersterem zu Letzterem machte. Wie andere „gewöhnliche“ Kinder las er neben den Klassikern auch Comics und Abenteuergeschichten, die seine ersten Schreibversuche inspirierten. Seine frühen Romane waren kitschige Erzählungen von Weltreisen mit Helden und Bösewichten und erfundenen Handlungen, die er einfach niederschrieb, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Seine Mutter liebte sie und schrieb sie ab, dennoch sind die meisten von ihnen inzwischen verloren gegangen. Charles verurteilte diese Schreibversuche und las sie nur, um die Rechtschreibung zu korrigieren. Sartre sagt, dass ihn nicht das faszinierte, was er geschrieben hatte, sondern der Schreibprozess selbst, der ihm erlaubte, Helden zu erschaffen und sich selbst, den Autor, als Helden. Er war tief beeindruckt von der Wertschätzung, die Schriftstellern zuteilwurde (von allen außer seinem Großvater), der Dankbarkeit, die sie erweckten, und der Unsterblichkeit und Allgegenwärtigkeit, die sie erreichten. „Im Alter von 8 Jahren […] stürzte ich mich in ein einfaches und wahnsinniges Unternehmen, das den Lauf meines Lebens veränderte: Ich übertrug auf den Schriftsteller die geheiligten Kräfte des Helden“ (Die Wörter, S. 127). Er erzählt davon, wie begeistert er von den Berichten von Charles Dickens’ Ankunft in New York war. Beim Einlaufen seines Schiffes hatte sich am Hafen eine erwartungsvolle, mit Hüten winkende Menschenmenge versammelt. „[D]amit sie so wahnsinnig gefeiert werden, müssen Schriftsteller die schlimmsten Gefahren bestehen und der Menschheit die gewaltigsten Dienste leisten“ (Die Wörter, S. 128). Sartres liebevolle Familie behandelte ihn wie etwas Höheres, wie ein Wesen, das zu Größerem bestimmt sei; doch das frühreife Kind 17
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konnte diese Überzeugung nicht teilen. Stattdessen kam er sich unbestimmt und unbedeutend, ziellos, ja sogar überflüssig vor. Sartre übertrug diese Empfindungen später auf die Hauptfigur seiner Kurzgeschichte Die Kindheit eines Chefs, Lucien Fleurier. „‚Was bin ich, ich …?‘ Da war dieses dichte, unentwirrbare. ‚Ich‘“ (Die Kindheit eines Chefs, S. 36). Sartre betrachtete sich selbst wie einen Zugreisenden ohne Fahrschein. Er reiste durch das Leben ohne Rechtfertigung für seine absurde Existenz und fürchtete sich vor einem Fahrkartenkontrolleur, der er selbst war. „Ich war ein Schwarzfahrer, war auf dem Sitz eingeschlafen und der Kontrolleur schüttelte mich. ‚Ihre Fahrkarte!‘ Ich war gezwungen, zuzugeben, dass ich keine hatte“ (Die Wörter, S. 84 f.). Als er erkannte, dass er keinen Fahrschein hatte, fragte er sich in ungewöhnlich frühem Alter, wie er seine Anwesenheit auf dem Zug des Lebens rechtfertigen solle. Eines der immer wiederkehrenden Themen in Sartres Philosophie ist, dass ein Mensch als für sich Seiendes nichts ist. Was immer ein Mensch sei, er muss entscheiden, es zu sein, er muss durch das eigene Handeln beständig danach streben zu sein, was er sein will, ohne es jemals und endgültig zu werden. Ein Stuhl zum Beispiel ist, was er ist, ein Seiendes an sich. Aber ein Mensch, ein Wesen für sich, kann nur danach trachten oder vorgeben, ein Bankier, Kellner, Schriftsteller und dergleichen zu sein. Die allgegenwärtige Möglichkeit einer alternativen Wahl seiner selbst hindert ihn daran, einfach ein Bankier, Kellner oder Schriftsteller zu sein – ein SchriftstellerDing. Im Alter von nur sieben Jahren wählte Sartre das Schreiben als seinen Fahrschein für das Leben und als seinen Grund zu sein. Seine Entscheidung, Schriftsteller zu sein, war seine fundamentale Entscheidung für sich selbst, eine Entscheidung, die all seine nachfolgenden Entscheidungen beeinflusste und sein gesamtes Leben und seine Persönlichkeit prägte. Durch Schreiben wurde ich geboren. Vorher gab es nur ein Spiel mit den Spiegelungen […] Indem ich schrieb, existierte ich und 18
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entschlüpfte den Erwachsenen, aber ich existierte bloß, um zu schreiben, und wenn ich das Wort Ich aussprach, so hieß das: Ich, der Schreibende. (Die Wörter, S. 116) In Die Wörter erklärt Sartre, dass es vor allem sein Verlangen nach heroischer Unsterblichkeit als Schriftsteller gepaart mit seiner kindlichen Ablehnung christlicher Vorstellungen von Erlösung und dem Leben nach dem Tod war, das sein Handeln hauptsächlich motivierte. Sartre begann von Kindheit an, sich selbst durch harte Arbeit und einen unbeirrbaren Glauben an sich selbst als Genie und großen Schriftsteller zu erschaffen. Dass er sich durch aktives Schreiben kontinuierlich zum Schriftsteller machte, erlaubte ihm, eine Illusion von Substanz und Bestimmung aufrechtzuerhalten, die die störenden Kindheitsgefühle der Ziellosigkeit und des Überflüssigseins fernhielten. Er erhielt durch seinen Eifer diese große Illusion so gut aufrecht, glaubte so stark an seine Berufung und an seine Fähigkeit, seine Bestimmung erfüllen zu können, dass er als junger Mann, anders als seine Freunde, keinerlei Ängste vor einem verfrühten Tod hatte: „[I]ch hatte mich nur gegen einen plötzlichen Todesfall abgesichert, das war alles; der Heilige Geist hatte bei mir ein umfangreiches Werk bestellt, folglich mußte er mir die Zeit lassen, es zu vollenden“ (Die Wörter, S. 50). 1911 zog die Familie von Meudon in die Rue Le Goff in der Pariser Innenstadt um, in die Nähe des Jardin du Luxembourg und der Sorbonne. Charles hatte ein Institut für moderne Sprachen gegründet, um seinen Ruhestand finanzieren zu können. Er widmete einen Großteil seiner Zeit der Ausbildung seines verzogenen, aber äußerst begabten Enkels. Es bereitete ihm Freude, seinen Protegé zu unterrichten, und er schob ihm so viele Gedanken aus dem 19. Jahrhundert unter, dass Sartre später scherzte: „Ich begann meine Laufbahn mit einem Handikap von achtzig Jahren“ (Die Wörter, S. 48).
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3 Exil Als Sartre 1915 zehnjährig in das Lycée Henri IV in der Nähe der elterlichen Wohnung aufgenommen wurde, hatte er kaum öffentliche Schulbildung genossen. Dieser Schritt war noch kein jähes Erwachen für den bücherliebenden, verhätschelten und von sich selbst eingenommenen Jungen, aber es sollte bald folgen. 1917 heiratete AnneMarie den Sartre verhassten Joseph Mancy und erschütterte damit das Märchenland ihres Sohnes. Für Anne-Marie bedeutete dies, sich endlich nicht mehr als erwachsene Frau im eigenen Elternhaus respektlos behandeln lassen zu müssen und sich von gewissen rechtlichen Ansprüchen der Großeltern über den Enkel zu befreien. Mancy, der ein betont sachlicher, oberflächlicher, engstirniger Wissenschaftler aus der Bourgeoisie war, brachte ihr finanzielle Sicherheit sowie den Status und die relative Unabhängigkeit einer verheirateten Frau. Für Sartre bedeutete die neue Situation einen täglichen Wettbewerb um die Zuneigung der Mutter, Unterordnung gegenüber einem praktisch veranlagten Mann, der kein Verständnis für den Unsinn des Jungen hatte, einen Umzug nach La Rochelle, eine Hafenstadt im Golf von Biskaya, und, was das Schlimmste war, eine neue, entmutigende Schule. Er war zwölf Jahre alt und gerade dabei, ein Teenager zu werden. Seine idyllische Kindheit – die er in Die Wörter behandelte – war endgültig zu Ende. Die Zeit war gekommen, da er die wahre Welt kennenlernen sollte. Die Zeit war gekommen, schnell erwachsen zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war Sartres Für-andere-Sein – ein Konzept, das später eine zentrale Rolle in seiner Philosophie spielen sollte – fast ausschließlich positiv gewesen. Für andere zu existieren hatte bisher bedeutet, für Erwachsene zu existieren, die ihn abgöttisch liebten. Später behauptete er, dass das Wesen aller zwischenmenschlichen Beziehungen der Konflikt sei, was in seinem vielleicht 20
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berühmtesten Ausspruch kulminierte: „Die Hölle, das sind die anderen!“ (Bei geschlossenen Türen (bekannt als Geschlossene Gesellschaft), S. 97). Seine ersten wahren Konflikte, seine erste echte Begegnung mit dem Dämon „der Andere“ ereigneten sich im öffentlichen Schule in La Rochelle und waren ganz anders als die Konflikte in seinen Comicheften und die komischen Bösewichte, die er bisher gekannt hatte. Die Jungen in La Rochelle waren außergewöhnlich aggressiv und voller Hass gegen die Deutschen, weil sie ihnen im Weltkrieg ihre Väter genommen hatten. Sie waren leicht reizbar und der wichtigtuerische Poulou mit seiner klugscheißerischen Art war ein leichtes Ziel. Als Biograph ist man schnell versucht, an dieser Stelle zu behaupten, dass Sartre gnadenlos gemobbt wurde, und daraus eine der wesentlichen Antriebskräfte zu machen, die seinen Charakter prägten. Wir wollen hier aber nur festhalten, dass er lediglich seinen Teil an Gemeinheiten und Geringschätzung erhielt, den diese zornigen, unerzogenen und provinziellen Klassenkameraden so bereitwillig in alle Richtungen verteilten. Er wurde nicht mehr gemobbt als viele Kinder, die ein großes soziales Umfeld geistig gesund überstehen. Und wir wollen ihn selbst ein bisschen necken und sagen, dass es ihm auf gewisse Art guttat, ein bitter nötiges und lange überfälliges Gegenmittel gegen seinen Narzissmus verabreicht zu bekommen. Eine Zeitlang erkaufte er den oberflächlichen guten Willen seiner Klassenkameraden mit teuren Schokoladen, das dafür nötige Geld stahl er von Anne-Marie. Er wurde bald erwischt und musste folglich zum ersten Mal in seinem Leben, zusätzlich zum gedankenlosen Hohn seiner Mitschüler, die Verachtung seiner Familie ertragen. Er erfand große Geschichten über sich selbst, um seine Mitschüler zu beeindrucken, aber dies handelte ihm bloß den Ruf eines Aufschneiders ein. Das Einzige, womit er ein wenig zähneknirschenden Respekt von seinen Mitschülern gewinnen konnte, war seine Fähigkeit, seine Lehrer zu korrigieren, wenn ihnen kleine akademische Ungenauigkeiten unterliefen. Aber ein besserwisserisches Kind ist niemals beliebt bei anderen Kindern. 21
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Als aus den Monaten Jahre wurden, begann er, sich in sich zurückzuziehen. Er vermied es, Kräfte auf Dummköpfe zu verschwenden, und begann allmählich, seinen Mund zu halten, wenn es klug war. Er besorgte sich Ausweise für alle Bibliotheken der Stadt und konzentrierte sich auf sein Schreiben. Mit einem Wort, er begann zu schreiben. Er ertrug La Rochelle und Joseph Mancy, der ihm La Rochelle aufgebürdet hatte, bis er fünfzehn war und endlich von seinem Exil erlöst wurde. Im Herbst 1920 durfte er in seine geistige Heimat Paris zurückkehren, wo er seinen rechtmäßigen Platz unter der jungen intellektuellen Elite Frankreichs einnahm. In den nachfolgenden Jahren hatte er nie viel über La Rochelle zu sagen. Verständlicherweise hegte er keine große Liebe für den Ort. Dennoch ehrt die Stadt ihn bis zum heutigen Tage mit einer nach ihm benannten Avenue. Die von den Schatten des Krieges unberührte Hafenstadt La Rochelle diente ihm nicht nur als bitteres Mittel gegen seinen Narzissmus, sondern verschaffte ihm auch eine frühe Einsicht in die Sorgen der Welt. Als er nach Paris zurückkehrte, war er weniger selbstbesessen, aber auch selbstsicherer. Obwohl er nie ein Außenseiter gewesen war, hatte er einen Vorgeschmack davon kosten können, was es bedeutete, ein Außenseiter zu sein. Und er wusste, wie es sich anfühlte, Ungerechtigkeit durch andere zu erleiden. Ungerechtigkeit geschieht immer durch andere. Der Samen der Rebellion war gesät worden. Er hatte begonnen, die Bourgeoisie zu hassen, für ihn personifiziert in Mancy. Er h asste ihre selbstgefällige Engstirnigkeit und ihren Mangel an Vorstellungskraft, ihren Dünkel und den Glauben an ihre eigene Wichtigkeit. Dieser lange anhaltende Hass beeinflusste die Wahl seines Lebensstils und prägte später seine Philosophie. Annie Cohen-Solal schreibt dazu: „Alles in allem ging der deklassierte Niemandssohn, der avantgardistische jugendliche Bastard aus den Prüfungen des Krieges einigermaßen gestärkt hervor, um sich der neu beginnenden Ära zu stellen“ (Annie Cohen-Solal, Jean-Paul Sartre: 1905– 1980, S. 95). 22
4 Der Himmel auf Erden Es war zweifellos zuträglich für Sartres persönliche Entwicklung, dass er in Paris nicht zu seinen Großeltern zog. Er ging wieder ins Lycée Henri IV, diesmal jedoch als Internatsschüler, und besuchte seine Großeltern nur sonntagmorgens, nach dem Chor. Er erneuerte Freundschaften, die er im Alter von zwölf Jahren unterbrochen hatte, vor allem mit Paul Nizan. Sartre und Nizan galten mit ihren Streichen und satirischen, scharfsinnigen Kommentaren während ihrer Schul- und Universitätszeit als infernalisches Duo „Nitre und Sarzan“. Nizan, der es im Gegensatz zu Sartre eilig hatte, erwachsen zu werden, hatte bald zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Essays in Zeitschriften veröffentlicht und wurde zum Vorbild für dessen literarisches Schaffen. Im Henri IV lag der Schwerpunkt auf akademischem Wettbewerb und Erfolg und Sartre fühlte sich darin wie ein Fisch im Wasser. Seine Lektüre war nicht auf dem aktuellsten Stand – nicht genug Proust –, aber er holte schnell auf und konnte bald in Pausen über Swann reden wie über einen persönlichen Freund. Seine Intelligenz und sein Scharfsinn wurden nicht mehr verachtet, sondern bewundert und er baute sehr bald ein großes öffentliches Ansehen darauf auf. Er war sein eigenes Abbild, er war die Rollen, die er spielte. Es gab niemals etwas wie einen privaten Sartre als Gegenstück zu einem offiziellen. Sich völlig in die eigene Rolle zu werfen und das absolute In-der-Situation-Sein zu erkennen, das würde nun und für immer der Sartre-Weg sein, der authentische Weg, der Ungemach verhindert. Damals wie heute wimmelt es in der Gegend um den Boulevard Saint-Michel in der Nähe des Jardin du Luxembourg von Schulen und Universitäten, allen voran die weltberühmte Sorbonne. Diese Ansammlung von Bildungseinrichtungen fördert den Wettbewerb, Innovation, die Begegnung kluger Geister und die gegenseitige Ver23
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netzung. Sartre und seine Klassenkameraden waren buchstäblich von dem, was sie herausforderte und was sie werden wollten, in Stein gemeißelt umgeben. Der nächste Schritt, das Lycée Louis-le-Grand, lag nur einen Steinwurf vom Henri IV entfernt. Und die meritokratische École normale supérieure (ENS), eines der angesehensten Studienzentren Frankreichs für Philosophie und verwandte Fachrichtungen und Sartres ultimatives Ziel, war bloß einige Hundert Meter südlich gelegen. Die Prüfungen waren der Schlüssel zu diesen erhabenen Gebäuden und Sartre und seine kleine Spezialeinheit von Strebern drehten diese Schlüssel in ihrem Aufstieg auf der Pariser Ausbildungsleiter enthusiastisch einen nach dem anderen herum, um ihren Platz in der besten Bildungseinrichtung Frankreichs zu bekommen. Sartre las sehr viel, jedes avantgardistische Buch, das ihm in die Hände kam. In seiner Vorstellung war er bereits Nietzsches Übermensch, nur Nizan galt ihm als ebenbürtig. Er war bereits seit Jahren Romanautor, aber er wollte ein großer Romanautor werden, eine riesige Gestalt wie Dickens oder Proust. Im Louis-le-Grand studierte er beim kleinen, verkrüppelten und einflussreichen Professor Colonna d’Istria, der ihn mit der Lehre Henri Bergsons bekannt machte. Sartre las Bergsons Zeit und Freiheit für einen Aufsatz über die Dauer und war schnell begeistert. Er fand in Bergson eine beinahe perfekte Beschreibung seines eigenen Bewusstseins und der Art, wie er es erlebte. Er war fasziniert von Bergsons Unterscheidung zwischen der teilbaren wissenschaftlichen Zeit und dem das seelische Leben bestimmenden kontinuierlichen Zeitfluss im Bewusstsein. Bei seinem Studium Bergsons entwickelte Sartre zunächst seinen zentralen Gedanken der Zeitlichkeit: dass Zeit und Bewusstsein eng miteinander verwandt waren. Er verfeinerte sein Verständnis dieses Gedankens durch seine Beschäftigung mit Edmund Husserl und Martin Heidegger, die ihrerseits ebenfalls von Bergson beeinflusst waren, und setzte ihn schließlich in die Mitte seiner eigenen Geisteslehre. Sartres Eklektizismus und sein zielloser Dilettantismus endeten mit der Entdeckung Bergsons. Bergson inspirierte Sartre dazu, sich 24
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selbst in erster Linie als Philosoph zu betrachten. Er wusste sofort, dass er eine Affinität zur Philosophie hatte und dass er viel zu ihr beitragen könne. Wie viele andere große Geister in den Jahrhunderten fühlte er, dass nur das Studium der Philosophie seinen rastlosen Geist vollkommen in Beschlag nehmen, beschäftigen und herausfordern könne. Er gab jedoch nach der Entdeckung seiner Liebe für die Philosophie nicht seine frühere Aspiration auf, Schriftsteller zu werden. Er wurde vor die Wahl zwischen Philosophie und der Schriftstellerei gestellt und konnte auf keine von beiden verzichten. Also entschied er sich, in beiden zu überragen und sie miteinander zu vermischen wo möglich, sodass sie einander ergänzten. Er schrieb philosophische Werke mit reichhaltigen Beschreibungen aus dem wahren Leben, die sich streckenweise wie literarische Texte lesen. Und er verfasste wahrhaftig philosophische Kurzgeschichten, Romane und Dramen. Im Spätsommer 1924 schrieb Colonna d’Istria an Nizan und gratulierte seinen Philosophenfreunden zu ihrer Aufnahme in die ENS. Er war zuversichtlich, dass sie Teil einer Gruppe „neuer Philosophen“ werden würden, die glänzende Karrieren vor sich hatten und mit ihrem Intellekt ein neues Zeitalter prägen sollten. Er hatte nicht Unrecht. Im Jahre 1924 war die ENS ein schäbiges, schmutziges Gebäude und die Studenten waren schludrig und legten wenig Wert auf körperliche Hygiene. Ihre Geister dagegen waren hell und messerscharf und sie pflegten eine starke Arbeitsethik. Wie für Studenten üblich, wollten sie jedoch immer den Eindruck erwecken, als erreichten sie ihre Ziele ohne großen Arbeitsaufwand. „Dem Genie wird es im Schlaf gegeben.“ Nachdem Sartre sich in der schulischen Turnhalle große Muskeln zum Boxen und Ringen antrainiert hatte, wurde aus dem kleinen Sartre der zähe, kleine Sartre, der muskulöse Sartre, wenn nicht sogar der Waschbrettbauch-Sartre. Er hatte eine unbändige Energie und Charakterstärke. Er besaß die Fähigkeit, sich gnadenlos anzuspornen und Stunde um Stunde hart zu arbeiten, Woche für Wo25
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che. In diesem Vollgasmodus blieb er einige Jahrzehnte. Er war stolz und selbstbewusst. Zu seinem Freund Daniel Lagache sagte er einst: „Ich will der Mensch sein, der am meisten über alles Bescheid weiß“, und er meinte es ernst. Er verschlang mindestens ein halbes Dutzend Bücher pro Woche und betrachtete sie unter seinem eigenen Blickwinkel, seinen eigenen Theorien und Philosophien. Er arbeitete viel mehr als nötig für seine Scheine in Philosophiegeschichte, Allgemeiner Philosophie, Psychologie, Logik, Ethik und Soziologie. Für ihn waren sie alle dasselbe. Er begann seine Lehrer an Wissen zu übertreffen und bemerkte bald, dass sie ihm nicht länger das Wasser reichen konnten. Er musste seine Fragen deshalb direkt den großen Meistern stellen: Platon, Aristoteles, Descartes und Kant. Er durchpflügte ihre Werke nach einer Antwort. Nur Paul Nizan und Raymond Aron konnten mit ihm Schritt halten. Insbesondere Aron wurde zu seinem intellektuellen Sparringspartner, bis Simone de Beauvoir auf der Bildfläche erschien. Aron war nach de Beauvoir der bedeutendste persönliche philosophische Einfluss auf Sartres Leben. Sartre, Nizan und Aron verschrieben sich der mächtigen kartesianischen Methode des systematischen Zweifels, dem wissenschaftlichen Skeptizismus. Was nicht gewiss ist, muss verworfen werden, bis man etwas entdeckt oder formuliert, das der strengsten Überprüfung standhält. Obwohl das meiste von Sartres Geistesphilosophie der kartesianischen Position widersprach, verehrte er Descartes zeit seines Lebens und bezeichnete sich selbst stets als Postkartesianer. Sartre wurde eine beinahe legendäre Gestalt unter seinen Kommilitonen. Eine Legende in seiner eigenen Mittagspause. Er leistete bedeutende Beiträge für das Kabarett der ENS, das unter seinem Einfluss beißender und gemeiner wurde. Bei einer Aufführung, in der Sartre eine entscheidende Rolle spielte, saß sogar Edouard Herriot im Publikum, der dreimalige Premierminister der Dritten Französischen Republik, der ein Ehemaliger der ENS war. Sartre schrieb Sketche und Lieder, trug vor, sang, spielte Klavier – alles, um sich über das Establishment zu mokieren, insbesondere den Hochschulleiter Gustave Lanson. Ein falscher Bart und eine ge26
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fälschte Ehrenlegion verwandelten Sartre in ein perfektes Abbild Lansons. Sartre verachtete Lanson, der ein einflussreiches Buch über die Unterrichtsmethode der französischen Sprache verfasst und sich selbst zu deren Hüter ernannt hatte. Die anhaltende Verspottung Lansons warf ein derart schlechtes Licht auf das öffentliche Ansehen des politischen Urgesteins, dass er 1927 als Direktor zurücktreten musste. Sartre liebte es, sich über das Establishment lustig zu machen, es zu untergraben und ihm Streiche zu spielen, und er hatte, wie die meisten Studenten, linkspolitische Tendenzen entwickelt, ohne damals jedoch ernsthaft politisch zu werden. Er schloss sich verschiedenen politischen Bewegungen an, aber er weigerte sich, einer von ihnen zugeordnet zu werden. Er war und blieb immer zu sehr Freidenker, um lange an einer Parteilinie anzuhängen. Er ließ sich politisch immer nur durch das definieren, wogegen er war. Daher stammt auch sein turbulentes Verhältnis zum Parti communiste français (PCF) in seinen späteren Jahren. Er war oft ein „Reisegefährte“ des PCF, aber niemals ein vollwertiger, bekennender Anhänger. Nizan seinerseits wurde früh vollwertiges Mitglied des PCF. 1926 reiste er nach England, in den Nahen Osten und Nordafrika. Entsetzt von den Auswirkungen des europäischen Imperialismus kam er als ein völlig anderer Mensch zurück: ernsthafter, reifer und ein Anhänger des marxistischen Glaubens. Er betrachtete die Beschäftigungen in der ENS als die Possen privilegierter bürgerlicher Intellektueller, die auf Kosten der armen, unterdrückten Arbeiter die Zeit totschlugen. Nizan heiratete an Heiligabend 1927 Henriette Alphen und wurde bald dabei gesehen – oh Schreck aller existenziellen Schrecken! –, wie er einen Kinderwagen durch den Jardin du Luxembourg schob. Sartre und er blieben Freunde, aber das Nitre-Sarzanische duo infernale war Geschichte. Nachdem Nizan sich von ihm entfernt hatte, war Sartre bereit für eine neue zentrale Beziehung in seinem Leben.
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5 Castor Ende der 1920er-Jahre hatte Sartre bereits mehrere Affären mit Frauen gehabt. Die früheste war eine Kindheitsromanze mit seiner Cousine Annie Lannes, der Tochter seines Vaters Schwester, die bis in seine Jugendzeit hineindauerte. Sie verbrachten ihre Sommerferien gemeinsam in Thiviers und tauschten das restliche Jahr über Briefe und Geschenke aus. Sartre suchte sie in Paris auf, als sie dort für eine kurze Zeit studierte. Erzählungen zufolge war sie Sartres Gegenstück und terrorisierte ebenfalls ihre Lehrer mit ihrer Klugheit und Selbstsicherheit. Sie starb 1925 neunzehnjährig an Tuberkulose. Sartre benannte die Heldin seines ersten Romans Der Ekel nach ihr. Sartre ließ keine Gelegenheit aus – das Leben ist schließlich für die Lebendigen – und begann eine weitere Affäre ausgerechnet auf Annies Beerdigung, und zwar mit Simone Jollivet, der Tochter einer Schwester von Annies Vater. Sie war hochgewachsen, elegant, blauäugig und blond, ihr Vater Apotheker in Toulouse – und für Sartre die einzige Person auf der Beerdigung, die nicht provinziell und langweilig war. Sie war eine verruchte Toulouser Salonlöwin und wurde später Schauspielerin, Theaterschriftstellerin und die Geliebte des bekannten Schauspielers, Theaterdirektors und Regisseurs Charles Dullin. Ihre On-Off-Beziehung hielt drei Jahre und brachte einen umfassenden Briefwechsel hervor – wie fast alle seine persönlichen Beziehungen. Sartre war stolz, sie auf einem ENS-Ball an seinem Arm zu führen, bei dem sie ein gewagtes Kleid trug. Ihre mehr als bloß kokette Art schien ihm jedoch mehr Verdruss als Freude gebracht zu haben. Sie soll Sartre und Nizan einen aus ihrer Unterwäsche hergestellten Lampenschirm geschenkt haben, sehr zum Schrecken und zur Erregung der beiden Bücherwürmer. Nach Jollivet, vielleicht um sich über sie hinwegzutrösten, verlobte Sartre sich mit der Cousine eines Kommilitonen. Er sah sie kaum, da 28
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sie in Lyon lebte, und die Beziehung endete, als ihre Eltern ihm die Hand ihrer Tochter verweigerten. Sartre war über die Trennung kurze Zeit betrübt, aber danach erleichtert. Der Hauptgrund für die Ablehnung der Eltern war, dass Sartre durch seine Prüfungen gefallen war. Viele unglaubliche Dinge widerfuhren Sartre in seinem Leben, doch dass er 1928 durch seine Prüfungen fiel, ist eines der erwähnenswertesten. Sartre war von allen Menschen gewiss derjenige, der am unwahrscheinlichsten durch eine schriftliche Prüfung fallen konnte. Die Erklärung dafür war einfach und naheliegend. Seine Antworten waren derart verwegen und originell, dass sie die strengen Kriterien der Prüfung nicht erfüllten. Er schweifte von den gestellten Fragen ab. Wie viele brillanten Studenten vor und nach ihm verlief er sich gerne in seinen eigenen Gedankengängen. Seine gescheiterte Prüfung bedeutete, dass er sein Zimmer im ENS-Wohnheim in der Rue d’Ulm verlor und eines in der Cité Universitaire beziehen musste. Der Rückschlag schien ihn nicht groß gekümmert zu haben, aber er beschloss Arons Ratschlag anzunehmen, seine große Originalität erst einmal hintanzustellen, nach den Spielregeln zu spielen und sichere Antworten zu geben, die die strengen Prüfungskriterien erfüllten. Während er Lehrveranstaltungen an der Sorbonne besuchte und sich in der Bibliothèque Nationale herumtrieb, um für seine im Juni 1929 anstehenden Prüfungen zu lernen, bemerkte Sartre eine ernste junge Frau, die er seinen Freunden als hübsch und reizend, jedoch furchtbar gekleidet beschrieb. Simone de Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 in Paris geboren und war folglich zweieinhalb Jahre jünger als Sartre. Ihre kleinbürgerliche Familie hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg den größten Teil ihres Vermögens verloren und übernahm sich finanziell, um ihre Tochter in eine gute Klosterschule schicken zu können. Sie war ein tiefreligiöses Kind gewesen und hatte sogar erwogen, Nonne zu werden, bis eine Glaubenskrise zu Beginn ihrer Teenagerzeit sie für den Rest ihres Lebens zur Atheistin machte. Nachdem sie am Institut Catholique in Paris Mathematik und am ebenfalls in der Hauptstadt befindlichen Institut Sainte-Marie Lite29
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ratur und Sprachen studiert hatte, begann sie an der Sorbonne Philosophie zu studieren. Sie hörte auch Vorlesungen in der ENS, um sich auf die agrégation in Philosophie vorzubereiten, die dazu diente, eine Rangliste der hellsten Studenten Frankreichs aufzustellen – eine Reihe zäher Prüfungen, über deren erste Hürde sogar Sartre gestolpert war. De Beauvoir nahm ein Jahr früher als erforderlich daran teil. Die Sorbonne hatte erst kürzlich Frauen zugelassen und de Beauvoir war erst die neunte Frau, die dort einen Abschluss erreichte. Die Zeiten änderten sich und sie half später mehr als die meisten anderen Frauen des Jahrhunderts nach, dass sie sich auch weiterhin änderten. Sie und Sartre bewegten sich in denselben Kreisen, waren beide außerordentlich an Philosophie interessiert und hatten gehört, wie gescheit der jeweils andere war. So war es unvermeidlich, dass sie einander irgendwann begegneten. Sartres Freund René Maheu (alias André Herbaud) kannte sie bereits und gab ihr den Spitznamen Castor – das französische Wort für „Bieber“. Der Spitzname hielt sich und Sartre nannte sie zeit seines Lebens mit diesem Kosenamen. Wie de Beauvoir im ersten Band ihrer ausführlichen und brillanten Autobiographie Memoiren einer Tochter aus gutem Hause berichtet, „wollte Sartre gern meine Bekanntschaft machen; er schlug mir eine Begegnung am folgenden Abend vor“ (Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, S. 318). Von Nizan unterstützt, schlug Sartre Maheu vor, ein Treffen zu organisieren; er wiederum lud de Beauvoir ein, Sartres kleine Gang kennenzulernen. Maheu konnte an dem Treffen nicht teilnehmen. Und da er nicht wollte, dass Sartre in seiner Abwesenheit de Beauvoir an sich riss, überredete er sie dazu, stattdessen ihre Schwester Hélène (alias Poupette) zu schicken. Poupette kam zur Verabredung und entschuldigte ihre Schwester, die kurzfristig aufs Land habe verreisen müssen. Poupette und Sartre verbrachten einen angenehmen Abend miteinander, aber das Gespräch geriet ins Stocken – das einzige Mal in Sartres Leben, dass ihm so etwas passierte. Poupette berichtete, dass Sartre nicht so außergewöhnlich sei, wie Maheu ihn dargestellt hatte. 30
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De Beauvoir zufolge begegnete sie Sartre erstmals, als Maheu sie einlud, in Sartres ekligem Zimmer voller Bücher und Zigaretten im Cité Universitaire Philosophie zu lernen. Die Genossen zählten auf ihre Hilfe bei Leibniz. „Ich war etwas aufgeregt, als ich Sartres Zimmer betrat; ich fand außer einem riesen Durcheinander von Büchern und Papieren überall umherliegende Zigarettenstummel und dicken Rauch vor. Sartre empfing mich als Weltmann; er rauchte Pfeife“ (Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, S. 321). Bei ihrer ersten Begegnung sprachen sie über Metaphysik. Sie war nervös, er enthusiastisch. Sie wurde zutraulicher, als sie begannen, einander besser kennenzulernen. Sartres kleine Gang war sich zwar einig, dass sie sich schrecklich kleidete, aber in Bezug auf den Intellekt war sie mit Sicherheit eine der Ihren. Einigen Stimmen aus ihren damaligen Kreisen zufolge überromantisiert de Beauvoir die ersten Begegnungen zwischen ihr und Sartre, um den Eindruck der Liebe auf den ersten Blick zu vermitteln. „Sartre entsprach genau dem, was ich mir mit fünfzehn Jahren gewünscht und verheißen hatte: er war der Doppelgänger, in dem ich in einer Art von Verklärung alles wiederfand, wovon ich auch selber besessen war“ (Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, S. 331). Die junge de Beauvoir liebte es, sich selbst wie Maggie Tulliver aus George Eliots Roman Die Mühle am Floss als sozial benachteiligte Heldin zu fühlen, die verzweifelt nach einem intellektuell und emotional anregenderen Leben dürstete. Hatte de Beauvoir diese ersten Begegnungen wirklich so in Erinnerung oder nahm sie sich hier ein wenig zu viel künstlerische Freiheit heraus? Sicher ist, dass zwischen Sartre und de Beauvoir sich Leben und Literatur oft miteinander vermischten, nicht zuletzt weil sie beide sich darauf verstanden, ihr Leben in Literatur zu verwandeln. Ihre Biographen versuchen oft dasselbe, wenn sie über sie schreiben. Es ist unvermeidlich. Um es mit Sartres Worten oder denjenigen seines Alter Ego Antoine Roquentin zu sagen: „Und ich dachte so: Um das banalste Ereignis zu einem Abenteuer werden zu lassen, ist es erforderlich und ausreichend, es zu erzählen“ (Der Ekel, S. 46). 31
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Was auf jeden Fall außer Zweifel steht, ist, dass im Jahr 1929 eine der berühmtesten, andauerndsten und intellektuell fruchtbarsten Beziehungen der Geschichte ihren Anfang nahm: Sokrates und Platon, Boswell und Johnson, Simon und Garfunkel, Bill und Hillary, Sartre und de Beauvoir. Legendäre Begegnungen des Geistes. Nachdem Sartre beschlossen hatte, nach den Regeln zu spielen, waren die Ergebnisse der Prüfungen im Juni keine Überraschung: Sartre war Erster von 26 Kandidaten, de Beauvoir Zweite. Es war eine sehr enge Kiste, bei der die Jury lange debattiert hatte, wer Erster sein sollte. De Beauvoir war der jüngste Prüfungsteilnehmer und Sartres Ruf war durch seinen blendenden Vortrag „Psychologie und Logik“ deutlich gestiegen. Vielleicht hatte die Jury das Gefühl, ihn entschädigen zu müssen, nachdem sie ihn das erste Mal hatte durchfallen lassen, und de Beauvoir hätte eigentlich Erste sein müssen. Vermutlich werden wir es nie erfahren. An dieser Stelle versteigen sich einige uninformierte Kommentatoren in eine Debatte darüber, wer von den beiden tatsächlich der größere Denker war – hauptsächlich solche, deren philosophische Kenntnisse von ihrem Wunsch, Skandale entdecken zu wollen, wo es keine gibt, weit übertroffen werden. Derartige Urteile basieren größtenteils auf bizarren, sehr gewollten Lesarten einzelner Textabschnitte und behaupten etwa, dass Sartre all seine Gedanken von de Beauvoir hatte und sie als seine eigenen ausgab oder dass de Beauvoir all ihre Gedanken von Sartre hatte und sie als ihre eigenen ausgab. Derartige Aussagen beruhen auf gewissen Vorurteilen darüber, wie eine Beziehung zwischen einem Philosophen und einer Philosophin zu sein habe; oder sie sind einfach das Ergebnis der Faulheit, sich die Feinheiten einer sehr außergewöhnlichen intellektuellen Vereinigung und funktionierenden Beziehung begreiflich zu machen. Die beste Art, derartigen Unfug zu widerlegen und das intellektuelle Verhältnis zwischen de Beauvoir und Sartre wirklich zu verstehen, liegt darin, es in seinem historischen Kontext zu betrachten. De Beauvoir und Sartre nahmen dieselbe philosophische Tradition auf, zur selben Zeit und am selben Ort, zu einer Zeit großer sozialer 32
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und politischer Veränderungen zwischen zwei Weltkriegen. Seit ihrer ersten Begegnung teilten und entwickelten sie die Gedanken Descartes’, Kants, Hegels, Marx’, Freuds und anderer weiter, die sie als Studenten studiert hatten, glichen diese Gedanken mit ihrer gemeinsamen Lebensrealität ab und wandten sie auf ihre eigene Welt an, um sie zu erklären. Derartige Gedankenspielereien scheinen in Bezug auf de Beauvoir und Sartre abwegig und doch geben einige Kommentatoren sich derartigen müßigen Spekulationen hin. Gerade weil sie beide so unabhängige Denker waren, zögerten sie niemals, ihre Gedanken und Meinungen miteinander auszutauschen. Es fand eine ständige Interaktion und schrittweise Verfeinerung der Gedanken zwischen ihnen statt. Jeder einzelne der beiden Philosophen war beständig die Hebamme der Ideen des anderen und beeinflusste infolgedessen die philosophischen Gedanken sowie die persönlichen und politischen Wertvorstellungen des anderen. Selbstverständlich waren sie nicht immer derselben Meinung. Sie waren sogar oft verschiedener Meinung und stritten mit Leidenschaft. Aber diese Meinungsverschiedenheiten fanden immer in einer respektvollen, letzten Endes konstruktiven Debatte statt, in der These und Antithese durchdiskutiert wurden, um zu einer konstruktiven Synthese zu gelangen, die ihren Platz innerhalb des existentialistischen und später marxistischen und feministischen Denkens finden konnte. Sartre und de Beauvoir wären wohl die Ersten, die der Aussage zustimmen würden, absolut ebenbürtig zu sein. Oder wenn es zunächst nicht zutraf, da Sartre etwas älter war, würden sie es zumindest bald werden. De Beauvoir berichtet in ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, dass Sartre bei ihrer ersten Begegnung mehr über Philosophie wusste als sie und sie in einer Diskussion in Grund und Boden argumentiert hätte. Er war bei Weitem die intelligenteste Person, der sie je begegnet war: der einzige Mensch, den sie jemals kannte, den sie nicht weniger intelligent als sich selbst fand. Diese absolute Ebenbürtigkeit ihrer großen Intellekte war die wichtigste Basis ihrer großen und andauernden Liebe füreinander. 33
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Zweifellos wäre Sartres philosophischer Beitrag ohne ihren Einfluss ein anderer und hätte einen geringeren Eindruck hinterlassen. Aber andersherum ist es zweifellos genauso zutreffend. Nachdem die Prüfungen endlich bestanden waren, ließen sie es eine Weile ruhig angehen, zumindest für ihre Verhältnisse. Sie freuten sich an der Gesellschaft des anderen, zogen durch Paris und diskutierten unablässig über Philosophie, Psychologie und Literatur. De Beauvoir ließ sich sogar so sehr gehen, zumindest für ihre Verhältnisse, dass Sartre scherzte, dass sie nun nur noch Hausfrau werden wolle. Sie wussten, dass ihre Ruhe nicht lange dauern konnte, die Freiheit ihrer studentischen Tage vorbei war und nun die Verantwortung der Erwachsenenwelt lauerte. Sartre musste seinen Wehrdienst leisten und hatte sich für die Zeit danach bereits für einen Lehrauftrag in Japan beworben. Er wollte vermeiden, irgendwo in der französischen Provinz als Schullehrer enden zu müssen. De Beauvoir hätte sich auch als Lehrerin in der französischen Provinz beworben, aber sie beschloss, die Entscheidung zu verschieben und in Paris zu bleiben, während Sartre bei der Armee war. Im Wissen, dass sie bald für lange Zeit getrennt sein würden, trafen sie ein sehr modernes Arrangement für ihre Beziehung. Sie wollten versuchen, einander so oft wie möglich zu sehen und ihre Beziehung als „notwendige Liebe“ aufzufassen. Aber sie würden beide auch für „kontingente Liebe“ offen bleiben: Beziehungen mit anderen Menschen. Alles andere als ein Bekenntnis zur Polygamie wäre ein Affront gegen die Freiheit gewesen, die sie so wertschätzten. Rückblickend gestand Sartre, dass dieses Beharren auf seinem Recht, mehrere Frauen zu haben, etwas lächerlich war, da Frauen ihm damals nicht besonders zugetan waren. Obwohl dieses Arrangement Ursache vieler Sorgen und Strapazen war, leistete es ihnen jahrzehntelang gute Dienste, bis Sartres Tod im Jahre 1980 ihrem „Bund treuer Herzen“ (Shakespeare, Sonett 116) ein Ende setzte. Sie dachten nur ein einziges Mal darüber nach, tatsächlich zu heiraten – recht früh in ihrer Beziehung aus praktischen Gründen: Verheiratete Paare hatten Anspruch darauf, als Leh34
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rer an derselben Schule angestellt zu werden. Doch sie lehnten die Ehe sogar als Lösung für praktische Probleme ab. Damit formulierten sie die wahrhaft existentialistische Sichtweise, dass der Ehestand bloß eine bürgerliche Institution sei, die versucht Menschen in einem intimen Bund aneinander zu ketten, der stattdessen jeden Tag erneuert werden müsse. Liebende sollten der falschen Sicherheit von Eheversprechen und materiellen Verstrickungen widerstehen und akzeptieren, dass ihre Liebe einzig und allein auf der Freiheit des anderen fußen kann. Auf diese Weise zu leben wird eine Quelle großer Angst sein, aber Angst ist der Preis der Freiheit. Der wahre Existentialist wird lieber Angst ertragen, anstatt auf unredliche Weise nur um des Seelenfriedens willen der eigenen Freiheit und der des Geliebten künstliche und erstickende Grenzen aufzuzwingen. Sartre begann seinen Wehrdienst in der Militärschule Saint-Cyr in der Nähe von Versailles, bevor er in eine Kaserne bei Tours verlegt wurde, etwa ein bis zwei Zugstunden von Paris und seiner geliebten Castor entfernt. Sie hatte begonnen, einen Roman zu schreiben, um sich in seiner Abwesenheit zu beschäftigen. Er wurde im Gebrauch meteorologischer Ausrüstung ausgebildet. De Beauvoir berichtet in In den besten Jahren, dem zweiten Band ihrer Autobiographie, dass er, als sie ihn das erste Mal besuchte, „sich nicht mit dem sturen Kommißgeist ab[fand] und auch nicht mit dem Verlust von achtzehn Monaten; er tobte“ (In den besten Jahren, S. 28). Sie waren beide Antimilitaristen. Er schien jedoch problemlos mit der militärischen Disziplin zurechtzukommen und gewöhnte sich bald daran. Stets klagte er über Langeweile, die er sich mit Schreiben vertrieb. Neun Jahre später würde er sich erneut in einer militärischen Uniform wiederfinden und meteorologische Ausrüstung aufstellen, aber diesmal würde es kein Training mehr sein. Während seines Militärdienstes erfuhr er, dass sein geplanter nächster Schritt, ein Lehrauftrag in Tokio, abgelehnt worden war. Eine Stelle als Schullehrer in der Provinz erwartete ihn nun, und am 1. März 1931 wurde er dem Lycée François Ier in Le Havre im Nord35
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westen Frankreichs zugeteilt, um einen Lehrer zu ersetzen, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Der Star der ENS, der so vielversprechende Leistungen gezeigt hatte, fand sich einmal mehr im Exil der Provinz wieder. Zu diesem Zeitpunkt war er 25 Jahre alt. Glücklicherweise waren es nur ein paar Monate bis zu den langen Sommerferien, von denen er und de Beauvoir den größten Teil auf einer Low-Budget-Rundreise durch Spanien zubrachten. Im Oktober desselben Jahres wurde ihr, 23-jährig, eine Stelle als Lehrerin im südöstlich gelegenen Marseille zugeteilt. Die Behörden hatten sie in entgegengesetzte Teile des Landes geschickt. Sie trafen sich in Paris, wann immer sie konnten, und erhielten in der Zwischenzeit ihre „notwendige Liebe“ mit einem schier endlosen Briefwechsel aufrecht. De Beauvoir liebte Marseille und machte dort als echte Existentialistin gewiss das Beste aus ihrer Zeit. In In den besten Jahren erzählt sie, wie das Licht, die Hitze und die Energie der Stadt sie beeindruckten, noch bevor sie den Bahnhof verlassen hatte. Zudem kam sie zu einem herrlichen Bewusstsein ihrer eigenen Freiheit. Niemals zuvor in ihrem Leben war sie so frei gewesen. „Bisher war ich ganz von anderen Menschen abhängig gewesen. Grenzen und Ziele waren mir gesteckt, und ein großes Glück war mir geschenkt worden. Hier existierte ich für niemanden“ (In den besten Jahren, S. 79). Wir lassen sie dort ihren Weg durch die helle Mittelmeersonne gehen und richten unseren Blick auf kältere und trübere Gegenden, in einen weit tristeren Hafen an der oft düsteren Nordwestküste Frankreichs.
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6 Le Havre Die Jahre in Le Havre waren ein bedeutsamer Abschnitt für die persönliche wie philosophische Entwicklung Sartres. Obwohl Verlage seine frühen Manuskripte ablehnten und der schnelle Erfolg, den er sich als Student naiverweise erhofft hatte, ausblieb, arbeitete er beständig an seinen Ideen und entwickelte sie weiter. Er war nicht länger der angeberische, Streiche spielende, von hellen, jungen Köpfen umgebene Student, sondern wurde ernsthafter und seine Selbstwahrnehmung ehrlicher. Die Atmosphäre in Le Havre durchdrang seine Stimmungen. Das Sonnenlicht der Küste und die Meeresbrise ließen die schmutzigen Slums, das schäbige Rotlichtviertel, die großen, finsteren, windverwehten Hafenanlagen und das elegante bürgerliche Wohnviertel über den Klippen mit seinen Villen, Gärten und Kirchen mit schmerzvoller Deutlichkeit und Schärfe hervortreten. Le Havre wurde Bouville, die Stadt, in der Sartres erstaunlicher erster Roman Der Ekel spielt. Die Gedanken, über denen Sartre während seiner einsamen Spaziergänge brütete, die ängstliche Erkenntnis, dass die Wirklichkeit unerbittlich und überwältigend ist, jedoch immer ungreifbar, nicht notwendig, kontingent und überflüssig, wurden Der Ekel, die erschreckende und widerliche ontologische Offenbarung, die im Kern des Romans steckt. Sartre skizzierte seine Gedanken über Kontingenz bereits 1926 während seiner Nietzsche-Studien. Er brütete während seines Wehrdienstes weiter über diesen Gedanken und nahm sie in Gestalt einer immer wachsenden Ansammlung von Notizen und Passagen mit nach Le Havre, die er sein „Faktum über Kontingenz“ nannte; „Faktum“ war ein Begriff, mit dem er und Nizan jegliche Form schonungsloser Analyse bezeichneten. Der Ekel spielt im Jahre 1932. Und tatsächlich hatte das „Faktum“ erst 1931 begonnen, die Gestalt dessen anzunehmen, was später der 37
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Roman werden sollte, den wir heute kennen. Die Arbeit daran begleitete Sartre sechs Jahre lang und brachte nicht weniger als drei unterschiedliche abgeschlossene Fassungen hervor, die er beständig überarbeitete und korrigierte, selbstverständlich immer unter dem gewissenhaften Auge de Beauvoirs. Er ließ seine Gedanken und Erfahrungen in seine Arbeit einfließen, während der er zugleich alles beiseiteschob, was ihm oder de Beauvoir als unnötig erschien. Das Ergebnis war ein äußerst polierter und ausgefeilter Text, Sartres vollkommenstes Erzählwerk, vermutlich sein größtes Werk überhaupt. Der Ekel ist ein stilistisches Meisterwerk, das eine nahtlose Verbindung von Erzählwerk und Philosophie darstellt: eine Tour de Force, die eine unverwechselbare und tiefe philosophische Vision voranbringt, ohne jemals zu verfehlen, ein reiner und tatsächlicher Roman zu sein. Es ist, wie viele Kommentatoren wie etwa Iris Murdoch angemerkt haben, ein seltenes Beispiel für einen wahrhaft philosophischen Roman. Es gibt kein überflüssiges Wort in Der Ekel. Folglich hat sogar seine deutsche Übersetzung den großartigen poetischen Klang, der an Hugo von Hofmannsthal erinnert. „Was für ein Buch ist Der Ekel?“, fragt Iris Murdoch in Sartre: Romantic Rationalist und schlussfolgert, dass „[e]s […] mehr wie ein Gedicht oder ein Zauberspruch [wirkt] als wie ein Roman“ (S. 19). Der gestrige Himmel, ja, der gefiel mir – ein enger, regenschwarzer Himmel, der sich an die Scheiben drückte wie ein lächerliches und rührendes Gesicht. Aber die heutige Sonne hat nichts Lächerliches, ganz im Gegenteil. Auf alles, was ich liebe, auf den Rost des Baugeländes, auf die verfaulten Zaunbretter, fällt ein sparsames, vernunftbegabtes Licht, dem Blick vergleichbar, den man nach einer schlaflosen Nacht auf die Entschlüsse wirft, die man tags zuvor begeistert gefaßt hatte – den man auf die Seiten wirft, die man ohne jede Verbesserung und auf einen einzigen Zug niedergeschrieben hatte. (Der Ekel, S. 20)
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Natürlich war Le Havre nicht gänzlich oder auch zum Großteil das tragische, romantische Leben des Philosophendichters, des einsamen Mannes, der aus der Tiefe seiner Isolation zur Welt sprechen wollte. Sartre war dort, um in der Schule zu unterrichten, um Woche für Woche in die Gesellschaft anderer Menschen forciert und ihren vielfältigen Erwartungen ausgesetzt zu werden, genötigt, einen regelmäßigen und anspruchsvollen Alltagsberuf auszuüben, den aufzugeben er sich nicht leisten konnte. Er stürzte sich darauf, wie er sich auf beinahe alles stürzte, mit großer Begeisterung. Er war freundlich und sachlich zu seinen Schülern, ermutigte sie dazu, selbständig zu denken und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Er inspirierte sie mit seiner eigenen Liebe zum Nachdenken und seine persönlichen Anmerkungen und Anekdoten machten seinen Logik-, Psychologie-, Ethik- und Metaphysikunterricht unterhaltsam und leichter zugänglich. Er war nur einige Jahre älter als die ältesten Schüler und schloss sich ihnen in den ersten Jahren an. Bei Picknicks am Strand sang er mit ihnen gemeinsam obszöne Lieder. Das aus heutiger Sicht Außergewöhnlichste war, dass er ihnen erlaubte, im Klassenraum zu rauchen. Er stand den Schülern sehr nahe, was bei der Schulbehörde Misstrauen erweckte, obwohl man zugeben musste, dass er eine große Fachkenntnis besaß und seine Schüler hervorragende Noten hatten. Er ließ die Bourgeoisie Le Havres sehr früh seine Verachtung für sie erkennen. Bei der jährlichen Preisverleihung, wo er als der jüngste Lehrer die Eröffnungsrede halten musste, verzichtete er auf höfliche Floskeln und sprach über die Köpfe der hochgeschnürten Eltern hinweg direkt zu seinen Schülern. Sein Thema war die neue, weitgehend abgelehnte Kunstform des Kinos. Noch skandalöser war, dass „der Anarchist“ – wie er von Gegnern wie Befürwortern gleichermaßen genannt wurde – sich vorsätzlich ein Zimmer im schäbigen Hotel Printania in den tiefer gelegenen Slums der Stadt genommen hatte, mit Aussicht auf das Elektrizitätswerk und den Rangierbahnhof. Er zog dies dem höheren, respektablen, bourgeoisen Stadtteil vor, wo man erwartete, dass ein Lehrer und ENS-Absolvent wohnen sollte. 39
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Er zehrte vom Treiben der unteren Stadt mit seinen Hafenanlagen, Bordellen, Bars und Cafés, als ob er selbst direkt an das unaufhörliche Rauschen des Elektrizitätswerkes angeschlossen wäre. Die Cafés wurden sein Büro und waren seitdem immer seine bevorzugten Arbeitszimmer. Das Leben der Cafés, das ständige Kommen und Gehen darin, das Klappern und Reden lenkten ihn nicht ab. Stattdessen trieben sie, gemeinsam mit der ständigen Anregung durch Kaffee, Bier, Zigaretten- und Pfeifentabak, seine ruhelose Schreiberei an. Wenn Sartre nicht gerade Schüler unterrichtete und an seinen Sachen schrieb, studierte er Literatur, deren Erträge er in Form monatlicher Lesungen in der Aula der Lyre Havraise vorstellte. Er war ernsthaft, aber entspannt und interagierte mit seinem literaturliebenden Publikum; er erforschte die Werke damals in Frankreich noch unbekannter Autoren wie Virginia Woolf, James Joyce, Aldous Huxley, John Dos Passos und William Faulkner. Seine Wahl an Schriftstellern reflektierte das tiefe Interesse, das er und de Beauvoir für die zeitgenössische englische, irische und amerikanische Literatur entwickelt hatten – und sie der französischen Gegenwartsliteratur häufig vorzogen. Seine eigenen belletristischen Werke wurden stark von den nichtlinearen Erzählsträngen und der Stream-of-Consciousness-Methode beeinflusst, die von diesen Autoren angewandt wurden. Viele ihrer Techniken waren neu und hochmodern, wie auch Sartres Analysen dieser Techniken. Diese Analysen bildeten das Fundament der von Kritikern gefeierten Literaturartikel, die er in La Nouvelle Revue Française gegen Ende der 1930er-Jahre publizierte. Um in Form zu bleiben, betrieb Sartre seinen eigenen Boxverein in der Turnhalle Charles Porta. Zu seinen Mitgliedern zählten Schüler und einige der „cooleren“ Lehrer – der Englischlehrer, der Sportlehrer: die üblichen Verdächtigen. Mit Sandsäcken und Seilspringen brachte er ihnen das Boxen bei. Das war Sartre: immer zum Kampf bereit. Sartre unterrichtete im Lycée François Ier immer im selben Klassenraum, dem Philosophiezimmer, ein bisschen abseits der anderen 40
Le Havre
Klassenzimmer, wie es bei Philosophiezimmern oft der Fall ist, um zu vermeiden, dass das freie Denken die konventionelleren Schüler anstecken könnte. Nach seinem Tod ehrte Le Havre ihn und benannte die Straße vor seinem Philosophiezimmer Rue Jean-Paul Sartre. So machte eine weitere Provinzstadt, die ihn für eine Weile beherbergte, seinen Namen unsterblich, indem sie ihn mit ihrer Infrastruktur vermählte. Anders als La Rochelle „gefiel es [Sartre] in Le Havre ganz gut“ (In den besten Jahren, S. 105). Andererseits waren es ganz unterschiedliche Zeiten, die er in den grundsätzlich nicht sehr voneinander verschiedenen Städten verbrachte.
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7 Aprikosencocktails Der größte Vorteil des Lehrerdaseins sind zweifellos die Ferien. Im Juni 1932, während seine Schüler für ihre Prüfungen lernten, verbrachte Sartre zehn wundervolle Tage in Marseille. Er genoss die Sonne und de Beauvoir brachte ihn an alle Orte, die sie in der Zwischenzeit lieben gelernt hatte, sodass er sie auch lieben lernen könne. Kurz darauf unternahmen sie eine zweite Reise nach Spanien, um die Orte zu besuchen, die sie im vorigen Jahr hatten auslassen müssen. Sie reisten gerne und hatten die vage Vorstellung, bald jeden Winkel der Welt sehen zu wollen. Ab diesem Zeitpunkt waren gemeinsame Reisen ein wesentlicher Teil ihrer Beziehung. De Beauvoir kehrte zum Ende des Sommers nicht wieder nach Marseille zurück. Sosehr sie die Stadt liebte, sie gehörte in den Norden und freute sich sehr darüber, eine Stelle als Lehrerin in Rouen zugeteilt zu bekommen, das etwa auf halber Strecke zwischen den zwei Polen ihres Lebens lag: Sartre und Paris. Sartres ehemalige Schüler in Le Havre erinnerten sich in Interviews mit seiner führenden Biographin Annie Cohen-Solal sehr lebhaft daran, wie er oft nach der letzten Unterrichtsstunde davonstürzte, um den Zug nach Rouen zu bekommen und seine geheimnisvolle Frau zu besuchen. Der Zug von Le Havre nach Rouen fuhr weiter nach Paris; dies erleichterte es ihnen deutlich, gemeinsam in ihre Lieblingsstadt zu reisen, was sie auch oft taten. Man kann sich ihr stilles Glück leicht vorstellen: der lächelnde Sartre mit einem Buch in der Hand und der Pfeife im Mund, während de Beauvoir in den Zug aufsteigt und ihn küsst. Die Treffen waren bei ihrer vergangenen Begegnung oder in Briefen minutiös geplant worden – oder auch an einem dieser verschrobenen, jedoch vollkommen funktionstüchtigen Telefone der Dreißigerjahre. Im Frühling des Jahres 1933 wurde ein solcher Ausflug unternommen mit dem Ziel, sich mit Aron zu treffen, der aus Berlin 42
Aprikosencocktails
nach Paris gekommen war. Aron befand sich in einem Sabbatjahr in Berlin, um die Philosophie Husserls am Französischen Institut zu studieren. Bei diesem legendären Treffen, das heute einen Eckpfeiler der Sartre-Anekdoten darstellt, begannen die drei am Bec de Gaz auf der Rue Montparnasse (wobei sie de Beauvoir zufolge Aprikosencocktails tranken, Aron zufolge jedoch nur Bier), über die Phänomenologie Husserls zu diskutieren: die philosophische Untersuchung und Beschreibung von Phänomenen, wie sie dem Bewusstsein erscheinen. Sartres Philosophie hatte so etwas wie eine Sackgasse erreicht. Er arbeitete noch immer bei jeder Gelegenheit an seinem „Faktum über die Kontingenz“. Aber um wirklich damit voranzukommen, um wirklich seine eigene Sartre’sche Philosophie formulieren zu können, benötigte er einen Ansatz, der altmodische idealistische und realistische Argumentationen überwand und es ihm erlaubte, sie durch die „Bejahung der Souveränität des Bewusstseins und der Präsenz der Welt, wie sie uns gegenwärtig ist“ (In den besten Jahren, S. 118), zu überwinden. In einer berühmten Passage über das legendäre Treffen schreibt de Beauvoir: Aron wies auf sein Glas: „Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!“ Sartre erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie. (In den besten Jahren, S. 118) Sartre verlor keine Zeit. Er besorgte sich auf dem Boulevard SaintMichel Emmanuel Lévinas’ Die Theorie der Anschauung in der Husserlschen Phänomenologie und begann unterwegs in den ungeschnittenen Seiten zu lesen. In dem Buch gab es einiges über die Kontingenz; aber zu Sartres Erleichterung hatte der 1859 geborene Husserl nicht dieselben Gedanken zu dem Thema gehabt wie er. Sartre begann, intensiv Husserl zu studieren. Er las alles, was Husserl geschrieben hatte, und für die kommenden sechs Jahre kaum einen anderen Philosophen. Husserl wurde Sartres größter 43
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philosophischer Einfluss, sowohl unmittelbar als auch wiederum über den Einfluss auf dessen Schüler Martin Heidegger, mit dem Sartre sich später auch ausführlich beschäftigte. Eines von Sartres Hauptwerken, Die Transzendenz des Ego: Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, ist im Grunde seine Auseinandersetzung mit Husserl. Darin übernimmt er einige Aspekte von Husserls Theorie von der Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt, während er andere Aspekte kritisiert. Es ist ein ehrgeiziges Buch, in dem er erstmals seine Bewusstseinstheorie formuliert, die das Herzstück seines späteren Schaffens wird. Nach dem folgenschweren Treffen am Bec de Gaz war Sartre von der Phänomenologie besessen. Es war, als ob er eine Droge gefunden hätte, ein dauerndes Stimulans, den Katalysator, der ihn als Philosophen endlich zielstrebig in eine bestimmte Richtung katapultierte. Die Phänomenologie bildete den Pfeiler seiner eigenen Philosophie. Er würde ihr für den Rest seiner Karriere treu bleiben und sie in Essays, weitschweifigen philosophischen Abhandlungen, Kurzgeschichten, Romanen, Theaterstücken, Biographien und sogar Filmdrehbüchern beständig zu einer durchdringenden Lehre der Conditio humana verfeinern und weiterentwickeln. Sartre und Aron brüteten gemeinsam einen hervorragenden Plan aus. Sartre bewarb sich im Herbst 1933 als Nachfolger Arons am Französischen Institut in Berlin und Aron würde Sartres Lehrerstelle in Le Havre übernehmen. Dieses Arrangement kam beiden perfekt gelegen. Aron brauchte eine Arbeit, wenn seine Zeit in Berlin zu Ende ging, und Sartre wollte unbedingt eine Auszeit von seinem streng regulierten Alltag im Schulbetrieb nehmen. Er konnte es kaum abwarten, sich in ein erschöpfendes Vollzeitstudium Husserls in der Heimat dieses berühmten Philosophen zu stürzen. Der Jahrgangsbeste von Frankreichs bester Schule aus dem Jahre 1929 reichte seine Bewerbung ein. Sie wurde erwartungsgemäß akzeptiert. Sartre machte sich auf den Weg nach Deutschland, um dessen beste Philosophen zu studieren – es gibt so viele großartige deutsche Philosophen –, während das schlimmste Kapitel der deutschen Politik seinen Anfang nahm. 44
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Aber Sartre hatte noch ein paar Monate Schulunterricht und dann die erholenden Sommerferien vor sich, bevor er endlich wieder in das Studentenleben eintauchen konnte, das er so sehr liebte. Am Ende des Schuljahres in Le Havre füllten seine Schüler ihn mit Alkohol ab und brachten ihn in ein örtliches Bordell. Es war Sartres erste Bordellerfahrung und er war zu betrunken, um sich an Details zu erinnern – obwohl er, seinem engen Freund Jacques-Laurent Bost zufolge, danach erklärte, auf dem Rücken einer rüstigen Hure die Treppen hochgetragen worden zu sein. Nachdem Sartre und de Beauvoir die vergangenen zwei Sommer Spanien besucht hatten, entschieden sie sich dieses Jahr, stattdessen nach Italien zu fahren – teilweise auch um die günstigen landesweiten Zugfahrten in Anspruch zu nehmen, die Mussolini angeboten hatte, um Besucher in die Ausstellung der faschistischen Revolution in Rom zu locken. Sie verbrachten die meiste Zeit in Florenz und nur einige wenige Tage in Rom. Die Hauptstadt befand sich fest im Griff des faschistischen Fiebers. Faschistische Plakate und Wahlsprüche waren überall und aufbrausende, aggressive Schwarzhemden beanspruchten auf den Bürgersteigen den Vorrang für sich. Die beiden Verliebten wollten den ganzen Tag lang durch die Straßen der Ewigen Stadt streunen, doch zur Abenddämmerung wurden sie von patrouillierenden Schwarzhemden bedrängt und zurück in ihr Hotel beordert. Als Jugendlicher war Sartre davon ausgegangen, mit 28 bereits ein berühmter Schriftsteller zu sein. Doch nun, mit 28 Jahren, war er im Grunde noch immer ein Schullehrer aus der Provinz; und selbst wenn mehr als das in ihm steckte, so war er dennoch nicht berühmt. Wie jeder traurige, fleißige Schreiberling hatte auch er einige Artikel publiziert, jedoch noch nichts, was damals als bedeutend betrachtet wurde. Um es schlimmer zu machen, was seinem Ego einen weiteren Stich versetzte, waren seine Zeitgenossen ihm bereits ein ganzes Stück voraus. Nizan stand kurz davor, seinen ersten Roman Antoine Bloyé zu veröffentlichen, und bewarb sich als Kommunist für politische Ämter. In der Zwischenzeit hatte Aron, der fließend Deutsch 45
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sprach, bereits an der Universität Köln unterrichtet. Kurz nach dem Stellentausch mit Sartre hatte Aron seine ersten beiden Bücher veröffentlicht. Da merkte Sartre, dass sein Sabbatjahr ihm eine einmalige Gelegenheit bot, um aufzuholen. Es war an der Zeit, seine laufenden Projekte liegen zu lassen und neue in Angriff zu nehmen. Er widmete sich dem Vorhaben, die verschiedenen philosophischen und literarischen Fäden, an denen er jahrelang gesponnen hatte, miteinander zu einer bedeutenden und kohärenten Theorie zu verweben, die ihm zu Ruhm und Ehre verhelfen sollte. Obwohl er schon immer ein rastloser Arbeiter war, legte er sich selbst einen neuen Arbeitsplan auf, der selbst bei seinen bisherigen Ansprüchen furchteinflößend war. Morgens las und analysierte er Husserl, mit dem bescheidenen Ziel, die Parameter der Phänomenologie nachhaltig neu zu definieren. Am Nachmittag beschäftigte er sich mit seinem allgegenwärtigen, im steten Wandel befindlichen „Faktum über die Kontingenz“. Wenn er tagsüber noch Zeit übrig hatte, versuchte er sich an Heidegger in der Originalsprache. Leider hatte er große Schwierigkeiten mit Heideggers gewundener Sprache – ein Problem, das auch diejenigen kennen, die Heidegger in Übersetzung zu lesen versuchen. Am Abend entspann er bei intensiven Diskussionen seine Gedanken mit weiteren Doktoranden bei einer oder drei Pfeifen, einem Glas deutschem Bier und einer großen Bratwurst. Sein Wissen und Verständnis der Philosophie waren nicht das Einzige, das während seines Deutschlandaufenthaltes zunahm. Sartre ist sehr dafür kritisiert worden, damals nicht die Feder gegen die Nazis ergriffen zu haben. Er verfügte über die Verbindungen und hätte z. B. französischen Zeitungen eindrucksvolle Artikel über Szenen senden können, die er erlebt oder von denen er zumindest gehört hatte. Zusätzlich zu dem rechtsextremen Schwadronieren, dem er und de Beauvoir bereits in Italien begegnet waren, gab es hier Massendemonstrationen mit hakenkreuzschwingenden Fanatikern, verstörend nationalistischen Reden und Bücherverbrennungen. Juden wurden bedroht, beleidigt und ihre Habseligkeiten be46
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schlagnahmt. Der spätere Sartre hätte hier mit klarer, entschiedener und bestechender Entrüstung seine Stimme erhoben, doch dieser noch relativ junge Sartre war noch kein Zoon politikon. Als schonungslos selbstfixierter, vom Gedanken des einzelnen Menschen besessener Individualist pflegte Sartre eine romantische Haltung wider die Politik, die er bloß als Massenphänomen betrachtete. Er war Nizan nicht ins politische linke Spektrum gefolgt. Linksextrem oder rechtsextrem, für ihn war all dies nur kollektiver Fanatismus und unwürdige Herdenmentalität. Er hatte noch nicht die einfache Wahrheit akzeptiert, dass jemand, der sich nicht aktiv gegen eine Sache stellt, effektiv für sie ist. Er hatte zweifellos die moralische Pflicht, aktiv Farbe zu bekennen – was er 1933–34 jedoch ignorierte. Andererseits genießen seine Kritiker den Vorteil, dass man hinterher immer klüger ist. Er wusste nicht, was die Nazis einmal werden und was für entsetzliche Gräuel sie anrichten sollten. Unter Intellektuellen gab es eine weit verbreitete Selbstgefälligkeit gegenüber Adolf Hitler. Sie täuschten sich selbst damit, dass sein Einfluss bereits am Schwinden gewesen sei. Ein so absurd kleiner Mann – sein „kindische[s] Gesicht, dieses Fliegengesicht“ (Der Aufschub, S. 63) – würde sich auf keinen Fall lange halten können. Ein derart absurdes Regime würde sich nicht lange halten können. Die deutsche Bevölkerung würde gewiss aufwachen. Andererseits war Sartre aus dem einzigen banalen Grund in Deutschland, sich in seinem intellektuellen Elfenbeinturm einzunisten. Er verbrachte unzählige Stunden mit seinem Studium und den Großteil seiner Freizeit mit einer kleinen Gruppe französischer Doktoranden. Als offizielle Gäste des Französischen Instituts waren er und seine Gefährten mit Unterkunft und regelmäßigen Mahlzeiten versorgt. Welcher völlig in sein Studium versunkene Studierende weiß oder kümmert sich darum, was in den Nachrichten geschieht? Das zeitgenössische Deutschland war eine Hintergrundkulisse, die leicht ignoriert werden konnte. Cohen-Solal bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „[E]s [war] nicht das zeitgenössische Deutschland gewesen […], das sie angezogen hatte, sondern solche Schriftsteller 47
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wie die des Sturm-und-Drang, solche Philosophen wie die des 19. Jahrhunderts“ (Cohen-Solal, S. 179). Sartres Fokus lag auf der besten deutschen Philosophie, nicht auf der schlechtesten deutschen Politik. Hätte er seine Zeit damit verbracht, Hitler zu kritisieren, anstatt Husserl zu studieren, wäre er vermutlich nicht der große Philosoph Sartre geworden, der große Verfechter individueller Freiheit und Verantwortung, wodurch Hitler der Menschheit noch größeren Schaden zugefügt hätte. Aber vielleicht ist dies gar kein besonders gutes Argument – selbst mit seinem vollen Terminplan hätte er Zeit finden können, etwas zu sagen. Er verbrachte Weihnachten und Neujahr 1933/34 in Frankreich, aber zu Ostern besuchte de Beauvoir ihn in Berlin. Da sie eine offene Beziehung führten, erzählte er ihr von seiner Vorliebe für deutsche Frauen. Er hatte allerdings noch keine verführen können, da die Sprachbarriere ihn seiner größten Waffe beraubte, sodass ihm nur seine auffällige Hässlichkeit blieb. De Beauvoir blieb noch über die Schulferien hinaus dort – vielleicht um ein Auge auf ihn zu werfen –, dann verzichtete er darauf, ein weiteres Jahr zu bleiben. Er verließ Berlin im Juni 1934, dem Monat seines 29. Geburtstags, nur wenige Wochen bevor Hitler nach Hindenburgs Tod zum absoluten Alleinherrscher Deutschlands wurde. Sartre hatte den Durchbruch als bedeutender Autor und Philosoph noch immer nicht geschafft und es würde noch eine Weile dauern, bis er es endlich schaffen würde. Aber die Startrampe war errichtet und er hatte eine genaue Reiseroute geplant.
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8 Ostraconophobie Wieder zurück in Le Havre. Zurück in der Eintönigkeit der Kreidetafel. Sein nächster Geburtstag war der dreißigste. Der Beginn eines neuen Schuljahres nach der Freiheit in Berlin und der langen Sommerpause erfüllten ihn bald mit einem untypischen Pessimismus. In ihren dunkelsten Augenblicken sitzen er und de Beauvoir in Cafés in Le Havre und Rouen und grübeln über ihr Leben, in Sorge darüber, dass ihnen nichts Neues mehr widerfahren werde. Waren sie jetzt ewige Trauerklöße geworden, die ihre Verurteilungen zu Provinzlehrern ihr gesamtes Leben lang würden absitzen müssen, ohne sich auf mehr freuen zu können als die nächsten Ferien? Sie würden sich betrinken und streiten, bis sie zum Ergebnis gelangten, dass es ihr eigener Fehler sei, wenn sie feststeckten. Ihr Schicksal lag nirgends anders als in ihren eigenen Händen. Sartre hatte in diesem Schuljahr außerordentlich viele gute Philosophieschüler, einschließlich Jacques-Laurent Bost, den jüngsten Bruder des Romanciers Pierre Bost. Der „kleine“ Bost wurde Sartres lebenslanger Freund und de Beauvoir, die ihn als anmutige Verkörperung der Jugend betrachtete, wurde seine gelegentliche Geliebte. Um den verschiedenen Anforderungen seitens seiner Schüler, seinem Schreiben, seinen regelmäßigen Reisen nach Rouen und Paris gerecht zu werden, begann Sartre, sich an Aufputschmittel zu gewöhnen, die er mit einigen Unterbrechungen über Jahre hinweg nahm. Die Stimulantien befeuerten gewiss seine Feder, aber sie hinderten ihn am Schlafen. Das Gegenmittel waren folglich Schlaftabletten für den Rest seines Lebens. Er schlief wie ein Stein, in den Schlaf gewogen von einer chemischen Keule, und träumte selten. Die Auf und Abs, die Arbeitsbelastung, die Sorge um seinen Status, das Gefühl, dass seine Jugend weit hinter ihm lag und er alt und fett wurde, all dies brachte ihn an den Rand der Depression. Manchmal war er gegenüber seinen Schülern leicht reizbar, obwohl nie49
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mand jemals behauptete, dass Sartre sich beim Unterrichten gelangweilt habe. Mithilfe seines Alter Ego Antoine Roquentin, der Hauptfigur in Der Ekel, brachte er seine Depression in sein „Faktum über die Kontingenz“ ein. Es ging ihm immer um das „Faktum“, er ergänzte es, schnitt, schliff und schrieb Teile neu. Obwohl de Beauvoir den Eindruck hatte, dass er vorwärtskam, blieb sie schonungslos in ihrer konstruktiven Kritik und forderte unnachgiebig weitere Überarbeitungen. Es war eine hervorragende Gelegenheit und zugleich eine weitere Bürde, als er seinen ersten Auftrag bekam: ein philosophisches Buch für eine neue Reihe zu schreiben, die bei Alcan veröffentlicht werden sollte. Er begann sofort mit der Arbeit an einem ehrgeizigen Buch über die Psychologie der Einbildungskraft unter dem Titel Das Imaginäre. Sein jahrelanges Interesse an der Psychologie war außerdem bei seinen erschöpfenden Berliner Husserl-Studien angeregt worden, woran er in Le Havre neben seinen weiteren Aufgaben weiterhin forschte. Da er sich nicht damit zufrieden geben wollte, ein Buch zu schreiben, das lediglich die verschiedenen Theorien über die Vorstellung seit Descartes wiedergeben sollte – was ausgereicht hätte, um die Anforderungen der vorgeschlagenen Reihe zu erfüllen –, stellte er die verschiedenen Theorien mit dem Ziel dar, sie von einer husserlianisch-phänomenologischen Perspektive aus in Grund und Boden zu argumentieren. Dann legte er seine eigene phänomenologische Theorie über die Vorstellungskraft dar. Diese basierte auf dem Gedanken, dass geistige Abbilder nicht Bilder im Bewusstsein seien, sondern intentionale Objekte für das Bewusstsein. Als jemand, der nie halbe Sachen machte, fasste Sartre einen Entschluss: Wenn er überzeugend über das am schwierigsten Greifbare aller Vorstellungsphänomene schreiben wollte, Halluzinationen nämlich, musste er dafür selbst halluziniert haben und etwas „sehen“, das absolut nicht da war. Es war ein typischer Fall von „Gib Acht, was du dir wünschst“, weil die Gelegenheit für eine Halluzination sich bereits Anfang 1935 darbot. 50
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Kurz nach einem Skiurlaub über die Weihnachtszeit mit de Beauvoir lud Dr. Daniel Lagache, ein alter Freund aus Sartres ENS-Zeit, Psychiater und Autor des kürzlich erschienenen Buches Verbale Halluzinationen und Sprache, ihn ein, an einem psychologischen Experiment im Sainte-Anne-Hospital in Paris teilzunehmen. In einem schwach beleuchteten Raum wurde dem Mann, der aufgrund seiner Abhängigkeit von Schlaftabletten keine Träume mehr hatte, kontrolliert die psychoaktive Droge Meskalin injiziert. Sartre scheint dabei keinen üblen Trip im gewöhnlichen Sinne einer langen und schweren Panikattacke gehabt zu haben, aber es war dennoch kein guter Trip und er hatte definitiv keinen Gefallen daran. Es war das Übliche: Zeit- und Raumverzerrungen, ein Regenschirm, der aussah wie ein Geier, und ein Angriff von Teufelsrochen. Die Teufelsrochen wurden durch einen Telefonanruf de Beauvoirs unterbrochen, die sich erkundigen wollte, wie es lief – den er tatsächlich annahm! Wer außer Sartre würde mitten in einem Trip einen Anruf annehmen? Sein Sehen blieb wochenlang verzerrt: „[D]ie Häuser hatten grimassierende Gesichter, überall Augen und Kiefer; auf jedem Zifferblatt mußte er ein Eulengesicht suchen und finden“ (In den besten Jahren, S. 180). De Beauvoir berichtet weiter, dass er wusste, es handele sich bei den Gegenständen in Wirklichkeit nur um Häuser und Uhren, aber er fürchtete, dass er es eines Tages nicht mehr wissen würde. Beim Spazieren an irgendeinem elenden Fleck an der Seine in Rouen sagte er zu ihr, dass er „eine chronische Wahnpsychose“ (In den besten Jahren, S. 180) entwickele und bald wahnsinnig werde. Er nahm danach nie wieder Halluzinogene zu sich. Einmal war genug. Er war nie ein Liebhaber von Krustentieren gewesen, doch nach seinem Meskalintrip verursachte ihr bloßer Anblick ihm jahrelang visuelle Flashbacks, von denen ihm übel wurde. Er konnte Alltagsgegenstände nie wieder so sehen wie vorher. Obwohl die Gegenstände irgendwann aufhörten, sich in irgendetwas Ungewöhnliches, Unvorhersehbares, Unsinniges und Unwirkliches zu verwandeln oder in etwas Krabbelndes, Krabben- und Fremdartiges, so hatte er den51
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noch immer das Gefühl, dass sie es konnten, dass es im Bereich des logisch Möglichen lag. Die Langzeiteffekte des Meskalins intensivierten sich vor allem, wenn er niedergeschlagen war. Am unheimlichsten, da es am stärksten für eine tatsächliche geistige Krankheit sprach, war für ihn das immer wiederkehrende Gefühl, ja die Illusion, von einem riesigen Hummer verfolgt zu werden, der sich stets gerade außerhalb seines Sichtfeldes befand. Sartres berühmt-berüchtigter, unheimlicher Hummer ist zu einem der großen und düsteren komischen Features der Sartre-Folklore und von existentialistischer Folklore überhaupt geworden. Aber worum handelte es sich dabei wirklich? Angst, Unruhe, Besorgnis, Furcht, dunkle Vorahnung, Furcht vor Schmerzen, Furcht vor dem Tod, Furcht vor dem Altern, Furcht vorm Erwachsenwerden – ein lauerndes Gefühl der fundamentalen Absurdität der eigenen Existenz, Depression, Furcht vor Depression, Furcht, den Verstand zu verlieren – all dies waren Symptome sowohl der Aufputsch- und Beruhigungsmittel als auch des Meskalins. Die drei zusammen brachten ihn an den Rand körperlicher und geistiger Erschöpfung. Waren sie die Folge von zu viel philosophischer Reflexion oder handelte es sich hierbei bloß um einen psychogastronomischen Nebeneffekt von zu viel französischem Käse? Vermutlich spielten all diese Gründe eine Rolle. Niemand weiß es genau, nicht einmal Sartre selbst wusste es. Dieses verdammte Ding mit seinen Antennen und riesigen Zangen konnte jeden Augenblick um die Ecke oder hinter einem Berg hervorkommen. Immer wenn er versuchte, es zu ertappen, versteckte es sich sofort oder schlich sich an ihm vorbei, damit seine Existenz unmöglich zu beweisen oder widerlegen war. Außerdem sagte er ja nur, dass er das Gefühl hatte, dass ein riesiger Hummer ihn verfolgte. Aber er glaubte nicht daran. Es war nur seine Art auszudrücken, wie unerklärlich und auf unangenehme Weise merkwürdig er sich in jenen seltsamen Tagen fühlte. De Beauvoir bestand darauf, dass sein einziger Wahnsinn darin bestand, dass er glaubte, wahnsinnig zu sein. Sie drängte ihn dazu, sich zusammenzureißen. Rückblickend, 25 Jahre später, bot sie die folgende Diagnose an: 52
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Die Behandlung in Sainte-Anne lieferte Sartre lediglich gewisse Halluzinationsschemata. Zweifellos seien die Schreckbilder durch die Ermüdung und die Anspannung, die seine philosophischen Forschungen mit sich brachten, neu ausgelöst worden. Wir glauben heute, dass sie Ausdruck eines profunden Unbehagens waren. Sartre konnte sich nicht damit abfinden, in das „Vernunftalter“, das „Mannesalter“ einzutreten. (In den besten Jahren, S. 181) Sicher ist, dass ab 1935 Krustentiere ein immer wiederkehrendes Thema in seinen Texten darstellten und für Boshaftigkeit, blinden Willen, derbe Natur und die nackte, absurde, nicht zu rechtfertigende Existenz stehen. Sie finden immer wieder ihren Weg in Der Ekel, einem seiner frühesten Werke, aber sie krabbeln auch noch 1959 in seinem Theaterstück Die Verurteilten von Altona herum, in dem die paranoide und an Wahnvorstellungen leidende Hauptfigur Franz glaubt, von der Zukunft her von bösen krabbenartigen Kreaturen beobachtet und kritisiert zu werden. Diese Ostraconophobie war Sartres wichtigste Blockade, aber sie war nur ein Teil seiner allgemeinen Ablehnung von Flora und Fauna. Babys und kleine Kinder waren ihm zuwider, er hatte Angst vor Hunden und erkundete lieber Gebäude als Wälder; Bäume betrachtete er – wenn man sie aus nächster Nähe sieht wie Roquentin in Der Ekel – als die Verkörperung der rohen, überflüssigen Existenz. Einmal äußerte er gegenüber de Beauvoir sogar, allergisch gegen Chlorophyll zu sein. Ich habe Angst vor Städten. Aber man soll doch in ihnen bleiben. Denn wenn man sich zu weit hinauswagt, stößt man auf das Gebiet der Vegetation. Kilometer um Kilometer schleicht die Vegetation an die Städte heran. Sie wartet ihre Zeit ab … [In einer Stadt] stößt man … kaum auf etwas anderes als auf Minerale, die am wenigsten Abschreckenden unter den Existierenden. (Der Ekel, S. 164) Trotz des angerichteten psychologischen Schadens (obwohl es gewiss die Imagination des Autors nährte) erfüllte das Meskalinexperi53
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ment den Zweck, den Sartre beabsichtigt hatte. Wie er in Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft sagt, gelang es ihm, sich drei kleine parallele Wolken vorzustellen, die vor ihm in dem Krankenzimmer schwebten, in dem er lag. Das war mehr als genug Material oder eher Nichtmaterial, das er sehr klar analysiert und mit dem er seitdem zahlreiche Philosophen und Psychologen beeinflusst hat. Er behauptet, dass seine Halluzinationen heimlich an den äußersten Rändern seines Bewusstseins existierten und verschwänden, sobald er seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Dass sie verschwanden, sobald er sich konzentrierte, suggerierte ihm, dass er sie auf gewisse Weise träumte. Er schlussfolgert daraus, dass Halluzinationen aufkommen, wenn die Wahrnehmung sich auflöst und ein Mensch, der für sich selbst unwirklich geworden ist, die Welt der Wahrnehmung zu träumen beginnt. In anderen Worten: Halluzinationen finden statt, wenn der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Träumen bei einem Menschen verschwimmt, der einen Selbstverlust erlebt. Der Selbstverlust der Person wird größtenteils durch übereinstimmend berichtete Besonderheiten halluzinogener Drogenerfahrungen verursacht, die Entrückung von Zeit und Raum. Das Meskalin hatte Sartre ordentlich durchgeschüttelt und eine Tür in seinem Geist, in seinen Wahrnehmungen geöffnet, die er nicht mehr zu schließen vermochte. Ein kühler Luftzug ging durch seine Selbstwahrnehmung. Irgendwann später schloss er die Tür, indem er sich selbst einfach für geheilt erklärte und bewusst daran glaubte – indem er sich wieder dem Vertrauen in die Realität hingab. In der Zwischenzeit wurde ihm von einem Arzt verschrieben, dass er arbeiten solle, um sich abzulenken. Der Arzt weigerte sich, ihn krankzuschreiben, und verordnete ihm Teufelskirsche als Entspannungsmittel, in höheren Dosen ein halluzinogenes und tödliches Gift. Seine Angstattacken und Flashbacks waren am schlimmsten, wenn er alleine war; also verbrachte er immer mehr Zeit bei de Beauvoir in Rouen, die ihn mit ihrer Schülerin und Freundin Olga Kosakiewicz bekannt machte. 54
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Die schöne, intelligente, stolze, stürmische und kapriziöse Olga war Sartre in de Beauvoirs Abwesenheit eine mehr als willkommene Gesellschaft. Olga machte seinem Kopf weitaus mehr zu schaffen als das Meskalin, obwohl diese neue Erfahrung ihm nicht nur Unannehmlichkeiten bereitete.
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9 Die kleine Russin Olga, „la petite Russe“, war halbe Aristokratin und die Tochter einer Französin und eines russischen Adligen. Sie war in de Beauvoirs Unterricht einmal in Tränen ausgebrochen und de Beauvoir brachte sie zum Spazieren an die frische Luft, um sie zu beruhigen. De Beauvoir stellte sogleich fest, dass sie mit der acht Jahre jüngeren Frau sehr viel offener reden konnte als mit den zunehmend reservierten und empfindlichen gleichaltrigen Freundinnen. Sie begannen, sich häufiger zu sehen. Und Sartre, der oft in Rouen war, um sich von seinen wiederkehrenden Depressionen abzulenken, ließ sich bald miteinbeziehen. Olga wurde ihre gemeinsame Leidenschaft für die nächsten zwei Jahre. Sie waren beide völlig in sie verliebt, in ihre Schönheit und in ihren jugendlichen Stolz. Olga schien ihnen die Gelegenheit zu bieten, ihre eigene verlorene Jugend nachzuholen. Sie lernten von ihr, ahmten ihre Spontaneität nach, handelten so wie sie, eher aus dem Bauch heraus anstatt aus Vernunft, mieden Wiederholung, vergaßen zu essen und zu schlafen und tanzten und feierten bis zum Umfallen. Sie verfolgten sie, warben um sie, sprachen über sie, stritten über sie und begannen sogar schon, ihr verkorkstes Leben zu ordnen, als wäre sie ihre Tochter gewesen. Sartres Leidenschaft für sie wurde zur Besessenheit. Er war dermaßen in sie vernarrt, dass er unglücklich war, bis er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, und er ließ seinen ganzen Charme und seine ganze Intelligenz spielen, um das Interesse des unbeständigen, sprunghaften Mädchens nur für sich zu haben. Ihre Weigerung, ihn abzulehnen oder anzunehmen, stürzte ihn von 1935 bis 1937, da er alles in seiner Macht Stehende versuchte, um sie zu gewinnen, wiederholt von den höchsten Ekstasen in die tiefsten Abgründe der Verzweiflung. Sartres und de Beauvoirs lange gepflegter Glaube, dass ihre „notwendige Liebe“ die „kontingenten Lieben“, das heißt ihre zahlreichen 56
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Affären, tolerieren und sogar von ihnen profitieren könne, wurde durch die Leidenschaft, die Olga in ihnen beiden hervorrief, auf eine harte Probe gestellt. De Beauvoir war nicht besonders eifersüchtig darauf, dass er so abgrundtief in sie vernarrt war, aber sein unziemliches Verhalten brüskierte sie. Sie ertrug es nicht, dass er sich wegen eines mehr als zehn Jahre jüngeren Mädchens derart zum Narren machte. Ihr tat Olga leid dafür, dass Sartre sich ihr derart aufdrängte, aber zugleich war sie auch oft verärgert über sie, dass sie so bereitwillig mit ihm flirtete. In Abwesenheit des einen kritisierte und beratschlagte de Beauvoir sich mit dem jeweils anderen über dessen Verhalten in dieser Dreiecksbeziehung. Die Angelegenheit kostete sie eine Menge Nerven. Sartre gestand später, dass er niemals eifersüchtig gewesen sei, außer in Bezug auf Olga. Seine Affäre mit ihr war zweifelsohne eine prägende Episode, die sich noch viele Jahre in seinen Werken niederschlug. Viele weibliche Figuren Sartres weisen einige von Olgas Charakterzügen auf, zum Beispiel Lulu aus seiner Kurzgeschichte Intimität oder Inez in seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft. Der Olga ähnlichste Charakter ist jedoch Ivich Serguine in Sartres Romanreihe Die Wege der Freiheit. Im ersten Band der Reihe, Zeit der Reife, wird Ivich von Mathieu Delarue umworben, einem von Sartres Alter Egos. De Beauvoir stellte diese Dreiecksbeziehung und die wilden Verhältnisse zwischen ihr, Sartre und Olga in den Mittelpunkt ihres ersten Romans, Sie kam und blieb. Sie widmete den Roman sogar Olga. Auch in In den besten Jahren setzt sie sich ausführlich mit dieser verrückten und aufwühlenden Zeit auseinander. Hier offenbart sie jedoch auch, dass diese Episode nicht nur eine Quelle großen Unglücks für die Teilnehmenden war, sondern auch großer Freude, vor allem am Anfang. Es gab viele wunderschöne Momente zusammen, als drei noch nicht einer zu viel waren. Anfang 1937, als sie mit dem kleinen Bost etwas trinken ging, begann de Beauvoir zu zittern. Zwei Tage später wurde sie mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht. Sie war eine Zeit lang 57
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sehr krank. De Beauvoir hatte zu viel gearbeitet und sich übernommen, zu viel geraucht, in einer feuchten Wohnung gelebt und ihre Gesundheit vernachlässigt und zweifelsohne leisteten die Spannungen in der Dreiecksbeziehung auch ihren Beitrag. Die „stählerne Frau“, wie Sartre sie kurz zuvor hinter ihrem Rücken trotzig genannt hatte, war letztlich auch nur ein Mensch. Der Schock riss ihn aus seiner fruchtlosen und zunehmend peinlichen Narretei gegenüber Olga heraus. Er erkannte endlich, dass er de Beauvoir für selbstverständlich gehalten hatte. Ihre Krankheit und die Möglichkeit, dass er sie verlieren könnte, riefen ihm wieder ins Bewusstsein, wie viel sie ihm bedeutete. Er besuchte sie jeden Tag im Krankenhaus und organisierte nach ihrer Entlassung ein gemütliches, weniger feuchtes Hotelzimmer. Zu Ostern war sie noch immer bettlägerig; er wartete an ihrem Bett, brachte ihr Essen von einem nahe gelegenen Restaurant und erfüllte ihr jeden Wunsch. Was Olga betraf, blieben sie mit ihr gut befreundet, aber das Verhältnis war auf ein für alle drei erträglicheres Niveau abgekühlt. Nachdem sie durch all ihre medizinischen Examen gefallen und Sartres absurder Versuch, sie zu einer Philosophielehrerin auszubilden, gescheitert war, entdeckte Olga, dass sie als Kellnerin auf dem Boulevard Saint-Michel am glücklichsten war. Sie hatte bereits seit einiger Zeit eine Affäre mit dem kleinen Bost und sie heirateten später. Beide waren gleichen Alters. Trotz des Weckrufs, dass de Beauvoir knapp dem Tode entronnen war, versuchte Sartre, seinen Verlust Olgas durch einen Flirt mit Olgas jüngerer Schwester Wanda zu kompensieren, deren Temperament ähnlich sprunghaft und einnehmend war.
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10 Der mächtige Gallimard Auf dem Höhepunkt der Verwicklungen mit Olga, zum Ende des akademischen Jahres 1935–36, verließ Sartre endlich Le Havre, um eine neue Stelle in Laon anzunehmen, das einen Schritt näher an Paris lag. Er hoffte, nach einem Jahr nach Paris versetzt zu werden. De Beauvoir arbeitete bereits dort, sie zog von Rouen nach Paris, als er Le Havre in Richtung Laon verließ. In Laon wiederholte sich das bisherige Muster erneut: Sartre liebte es zu unterrichten, aber er konnte die meisten seiner Kollegen nicht leiden. Er wurde aufgrund seines Widerstands gegen Autorität und insbesondere weil er sich weigerte, an langweiligen Meetings teilzunehmen, weitgehend abgelehnt. Es geht das Gerücht, dass ein solches geschwänztes Meeting zu einem Faustkampf im Lehrerzimmer zwischen unserem Boxer und einem Kollegen geführt habe. Vor Laon und der Schlägerei hatten Sartre und de Beauvoir ihre Urlaube in Italien verbracht, wo sie die Nachricht vom Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges vernahmen. Insbesondere Sartre begann, sich zunehmend für Politik zu interessieren. Der Anblick der verheerenden Armut in Italien und später in Griechenland hatte eine größere Wirkung auf ihn als die Hakenkreuze in Deutschland und trieb ihn zur politischen Linken. Er verfolgte die Ereignisse in Spanien genau und las öfter die Zeitung, als dass er sich die Sehenswürdigkeiten Roms ansah. De Beauvoir beklagte, dass er einen großen Teil des Sommers 1936 in Gedanken mit Spanien, Deutschland und Olga beschäftigt war. In dieser gesamten Zeit schrieb Sartre trotz Unterricht, Depres sion, dem lauernden Hummer, Deutschland, Spanien und Olga weiter. Nichts hielt Sartre jemals vom Schreiben ab. „Man hat mir meine Gebote unter die Haut genäht. Wenn ich einen Tag nicht schreibe, brennt die Narbe; wenn ich zu leicht schreibe, brennt sie auch“ (Die Wörter, S. 124). 59
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Ende der 1930er-Jahre hatte er druckreife Werke angesammelt wie Patronenkugeln in einem Maschinengewehrmagazin. Seine erste bedeutende Veröffentlichung war im Jahre 1936 Die Imagination. Eine psychologische Kritik, die erste, weniger originelle Hälfte von Das Imaginäre. Zu Sartres Enttäuschung hatte Alcan die bahnbrechende zweite Hälfte abgelehnt, die erst 1940 als die heute berühmte Die Psychologie der Einbildungskraft veröffentlicht wurde, auch bekannt als Das Imaginäre. Sein kompakt geschriebenes posthusserlianisches Meisterwerk Die Transzendenz des Ego wurde ebenfalls 1936 als Artikel publiziert und im darauffolgenden Jahr als Monographie. Es zählte bald zum Kanon der Schlüsseltexte zur Phänomenologie. In den Jahren nach dem Meskalin und nach Olga hatte er seine Kindheitsgewohnheit, Kurzgeschichten zu schreiben, wieder aufgegriffen. Als erste erschien, wenn auch nicht als erste geschrieben, Die Mauer in der Ausgabe der Nouvelle Revue Française vom Juli 1937. Die Erzählung spielt im Spanischen Bürgerkrieg und erkundet die unterschiedlichen Arten, wie eine Gruppe von Gefangenen mit der Aussicht umgeht, bei Morgengrauen vor einer erbarmungslosen Wand erschossen zu werden. Die Geschichte handelt von typisch existentialistischen Themen wie Verzweiflung, Tod, dem Absurden, Sinnlosigkeit und Nihilismus. Darüber hinaus erforscht sie die existenzielle Wahrheit, dass das Leben keine andere Wahrheit hat als den relativen Sinn, den wir ihm mit unseren Vorhaben geben. Im Glauben, dass seine Zeit abgelaufen sei, kann die Hauptfigur Ibbieta keine anderen Pläne fassen, als mit Würde zu sterben, infolgedessen erscheinen ihm alle Dinge und menschliche Vorhaben absurd. Obwohl sehr einfach geschrieben und zugleich psychologisch äußerst tiefgründig, wurde Die Mauer mit ihrer Behandlung der verbreiteten Bedenken gegen den Krieg in Spanien eine Sensation. Es war das Werk, das Sartre erstmals in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte, eine Aufmerksamkeit, die er seitdem nicht wieder losließ. Es folgten weitere, vergleichbar brillante Kurzgeschichten: Intimität, Das Zimmer, Herostrat und Die Kindheit eines Chefs. Diese Geschichten wurden später in einem Sammelband veröffentlicht und keiner anderen als Olga Kosakiewicz gewidmet. 60
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Doch was wurde aus dem „Faktum über die Kontingenz“, dem Meisterwerk unter den Meisterwerken, dem philosophischen Roman, dem er jahrelang sein Herz, seine Seele und seine Geisteskräfte gewidmet hatte? Nizan, der sich bereits als Romancier einen Namen gemacht hatte, unterbreitete auf Sartres Bitten das Manuskript Gallimard. Gallimard lehnte es Ende 1936 ab. Sartre verstand nicht, warum. Er vergoss darüber Tränen der Enttäuschung und Frustration; es war eines der wenigen Male, dass jemand ihn weinen sah. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es eine Verwechslung gegeben hatte. Das Werk wurde als Beitrag für die Nouvelle Revue Française abgelehnt, die auch von Gallimard herausgegeben wurde. Sartres Freunde, die sein Manuskript gelesen hatten und vollauf begeistert davon waren, konnten wie er die Ablehnung nicht glauben. Sie erwiesen sich als entscheidend dabei, das Werk auf den richtigen Schreibtisch zu bekommen. Pierre Bost besuchte den Eigentümer des Verlags, Gaston Gallimard, persönlich und Charles Dullin, ein alter Freund Gallimards, der Sartre über Simone Jollivet kannte, legte ein gutes Wort ein. Der mächtige Gallimard stimmte zu, das Buch selbst zu lesen. Im April 1937 lud Gaston Gallimard Sartre in sein Büro – eine Vorstellung, von der Millionen angehender Autoren träumen. Der große Verleger liebte alles außer dem Titel Melancholia – eine Anlehnung an Albrecht Dürers berühmten Kupferstich Melencolia aus dem 16. Jh. Verleger ändern gerne die Arbeitstitel von Autoren und Gallimard schlug klugerweise Der Ekel vor. Das Buch erinnerte ihn an das Werk Kafkas, während sein Geschäftspartner Jean Paulhan es mit Dostojewskij verglich. Nach einem solch hohen Lob und einigen kleinen Überarbeitungen wurde das Buch im folgenden Jahr veröffentlicht. Gallimard fragte Sartre, ob er bis dahin zufällig einige Kurzgeschichten für die Nouvelle Revue Française habe, und Sartre bot ihm Die Mauer an. Unter den zahlreichen Briefen, die Sartre als Reaktion auf Die Mauer erhielt, befand sich auch das Angebot einer Lehrerstelle in Paris. Diese würde endlich dem Unterricht in der Provinz, den Zugfahrten in sein geliebtes Paris, wann immer er konnte, und den be61
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drückenden Sonntagabenden, wenn er in den Alltagstrott zurückkehrte, das langersehnte Ende bereiten. Er und de Beauvoir würden endlich in derselben Stadt arbeiten, in der Nähe der meisten ihrer Freunde, Affären und Lieblingscafés. Nachdem sich nun endlich alles zum Guten neigte und de Beauvoir sich von ihrer Lungenentzündung erholt hatte, verbrachten sie den Sommer 1937 gemeinsam mit Bost in Griechenland. Sartre war gerade 32 geworden und hatte neues Selbstvertrauen und Zuversicht getankt. Der Hummer war verschwunden, Olgas Bann war gebrochen, er befand sich auf dem Wege zu Ruhm und Erfolg. Um dies zu feiern, schlief er eine Nacht in einer antiken Ruine und stahl einen Schädel aus einem Beinhaus.
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11 Sex vor dem Krieg Da beide nun endlich in Paris lebten, bezogen Sartre und de Beauvoir gemeinsam ein gemütliches Hotel in der Nähe des Friedhofs Montparnasse. Konsequenterweise nahmen sie getrennte Zimmer, um durch die Wahrung der für ihre Beziehung wesentlichen Freiheit deren Vitalität zu bewahren. „Sartre wohnte eine Etage tiefer. Wir hatten so alle Vorteile eines Lebens zu zweit und keine seiner Unannehmlichkeiten“ (In den besten Jahren, S. 268). Sartre begann, an einem Buch namens Die Psyche zu arbeiten, das er nach 400 Seiten aufgab und 1939 als Fragment unter dem Titel Skizze einer Theorie der Emotionen herausgab. Dieses Fragment ist nicht nur bedeutsam, weil es einschlägige Einsichten in das Wesen der Emotionen bietet, sondern auch weil es, wie Das Imaginäre, Konzepte und Kategorien entwickelt, die in Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts eine zentrale Rolle spielen. In seiner herausragenden Einleitung zur Skizze einer Theorie der Emotionen stellt Sartre Phänomenologie und Psychologie einander gegenüber. Er argumentiert, dass die Phänomenologie der Psychologie überlegen sei, weil sie das Wesen der Dinge begreife, während die Psychologie nur akzidentelle Tatsachen aufzähle. Psychologen könnten nur sagen, dass es eine Emotion gebe und dass in gewissen Situationen gewisse Verhaltensweisen aus ihnen hervorgingen. Sie könnten jedoch nicht erklären, warum Emotionen existierten, was sie bedeuteten und warum sie ein wesentlicher Aspekt des menschlichen Bewusstseins und ein notwendiger Zug der menschlichen Wirklichkeit seien. Sartre fährt damit fort, verschiedene klassische Theorien der Emotionen auseinanderzunehmen, z. B. die peripherische Emotionstheorie („James-Lange-Theorie“, Anm. d. Übers.), die besagt, dass ein Mensch sich traurig fühle, weil er weine, und nicht umge63
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kehrt. Er unterzieht auch die Psychoanalyse einer kritischen Untersuchung und bemängelt, wie später auch in Das Sein und das Nichts, dass Freuds Unterscheidung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten unsinnig sei. Freud betrachte Emotionen als Anzeiger von etwas, das im Unbewussten lauere, aber seine radikale Trennung von Bewusstem und Unbewusstem bedeute, dass der Anzeiger vom vermeintlich Angezeigten gänzlich getrennt sei. Als Sartre Das Sein und das Nichts schrieb, behauptete er, dass es kein Unbewusstes gebe, weil das Bewusstsein wissen müsse, was sich im sogenannten Unbewussten befinde, um einzelne Gedanken zum Verdrängen auszuwählen. In Das Sein und das Nichts verwirft er Freuds Theorie des isolierten Bewusstseins zugunsten seiner eigenen Theorie der Unaufrichtigkeit, in der er mit den Begriffen Selbstverschleierung und Selbstflucht das beschreibt, was Freud Selbstbetrug genannt hatte. In der Darstellung seiner Theorie der Emotionen behauptet Sartre, dass diese nicht primär ein Phänomen geistiger Reflexion seien, auch wenn Menschen immer bewusst über ihre Emotionen reflektieren könnten. Emotionales Bewusstsein, so Sartre, sei zuerst und vor allem Bewusstsein von der Welt. Emotionen seien intentional und eine Art, die Welt wahrzunehmen. Zu jeder Emotion gehöre ein Objekt der Emotion: Jede Emotion sei Gerichtetheit auf ihr Objekt und existiere im Verhältnis zu diesem Objekt. Angst zu haben bedeute, Angst vor etwas zu haben, wütend zu sein bedeute, über etwas wütend zu sein und so weiter. Emotionen entstünden, wenn die Welt für eine Person zu kompliziert werde, um in ihr zurechtzukommen. Wenn ein Mensch alle Handlungsmöglichkeiten in der physischen Welt verschlossen finde, entstehe spontan in ihm der Wille, dass die von Kausalität bestimmte Welt sich in eine von Magie beherrschte verwandle, in der Kausalität keine Gültigkeit mehr habe. Emotion sei eine spontane Haltung gegenüber einer bestimmten Situation, die darauf abziele, diese Situation magisch derart zu verwandeln, dass sie plötzlich keine unüberwindbare Schwierigkeit oder Bedrohung mehr für die betroffene Person darstelle. 64
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Eine großer Gefahr ausgesetzte Person kann beispielsweise das Bewusstsein verlieren, um die Gefahr aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, auch wenn bewusstlos zu werden üblicherweise nicht dazu dient, im realen, praktischen Sinn eine Gefahr zu beseitigen. Ähnlich mag ein Mensch vor Wut fluchen oder einen Gegenstand, der nicht funktioniert, wie er soll, schlagen oder werfen, als ob die Welt magischerweise ein Ort geworden wäre, wo die Schwierigkeit bei der Handhabung eines Dinges durch diese „Mittel“ beseitigt werden könnte. Für Sartre sind alle Emotionen funktional. Emotionen sind ein magisches Verhalten, das auf wunderliche Weise eine Situation verwandelt, wenn die Situation für eine Person zu schwer wird, um sie praktisch zu lösen. Bei der Ausarbeitung seiner „Frustrationstheorie“ der Emotionen muss Sartre wohl an seine Beziehung zu Olga gedacht haben. Sartres Karriere ist mit solch umfangreichen, jedoch unveröffentlichten Werken wie Die Psyche gepflastert. Er war immer voller neuer Ideen und arbeitete oft an mehreren Projekten gleichzeitig, nicht zuletzt weil er das Gefühl hatte, dass seine neuesten Theorien sowohl als philosophische Abhandlung wie auch als Erzählwerk gestaltet werden mussten. Immer wenn ein neuer Gedanke ihn einnahm, begann er ein neues Projekt, egal wie viele andere er bereits in Arbeit hatte. Zwangsläufig ließ er vieles liegen, obwohl diese Projekte immer eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung seines Denkens spielten und wertvolles Rohmaterial für andere Werke boten. Hinsichtlich ihres Vollendungsstadiums können Sartres Werke grob in folgende Kategorien unterteilt werden: • Vollendete Werke, die entsprechend lückenlos für die Veröffentlichung vorbereitet wurden. • Umfangreiche Werke, die für die Veröffentlichung vorbereitet wurden, jedoch noch unvollständig sind, d. h., dass Sartre noch weitere Kapitel hinzuzufügen beabsichtigte, es jedoch nie getan hat. Einige dieser weiteren Kapitel wurden begonnen, aber aus verschiedenen Gründen nicht abgeschlossen. 65
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• Umfassende, jedoch unvollständige Werke, Skizzen oder Notizbücher, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen oder noch nicht dafür vorbereitet waren. Etliche dieser Manuskripte sind posthum veröffentlicht worden, um Gelehrten wertvolle neue Einblicke in Sartres Denken zu ermöglichen. • Früh in der Entstehung aufgegebene Werke, entweder weil er dachte, dass sie nicht gelingen würden, oder weil er schnell das Interesse an ihnen verlor. Im Fortschreiten dieser Biographie werden Sie sehen, welcher dieser Kategorien seine verschiedenen Werke jeweils zuzuordnen sind. Insgesamt stand er dem Gedanken skeptisch gegenüber, dass ein Werk wirklich abgeschlossen werden könne. Insbesondere bei einem philosophischen Werk taucht immer wieder Neues auf, das man ergänzen könnte. Deshalb hielt er es für besser, ein Werk einfach offen und unabgeschlossen zu lassen, um andere dazu einzuladen, seine Themen weiterzuentwickeln. Nachdem er Die Psyche aufgegeben hatte, konzentrierte Sartre sich auf seine Kurzgeschichtensammlung. Besondere Aufmerksamkeit richtete er auf die längste Kurzgeschichte im Sammelband, Die Kindheit eines Chefs. Sie erzählt von Lucien Fleuriers Reise ins Erwachsenenalter und seinem Niedergang in den schlechten Glauben, dass er ein notwendiges Wesen sei, das von bürgerlichen Rechten und Werten definiert werde. Der abschließende Schritt der Verwandlung und Festigung von Fleuriers Selbstbild findet statt, als er, unzufrieden mit seinem hübschen kindlichen Gesicht, beschließt, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen – in der Hoffnung, dass andere, insbesondere sozial tiefer stehende Menschen, ihn fürchten und respektieren werden. „Gern hätte er in seinem Gesicht den undurchdringlichen Ausdruck entdeckt, den er an Lemordant so bewunderte. Aber der Spiegel warf ihm nur ein hübsches, kleines, trotziges Gesicht zurück, das noch nicht schreckenerregend genug war: Ich werde mir einen Schnurrbart wachsen lassen, entschied er“ (Die Kindheit eines Chefs, S. 124). 66
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Schnurrbärte sind ein wiederkehrendes Thema in Sartres Schriften. Ein Mann kann seinen eigenen Schnurrbart nicht sehen, zumindest nicht so, wie andere ihn sehen; also existiert ein Schnurrbart primär für andere und ein Mann mit Schnurrbart ist ein Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, für andere zu existieren anstatt nur für sich selbst. Insofern es für den Bourgeois typisch ist, seine gesellschaftliche Rolle zu sein, wurde für Sartre der Schnurrbart zum Emblem des oberflächlichen, selbstzufriedenen, respektablen, reaktionären Gentlemans der Mittelschicht, den er noch mehr verabscheute als Krustentiere. Der feine Herr, es existiert die Ehrenlegion, es existiert der Schnurrbart, das ist alles; wie glücklich muß der sein, der nichts ist als Ehrenlegion, nichts als Schnurrbart, und den ganzen Rest sieht keiner; er sieht die beiden spitzen Schnurrbartenden zu beiden Seiten der Nase; ich denke nicht, mithin bin ich ein Schnurrbart. (Der Ekel, S. 110) Die Kindheit eines Chefs und Der Ekel behandeln viele gemeinsame philosophische Themen und ergänzen dabei einander: Kontingenz, Indeterminiertheit, Identität sowie Unaufrichtigkeit. Sowohl Fleurier als auch Roquentin werden von Identitätsfragen heimgesucht und sind von der Existenz im Allgemeinen verwirrt. Ihre existenziellen Ängste sind im Großen und Ganzen dieselben. Sie weichen hinsichtlich ihrer Reaktion auf ihre Ängste voneinander ab und entscheiden für sich, jeweils die Sorte Mensch zu sein, die der andere verabscheut. Roquentin kann Menschen nicht ausstehen, die wie Fleurier versuchen, sich selbst vorzugaukeln, dass ihre Existenz notwendig sei; dagegen verachtet Fleurier diejenigen, die wie Roquentin – und Sartre – zu viel nachdenken und hinterfragen und ständig über ihre eigene Kontingenz und Überflüssigkeit sinnieren. Fleurier unterdrückt seine Ängste dadurch, dass er versucht, etwas zu sein, und zu einem engstirnigen, rassistischen Bourgeois wird, der von Unaufrichtigkeit beherrscht ist: ein Charakter wie die in Der Ekel beschrie67
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benen salauds (Bourgeois-Schweine oder Bastarde), die Roquentin so sehr verabscheut. Roquentin für seinen Teil durchschaut das Gehabe der salauds und fügt sich in seine Ängste. Der Ekel wurde schließlich März 1938 veröffentlicht und erhielt im Mai überschwängliche Kritiken in vielen Pariser Zeitschriften und Zeitungen. In Ce Soir lobte Nizan Sartre als „philosophischen Romancier allererster Güte“ – es geht doch nichts darüber, seine eigenen Bücher von Freunden rezensieren zu lassen. In der Zwischenzeit schrieb ein junger Albert Camus, der Sartre noch nicht persönlich bekannt war, in der antikolonialistischen Zeitung Alger républicain, dass Sartre „unendliches Talent“ und einen „einzigartigen und feurigen Geist“ habe. Die Handlung von Der Ekel ist im Grunde einfach. An tatsächlichen Ereignissen geschieht nur wenig. Sartre hatte dies genauso beabsichtigt. Er brennt darauf, einen Ausschnitt des Alltags darzustellen und das zu vermeiden, was Romane üblicherweise tun: dem alltäglichen Leben den Charakter eines Abenteuers mit klarem Anfang aufzuerlegen, der auf ein klares Ende hinweist, in dem die Figuren mit sich selbst und untereinander versöhnt sind und vor allem Erfüllung finden. In seinem selbstzerstörerischen Versuch, frei von allen tröstenden Missverständnissen zu leben, verfolgt Roquentin das Ziel, sein Leben so zu leben, als würde er es nacherzählen. Roquentin und damit der Roman selbst bewegen sich auf einem schmalen ironischen Grat zwischen der Erzählung einer Geschichte und dem Versuch, keine Geschichte zu erzählen. Wenn Roquentin versehentlich sein Leben in ein Abenteuer zu verwandeln beginnt, in Literatur, ertappt er sich dabei und nimmt sich wieder zurück. „Ich habe es doch nicht nötig, Phrasen zu machen. Ich schreibe, um gewisse Umstände ans Tageslicht zu bringen. Achtung vor der Literatur“ (Der Ekel, S. 63). Obwohl Der Ekel versucht, einen Plot zu vermeiden, und sowohl Romanhandlungen als auch Literatur als verdächtig betrachtet, gibt es darin dennoch eine Folge von Ereignissen, die einer Romanhandlung ähnelt. 68
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Während Roquentin ziellos durch Bouville treibt, grübelt er besorgt über den Verlust von Lebenssinn und -zweck, über die Lügen und den schlechten Glauben, durch den die salauds versuchen, ihrem Leben Sinn, einen Zweck und das Gefühl von Notwendigkeit zu geben. Roquentin wird dabei vom Ekel verfolgt, einem schrecklichen, überwältigenden Bewusstsein der vollkommenen Zufälligkeit und Absurdität der Existenz. Obwohl der Roman keine bewusstseinsverändernden Drogen erwähnt, spiegelt Der Ekel Sartres irritierende Meskalinerfahrung wider. Roquentin ist damit beschäftigt, eine Biographie über Adhémar, den Marquis von Rollebon, zu schreiben, gibt seinen Plan jedoch auf. Er fasst den Beschluss, dass dies nur der Versuch war, sich über den Weg, Rollebons Existenz einen Sinn zu geben, den sie nicht hatte, von seiner eigenen sinnlosen Existenz abzulenken. Biographien zu schreiben und zu lesen ist absurd und sinnlos – wie im Grunde alles andere auch. Roquentin meidet Freundschaften, aber ist dennoch mit einem Mann befreundet, den er aus der Bibliothek kennt und den Autodidakten nennt. Der Autodidakt versucht, sich selbst autodidaktisch alles Wissen beizubringen, indem er sich von A bis Z durch den Bibliothekskatalog durcharbeitet. Er ist ein Humanist und Sozialist, ein einsamer, unattraktiver Mann, der stürmisch seine Liebe zur gesamten Menschheit erklärt und Roquentin als Misanthropen bezeichnet. Roquentin findet ihn physisch wie intellektuell abstoßend und verlässt angewidert ein Essen mit ihm, als er einen schweren Anfall von Ekel erfährt. Der Autodidakt wird schließlich als Pädophiler entlarvt, als er in der Bibliothek einen Jungen belästigt. Trotz seines Daseins als Einzelgänger freut Roquentin sich darauf, seine frühere Geliebte Anny zu besuchen, obwohl er sich selbst in Erinnerung ruft, dass es keine perfekten Momente gibt. Bei ihrem Treffen stellen sie fest, dass sie ähnliche Gedanken über das Leben hegen. Anny sagt, sie habe sich selbst überlebt. Roquentin kann ihr keinen Lebensgrund geben. Sie trennen sich, vielleicht für immer, und erkennen, dass es nichts gibt, was sie füreinander tun können. Nun, da er wieder allein ist, denkt Roquentin über seine unbegrenz69
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te Freiheit nach und die Zwecklosigkeit seiner überflüssigen Existenz in einem sinnlosen Universum: Ich bin frei: ich habe keinen Grund mehr, zu leben, alle Gründe, die ich durchprobiert habe, haben versagt, und ich kann mir keine anderen mehr ausdenken. Ich bin noch ziemlich jung, ich habe noch genügend Kraft, von vorn anzufangen. Aber was anzufangen? Wieviel Hoffnung hatte ich, auch in meinem schrecklichsten Abscheu, auf Anny gesetzt – jetzt erst fühle ich es. Meine Vergangenheit ist tot, Herr de Rollebon ist tot, Anny ist nur zurückgekehrt, um mir die letzte Hoffnung zu nehmen. Ich bin allein in dieser von Gärten umsäumten weißen Straße. Allein und frei. Aber diese Freiheit ähnelt ein wenig dem Tod. (Der Ekel, S. 165) Der Roman endet mit einem recht optimistischen Gedanken, als Roquentin entscheidet, Bouville zu verlassen und einen Roman zu schreiben. Er denkt nicht, dass ihn dies von seiner Existenz ablenken werde, wie er es vom Schreiben der Biographie Rollebons erwartet hatte. Doch er hofft, dass er auf den Schreibprozess zurückschauen kann, wenn er den Roman erst einmal vollendet hat, und dies zumindest seiner Vergangenheit eine Bedeutung und einen Zweck verleiht. Gemeinsam mit Camus’ Der Fremde, den er inspirierte, erreichte Der Ekel Kultstatus als archetypischer existentialistischer Roman. Seine wesentlichen Themen Kontingenz, Absurdität, Angst und Entfremdung sind im öffentlichen Bewusstsein Synonyme für den Existentialismus geworden – und das obwohl der Existentialismus richtig verstanden eine optimistischere und konstruktivere Philosophie ist, als Der Ekel suggeriert. Der Ekel ist mit seinem Hinterfragen des Wesens von Existenz und Identität ein wahrhaft philosophischer Roman, aber es ist keine Abhandlung über die Philosophie des Existentialismus. Vielmehr ist er eine großartig gestaltete, verstörend einschlägige Erforschung des extremen Nihilismus, mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. 70
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Noch besser als das Lob eines noch unbekannten Albert Camus war die Aufmerksamkeit junger Frauen, die Sartres neu erworbene Berühmtheit ihm verschaffte. Trotz seiner eher hässlichen äußeren Erscheinung hatten Frauen ihn stets für seine Persönlichkeit, Intelligenz, seinen Schnack und seinen insgesamt unkomplizierten und vertrauten Umgang in ihrer Anwesenheit gemocht. Jetzt aber stürzten sich einige regelrecht auf ihn. Ohne sich sonderlich von der Aufmerksamkeit beeindrucken zu lassen, nahm er die neue Situation mit Humor und genoss sie in vollen Zügen. Er liebte es, stundenlang mit Frauen im Bett zu liegen, sie überall zu streicheln und die Vorzüge und Einzelheiten ihrer Körper kennenzulernen. Oft brauchte er mehrere Tage, bis er zum ersten Mal mit ihnen schlief – teilweise weil viele von ihnen Jungfrauen waren und er sich gegen die Mühe sträubte, sie zu entjungfern. Er beschrieb sich selbst eher als jemand, der Frauen mit der Hand befriedigte, denn als Kopulator. Penetration war nicht das, woran ihm am meisten lag. Er hatte ein großes Problem mit Gegenseitigkeit, was ihn in Das Sein und das Nichts dazu führte, eine faszinierende Theorie darüber zu formulieren, warum vollständige sexuelle Gegenseitigkeit unmöglich und sexuelles Verlangen unvermeidbar sadomasochistisch sei. Seine Wahrnehmung, äußerlich hässlich zu sein, die er von Simone Jollivet vermittelt bekommen hatte, ließ ihn glauben, dass eine Frau seinen Körper nicht wirklich begehren könne. Stattdessen hatte er das Gefühl, dass beim Geschlechtsakt beide sich nur an der Schönheit der Frau erregten. Wir wissen all dies, weil er de Beauvoir haarklein über seine diversen Affären schrieb, wobei er versuchte, so präzise wie möglich die intimen Details seines Beischlafs zu beschreiben. Als Schriftsteller musste er sogar sein Sexleben in geschriebene Worte verwandeln, um es vollständig zu erleben und zu genießen. Sein manchmal trotziger intellektualisierter Voyeurismus war für ihn auch ein Weg, um seine notwendige Liebe de Beauvoir an seinen kontingenten Liebschaften teilhaben zu lassen. So konnte er ihr beweisen, dass er sie mit vollkommener Aufrichtigkeit und Offenheit behandelte, alle 71
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anderen aber mit einer leicht amüsierten, leicht ironischen und leicht distanzierten Neugier. Sein Erfolg bei einer Reihe von Frauen gab ihm neues Selbstvertrauen in Bezug auf Olgas Schwester Wanda, mit der er, ohne nennenswerte Fortschritte zu machen, bereits eine Weile geflirtet hatte. Er drohte, ihre Freundschaft zu beenden, wenn sie nicht seine Geliebte würde. Sie willigte ein, aber da sie launisch, flatterhaft und kapriziös wie ihre Schwester war, dauerte es Monate, bis sie ihm ihre Jungfräulichkeit schenkte. Während Sartre seinen neu gewonnenen Ruhm genoss, in schmuddeligen Pariser Hotels mit unterschiedlichen Frauen schlief, Heidegger in französischer Übersetzung las und im Café Flore schrieb, bis seine Feder rauchte, zogen sich über der restlichen Welt dunkle Wolken zusammen. Als er und de Beauvoir im Sommer 1938 von einer Marokkoreise zurückkehrten, wo sie Lebensmittelvergiftungen erlitten und eine tätowierte Frau mit ihrer Vagina eine Zigarette rauchen gesehen hatten, befand sich Europa am Rande des Krieges. Im März 1938 hatte eine politische Intrige zur unblutigen Annektierung Österreichs durch Hitlers Nazideutschland geführt. Dies war der erste Schritt zum „Anschluss“ Deutschstämmiger im Ausland. Danach hatte Hitler seine Aufmerksamkeit auf das Sudetenland in der damaligen Tschechoslowakei gerichtet, das von einer deutschen Mehrheit bewohnt wurde. Er machte sich selbst zu ihrem Fürsprecher und verlangte ihre Befreiung. Wenn Frankreich und Großbritannien ihren Allianzen mit der Tschechoslowakei nachgekommen wären, wäre der Krieg wohl unvermeidlich geworden. Doch in den frühen Morgenstunden des 30. September 1938 unterzeichneten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien das Münchner Abkommen, das die deutsche Annexion des Sudetenlandes zuließ – ein Schachzug, der ganz offensichtlich die staatliche Souveränität der Tschechoslowakei unterminierte. Die Tschechoslowakei war zu dieser Konferenz nicht einmal eingeladen worden, die Europa offiziell der Tyrannei der Nazis preisgab. Die düstere Wahrheit war, dass Frankreich und Großbri72
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tannien einfach noch nicht bereit waren, es mit Deutschlands militärischer Macht aufzunehmen. Die durch die Unterzeichnung des Münchner Abkommens gewonnene Atempause markierte den Höhepunkt der Appeasementpolitik der europäischen Großmächte, d. h. der Versuche, Hitler durch Zugeständnisse in seiner expansionistischen Politik zu beschwichtigen. Trotz seiner persönlichen Zweifel hatte Sartre die Appeasementpolitik abgewogen, aber sich gegen sie entschieden. De Beauvoir, die sich zu dieser Zeit weniger für das Weltgeschehen interessierte als Sartre, fand, dass Krieg auf jeden Fall verhindert werden müsse. Der durch die Beschwichtigung Hitlers gesicherte „Frieden für unsere Zeit“ stellte sich als nichts als ein kurzlebiger und unbefriedigender Aufschub heraus. Elf Monate nach Unterzeichnung des Münchner Abkommens brach Hitler es und marschierte in Polen ein. Der zweite Roman in Sartres Reihe Wege der Freiheit, der 1945 veröffentlichte Titel Der Aufschub, behandelt die acht Tage, die zur Unterzeichnung des Münchner Abkommens führten. Der Aufschub ist im nichtlinearen Stil Dos Passos’ und anderer Autoren geschrieben, die Sartre bewunderte, und stellt die Ereignisse aus einer Unmenge verschiedener persönlicher Perspektiven anstatt aus einer einzigen abstrakten historischen Perspektive zusammen. Mit seinen Sprüngen von einer Szene zur anderen, manchmal mitten im Satz, bricht der Roman bewusst und radikal mit der Einheit von Raum und Handlung – wenngleich nicht mit der Einheit der Zeit, die er klugerweise wahrt –, um mit allen Facetten ein Panorama des auf den Abgrund des totalen Krieges zutreibenden Europas zu bieten. Die fragmentarische Struktur des Romans mag anfangs verwirrend sein, aber der Text ist meisterhaft geschrieben und bietet einen kohärenten und fast vollständigen Überblick, der tiefe Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen herstellt. Sartre blieb für den Rest seiner philosophischen Karriere fasziniert von der Beziehung zwischen der sogenannten Weltgeschichte und den an unterschiedlichen Orten stattfindenden individuellen 73
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Handlungen, die sie umfassen. Große politische Ereignisse wie Kriege, Invasionen und Gnadenfristen werden erst im Nachhinein als ein einziges zusammenhängendes Phänomen identifiziert. Im jeweiligen Moment gibt es nichts außer den zahlreichen individuellen Leben, Entscheidungen, Triumphen und Tragödien. Nur der Romancier, Filmemacher oder Historiker hat einen Überblick und auch nur, nachdem die Ereignisse stattgefunden haben. Ende der 1930er-Jahre brachen Geschichte und Politik in Sartres persönliches Leben herein wie eine Flutwelle. Kein Wunder, dass er sie ebenso energisch in seine Reihe Die Wege der Freiheit einbrachte – wie in seine Werke überhaupt. Sartre begann seine Arbeit an Zeit der Reife, das der erste Band von Die Wege der Freiheit werden sollte, im Juli 1938. Der Roman spielt im Juni desselben Jahres und spiegelt gewissermaßen Sartres Leben zu diesem Zeitpunkt wider – wie auch seine eigene persönliche Entwicklung von der Nachlässigkeit und Unreife zu Friedenszeiten zur Verantwortlichkeit und wahren Mannhaftigkeit bei Ausbruch des Krieges. Zeit der Reife erzählt von zwei Tagen im Leben von Sartres Alter Ego, dem Philosophielehrer Mathieu Delarue, in denen dieser versucht, sich Geld zu leihen, um eine Abtreibung für seine Geliebte Marcelle zu bezahlen. Wenn Marcelle das Baby bekäme, würde dies Mathieus nachlässiges, von jeglichen Verpflichtungen freies Leben einschränken. Zugleich wirbt Mathieu um die junge, kapriziöse, verführerisch sinnliche Ivich – die an Olga erinnert. Er ist in Ivich vernarrt und zugleich genervt von ihren Launen: Er hat genug von der Vergeblichkeit seiner lächerlichen Besessenheit von ihr. Mathieus Bruder Jacques, ein bourgeoiser Anwalt, weigert sich, für die Abtreibung zu zahlen – bietet ihm im Gegenzug jedoch weitaus mehr Geld an, wenn er Marcelle heiratet und das Baby behält. Jacques behauptet, dass Mathieus Beziehung zu Marcelle – wie Sartres Beziehung zu de Beauvoir – wie eine Ehe sei, nur ohne Verantwortlichkeiten. Er pocht darauf, dass Mathieu inzwischen, in seinen Dreißigern, die Zeit der Reife erreicht hat oder erreicht haben sollte; die Zeit, in der ein Mann aufhören muss, den Lebemann zu spielen, 74
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und sich endlich seiner moralischen und gesellschaftlichen Verantwortung stellen; die Zeit, in der es eines Mannes Pflicht ist, sich niederzulassen, sich anzupassen und Opfer zu bringen. Mathieu lehnt Jacques’ Zeit der Reife sowie dessen Geld ab mit den Worten: „Was du Reife nennst, ist das Alter der Resignation, davon halt‘ ich nichts“ (Zeit der Reife, S. 119). Mathieu will die Zeit der Reife anders definieren, und zwar als die Zeit, in der er seine Freiheit behauptet, indem er sich weigert, sich anzupassen. Am Ende des Romans hat er Marcella verloren und es aufgegeben, Ivich nachzulaufen. Nur seine Freiheit ist ihm übrig geblieben. Freiheit, hat er gelernt, bedeutet nicht, Verantwortung zu meiden, sondern sich für einen Weg zu entscheiden, ohne zu bereuen. Er war nicht bereit, sich gänzlich der Familie als Lebensweg zu verschreiben. Diesen Weg gewählt zu haben, hätte seiner fundamentalen Selbstwahl widersprochen, seinem fundamentalen Lebensprojekt, seine Freiheit zu behaupten. Wenn Mathieu in Der Aufschub wiedererscheint, hat er seine Arbeit als Philosophielehrer sowie seinen verantwortungslosen, mit ständig wechselnden Frauengeschichten gespickten Lebensstil als Bohemien aufgegeben und sich vollkommen und ohne Reue dem Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg verschrieben. Zu dem Zeitpunkt, da Sartre Zeit der Reife und Der Aufschub abgeschlossen hatte, war Sartre einen ähnlichen Weg in die Freiheit gegangen wie sein Held. Seit Zeit der Reife, seit Kriegsausbruch, wurden die Themen Freiheit, fundamentale Entscheidungen, Verantwortung, Handeln, Selbstverpflichtung und die Weigerung zu bereuen zentrale Themen sowohl für Sartres eigenes Leben als auch für seine kompromisslose Philosophie der Conditio humana – und darüber auch entscheidend für das, was später als Existentialismus bezeichnet wurde. Sartres Sammlung von Kurzgeschichten, Die Mauer und andere Geschichten, wurde im Februar 1939 veröffentlicht. Da sein Name mit Der Ekel bereits einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatte, wurde der Sammelband sofort ein Bestseller. Einige Kritiker hielten ihn für besser als Der Ekel, andere verurteilten ihn als äußerst vulgär. 75
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Vielleicht mit der gezielten Absicht, ihn zu beleidigen, sandte Sartre seinem verhassten Stiefvater Mancy eine Kopie zu. Dieser schickte das Buch sehr bald mit einer Notiz zurück, in der er die Stelle angab, an der er es zu lesen aufgehört hatte. Welche Stelle das war, weiß ich nicht, aber es könnte gut ein Abschnitt am Anfang von Intimität gewesen sein, in dem Lulu beim Anblick der gelb befleckten Unterhosen ihres Ehemanns über ihre zarten intimen Gefühle reflektiert. Im März 1939 besetzte Deutschland die Tschechoslowakei und im Mai nahm Sartre an einer antifaschistischen Konferenz teil. Da Krieg auszubrechen drohte, legten er und de Beauvoir ihre Reisepläne nach Russland auf Eis. Stattdessen entschieden sie, auf Nummer sicher zu gehen und den Sommer an verschiedenen Orten in Südfrankreich zu verbringen. Sartre rechnete damit, jeden Moment eingezogen zu werden. Wie sein Alter Ego Mathieu hatte er nicht die Absicht, sich seiner Pflicht zu entziehen. Als sie in Marseille waren und der Krieg nunmehr unvermeidbar schien, brachte das Schicksal sie mit alten Freunden zusammen. Sartre und de Beauvoir begegneten zufällig Paul und Henriette Nizan und ihren beiden Kindern. Die Familie wollte ein Schiff nach Korsika besteigen. Später am selben Tag erschien Bost – ein gutaussehender Jungspund in der Uniform eines Infanteristen. Er hatte gerade ein paar Tage Ausgang. Sie alle saßen gemeinsam im Café Cintra, tranken und unterhielten sich über vergangene Zeiten und den bevorstehenden Krieg, bevor Familie Nizan ablegte. Sartre und de Beauvoir sahen Nizan nie wieder. Als sie wieder in Paris waren, blieben viele Geschäfte aufgrund der Sommerferien geschlossen. Eine unbehagliche Ruhe herrschte. All ihre engsten Freunde waren fort. Die Stadt, die nun der Vergangenheit anzugehören schien, erwartete eine dunkle Zukunft. Sie hofften weiter. Selbst am 31. August hofften sie weiter. Sie fanden eine solch verzweifelte Hoffnung sehr unangenehm. „Im übrigen war ich nicht so ruhig, wie ich vorgab,“ schreibt de Beauvoir. „Ich hatte Angst. Ich fürchtete nicht um mein Leben. Keinen Augenblick dachte ich daran, Paris zu verlassen. Ich fürchtete für Sartre“ (In den besten Jahren, S. 323 f.). 76
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Am 1. September 1939 überfiel Hitler Polen. Alle französischen Reservisten wurden umgehend mobilisiert. Sartre stattete seiner Mutter einen schnellen Abschiedsbesuch ab, bevor er seinen Seesack und die Militärstiefel ausgrub und sich auf dem Weg zur Sammelstelle machte. Am folgenden Morgen froren er und de Beauvoir in der Gare de l’Est, als sie auf den Sieben-Uhr-fünfzig-Zug nach Nancy warteten. Er versuchte ihr zu versichern, dass er als Mitglied der meteorologischen Einheit keine Gefahr zu befürchten hatte. Am 3. September 1939 erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Sartre war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt. Der Wahnsinn des Krieges hatte ihn endlich erreicht. Er hatte endlich die volle Mannesreife erreicht, einen Zustand unvermeidbarer Verantwortung; er hatte endlich die Zeit der Reife erreicht.
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12 Krieg der Worte Sartre wurde in eine kleine meteorologische Einheit im Elsass verlegt, an der Grenze zu Deutschland in Frontnähe. In den nächsten Monaten wechselte seine Einheit zwischen verschiedenen Ortschaften in der Umgebung um Straßburg herum, je nachdem wo die Artilleriedivision, der sie zugehörte, Daten über die Windgeschwindigkeit benötigte. Die Franzosen und die Deutschen befanden sich in einer militärischen Pattsituation. Da die Deutschen andernorts beschäftigt waren, gab es bis zur deutschen Frühlingsoffensive 1940 keine bedeutenden Kämpfe in diesem Teil der großen Bühne des Krieges. Sartre fand sich selbst inmitten eines unwirklich scheinenden Krieges wieder und lebte in wechselnden schäbigen Hotelzimmern, so wie er es immer getan hatte. Seine einzige Aufgabe bestand darin, dabei zu helfen, einmal täglich einen Wetterballon aufsteigen zu lassen. Er musste in keiner Schule unterrichten und hatte keine Pariser Freunde und Geliebten, mit denen er sich herumtreiben konnte. Es war der perfekte Rückzugsort zum Schreiben, vor allem für einen geübten Café-Schriftsteller, den Hintergrundgeräusche und Trubel nicht störten. Er befand sich im Auge eines Sturms. Der ihn umgebende Krieg erfüllte ihn mit einer finsteren Energie und einem tiefen Gefühl, dass sich gerade Weltgeschichte vor ihm entfaltete und sein persönliches Schicksal damit verbunden war, ein persönliches Schicksal, für das er verantwortlich war. Er entschied sich für den Krieg. Er beschloss, dass er sich nicht in einer Situation befand, die ihm lediglich zustieß. Sein gesamtes Leben hatte zu dieser Zeit und diesem Ort geführt. Er musste ohne Reue volle Verantwortung für seine Situation über nehmen. Es war ihm wichtig, authentisch zu sein und die Situation, in der er sich befand, aufs Vollste zu begreifen. Anders als ein Kamerad, der 78
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von sich behauptete, er sei nicht wirklich ein Soldat, sondern ein uniformierter Zivilist, wollte Sartre nicht der Unaufrichtigkeit nachgeben und sich nicht dafür entscheiden, nicht zu entscheiden – der Unaufrichtigkeit, sich der Verantwortung und der Realität der eigenen Situation zu verweigern. Diese Antwort auf seine Situation wurde ein Schlüsselprinzip der Philosophie, die er bald schreiben würde. Einige Tage nach seiner Versetzung, da er meist auf einer Kiste saß und sich an eine weitere Kiste anlehnte, stürzte er sich in die Arbeit an Zeit der Reife, was sein zweiter veröffentlichter Roman werden sollte. Er wusste nicht, wie lange diese großartige Gelegenheit dauern würde, die der scheinbare Krieg ihm beschafft hatte, also schrieb er mit großer Eile, oft mehrere Seiten am Tag. Er sandte davon immer fünfzig Seiten mit der Post an de Beauvoir zur Aufbewahrung. Doch der Roman alleine reichte nicht aus, um seine Zeit auszufüllen oder sein unersättliches Bedürfnis zu schreiben zu befriedigen. Also begann er, als tägliche Übung ein Tagebuch zu führen. Es könnte, dachte er, posthum veröffentlicht werden – was es auch tatsächlich wurde. Er beschrieb tägliche Ereignisse und analysierte seine Kameraden: ihre banalen Bemerkungen und ihre manchmal widerlichen Gewohnheiten. Da Sartre selbst nie ein großes Vorbild in Körperhygiene war, ließ er sich hier gehen und seinen Bart einfach wuchern. In erster Linie wurde das Tagebuch ein Ort, um seine philosophischen Ideen zu verwahren, zu erforschen und weiterzuentwickeln. Ohne seine Philosophiebücher zurate ziehen zu können, gelang es ihm, Abstand von seiner Gelehrtheit zu nehmen und sie kritisch zu beurteilen. Er ergab sich in reine, freie Reflexionen über Kant, Kierkegaard, Husserl, Heidegger und andere und säte dabei die Samen seiner eigenen tiefgründigen Philosophie. Als später einige Bände seiner Kriegstagebücher verloren gingen, nachdem de Beauvoir sie Bost geliehen hatte, reagierte Sartre mit völliger Gleichgültigkeit. Das Tagebuch diente ihm nur als Ort, an dem er seine Gedanken entwickeln und strukturieren konnte. Wenn sie erst einmal entwickelt und strukturiert waren, hatten sie sich in 79
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seinem großen, klugen Kopf festgesetzt. Was beim Schreiben im tagebuchähnlichen Prozess der Entwicklung und Strukturierung aus diesem Hirn hervortreten sollte, war sein umfangreiches philosophisches Meisterwerk Das Sein und das Nichts – einer der außergewöhnlichsten, kraftvollsten und bahnbrechendsten Beiträge zur Geschichte des Denkens, die es je gegeben hat. Es heißt, dass Sartre mit seinem Roman, dem Tagebuch und den unzähligen Briefen an de Beauvoir, Wanda und andere im Zeitraum zwischen September 1939 und Sommeranfang 1940 insgesamt über eine Million Wörter schrieb. Das sind etwa vierzehn Mal mehr als in diesem Buch. Er schrieb nicht nur den ganzen Tag ab 6 Uhr morgens, sondern manchmal sogar die ganze Nacht hindurch. Wenn seine Pflichten es zuließen oder andere für ihn einsprangen, blieb er teilweise tagelang in seinem Hotelzimmer, wo er sich nicht wusch und Mahlzeiten übersprang, um Zeit zu sparen, sich nur von Brot und Schokolade ernährte und wie eine besessene Schreibmaschine eine Seite nach der anderen füllte. Er beschloss, dass Erschöpfung nur seine eigene Wahl war, also zog er es vor, nicht müde zu sein. Diese radikale These von Freiheit und Verantwortung wurde der Kern der Philosophie, die er lebte und niederschrieb. Wir tun fast alles, was wir tun, weil wir uns dafür entscheiden, und wir sind verantwortlich dafür, es getan zu haben. Er entschuldigte sich bei de Beauvoir dafür, von seiner Situation nicht deprimiert zu sein, sondern sie als einmalige Gelegenheit zu betrachten, um nachzudenken und zu schreiben und den Krieg auch recht aufregend und bestärkend zu finden. Aber er vermisste de Beauvoir. Er brauchte die Gespräche mit ihr, um seine Gedanken ins rechte Licht zu rücken. Vor allem aber wollte er ihr schönes lächelndes Gesicht sehen, als Gegenmittel gegen die hässliche Machowelt, die ihn umgab. Er konnte mit seinen primitiven Kameraden nicht viel anfangen. Bei ihnen handelte es sich um einfache Franzosen, deren Hauptbeschäftigung zu schwitzen, zu rülpsen und zu furzen sein schien, und er schrieb in sein Tagebuch, dass diese Situation ihn vom Sozialismus geheilt habe. Sartre wurde später ein Befürworter des Sozia80
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lismus, aber wie die meisten gebildeten Sozialisten zog er die etwas kultiviertere Gesellschaft bürgerlicher Intellektueller derjenigen der einfachen Menschen stets vor – und das obwohl er, ironischerweise, genau wie Marx den naiven Glauben hatte, dass die Proletarier die künftige Hoffnung der Menschheit seien. So schreibt Ronald Hayman in seiner hervorragenden, sehr detaillierten Biographie Sartres: „[S]eine Zuneigung zu den Menschen war allgemein und theoretisch“ (Ronald Hayman, Jean-Paul Sartre. Leben und Werk, S. 265). Sartre durfte de Beauvoir nicht verraten, wo er sich befand, aber durch eine Reihe verschlüsselter Briefe gelang es ihm, ein Treffen zu arrangieren. Sie traf ihn Anfang November in Brumath. Als sie ihn erblickte, riet sie ihm eindringlich, seinen schrecklichen Bart zu rasieren, und er kehrte spiegelglatt rasiert von seinem Frühdienst zurück. Sie fanden ein Zimmer, das sie für einige Tage teilen konnten, in dem sie sich liebten und die letzten hundert Seiten von Zeit der Reife besprachen. Unmittelbar nach de Beauvoirs Rückkehr nach Paris am 5. November schrieb Sartre ihr einen Brief, in dem er ihr erklärte, wie sehr er sie liebte und dass er ihr „kleiner Ehemann“ sei. De Beauvoir wusste genau, dass er noch immer romantische Gefühle für Wanda empfand, wenn es sich auch nur in Liebesbriefen offenbarte, die er stets mit großer Freude schrieb. Seine Einheit änderte regelmäßig ihren Standort im Elsass. Er passte seine Schreibzeiten den wechselnden, aber insgesamt leichten Diensten an. Seine ermüdendste Aufgabe in dieser Zeit bestand darin, einmal alle paar Tage ein Schaltbrett in Morsbronn-les-Bains zu bedienen. Zwölf Stunden am Schaltbrett bereiteten ihm Kopfschmerzen und erschöpften ihn mehr, als zwölf Stunden zu schreiben. Am 4. Februar 1940 bekam er elf Tage Ausgang. Sobald er in Paris eingetroffen war, wechselte er in Zivilkleidung, besuchte seine Mutter und teilte seine Zeit zwischen de Beauvoir und Wanda auf. Er fand Paris ungewöhnlich ruhig; es gab nur wenige Männer und kein Nachtleben. Mitte Februar hörte er auf der Zugfahrt zurück an die Front Gerüchte über eine deutsche Frühlingsoffensive. 81
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Er nahm seine klösterliche Routine wieder auf und schrieb mit noch größerer Eile, um das meiste aus der Zeit und der ihm von Hitler bescherten Gelegenheit zum Luftschnappen zu machen – zumindest auf dieser Bühne während des Krieges. Am 12. Mai 1940, als die Deutschen in die Niederlande und Belgien einfielen, wurde er ungeduldig, seine letzten Korrekturen an Zeit der Reife vorzunehmen. Er wollte mit seinem philosophischen Buch endlich vorwärtskommen. Er hatte das gesamte Buch in seinem Tagebuch bereits so gut wie fertiggestellt. Er brauchte nur etwas mehr Zeit, um es abzuschließen. Es gab noch eine ganze Menge offener Baustellen. Die Deutschen eroberten Laon in Nordfrankreich an der Nähe zur belgischen Grenze – eine Stadt, in der er vorher unterrichtet hatte – und schon bald begann er zu schreiben, während er im Hintergrund Schüsse hörte. Schließlich fiel es sogar ihm schwer, sich zu konzentrieren, und seine Schreibstunden waren zunehmend von Schachpartien unterbrochen, die er mit seinen Kameraden spielte. Um sich selbst zu beruhigen, sagten sie zueinander, dass die Deutschen die Franzosen bestimmt besser behandeln würden als die Polen, aber einige seiner Kameraden waren Juden und hatten große Angst. Die französische Armee zog sich zügig vor der Macht der deutschen Blitzkriegsmaschinerie zurück und Sartre mit ihr. Die Deutschen überquerten die Marne am 12. Juni und marschierten zwei Tage später widerstandslos in Paris ein. Ein Waffenstillstand, der zugleich einer offiziellen Kapitulation Frankreichs gleichkommen würde, wurde jeden Tag erwartet. Als Sartre und Hunderte andere Soldaten die Gegend um Padoux in Lorraine erreicht hatten, war die französische Armee vollkommen auseinandergefallen. Im 1949 veröffentlichten Der Pfahl im Fleische, dem dritten Band von Die Wege der Freiheit, bezieht Sartre sich stark auf die Ereignisse dieser Zeit; darin beschreibt er die Mutlosigkeit und das Bewusstsein der Niederlage bei Soldaten, die schändlich im Stich gelassen wurden, als mehrere Hundert Offiziere mit wehenden weißen Fahnen davonliefen. 82
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Schließlich wurde Sartre am 21. Juni 1940, seinem 35. Geburtstag, von den heranrückenden Deutschen gefangen genommen. Man führte ihn unter vorgehaltener Waffe in eine Polizeikaserne, wo er und einige andere Männer mehrere Tage lang bei knapper Kost eingesperrt wurden. Diese Hungerperiode und die würdelose, animalische Reaktion erwachsener Männer auf den Hunger werden ebenfalls in Der Pfahl im Fleische ausführlich beschrieben: „Brunet setzt den Fuß auf die Schnitte und tritt sie in die Erde. Aber zehn Hände packen ihn am Bein, zerren sein Bein zur Seite, sammeln die erdigen Krümel auf “ (Der Pfahl im Fleische, S. 251). Am 22. Juni wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der Frankreich zum Vasallenstaat Nazideutschlands degradierte. Deutschland zog die Fäden von Marschall Pétains Vichy-Regime, das de facto eine Marionettenregierung war, um den Norden und Westen Frankreichs einschließlich Paris und der Häfen am Ärmelkanal zu kontrollieren. Den Süden überließen sie den Franzosen. Inzwischen war General Charles de Gaulle nach London geflogen und als Anführer der Forces françaises libres (FFL, dt. Freie Französische Streitkräfte) anerkannt worden. Sartres Gefangenschaft war eine Art Campingabenteuer. Er lebte in einem Zelt bei dürftigem, abstoßendem Essen und kalten Nächten. Am meisten störte ihn jedoch das primitive Verhalten seiner Mitgefangenen, die sich sogar dazu hinreißen ließen, ihre Exkremente zu verzehren. All dies bereitete ihm noch mehr Ekel vor gewöhnlichen Männern und lieferte ihm weiteres Material für Der Pfahl im Fleische. Wenn er trotz des Hungers einigermaßen bei Kräften war, tat er das, was jeder gesunde Mensch mit ein wenig Intellekt angesichts des unentrinnbaren Elends tun würde: Er tauchte in die ewigen, abstrakten und erbaulichen Wahrheiten der Philosophie ein. Nachdem er sein Tagebuch aufgegeben hatte, begann er nun, an Das Sein und das Nichts zu schreiben, einem der vielen großen Werke verfeinerten Denkens, die aus den Ruinen des Krieges entstanden. Glücklicherweise hatte er einen Stift und Papier und schrieb innerhalb weniger Wochen 76 Seiten. 83
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De Beauvoirs Briefe erreichten ihn in seiner Gefangenschaft und er beantwortete sie mit Postkarten und einigen geschmuggelten Notizen. Er war in Sorge und wollte Neuigkeiten über Nizan, Bost, Maheu und Aron hören. Er gab sich der falschen Hoffnung hin, dass er und seine Kameraden vor Ende August freigelassen würden. Aber Mitte August befand er sich bereits auf dem Weg in ein Kriegsgefangenenlager in Trier. Die Brutalität der deutschen Wachen und der Spott der Polen und Tschechen über die französische Niederlage vermittelten Sartre ein starkes Solidaritätsgefühl mit den anderen französischen Gefangenen. Nie zuvor hatte er so deutlich gespürt, ein Franzose zu sein. Er lachte herzlich mit seinen Mitgefangenen, wenn eine der Wachen ihm in den Rücken trat, weil er die nächtliche Ausgangssperre gebrochen hatte. Dabei konnte er von Glück sagen, dass es kein Bajonett war, und sein Lachen war mehr Erleichterung darüber. Er schloss weniger vulgäre, intellektuellere Freundschaften denn je seit Beginn seines Militärdienstes. Einige kannten seine Werke und ermöglichten ihm, Vorlesungen über Heidegger zu halten. Sie beschafften ihm auch Arbeit im Krankenhaus als Dolmetscher. Danach wurde er einer der Künstler im Gefangenenlager, die die Moral der Gefangenen hochhalten sollten. Die Künstler hatten ihre eigene Hütte, an deren Wände Musikinstrumente hingen. Die Deutschen zahlten ihnen sogar ein kleines Gehalt für ihre Unterhaltung. Um körperlich fit zu bleiben, begann Sartre wieder zu boxen. Für seine geistige Fitness schrieb er weiterhin im Eiltempo an Das Sein und das Nichts. Insgesamt war dies eine gute Situation für ihn, die durch die ständige Bedrohung eines köstlichen Tritts in den Hintern spannend blieb. Er hatte zweifellos seinen Spaß in dieser Zeit. Eine der Hauptaufgaben der Künstler bestand darin, alle zwei Wochen Theaterstücke aufzuführen, um das gesamte Lager zu unterhalten. Sartre entdeckte sein theatralisches Talent aus den Tagen an der ENS wieder und wurde bald die tragende Gestalt dieser Aufführungen. Um den Glauben an die Freiheit zu bestärken und direkt vor der Nase der Nazis antiautoritäres Gedankengut zu verbreiten, 84
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schrieb er das Stück Bariona, führte bei der Aufführung Regie und spielte selbst darin mit. Diese Entscheidung legte den Grundstein für seine spätere Laufbahn als Dramatiker. Das Stück spielt zur Zeit Christi und erzählt die Geschichte des Rebellen Bariona. Bariona war skeptisch gegenüber der Kunde der Heiligen Drei Könige über den Messias und führte den Widerstand gegen die Streitkräfte des Herodes, der eine Marionette der römischen Besatzer war. Der Aufruf des Stückes zum Widerstand entging dem großen Gefangenenpublikum nicht und Sartre und die anderen Schauspieler ernteten tosenden Applaus. Sartre, der die Rolle des Balthasar spielte, schrieb später: Als ich mich jedoch über das Rampenlicht hinweg an meine Kameraden wandte und ihnen von ihrer Kriegsgefangenenlage sprach, begriff ich bei dieser Gelegenheit, als ich sie plötzlich so still und aufmerksam sah, was Theater sein sollte: ein großes kollek tives religiöses Ereignis. (Sartre über das Theater, S. 40 f.) Sartres Liebe für das Theater war entflammt. In den nächsten 25 Jahren bediente er sich wiederholt des Dramas, um seine philosophischen und politischen Gedanken einem großen Publikum mitzu teilen. Zugleich war Sartre selbstverständlich niemand, der sich mit seiner Situation als Gefangener länger abfand als nötig – vor allem da es dort keinerlei Frauen gab. Er war tief getroffen, aber nicht wirklich überrascht, als er hörte, dass Nizan an der Seite englischer Truppen bei der Schlacht von Dünkirchen am 23. Mai 1940 als Held gefallen war. Sartre fühlte, dass er mehr tun musste, als nur Theaterstücke zu schreiben, um dem Terror der Nazis zu widerstehen. Anfang 1941 begann er, konkrete Pläne für einen Ausbruch aus dem Gefangenenlager zu schmieden. Die Flucht aus dem als Notbehelf errichteten Stalag in der Nähe der luxemburgischen und französischen Grenze war nicht sonderlich schwer und einigen war sie bereits gelungen, meist indem sie sich für ungeheure Summen mit der Post hinausschmuggeln ließen. 85
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Was kümmerte es die Deutschen auch, vor allem die Soldaten, wenn ein paar Franzosen entkamen? Für sie bedeutete es vor allem, weniger Mäuler zu füttern zu haben. Frankreich war ohnehin besetzt und geschlagen. Es stellte sich heraus, dass Sartre sich einfach hinausmogeln konnte, wenn er die Deutschen davon überzeugte, ihn für kampfuntauglich zu erklären. Die Urkundenfälscher im Lager erstellten eine Bescheinigung, wonach die fast völlige Blindheit seines rechten Auges ihm Orientierungsschwierigkeiten bereitete. Dass Sartre aus medizinischen Gründen entlassen wurde, ist die landläufige Version und sie ist auf jeden Fall sehr plausibel – dies war die Geschichte, die er bei seiner Rückkehr in Paris erzählte und die de Beauvoir in In den besten Jahren (S. 410 f.) im Großen und Ganzen bestätigt. Aber nach einer anderen Version bot sich ihm im März 1941 eine unkompliziertere Fluchtgelegenheit. Zu Sartres Gefängnisfreunden gehörte auch der Priester Marius Perrin. Sartre vermittelte Perrin die Philosophie Heideggers und brachte ihm bei, epileptische Anfälle zu simulieren, um entlassen zu werden. Perrin lehnte das Angebot ab und beschloss, in Gefangenschaft zu bleiben. Er überlebte den Krieg und veröffentlichte 1980 das Buch Mit Sartre im deutschen Kriegsgefangenenlager, in dem er eine dramatische Version von Sartres Flucht wiedergibt, die gut wahr sein könnte, obwohl sie sehr nach Hollywood klingt. Perrin zufolge bot ein geschickter Dieb namens Braco Sartre eine originale undatierte Bescheinigung an, die er beschafft hatte. Diese Bescheinigung gestattete es einem deutschen Bauern, zwei Gefangene als Arbeitskräfte mitzunehmen. Sartre machte das Beste aus seinen Schauspielkünsten und seinen inzwischen hervorragenden Deutschkenntnissen und verließ als reicher Bauer verkleidet mit einem Koffer in der Hand das Lager – zwei weitere Gefangene folgten ihm. Sartres Flucht aus dem Stalag in Trier bleibt kontrovers. Die PCF behauptete später, dass seine Flucht inszeniert gewesen sei, und einige Sartre-Kommentatoren stimmen dieser These zu. Interessant ist, dass die Nazis ihn in Paris nicht wieder gefangen nahmen, was ihnen leicht möglich gewesen wäre. Aber andererseits mag er kaum weit 86
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oben auf ihrer Prioritätenliste gestanden haben. Aus welchen Gründen auch immer haben die Pariser Behörden niemals von seiner Flucht erfahren. Und wenn jemand begann, unangenehme Fragen zu stellen, hatte Sartre stets die Version mit seinem schielenden Auge parat. Angeblich entließen die Nazis ihn, weil er einwilligte, als Informant und Propagandist für sie zu arbeiten. Es deutet jedoch nichts darauf hin, dass er nach seiner Rückkehr nach Paris mit den Nazis zusammenarbeitete, aber vieles vermag das Gegenteil zu beweisen. Dies schließt nicht aus, dass seine Flucht inszeniert gewesen sein könnte; nur wenn die Deutschen tatsächlich seine Flucht begünstigt haben sollten, dann vermutlich aus mehreren Gründen. Zu Kriegsanfang, als die Nazis siegessicher waren, wollten sie den Franzosen zeigen, dass sie keine Unterdrücker waren – ausgenommen natürlich dort, wo es um Juden ging. Indem sie französischen Intellektuellen erlaubten, sich frei zu bewegen, konnten frankophile Nazis sich selbst vormachen, gesittet und zivilisiert zu sein. Die Nazis hofften, sie könnten die Franzosen durch Zustimmung regieren und wenn sie bekannten Intellektuellen wie Sartre freie Hand ließen, zeige dies, wie vernünftig und großzügig sie gegen die französische Bevölkerung seien. War Sartres Flucht inszeniert, dann hat er zumindest einen kleinen Beitrag zur Nazipropaganda geleistet. In diesem Fall hätte er darauf bestehen können, dass sie ihn offiziell hätten entlassen können, wenn er schon ihrer Propaganda dienen sollte. So hätten sie ihr Ziel auch erreicht, ohne dass er sich mitschuldig gemacht hätte. Sartre konnte damals auch auf Deutsch ohne Punkt und Komma reden; vielleicht gelang es ihm, denjenigen, der ihm zu gehen erlaubte – falls es so jemanden denn gab –, darüber zu täuschen, dass er nach seiner Rückkehr nach Paris mit ihm zusammenarbeiten würde. Zu viel Wenn und Aber, zu viele Spekulationen entspringen aus einem Vorwurf, für den es keine soliden Hinweise gibt. Wahrscheinlich wird die vollständige Wahrheit niemals ans Tageslicht gelangen. Das Wichtigste ist aber auf jeden Fall, dass er nach seiner Rückkehr nach Paris nicht mit den Nazis kollaborierte. 87
13 Besatzungszeit Ende März 1941 waren Sartre und de Beauvoir in einem Pariser Café wiedervereint. Sie hatten sehr unterschiedliche Leben geführt und brauchten eine Weile, um sich wieder aneinander zu gewöhnen. Naiv, wie er war, lehnte er die durch die Besatzung entstandenen Umstände ab. Er war schockiert, dass de Beauvoir Tee auf dem Schwarzmarkt gekauft und ein Formular ausgefüllt hatte, in dem sie angab, keine Jüdin zu sein. Er zog in dasselbe Hotel wie sie, selbstverständlich in ein anderes Zimmer, und seine Lebensumstände erreichten einen neuen Tiefpunkt. Er nahm seinen alten Lehrerberuf wieder auf. Trotz der Kriegsturbulenzen hatten Gerüchte seine Schüler erreicht, dass ihr neuer Philosophielehrer ein sympathischer und lockerer Typ war. Doch sie waren schwer enttäuscht, dass er sich vollkommen kaltschnäuzig zeigte. Er kleidete sich formal und pragmatisch, trug Anzug und Krawatte. Mit festem Willen, sich zurückzunehmen, diktierte er am Ende der Unterrichtsstunden spröde Zusammenfassungen und erzählte nichts von seinen Kriegsabenteuern. Mit den Behörden der Besatzer war nicht zu spaßen. Als unkonventioneller, eigenwilliger Lehrer und Revoluzzer Aufmerksamkeit zu erregen, wäre waghalsig und gefährlich gewesen. Im September 1941, zu Beginn des neuen Schuljahres, übernahm Sartre eine halbe Stelle am Lycée Condorcet. Prof. Ingrid Galster schreibt in der Frühjahrsausgabe des Jahres 2000 der französischen Kulturzeitschrift Commentaire, dass Sartre diese Stelle übernehmen konnte, weil sein Vorgänger, Henri Dreyfus-Le Foyer, als Jude entlassen wurde. Als Antwort auf Galsters schwerwiegende Anschuldigungen wies Jacques Lecarme, Literaturprofessor an der Sorbonne, in der Sommerausgabe 2000 der berühmten von Sartre und de Beauvoir gegründeten Zeitschrift Les Temps modernes darauf hin, dass Dreyfus88
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Le Foyers direkter Nachfolger in Wahrheit Ferdinand Alquié gewesen sei, dem dann erst Sartre nachfolgte. Allerdings handelte es sich hierbei um keinen prestigeträchtigen Lehrstuhl, bei dem man weiß, wessen Platz man einnimmt. Es war einfach nur eine von Sartres vielen Stellen als Schullehrer und er wird kaum gewusst haben, für wen er einsprang, geschweige denn wer seine Stelle noch vor seinem Vorgänger innegehabt hatte. Sartre wusste selbstverständlich, dass Juden aus ihren Lehrerstellen entlassen wurden. Warum erhob er also nicht seine Stimme? Er hätte protestieren können – und es hätte durchaus mit seiner Philosophie übereingestimmt, die er gerade entwickelte, aber die Nazis hätten ihn für seine Anfeindung deportiert oder exekutiert. Der offene Protest hätte unter den damals gegebenen Umständen bedauerlicherweise nichts verändert. Es wäre eine vergebliche, ja selbstmörderische Aktion gewesen, die nur auf Gräuel hingewiesen hätte, von denen ohnehin jeder bereits wusste. Wie Millionen andere Menschen auch, die der Nazibesatzung zum Opfer fielen, war Sartres Verhalten eher zweckdienlich und pragmatisch als bewundernswert moralisch und im besten Sinne die Entscheidung weiterzuleben, um weiterkämpfen zu können. Diejenigen, die immer wieder versuchen, Sartres und de Beauvoirs pragmatisches Verhalten im Zweiten Weltkrieg als Kollaboration, Mittäterschaft und Antisemitismus darzustellen, scheinen dem absurden Glauben anzuhängen, dass sie mit ihren einflussreichen Stimmen damals einfach nur etwas hätten auszusprechen brauchen und das Dritte Reich ihrem Anliegen sofort nachgekommen wäre. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, aber nur mit der Zeit und auf subtilere Weise. Wer die Nazis direkt konfrontieren wollte, musste sich einer Bombe bedienen und nicht eines Kugelschreibers. Sartre hätte die Bombe wählen können, aber er beschloss, es nicht zu tun – eine Entscheidung, die er später vielleicht bereute. Hätte er es getan, so hätte er den Krieg sehr wahrscheinlich nicht überlebt und Sie würden jetzt nicht diese Biographie lesen. Es gab damals nur wenig organisierten Widerstand in Paris. Den meisten Parisern schien jeglicher Widerstand angesichts des unver89
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meidbaren deutschen Sieges zwecklos. Am besten schien es ihnen, sich mit ihren Naziherrschern zu arrangieren, ohne mit ihnen zu kollaborieren. Ein schwieriger Balanceakt. Einige arbeiteten durchaus mit ihnen zusammen. Viele billigten das Treiben der Nazis. Die PCF, die ideologisch den Nazis am stärksten entgegengesetzte Gruppe, hatte durch ihre naive Einhaltung des Hitler-StalinNichtangriffspakts von 1939 sich selbst der Möglichkeit beraubt, Widerstand zu leisten. Diese Absurdität endete, als Deutschland am 22. Juni 1941, dem Tag nach Sartres 36. Geburtstag, in die Sowjetunion einmarschierte. Als Kriegsgefangener hatte Sartre einen Plan ausgearbeitet, um seine eigene Widerstandsgruppe „Sozialismus und Freiheit“ zu gründen. Er begann, Mitglieder aus den Reihen seiner Freunde und Schüler zu rekrutieren, was, soviel wir wissen, meist ein und dasselbe war. Ihr erstes Treffen fand in de Beauvoirs Hotelzimmer statt. Der Philosoph und ehemalige Infanterieoffizier Maurice Merleau-Ponty war anwesend wie auch der von einer Kriegswunde genesende Bost. Jemand schlug vor, dass sie damit beginnen sollten, bekannte Kollaborateure zu ermorden. Stattdessen entschieden sie sich für die klassische, weitaus risikoärmere Option bürgerlicher, intellektueller Aktivisten: eine größere Flugblattaktion. Sartre schrieb ein hundertseitiges Manifest, in dem er die sozialistische Vision eines Nachkriegsfrankreichs darlegte. Als die mit dem Schmuggel des Dokumentes in die freie Zone beauftragte Frau jedoch die Nerven verlor, wurde es eine Toilette heruntergespült. Im Sommer 1941 ließen Sartre und de Beauvoir sich in die freie Zone schleusen, wo sie einen Fahrradurlaub mit der Absicht kombinierten, prominente Schriftsteller für ihre Sache zu gewinnen. Sie wandten sich an André Gide und André Malraux, aber diese waren nicht interessiert. Gide war zu alt dafür und Malraux, der einem hungrigen Sartre Chicken Maryland servierte, sagte, er verlasse sich darauf, dass amerikanische Flugzeuge und russische Panzer die Nazis besiegen würden. Zu Malraux’ Verteidigung muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass er gegen Kriegsende tapfer an der Seite der Alliierten kämpfte. 90
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Während dieser donquichottischen Expedition hatte Sartres Fahrrad einen Platten, den weder er noch de Beauvoir flicken konnten. Typisch Intellektuelle. Sie wollten die Welt retten, aber konnten nicht einmal einen Reifen reparieren. Sartre fuhr gerne Fahrrad, es war weniger anstrengend als Laufen, aber er fuhr manchmal so langsam, dass er herunterfiel. Seine glaubwürdige Ausrede war, dass er an etwas anderes gedacht hatte. Man ist leicht versucht, sich über Sartres Widerstandsbewegung lustig zu machen, aber jeder Widerstand war riskant. Widerstandsliteratur zu produzieren oder zu verbreiten wurde mit Deportation oder Schlimmerem bestraft. Angesichts der Risiken, die sie dabei eingingen, als sie Flugblätter und Kopiergeräte durch Paris schleppten, ist es ein Wunder, dass niemand aus Sartres Gruppe verhaftet wurde. Die Moral sank, als Mitglieder von „Sozialismus und Freiheit“ sich anderen Gruppen anzuschließen begannen. Die kapitalistischen Gaullisten auf der Rechten und die Kommunisten auf der Linken waren zahlreicher und besser organisiert. Es gab keinen richtigen Platz für Sartres dritten politischen Weg. Angesichts der Tatsache, dass seine Gruppe nicht wirklich etwas erreichte und es das Risiko nicht länger wert war, lösten Sartre und Merleau-Ponty sie im Herbst 1941 offiziell auf. Insgesamt schien der Widerstand jedoch an Fahrt aufzunehmen. Die Beziehungen zwischen Franzosen und Deutschen verschlechterten sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 rasch, als auf Mordanschläge mit Repressalien reagiert wurde. Im Oktober wurden 98 Franzosen erschossen, um den Tod zweier deutscher Offiziere zu rächen. Anfang Dezember nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor traten die USA endlich in den Krieg ein. Zu diesem Zeitpunkt, als ein vollständiger deutscher Sieg nicht mehr unausweichlich schien, wirkte Widerstand auch nicht länger zwecklos. Nicht zuletzt mussten die Leute darauf achten, wo sie sich am Ende wiederfanden, falls die Deutschen doch verlieren sollten. Auf einmal stand man also unter Druck, auf irgendeine Art Widerstand zu leisten, um im Nachhinein nicht als Kollaborateur auszusehen. 91
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Nachdem seine gut gemeinte, aber ineffektive Widerstandsbewegung aufgelöst war, beschloss Sartre, das zu wiederholen, was er mit Bariona getan hatte: Er schrieb ein weiteres Theaterstück, um einen subtilen Aufruf zum Widerstand zu starten, Die Fliegen. Im Winter 1941–2 war die bittere Realität des Krieges und der Besatzung deutlicher zu spüren denn je. Ohne die bisherigen Touristenströme, von denen sie lebten, mussten viele Cafés und Bars schließen. Zugleich fuhren wegen der Benzinrationierung nur noch sehr wenige Autos auf den Straßen. Öffentliche Plätze wurden mit Stacheldraht, Schützengräben und Bunkern gesichert und die Deutschen nahmen viele Hotels und Kinos in Beschlag. Aus der freien Zone kam nur wenig Wein herein und es herrschte eine ab Mitternacht streng überwachte Ausgangssperre. Insbesondere Juden lebten in zunehmender Angst vor Unterdrückung und Deportation. Immer wieder verschwanden Menschen, nachdem sie zu Befragungen abgeführt worden waren. Sartre meinte später, dass es wirkte, als ob die Stadtbevölkerung langsam durch versteckte Löcher entweiche. Pariser, die zu viele Fragen über die Verschwundenen stellten, verschwanden bald selbst. Der einzige Vorteil, in Zentrum von Paris zu leben, war, dass die Alliierten es nicht bombardierten, obwohl es regelmäßigen Fliegeralarm gab, den die Pariser weitestgehend ignorierten. All dies wurde mit einem schmerzvoll leeren Magen ertragen. Schmackhafte Genussmittel gab es praktisch nicht mehr, Fleisch war selten und sogar Gemüse oft knapp. Die Preise stiegen immer weiter, bis Sartre, de Beauvoir und ihre kleine Familie, Olga, Wanda, Bost und ein oder zwei andere, es sich nicht mehr leisten konnten, auswärts zu essen. Zum ersten Mal in ihrem Leben beugte de Beauvoir sich der Not und kochte. Sie fand ein Hotelzimmer mit einer kleinen Küche und borgte sich Töpfe und Pfannen von ihrer Schwester. Obwohl sie keine großartige Hausfrau war, bereitete de Beauvoir, die stets praktischer veranlagt war als Sartre, bald aus allem, was sie in den spärlich gefüllten Läden oder Märkten bekommen konnte, durchaus essbare Mahlzeiten für „die Familie“ zu. 92
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Auf leeren Magen zu arbeiten fiel ihr schwerer als Sartre. Er brauchte nur wenig Nahrung zum Überleben, obwohl er zum Schreiben unbedingt auf Tabak angewiesen war. Er begann, auf der Straße und in der Abflussrinne nach Zigarettenstummeln zu suchen, um deren Tabakreste in seine Pfeife zu stopfen. An Tagen, an denen er nicht unterrichten musste, verbrachte er den Großteil seiner Zeit mit Schreiben im Café Flore oder dem Café Coupole. Heizstoffe aller Art waren zunehmend schwer erhältlich und teuer geworden, wodurch Cafés den zusätzlichen Vorteil hatten, das man sich in ihnen aufwärmen konnte. Für die Stammgäste war es von gegenseitigem Nutzen, ihre Kohlerationen in ihren Lieblingscafés anzuzünden, und genau das tat Sartre auch. Vielleicht ist dies eines der kommunistischsten Dinge, die Sartre je getan hat. Obwohl Sartre und de Beauvoir bewusst entschieden hatten, in Paris zu bleiben, war es für sie dennoch eine große Erleichterung, die Stadt gelegentlich in Richtung Provinz zu verlassen. Sie verbrachten Weihnachten 1941, einen Teil der Ostertage im Jahr darauf sowie einen gesamten Monat des folgenden Sommers in La Pouëze in der Nähe von Angers bei ihrer wohlhabenden, exzentrischen Freundin Madame Morel; dort bekamen sie Fleisch und Eier zu essen und konnten sich entspannen, Kräfte regenerieren und lesen. Sartre hatte Madame Morel in seiner Studienzeit kennengelernt, als er ihrem Sohn Nachhilfe gab. Er wurde bald einer ihrer Lieblinge auf den regelmäßigen Soirées, die sie in ihrer prächtigen Wohnung auf dem Boulevard Raspail veranstaltete. Als mit Fortdauer der Besatzung die Lebensmittelrationen immer knapper wurden, erwies Madame Morel sich durch das regelmäßige Zusenden von Esspaketen als Lebensretterin für Sartres engeren Kreis. Obwohl einiges davon bereits schlecht geworden war, als es Paris erreichte, wurde es dennoch dankbar angenommen und so viel wie möglich davon gegessen. Vor ihrer Osterfahrt zu Madame Morel besuchten sie Rouen und Le Havre, nicht zuletzt um den Schaden zu begutachten, den die Bombardements der Alliierten verursacht hatten. Viele von Sartres alten Lieblingsplätzen am Hafen waren völlig zerstört worden. Sie 93
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fanden es eher spannend als beängstigend, im Radio BBC-Nachrichten zu hören, während zugleich in der Nähe alliierte Bomben explodierten. Das Blatt würde sich gewiss bald gegen die Deutschen wenden. Diese Ahnung wurde endlich im November 1942 bestätigt, als die Alliierten in der zweiten Schlacht von El Alamein in Nordafrika deutsche und italienische Truppen besiegten – ein Ereignis, das Winston Churchill treffend als „das Ende des Anfangs“ bezeichnete. Der Anfang des Endes des Dritten Reiches begann nur wenige Monate später im Februar 1943, als die Rote Armee in der Schlacht von Stalingrad die deutsche 6. Armee vernichtend schlug. Der Monat, den Sartre und de Beauvoir im Sommer 1942 in La Pouëze verbrachten, war eine Art Genesungszeit nach einem beschwerlichen Fahrradausflug nach Südfrankreich. Anfangs war alles gut gelaufen und Bost begleitete sie. Dass Bost dabei war, kam Sartre sehr gelegen, da de Beauvoir so jemanden hatte, mit dem sie Wander- und Kletterausflüge unternehmen konnte; währenddessen blieb er in der Stadt oder im Dorf zurück, um an Die Fliegen, Der Aufschub und Das Sein und das Nichts zu schreiben. Im Laufe der Zeit wurde es jedoch zunehmend schwierig, Nahrung und Obdach zu finden, sodass sie oft im Freien mit leerem Magen übernachten mussten. Nachdem Bost sie verlassen hatte, um Freunde in Lyon zu besuchen, reisten sie weiter, hatten jedoch kaum Kraft, um in die Pedale zu treten. De Beauvoir verlor acht Kilo und bekam Ausschlag, während Sartre vor Hunger kollabierte und einige Tage bettlägerig war. Sie schafften es gerade so zu Madame Morel, doch an der russischen Front geschahen zeitgleich weitaus schlimmere Dinge. Als Sartre im September 1942 wieder in Paris war, schrieb er eine wohlwollende Rezension über Camus’ heute existentialistischen Kultroman Der Fremde, der im Juni erschienen war. Bis zu ihrer ersten Begegnung sollten jedoch noch einige Monate vergehen. Als Reaktion auf die Erfolge der Alliierten in Nordafrika wurde die französische freie Zone im November geschlossen. Die Deutschen beeilten sich, sie zu erobern, um die Mittelmeerküste zu ver94
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teidigen. Der bitterkalte Pariser Winter in diesem Jahr war noch härter als der vorherige. Stromausfälle häuften sich, während der begrenzte Vorrat an Kerzen und Kohle weiterhin schrumpfte. Da war es eine gute Idee, ins Café Flore zu gehen, sobald es um acht Uhr morgens öffnete, um die wärmsten Sitzplätze zu ergattern. Sartre schrieb und rauchte in einer Ecke, während Picasso in einer anderen Ecke Ersatzkaffee trank. Mit Fortdauer der gefährlichen, aber trostlosen Besatzung, in der Paris nach und nach verhungerte, waren Literatur und Kunst sowie die vereinzelten Nachrichten des viel zu lange dauernden Niedergangs der Wehrmacht der einzige Trost. Sartre hatte beschlossen, Zeit der Reife fest zu verschließen, bis der Krieg vorbei wäre. Mit den Stellen, die von Abtreibung und Homosexualität handelten, würde der Roman es niemals durch die Zensur schaffen. De Beauvoir schrieb später in In den besten Jahren: „[K]ein Verleger [hätte sich] zur Veröffentlichung eines derart skandalösen Buches bereitgefunden“ (In den besten Jahren, S. 440). Er war bereits mit der Fortsetzung, Der Aufschub, gut vorangekommen. Die beiden Bücher erschienen später zeitgleich im September 1945. Im Frühling 1943 war es Sartres großes Anliegen, neben der Vervollständigung seines Hauptwerkes sein Theaterstück auf die Bühne zu bekommen. Wie bei Der Ekel half der Schauspieler, Theaterintendant und Regisseur Charles Dullin, sodass die Proben beginnen konnten. Bei der Generalprobe von Die Fliegen im Théâtre de la Cité traf er das erste Mal auf Camus, der sich ihm im Foyer vorstellte. Satre beschrieb ihn als gutaussehend und athletisch gebaut. Das war er auch. Aber er litt auch an Tuberkulose. Die Fliegen hatten ihre Premiere am 3. Juni 1943. Die ersten Aufführungen waren sehr gut besucht, aber die Besucherzahlen gingen bald zurück, sodass es nur vierzig Mal aufgeführt wurde, einige Male davon erst im Oktober nach der Sommerpause. Rezensenten fürchteten sich davor, die politischen Inhalte des Stückes zu kommen tieren, und die veröffentlichten Rezensionen waren nicht gerade enthusiastisch. Nach dem Krieg wurde das Stück in den USA und anderen Ländern weitaus besser aufgenommen. 95
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Die Fliegen spielt im antiken griechischen Argos und basiert auf der Legende von Orestes. Die von einer Fliegenplage heimgesuchte Stadt steht für das besetzte Paris. Orestes kehrt unter dem falschen Namen Philebus nach Argos zurück; als Kind musste er die Insel verlassen, nachdem Aigisthos Orestes’ Vater, König Agamemnon, ermordet und seine Mutter Klytämnestra geheiratet hatte. Die großen Schmeißfliegen, die die Stadt plagen, versinnbildlichen die Sünde und Korruption der Menschen in Argos sowie das kollektive Schuldgefühl, das sie heimsucht, weil sie Agamemnon nicht beschützt und seinen Tod nicht gerächt haben. Orestes’ Schwester Elektra erklärt ihm, dass die Bewohner sich am liebsten mit dem Beichten beschäftigten und ihre endlose Schuld und Reue wie eine Seuche sei. Entgegen Zeus’ Willen tötet Orestes am Ende Aigisthos und Klytämnestra. Er weigert sich, Schuld für seine Tat zu empfinden, und übernimmt die volle Verantwortung dafür. Anstatt als rechtmäßiger König den Thron von Argos zu besteigen, verlässt Orestes die Insel und nimmt die Fliegenplage mit sich. Die Fliegen erforscht die Schlüsselthemen des Existentialismus Freiheit und Verantwortung durch die radikale Verwandlung des friedensliebenden Intellektuellen Philebus zum Krieger Orestes. Orestes widersteht der Unaufrichtigkeit und erringt Authentizität, indem er sich tapfer den Anforderungen seiner Umstände stellt und sein Geworfensein in die Situation vollkommen anerkennt. Orestes hat die freie Wahl, in dieser Lage, in der er sich befindet, keine Wahl zu treffen und Argos mit seinen Problemen zu verlassen. Aber stattdessen entschließt er sich dafür, aktiv zu handeln, seinen Vater zu rächen und mit den Konsequenzen zu leben, dass er seine Mutter ermordet hat. Anders als seine unglückliche Schwester Elektra, die der Unaufrichtigkeit verfällt, ihre vergangenen Taten zu bereuen und um Gnade zu bitten, triumphiert Orestes in der Logik des Stückes sowohl über Gott als auch über seine Schuld und wird dadurch zum existentialistischen Helden. Er behauptet seinen freien Willen gegen den Willen Gottes und offenbart damit die Grenzenlosigkeit der menschlichen Freiheit. Er übernimmt volle Verantwor96
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tung für seine Handlungen in der Vergangenheit und akzeptiert, dass er die Summe all seines Handelns ist. Indem er dies tut, überwindet er die Reue: das Verlangen, Buße zu tun und Verzeihung zu erlangen. Sartre entwickelte seine jeweiligen Gedanken gleichzeitig sowohl mittels eines fiktionalen Werkes als auch mittels eines Sachtextes. Die Wechselwirkung zwischen beiden inspirierte ihn. Die Fliegen und Das Sein und das Nichts wurden zeitgleich geschrieben und erforschen viele gemeinsame Themen. Sie erschienen sogar im selben Monat, im Juni 1943, als Sartre 38 Jahre alt wurde. Für Sartre war Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie – heute gleichsam die „Bibel“ des Existentialismus – das großartige Substrat all dessen, was sein monumentaler Intellekt in mehr als zwanzig Jahren gelesen, geschrieben, erfahren und besprochen hatte, aber damals hatte das noch kein Aufsehen erregt. Schließlich steckte die Welt gerade im Krieg und sein 650 Seiten starkes Buch war und ist damals wie heute mehr oder minder unlesbar, wenn man keine Übung in der Lektüre philosophischer Texte hat. Wie andere große philosophische Werke – Humes Traktat, Kants Kritik der reinen Vernunft – musste es erst langsam an Popularität gewinnen, nachdem ernst zu nehmende Denker und Akademiker es gelesen, daraus zitiert, es kommentiert und weiterempfohlen hatten. Heute gehört es zum Kanon westlicher Philosophie und ist dasjenige Werk, das Sartres Platz in der langen und glänzenden Geschichte dieser Disziplin sichert. Die meisten Analysen von Sartres Existentialismus konzentrieren sich auf Das Sein und das Nichts. Sogar solche Interpreten, die aus verschiedenen Gründen den Titel „Bibel des Existentialismus“ nicht mögen, akzeptieren, dass Das Sein und das Nichts ein Eckpfeiler der existentialistischen Denkschule ist. Mit seinem großen Maßstab und Anspruch, mit seiner strukturellen und sprachlichen Dichte und Komplexität strebt das Werk danach, sich einzureihen in andere epische, herausfordernde und schwergewichtige Texte der europäischen Philosophie wie Heideg97
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gers Sein und Zeit, Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung und Hegels Phänomenologie des Geistes. All dies sind Werke, die auf ihre jeweils eigene Art und Weise eine verständliche und ganzheitliche Darstellung der entscheidenden Faktoren der Conditio humana liefern. Sartres beständiges Anliegen in Das Sein und das Nichts ist mehr oder weniger dasselbe wie das seiner drei größten Vorbilder Hegel, Husserl und Heidegger: Was muss die wesentliche Eigenschaft eines Lebewesens sein, das ein Verhältnis zur Welt hat und ist – das ein Bewusstsein von der Welt hat und auf sie einwirkt? Sartre verwendet den dialektischen Stil sowie die dialektische Methode seiner philosophischen Vorgänger, die sich als wirkungsvolles Mittel erwiesen haben, die fundamentalen inneren Beziehungen zwischen scheinbar grundverschiedenen Phänomenen zu offenbaren. Er argumentiert, dass die einzige Art von Sein, die als Beziehung zur Welt existieren kann, ein Sein ist, das an sich nichts ist: ein Wesen, das Negation ist, Nichtsein oder Nichts. Der Kern von Das Sein und das Nichts ist zweifellos die komplexe Dynamik der Beziehung zwischen Sein und Nichtsein oder genauer zwischen An-sich-Sein und Für-sich-Sein, wie Sartre sich ausdrückt. Um diese komplexen Begriffe verstehen zu können, hilft es (zumindest für den Anfang), sie sich als die Welt und als das Bewusstsein vorzustellen. Das Werk enthält ausgedehnte Beschreibungen sowohl der Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt als auch der Beziehung zwischen einem Bewusstsein und einem anderen. Diese Beschreibungen beleuchten unzählige Implikationen und Konsequenzen, die sich auf alle Aspekte des menschlichen Inder-Welt-Seins erstrecken – Wahrnehmung, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Handeln, Verlangen, Freiheit, Angst, Verantwortung, schlechter Glaube, Für-andere-Sein, Sterblichkeit und dergleichen mehr. Die große Fülle an Beispielen, Illustrationen, Assoziationen, Einsichten, Andeutungen und Fingerzeigen offenbart Sartres Genie und macht es reizvoll, seine Philosophie – seine philosophische Psychologie – zu studieren, zu kritisieren und weiterzuentwickeln. 98
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Weil Sartre auf Schritt und Tritt versucht, die verschiedenen Implikationen seines komplexen Denkens zu beleuchten, sind die Argumente in Das Sein und Das Nichts etwas verwickelt, sodass die Lektüre einige Mühe bereitet. Sartre lässt nichts unversucht – und um sich durch Das Sein und das Nichts durchzuarbeiten oder zumindest durch große Teile davon, muss der Leser viel Zeit und Mühe für eine lange, aber faszinierende Reise mit Sartre aufbringen, der ein weitläufiges und komplexes Gebiet absteckt. Der entschlossene Leser wird früher oder später erkennen, dass das Buch unnachgiebig und schonungslos versucht, eine These über alle Aspekte des Menschseins zu formulieren, um eine einzige, erschöpfende, schonungslos ehrliche und sehr kohärente Theorie der menschlichen Wirklichkeit zu entwickeln. Im Anschluss an die Frage nach dem Wesen von Sein und Nichtsein und dem grundlegenden Verhältnis zwischen beidem fährt das Buch damit fort zu erklären, dass Bewusstsein dasselbe sei wie Nichtsein und wie es sich auf der Stufe unseres Erlebens manifestiere. Bewusstsein wird mehrfach und akribisch als das beschrieben, was als Beziehung zum Sein existiert und nicht als eine Sache an sich – als ein Mangel an Sein, das vergeblich danach trachtet, durch die Überwindung dieses Mangels in Übereinstimmung mit sich selbst zu kommen; als etwas, das wesenhaft intentional, zeitlich, körperlich und frei ist. Sartres These, dass Menschen radikal frei seien, entspringt unmittelbar seiner Philosophie des Geistes. Jeder Mensch, sagt er, ist eine zukunftsschaffende Intention, ein zeitlicher Flug von seinem gegenwärtigen Nichtsein in Richtung zu einer zukünftigen Übereinstimmung mit sich selbst, die niemals erreicht werden kann. In dieser offenen Zukunft, auf die der Mensch abzielt und die ihn definiert, ist der Mensch frei. Da Menschen wesentlich frei sind, können sie nicht nicht frei sein. Sie müssen kontinuierlich entscheiden, wer sie sind und was sie tun. Jeder Versuch, sich dieser Verantwortung zu entziehen, indem man entscheidet, nicht zu entscheiden, jeder solche Versuch führt zu schlechtem Glauben. Ein weiteres Hauptthema des Buches ist die Frage, wie Bewusstsein, Freiheit und Unaufrichtigkeit in Beziehungen zu anderen Men99
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schen funktionieren und durch solche Beziehungen bedingt sind. Vor einer bestechend durchdringenden Analyse konkreter Beziehungen mit anderen schildert er zunächst das Wesen des Für-andere-Seins. Brillant beschreibt er Liebe, Hass, sexuelles Verlangen, Masochismus, Sadismus und Indifferenz und erklärt, was für sie wesentlich ist, wie sie aus dem Wesen unseres Seins in der Welt entstehen und wie sie innerlich miteinander verwandt sind. Während er seinem Hauptanliegen nachgeht, diese jeweiligen konkreten Beziehungen zu analysieren, bietet er ganz nebenbei eine Fülle anregender Gedanken über das Wesen und die Bedeutung verschiedener Phänomene wie Nacktheit, Obszönität, Anmut und Erniedrigung. Die außerordentliche Gabe, das Wesen und die Verbundenheit aller Aspekte der Conditio humana zu beschreiben, die Sartre in Das Sein und das Nichts offenbart, ist bemerkenswert und inspirierend. Obwohl es unvermeidlicherweise in diesem Werk vieles gibt, das kritisiert und genauer dargelegt werden könnte, handelt es sich hierbei dennoch um ein Werk von durchdringender Schärfe und atemberaubender intellektueller Kreativität. De Beauvoir war bereits drei Wochen lang alleine auf ihrem Fahrrad unterwegs, als Sartre mit dem Zug nach Zentralfrankreich kam, um sie zu besuchen. Fast hätte er in einem Sturm seine einzige Kopie von Der Aufschub verloren, als sein draußen abgestelltes Fahrrad umfiel und das Manuskript aus seiner Fahrradtasche fiel. Er musste es aus dem Abflusskanal retten, die Seiten trocknen und einige stark verschmutzte Passagen wiederherstellen. Sartre stand im Ruf, mit seinen Manuskripten recht sorglos umzugehen. Aber wie hätte er vorsichtiger sein können, wenn er immer unterwegs schrieb und fortwährend Kopien zu machen einfach unpraktisch war? Er hätte von den modernen Möglichkeiten, Dokumente zu speichern, sicher sehr profitiert. Und zweifellos würde er von seinem iPad aus einen regelmäßigen Blog geführt haben. Im Spätsommer 1943 begaben Sartre und de Beauvoir sich einmal mehr auf den Weg, um den Komfort bei Madame Morel in La P ouëze 100
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zu genießen. Dort vernahmen sie, dass Italien kapituliert hatte. Zugleich gewann Russland die verlorenen Gebiete rasch zurück. Als Sartre wieder in Paris war, packte ihn erneut das Theaterfieber und er beschloss, ein weiteres Stück zu schreiben. Er brauchte nur zwei Wochen, um Geschlossene Gesellschaft auf Papier zu bringen, vermutlich sein bestes und bestimmt sein berühmtestes Stück. Als er Camus einlud, Regie zu führen und die Hauptrolle des Garcin zu spielen, machte er aus ihrer Bekanntschaft eine Freundschaft. Camus hatte bereits als Student in Algier eine eigene Theatergruppe gegründet. Er nahm das Angebot an und die Proben begannen, später stieg er jedoch wieder aus. Die Rolle des Regisseurs übernahm schließlich Raymond Rouleau und die Rolle des Garcin Michel Vitold. Sartre war von der Gesellschaft jüngerer Menschen angezogen sowie von Intellektuellen aus der Arbeiterklasse von etwas gröberem Schlag, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Camus, der acht Jahre jünger als Sartre war und aus den Slums von Algier kam, erfüllte diese Kriterien in allen Punkten. Bevor ihre kurzlebige Freundschaft aufgrund von politischen Differenzen auseinanderging und Camus in Sartres Augen eitel wurde, hatten die beiden eine Menge Spaß zusammen. Das ehemalige wohlbehütete Muttersöhnchen und das ehemalige Gangster-Straßenkind machten sich einen Jux daraus, obszöne Geschichten auszutauschen, um de Beauvoir, Camus’ Frau Francine und die Schauspielerin Maria Casarès (die mit Camus eine Affäre hatte und durch die Rolle des Todes im Film Orphée berühmt geworden ist) zu schockieren. In ernsterer Angelegenheit begann Sartre, für Camus’ Widerstandszeitschrift im Untergrund Combat zu schreiben. Sartre sollte bald einen noch rüpelhafteren jüngeren intellektuellen Freund finden, nämlich den ehemaligen Häftling, Dichter und Dramatiker Jean Genet. Der war eine Entdeckung des Schriftstellers und Filmemachers Jean Cocteau, der sich vor allem mit seinem Roman Les Enfants Terribles und dem Film Orphée einen Namen gemacht hatte. Das soziale Umfeld Sartres und de Beauvoirs zu dieser 101
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Zeit liest sich wie das Who’s Who der französischen Literatur, Kunst und des französischen Kinos. Sartre war nicht sehr eng mit Genet befreundet – Genet war niemand, den man zu einem anständigen gesellschaftlichen Treffen einladen konnte. Sie waren lediglich voneinander angezogen, weil Sartre gerne anregende Charaktere wie Genet studierte, während Genet, wie Sartre sich später erinnerte, sich nur für Genet interessierte und es liebte, über sich selbst zu reden. Sartre publizierte 1952 Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, die zweite seiner drei Biographien über französische Schriftsteller. Die erste handelte von Baudelaire und war eine eingehende psychologische Studie wie auch eine gnadenlose Abrechnung mit dem Charakter des großen französischen Dichters, die Sartre 1944 begann und 1946 erschien. Die Pariser Theaterwelt war mit der des französischen Kinos eng verwandt. Sartres Freunde sorgten dafür, dass er Filmdrehbücher für Pathé schrieb und einen kleinen Vorschuss dafür erhielt. Wenn eines seiner Drehbücher angenommen werden würde, könnte er endlich seine Lehrerstelle aufgeben. Ende 1943 war er dabei, Das Spiel ist aus abzuschließen, eine melodramatische Geschichte über zwei Menschen, die im Leben nach dem Tod zu Liebhabern wurden. Unglücklicherweise, zumindest für Sartres Kontostand, wurde das Drehbuch abgelehnt, 1947 brachte man es dann aber doch auf die Leinwand. In der Zwischenzeit hatten de Beauvoirs finanzielle Verhältnisse ebenfalls gelitten, nachdem ihre Schulleiterin (die mit den Nazis kollaborierte) ihr kündigte, weil sie einen Studenten mit ihrem radikalen Gedankengut angesteckt hatte. Doch die stets erfindungsreiche de Beauvoir fand bald eine Stelle beim Radio und hatte Anfang 1944 bereits wieder die Mittel, um Skifahren zu gehen. Obwohl Sartre und de Beauvoir inzwischen bekannte Personen der Pariser Intellektuellenszene geworden waren und kurz vor dem Durchbruch zu großem, anhaltendem Ruhm standen – de Beauvoir hatte 1943 ihren ersten Roman Sie kam und blieb veröffentlicht –, waren sie erstaunlicherweise beide arm und oft hungrig. Als Erklärung hierfür wirkt es plausibel, dass Sartres literarische Perlen zu 102
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jener Zeit ganz einfach deshalb nicht sehr bekannt waren, weil er wegen des Krieges kein größeres Publikum erreichte. Nur in Paris kannte ihn jeder. Außerdem investierten sie als Antibourgeois ihr Geld nicht, sondern neigten im Gegenteil dazu, es überall auszugeben, nicht zuletzt um ihre kleine, aus Freunden und Liebhabern bestehende Familie zu unterstützen. Trotz der zunehmenden Not der Besatzung, trotz Nazis mit immer lockereren Fingern am Abzug und trotz der Bombardements der Pariser Vororte durch die Alliierten begann das Jahr 1944 in feierlicher Atmosphäre. Die Alliierten durchbrachen bereits das, was Churchill den „weichen Unterleib Europas“ nannte, und die Befreiung von Paris und Frankreichs war nur noch eine Frage der Zeit. Letzten Endes würde es ja doch eine Nicht-Nazi-Zukunft geben, eine englisch-französisch-amerikanische wie auch eine russische Zukunft. Sartre feierte dies und spielte den Kasper bei einigen Partys in den großen Wohnungen wohlhabender Pariser, die es trotz des Krieges liebten, die intellektuelle und künstlerische Elite der Stadt zu fördern. In jenen Tagen hatte jeder, der etwas auf sich hielt, ein Theaterstück in der Schublade liegen. Auf einer Party spielte Sartre in einem Stück von Picasso mit, bei dem Camus Regie führte, Picasso wohnte der Aufführung auch bei. Zu Ostern waren Sartre und de Beauvoir wieder in La Pouëze, um sich auszuruhen. Als sie in Paris ankamen, mussten sie feststellen, dass die britische Royal Air Force (RAF) die Bahnhöfe bombardiert hatte. Der Vormarsch der Alliierten machte das Leben schwieriger und gefährlicher, als es bereits war – und aufregender. Geschlossene Gesellschaft wurde am 27. Mai 1944 im Théâtre du Vieux-Colombier aufgeführt. Anders als Die Fliegen war Geschlossene Gesellschaft kein indirekter Kommentar zur politischen Lage der Zeit, jedoch durch die Konzentration auf die Themen Gefangenschaft und Konflikt im Allgemeinen für die unter der Nazibesatzung lebenden Pariser von großer Aktualität. Das Stück hat eine einfache Struktur – ein Akt, eine Szene – und ist Sartres Vision der Hölle. Drei unangenehme Charaktere – Garcin, Inez und Estelle – finden sich auf ewig in einem Raum eingeschlos103
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sen wieder. Sie alle leiden an ihrem Für-andere-Sein und versuchen, ihr vergangenes Leben und ihre Handlungen zu rechtfertigen. Die Beziehungen zwischen den drei Figuren spiegeln zum Teil die stürmische Dreiecksbeziehung zwischen Sartre, de Beauvoir und Olga aus den 1930er-Jahren wider. Die Charaktere plagen sich gegenseitig mit persönlichen Vorwürfen und dem Wissen über die Fehler der anderen, das sie bald gewinnen. Da sie tot sind, können sie nichts mehr daran ändern, wer sie sind, und also das Urteil der anderen nicht transzendieren. Garcin zum Beispiel kann die anderen beiden nicht davon überzeugen, ihn zu überzeugen, dass er kein Feigling sei. Sartre war fasziniert von der Frage, die vor allem in der Kriegszeit von Bedeutung war, wie man entscheidet, ob jemand ein Feigling sei. Gegen Ende des Stücks fasst Garcin dessen zentrale Botschaft zusammen: „Kein Rost erforderlich, die Hölle, das sind die anderen!“ (Bei geschlossenen Türen, S. 97). Dieser wohl berühmteste Ausspruch Sartres gibt die in Das Sein und das Nichts und auch an anderen Stellen formulierte pessimistische Sicht Sartres wieder, dass die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen der Konflikt sei. Inzwischen erreichte der Konflikt jenseits der Bühne seinen Höhepunkt. Am 6. Juni 1944 begann von der Normandie aus die alliierte Invasion Frankreichs. Am 11. August hatten die Amerikaner Chartres eingenommen, das etwa achtzig Kilometer von Paris entfernt liegt. Da Sartre und de Beauvoir sich die Befreiung von Paris nicht entgehen lassen wollten, machten sie sich von Neuilly-sous-Clermont aus schleunigst auf den Weg dorthin. Auf Anraten Camus’ hin hatten sie sich dort versteckt, nachdem den Behörden die Namen der Mitarbeiter von Combat bekannt geworden waren. Sie nutzten Nebenstraßen nach Chantilly, um nicht den deutschen Rückzug kreuzen zu müssen, und nahmen dort die Bahn nach Paris. Als der Zug von der RAF beschossen wurde, mussten sie in einem nahegelegenen Graben in Deckung gehen. An der Spitze des Zuges starben mehrere Menschen. Obwohl sie einen weiteren Angriff befürchteten, nahmen sie ihre Fahrt wieder auf. In Paris trafen sie Camus im Café Flore. Erstaunlicherweise hatte er sich nicht ver104
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steckt, obwohl er der Herausgeber von Combat war, zumindest nicht im selben Maße wie Sartre und de Beauvoir. Vielleicht spricht das nicht für die Übervorsichtigkeit der beiden, sondern eher für den Leichtsinn Camus’. Als die US-amerikanische 3. Armee sich näherte, wurde beschlossen, dass Paris sich selbst befreien solle – damit die Geschichte nicht behaupten könne, dass Paris von den Amerikanern befreit worden sei. Die Befreiung begann am 19. August 1944 und dauerte bis zur Aufgabe der deutschen Garnison am 25. August. Der französische Widerstand, die französischen Streitkräfte und die Freie Französische Befreiungsarmee spielten gewiss eine Rolle beim Sturz der Garnison, aber ihre Mühen wären ohne die US-Streitkräfte und das amerikanische Kriegsgerät völlig wirkungslos gewesen. Die Franzosen, die Pariser, taten, was sie konnten – als sie konnten. Camus hatte Sartre beauftragt, für Combat Artikel über die Befreiung von Paris zu schreiben. Er lief auf den Straßen herum und beobachtete das Geschehen. Dabei riskierte er, in das Kreuzfeuer der französischen, kommunistischen wie auch nichtkommunistischen, Befreiungskämpfer zu geraten, die sich Scharmützel mit gedemütigten, ängstlichen, rachedurstigen deutschen Soldaten lieferten, die sich zum Teil zurückzuziehen versuchten und zum Teil weiterhin behaupteten. Gefahr, Durcheinander und fieberhafte Aufregung. Hier und da wurde die Trikolore gehisst, dort wehten noch die Hakenkreuze. Selbst als alliierte Streitkräfte in die Stadt einmarschierten, beschossen deutsche Scharfschützen die jubelnde Menschenmenge. Die Menge jubelte weiter, schwenkte ihre Flaggen, umarmte Soldaten und ging streng mit denen ins Gericht, die als Kollaborateure galten. Obwohl der Krieg in Europa noch weitere acht Monate andauern sollte, war die nervenaufreibende Besatzung der vergangenen vier Jahre endlich vorüber. Wie viele andere Pariser auch hatte Sartre es geschafft zu überleben. Durch seinen Einfallsreichtum und seinen großen Fleiß war es ihm sogar gelungen, Erfolge zu verbuchen. 105
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War Sartre ein Kollaborateur? Nein. Es gibt keine Beweise dafür, dass er ein Verräter war oder irgendetwas getan hätte, um den Feind, der sein Land okkupiert hatte, unmittelbar zu unterstützen. Er war kein Nazisympathisant. Er vermied klugerweise jegliche Konfrontation mit einer mächtigen und gnadenlosen Besatzungsmacht; und wie die große Mehrheit der Pariser scheint er sich dort mit den Behörden arrangiert zu haben, wo es sehr gefährlich, wenn nicht selbstmörderisch gewesen wäre, es nicht zu tun. Hätte er mehr für den Widerstand tun können? Bestimmt. Er hätte ein höheres Risiko eingehen können, wie einige Hitzköpfe und Helden es taten. Er hätte seine Kritik deutlicher aussprechen können, als er es tatsächlich wagte, und sehr wahrscheinlich wäre er sofort deportiert oder exekutiert worden. Bei dem, was er getan hatte, nahm er auf jeden Fall ernste Risiken in Kauf. Er war nicht der Mutigste, aber er war auch kein Feigling. Er leistete seinen Beitrag und überlebte, um davon zu berichten. Er beschloss, einen gefährlichen, mörderischen Feind zu überleben. Was hätten Sie denn an seiner Stelle getan? Existentialismus hat mit Märtyrertum nichts zu schaffen.
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14 Zoon politikon Bald nach der Befreiung von Paris begann Sartre mit der Arbeit an Überlegungen zur Judenfrage. Das Werk erschien 1946 als Buch, nachdem es auszugsweise in einer früheren Ausgabe der Zeitschrift Les Temps modernes erschienen war. Darin thematisierte Sartre die tabuisierte französische Komplizenschaft bei der Unterdrückung der Juden durch die Nazis, gerade in dem Moment als die von vielen unerwünschte Rückkehr der von den Nazis deportierten Juden nach Paris begann. Sartre behauptet, dass es der Antisemit sei, der den Juden mache. Es gebe kein jüdisches Problem, nur das Problem des Antisemitismus. Sartre ist für seine Behauptung kritisiert worden, dass das Judentum nichts weiter sei als eine Reaktion auf Antisemitismus. Vor allem jüdische Intellektuelle sagen, dass diese negative Definition des Judeseins von einem Mangel an Verständnis der jüdischen Geschichte und Kultur zeuge. Viele Juden, die keine marxistischen Revolutionäre sind oder nach vollständiger Assimilierung trachten, widersprechen Sartres Behauptung, dass die jüdische Kultur, Geschichte und Religion ihr Ende finden werde, wenn die soziale Revolution das Judentum irrelevant mache. Zweifellos schrieb Sartre die Überlegungen zur Judenfrage zum Teil auch deswegen, weil er sich schuldig fühlte, den Juden während der Besatzungszeit nicht mehr geholfen zu haben. Man hat behauptet, dass all der intensive politische Aktivismus des Nachkriegs-Sartre von dem Gefühl motiviert gewesen sei, dass er während des Krieges mehr hätte tun sollen. Sein politischer Aktivismus war dem Philosophen Vladimir Jankélévitch zufolge „eine Art ungesunder Kompensation, eine Reue, eine Suche nach der Gefahr, der er sich während des Krieges nicht aussetzen wollte“ (zitiert nach Hayman, S. 288). Diese Aussage ist nicht ganz fair, da Sartre gewiss auch ein echtes Bedürfnis hatte, seinen wachsenden Einfluss geltend zu machen, um 107
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ein Wiederaufkommen des Faschismus zu verhindern. Er glaubte, dass der beste Weg, um dies zu tun, darin bestand, radikalen Sozialismus zu propagieren. Und so begann Sartres langes und schwieriges Verhältnis mit der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). Sie wollte ihn vollständig für ihre Interessen gewinnen, aber er bestand darauf, ein frei denkender „Reisegefährte“ zu sein. Sie alle glaubten naiverweise, dass die UdSSR die große Hoffnung sei, um eine weltweite sozialistische Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Les Temps modernes, Sartres und de Beauvoirs nach dem Film Charlie Chaplins benanntes politisches und literarisches Journal, wurde im September 1944 mit der Gründung seines Redaktionsausschusses ins Leben gerufen. Neben Sartre und de Beauvoir gehörten dem Redaktionsausschuss Merleau-Ponty, Michel Leiris, Aron, der sich seit 1940 in London aufhielt, und Sartres Herausgeber bei Gallimard, Jean Paulhan, an. Camus, der selbst Freidenker war und Sartre nicht als seinen Vorgesetzten haben wollte, lehnte die Einladung ab, genauso Malraux. Zahlreiche Meinungsverschiedenheiten über die genaue politische Identität und Ausrichtung des Journals, vor allem aber eine Papierknappheit hatten zur Folge, dass die erste Ausgabe erst nach einem Jahr erschien. Das Journal wurde in der französischen Nachkriegspolitik und -literatur äußerst einflussreich und erscheint auch heute noch zweimonatlich in einer Auflage von 3 000 Exemplaren. Ende 1944 hatte Sartre eine Audienz bei Ernest Hemingway. Der fast große französische Schriftsteller wurde in ein Hotelzimmer geführt, in dem der bereits große amerikanische Schriftsteller mit einer Grippe im Bett lag. Der große Mann umarmte Sartre ungestüm und nannte ihn einen „General“ und sie tranken gemeinsam eine Menge Whisky. Sartre hielt bis drei Uhr morgens durch, de Beauvoir die ganze Nacht. Hemingway war ein lebendiger Teil eines Landes, das Sartre unbedingt besuchen wollte. Er war ein jahrelanger Liebhaber der amerikanischen Literatur und des amerikanischen Kinos und musste nicht mehr überredet werden, als Camus ihn darum bat, ihn als Vertreter von Combat in die USA zu begleiten. 108
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Sartre brauchte eine Auszeit vom tristen, kriegsmüden Paris – vielleicht auch von de Beauvoir. Er hätte sie mit in die USA nehmen können, aber er tat es nicht und er nutzte die Gelegenheit seines dortigen Aufenthaltes für Affären mit anderen Frauen. Ihre Beziehung begann seit diesem Moment deutlich abzukühlen, zumindest für ihn. Sie blieben aber immer beste Freunde; ihre intellektuelle und spirituelle Verbindung war unzerstörbar, aber sie waren nicht mehr unzertrennlich. Vielleicht war es nur eine Frage der Reife. Vielleicht aber waren sie einfach nur mehr in ihren eigenen Erfolg verliebt als ineinander. Für de Beauvoir bedeutete das Abkühlen ihrer Beziehung mit Sartre auf jeden Fall, dass sie nun deutlich mehr Aufmerksamkeit in ihre eigene Arbeit steckte. Ihr 1943 erschienener Roman Sie kam und blieb war ein großer Erfolg, aber er war ihr einziges Werk von Bedeutung und sie war schon Mitte dreißig. Sie holte die verlorene Zeit schnell nach und hatte Ende der 1940er-Jahre ein Theaterstück, ein paar weitere Romane und ihr philosophisches feministisches Meisterwerk veröffentlicht: Das andere Geschlecht. Sartre war Teil einer kleinen Gruppe französischer Journalisten, die am 12. Januar 1945 in einem ungemütlichen Militär-TurbopropFlugzeug ohne Druckkabine nach New York abhob. Weder der Flug noch die Gesellschaft der anderen Journalisten waren nach seinem Geschmack, aber er freute sich darauf, endlich dieses Land zu besuchen, das für ihn immer eine besondere Rolle gespielt hatte. Er sollte vier Monate dort verbringen, die sein Leben für immer verändern würden. In vielerlei Hinsicht hatte Sartre eine romantische Vorstellung von den USA, die von den US-amerikanischen Comicheften, Detektivgeschichten, Romanen und Filmen inspiriert war, welche er in seiner Kindheit und Jugendzeit verschlungen hatte. Für Sartre waren die USA, zu diesem Zeitpunkt zumindest, ein Land des Abenteuers, in dem alles möglich war. Die Architektur, Kunst und Musik der Vereinigten Staaten repräsentierten für ihn die Zukunft. Für ihn waren sie stets das perfekte Mittel gegen die mittelständische Steifheit seiner Kindheit. Jetzt würden sie ihm den willkommenen Ausgleich vom Elend und der Armut des kriegszerrütteten Frankreich bieten. 109
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Sartre konnte nicht umhin, den Wagemut und Optimismus der USA und insbesondere New Yorks mit seinen Wolkenkratzern und hellen Neonbeleuchtungen zu bewundern. Wie alle europäischen Linksintellektuellen wurde er jedoch auch zunehmend kritisch gegenüber dem Erscheinungsbild der USA in mancherlei Hinsicht – allem voran ihre interventionistische, neokolonialistische Nachkriegsaußenpolitik. Mitte der 1940er-Jahre war er bereits empört über die schändliche und undemokratische Art und Weise, wie Schwarzamerikaner von der weißen Mehrheit behandelt wurden. Wie seine Notizen über die USA während des langen Fluges widerspiegeln, hatte Sartre bereits ausgiebig über dieses Land nachgedacht, insbesondere über die zeitgenössische Literatur von John Dos Passos und William Faulkner. In den 1930er-Jahren hatte er seinen Schülern diese Autoren empfohlen, ihre Themen und Schreibtechniken im Unterricht behandelt und sie in literaturkritischen Beiträgen hoch gelobt. In Das Sein und das Nichts (S. 519) zitiert Sartre in seiner Analyse des Sadismus weite Passagen aus Faulkners Licht im August. Dieser Roman handelt von einem Afroamerikaner namens Joe Christmas, der von den „guten Bürgern“ der Stadt Jefferson im Bundesstaat Mississippi gejagt und entmannt wird. Mit seinem Schwerpunkt auf dem Rassenhass in den USA hat er Sartres Theaterstück Die respektvolle Dirne aus dem Jahre 1946 stark beeinflusst, das ebenfalls in den USamerikanischen Südstaaten spielt. Durch seine umfassende Lektüre war sich Sartre bereits über die Missstände der Rassentrennung und Ungleichberechtigung in den USA vor seiner persönlichen Begegnung damit bewusst. Sie aber zu erleben – so wurde er etwa Zeuge, wie zwei schwarzen Soldaten in einem Speisewagen ein Tisch verweigert wurde – trieb ihn dazu an, einer der ersten Intellektuellen außerhalb der USA zu werden, die sich dem Kampf dagegen anschlossen. Am 16. Juni 1945 veröffentliche Le Figaro Sartres Artikel Was ich über das Schwarze Problem gelernt habe, in dem er schreibt: „In diesem Land, das zu Recht stolz auf seine demokratischen Institutionen sein kann, hat einer von zehn Männern keine politischen Rechte; in 110
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diesem Land der Freiheit und Gleichheit leben dreizehn Millionen Unantastbare.“ Sartre ärgerte sich darüber, dass dieser verbreitete, institutionalisierte Rassismus im Herzen eines Landes schwären sollte, das auf der anderen Seite so viel Lobenswertes getan hatte, um die Ideale der menschlichen Freiheit und Chancengleichheit voranzubringen. Mit seinem Theaterstück Die respektvolle Dirne stimmte er in den Chor derer ein, die erkannt hatten, dass die Existenz von offiziell sanktionierter Rassenunterdrückung im sogenannten „Land of the free“ ein unvertretbarer, untolerierbarer und schließlich unerträg licher Widerspruch sei. Sartre fand die USA, insbesondere New York, anfangs verwirrend. Es war schwer, zu Fuß irgendwohin zu kommen, es gab keine mit Cafés gesäumten Boulevards wie in Paris. Jeder Fleck auf dem Raster der nummerierten Straßen sah gleich aus und die Wolkenkratzer waren so groß, dass sie unmenschlich wirkten. Er hatte sich kaum in New York eingefunden, als er und die anderen Journalisten von ihren Gastgebern bereits in die nächste Stadt geflogen wurden, um über die Architektur und Infrastruktur zu berichten. Sartre langweilte das. Er wollte die wahren USA entdecken, die USA der Menschen. Seinen Zugang dazu erhielt er in Gestalt der intelligenten, attraktiven, de Beauvoir ähnlichen Dolorés Vanetti. Sie arbeitete im Office of War Information (dt. Amt für Kriegsinformationen, die US-amerikanische Propagandabehörde) und er flirtete während seines Besuchs dort mit ihr. Sie sprach fließend Englisch und Französisch – eine beeindruckende Frau, die in Paris als Schauspielerin gearbeitet hatte – und wurde seine persönliche Dolmetscherin und Fremdenführerin; bald begannen sie eine ernsthafte Beziehung. Dolorés war nicht Wanda oder Olga, die hauptsächlich zum Vergnügen da waren und um von ihm und von de Beauvoir analysiert zu werden. Dolorés bedrohte de Beauvoirs Vormachtstellung; sie war die einzige seiner vielen Frauen, der dies jemals gelang. Eine Zeit lang wurde sie Sartres engste Vertraute. Seine Briefe an de Beauvoir wurden seltener und weniger innig. Sie war gekränkt, aber ihre „Ab111
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machung“ bedeutete, dass sie kein Recht darauf hatte, seine kostbare Freiheit zu beschneiden oder ihm zu sagen, dass er sich wie ein Mistkerl verhielt. Gleichermaßen untreu war er gegenüber Camus und sandte all seine besten Artikel an Le Figaro. Im Gegensatz zum linken Combat war Le Figaro im Großen und Ganzen konservativ. Aber was ihm an Sozialismus fehlte, machte er durch seine weitaus höhere Verbreitung wieder wett. Sartre war kein Selbstdarsteller, aber wie die meisten sehr erfolgreichen Menschen wusste er den Nutzen von Eigenwerbung durchaus zu schätzen. Sartres Artikel in Le Figaro aus den und über die USA und vor allem die schriftlichen Reaktionen, die sie hervorriefen, rückten ihn zu einer Zeit ins Rampenlicht, als die unterschiedlichen Kriegsschicksale Frankreichs und der USA das gegenseitige Interesse der beiden Länder füreinander weckten. Am 10. März traf Sartre den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und schrieb hernach in Le Figaro von dessen charmanter Art und gutem Aussehen: „zugleich zart und hart“. Einige Wochen später war der einzige US-Präsident, der jemals vier Amtszeiten innehatte, tot. Ein paar Tage, nachdem Sartre Frankreich in Richtung USA verlassen hatte, ereignete sich ein persönlicherer Todesfall. Er war endlich Mancy los. Sein Stiefvater war in Wahrheit wohl kaum der Bösewicht, den Sartres kindliche Eifersucht aus ihm gemacht hatte. Während des Krieges war er ihm gegenüber sogar versöhnlicher geworden. Sie fanden Gemeinsamkeiten in ihrem Hass gegen Kollaborateure und gelegentlich half Sartre ihm sogar dabei, sein Auto zu waschen. Nachdem Sartre im Mai wieder nach Paris zurückgekehrt war, konnte er endlich ungestört seine geliebte Rolle als Muttersöhnchen wieder einnehmen. Während er in den USA das Leben in vollen Zügen genoss, ging der Krieg in Europa langsam zu Ende. Hitler beging am 30. April 1945 Selbstmord und am 8. Mai wurde der Sieg der Alliierten in Europa erklärt. Bis zum Mittsommer war Frankreich so sicher geworden, dass Sartre mit seiner Mutter in den Urlaub fuhr. 112
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Zwischen den Abwürfen der beiden Atombomben der USA auf Japan, die am 14. August 1945 den Krieg in Asien beendeten, traf Sartre in La Pouëze de Beauvoir. Obwohl die Bomben wohl einen langwierigen Krieg mit einem fanatischen Gegner verhinderten, der sonst nicht aufgegeben hätte, war Sartre außer sich darüber. Dies wäre vielleicht ein gutes Thema für ein Theaterstück gewesen, aber stattdessen entschied er sich, über die französische Widerstandsbewegung zu schreiben. Tote ohne Begräbnis handelt von einer Gruppe von Widerstandskämpfern, die von vichytreuen Truppen gefangen genommen werden. Sie erwarten ihr Schicksal, erst gefoltert und dann getötet zu werden. Sie fürchten den Schmerz und den Tod, aber ihr größtes Anliegen ist, nicht als Feiglinge dazustehen. Wenn sie schreien und um Gnade betteln, triumphieren ihre Peiniger. Wenn sie aber schweigen, tragen sie den moralischen Sieg davon. Sie betrachten die Situationen eher als eine Schlacht des Willens auf persönlicher Ebene, die weniger mit dem Anliegen zu tun hat, für das sie kämpfen. Ähnlich wie Sartres Kurzgeschichte Die Mauer erforscht Tote ohne Begräbnis die komplexe Psychologie von Folterern und Gefolterten, Exekutierenden und Exekutierten sowie den Kampf um Überlegenheit, der zwischen ihnen herrscht. Dem Folterer genügt es nicht, Schmerz zuzufügen oder sogar den Tod herbeizuführen: Er fühlt sich erst dann als Sieger über sein Opfer, wenn das Opfer aufschreit, um Gnade bittet oder Informationen preisgibt. Wenn die gefolterte Person ihr Leid erträgt und schweigt, dann weigert sie sich, Opfer zu sein, dann hat sie den Machtkampf gegen ihren Peiniger entschieden und die Überhand über ihn gewonnen. Das Theaterstück erforscht auch die Situation derjenigen Person, für die andere Menschen Folter erleiden. Dass eine Figur aus dem Stück vom Leid ausgenommen wird, schließt sie aus der Gruppe aus und lässt sie sich minderwertig fühlen. Ihr Schuldgefühl über den Ausschluss vom Leid ist derart stark, dass sie selbst wünscht, gefoltert zu werden. Ihre eigene Folter würde sie von ihrer Schuld befreien. Es ist fraglich, ob Sartre hier einmal mehr sein ei113
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genes Schuldgefühl darüber offenbart, dass er während der Besatzung nicht so viel getan und gelitten hatte wie andere. Ein rekurrierendes Thema im Theaterstück ist die Angst der Menschen, ohne einen Zeugen zu sterben und vollkommen vergessen zu werden. Die Figuren versuchen sich selbst damit zu trösten, dass sie im Gedächtnis anderer weiterleben und so weiterhin ein Für-andere-Sein haben werden. Die Angst der Gefangenen, nach ihrem Tode nicht vermisst zu werden, verleiht dem Stück seinen Titel. Sie fürchten, Tote ohne Begräbnis zu sein, anonyme Leichen, die umsonst starben und von denen einzig ihre Mörder wissen, wie und wann sie starben. Als Sartre zum Ende des Sommers wieder nach Paris zurückkehrt, erfahren er und de Beauvoir, dass sie in der Stadt in aller Munde seien. Der Existentialismus, wie der Philosoph Gabriel Marcel ihn bereits 1943 genannt hatte, war berühmt geworden. Damals hatten sie versucht, dieses Etikett zu meiden. Sartre hatte gesagt, dass er nicht wisse, was Existentialismus sei, und de Beauvoir sagte, dass ihre Gedanken „die Wahrheit widerspiegelten und nicht ein doktrinäres Vorurteil“ (In den besten Jahren, S. 467). Doch aller Widerstand war zwecklos, das Etikett ließ sich nicht mehr entfernen. Es war besser, auf der Welle zu reiten. Aber warum schlug der Existentialismus plötzlich so hohe Wellen? Der Existentialismus war das perfekte Mittel gegen die französische Nachkriegskrankheit. Er riet den Menschen, der Schande und dem schlechten Glauben ihres Handelns oder Nichthandelns während der Besatzungszeit ins Gesicht zu schauen und volle Verantwortung dafür zu übernehmen – vor allem aber sich davon fortzubewegen. Anstatt einfach nur die Fehler der Vergangenheit zu bereuen, müsse ein Mensch von seinen Fehlern lernen, um in der Zukunft besser, authentischer zu werden. Die Menschheit, predigte der kleine Guru des Existentialismus, sei eine zukunftsschaffende Intention. Das Schicksal eines jeden Menschen liegt in unseren eigenen Händen. Wir erschaffen uns selbst durch unsere eigenen Entscheidungen. Wir seien sogar frei zu 114
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entscheiden, was uns zustoße, es anzunehmen, anstatt es zu beklagen, und unser In-der-Situation-Sein vollständig zu begreifen. Sartres Zeit war endlich gekommen, die „Existenzphilosophie“, deren bedeutendster Exponent er mit seiner perfekten Mischung aus Realismus und Optimismus war, war perfekt auf die Bedürfnisse der Zeit zugeschnitten. Der Existentialismus hatte nicht so sehr den damaligen Zeitgeist eingefangen als vielmehr seiner Zeit den positiven Geist gegeben, dessen sie bedurfte. Auch wenn er nicht hatte vorhersehen können, wie sehr seine Philosophie in seine Zeit passen würde, erschien Sartre nun als Visionär und als der prophetische Anführer einer Gruppe von Denkern, die Frankreich und die ganze Welt in ein neues Zeitalter führen würde, in dem Freiheit und Verantwortung die Schlüsselwerte wären. Auch andere Gruppen erhoben ihren Anspruch auf die Zukunft, insbesondere die Kommunisten. Ihrer Sichtweise zufolge bedeutete das spektakuläre Scheitern der extremen Rechten, dass die Zukunft der extremen Linken gehören sollte. Sie betrachteten den Existentialismus als Bedrohung ihrer Herrschaftsbestrebungen. Sartre war ein Emporkömmling, ein Individualist, ein sozialistischer Außenseiter, der sich weigerte, der Partei beizutreten und sich zu fügen. Sartre seinerseits begann die These zu entwickeln, dass Marxismus und Existentialismus miteinander kompatibel seien und sogar wesentlich füreinander, um eine sowohl auf individueller Freiheit als auch sozialer Gerechtigkeit basierende Zukunft zu erschaffen. Die Marxisten, die dies nicht verstanden, hätten nicht nur den Existentialismus nicht verstanden, sondern auch den Marxismus nicht. Dieses Denken, seine regelmäßigen Scharmützel mit marxistischen Aktivisten, von denen viele, im Gegenteil zu ihm, Philosophen zweiten Ranges waren, führten ihn schließlich dazu, die Kritik der dialektischen Vernunft zu verfassen. Die Kritik der dialektischen Vernunft ist ein titanenhaftes Werk, das sogar Das Sein und das Nichts wie ein Pamphlet aussehen lässt. In der Kritik versucht er, Existentialismus und Marxismus miteinander zu vereinen. Wahrer Marxismus räumt Spielraum für echte Freiheit ein, im Gegensatz zum falschen 115
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Marxismus, der die Menschheit vollständig historischen Prozessen unterordnet. Zeit der Reife und Der Aufschub wurden im September 1945 endlich zeitgleich veröffentlicht und ergänzten den Existentialismus um Aspekte, die Das Sein und das Nichts aufgrund seiner zu hohen Komplexität nicht ausführen konnte. Im folgenden Monat schien die Sartremanie einen neuen Höhepunkt zu erreichen, als er am Abend des 29. Oktober seine heute zum Kultstatus erhobene Vorlesung „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ in der Salle des Centraux in Paris hielt. Angeblich bekamen einige Zuhörer einen Schock und verloren das Bewusstsein, als er den Existentialismus erstmals als Humanismus und als Philosophie bezeichnete, die den Atheismus gutheißt, und anderes – aber der Schwindelanfall war vermutlich nur der dichten Menge, der Hitze und der dicken Luft geschuldet. Die Vorlesung wurde im nachfolgenden Jahr als Ist der Existentialismus ein Humanismus? veröffentlicht. Unglücklicherweise führte Sartres Wunsch, sein bürgerliches Publikum zu schockieren und zu unterhalten dazu, dass er einige seiner Sichtweisen zu stark vereinfachte, weshalb dieses Werk als nicht repräsentativ gilt. Sartre bereute dessen Veröffentlichung später und verwarf in späteren Schriften einige Schlussfolgerungen daraus. Trotz seiner Fehler bleibt Ist der Existentialismus ein Humanismus? dennoch Sartres populärstes philosophisches Werk. Seine Kürze und Zugänglichkeit, sein brüsker und provokativer Stil machen es zweifellos zu einer hilfreichen Einführung, und zwar nicht nur in den Existentialismus, sondern auch in Sartres Denken selbst als herausforderndem, ikonoklastischem Philosophen. Das Werk vermittelt einen spannenden und zum Nachdenken anregenden ersten Eindruck, der Menschen oft dazu ermuntert, die detaillierteren Ausführungen der existenziellen Phänomenologie in seinem weitaus weniger zugänglichen Werk Das Sein und das Nichts zu erkunden. Die dritte erfolgreiche Ausgabe von Les Temps modernes erschien Ende 1945 und verschaffte Sartre und seinen Genossen eine weitere öffentliche Plattform, von der aus sie ihre politische Philosophie verbreiten und mit ihren zunehmend feindseligen politischen Gegnern 116
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diskutieren konnten. Sartre war in Paris inzwischen derart allgegenwärtig geworden, dass er gar nicht mehr persönlich dort bleiben musste – also machte er sich wieder davon in Richtung USA.
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15 Differenzen Am 12. Dezember setzte Sartre die Segel in Richtung USA. Er fuhr auf einem Militärfrachtschiff, das den Atlantik in achtzehn Tagen überquerte. Vier Monate würde er dort bleiben und anfangs spielte er sogar mit dem Gedanken, gar nicht mehr zurückzukehren. Seine Tage als Schullehrer lagen ganz und gar hinter ihm. Seine Liebe für de Beauvoir war nicht vergangen und würde auch niemals vergehen, aber im Augenblick war Dolorés seine große Leidenschaft. Er hatte das Gefühl, dass nichts ihn im tristen Frankreich hielt und viel ihn in die glamourösen USA lockte. Die kurz von den Weihnachtsferien im Stich gelassene de Beauvoir, nach all dem, was sie zusammen durchgemacht hatten, kann einem nichts anderes als leidtun. Ihre gemeinsame Weltanschauung verbat es ihr, Selbstmitleid zu empfinden, wenngleich sie durchaus litt. Sie stürzte sich in ihre Arbeit und schöpfte Trost aus ihrer wachsenden Bekanntheit sowie der Tatsache, dass Sartre nicht der einzige interessante Mann auf der Welt war. Sartre teilte seine Zeit zwischen Dolorés und seiner Vorlesungsreihe an der Universität auf. Er sprach in New York, Harvard, Yale und Princeton sowie an verschiedenen Universitäten in Kanada. Die kanadischen Vorlesungen wurden besser bezahlt als die in den USA, aber er war immer knapp bei Kasse. Woran er jedoch nie knapp war, waren Bewunderer. Sein Geld ging zum größten Teil dabei drauf, mit ihnen und Dolorés essen zu gehen. Seine Geldsorgen verringerten sich deutlich, als er Vorschüsse für Aufführungen von Geschlossene Gesellschaft bekam – allein die Inszenierung am Broadway brachte ihm 300 000 Francs ein. Was das Schreiben angeht, waren dies wohl die unproduktivsten vier Monate seit seiner frühesten Kindheit. Sich mit Dolorés treiben zu lassen und eine wohlverdiente Pause einzulegen, schien ihn glücklich zu machen. Er stand kurz davor, sie zu heiraten und eine Stelle an der Columbia University anzunehmen. Anscheinend war es 118
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jedoch die Sprachbarriere, die ihn dazu veranlasste, nach Hause zurückzukehren. Sie vereinbarten, sich jedes Jahr für mindestens ein paar Monate zu treffen, und bevor der April 1946 zu Ende ging, war er wieder zurück in Frankreich. Ehrlich oder taktlos, wie er war, erzählte er de Beauvoir, wie viel Dolorés ihm bedeutete. De Beauvoir schildert im dritten Band ihrer Autobiographie, Der Lauf der Dinge, wie sie ihn fragte, wer ihm wichtiger sei. Seine Antwort war ausweichend, aber sie akzeptierte sie: Dolorés bedeutete ihm viel, aber de Beauvoir war die, mit der er zusammen sein wollte. Existentialisten teilen die Auffassung, dass niemand ein Recht darauf habe, von einer anderen Person mehr zu erwarten als das, und niemand mehr verlangen dürfe. Er erkrankte an Mumps und musste sein Gesicht mit schwarzer Salbe eincremen. Trotz seines Aussehens und seines Unwohlseins empfing er an seinem Bett nach wie vor Besucher. Er wurde gerade rechtzeitig gesund, um lukrative Vorlesungsreisen in die Schweiz und nach Italien zu unternehmen, wo die Medienangriffe auf den angeblich verderblichen Einfluss des Existentialismus ihm stets volle Hörsäle garantierten. Der Redaktionsausschuss von Les Temps modernes hatte gemeinsam beschlossen, dass die Zeitschrift dem politisch linken Flügel angehören solle, in Opposition zur gaullistischen Rechten, aber das war leider auch schon alles, worüber sie sich einig werden konnten. Sollte es mehr oder weniger sozialistisch sein, mehr oder weniger in Übereinstimmung mit dem Kommunismus, war es richtig, Marx zu interpretieren, rechtfertigte die Zeitschrift zu oft den Stalinismus damit, dass das Endziel des Sozialismus die Mittel revolutionärer Gewalt heilige? Aron hatte zunehmend genug von den Unstimmigkeiten und fühlte sich unwohl mit dem naiven Festhalten an der marxistischen Ideologie. Im Juni 1946 trat er von seinem Posten im Redaktionsausschuss von Les Temps modernes zurück. Er schrieb später ein Buch namens Opium für Intellektuelle, ein Titel, der auf Marx’ berühmte Maxime anspielt, wonach Religion Opium fürs Volk sei. Das Buch argumentiert auf brillante Weise, dass der Marxismus im Nach119
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kriegsfrankreich die Religion vieler Intellektueller einschließlich Sartres wurde: ein Opium, das sie blind für die Vorzüge des Kapitalismus und der Demokratie gemacht und dazu gebracht habe, die marxistische Unterdrückung zu rechtfertigen. Sartres Verhältnis zu Aron war bereits lange vor Erscheinen von dessen Buch schnell abgekühlt. Je weiter Sartre politisch nach links rückte, desto intoleranter wurde er gegenüber Sichtweisen, die mit seiner nicht übereinstimmten, insbesondere wenn sie das westliche kapitalistische System verteidigten. Politische Differenzen waren der Hauptgrund für das Zerbrechen vieler von Sartres engsten Freundschaften. Fast täglich entzweite er sich nach politischen Diskussionen mit Menschen aus seinem Bekanntenkreis. Teil des Problems war Les Temps modernes selbst. Wie heute Facebook und Twitter bot es damals eine Diskussionsplattform für ein großes Publikum. Sartre konnte in einem Café eine hitzige Debatte darüber führen, wie viele Kommunisten auf dem Kopf einer Nadel tanzen könnten. Anschließend veröffentlichte er in der folgenden Ausgabe von Les Temps modernes eine vernichtende Replik, die seine Freundschaft mit der Person irreparabel zerstörte – nicht zuletzt weil eine Zurechtweisung schwarz auf weiß immer kränkender ist als eine gesprochene. Dass Les Temps modernes so gut lief, führte ihn in Versuchung, Material zu veröffentlichen, das nicht ganz so gut durchdacht oder geschrieben war, wie es wünschenswert gewesen wäre. Er nahm sich immer weniger Zeit zum Reflektieren, um weiterhin Texte von dauerhaftem Wert zu schreiben, die mit seinen besten Werken mithalten konnten und eines großen Schriftstellers und Philosophen würdig gewesen wären. Er entwickelte die zweifelhafte Theorie, dass stilistisch zu stark elaborierte Prosa eine bürgerliche Anmaßung sei – und das ausgerechnet vom Autor von Der Ekel, einem stilistischen Meisterwerk. Prosa müsse funktional sein und klar verständlich, damit die „Botschaft“ sich eindeutig vermittle. Wenn man möchte, bot ihm diese Theorie eine Ausrede dafür, dass er zu viele wütende, schlecht strukturierte, sich wiederholende politische Polemiken produzierte. 120
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Zu seiner Verteidigung muss jedoch auch gesagt werden, dass er in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg das Gefühl hatte, unbedingt politisch aktiv sein zu müssen. Der Kampf um die politische Zukunft der Nachkriegswelt war ausgebrochen; die Kräfte verschoben sich und die Situation veränderte sich tagtäglich; er musste vor allem immer auf dem aktuellen Stand der Dinge sein. Unglücklicherweise setzte ihn sein Bestreben, sich zu engagieren und etwas zu bewirken, von einem Philosophen und Psychologen ersten Ranges zu einem Querulanten und Kritiker alltäglicher Lappalien herab, der sich auf banale Scharmützel mit unwürdigen Gegnern einließ. Das Beste, was er in den Vierzigerjahren schrieb, wurde wohl erst nach seinem Tod veröffentlicht, allem voran seine Entwürfe für eine Moralphilosophie, die größtenteils zwischen 1947 und 1948 entstanden. Hier sehen wir ihn beim Versuch, die am Ende von Das Sein und das Nichts versprochene existentialistische Ethik zu konstruieren und endlich wieder ernsthafte Philosophie zu betreiben. In einer existenziell ethischen Welt würde eine von der menschlichen Freiheit angetriebene Geschichte zu einem Ende von Ausbeutung und Unterdrückung führen, die entstehen, wenn ein freies Lebewesen die Freiheit und Grenzen eines anderen freien Lebewesens nicht achtet. Sartre neigt wiederholt zu einer weitgehend kantianischen Position, zu einem kantianischen Reich der Zwecke, in dem jeder jeden als Selbstzweck und mit Respekt behandelt und nicht als Mittel zum Zweck. Dennoch lehnt er es ab, in eine Reihe mit Kant gestellt zu werden, da eine existentialistische Ethik nicht auf einem abstrakten, unflexiblen, apriorischen Moralprinzip wie Kants kategorischem Imperativ beruhen könne. Sofern er jedoch eine Kants Reich der Zwecke ähnliche Position vertritt, ist Sartres Ethik in gewisser Weise durchaus kantianisch. Da er jedoch seine Ethik zu einer Angelegenheit authentischer Antworten auf konkrete Situationen machen will, also von Antworten, bei denen es um die authentische Einschätzung aktueller Umstände geht anstatt um das Festhalten an einem universellen Moralprinzip, ist Sartre kein kantianischer Deontologe, sondern Vertreter einer Art von Tugendethik. In Sartres Ethik geht es, wie in der Tugendethik 121
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des Aristoteles, nicht darum, abstrakte moralische Regeln zu befolgen, sondern als freies menschliches Wesen neben anderen freien menschlichen Wesen das eigene volle Potenzial zu verwirklichen. Leider war er aber zu sehr damit beschäftigt, zu politisieren, zu reisen, sich mit Frauen herumzutreiben und seinen Ruhm auszukosten, um die in den Entwürfen skizzierte Moralphilosophie als ein „vollständiges“, publizierbares Werk zu Papier zu bringen. Seine Entwürfe zur Ethik wurden jedoch zur wertvollen Quelle für viele seiner besten Werke, die er hernach verfasst hat. Im Sommer 1946 benötigte er ein neues Bühnenstück, das gemeinsam mit Tote ohne Begräbnis für regelmäßige Einkünfte sorgen sollte, und schrieb daher Die respektvolle Dirne über den Rassismus in den USA. Das Stück ist zwar gut strukturiert, aber die Figuren sind durchgängig Stereotypen. Eine Prostituierte namens Lizzie tut am Anfang das Richtige und beschützt einen dunkelhäutigen Mann, der fälschlicherweise des Versuches angeklagt wird, sie zu vergewaltigen. Von einem eloquenten weißen Senator wird sie dazu überredet, den Schwarzen zu verraten, um den weißen Neffen des Senators zu schützen, Fred. Fred hat in einem rassistisch motivierten Angriff den ebenfalls dunkelhäutigen Freund des Schwarzen getötet und gibt als Grund für seine Tat vor, er habe nur verhindern wollen, dass die beiden Männer Lizzie vergewaltigten. Lizzie unterschreibt eine Aussage, die Freds Version der Ereignisse bestätigt. Das Stück endet damit, dass ein weiterer Schwarzer für die nie stattgefundene Vergewaltigung einer Lynchjustiz zum Opfer fällt und Lizzie Freds Geliebte wird. Ganz offensichtlich wirft Die respektvolle Dirne ein Schlaglicht auf die Gewalt und die Ungerechtigkeit des Rassismus in den USA vor dem Entstehen des Civil Rights Movement. Es zeigt, wie der Rassismus in den USA fest in einer Ideologie der weißen Überlegenheit verankert ist, die mit Patriotismus und einer verzerrten Geschichtsschreibung einhergeht – und wie diese Ideologie von höchster Ebene aus durch Korruption und Vetternwirtschaft vorangetrieben wird. Sartre wollte hiermit enthüllen, was er für eine große Heuchelei hielt. 122
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Die USA hatten in Europa im Namen der Freiheit und Demokratie den Nationalsozialismus besiegt und dennoch duldeten sie auf ihren eigenen Straßen Rassenhass, Diskriminierung und Gewalt. Lizzie steht für eine Durchschnittsperson, die in eine politisch ungünstige Situation gerät. Sie ist guten Willens und hat anfangs einen klaren Gerechtigkeitssinn, aber sie ist auch leicht von der Rhetorik der Reichen und Mächtigen beeinflussbar. Schließlich scheitert sie daran, für die Gerechtigkeit einzustehen, um die Forderungen und Erwartungen der Menschen zu erfüllen, die gesellschaftlich über ihr stehen. Sie verfällt der Unaufrichtigkeit und trachtet danach, die Verantwortung für sich selbst abzugeben, um ein Spielzeug der herrschenden Klasse zu werden. In Sartres Sicht macht ihre Einwilligung sie zur Kollaborateurin, die auf ihre eigene banale Weise ebenso verantwortlich für die Taten rassistischen Unrechts ist wie diejenigen, die die Verbrechen aktiv begehen. Sartres Botschaft ist revolutionär: Es wird weiterhin Ungerechtigkeit geben, bis gewöhnliche Menschen wie Lizzie die Intelligenz und den Mut finden, ihre Freiheit positiv zu behaupten und sich den korrupten Oberen zu widersetzen. Mitte 1946 bezog Sartre die kleine Wohnung, die seine Mutter in der Rue Bonaparte 42 gekauft hatte. Das schönste und größte Zimmer benutzte er als Studier- und Schlafzimmer, Anne-Marie und die Haushälterin hatten die übrigen Zimmer für sich. Angesichts seines Ruhms brauchte er einen Rückzugsort, den ihm der Einzug bei seiner Mutter ermöglichte. Er war 41 Jahre alt. Mit seiner lieben alten Mutter zusammenzuwohnen, mit ihr Klavierduetts zu spielen, während die Haushälterin sie mit regelmäßigen Mahlzeiten versorgte, war für ihn der erste Schritt, sich niederzulassen – zumindest ein wenig. Er begann, Bücher zu sammeln und baute bald eine große Bibliothek auf. Abgesehen von ein paar Möbelstücken, seiner Pfeife, seinem Kugelschreiber und dem Anzug, den er jeden Tag trug und einmal im Jahr durch einen neuen ersetzte, waren diese Bücher die einzigen Dinge, die er jemals besaß. Er stellte sogar einen eigenen Sekretär ein, Jean Cau. Cau erschien jeden Morgen in der Wohnung, um eine Reihe von Auf123
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gaben zu erfüllen wie etwa ans Telefon zu gehen, Besorgungen zu erledigen und Sartres Finanzen zu regeln. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Sartres Terminplaner zu organisieren und die kostbare Schreibzeit seines Chefs vor ungebetenen Besuchern und Terminen zu schützen. Zur Mittagszeit ging Cau wieder, um von de Beauvoir ersetzt zu werden, die den gesamten Nachmittag in Sartres Zimmer schrieb. Auch sie benötigte einen Rückzugsort vor den sie drangsalierenden Anhängern und Freunden, die mit ihr über Politik streiten wollten. Im Oktober 1946 wurde Sartre ein Freund oder zumindest Trinkkumpan des ungarischstämmigen Schriftstellers und Journalisten Arthur Koestler. Koestler wandte sich 1938 enttäuscht vom Stalinismus ab und veröffentlichte 1940 den antiautoritären Roman Sonnenfinsternis; er machte sich gerne über Sartres und Camus’ naive kommunistische Sympathien lustig. Trotz ihrer politischen Differenzen fühlten Sartre und Camus sich auf persönlicher Ebene von ihm angezogen, weil er der typische trinkfeste intellektuelle Rüpel war, der ihnen beiden zusagte. Während eines durchzechten Abends mit Sartre, de Beauvoir und Camus warf Koestler, der bekanntermaßen zur Gewalttätigkeit neigte, seiner Frau Mamaine eine Brotkruste ins Auge. De Beauvoir fiel darauf in eine Trunkenheitsdepression und schlug vor, dass sie allesamt Selbstmord begehen sollten, indem sie sich von einer Brücke in die Seine stürzten. Als Sartre im Morgengrauen nach Hause kam, nahm er Aufputschmittel zu sich, um eine Vorlesung an der Sorbonne vorbereiten und halten zu können. Nach etwa einem Jahr brachen Sartre, Camus und de Beauvoir aufgrund politischer Differenzen und seiner Neigung zu Gewalt mit Koestler. Einer der letzten Auslöser dafür war, dass Koestler ein Glas nach Sartre warf, weil er mit Mamaine flirtete. Als Camus zu beschwichtigen versuchte, schlug Koestler ihn ins Gesicht. In betrunkenem Zustand fuhr Camus später Sartre und de Beauvoir nach Hause und weinte über das Ende seiner Freundschaft mit Koestler. Im November 1946 unternahm de Beauvoir eine Vorlesungsreise durch Holland. Sartre traf sich dort mit ihr und sie besuchten ge124
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meinsam ein Kunstmuseum, um die Werke Rembrandts zu sehen. De Beauvoir begann, Sartre mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Anfang 1947 reiste sie für eine eigene Vorlesungstour in die USA und begann eine intensive Affäre mit dem US-amerikanischen Romancier Nelson Algren. Sartre nutzte die Gelegenheit, um Dolorés nach Paris einzuladen. Noch bevor Dolorés nach Frankreich abreiste, traf de Beauvoir ihre Doppelgängerin in den USA. Sie wiederholte danach beharrlich, dass sie Dolorés durch und durch hinreißend fand. Gegen Ende des Jahres 1946 begannen politische Streitereien allmählich, Freundschaften und Allianzen zu zerstören. Camus, der länger als Sartre politisch aktiv gewesen war, begann die Rechtfertigung revolutionärer Gewalt der Linken infrage zu stellen. Camus fühlte sich zunehmend vom Kommunismus enttäuscht, während Sartre immer mehr nach links rückte und radikaler wurde. Auf einer Party des Schriftstellers Boris Vian und seiner Frau Michelle warf Camus Merleau-Ponty vor, die Moskauer Prozesse von 1936–38 zu rechtfertigen, die zu einer Reihe brutaler Säuberungsaktionen führten, mit denen Stalin mithilfe der Polizei politische Gegner innerhalb der Kommunistischen Partei eliminierte und absolute Macht gewann. Als Sartre sich in den heftigen Streit einschaltete, um Merleau-Ponty in Schutz zu nehmen, verließ Camus abrupt die Feier und weigerte sich trotz Sartres und Bosts Beschwichtigungsversuchen, wieder zurückzukommen. Camus’ und Sartres Freundschaft hielt noch eine kleine Weile an, aber auch sie würde bald ein vergleichbar bitteres, aber in der Öffentlichkeit deutlich aufsehenerregenderes Ende finden. Sartres wachsendes Interesse an Politik und politischem Engagement führte ihn zusammen mit seiner langjährigen Liebe zur Literatur dazu, Was ist Literatur? zu schreiben, ein Werk, das zwischen Februar und Juli 1947 in Les Temps modernes und im darauffolgenden Jahr als Buch erschien. Das Werk analysiert aus philosophischer und politischer Perspektive Wesen und Zweck von Lesen und Schreiben sowie das Verhältnis zwischen Leser und Autor. Es handelt sich hierbei um ein politisches Manifest, in dem Sartre die Literatur als eine Form sozia125
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len und politischen Handelns bestimmt; zugleich sollte es auch als Sartres bedeutendster Beitrag zur philosophischen Ästhetik gesehen werden. Das Werk bietet zahlreiche Einsichten in einige fundamentale Fragen der Ästhetik: Was ist Kunst? Wie stehen die bildenden Künste, Musik, Lyrik und Prosa zueinander und worin unterscheiden sie sich? In welchem Verhältnis stehen ein Kunstwerk und sein Publikum zueinander? Die Kunstgattung, die Sartre in Was ist Literatur? hauptsächlich am Herzen liegt, ist die Prosa, von der er behauptet, dass sie sich radikal von der Lyrik unterscheide. Ein Dichter interessiere sich für die Worte selbst. Ein Gedicht sei sein eigener Zweck, die Sprache der Gegenstand der Lyrik und nicht ihr Werkzeug. Prosa dagegen sei in ihrem Wesen utilitaristisch: Sie benutze Wörter. Für den Schreiber von Prosa sollten Worte nachvollziehbare Mittel zum Zweck sein, die an sich unbemerkt bleiben, das überwundene Werkzeug, mit dem der Schriftsteller seine Botschaft vermittelt und sein Ziel trifft. Für einen Schriftsteller sei es wichtig, behauptet er weiter, dass er gut und mit Stil schreibe, aber die Schönheit seines Schreibens solle unbemerkbar sein und eine verborgene Kraft, die der Botschaft seines Schreibens diene und nicht dessen Endziel sei. Was Sartre zufolge Literatur konstituiert und sie von anderen Formen des Schreibens wie nichtpolitischer oder nichtphilosophischer Lyrik unterscheidet, ist die Absicht des Autors, seine Entschlossenheit, aktuell strittige Themen anzugehen und die richtigen Fragen zu stellen. Damit Literatur wirklich Literatur sein könne, müsse sie Aspekte der Gegenwart offenbaren und auf die Probe stellen. Sie müsse das soziale, politische, historische und philosophische Bewusstsein sowohl des Lesers wie auch des Autors steigern. Sartre behauptet nicht, dass Dichtung nicht auch Literatur sein könne. Einige Lyrik sei Literatur, aber ihre politische und philosophische Botschaft mache sie erst dazu und nicht ihre poetische Form und Sprache. Man kann wohl einwenden, dass Sartre in Was ist Literatur? die Botschaft zu radikal von der Form der Botschaft trennt. Infolgedessen verwendet er einen zu engen Literaturbegriff als ausschließlich politisch-philosophisches Phänomen. 126
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Für Sartre ist das Verhältnis zwischen Autor und Leser von zentraler Bedeutung. Ohne die Großzügigkeit des Lesers könne der Autor nicht existieren. Seine Bücher existierten nicht als Gedanken vermittelnde Kunstwerke, bis nicht der Leser aus freiem Entschluss einwillige, seine Bücher und seine Gedanken dadurch wirklich werden zu lassen, dass er sie lese. „Lesen [ist] Schaffen“ (Was ist Literatur?, S. 37). Literatur müsse sich auf den Leser befreiend auswirken. Literatur sei nichts, wenn sie nicht als befreiende Kraft wirke: „[S]o duster die Farben auch sein mögen, in denen man die Welt malt, man malt sie nur, damit in ihr freie Menschen ihre Freiheit erleben “ (Was ist Literatur?, S. 40). Die Sichtweise der Literatur, die Sartre in Was ist Literatur? präsentiert, liegt sehr nahe an der marxistischen Theorie. Dennoch behauptet er, dass sich ein Autor in seinem Bestreben, sich selbst und andere zu befreien, keiner politischen Ideologie so sehr unterwerfen dürfe, dass er zum bloßen Sprachrohr eines Parteidogmas würde. Mitte 1947 wurde Sartre von allen möglichen Seiten angegriffen. Die Kommunisten hassten ihn dafür, dass er nicht Kommunist genug war, weil er ihnen Dogmatismus vorwarf und so weiter, während Nichtkommunisten und Antikommunisten ihn dafür hassten, dass er mit den Kommunisten sympathisierte. Zugleich verurteilten radikale Christen und andere engstirnige konventionelle Moralisten seinen Existentialismus als pessimistischen, atheistischen, egozentrischen und moralisch korrumpierenden Nihilismus. Sartre hatte noch immer sein dickes Fell nicht verloren und zog aus der ihn umgebenden Kontroverse seine Kraft. Er sah es wie Oscar Wilde: Das Einzige, was schlimmer ist, als dass andere über einen reden, ist, dass niemand über einen redet. Zuversichtlich, sich gegen all seine Kritiker behaupten zu können, zog er sich auf seine Notizen zurück, um über die philosophischen Fragen nachzudenken, die am dringendsten beantwortet werden mussten; erst dann wollte er sich wieder seinen Kritikern zuwenden: Was ist das Verhältnis von Ethik und Politik? Wie genau sind Marxismus und Existentialismus miteinander vereinbar? 127
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Obwohl er kein Schullehrer mehr war, behielt er die Angewohnheit bei, ausgedehnte Sommerferien zu machen. Im Juli 1947 besuchte er mit de Beauvoir London, um Inszenierungen von Tote ohne Begräbnis und Die respektvolle Dirne zu sehen. Im August ging es weiter gen Norden nach Dänemark, Schweden und Finnland. Einige Wochen später kehrte de Beauvoir in die USA und zu ihrem Geliebten Nelson Algren zurück. Anfang Oktober begann Sartre, an einer Reihe von Radiosendungen unter dem Titel La Tribune des Temps modernes teilzunehmen, die Alphonse Bonnafé, ein alter Freund aus seinen Tagen in Le Havre, organisiert hatte. Darin wurden unter anderem Beiträge Sartres und seiner Redaktionskollegen vorgestellt. Das Hauptthema war selbstverständlich Politik. Die erste Sendung verursachte große Empörung in der rechtskonservativen Presse, weil Bonnafé de Gaulle mit Hitler verglich und Sartre de Gaulles äußere Erscheinung lächerlich machte. Im Gegensatz zu Sartre war de Gaulle sehr groß gewachsen. Sartre wurde von zwei bekannten Gaullisten zu einer Radiodebatte herausgefordert; sie beleidigten ihn im Studio, bevor die Sendung überhaupt begonnen hatte. Aron, der auch zugegen war, fand die Beleidigungen peinlich und sagte nichts. Er war kein Gaullist, aber er fand auch nicht, dass de Gaulle mit Hitler vergleichbar sei. Sartre wertete sein Schweigen als Verrat. Aron war einer von Sartres ältesten und klügsten Freunden, aber seitdem er im vorangegangenen Jahr aus dem Redaktionsausschuss von Les Temps modernes zurückgetreten war, befanden sie sich auf ständigem Konfrontationskurs. Nachdem Aron erfahren hatte, dass Sartre sich verraten fühlte, besuchte Aron ihn in seiner Wohnung, um die Wogen zu glätten. Sartre war oberflächlich höflich und sagte, dass sie sich bald wieder zum Mittagessen verabreden sollten, aber es kam nicht dazu. Von dem legendären Aprikosen-Cocktail-Treffen 1933 war es also bis hierher gekommen. All das war sehr traurig. Sartre und seine Freunde konnten auf der Suche nach einer Politik, die die Welt rettete, nicht einmal ihre eigenen Freundschaften aufrechterhalten. 128
16 Die Vernichtung Camus’ und Genets Zur Weihnachtszeit kam de Beauvoir aus den USA zurück und wie immer zogen sie und Sartre sich in die Provinz zurück, in die Ruhe und Behaglichkeit von Madame Morels Haus in La Pouëze. Er verbrachte seine Ferien damit, sein Stück Die schmutzigen Hände zu schreiben. Das Stück behandelt das damals, in einer fieberhaften politischen Zeit, aktuelle Thema der persönlichen Ethik. Während Die respektvolle Dirne das Eindringen des Politischen in das Persönliche zum Thema hat, geht Die schmutzigen Hände dem Eindringen des Persönlichen in das Politische auf den Grund. Ein junger Mann namens Hugo Barine wird beauftragt, Hoederer zu ermorden, eine Führungsfigur der kommunistischen Partei, der sie beide angehören. Eine Fraktion innerhalb der Partei will Hoederer tot sehen, bevor er Kompromisse eingehen und eine Koalitionsregierung bilden kann. Hoederer ist kein Idealist, sondern ein Pragmatiker, der bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen, um seine politischen Ziele zu erreichen und den Menschen zu helfen. Hugo befindet sich im Zustand der Unaufrichtigkeit, da er meint, dass seine eigenen Motive, Hoederer zu töten, rein politischer Natur seien. In Wahrheit will er zum Mörder werden, damit seine Frau Jessica, sein Vater und die anderen Parteimitglieder aufhören, ihn zu verachten. Ironischerweise ist Hoederer der Einzige, der ihn respektiert, aber Hugo tötet ihn in einem Eifersuchtsanfall dennoch, nachdem Jessica – eine für Wanda geschriebene Rolle – sich in ihn verliebt hatte. Zwei Jahre später macht die Partei eine Kehrtwende, übernimmt Hoederers Politik und stellt seinen Ruf wieder her. Sie töten Hugo, der inzwischen eine radikale Umkehr zu völliger Aufrichtigkeit vollzogen hat und sich weigert, die Tatsache zu verschleiern, dass sie ihn beauftragt hatten, Hoederer zu töten. 129
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Der philosophisch bedeutendste Aspekt von Die schmutzigen Hände ist die psychologische Studie Hugo Barines. Das Stück ist jedoch dafür bekannt, Sartres vermeintliche Enttäuschung vom Kommunismus zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich aber verwirft Sartre in Die schmutzigen Hände gar nicht den Kommunismus. Er greift nicht so sehr kommunistische Ideale und Bestrebungen als solche an, sondern jede Form des politischen Dogmatismus, der sich weigert, sich auf die Realität einzulassen und Kompromisse zu schließen. Das Stück ist also vielmehr eine Replik auf den Dogmatismus und die Arroganz gewisser Mitglieder der PCF, mit denen Sartre aneinandergeraten war. Als der Kalte Krieg sich zuspitzte, wurde Die schmutzigen Hände oft als Instrument antikommunistischer Propaganda verwendet. Sartre war dermaßen entnervt von diesem Missbrauch seines Stückes durch die politische Rechte, dass er, untypischerweise, hohe Entschädigungssummen zahlte, damit Aufführungen des Stückes in Wien gestoppt wurden, während er dort im Dezember 1952 an einer marxistischen Konferenz teilnahm. Am 25. September 1954 schrieb er in der Zeitung Le Monde: „Ich lehne Die schmutzigen Hände nicht ab, ich bedauere nur, wie es benutzt wurde. Mein Stück wurde zum politischen Schlachtfeld, zu einem politischen Propagandainstrument.“ Vor allem weil Die schmutzigen Hände auf eine Weise missbraucht wurde, die Sartre nicht vorhersehen konnte, ist das Stück zum kontroversesten und lukrativsten Theaterstück Frankreichs geworden. Im Februar 1948 wurde Sartre selbst in parteipolitische Angelegenheiten verstrickt, nachdem er mit David Rousset das Rassemblement démocratique révolutionnaire (RDR, dt. „Revolutionäre demokratische Versammlung“) gegründet hatte. Wie seine gescheiterte Widerstandsbewegung „Sozialismus und Freiheit“ suchte die RDR einen Mittelweg zwischen den undemokratischen Strukturen der PCF und verschiedenen Gruppen des rechten Flügels zu finden. Das Ziel war, zugleich sozialistisch und demokratisch zu sein. Obwohl die Treffen der RDR von Tausenden Menschen besucht wurden, die ihren bekannten Rednern zuhören wollten, blieb die Mitgliederzahl niedrig. 130
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Die PCF warf der RDR vor, ein Komplott des rechten Lagers zu sein. Sartre sei ein Agent der USA. Tatsächlich war er die antiamerikanischste und prorussischste Führungsfigur in der RDR und er befürchtete, dass die US-amerikanischen Nachkriegssubventionen die politische und kulturelle Autonomie Europas unterminieren würden. Seine prorussische Haltung wurde im folgenden Jahr auf eine ernste Probe gestellt, als unwiderlegbare Beweise für die Existenz von sowjetischen Arbeitslagern und für die schrecklichen Lebensbedingungen darin bekannt wurden. Neben seiner Arbeit für die RDR schrieb Sartre sich, wie immer, nach wie vor die Finger wund und arbeitete an mehreren Texten gleichzeitig. Außer an seinem Werk Entwürfe für eine Moralphilosophie, das irgendwann 360 000 Wörter stark wurde, sowie einer Biographie des Dichters Stéphane Mallarmé, von der de Beauvoir behauptet, dass er sie verlor, nachdem er mehrere Hundert Seiten geschrieben hatte, arbeitete er endlich am versprochenen dritten Band von Die Wege der Freiheit, nämlich Der Pfahl im Fleische, der im darauffolgenden Jahr abgeschlossen und veröffentlicht wurde. In Der Pfahl im Fleische, einem Roman, der stark von Sartres Erfahrungen als Kriegsgefangener inspiriert ist, findet sein Alter Ego Mathieu am Ende Freiheit und Authentizität durch das entschlossene, unwiderrufliche Töten deutscher Soldaten, anstatt sich ihnen zu ergeben. „Er schoß: er war rein, er war allmächtig, er war frei“ (Der Pfahl im Fleische, S. 216). In einem Wort, Sartre lässt Mathieu das tun, wozu ihm selbst der Mut gefehlt hatte. Uns wird suggeriert, dass Mathieu stirbt, als der Kirchturm, von dem aus er schießt, einstürzt, aber etwas inkonsequent taucht er in Sartres aufgegebenem vierten Band Die letzte Chance wieder auf. Sartre unternahm mit de Beauvoir einen Frühlingsausflug nach Südfrankreich, bevor sie sich wieder in die USA absetzte, um ihre leidenschaftliche Affäre mit Nelson Algren fortzusetzen. Während Paris unter der Hitzewelle von 1948 litt, ergriff Sartre angesichts von de Beauvoirs Abwesenheit die Gelegenheit einer kurzen Affäre mit einer jungen amerikanischen Reporterin, die über den Besuch der damaligen Prinzessin Elisabeth berichtete. Als de Beauvoir aus den 131
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USA zurückkehrte, teilte er jedes intimste Detail der amüsanten kleinen Affäre mit ihr – und als sie im August gemeinsam nach Algerien fuhren, schliefen sie in getrennten Zimmern. Später im selben Jahr, als Sartre seinen Arbeitsaufwand für die RDR verdoppelt hatte, zeigte er sich in Bezug auf Geld weitaus weniger opportunistisch als in Bezug auf Frauen. Eine unautorisierte Broadway-Inszenierung von Die schmutzigen Hände unter dem Titel Red Gloves hatte alleine im Vorverkauf 280 000 US-Dollar eingespielt. Er hätte nur die Inszenierung autorisieren zu brauchen, um einen guten Teil der Summe zu verbuchen, aber stattdessen entschied er sich, sie verbieten zu lassen. Obwohl er ziemlich unmaterialistisch war, fand er Geld dennoch nützlich. Es finanzierte seine Urlaube, seinen Zeitvertreib und seine Anhänger. Dennoch war es ihm wichtig, dass er seine künstlerische Freiheit beibehalten und weiterhin als Sozialist durchgehen konnte. Es gab bereits eine erste Modeerscheinung für Existentialisten, die sich größtenteils darauf beschränkte, Schwarz zu tragen, übel gelaunt zu sein und kuriose Posen mit Gitanes oder Gauloises einzunehmen – dabei rauchte Sartre Boyards Caporal. Als Letztes wollte er zu einer Flut misslungener Inszenierungen seiner Stücke einladen, dazu gehörten optimistische Versionen von Geschlossene Gesellschaft, in denen die Figuren dem schrecklichen Zimmer entkamen. Seine künstlerische Integrität wurde im Oktober 1948 gefestigt, als die von seinen gefährlichen, atheistischen, existentialistischen Gedanken beleidigte katholische Kirche seine gesamten Werke, einschließlich derer, die er noch schreiben sollte, auf den Index der verbotenen Bücher setzte (Index Librorum Prohibitorum). Sartre betrachtete es als eine große Ehre, mit einigen der größten Geister der Geschichte auf dieselbe Liste gesetzt zu werden – Descartes, Voltaire, Hume, Kant und andere. Im Januar 1949 verklagte der zum Westen übergelaufene russische Offizier Wiktor Andrejewitsch Krawtschenko die kommunistische Zeitschrift Les Lettres françaises, die seine Enthüllungen über die Zwangsarbeitslager oder Gulags in der Sowjetunion als Lügen und US-amerikanische Propaganda bezeichnet hatte. Obwohl die 132
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Enthüllungen ohne Zweifel der rechtskonservativen Propaganda dienlich waren, machte der Prozess allen außer den festgefahrensten Kommunisten klar, dass es die Gulags tatsächlich gab. Sartre erkannte an, dass die Gulags existierten, aber als eingefleischter Sozialist hielt er stur daran fest, dass das sowjetischkommunistische Modell dem US-amerikanischen kapitalistischen auf jeden Fall vorzuziehen sei, da es mehr Hoffnung für die Zukunft der Menschheit biete. Auch hier wurde die von Sartre geteilte erbärmliche Rechtfertigung der extremen Linken vorgebracht, wonach das Endziel einer sozialistischen Utopie alle Mittel rechtfertigte, um sie zu erreichen, auch wenn diese Mittel mit den schlimmsten Exzessen der Nazis vergleichbar waren. In seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen jedoch zweifelte Sartre Trotzkis These an, dass gewisse politische Ziele den Einsatz von Gewalt als Mittel rechtfertigten. Der Einsatz von Gewalt sei nicht immer unmoralisch, beflecke jedoch immer den Zweck und zerstöre ihn letztlich. Vor der Öffentlichkeit befand er sich in einer schwierigen Lage. Wenn er unmissverständlich die Gulags und damit die Sowjetregierung verurteilte, würde er in die Hände der rechtskonservativen, proamerikanischen Kapitalisten spielen. Wir erinnern uns, dass die PCF die RDR bereits als Komplott aus dem rechtskonservativen Lager und Sartre als US-Spion bezeichnet hatte. Zeitgleich warf der ungarische Marxist György Lukács in seinem Buch Existentialismus oder Marxismus dem Existentialismus vor, mit seiner Verteidigung des Individualismus und der persönlichen Freiheit den Kapitalismus zu verteidigen. Sartre verbrachte den Sommer 1949 mit Dolorés in Mittelamerika und der Karibik. In Havanna hatte er sein zweites Treffen mit Hemingway. Hemingways Frau zufolge, die auf eine legendäre Diskussion über den Existentialismus gehofft hatte, sprachen die beiden großen Tiere wie Geschäftspartner miteinander und hielten sich auf Abstand. Sartre hatte für den Großteil seiner Reise miese Laune. Seine Beziehung mit Dolorés verschlechterte sich und sie fand ihn verschlossen und leicht reizbar. 133
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Ihre lange Affäre ging im folgenden Jahr schließlich zu Ende, worauf Dolorés Sartres Kreis noch lange eine unerbittliche Feindseligkeit ihr gegenüber vorwarf. Dolorés bedrohte, wie bereits erwähnt, de Beauvoirs Vormachtstellung. Im Herbst 1949 begann Sartre eine Affäre mit Michelle Vian, deren Ehe mit dem Schriftsteller Boris Vian kriselte und 1951 geschieden wurde. Michelle war eine umgängliche Blonde, die Sartre für den Rest seines Lebens nahestand. Wie Hazel Rowley in Tête-à-tête: Leben und Lieben von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre schreibt, wurde Michelle drei Mal von Sartre schwanger; aber da sie bereits zwei Kinder von Boris hatte und Sartre keine Kinder mochte, entschied sie sich abzutreiben (Tête-àtête: Leben und Lieben von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, S. 283, 347). Anders als Dolorés kannte Michelle ihren Platz in Sartres Harem und bedrohte de Beauvoirs Vormachtstellung nicht. Im August in La Pouëze schrieb er jeden Tag zwölf Stunden an seinen Aufzeichnungen zur Ethik und an seiner später verloren gegangenen Biographie Mallarmés. Er würde die Aufzeichnungen bald aufgeben, aber er übertrug einen Großteil davon in seine ausführliche psychoanalytische Biographie Jean Genets. Seinen Baudelaire hatte er bereits veröffentlicht und ein zunehmendes Interesse an Biographie gefunden. Er war fasziniert davon, das Wesen eines individuellen Bewusstseins sprachlich zu erfassen. Sartres Biographien von großen französischen Schriftstellern sind unkonventionell. Zwar bieten sie nur wenig sachliche biographische Informationen und eine ganze Menge Annahmen und Unterstellungen, aber dabei handelt es sich um wundervolle Quellen einiger seiner besten Gedanken aus der Nachkriegszeit und um faszinierende Übungen in existentialistischer Psychoanalyse. Am 12. Oktober trat Sartre aus der RDR aus, da er glaubte, dass er dort nichts mehr erreichen könne. Die Organisation löste sich bald danach auf. Auch wenn er ihr mit seinem Austritt gewiss keinen Gefallen tat, so war sie mit ihrer niedrigen Mitgliederzahl ohnehin zum Scheitern verurteilt. Er war sich mit Merleau-Ponty darüber einig, dass er seine Zeit besser dafür verwendete, über Les Temps modernes politischen Einfluss geltend zu machen. 134
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Die Kontroverse über die sowjetischen Arbeitslager brach im Januar 1950 erneut aus, als Rousset von der aufgelösten RDR im Le Figaro littéraire gegen sie protestierte. Sartre und Merleau-Ponty verurteilten die Arbeitslager in der Januarausgabe von Les Temps modernes oder drückten zumindest ihr Bedauern über deren Existenz aus, nahmen das Sowjetregime ansonsten aber in Schutz. Sie lieferten die üblichen Apologien, dass die Mittel die Zwecke heiligten. Sie behaupteten, die sowjetischen Arbeitslager seien nicht so schlimm wie die deutschen Konzentrationslager, weil sie eine Bewegung auf die klassenlose Gesellschaft zu seien. Weiter argumentierten sie, dass die russischen Arbeiter die Lager nicht verwerflich fanden, weil sie annahmen, dass dort antisoziale Elemente, Verrückte und bösartige Menschen festgehalten würden. Sartre und Merleau-Ponty machten sich des schlechtesten dogmatischen, ultramarxistischen, hyperstalinistischen Geschwätzes schuldig. Ihre Position war damals und ist auch heute noch schockierend und verwerflich und nur durch ihre unfassbare Naivität zu entschuldigen. Zugegebenermaßen muss ihre Position im historischen Kontext betrachtet werden. Aber andererseits fanden andere Linke, die eine etwas empfindsamere Wahrnehmung hatten, Aron und Camus zum Beispiel, diese Position auch damals schon geradezu haarsträubend. Zu Merleau-Pontys Verteidigung, der Sartre zum Marxismus bekehrt hatte, muss man anmerken, dass er lange vor Sartre dazu überging, den Stalinismus zu kritisieren. Bereits 1952 war er imstande, Gides Schlussfolgerung aus dem Jahre 1936 zuzustimmen, dass der Sowjetkommunismus zutiefst totalitär und unterdrückend sei und sich praktisch in nichts vom Faschismus unterscheide. Sartre für seinen Teil rückte im Laufe der Jahre immer weiter nach links. Er nahm das Mantra auf, dass jeder antikommunistische Standpunkt sich immer auch gegen das Proletariat wende. Während die Besten unter seinen Zeitgenossen reiften und demokratischer, realistischer und gemäßigter wurden, begann Sartre ein Wettrennen mit sich selbst, um so kommunistisch wie möglich zu werden: ein Ultrakommunist, der Oberkommunist. 135
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Hinter seinem Ultrakommunismus stand wohl sein abgrundtiefer Hass auf die Bourgeoisie, den er seit seiner Kindheit mit sich herumgetragen hatte. Da er selbst als gebildeter Schreiberling mit seinen bürgerlichen Vorlieben und seiner Kultiviertheit diesem Bürgertum angehörte – was er nicht leugnete –, war sein Hass gegen das Bürgertum vor allem eine Art von Selbsthass. Was Sartre sein wollte, war ein Mann des Handelns wie Hoederer oder Mathieu. Er wurde bloß ein politischer Flugblattaktivist, der die westliche Welt endlos öffentlich anprangerte – jedoch tief in seinem Herzen, trotz seiner Befürwortung revolutionärer Gewalt, zu vorsichtig, zu sensibel, zu sehr ein anständiger Mittelklassejunge war, um Waffen in die Hand zu nehmen oder Bomben zu legen. Seine Mutter wäre damit niemals einverstanden gewesen. Sartre und de Beauvoir besuchten im Frühling 1950 Afrika und durchquerten die Sahara. Sie sollten sich dort mit linken Rebellengruppen treffen, aber konnten keinen Kontakt herstellen. Sartre erkrankte in Mali an Fieber und verbrachte die letzten zwei Ferienwochen in einem Krankenhaus in Marokko. Währenddessen erholte Michelle sich in Paris, wo er sie zurückgelassen hatte, mühsam von der ersten ihrer drei Abtreibungen. Sartre versuchte, sie mit Orchideen und zärtlichen Briefen zu beruhigen. Als er im Juni nach Paris zurückkehrte, wartete Dolorés auf ihn. Er bot ihr großzügigerweise an, eine Wohnung für sie zu mieten, sie mit einem Einkommen zu versorgen und sich mit ihr, Wanda und Michelle abwechselnd zu treffen. Beleidigt brach sie mit ihm für immer und kehrte in die USA zurück. Am 25. Juni brach der Koreakrieg aus. Dies rief eine tiefe Angst hervor, dass die Situation eskalieren und die UdSSR in Frankreich einmarschieren könnte. Die Invasion Südkoreas war gewiss von der Sowjetunion unterstützt worden, was Stalin genau wie die westlichen Staatsmänner, die Les Temps modernes so gerne kritisierte, als Imperialisten entlarvte. Merleau-Ponty beschloss, dass die Zeitschrift eine Weile über politische Dinge schweigen sollte, und Sartre stimmte dem zu. 136
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Anfang 1951 begann Sartre, an seinem vermeintlichen Lieblingsdrama Der Teufel und der liebe Gott zu schreiben. Dieses lange und komplexe Bühnenstück spielt im mittelalterlichen Deutschland, überwiegend bei der Belagerung von Worms, und behandelt alle existentialistischen und marxistischen Themen, die sich in Sartres Philosophie angesammelt hatten. Wie in Die schmutzigen Hände findet sich auch hier das verzwickte Verhältnis von Persönlichem, Sozialem und Politischem wieder, das ihn zunehmend faszinierte – ein Verhältnis, dessen Analyse er in seiner im darauffolgenden Jahr erscheinenden Biographie Jean Genets weiter vertiefte. Goetz, die anfangs bösartige und gewalttätige Hauptfigur des Stückes, will wie Barine und Genet seine persönliche Identität angesichts des Anderen behaupten. Während für Barine das Andere die anderen Menschen sind, ist für Goetz hauptsächlich Gott das Andere – zumindest so lange, bis er aufhört, an ihn zu glauben. In dieser und gewiss auch in manch anderer Hinsicht entspricht Goetz Sartres Vorstellung von Genet. Die Biographie und das Bühnenstück wurden zeitgleich geschrieben und einige der in der Biographie erkennbaren Charakterzüge werden im Stück veranschaulicht. So erzählt Sartre uns beispielsweise, wie der junge Genet, ein Waisenkind und Sozialfall, keinen Anspruch auf die Dinge hatte, die ihm gegeben wurden. „[S]ie [hatten] die volle Freiheit […], ihm nicht zu geben, was nicht anzunehmen er nicht frei war“ (Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, S. 23). Alles war ein Geschenk, für das Genet dankbar zu sein hatte. Nichts war wirklich sein Eigen. Folglich begann er zu stehlen, „um unmittelbar ein Besitzverhältnis zu den Dingen herzustellen“ (Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, S. 27). Ironischerweise fühlten sich für ihn nur gestohlene Dinge an, als ob sie ihm gehörten. Sie waren wahrhaft angeeignet, anstatt bloße Almosen zu sein, und er zog die Macht über seine Besitztümer den Almosen vor. Goetz offenbart denselben Charakterzug Genets, wenn er sagt, dass er es hasst, etwas geschenkt zu bekommen. Goetz will sich nehmen, was er will, und es notfalls stehlen, von Land bis hin zu Sex. 137
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„Was mir gehören soll, das nehme ich mir selbst“ (Der Teufel und der liebe Gott, Drittes Bild, 2. Szene, S. 288). Es zeigt sich, dass auch Goetz sich entschließt, böse zu sein, um seine Freiheit auszuüben und seinen Willen gegen den Willen Gottes zu behaupten. Er glaubt, dass er Gott dazu zwingen kann, ihn zu verdammen, wenn er nur ausreichend böse ist; dadurch würde er die Grenze von Gottes Macht aufzeigen. Das Stück nimmt eine unerwartete Kehrtwende, als Goetz sich davon überzeugen lässt, dass böse zu sein nichts Besonderes ist, weil jeder es ist, während niemand auf der Welt nur gut gehandelt hat. Goetz gefällt die Vorstellung, der einzige Mensch zu sein, der nur Gutes tut. Er vollzieht eine radikale Umkehr vom Bösen zur Absicht, gerecht leben zu wollen. Er hebt die Belagerung von Worms ohne Blutvergießen auf und kehrt in seine eigenen Länder zurück. Zur Entrüstung der benachbarten Barone vergibt er seine Ländereien an seine Bauern. Die Bauern in den angrenzenden Ländern revoltieren und verlangen dasselbe und ein Krieg beginnt, der mehr Menschenleben kostet, als ein Massaker in Worms gekostet hätte. Das Stück hat einen düsteren Humor und schafft eine Atmosphäre aus Angst und Hysterie, während es eine große Bandbreite existenzieller und theologischer Themen behandelt. Es wirft Fragen und Dilemmata zu den Themen Moral, Liebe, Hass, Vernunft, Aberglauben, Erlösung, Verdammnis und Schweigen Gottes auf. Zahlreiche marxistische Themen sind über das gesamte Stück verstreut. Dabei schreibt Sartre, wie auch Marx, den größten Teil des menschlichen Leides dem religiösen Aberglauben und der sozialen Ungerechtigkeit zu. Sartre fand es sehr anspruchsvoll, das Stück zu schreiben und bei dessen extravaganter Inszenierung mitzuhelfen. Sein Verhältnis zum Regisseur und den Schauspielern war jenseits von Gut und Böse. Pierre Brasseur, der Goetz spielte, war wütend wegen der Länge und der Komplexität des Stückes sowie wegen Sartres hartnäckiger Weigerung, Szenen zu schneiden, und schrieb ihm beleidigende Briefe: „Ich hab’ genug von dir, Sartre, du bist ein Arschloch. Ich hab’ die Nase voll. Ich scheiß’ auf dein Stück“ (zitiert nach Hayman, S. 420). 138
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Trotz der Schwierigkeiten bei der Produktion stellte sich das Stück genauso erfolgreich wie kontrovers heraus und lief im Théâtre Antoine ohne Unterbrechung vom 7. Juni 1951 bis zum März des darauffolgenden Jahres. Nachdem das Stück endlich angelaufen war, nahmen Sartre und de Beauvoir ihren Sommerurlaub, Norwegen, Island, Schottland und zuletzt zwei Wochen London. Zurück in Paris traf er sich mit den Mitarbeitern von Les Temps modernes. Das Journal hatte sein Schweigen über politische Themen gebrochen und war im Zuge dessen näher an die Sichtweisen der PCF gerückt. Die PCF war dankbar für diese Publicity und für eine Weile hatte Sartre bei ihnen ein Stein im Brett. Im Oktober 1951 veröffentlichte Camus einen buchlangen Essay namens Der Mensch in der Revolte, worin er die Kommunisten dafür angriff, sklavisch die UdSSR zu unterstützen, gleichgültig gegenüber Individuen zu sein und der Überzeugung anzuhängen, dass das Endziel der sozialistischen Idee das Mittel der Gewalt rechtfertige. Er wagte es sogar, Hegel und Marx dafür zu kritisieren, dass sie mit ihren jeweiligen Geschichtsphilosophien derartige Bewegungen begünstigten. Das Buch erhielt großen Beifall von der Mainstream- und rechtskonservativen Presse, doch Camus wartete auf das Urteil von Les Temps modernes. Über sechs Monate wartete er, bis Mai des darauffolgenden Jahres. Niemand in der Redaktion mochte das Buch, aber niemand erklärte sich freiwillig bereit, es mit Camus aufzunehmen und es zu rezensieren. Schließlich beauftragte Sartre seinen jungen Protegé Francis Jeanson mit der Aufgabe. Dass Sartre das Buch nicht selbst rezensiert hatte, war nur der erste Affront, von dem Camus sich beleidigt fühlte. Ein verlegener Sartre saß im April 1952 mit Camus in einem Café und schwieg, während Camus sich über feindselige Rezensionen beklagte. Als Sartre das nächste Mal Camus traf, warnte er ihn, dass die Rezension keineswegs wohlwollend ausfallen werde. Sartre, der sich von Angesicht zu Angesicht immer genauso nett zu Menschen verhielt, wie er sich feindselig äußerte, wenn er über sie schrieb, sah, 139
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dass die Nachricht Camus verstimmte. Daher bot er ihm an, eine Erwiderung auf die Rezension zu schreiben. Obwohl Sartre Jeanson aufgefordert hatte, seinen Tonfall zu mäßigen, war sie unverhohlen feindselig und warf Camus vor, sich in naiven Moralpredigten und Pseudophilosophie zu ergehen. Seiner Geliebten Maria Casarès zufolge war Camus von der Rezension derart niedergeschlagen, dass er darüber jeglichen Lebensantrieb verlor. Warum um alles in der Welt war Camus so bestürzt? Er hätte doch wissen müssen, dass jeder bei der Zeitschrift sein Buch hassen würde. Vielleicht hatte er nicht erkannt, wie weit Les Temps modernes nach links gerückt war. Vielleicht hatte seine Eitelkeit ihn zur Hoffnung verführt, dass er eine große politische Wende herbeiführen könne. Jeder Schreibende bekommt schlechte Rezensionen. Das liegt in der Natur der Sache. Wer seinen Kopf ausstreckt, kann damit rechnen, dass er abgehackt wird. Das Klügste, was ein Schreibender dabei tun kann, ist, sich auf die Zunge zu beißen und still zu bleiben. Wenn sein Werk einen Wert hat, werden andere es verteidigen. Wie treffend auch immer die Antwort eines Schreibenden auf seine Kritiker ist, die Menschen werden sich nur daran erinnern, dass er sich geärgert hat und beleidigt war. Lasst sie niemals wissen, dass sie euch geärgert haben. Camus zögerte über die Entscheidung, doch am Ende gab er seinem Schmerz nach, den Cohen-Solal als seinen „verletzten Narzissmus“ (Cohen-Solal, S. 515) bezeichnete. Ob aus Narzissmus heraus oder nicht, Camus’ auf den 30. Juni 1952 datierte Replik nahm genau denselben Tonfall der Rezension von Les Temps modernes an. Er betitelte Sartre als „Sehr geehrter Herr Herausgeber“. Dann bezeichnete er Jeanson als „bürgerlichen Marxisten“, der sich in Revolte gegen alles außer der PCF befand – wobei er diese Aussagen auf alle im Journal bezog. Er schrieb, er habe genug davon, dass er und andere alteingesessene Aktivisten von Kritikern gescholten wurden, die „immer nur ihren Mantel nach dem Wind gehängt“ (Cohen-Solal, S. 515) hätten. Sartre war erzürnt, vor allem über Camus’ Empfindlichkeit. Seine Antwort auf Camus erschien im August in Les Temps modernes, während er mit de Beauvoir seinen Urlaub in Italien verbrachte. Er 140
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ging ihm direkt an die Gurgel und sagte, dass Camus’ „langweiliger Dünkel“ und seine „Empfindlichkeit“ einen politischen und philosophischen Dissens zu einer Angelegenheit „gekränkter Eitelkeit“ gemacht hätten. Bereits mit seinem ersten Satz lud Sartre Camus dazu ein, ihre Freundschaft zu beenden: „Mein lieber Camus: Unsere Freundschaft war nicht einfach, aber ich werde sie vermissen. Wenn Ihr sie heute beendet, meint dies zweifellos, dass sie enden musste.“ Und später: „Wer hätte sagen und erst recht denken können, dass alles zwischen uns in einer banalen Zänkerei zwischen Autoren zu Ende gehen sollte?“ Zwischen Camus und Sartre hatte sich eindeutig bereits viel mehr Gift angesammelt, als diese Angelegenheit um Der Mensch in der Revolte noch hinzufügte. Im Grunde bot die Episode Sartre nur den Anlass, um Camus endlich zu sagen, was er von ihm hielt, und sich ein für alle Mal von einem Emporkömmling zu distanzieren, der den Königsthron des Existentialismus für sich beanspruchte, durchaus auch ein paar gute Sachen geschrieben hatte, wie Sartre zugab, aber der kaum in der Lage war, Das Sein und das Nichts zu lesen, ganz davon zu schweigen, es zu schreiben. Als er Camus sagte, dass er seine Eitelkeit aus der Diskussion hätte heraushalten sollen, spielte er seinen höheren Rang gegen ihn aus: „Und wenn Sie sich nun geirrt hätten? Wenn Ihr Buch lediglich Ihre philosophische Inkompetenz bewiese? Wenn es nur aus hastig aufgeschnappten Erkenntnissen aus zweiter Hand bestünde? […] Ich wage es nicht, Sie auf Das Sein und das Nichts zu verweisen, die Lektüre dieses Buches erschiene Ihnen unnötig schwer: Denkschwierigkeiten sind Ihnen ein Greuel“ (Cohen-Solal, S. 516). Was der Meisterpolemiker hier von sich gibt, ist ziemlich grausam und es fällt nicht schwer, Mitleid mit Camus zu empfinden; aber Camus hatte den Ärger gesucht und genau das war Sartres Punkt. Sie waren niemals die besten Freunde gewesen. Menschen, die das glauben, haben eine übertrieben romantische Sicht jener Ereignisse; jedenfalls heißt es, dass die beiden nie wieder miteinander redeten. Selbstverständlich gibt es nichts, was die Öffentlichkeit mehr liebt als einen öffentlichen Streit, und der Streit zwischen Sartre und 141
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Camus, eine der größten intellektuellen Auseinandersetzungen aller Zeiten – es sind mehrere Bücher darüber geschrieben worden –, katapultierte die Verkaufszahlen von Les Temps modernes derart in die Höhe, dass sogar die Nachdrucke restlos ausverkauft waren. Die seriöseste und marxistischste politische, philosophische und literarische Zeitschrift verkaufte tonnenweise Seifenopern und strich reichlich Profite ein. Sein strahlendes, gutes Aussehen, sein fußballerisches Können, sein gewaltsamer und vorzeitiger Tod und sein Genie als Romancier haben allesamt zum heutigen Camus-Kult beigetragen, um ihn zum attraktivsten und populärsten Existentialisten zu machen. Aber ist er auch der größte? Dumme Frage: Es gibt keinen Wettbewerb. Aber dennoch werden die Menschen fragen, wie sie auch fragen, ob de Beauvoir oder Sartre der Größere von beiden war: Wer ist der Größte, Sartre oder Camus? Sartres etwas subtilere Eitelkeit gibt uns vielleicht die Antwort: Camus hat nicht Das Sein und das Nichts geschrieben, Sartre dagegen schon. Und wenn wir Sartres Andeutungen glauben können, hat Camus es nie gelesen. Ist Der Fremde besser als Der Ekel? Ich persönlich denke nicht, aber vielleicht sehen Sie das anders. Camus ist nicht der größte Existentialist – er lehnte das Etikett sogar ab –, aber wenn es von irgendwelchem Trost ist, und für ihn wäre es bestimmt ein Trost gewesen, er war auf jeden Fall der lässigste. Too cool for school, Sartres unbescheidener Meinung nach. Zur Zeit seines Streites mit Camus veröffentlichte Sartre zugleich seine Biographie über Genet, Saint Genet. Komödiant und Märtyrer. Während er mit seiner Kritik Camus beleidigte, vernichtete er Genet mit seinem Lob oder zumindest mit zu genauen Beobachtungen. Die Biographie ist ein brillantes Beispiel für die Methoden der existentialistischen Psychoanalyse, der Suche nach der ursprünglichen und fundamentalen Selbstwahl eines Menschen – aber es ist eine Analyse, die sich auf einen Genet bezieht, den Sartre sich vollkommen selbst erfunden hatte. Sartre hatte Genet niemals über die tatsächlichen biographischen Details befragt. 142
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Genet wurde mit einem Werk konfrontiert, das aus einem magischen Realismus hervorgegangen war: eine ausführliche und exotische Karikatur seiner selbst, in der er sich kaum wiederfand, ein reich verziertes Monument, das ihn lebendig begrub. Nachdem er es gelesen hatte, versuchte er das Schreibmaschinenmanuskript ins Feuer zu werfen und klagte, dass Sartre ihn in eine Statue verwandelt habe. Wie sollte eine Statue etwas Neues zu sagen haben oder als Künstler vorwärtskommen? Sartres Verhältnis zu Genet verschlechterte sich genauso schnell wie das zu Camus und Genet gab bald die Literatur auf, zumindest teilweise aufgrund von Sartres voreiligem Grabstein.
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17 Der Blutdruck steigt Während Sartre im Sommer 1952 mit de Beauvoir in Italien war, schrieb er den zweiten Teil seines langen Essays Die Kommunisten und der Frieden. Wie der erste Teil erschien auch er in Les Temps modernes. Beide Teile sowie einige weitere wurden später als Buch gedruckt. Das Werk vertritt die These, dass die Kommunistische Partei die einzige Hoffnung des Proletariats sei. Die Arbeiter könnten sich selbst nur durch die Vereinigung mit ihren Arbeitskollegen und die Rebellion gegen ihre Unterdrückung aus ihren unmenschlichen Zustand emporheben. Die Kommunistische Partei ist keine vom Proletariat separate Organisation an sich: Sie ist insgesamt die Vereinigung und das zielgerichtete Handeln des Proletariats. Nachdem Sartre gegen Ende 1952 an der Freiburger Universität eine Vorlesung gehalten hatte, traf er sich mit Heidegger. Wie sein Treffen mit Hemingway ist die Begegnung mit Heidegger legendär dafür, stattgefunden zu haben, und nicht für das, was bei ihr geschah. Trotz Heideggers überwältigender Bedeutung als Philosoph und seines großen Einflusses auf Sartre, der nur von dem Husserls übertroffen wurde, dauerte das Treffen nur eine halbe Stunde. Das war für die beiden philosophischen Titanen nicht genug, um in die Tiefen der aktuellen phänomenologischen Ontologie eindringen zu können. Die Zeit reichte lediglich, um Höflichkeiten auszutauschen. Sartre musste seinen Zug bekommen. Warum hatte er nicht mehr aus dieser Begegnung gemacht? Es gab keinen anderen Menschen auf der Welt, dessen philosophische Ansichten Sartre mehr schätzte. Vielleicht wollte er ein ehemaliges Mitglied der NSDAP nicht zu nahe an sich heranlassen. Aber warum sich dann überhaupt mit ihm treffen? Vielleicht wurde das Treffen einfach in Sartres Zeitplan eingefügt, von wem auch immer es organisiert wurde, und Sartre ließ sich aus Höflichkeit darauf ein. Sosehr Sartre Heidegger als Philosoph achtete, er war selbst ein großes Tier 144
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geworden und nicht bereit, sein Licht unter jemand anderes Scheffel zu stellen. Hayman merkt an: „[E]r konnte nur tote Meister dulden“ (Hayman, S. 443). Als er in sein Zugabteil kam, das er für die Fahrt reserviert hatte, musste Sartre überrascht feststellen, dass der alte Nazi so freundlich gewesen war, es mit Rosen zu füllen. Als der Zug den Bahnhof verließ, warf Sartre die Blumen aus dem Fenster. Die Kommunisten und der Frieden brachte Sartre auf Konfrontationskurs mit Merleau-Ponty. Das Problem war nicht der Inhalt des Werkes, sondern der Umstand, dass Sartre ihn als Chefredakteur erst zu dem Werk konsultiert hatte, als es bereits lektoriert wurde. Merleau-Ponty hatte immer genauestens darauf geachtet, seine Beiträge lange vor der Korrekturphase mit Sartre abzugleichen. Merlau-Ponty bekam das Gefühl, dass Sartre und die ihn umgebenden kommunistischen Eiferer ihn zunehmend umgingen. Seitdem er 1944 bei der Gründung von Les Temps modernes mitgeholfen hatte, wirkte Merleau-Ponty unermüdlich daran mit, die Richtung der Zeitschrift zu kontrollieren; aber der entscheidende Schritt auf einen orthodoxen, unnachgiebigen Kommunismus zu, auf dem Sartre bestand, reduzierte ihn auf eine faktisch machtlose Galionsfigur. Eine Weile hielt Merleau-Ponty seinen Mund darüber und vermied die Konfrontation, das hieß, er unterließ es, sich für die anderen Alteingesessenen einzusetzen, die ebenfalls unglücklich darüber waren, wie die Dinge liefen. Er begann, zu spät zu Treffen zu erscheinen und zu schweigen – was immer ein schlechtes Zeichen ist. Obwohl er Marx durchaus weiterhin als Philosoph wertschätzte, verlor er allmählich den Glauben an den Marxismus als politische Bewegung. Vom Sowjetsystem war er jedenfalls schon lange nicht mehr überzeugt, obwohl er es in der Vergangenheit so energisch verteidigt hatte, und fühlte sich von Kommunismus und Kommunisten im Allgemeinen zunehmend enttäuscht. Seine Interessen verschoben sich von politisch linkem Schreibtischaktivismus zu Linguistik und Strukturalismus. Im Mai 1953 geschah es das letzte Mal, dass Sartre Merleau-Ponty überging. Nach einem hitzigen Telefonat, bei dem jeder dem ande145
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ren vorwarf, seine Macht zu missbrauchen, trat Merleau-Ponty zurück. Da er bereits mit dem strukturellen Anthropologen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss am Collège de France zusammenarbeitete, wurde Merleau-Ponty dort bald zum Professor für Philosophie ernannt: dem jüngsten jemals an dem Institut. Er hielt den Posten, bis er 1961 im Alter von nur 53 Jahren starb. Paul Ricœur, eine der bedeutendsten Figuren der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, der die große Bedeutung von Merleau-Pontys 1945 veröffentlichtem Hauptwerk Phänomenologie und Wahrnehmung erkannte, bestand darauf, dass Merleau-Ponty – und nicht Sartre – der bedeutendste französische Phänomenologe sei. Sartre befand sich im Juni 1953 mit Michelle in Venedig, als er vernahm, dass die USA die beiden Wissenschaftler Julius und Ethel Rosenberg exekutiert hatten, weil sie Informationen über Nuklearwaffen an die UdSSR weitergegeben hatten. Sartre blieb in seinem Zimmer und entlud seinen Zorn in einem Artikel für Libération. Er war zu Recht zornig: nicht zuletzt, weil die Beweislage gegen die Rosenbergs zweifelhaft war. Er wütete gegen die Paranoia und „neuen Faschisten“ der USA. Sartres allgemeine Bereitschaft, sich gegen die USA auszusprechen und sie als das bösartigste Land der Welt zu bezeichnen, kontrastiert stark mit seinem Stillschweigen über die Grausamkeiten und Exekutionen in der UdSSR. Der Schriftsteller François Mauriac, der 1952 den Literaturnobelpreis gewann, verurteilte Sartres Mangel an Unbefangenheit öffentlich. Einen Monat später schrieb Sartre in Rom Kean oder Unordnung und Genie, ein sich an das gleichnamige romantische Melodrama Alexandre Dumas’ aus dem Jahre 1836 anlehnendes Bühnenstück. Es war nicht nur Sartres am wenigsten politisches Werk während des Kalten Krieges, sondern das unpolitischste von allen: „Zum Teufel mit den Politikern!“ (Kean, II, S. 34). Es ist wohl das freudigste – das einzig Freudige –, was Sartre jemals geschrieben hat, obwohl die Leichtigkeit des Stückes eher Dumas zuzuschreiben ist als Sartre. Sartres Stück behält die possenhafte Handlung und den scharfsinnigen, lustigen Tonfall von Dumas’ Original größtenteils bei. Das 146
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Stück wurde am 14. November im Théâtre Sarah-Bernhardt uraufgeführt und war ein großer Erfolg. Wie immer war Wanda, die die schöne junge Erbin und Schauspielerin Anna Danby spielte, dankbar für das Stück. Für Sartre wie auch für Dumas ist das Stück primär eine Studie des Charakters des großen englischen shakespearischen Schauspielers Edmund Kean, eines Alkoholikers und Frauenhelden, dessen intensive und stürmische Persönlichkeit auf seine brillanten Interpretationen von Shakespeares tragischen Helden übersprang. Kean weiß nicht, wer er wirklich ist, genauso wie der junge Sartre nicht wusste, wer er war, bis seine Entscheidung zu schreiben ihn als Schriftsteller definierte. Kean hegt den Verdacht, dass er nichts mehr ist als die Rollen, die er spielt – dass er, sogar wenn er nicht auf der Bühne steht, die Rolle des Schauspielers Edmund Kean spielt. „Ich bin nichts, Kleine. Ich spiele, um zu sein, was ich bin“ (Kean, II, S. 399). Kean spielt die Rolle von Hamlet oder Kean genauso, wie der Prinz von Wales die Rolle des Prinzen von Wales spielt. Seine Sichtweise, dass Menschen immer nur so tun können, als ob sie etwas seien, die er in Kean wiederholt vorträgt, hatte Sartre erstmals in Das Sein und das Nichts formuliert. Kean kehrt zu den rein existentialistischen, prämarxistischen Anliegen des frühen Sartre zurück und geht wieder Fragen nach persönlicher Identität, Unaufrichtigkeit und Authentizität nach, wobei er stets die unnachgiebige, freie, angstlose Transzendenz des Fürsich-Seins betont. Aber es handelt sich hierbei um mehr als nur eine Wiederholung und ein rückwärts gerichtetes Nachhaken. Das Stück bringt Sartres großes biographisch-psychoanalytisches Projekt voran wie auch seinen ausdauernden Versuch, eine verständliche Antwort auf seine hartnäckigste philosophische Frage zu erhalten: Was bedeutet es, eine Person zu sein? Dieses Motiv hatte bereits Baudelaire, Jean Genet und den verlorenen Mallarmé hervorgebracht und würde später Die Wörter und seine umfangreiche Biographie Gustave Flauberts entstehen lassen, Der Idiot der Familie. Sartre verließ Paris genauso schnell wieder, wie er gekommen war, diesmal in Richtung Niederlande und Deutschland, wo er mit de 147
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Beauvoir die Überreste seines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers besuchte. Er war sein dritter Urlaub in Folge, aber Sartres Urlaube waren immer Arbeitsurlaube, in denen Besichtigungstouren in seinen straffen Schreibplan gedrängt wurden. Es schien, dass Paris derart voll von Politik und selbsterzeugter Kontroverse war, derart voll von Ablenkungen, dass er ihm fernbleiben musste, um arbeiten zu können. 1953 begann er, an seiner Autobiographie Die Wörter zu arbeiten. Seine ursprüngliche Idee bestand darin, ein großes Werk in mindestens zwei Bänden zu schreiben – aber das Endprodukt war genauso kurz und konzis wie reich an philosophischen und psychologischen Einsichten. Die Wörter sollte erst nach elf Jahren veröffentlicht werden. In dieser Zeit feilte er akribisch daran bis zur Perfektion, wie damals an Der Ekel. Eine derartige Liebe zum Detail ist in den Schriften des wütenden, rastlosen, ungeduldigen Nachkriegs-Sartre selten und widerspricht seiner These, dass seine eigene Prosa zu schreiben bürgerlicher Dünkel sei. Die Wörter ist wie Der Ekel ein Meisterwerk, vielleicht sogar Sartres einziges Nachkriegsmeisterwerk und ein schmerzvolles Beispiel dafür, was er hätte geschrieben haben können, wenn ihm Qualität wichtiger als Quantität gewesen wäre. Doch wer sind wir, den Mann zu kritisieren, der Der Ekel, Das Sein und das Nichts, Geschlossene Gesellschaft und Die Wörter geschrieben hat? Alles Weitere ist nur Überschuss – Sartre schuldet uns gar nichts. Und in Verteidigung der Quantität – auch wenn viel davon nicht so gut geschrieben und bearbeitet ist, wie es sein könnte – muss gesagt werden, es ist dennoch so reich an tiefen Einsichten, dass es auch heute noch viele neue Gebiete intellektuellen Forschens erschließt. Obwohl er so viel und so schnell arbeitete, reichte Sartres Lebenszeit kaum aus, um die außerordentliche Breite seines Denkens zu offenbaren. Anfang 1954 war er damit beschäftigt, Pläne für die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) anzuprangern. Unter Druck der USA war zwischen Frankreich, Italien, Westdeutschland und den Beneluxländern bereits ein Vertrag unterzeichnet worden, der die Gründung einer paneuropäischen Streitkraft als 148
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Bollwerk gegen den Sowjetblock vorsah. Sartre war gegen die EVG, weil sie Frankreich an die kapitalistischen USA band und in Opposition zu seiner geliebten UdSSR brachte. Aus Angst vor der Wiederbewaffnung Deutschlands und der damit verbundenen Bedrohung der Souveränität Frankreichs lehnte das französische Parlament den Plan 1954 ab. Außerdem ließen der Tod Stalins im März 1953 und das Ende des Koreakrieges einige Monate später die EVG nicht mehr so sehr notwendig erscheinen, da sie die Ängste vor einer sowjetischen Invasion Westeuropas reduzierten. Die Rolle der vorgeschlagenen EVG wurde gewissermaßen von der NATO übernommen. Im Februar, auf einer Konferenz von Schriftstellern aus Ost und West in Belgien, verurteilte Sartre die Pläne für die EVG. Dort traf er den berühmten deutschen marxistischen Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, der gekommen war, um die US-amerikanischen Atomversuche im Pazifik anzuprangern. Abgesehen von formalen Verurteilungen verschiedener gegen den Osten gerichteter Betrügereien des Westens, erbrachte die Konferenz den formellen Antrag, zu späterer Zeit eine ähnliche, aber größere Schriftstellerkonferenz abzuhalten. Von einer Gruppe russischer Schriftsteller erhielt Sartre die Einladung, im Mai die UdSSR zu besuchen. Im April 1954 wurden 88 Seiten von Les Temps modernes dem dritten Teil von Die Kommunisten und der Frieden angefügt, worin Sartre die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung seit der Französischen Revolution und das Wesen wie auch die Entwicklung des proletarischen Kollektivbewusstseins behandelte. Er betrieb ausgiebige Forschungen für den Essay und las sogar landwirtschaftliche Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Überarbeitung unter dem Einfluss von Amphetaminen und anderen Aufputschmitteln, lange Nächte, Schlafmangel, Schlaftabletten, Rauchen, Trinken, ungesundes Essen, ständiger Streit und der Mangel an regelmäßiger körperlicher Betätigung – all dies führte dazu, dass Sartre schließlich hohen Blutdruck bekam. Wie immer arbeitete er zu hart, trieb es zu wild und lebte wie ein überdrehter Student in seinen Zwanzigern, der alles aus seinem verrückten Stu149
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dentenleben herausholen möchte. Das war keine Lebensweise für einen Endvierziger; wobei, vielleicht doch. Sartres Existentialismus vertritt die Auffassung, dass das Leben in den Jahren mehr zählt als die Jahre im Leben, da der Tod ein Nichtereignis sei, das man selbst nicht erlebe. Seine Ärzte verschrieben ihm Ruhe, aber Sartre konnte mit Ruhe nichts anfangen. Also machte er sich Ende Mai auf den Weg nach Moskau und nahm unterwegs an einem Treffen der Friedensbewegung in Berlin teil. Seine russischen Gastgeber gaben ihm keine Zeit, um das Land selbst erkunden, keine Zeit, um dem Proletariat nach eigenen Vorstellungen begegnen zu können. Er wurde einem anstrengenden Programm unterzogen, mit formellen Besuchen in Fabriken, Universitäten und Kulturpalästen. Es gab eine Zugreise nach Leningrad und einen Flug nach Usbekistan, Banketts mit Unmengen Wein, unzählige Male wurde mit Wodka angestoßen – all dies abgerundet von einem Ballettabend. Am Ende verbrachte er zehn Tage in einem Moskauer Krankenhaus wegen Bluthochdrucks und einer Alkoholvergiftung. Sartre hielt seine Russlandreise für einen diplomatischen Erfolg. Es war gut, im Land der Kommunisten positive Verbindungen mit den Kommunisten herzustellen. Dennoch hatte er die Reise nicht besonders genossen, auf der man ihn unentwegt zur Geisel seiner Gastgeber machte, die gezwungen waren, die strengen Anforderungen des Staates zu erfüllen. Nach seiner Rückkehr nach Paris am 24. Juni 1954 trug er der Presse erwartungsgemäß begeisterte Berichte über Russland vor: Die Menschen würden vollständige Redefreiheit genießen, das Individuum und das Kollektiv sich in völliger Harmonie befinden, es gebe ständigen sozialen Fortschritt und so weiter. Er legte diese von prokommunistischen Plattitüden triefenden Berichte hauptsächlich vor, um sein Gesicht gegenüber der französischen Presse zu wahren, die begierig war zu wissen, was Frankreichs Erzkommunist von Russland hielt. Zwei Jahrzehnte später gab er zu, dass sie größtenteils von seinem Sekretär Jean Cau geschrieben worden waren, dass er nicht begeistert von dem Gesehenen war und viele Vorbehalte hatte. 150
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Nach meinem ersten Besuch in der Sowjetunion 1954 habe ich gelogen. Na, ‚gelogen‘ ist vielleicht zuviel gesagt: Ich verfaßte einen Artikel – den übrigens Cau zu Ende schrieb, weil ich krank war […] in dem ich über die UdSSR freundliche Dinge sagte, die ich nicht wirklich dachte. Ich tat das einerseits, weil ich der Meinung war, wenn man eben bei Leuten zu Gast gewesen sei, dann könne man sie nicht, kaum wieder zu Hause, mit Dreck bewerfen, und andererseits, weil ich mir über die UdSSR und über meine eigenen Ideen nicht ganz klar war. (Sartre über Sartre, S. 272) Er war einfach nicht bereit, seinen Gegnern und Kritikern die Befriedigung eines „Sagte ich’s doch“ zu geben. Nicht zuletzt war seine marxistische Sichtweise, wonach die UdSSR die beste Hoffnung auf die Verwirklichung einer weltweiten marxistischen Utopie sei, viel zu philosophisch, um durch eine einzige kurze Besuchsreise widerlegt zu werden, von der er auch noch zehn Tage im Krankenhaus verbrachte. Wie im vorangegangenen Sommer auch reiste er mit Michelle nach Italien. Er war noch immer erschöpft von seinem russischen Abenteuer und konnte nur mit Mühe schreiben. Nach einigen positiv verlaufenen Treffen mit der Italienischen Kommunistischen Partei – er kam mit italienischen Kommunisten besser zurecht als mit der PCF – kehrte er nach Paris zurück, um sogleich wieder mit de Beauvoir auf Reise nach Deutschland und Österreich zu gehen. Zu Beginn konnte er kaum mehr, als zusammengesackt, vollkommen erschöpft und unfähig zur Arbeit in seinem Hotelzimmer zu sitzen. Mit Fortschreiten der Reise gewann er seine ihm eigene Kraft wieder zurück und nahm seine langjährige Praxis wieder auf, zu schreiben und Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Im Februar 1955, kurz nachdem er das Amt des Vizepräsidenten der Franco-Sowjetischen Vereinigung übernommen hatte, hielt er eine Rede bei der Gedenkfeier an den Sieg bei der Schlacht von Stalingrad. Er schmeichelte den Sowjets und betonte den entscheidenden Beitrag, den die Schlacht von Stalingrad bei der Niederlage der Nazis gespielt hatte. Zugleich spielte er den von US-amerikanischen 151
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und britischen Streitkräften geleisteten Beitrag herunter. Sartre war in seinen antiwestlichen Ressentiments und seiner trivialsozialistischen Entschlossenheit, die USA als den großen Satan darzustellen, sehr vorhersehbar geworden. In seinem Hass auf die USA war Sartre typischer Sozialist. In seiner Undankbarkeit gegen jene, die Frankreich von den Nazis befreit hatten, schien er fast den verletzten Stolz einer Nation an den Tag zu legen, die sich dafür schämte, dass sie nicht imstande war, sich selbst zu befreien. Für ihn hatten die US-Amerikaner ihren kleinen Beitrag zur Befreiung Frankreichs nur zu eigenen imperialistischen Zwecken geleistet.
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18 Stalins Geist Anfang 1955, während er an seiner Autobiographie bastelte, begann Sartre, an einer Biographie über einen weiteren französischen Schriftsteller zu schreiben. Diesmal war Gustave Flaubert Gegenstand des Buches. In den kommenden Jahren würde dieses Projekt sein mit Abstand zeitaufwendigstes werden: Der Idiot der Familie – einer der ehrgeizigsten Versuche, die jemals eine einzige Person unternommen hat, um eine andere Person zu verstehen. „Der Flaubert“, wie er es nannte, nahm später seine gesamte Zeit in Anspruch, aber Anfang 1955 spürte Sartre noch das Bedürfnis, ein weiteres Theaterstück zu schreiben. Er fuhr mit de Beauvoir und ihrem neuen Liebhaber Claude Lanzmann im Auto nach Marseille. Lanzmann, Filmregisseur, Schriftsteller und Journalist, war siebzehn Jahre jünger als de Beauvoir und wurde später Chefredakteur von Les Temps modernes – eine Position, die er noch innehatte, als dieses Buch geschrieben wurde. Das Stück, das Sartre in seinem südfranzösischen Schreiburlaub verfasste, war Nekrassov, eine Farce, eine zwar nicht besonders subtile, aber teilweise wirklich amüsante Satire. Das Stück voller Karikaturen verhöhnt die Methoden und Machenschaften der französischen rechtskonservativen, prokapitalistischen Presse während des Kalten Krieges. Laut Sartre litt Frankreich an derselben antikommunistischen Paranoia wie die USA, woran die Medienlandschaft keinen geringen Anteil hatte. Das Stück ist gewissermaßen ein Kommentar zu den antikommunistischen Hetzjagden in der McCarthy-Ära, die kurz davor in den USA stattgefunden hatten, obwohl Senator Joseph McCarthy nur ein einziges Mal erwähnt wird: „Da, lies das Telegramm, es ist von McCarthy, er bietet mir einen Vertrag als ständiger Kronzeuge an“ (Nekrassov, Szene 2, S. 541). 153
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Die zentrale marxistische Botschaft des Stücks lautet, dass die Presse in der gesamten westlichen Welt sich in Besitz der Kapitalisten befindet und von ihnen kontrolliert wird, um den Kapitalismus zu erhalten und für ihn zu werben. Angst vor dem Kommunismus und anderen nichtkapitalistischen Ideologien zu schüren helfe dabei, Zeitungen zu verkaufen und angesichts des gemeinsamen Feindes eine Art kollektive Identität und einen kollektiven Zweck zu erschaffen. Den Massen wird eingeredet, dass sie es in ihrem politischen System besser hätten und besser geschützt seien als Menschen, die in alternativen politischen Systemen lebten. Eine Figur hebt hervor, dass die in der rechtskonservativen Presse erfundenen Geschichten über die schrecklichen Bedingungen in Russland für die Arbeiter von Billancourt vor allem eines bedeuten: „Rührt nicht an den Kapitalismus, sonst fallt ihr in die Barbarei zurück. Die bürgerliche Welt mag ihre Fehler haben, aber sie ist dabei die beste aller möglichen Welten. Elend ist überall, aber versucht das eurige so gut wie möglich zu ertragen. Und seid überzeugt, daß es nie ein Ende finden wird, aber dankt dem Himmel, daß ihr nicht in der UdSSR zur Welt gekommen seid“ (Nekrassov, Szene 3, S. 549). Für Sartre, wie auch für Marx, gehört es einfach zur Ideologie der öffentlichen Presse, dass ihre erste Funktion darin bestehe, die Wahrheit zu berichten. In Wirklichkeit jedoch soll sie in allererster Linie, von möglichst hohen Auflagenzahlen abgesehen, die politische und wirtschaftliche Ordnung konservieren, die den Reichen und Mächtigen zugutekommt, denen die Zeitungen gehören. Übertreibungen und Lügen führen genauso zu diesem Ziel, wie die Wahrheit zu erzählen. Nimmt man der öffentlichen Presse die Prinzipien, die sie aufrechterhalten, dass die Wahrheit zu sagen und vernünftig zu argumentieren sakrosankt seien, stellt sich schnell heraus, dass sie durch das beständige Schüren von Ängsten, Hass, Wollust, Neid und Dünkel die Meinung der Massen bilde. Die Presse erlaube es der herrschenden Klasse, die sozialen und politischen Werte der Massen in einem solchen Ausmaß zu formen und zu definieren, dass die Massen unfähig würden, die Wahrheit von Lügen und Schein zu unterscheiden. 154
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Das Stück, das am 8. Juni 1955 im Théâtre Antoine uraufgeführt wurde, erzürnte die französische Presse und wurde von allen Zeitungen außer den meisten linken verrissen. Viele Journalisten fühlten sich von Sartre, der selbst Journalist war, verraten. Für sie war es, als redete der Dramatiker-Philosoph auf sie herab, als stellte er ihre Kompetenz und vor allem ihre Integrität infrage. Die feindseligen Rezensionen trugen nicht zur Beliebtheit des Stücks bei. Nach nur sechzig Aufführungen wurde es wieder eingestellt. Und wieder hatte es eine Rolle für Wanda gegeben. Michael Vitold, der Schwindler Georges de Valéra in Nekrassov, hatte in der ursprünglichen Inszenierung von Geschlossene Gesellschaft aus dem Jahre 1944 und wieder 1946 bereits den Garcin gespielt. Als Nekrassov abgesetzt wurde, beschloss Vitold, ein drittes Mal Geschlossene Gesellschaft zu inszenieren. Für die Rolle der Estelle wählte er Evelyne Rey, die betörend attraktive Schwester von de Beauvoirs Geliebtem Claude Lanzmann. Der inzwischen fünfzigjährige Sartre wurde einer von Evelyns Liebhabern. Der Schriftstellerin und Sängerin Shusha Guppy zufolge, die ihrem Kreis angehörte, war Sartre für jeden Sex dankbar, den Evelyne, 25 Jahre jünger als er, ihm schenkte. Im selben Monat, in dem Nekrassov Premiere feierte, veröffentlichte Merleau-Ponty sein Buch Die Abenteuer der Dialektik, eine Kritik des Marxismus, in dem ein gesamtes Kapitel dem Angriff auf Sartres „Ultra-Bolschewismus“ gewidmet war, wie er es nannte. De Beauvoir schrieb in ihrem Essay „Merleau-Ponty und der PseudoSartreismus“ Sartres erste Antwort darauf. Darin behauptet sie, dass Merleau-Ponty den Sartre, den er kritisierte, nicht nur in Die Abenteuer der Dialektik, sondern auch in seinem früheren Werk Phänomenologie der Wahrnehmung, sich ausgedacht habe, einen PseudoSartre. Trotz ihrer Differenzen hegte Sartre großen Respekt für MerleauPonty als Denker. Er nahm Merleau-Pontys wesentliche Einwände ernst und antwortete ihm und anderen in seinen eng damit zusammenhängenden Werken Fragen der Methode und Kritik der dialektischen Vernunft, die jeweils 1957 und 1960 veröffentlicht wurden. 155
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Ende Juli 1955, kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag, reiste Sartre nach Helsinki zu einer Konferenz der Friedensbewegung. Da er wusste, dass die Sowjets ihre Beziehungen zu den USA verbessern wollten, sprach er sich dafür aus, dass die USA und die UdSSR miteinander kooperierten. Bei der Konferenz kam auch der Gedanke auf, dass Sartre und de Beauvoir nach China reisen sollten. Sie erreichten China am 6. September und verbrachten acht Wochen damit, in Gesellschaft von Aufpassern der Regierung, die unerlaubten Kontakt mit der Bevölkerung verhindern sollten, durch das Land zu reisen. Die Chinesen hatten keine Ahnung, wer sie waren, und Sartre wurde für einen Biographen des russischen Dichters und Fürsprechers für den Bauernstand Nikolay Nekrasov gehalten. Ihr historischster Moment war ein Treffen zum Tee mit dem chinesischen Staatsoberhaupt Mao Zedong. Sartre war enttäuscht darüber, dass es zu keiner nennenswerten Diskussion kam. Sartre und de Beauvoir lobten die Bemühungen des chinesischen kommunistischen Regimes, Inflation, Armut und Anarchie zu bekämpfen, jedoch ohne die Millionen Toten bei den Säuberungen auf dem Land und in den Städten seit 1946 zu erwähnen. Sie waren nicht so naiv zu glauben, dass in China alles nur glänzend sei, aber alles Negative wurde mit dem üblichen Argument entschuldigt, dass der Endzweck die Mittel heilige. Der Kommunismus brachte China eindeutig eine bessere Zukunft. Mao sollte bald den Befehl zum „Großen Schritt vorwärts“ geben – einem wirtschaftlich und gesellschaftlich großen Sprung zurück, der zwischen zwanzig und vierzig Millionen Menschenleben kostete. In der Zwischenzeit hatte Frankreich zunehmend mit eigenen Problemen zu kämpfen. Der algerische Unabhängigkeitskrieg dauerte bereits seit einem Jahr an, als Sartre und de Beauvoir aus China zurückkehrten. Eine kleine weiße Minderheit Frankoalgerier herrschte über eine große Mehrheit von Arabern, die kaum wirtschaftliche Macht und nur wenige Rechte hatten. Vom Front de libération nationale (FLN) angeführt, lehnten die Araber sich erfolgreich gegen ihre kolonialen Unterdrücker auf. 156
Stalins Geist
Der Konflikt, der bis in die frühen Sechzigerjahre hinein andauerte, war sowohl ein Bürgerkrieg als auch ein Krieg gegen Frankreich. Es erschütterte beide Länder bis ins Mark. Nachdem ein Referendum ergeben hatte, dass über neunzig Prozent der französischen Wahlberechtigten befürworteten, Algerien sich selbst zu überlassen, wurde es 1962 schließlich unabhängig von Frankreich. Das Referendum war deshalb nötig, weil Algerien politisch und rechtlich zu Frankreich gehörte. Sartre und Les Temps modernes hatten den französischen Kolonialismus in Afrika bereits lange vor Ausbruch des Algerischen Unabhängigkeitskrieges kritisiert. Ende 1955 und Anfang 1956 sprach Sartre bei Protestveranstaltungen in Paris, verurteilte Frankreich für seinen Imperialismus im Stil des 19. Jahrhunderts und erklärte seine rückhaltlose Unterstützung für die algerische Unabhängigkeit. Mit Fortschreiten des Jahrzehnts wurden diese Gedanken in Les Temps modernes zunehmend wiederholt. Es dauerte nicht lange, bis Sartre und Les Temps modernes bei Ausbruch der Suez-Krise auch den englisch-französischen Imperialismus in Ägypten verurteilten. Es gab so viel anzuprangern und so viel Tinte, mit der man anprangern konnte. Camus dagegen hatte in der Zwischenzeit seine Reputation als radikaler Linker beschädigt und war bei Sartre in Ungnade gefallen, da er in Bezug auf Algerien keine eindeutige Position bezog. Als Frankoalgerier kritisierte Camus zwar die französische Herrschaft dort, ohne sie jedoch zu verurteilen, und hegte unrealistische Hoffnungen auf einen friedlichen Kompromiss zwischen Frankoalgeriern, Arabern und Berbern. So naiv sein Wunsch nach Versöhnung auch war, er half ihm dabei, 1957 den Literaturnobelpreis zu gewinnen. Das Nobelkomitee lobte ihn als Schriftsteller, dessen „klarsichtige Aufrichtigkeit die Probleme des menschlichen Bewusstseins in unserer Zeit erhellt“. Im März 1956, als ihm die Aufmerksamkeit mehrerer Frauen einschließlich der schönen Evelyne Rey nicht genug war, begann Sartre eine Affäre mit einer neunzehnjährigen algerischen Jüdin namens Arlette Elkaïm, die ihn um Rat bei ihrer Philosophiedissertation ge157
Jean-Paul Sartre
beten hatte. Trotz oder gerade wegen ihres großen Altersunterschiedes hielt die Beziehung. Sie wurden enge Freunde, reisten viel und 1963 adoptierte Sartre sie. Er brauchte, wie er sagte, jemanden, der ihn in seinem Rollstuhl schieben würde, wenn er alt war. Als er 1980 starb, erbte Arlette Elkaïm-Sartre sein Vermögen, veranlasste die posthume Veröffentlichung verschiedener Werke und versuchte sein Vermächtnis insgesamt mit übergroßer Vorsicht zu kontrollieren. Ende März nahm Sartre an einer Konferenz in Venedig teil, die das Ziel verfolgte, die Beziehungen zwischen östlichen und westlichen Intellektuellen zu verbessern. Vielleicht gerade deswegen wurde Merleau-Ponty der Sitz neben Sartre zugewiesen. Der verspätet angekommene Merleau-Ponty berührte Sartre an der Schulter und lächelte. Sartre lächelte zurück. Mehrere Jahre voller Bitterkeit waren nicht plötzlich vergessen, aber es war immerhin eine Versöhnung. Sie verbrachten außerhalb der Konferenzhalle einige Zeit zusammen, wenn auch immer in Beisein anderer; ihr Verhalten zueinander war freundlich, aber verkrampft. In der Halle boten die beiden intellektuellen Schwergewichte dem Publikum einige ordentliche Repliken. Sartre, der seine Biographie Flauberts im Kopf hatte, sprach sich zum besseren Verständnis des Individuums für eine Integration marxistischer und psychoanalytischer Perspektiven aus. Merleau-Pontys Antwort erinnerte Sartre an seine Überzeugung, dass die Psychoanalyse eine bürgerliche Ideologie sei. Sartre wiederum stimmte dem zu, aber sie könne verwandelt werden, wenn man sie mit einer Methode, die er gerade entwickelte, mit dem Marxismus zusammenbringe. Bevor er zu einem sehr langen Sommerurlaub in zwei Autos mit de Beauvoir, Lanzmann und Michelle aufbrach, beendete Sartre seine Arbeit an einem Filmdrehbuch von Arthur Millers Theaterstück Hexenjagd. Formtreu mengte Sartre Millers Geschichte über die Hexenprozesse von Salem eine gehörige Portion Klassenkonflikt unter und machte daraus eine Allegorie für den McCarthyismus. Sartre erhielt 6 000 Francs für seine Mühen, was ihm zweifellos half, den Urlaub zu bezahlen. 158
Stalins Geist
Nachdem sie Venedig und Belgrad besucht hatten, fuhren die vier weiter nach Nordgriechenland. De Beauvoir und Lanzmann machten sich dann auf den weiteren Weg nach Athen, während sich Sartre und Michelle nach Rom begaben. Sartre war nicht der größte Philosoph, der jemals gelebt hat, aber er ist mit Abstand der am weitesten gereiste. De Beauvoir und Lanzmann stießen in Rom wieder zu ihnen, bevor Letzterer zurück nach Paris fuhr. Sartre, de Beauvoir und Michelle trieben sich bis Ende Oktober in Rom herum. Nach seiner Rückkehr nach Paris sprach Sartre sich Anfang November 1956 endlich gegen die UdSSR aus. Seit Stalins Tod tauten die ostwestlichen Beziehungen unter der Herrschaft seines Nach folgers Nikita Chruschtschow zunehmend auf. Zur Überraschung der gesamten Welt hatte Chruschtschow in einer Rede beim zwanzigsten Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Februar 1956 die Diktatur Stalins öffentlich angeprangert und dessen „blutige Verbrechen“ verurteilt. Die UdSSR begann, zahlreiche H andelsabkommen zu unterzeichnen, im April unternahm Chruschtschow sogar eine zehntägige Reise nach Großbritannien. Skeptisch angesichts dieser Entwicklung blieb die PCF, die sie als Kuschelkurs eines Flügels der KPdSU gegenüber dem kapitalistischen Westen betrachtete. Das Ende von Stalins Herrschaft und Chruschtschows augenscheinliche Nachgiebigkeit führten zu Aufständen in einigen seit dem Zweiten Weltkrieg von der UdSSR besetzten Satellitenstaaten. Im Sommer 1956 gab es große Unruhen in Polen und im Oktober revoltierten die Ungarn gegen ihre sowjetisch gestützten Führer. Sowjetische Streitkräfte besetzten am 4. November Budapest und schlugen die ungarische Revolution blutig nieder. Die ostwestlichen Beziehungen froren schnell wieder ein. Da Ungarn im Zweiten Weltkrieg den Achsenmächten angehört und am Angriff auf die UdSSR teilgenommen hatte, beschrieb die PCF die ungarische Revolution als vom Ausland unterstützten faschistischen Staatsstreich und bejubelte deren Niederschlagung. Sartre war erzürnt über diese beleidigende Beschreibung eines Volksaufstandes und gab L’Express ein Interview, in dem er die Po159
Jean-Paul Sartre
sition der PCF kritisierte und die brutale sowjetische Intervention als „Verbrechen“ bezeichnete. Obwohl Sartre hauptsächlich Chruschtschow für die Misswirtschaft des von Stalin geerbten Regimes verantwortlich machte, richtete er erwartungsgemäß einen Teil seiner Angriffe auf die USA, weil sie in den Satellitenstaaten der UdSSR in die Entwicklung des Kommunismus eingegriffen hätten. Sartre distanzierte sich von der UdSSR und war gerade dabei, seine turbulente Beziehung zur PCF zu beenden, aber er war weit davon entfernt, den Kommunismus zu verurteilen. Er betonte seine anhaltende Unterstützung kommunistischer Ideale und aufrichtiger Kommunisten weltweit, bevor er aus der Franco-Sowjetischen Vereinigung austrat. Sartres neu entdeckte Freiheit und Aufrichtigkeit spiegelte sich auf den Seiten der Zeitschrift Les Temps modernes wider, die fünf Jahre lang uneingeschränkt die PCF unterstützt hatte. Anstatt eine Fortsetzung von Die Kommunisten und der Frieden zu schreiben, verfasste er einen kraftvollen Artikel unter dem Titel Der Geist Stalins, in dem er sich bei der Auseinandersetzung mit den Ursachen und Konsequenzen des ungarischen Aufstands endlich Wahrheiten stellte, die er lange gemieden hatte. Die Rote Armee, behauptete er, sei kein Unterdrückungsinstrument, aber Chruschtschow habe sie so aussehen lassen.
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19 Erzeugnisse aus Corydran In Bezug auf Sartres politischen Aktivismus brachte das Jahr 1957 einen Wechsel vom Kommunismus zum Antikolonialismus. Nachdem er endgültig die Geduld mit der UdSSR und der PCF verloren hatte, blickte er zunehmend nach Süden auf die französischen Gräueltaten in Algerien und warf der französischen Bevölkerung vor, wegzuschauen und sich damit zu Komplizen zu machen. Sein Blick nach Osten richtete sich auf die Satellitenstaaten der UdSSR, insbesondere Polen. Er hatte gute Beziehungen zu in Paris lebenden polnischen Intellektuellen und im Januar 1957 reiste er nach Polen, um die polnische Premiere von Die Fliegen zu besuchen. In den zehn Jahren, in denen er über den Marxismus nachdachte und ihn zugleich förderte, war er zum Schluss gekommen, dass er modernisiert, wenn nicht gar radikal überarbeitet werden müsse. Selbstverständlich war er der richtige Mann für diese Aufgabe. Während er weniger kommunistischer Aktivist wurde als vielmehr der marxistische Intellektuelle, warf er sich in das ehrgeizigste Projekt seiner philosophischen Karriere. Der Marxismus, behauptete er hartnäckig, sei die dominante Philosophie der Epoche, aber in seiner gegenwärtigen Gestalt konzentriere er sich auf das Kollektiv, auf „die Menschheit“, und habe nur wenig über die individuellen Menschen zu sagen, aus denen das Kollektiv besteht. Der Marxismus erfordere eine radikale Veränderung, um Philosophien des Individuellen wie Existentialismus und Psychoanalyse aufnehmen zu können – insbesondere die existentialistischen Psychoanalyse, die Sartre in Saint Genet und anderen Werken bereits entwickelt hatte. So viel zumindest hatte er Merleau-Ponty 1956 bei der Konferenz in Venedig erzählt. Im Beitrag Fragen der Methode, der im Herbst 1957 in Les Temps modernes erschien und nochmals 1960 als buchlanges Vorwort zur Kritik der dialektischen Vernunft, expliziert Sartre die „regressiv-progressive“ Methode, mittels derer ein existentialistischer Marxismus 161
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versuchen kann, die Individuen, die Geschichte und das Verhältnis zwischen Individuen und Geschichte zu verstehen. Die regressive Phase der Methode umfasst die analytische/psychoanalytische Untersuchung einer Person, während in der progressiven Phase die Ergebnisse dieser analytischen/psychoanalytischen Studie mit den Ergebnissen einer soziologischen Erhebung des wirtschaftlichen, politischen, historischen und kulturellen Kontextes einer Person synthetisiert werden. Die regressiv-progressive Methode zielt darauf ab, eine Person als existenzielles Ganzes zu verstehen, als Totalität, als ein denkendes, fühlendes Wesen, das in Bezug auf eine Reihe miteinander verbundener Kontexte existiert, von denen die Person geprägt wird und die sie selbst wiederum prägt. Fragen der Methode gab das Thema für die beiden umfangreichen Werke vor, die darauf folgen sollten: die Kritik der dialektischen Vernunft, worin Sartre seine ehrgeizige Revision des Marxismus durchführt, und Der Idiot der Familie, in dem er die regressiv-progressive Methode auf das Leben Flauberts anwendet, um ihn zu totalisieren, d. h. ihn als Totalität zu begreifen, als kontextualisiertes, existenzielles Ganzes. Sartre verbrachte den Sommer 1957 mit Michelle in Rom und auf Capri und arbeitete an der Entwicklung seiner großen postmarxistischen Theorie weiter. Insgesamt ging er immer weniger unter Menschen. Seit er Das Sein und das Nichts geschrieben hatte, war er nicht mehr so sehr in reine Philosophie vertieft wie jetzt und nur der algerische Unabhängigkeitskampf durfte ihn davon ablenken. Ende 1957 sagte er bei der Gerichtsverhandlung Ben Sadoks aus, der einen ehemaligen ranghohen Offizier der algerischen Nationalversammlung ermordet hatte. Sartre behauptete, dass Sadok keinen terroristischen Akt begangen habe, sondern einen politischen Mord. Sadok hatte es zum Teil Sartre zu verdanken, dass er zu lebenslanger Haft und nicht zum Tode verurteilt wurde. Dennoch ärgerte Sartre sich hernach über sich selbst und darüber, dass er der Jury den Eindruck vermittelt hatte, dass er Terrorismus ablehne. Im Februar 1958 veröffentlichte Henri Alleg Die Folter, einen anschaulichen Bericht über die von den Franzosen im Algerienkrieg 162
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angewandten Foltermethoden. Die algerische Unabhängigkeitsbewegung hatte unter der französischen Bevölkerung viele Fürsprecher und Allegs Buch wurde ein Bestseller. Sartre rezensierte im März das Buch für L’Express, wobei er ausführlich auf die grausamen Details einging und die französische Regierung für ihr Versagen bei der Wahrung von Menschenrechten und Gerechtigkeit verurteilte. Die französische Regierung offenbarte ihre zunehmende Verzweiflung über die Algerienkrise, als sie die Veröffentlichung von Sartres Rezension durch die Beschlagnahmung sämtlicher Exemplare der Ausgabe verhinderte. Es wurde ein Versuch unternommen, die Rezension als Pamphlet zu veröffentlichen, aber auch das wurde konfisziert. Die dadurch erzeugte Publicity kam der Unabhängigkeitsbewegung weitaus mehr zugute, als die Veröffentlichung der Rezension es je vermocht hätte. Die Zeitschrift Les Temps modernes, die unverblümt wie eh und je die Ereignisse kommentierte, war bereits im vorangegangenen Jahr sowohl in Frankreich als auch Algerien beschlagnahmt worden. Im Jahre 1956 fiel sie alleine in Algerien vier Mal der Zensur zum Opfer. Sartre war fest entschlossen, in seiner Kritik der dialektischen Vernunft die beiden großen Weltsichten Marxismus und Existentialismus zu modifizieren und zu fusionieren, koste es, was es wolle. Es war selbst für seine Verhältnisse ein gigantisches Unterfangen und er wusste es. Er war bereits Anfang fünfzig und nicht bei bester Gesundheit. Es fehlte ihm die Zeit und die Kraft für ein derart zeitaufwendiges und kräftezehrendes Projekt. Die Lösung waren Corydran-Tabletten, eine Mischung aus Aspirin und Amphetaminen. Diese Aufputschmittel waren in den 1950erJahren frei erhältlich und wurden erst Anfang der 1970er-Jahre wegen ihres Giftgehalts verboten. Die damals empfohlene Dosis war ein paar Tabletten am Tag. Sartre verschlang sie am laufenden Band wie Süßigkeiten oder Nüsse, manchmal sogar zehn oder zwanzig auf einmal. Das Aspirin beseitigte jegliche Schmerzen, die seine Konzentration stören konnten, die Amphetamine erhöhten dagegen sein Arbeitstempo beträchtlich und vermittelten ihm den Eindruck, dass 163
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sich die Zeit um ihn herum verlangsamte. Während sein Geist völlig berauscht und dennoch glasklar durch die Zeit raste, bemerkte er nicht mehr, dass er seine Gedanken erst entwickeln musste, bevor er sie aufschrieb. Er besaß die Gedanken bereits in seinem Kopf, er musste sie nur noch so schnell wie möglich zu Papier bringen. Die Geschwindigkeit, mit der er schrieb – und er konnte äußerst schnell schreiben –, war die einzige Einschränkung. Der Schreibakt selbst war für ihn bereits der Denkprozess und die Analyse dessen, was sich in unanalysierter Form bereits in seinem Geist befand: „Schreiben [bestand] im Großen und Ganzen also darin, meine Ideen zu analysieren, und ein Röhrchen Corydran bedeuete: Diese oder jene Ideen werden in den zwei kommenden Tagen analysiert“ (Simone de Beauvoir: Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, S. 412). Außer Corydran nahm er jeden Tag auch eine Packung Orthedrin, die Wohlfühl- und Kreativitätstablette, derer er sich bereits jahrelang bedient hatte. Die vierzig stinkenden, ungefilterten, stark teerhaltigen Boyard-Zigaretten, die er täglich konsumierte, wurden inzwischen von zahlreichen Pfeifen mit dem stärksten schwarzen Tabak ergänzt. Sein Aufputschmittel- und Nikotinkonsum wurde ausgiebig von Kaffee, Wein, Whisky und Wodka ergänzt. All dies sollte seinen Motor auf Hochtouren halten und ihn weiter antreiben. Er schrieb beinahe so schnell, wie ein durchschnittlicher Leser liest, und die tintenfeuchten Seiten stapelten sich um ihn herum und fielen auf den Boden – wo er sie später, viel später erst wieder aufhob, wenn er einmal eine halbe Sekunde Zeit dafür hatte. Wenn er endlich zu schreiben aufhörte, war er so stark überreizt, dass er seinen Körper nicht ruhig halten konnte. Seine Arme schlugen um sich und er ging so oft auf de Beauvoirs Teppich auf und ab, dass er ein Loch hineinlief. Er war dem Amphetamin Speed verfallen. Speed macht die Zunge hyperaktiv, selbst wenn man nicht redet. Einmal schaffte er es, sich die Haut von der Zungenspitze zu reiben. Eine regelmäßige fast schon Überdosis Schlaftabletten jede Nacht war seine einzige Möglichkeit, um von all den Aufputschmitteln herunterzukommen und ein paar Stunden Ruhe zu finden. 164
Erzeugnisse aus Corydran
Was für ein wunderbares, monströses, faszinierend abscheuliches Spektakel er gewesen sein muss. Ein kleines, hässliches Häufchen intellektueller und körperlicher Energie, das jederzeit Gefahr lief, sich selbst zu zerstören, peitschte sich selbst wie besessen jenseits aller vernünftigen Grenzen geistigen und körperlichen Vermögens voran, um das zu erleben, was er „die Schnelligkeit meiner Seele“ (Die Wörter, S. 191) nannte. Er war ein hungriger Geist, der danach trachtete, die Leere in sich durch die Einverleibung der Welt zu füllen. Für ihn bedeutete dies, die gesamte Welt, die gesamte Conditio humana in einer allumfassenden Schrift einzufangen und zu erklären. Es ist ein Wunder, dass er sich dabei nicht umbrachte, dass er seinen Blutdruck nicht bis hinauf zum finalen Schlaganfall katapultierte. Aber Tatsache ist, dass er es nicht getan hat. Vielleicht war er einfach zu motiviert, um zu sterben, und bewegte sich zu schnell, als dass der Tod ihn einholen konnte. Vielleicht hatte der Heilige Geist tatsächlich ein Langzeitwerk bei ihm in Auftrag gegeben und ließ ihm nun die Zeit, es abzuschließen. Sartre vertraute auf die Langlebigkeit der Schweitzers, ignorierte dabei jedoch, dass er inzwischen deutlich älter war als sein Vater bei dessen Tod, und ließ seinen Motor wann immer möglich auf Vollgas laufen. Es gelang ihm nicht immer. Manchmal fiel er mitten beim Essen oder bei einem Gespräch in Trance, um plötzlich wieder daraus aufzuwachen. Das gegensätzliche Extremum waren kurze Anfälle äußerster Aufregung, die an Hysterie grenzten – und plötzlich war er wieder völlig ruhig und gesammelt. Trotz seiner Zähigkeit litt er an Schwindelanfällen und erkrankte regelmäßig an chronischer Hypertonie oder Herzinsuffizienz oder an beidem zugleich. Seine Ärzte verschrieben ihm Ruhe: Er verschrieb sich selbst mehr Corydran. Wenn er wirklich krank war, ließ er alles liegen, voller Stolz über seine Willenskraft und seinen gesunden Menschenverstand. Aber sobald er sich etwas besser fühlte, putschte er sich sogleich wieder auf bis zum Äußersten. Auf diese Weise und in diesem Zustand machte er bis Sommer 1958 große Fortschritte mit seiner Kritik. 165
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Am 31. Mai traf er den legendären Hollywoodregisseur John Huston, der ihn darum bat, ein Drehbuch über Freud zu schreiben. Schreibsüchtig, wie er war – die Medikamente halfen ihm dabei, dieser Sucht nachzukommen –, willigte er sofort ein, obwohl er bereits bis über die Ohren mit Arbeit eingedeckt war. Seine Begeisterung wurde dadurch unterstützt, dass Huston ihm 25 000 US-Dollar Vorschuss zahlte. Wie wir wissen, liebte er es, an zwei oder mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten, und er trieb sich selbst so stark an, dass das Drehbuch kaum eine zusätzliche Last zu sein schien. Außerdem war er ohnehin bereits dabei, sich mit der Psychoanalyse als einem der Schlüsselelemente seiner Kritik auseinanderzusetzen. Michelle übersetzte eine Biographie über Freud für ihn und er las Freuds Traumdeutung nochmals im Schnelldurchgang. Es machte ihm große Freude, den Reichtum von Freuds Wiener Welt wieder zum Leben zu erwecken. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, etwas über Freud zu schreiben. Das detaillierte, sorgfältig geschriebene Drehbuch ist eine weitere seiner psychoanalytischen Biographien: eine durch und durch psychoanalytische Untersuchung des Gründers der Psychoanalyse selbst. Das Werk liegt auf Deutsch unter dem Titel: Freud. Das Drehbuch vor. Sartre identifizierte sich persönlich mit Freud. Sie waren beide gegen das Bürgertum, wollten beide bürgerliche Werte umstoßen, beide waren Workaholics auf Pille. Die Drehbuch-Biographie war im Vergleich zur Kritik einfache Arbeit, obwohl sich herausstellen sollte, dass sein Werk viel zu lang und intellektuell viel zu anspruchsvoll für Hollywood war. Zum Jahresende sandte er Huston eine überausführliche Zusammenfassung, die sogar Kamera- und Kostümanweisungen enthielt. Sartre verbrachte die Zeit von Mitte Juni bis Mitte September 1958 in Italien, erst mit de Beauvoir und dann mit Michelle. Rom war bei Weitem sein beliebtester Rückzugsort geworden. Er versuchte seine Kreativität dadurch in Schwung zu halten, dass er ein neues Theaterstück zu schreiben begann, Die Verurteilten von Altona, aber kam nur schwer damit voran. Das Corydran versuchte er eine Weile abzusetzen, aber ohne fühlte er sich träge und uninspiriert, wie im 166
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Halbschlaf. Er wurde rückfällig, aber musste feststellen, dass die höhere Arbeitsgeschwindigkeit ihm nicht beim kreativen Schreiben half, dessen er für das Stück bedurfte. Er quälte sich durch die römische Hochsommerhitze, eingeschlossen in seinem Hotelzimmer mit auf höchster Stufe laufender Klimaanlage, von der er sich einen Funken Konzentration erhoffte. Schließlich schaffte er es, die Skizze zu Die Verurteilten von Altona fertigzustellen, und schrieb den ersten Teil. Obwohl die Premiere für den Oktober vorgesehen war, gelang es ihm nicht, das Stück abzuschließen. Er kehrte wieder zurück zu seinen Freud-Studien, die er leichter fand und ihm mehr Freude machten. Nachdem er am 16. September erschöpft und fiebrig nach Paris zurückgekehrt war, schrieb er den ersten von drei Artikeln, in denen er de Gaulle angriff. Er hatte L’Express zugesagt, diese Artikel vor dem Referendum über die französische Verfassung am 5. Oktober einzureichen. Auf einen 28 Stunden langen Arbeitsmarathon, in dem er die verschiedenen Gründe für das Scheitern der Vierten Republik detailliert aufführte, folgte ein zwölfstündiger Kater, während dessen er blind und taub geworden zu sein schien. Dennoch schaffte er es irgendwie, an einem Antigaullistentreffen teilzunehmen und eine Rede zu halten. Am 20. Oktober erfuhr er, dass er eine Leberinfektion hatte. Trotz Sartres politischer Kampagne wurde de Gaulles Position durch das überwältigende Ergebnis des Referendums für die neue Verfassung – die Fünfte Französische Republik – sehr gestärkt. Sartre dagegen musste sich eingestehen, dass die Krankheit ihn sehr schwächte und er sterben würde, wenn er nicht bald etwas dagegen tat. Er verschrieb sich weiterhin Corydran und weitere Aufputschmittel gegen sein Schwindelgefühl und ständige Kopfschmerzen, bis ein leitender Arzt ihm eine Herzschwäche diagnostizierte und Ruhe verschrieb. Die Medikamente setzte er ab, arbeitete jedoch weiter. Er sah furchtbar aus, konnte kaum gehen und reden, seine Handschrift wurde unlesbar und sogar seine Rechtschreibung ließ nach. De Beauvoir riskierte seinen Zorn, wenn sie ihn drängte, ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Manchmal weigerte er sich strikt, 167
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manchmal willigte er zögernd ein, sich für fünf Minuten hinzulegen, woraufhin er stundenlang schlief. De Beauvoir schaffte es, die Inszenierung von Die Verurteilten von Altona auf das darauffolgende Jahr zu verschieben. Als Vater einer Philosophie, die Selbstverantwortung predigte und keine Ausreden zuließ, hasste Sartre es, eine Deadline oder ein gegebenes Versprechen nicht halten zu können. Als de Beauvoir ihm mitteilte, dass der Produktionsbeginn verschoben wurde, rechnete sie mit einem Wutanfall. Er aber reagierte auf für ihn untypische Weise mit nicht mehr als einem apathischen Lächeln. Mitte Dezember sandte er sein Exposé des Drehbuchs an Huston und wandte sich sogleich wieder der Kritik zu, um 1959 deren ersten Teil abzuschließen, Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Dem Verlag überbrachte er das Manuskript persönlich und übergab Robert Gallimard, Gastons Neffen, im Foyer ein riesiges Paket. Er schien froh, es endlich los zu sein. Sartres früherer Protegé Francis Jeanson, dessen Rezension 1952 zum Bruch mit Camus geführt hatte, wurde Redakteur von Vérités pour, einer Untergrundzeitschrift, die algerische Rebellen unterstützte. Sartre wollte der Unabhängigkeitsbewegung helfen, so gut er konnte, also erlaubte er Evelyne Rey die Annäherung an Jeanson. Jeanson, der ein unverbesserlicher Stalinist geblieben war, hatte 1956 nach Sartres Kritik an der sowjetischen Intervention in Ungarn mit ihm gebrochen. Im Juni 1959 veröffentlichte Jeansons Zeitschrift ein Interview mit Sartre, worin er erklärte, dass die algerischen Rebellen zu unterstützen zugleich bedeutete, sich einer in Frankreich aufkommenden faschistischen Flut entgegenzustellen. Kurz nach diesem Angriff auf die französische Rechte machte er sich wieder mit de Beauvoir auf nach Rom, wo er an Die Verurteilten von Altona arbeitete. Er schloss das Stück schließlich im August in Venedig ab, in Arlettes Beisein. Die Proben begannen, sobald er nach Paris zurückgekehrt war. Es gab die üblichen Scherereien, weil Sartre sich weigerte, Szenen zu schneiden, und auch Wanda und Evelyne, die sonst Schwierigkeiten hatten, Arbeit zu finden, die üblichen Rollen gab. Bei seinen 168
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Theaterstücken war die Unterstützung seines Harems und seiner Anhänger genauso wichtig wie ihre philosophischen und politischen Aussagen. Es wäre zu plump, zu behaupten, dass die jungen Frauen sich nur deshalb auf Sartre stürzten, weil er ihre stagnierenden Karrieren voranbrachte und sie finanziell unterstützte, aber Dankbarkeit war sicher eine Zutat zur Liebe, die zumindest einige von ihnen für ihn hegten. Bis zu einem gewissen Grad schrieb Sartre also Theaterstücke, um von der Sorte junger Frauen umgeben zu sein, die von intelligenten, einflussreichen, charismatischen älteren Herren angezogen werden. Wer kann ihm einen Vorwurf daraus machen? Wie alle Rockstars hatte auch er willige Groupies. Es wurde behauptet, Sartre habe die Gewohnheit gehabt, sich besonders verwundbare Frauen zunutze zu machen. Gewiss waren viele von Sartres Frauen leicht zu beeindrucken und emotional bedürftig, wenn nicht gar instabil, und sie waren von ihm hauptsächlich angezogen, weil sie einer klugen, einflussreichen, beschützenden und nachgiebigen Vaterfigur bedurften. Andere dagegen waren außerordentlich starke und stabile Charaktere; in seinen Beziehungen mit Olga und Simone Jollivet zum Beispiel war er der Bedürftige und vermutlich sogar der Verwundbarere. Obwohl er zweifellos zahlreiche Vorteile aus seinen Beziehungen mit ihnen zog, so nutzten sicher auch viele von Sartres „verwundbaren Frauen“ ebenfalls ihren gesellschaftlichen Vorteil aus ihrer Beziehung mit ihm. Andere dagegen hatten überhaupt keine Vorteile davon. Er half jedoch, soweit wir wissen, keiner dabei, sich selbst zu schaden, die nicht bereits selbst die Veranlagung dazu hatte. Es war wohl eher so, dass er durch die Beziehungen mit ihnen stets angemessen versuchte, instabilen Frauen, die sich romantisch zu ihm hingezogen fühlten, emotional, finanziell und beruflich zu helfen. Er konnte dies nur in einem gewissen Maße tun, nicht zuletzt weil ihm schlussendlich sein eigenes Schicksal sein wichtigstes Anliegen war. Die Verurteilten von Altona wurde schließlich am 23. September 1959 im Théâtre de la Renaissance uraufgeführt und war ein unmit169
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telbarer Publikumserfolg. Auch die Kritiker mochten es und bezeichneten es als Sartres „Comeback“ zu seiner alten Form. Anders als seine beiden vorherigen Theaterstücke Kean und Nekrassov ist Die Verurteilten von Altona weit davon entfernt, leichte, angenehme Kost zu sein. In seiner schwerfälligen, düsteren und klaustrophobischen Atmosphäre behandelt es, wie all seine besten Stücke, dieselben gewichtigen marxistischen Themen wie die Kritik. Die Verurteilten von Altona spielt im Nachkriegsdeutschland in der Villa Gerlachs, eines reichen Reeders, der mit dem Bau von Kriegsschiffen für die Nazis ein Vermögen gemacht, ihnen wissentlich Land für ein Konzentrationslager verkauft und schließlich beim Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg ein weiteres Vermögen gemacht hat. Sartre will mit diesem Stück den marxistischen Gedanken anschaulich machen, dass die reichsten Kapitalisten unabhängig davon profitieren, wer die politische Macht hat. Ob Nazis oder die USA, Geschäft ist Geschäft. Gerlach leidet an Kehlkopfkrebs und liegt im Sterben. Sein Reichtum kann ihn nicht retten. Sein Wunsch am Sterbebett ist, seinen entfremdeten Sohn Franz zu sprechen, der sich vierzehn Jahre lang in den oberen Zimmern der Villa eingeschlossen hat. Franz wird von seiner Schwester Leni versorgt, mit der er ein inzestuöses Verhältnis hat. Im Laufe des Stückes offenbart sich, wie Franz und sein Vater sich entfremdet haben und weshalb Franz sich einschließt. Der philosophische Fokus ist hier die deutsche Kollektivschuld oder eher ihr Mangel angesichts der Naziverbrechen. Franz scheidet sich von der äußeren Welt ab, meidet das Tageslicht und leugnet das Verstreichen der Zeit. Er denkt, dass er für seine eigenen Kriegsverbrechen und die seiner Nation in alle Ewigkeit angeklagt wird – von riesigen, krabbenartigen Kreaturen. Eines seiner Verbrechen bezeichnet er als Verbrechen der Unterlassung, da er nicht gegen die Nazis gehandelt hatte. Zwar hatte er sich ihnen widersetzt, als er einem Rabbi half, aber danach kooperierte er wieder mit ihnen. Wie sein Vater, wie die Mehrheit der Deutschen, unterwarf Franz sich den Nazis. Er hätte sich ihnen trotz der Konsequenzen widerset170
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zen können, aber in seiner Unaufrichtigkeit handelte er, als ob er sich mit ihnen abfinden müsse. Sein eigenes Verhalten rechtfertigte er mit seiner Schwäche und seinem Selbsterhaltungstrieb. Er verachtete die Nazis, war jedoch ihr Handlanger. Sartre geht es in Die Verurteilten von Altona keineswegs darum, die Deutschen anzugreifen. Er findet, dass die Verbrechen der Nazis, insbesondere der Holocaust, beschämend für die gesamte Menschheit seien. Als Marxist identifiziert Sartre den Kapitalismus als das fundamental Böse und den Nationalsozialismus als eine von vielen Manifestationen des Kapitalismus. Der Nationalsozialismus erforderte den Kapitalismus, um sich zu bewaffnen. Im Gegenzug versorgte der Nationalsozialismus den Kapitalismus mit neuen Märkten und neuen Wachstumsmöglichkeiten. Die Nazis wurden gestürzt – aber die Kapitalisten, deren Interessen die Nazis dienten, marschierten weiter. Deutschland konnte schon bald seinen wirtschaftlichen Reichtum wiederherstellen und die USA begingen Verbrechen, die der Nazis würdig waren – beispielsweise Hiroshima. Der Verlierer gewinnt, der alternative Titel des Stücks, bezieht sich auf den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands, kurz nachdem es den Zweiten Weltkrieg „verloren“ hatte. Sartre mag Ende der Fünfzigerjahre die meiste Zeit vollkommen zugedröhnt gewesen sein, aber es half ihm nicht dabei, auf künstlerischer Ebene lockerer zu werden.
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20 Der Philosoph und der Filmregisseur Sobald Die Verurteilten von Altona angelaufen war, machte Sartre sich mit Arlette auf den Weg nach Irland. John Huston besaß eine große Villa in Saint Clerans im County Kildare, wo er seit 1952 als Steuerflüchtling und nur für den Reitstall lebte. Zweck des Besuchs war, das Freud-Drehbuch abzuschließen. Obwohl es dank Arlettes Übersetzungsfähigkeiten kleine Fortschritte gab, wurde das Drehbuch niemals zu Ende geschrieben. Die Leute hielten die junge Frau für seine Sekretärin, was sie gewissermaßen auch war. Hustons Villa war gigantisch, wie ein Hotel mit einer Auswahl an Gästen, die er größtenteils ignorierte, während er durch das Haus streifte. Huston selbst war ein rastloser König, der seinen Bediensteten ständig Befehle zuschrie. Sartre fand ihn verzogen, spröde, besorgt, leicht ablenkbar und leer. Die Sprachbarriere und der kulturelle Unterschied ließen nicht zu, dass die beiden warm miteinander wurden. Der Glamour Hollywoods traf auf den Pariser ShabbyChic-Stil, der Mogul auf den Guru. Sie konnten einander nur mit angewiderter Faszination aus der Ferne ertragen: zwei Monarchen aus zwei sehr unterschiedlichen Reichen, ein jeder hermetisch in seinem eigenen Ruhm eingeschlossen. In seinen Briefen an de Beauvoir versuchte Sartre, Huston lächerlich zu machen, beschrieb, wie Huston jeden Nachmittag in der grünen irischen Prärie ritt, gefolgt von einem stolzierenden Pony. Huston äußerte sich in seiner Autobiographie An Open Book ähnlich beleidigend über Sartre: Sartre war ein Fass von einem Menschen und so hässlich, wie ein Mensch nur sein kann. Sein Gesicht war aufgedunsen und narbig, seine Zähne waren gelb und er schielte. Er trug einen grauen Anzug, schwarze Schuhe, ein weißes Hemd, Krawatte und Weste. Er 172
Der Philosoph und der Filmregisseur
sah immer gleich aus. Wenn er morgens herunterkam, trug er seinen Anzug, und nachts war es noch immer das letzte, was er trug. (An Open Book, S. 295) Nach dem, was wir über Sartres Drogenkonsum, sein Kettenrauchen, seine Gleichgültigkeit gegenüber seinem Äußeren und sein Desinteresse an seinem Körper (im Gegensatz zu seinem gestählten Geist) wissen, ist Hustons Beschreibung bestimmt verheerend zutreffend. Sartres Einstellung zu seinem Leben und seinem Körper wurde Huston in schockierender Weise offenbart, als er, Sartre, Zahnschmerzen bekam. Anstatt nach Dublin oder gar nach Hollywood zu reisen, um den bestmöglichen Zahnarzt zu konsultieren (wie Huston es getan hätte), ließ Sartre sich einfach vom nächstgelegenen Zahnarzt den Zahn ziehen. Danach machte er einfach weiter, als wäre nichts gewesen – vollkommen gleichgültig gegenüber der jüngsten Lücke inmitten seiner schlechten Zähne. „Er ging zum nächstbesten [Zahnarzt], den er finden konnte und ließ sich den Zahn ziehen. Ein Zahn mehr oder weniger war Sartre egal. Das physische Universum existierte nicht für ihn. Ihn interessierte nur der Geist. Andererseits warf er sich allerlei Tabletten ein“ (An Open Book, S. 296). Sartre stand jedoch Hustons Mangel an Manieren nicht gleichgültig gegenüber. Er erzählte de Beauvoir, dass Huston beim gemeinsamen Zusammensitzen mit anderen Leuten oft einfach den Raum verließ, ohne die redende Person ihren Satz zu Ende bringen zu lassen. Von Hustons Perspektive aus war es immer nur Sartre, der sprach: Man wartete, dass er endlich Luft holen würde, aber er tat es nicht. Die Wörter kamen aus seinem Mund wie eine absolute Strömung. Sartre sprach kein Englisch, und weil er so schnell sprach, konnte ich kaum seinem grundlegenden Gedankengang folgen. Ich bin sicher, dass viel, was er sagte, brillant war … Manchmal verließ ich verzweifelt den Raum – beinahe erschöpft vom Versuch, 173
Jean-Paul Sartre
seiner Rede zu folgen; das Dröhnen seiner Stimme verfolgte mich, bis ich außer Hörweite war; und als ich zurückgekehrt war, schien er nicht einmal gemerkt zu haben, dass ich fort war. (An Open Book, S. 296) Sartre dagegen dachte, dass er auf elegante Weise die Konversation am Laufen hielt, nachdem der Gastgeber abrupt verschwunden war. Die Verschiedenartigkeit der Wahrnehmung zweier einander beurteilender großer Männer bei alltäglichen Anlässen ist genauso amüsant wie aufschlussreich. Sartre hätte ein Theaterstück vom Rang von Geschlossene Gesellschaft daraus ziehen können und Huston einen Film vom Rang von Misfits. Für einen Biographen ist es von unschätzbarem Wert, sich liebevoll über Sartre lustig machen zu können und zu zeigen, was für eine groteske Gestalt er Ende der 1950er-Jahre geworden war: von sokratischer Weisheit, Redseligkeit, Halsstarrigkeit, äußerer Hässlichkeit und hoher Schmerzgrenze. Eine Nervensäge wie Sokrates, ein Floh in jedermanns Ohr – weiser als Sokrates, da er nie heiratete, und produktiver als Sokrates, der nie etwas schrieb. Huston murrte über Sartre, der ein Drehbuch für einen fünf bis sieben Stunden langen Film geschrieben hatte. Beim Versuch, es nach seiner Rückkehr in Paris zu kürzen, gelang es Sartre sogar, es zu verlängern. Dem Film, der letztendlich 1962 erschien, Freud (engl. Originaltitel: Freud – The Secret Passion) mit Montgomery Clift und Susannah York in den Hauptrollen, liegt das 1947 von Charles Kaufmann über Freud geschriebene Drehbuch zugrunde, das teilweise Material aus Sartres Drehbuch enthält. Sartre hätte für die Zugabe weiteren Materials wenigstens auf einer Erwähnung bestehen können, aber seine Unstimmigkeiten mit Huston brachten ihn dazu, vor Fertigstellung seinen Namen gänzlich aus dem Projekt zurückzuziehen.
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21 Eine explosive Situation Die Swinging Sixties begannen mit dem Tod einer bis heute unvergessenen kulturellen Ikone. De Beauvoir erhielt einen Anruf von Lanzmann, der ihr erzählte, dass Camus bei der Rückkehr aus dem Winterurlaub in Südfrankreich bei einem Autounfall in Villeblevin, etwa hundert Kilometer von Paris entfernt, ums Leben gekommen war. Er wurde nur 46 Jahre alt. Der Unfall hatte sich am 4. Januar 1960 ereignet. Camus erlitt einen Schädel- und Genickbruch und war auf der Stelle tot. Sein Herausgeber Michel Gallimard, ein weiterer Neffe Gastons, erlag sechs Tage später seinen Verletzungen. Michels Ehefrau und Tochter überlebten. Obwohl Sartre und de Beauvoir sich mit Camus zerstritten und von ihm entfernt hatten, unterhielten sie sich den ganzen Abend gemeinsam mit Bost über ihn. Sartre erwies Camus am 7. Februar im France-Observateur seine Ehrerbietung. Camus, sagte er, war ein großer Moralist, der stets „zu den bedeutendsten Kräften unserer Kultur“ gehören werde. Sartre konnte ihren bitteren öffentlichen Zwist nicht ignorieren und spielte ihn romantisierend mit bewegender, unlogischer Rhetorik herunter: „Wir hatten uns gestritten, er und ich, aber ein Streit ist nichts, selbst wenn man sich nie wieder sieht. Es ist einfach nur eine andere Art zusammenzuleben, ohne einander aus den Augen zu verlieren in dieser engen, kleinen Welt, die uns gegeben ist.“ Im folgenden Monat machten Sartre und de Beauvoir sich auf den Weg nach Kuba, um ihre Unterstützung für die Revolution zu zeigen. Fidel Castro und seine Verbündeten hatten Präsident Batista im vorangegangenen Jahr nach einem 1953 ausgebrochenen bewaffneten Konflikt endlich die Macht entrissen. Batista war zunehmend korrupt und diktatorisch geworden und hatte zugelassen, dass die kubanische Wirtschaft wie auch Bevölkerung von organisiertem Verbrechen und großen US-Konzernen ausgebeutet wurden. Charismatisch und politisch gerissen, wie er war, schuf Castro einen 175
Jean-Paul Sartre
stabilen sozialistischen Einparteienstaat, der in vielerlei Hinsicht das Leben der Kubaner verbesserte und sie vom US-amerikanischen Neokolonialismus befreite. Es gibt eine wunderbare Reihe Schwarzweißfotographien von Sartre und de Beauvoir, die mit Castro und Ernesto „Che“ Guevara in einem Büro zusammensitzen. Sartre trägt seinen typischen Anzug, Castro und Guevara ihre typischen Militäruniformen. Die Gruppe bespricht die Revolution, während die drei Männer große kubanische Zigarren rauchen. In einer Aufnahme, auf der Castro fehlt, lehnt Guevara sich in seinen großen Stiefeln und mit seinem Barett nach vorne, um Sartres Zigarre anzuzünden. Sartre und de Beauvoir hatten Che Guevara erstmals in seinem Büro in der Kubanischen Nationalbank getroffen. Da er wusste, dass Revolutionen mit Waffen gewonnen, jedoch mit gesunden Finanzen am Leben gehalten werden, brachte er sich selbst Volkswirtschaft bei. Castro selbst führte sie über die Insel. Sie ließen den großen Anführer, der pünktlich angekommen war, um sie abzuholen, zehn Minuten lang warten. Sartre war beeindruckt davon, wie viele Kubaner Castro liebten und wie gerne der Vater der Revolution sich unter sie mischte, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Sartre gelangte zur Überzeugung, dass eines der Hauptprobleme der UdSSR war, dass ihre Anführer den Bezug zur Bevölkerung verloren hatten. Seine Berichte über die kubanische Revolution in der französischen Presse waren genauso enthusiastisch, wie Castro es erhofft hatte. Castro bat Sartre, das Wort „Sozialismus“ nicht zu benutzen. In Kuba schrieb Sartre ein Vorwort zu einer neuen Ausgabe von Nizans Novelle Aden. Die Wachhunde aus dem Jahre 1931. Er gestand, dass Nizan in politischer Hinsicht lange vor ihm zur Erkenntnis gelangt war und außerdem, obwohl er seit zwanzig Jahren nicht mehr lebte, mit seiner Verurteilung des Kolonialismus wahrhaftig modern sei. Sartres Heraufbeschwören von Nizans jugendlichem, rebellischem Geist inspirierte die Studentenproteste von 1968. Sartre kehrte Mitte März nach Paris zurück, ein paar Wochen vor der Veröffentlichung des ersten Teiles seiner Kritik der dialektischen 176
Eine explosive Situation
Vernunft. Trotz seines Weltruhms und seiner Beliebtheit in großen Teilen der französischen Öffentlichkeit weckte das Erscheinen dieses großen philosophischen Werkes nur wenig Interesse. Es war einfach zu umfangreich und zu kompliziert, wenn man kein Experte für Marxismus und Existentialismus war. Diejenigen, die es lasen, fanden, dass es Passagen mit brillanten Einsichten enthalte, aber schlecht strukturiert und durch die uneinheitliche Verwendung von Schlüsselbegriffen verwirrend sei. Das Buch war unter dem Einfluss von Drogen entstanden und weitschweifig, aber keine inkohärente Schimpftirade. Obwohl der allgemeine Konsens dahin geht, dass es bei Weitem kein Meisterwerk wie Das Sein und das Nichts ist, werden Sie auf jeder SartreKonferenz einer kleinen Minderheit von Exzentrikern begegnen, die es für sein bestes Werk halten. Das Monster steht in zahlreichen Bibliotheksregalen für jeden, der genug Zeit und Bildung hat, um es zu lesen, und über die Jahre hat es zweifellos großen Einfluss auf das postmarxistische Denken ausgeübt. In der Kritik der dialektischen Vernunft behauptet Sartre, dass der Begriff der menschlichen Freiheit das Kernstück von Marx’ materialistischer Geschichtstheorie bilde, Marx ihn jedoch niemals genau definiert habe. Allein der Existentialismus als Theorie der menschlichen Freiheit sei dazu geeignet. Deshalb stelle der Existentialismus ein wesentliches Element des Marxismus dar. Die historische Dialektik, d. h. die Entwicklung der Materie durch den Menschen und die Entwicklung des Menschen durch die Materie als Ergebnis menschlichen Handelns und menschlicher Produktivität, kann, wie einige Marxisten zu Sartres Zeit behaupteten, nicht durch blinde, mechanische Prozesse erklärt werden, die das Bewusstsein und die Freiheit des Menschen unberücksichtigt lassen. Sartre wirft einigen seiner marxistischen Zeitgenossen vor, eine vereinfachende „Dialektik ohne Menschen“ (Fragen der Methode, S. XIII) zu vertreten. Die Geschichte schafft den Menschen, aber auch der Mensch schafft die Geschichte durch seine praktische Reaktion auf die gegenwärtige, historisch bestimmte Situation. Durch sein Handeln projiziert der Mensch sich selbst aus der Gegenwart 177
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heraus in seine zukünftige Situation hinein, hin zu zukünftigen Möglichkeiten, die realisiert werden, wenn ein zukünftiger materieller Zustand erschaffen worden ist. Wenn Marx behauptet, dass der Mensch seine Geschichte auf dem Fundament gegebener Bedingungen erschaffe, meint er damit nicht, wie einige Marxisten ihn verstehen, dass Menschen Maschinen seien, die von den Bedingungen zum Handeln in einer bestimmten, determinierten Weise konditioniert würden. Vielmehr geht es ihm darum, dass die Menschen ihre Geschichte dadurch schaffen, dass sie ihre Antwort auf die Bedingungen wählen. Der Mensch ist das Produkt seines eigenen produktiven Handelns, aber er ist kein Produkt wie andere Produkte, weil er das einzige Produkt ist, das erkennen kann, dass er ein Produkt ist. Sartre argumentiert, der Marxismus sei nicht nur eine Geschichtstheorie, die der Begriffe des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Freiheit bedürfe – vielmehr ist der Marxismus die ihrer selbst bewusste Geschichte selbst. Marx ermutigt die Menschen bekanntermaßen zu politischer Freiheit. Dies setzt voraus, dass sie vor allem psychologisch frei im Sartre’schen Sinne sind. Für gänzlich deterministischen Gesetzen unterworfene Wesen kann politische Freiheit keine Bedeutung haben. Solchen Lebewesen wäre es unmöglich, nach politischer Freiheit zu streben. In seiner Kritik erkennt Sartre mehr noch als in Das Sein und das Nichts an, dass ein Mensch und sogar eine gesamte gesellschaftliche Klasse durch politische und wirtschaftliche Unterdrückung ohne politische Freiheit sein können. Die existenzielle Freiheit eines Menschen jedoch ist unveräußerlich: Ein Mensch kann nicht nicht entscheiden; andererseits ist seine Freiheit umsonst, wenn seine einzige Entscheidung zum Beispiel darin besteht, in einer Fabrik zum Lebensunterhalt Qualen zu ertragen und sich ausbeuten zu lassen oder zu sterben. Diese Sichtweise geht nicht unmittelbar aus Beobachtungen in Das Sein und das Nichts hervor, sondern entwickelt sich erst von dort aus. In Das Sein und das Nichts erkennt Sartre, dass die größte Be178
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drohung für die Freiheit eines Menschen die Freiheit des Anderen ist. So wie eine Person Macht über eine andere bekommen und ihn zu einem Objekt degradieren kann, genauso kann eine gesellschaftliche Klasse durch wirtschaftliche und politische Ausbeutung Macht über eine andere gewinnen und deren Mitglieder zu Objekten degradieren. Auf diese Weise entwickelt Sartre in der Kritik seine existentialistische Theorie des Für-andere-Seins weiter zu einer Theorie der menschlichen Entfremdung durch den Menschen. Sartres positive Erfahrungen in Kuba trieben ihn dazu an, kurz nach seiner Rückkehr mit dem zweiten Teil der Kritik zu beginnen, Die Intelligibilität der Geschichte (nicht ins Deutsche übersetzt), wovon er bis Ende Sommer 1960 bereits das meiste geschrieben hatte. In Kuba war er zur Einsicht gelangt, dass eines der Hauptprobleme der UdSSR die Distanz zwischen Führern und Geführten war. Deshalb beschäftigte er sich im zweiten Teil der Kritik überwiegend mit der Frage, warum die bolschewistische Revolution von 1917 zum Stalinismus geführt hatte. Teil zwei war noch länger als Teil eins und kam zu keiner Schlussfolgerung – in dieser Hinsicht ist es unvollendet. Wie gewöhnlich versprach Sartre noch ehrgeizigere Werke, die alles Unaufgearbeitete miteinander verknüpfen sollten: künftige Werke, die zu schreiben ihm leider die Zeit und Kraft ausging, die jedoch zweifellos noch weiteres Unerledigtes geschaffen hätten. Jedes philosophische Werk, ob vollendet oder unvollendet, hat unerledigte Aspekte. Dies liegt in der Natur der Sache. Teil zwei wurde 1983 posthum veröffentlicht. Sartre war bei linken Bewegungen weltweit sehr gefragt. Seine Popularität verschaffte ihnen viel Publicity. Im Mai 1960 war er in seiner Rolle als Frankreichs Antibotschafter weiterhin aktiv und besuchte auf Einladung des dortigen Schriftstellerverbandes Jugoslawien. Er hielt Vorlesungen in Belgrad, wo zwei seiner Theaterstücke aufgeführt wurden, und hatte eine Audienz beim wohlwollenden kommunistischen Diktator Marschall Tito. Im August verreiste er wieder, diesmal mit de Beauvoir nach Brasilien, wo er drei Monate durch das Land fuhr. 179
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Bevor er Brasilien verließ, unterzeichnete er das „Manifest der 121“, ein am 6. September in der Zeitschrift Vérité-Liberté erschienener offener Brief. Das Manifest erklärte seine Unterstützung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, kritisierte die französische Regierung und verurteilte die französische Armee für die begangenen Folterungen. Auch rief es mit vielen Worten in Algerien stationierte französische Soldaten, die den Glauben an die Berechtigung des Krieges verloren hatten, zur Befehlsverweigerung auf. Viele Rechtskonservative bewerteten das Dokument als Verrat und einige Unterzeichner wurden inhaftiert. Die Ausgaben anderer Zeitschriften, die das Manifest drucken wollten, wurden entweder konfisziert oder zensiert. Um die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung hervorzuheben, veröffentlichte Les Temps modernes zwei weiße Seiten, auf denen das Manifest hätte stehen sollen. Der berühmteste Unterzeichner des Manifests war Tausende Meilen von den Ereignissen entfernt, in Rio, Copacabana, Bahia, São Paulo, Brasilia. Er hielt Vorlesungen, traf sich mit Intellektuellen aus dem linken Lager, besuchte die Armen und nahm an Voodoozeremonien teil. Er war depressiv, litt an Gürtelrose und das Essen schmeckte ihm nicht. In treuer Sartre-Manier biss er sich durch. Gegen Ende der Reise musste de Beauvoir ins Krankenhaus eingewiesen werden, vermutlich wegen Typhus. Während Sartre in Brasilien war, wurde der ins Ausland geflüchtete Jeanson in Abwesenheit für die Aktivitäten seines Jeanson-Netzwerks angeklagt, einer Organisation, die algerische Milizen der verbotenen FLN unterstützte. Jeanson wurde des Hochverrates schuldig gesprochen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Seine Anwälte baten Sartre, nach Paris zurückzukehren und zu seiner Verteidigung zu intervenieren; sie lockten ihn damit, den Flug zu bezahlen. Er lehnte mit der Begründung ab, dass er krank sei. Stattdessen sandte er ein unterstützendes Telegramm und erlaubte Marcel Péju, der für Les Temps modernes arbeitete, einen Brief in seinem Namen zu verfassen. Sartre hätte den Inhalt des Briefes per Telefon diktieren können, aber stattdessen erlaubte er Péju, den Brief selbst zu schreiben. 180
Eine explosive Situation
Péju, dem Sartres Feingespür abging, ging zu weit und verglich das Jeanson-Netzwerk mit der französischen Résistance. Er legte Sartre die Worte in den Mund, dass er ohne Zögern für das JeansonNetzwerk gearbeitet hätte, wenn Jeanson ihn je gefragt hätte. Dieser dem „Manifest der 121“ vorangestellte Brief brachte Sartre in ernsthafte Schwierigkeiten mit den französischen Behörden. Bei seiner Rückkehr nach Paris rechnete er damit, des Verrates und der Unterstützung des Terrorismus angeklagt zu werden. Außerdem setzte ihn die OAS (Organisation de l’armée secrete, dt. Organisation der Geheimen Armee), eine rechte Terrorgruppe, die die algerische Unabhängigkeit und die FLN ablehnte, auf ihre Abschussliste. In seiner Abwesenheit hatte Sartre es geschafft, die größte Hassfigur der französischen Rechten zu werden. Kriegsveteranen marschierten zu Tausenden durch die Straßen von Paris und sangen „Tötet Sartre“. Er und de Beauvoir kehrten im November 1960 über Spanien nach Europa zurück. Sie zogen es vor, unauffälliger mit dem Auto in Frankreich anzukommen als mit dem Flugzeug. Als sie die französische Grenze erreichten, hatten sie bereits beschlossen, sich der Polizei zu stellen. Die Grenzpolizei informierte Paris über ihre Rückkehr. Sie fuhren nach Paris in der Hoffnung, bei ihrer Ankunft verhaftet zu werden, aber die Behörden schliefen. Der Befehl zu dieser endlosen Verzögerung kam direkt von oben. De Gaulle war zu clever und vielleicht auch zu ängstlich, um Frankreichs berühmtesten Intellektuellen und Dissidenten vor Gericht zu stellen. Die politische Situation Frankreichs zu diesem Zeitpunkt war derart unberechenbar, dass Sartre den Prozess zu machen eine Revolution hätte auslösen können. Zu Unruhen wäre es auf jeden Fall gekommen. De Gaulle erklärte sein Verhalten mit den berühmten Worten: „Man steckt Voltaire nicht einfach ins Gefängnis“, wobei er praktischerweise vergaß, dass Voltaire Gefangener in der Bastille gewesen war. De Gaulle war auch so klug zu begreifen, dass er in Algerien nicht gewinnen konnte. Er setzte den Prozess in Gang, der 1962 zur algerischen Unabhängigkeit führte, während er zugleich in Sorge vor mächtigen reaktionären Kräften war, die Algerien in französischer 181
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Hand halten wollten. De Gaulle überlebte mehrere Mordanschläge der OAS, Sartre übrigens auch. Je näher die algerische Unabhängigkeit kam, desto feindseliger wurde die OAS. Paris wurde von OAS-und FLN-Aktivisten heimgesucht, die Bomben aus Plastiksprengstoff in den Autos und Häusern ihrer Gegner deponierten oder sie einfach wahllos in die Menschenmenge warfen. Nachdem sie den gesamten Winter über Drohanrufe erhalten hatten, flohen Sartre und de Beauvoir zusammen mit Bost im April 1961 aus Paris in Richtung Antibes in Südfrankreich. Noch in Antibes erhielten sie die Nachricht, dass Merleau-Ponty am 4. Mai unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben war. Sartre ehrte seinen fähigsten zeitgenössischen Kritiker im Oktober mit einer Gedenkausgabe von Les Temps modernes. Seinen Beitrag schrieb er während seines Sommeraufenthaltes in Rom. Um die richtigen Worte, die Merleau-Ponty und ihr komplexes intellektuelles Verhältnis auf einen Nenner bringen konnten, musste er ungewöhnlich ringen. Er hatte das Bedürfnis, seine Gedanken mit Merleau-Ponty zu besprechen, bevor er sie niederschrieb – im vollen Bewusstsein, dass er es nicht konnte, im vollen Bewusstsein, dass er M erleau-Ponty erlaubt hatte, sich mit so viel Unausgesprochenem davongemacht zu haben. Bei ihrer Rückkehr aus Antibes fanden sie Paris in noch größerem Aufruhr, als sie es verlassen hatten: soziale Unruhen, Bomben, Morde. Im Juni brachte Sartre seine Mutter in einem Hotel auf dem Boulevard Raspail unter und verließ seine Wohnung, um bei de Beauvoir unterzukommen. Eine weise Entscheidung. Am 19. Juli, gerade als er und de Beauvoir nach Rom aufbrachen, erhielt er die Nachricht, dass im Eingangsbereich der Rue Bonaparte 42 eine kleine Bombe hochgegangen sei und geringen Schaden verursacht habe. In Italien waren Sartre und de Beauvoir froh, ihre Pariser Sorgen hinter sich gelassen zu haben, und ließen es sich relativ gut gehen. Sartres Hauptaufgabe für diesen Sommer war, den schwierigen Text über Merleau-Ponty zu schreiben. Er traf sich auch mit dem Philosophen und Antikolonialisten Frantz Fanon für ein langes Gespräch. 182
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Er willigte ein, das Vorwort zu Fanons Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde zu schreiben. Darin nimmt Fanon eine psychologische Analyse der Entfremdungseffekte des Imperialismus sowohl auf die Kolonisierer als auch die Kolonisierten vor und spricht sich für die Anwendung von Gewalt seitens unterdrückter Völker aus, um ihre Freiheit und Unabhängigkeit zurückzuerlangen. Das Buch wurde Ende 1961 mit Sartres Vorwort veröffentlicht, kurz bevor Fanon am 6. Dezember an Leukämie starb. Paris war für Sartre und de Beauvoir noch unwirtlicher geworden als während des Zweiten Weltkriegs. Mit seinem Krieg gegen den Kolonialismus stand Sartre viel mehr als Person in der Schusslinie, als er es als Soldat, Kriegsgefangener oder als Flüchtiger gewesen war. Für Sartre war es zu gefährlich geworden, in die Rue Bonaparte zurückzukehren – und aus Angst vor der OAS hätte ihm kein Hotelier ein Zimmer vermietet. Schließlich mietete sein Sekretär Claude Faux, der 1957 Cau ersetzt hatte, auf seinen eigenen Namen eine Wohnung für Sartre und de Beauvoir. Obwohl sie in ihrer neuen Wohnung Angst um ihr Leben hatten, streckten sie ihre Köpfe dennoch recht häufig heraus. Sartre half dabei, die Liga für antifaschistische Bewegungen zu gründen, und verurteilte mehrmals die Gegner der algerischen Unabhängigkeit öffentlich als Faschisten und Rassisten. Am 18. November 1961 nahmen Sartre und de Beauvoir an einer von jungen Kommunisten organisierten Demonstration gegen Faschismus und Rassismus teil, wobei sie sich hinter einem Schild versteckten, auf dem die Worte „Frieden in Algerien“ geschrieben standen. Die Polizei stürmte die Demonstration und knüppelte die Menge nieder. Am 7. Januar 1962 wurde die Rue Bonaparte 42 erneut das Ziel eines Bombenanschlags. Diesmal ging die Bombe in der Wohnung über der Sartres hoch und legte beide in Trümmer. Die Explosion war so stark, dass sie seine Wohnungstür und einen Wandschrank zerstörte, in dem er viele seiner unveröffentlichten Manuskripte aufbewahrte. Es gibt Vermutungen, dass der Schrank bereits vor der Explosion von opportunistischen Sammlern geplündert worden sei. Sicher ist, 183
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dass danach viele Dokumente nicht mehr auffindbar waren. Aber das war das kleinste von Sartres Problemen. Das unveröffentlichte Material, das ihm wirklich wichtig war, bewahrte er anderweitig sicher auf: Teil 2 der Kritik, seine Biographie Flauberts und die oft überarbeitete Skizze von Die Wörter. Um die meisten seiner unveröffentlichten Manuskripte kümmerte Sartre sich wenig. Als ein Buchhändler ihm beispielsweise anbot, die beiden Bände seiner Kriegstagebücher zurückzukaufen, die Bost verloren hatte, weigerte er sich, für seine eigenen Werke zu bezahlen. Er hätte die Tagebücher auch einfach einklagen können, da sie sein Eigentum waren, aber es war ihm egal. Ein junger Schriftsteller, der im März 1961 Sartres Studio besuchen konnte, kurz bevor Sartre es aufgab, beschrieb es als mit Literatur überfüllt. Die Regale quollen von Büchern über und stapelten sich auf jeder offenen Fläche einschließlich des Fußbodens. Auf jedem Möbelstück und in jeder Ecke türmten sich Berge vollgekritzelten Papiers, lose Manuskriptseiten, Notizbücher, Ordner und Akten. Auch lagen Boyard-Zigarettenpackungen, Pfeifen, Streichhölzer, überquellende Aschenbecher, Weinflaschen und leere Pillendosen überall verstreut herum. Von dieser spektakulär zugemüllten, chaotischen Zelle aus führte ein außerordentlicher Geist mit einer außerordentlichen Ausdauer einen langen und titanischen Krieg der Worte, in dem Gedanken und Argumente seine einzigen Waffen waren, wenn auch so gefährliche Waffen, dass andere Menschen ihn dafür tot sehen wollten. Sein Studio sah schon vor dem Bombenanschlag aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Die Unordnung war ein Nebenprodukt seiner kolossalen geistigen Kraft und seines Drogenmissbrauchs. Es hätte auch die Energie einer Bombe benötigt, um das Durcheinander wieder aufräumen. Er erhielt Polizeischutz, aber die den ganzen Tag vor der Tür stehenden Polizisten verrieten nur seinen Aufenthaltsort. Die Polizisten machten abends genau dann Feierabend, wenn die OAS-Bomber am aktivsten waren. Er und de Beauvoir zogen erneut um und suchten in einem großen Wohnblock entlang der Seine nach Anonymi184
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tät. Im Februar wurde eine weitere Demonstration von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Diesmal wurden dabei Menschen getötet, darunter ein Jugendlicher, dessen Beerdigung eine Massendemonstration und einen Streik in ganz Paris auslöste. Über eine halbe Million Menschen zog es zum Friedhof. Eine Minderheit von Reaktionären, die meistens eigene Interessen verfolgten, wollte, dass Algerien französisch blieb, aber die große Mehrheit der französischen Bevölkerung war mehr als bereit, Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Der von Sartre und anderen erzeugte öffentliche Druck hatte einen bedeutenden Einfluss auf den Wandel der öffentlichen Meinung ausgeübt. Die Prounabhängigkeitskampagne hatte die Augen der Bevölkerung für das Unrecht und die Verbrechen des Kolonialismus geöffnet, nicht nur in Algerien, sondern in der gesamten Welt. Im März hielt Sartre in Brüssel vor 6 000 Menschen eine Vorlesung über Algerien – derselbe Monat, in dem die französischen Streitkräfte und die FLN einen Waffenstillstand vereinbarten. Trotz des Waffenstillstandes nahm die Gewalt während der Unabhängigkeitsreferenden am 7. April in Frankreich und am 1. Juli in Algerien wieder zu. De Gaulle erklärte Algerien am 3. Juli für unabhängig, aber die Algerier machten den 5. Juli zu ihrem Unabhängigkeitstag: den 132. Jahrestag des französischen Einmarschs in Algerien. Ein Jahr nach dem Aprilreferendum hatten anderthalb Millionen Menschen aus Furcht vor Verfolgungen Algerien in Richtung Frankreich und woandershin verlassen, einschließlich fast der gesamten europäischen und jüdischen Bevölkerung.
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22 Nobel-Worte Acht Jahre nach seiner letzten Russlandreise nahm Sartre die Einladung des sowjetischen Schriftstellerverbandes an. Er und de Beauvoir trafen am 1. Juni 1962 dort ein. Das Land war entspannter als vorher und hatte einen deutlich höheren Lebensstandard. Sie bereisten die großen Städte und erlebten das Beste, was Russland an Kunst und Kultur zu bieten hatte. Weitab von den größeren Ballungsgebieten gab es noch immer die Zwangsarbeitslager. Sie besuchten das Haus Dostojewskijs und Sartre fügte Chruschtschow zur Liste der Diktatoren hinzu, denen er die Hand geschüttelt hatte. Ihre Fremdenführerin und Dolmetscherin war Lena Zonina, eine schöne 39-jährige jüdische Schriftstellerin. Sie und Sartre entwickelten eine romantische Zuneigung zueinander, was ihn dazu veranlasste, Russland in den folgenden vier Jahren nicht weniger als acht Mal zu besuchen. Sein nächster Besuch fand bereits im darauffolgenden Monat statt und dann wieder im Dezember, nachdem er den Herbst in Rom verbracht hatte. Er kam kurz nach Weihnachten an und hatte geplant, eine internationale Gesellschaft für Schriftsteller zu gründen, obwohl sein Interesse hauptsächlich darin bestand, seine Beziehung zu einer ganz bestimmten Schriftstellerin zu vertiefen. Sartre widmete bald darauf seine Autobiographie Die Wörter „Madame Z.“, die sie später ins Russische übersetzte. Sartre vollendete dieses außerordentliche Werk Mitte Januar 1963 unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Russland, nachdem er zehn Jahre lang daran herumgewerkelt hatte. Seit den Tagen von Was ist Literatur? hatte Sartre drauf bestanden, dass Schreiben funktional sein müsse; dass nur die politische Botschaft Bedeutung habe; dass an der eigenen Prosa zu feilen bürgerlicher Dünkel sei. Mit Die Wörter begann er wieder, Literatur zu schreiben und Belletristik zu produzieren. Warum plötzlich dieser Sinneswandel? 186
Nobel-Worte
In pragmatischer Hinsicht brauchte er Geld. Seine regelmäßigen Reisen waren teuer und er hatte seit Jahren kein erfolgreiches Buch mehr geschrieben. Wer sollte, von ein paar Bibliotheken abgesehen, die Kritik der dialektischen Vernunft schon kaufen? In künstlerischer Hinsicht konnte er der Versuchung nicht länger widerstehen, endlich wieder die große Stilistik hochzufahren und sowohl der Welt als auch sich selbst zu beweisen, dass der Autor von Der Ekel noch immer imstande war, große Literatur zu schreiben. Mit dem Blick auf sein Vermächtnis und seinem Nachruhm beschloss er, die Rolle des alternden Handwerksmeisters vollkommen auszuspielen. Er würde alle Register ziehen, um die Geschichte des kleinen Poulou mit mehr Stil zu schreiben als jeder Schreiberling-Biograph nach ihm. Und dennoch sollte Die Wörter nicht nur den Mythos von AnneMaries kleinem federschwingendem Monster, von Mamis verzogenem Wunderkind, sondern auch eine Parodie der Literatur als Genre erschaffen, einen Kommentar zu ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verzerren und selbst die banalsten Situationen in große Abenteuer und schicksalsträchtige Ereignisse zu verwandeln. Wie Ronald Hayman und andere angemerkt haben, hätte kein Kind so frühreif sein können, wie Poulou dargestellt wird. Die existenziellen Ängste eines Kindes sind echt und tiefgründig, aber Sartre will uns zum Glauben verleiten, dass Poulou seine eigene Conditio humana analysiert und Strategien entwickelt habe, um seine Kontingenz in einem Ausmaß zu bewältigen, wie es eines weisen Mannes in seinen späten Fünfzigern würdig war. Die Wörter ist eine psychoanalytische Reise in die Literatur, mittels derer Sartre sein Verlangen zu schreiben als Neurose und als angstmindernde Zwangshandlung darstellt. Durch das Schreiben fühlte er sich wirklich, notwendig, als ein Jemand; aber vielleicht war ihm das nur wichtig, weil er glaubte, ein Jemand zu sein würde seinem Großvater gefallen und all der voreingenommenen, schwer zu beeindruckenden bürgerlichen Welt, die sein Großvater repräsentierte. Angeblich soll Sartre sein gesamtes Leben versucht haben, die bürgerliche Welt, die ihn hervorbrachte, dadurch beeindrucken zu wollen, dass er sie schockierte. 187
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Er sagt, dass er ohne den repressiven Willen eines Vaters groß wurde und deshalb kein Über-Ich hatte. Andererseits suggeriert er, dass sein Gewissen, zumindest dasjenige, das Schuldgefühle in ihm auslöste, wenn er seiner Berufung nicht nachging, stets mit Charles Schweitzers Sprache zu ihm sprach: die „Stimme meines Großvaters, [diese] Schallplattenstimme, die mich weckt, so daß ich aufspringe und an den Schreibtisch stürze“ (Die Wörter, S. 125). Da er seine Schuldgefühle durch das Befolgen von Charles’ Befehlen besänftigen musste, rächte er sich an ihm und seinesgleichen dadurch, dass er genau solche Dinge schrieb, die sie missbilligen würden. Es ist sehr aufschlussreich, dass er von sich aus eine Ausgabe von Die Mauer mit seinen zahlreichen schockierenden Passagen an Mancy sandte, der anderen bürgerlichen Vaterfigur seines jugendlichen Lebens. Eine einfachere Erklärung für Sartres Verhalten ist, dass er doch nur einer dieser klein gewachsenen Kerle war, der nicht damit klarkam, dass andere auf ihn herabsahen. Wie alle diejenigen, die am Komplex des „kleinen Mannes“ litten, hatte er in der Welt groß gewachsener Männer viel zu beweisen – also mied er Männer und flüchtete zu Frauen und seiner Feder sowie in Sphären, die besser bewiesen, dass er ein Riese im Körper eines kleinen Mannes war, was auch zweifellos stimmte. Stets suchte er die Gesellschaft jüngerer Männer und vor allem jüngerer Frauen und litt in Gesellschaft älterer Männer oder männlicher Zeitgenossen, die vergleichbare hohe Verdienste hatten wie er. Er war fest entschlossen, Schweitzer, Mancy und Lanson zu dämonisieren, er flüchtete vor Heidegger, hielt Hemingway auf Distanz, wies Camus ab, zerstritt sich mit Aron wie auch mit Merleau-Ponty und so fort. Es ist leicht, in psychoanalytische Schimpftiraden zu verfallen, wenn man versucht zu begreifen, wie er tickte – genau wie seine eigenen speziellen Psychoanalysen Baudelaires, Genets, Flauberts und sogar seiner selbst mit ihm durchgingen. Vielleicht ist Die Wörter ebenso sehr eine Parodie der „bürgerlichen Ideologie“ der Psychoanalyse, wie es eine Parodie der bürgerlichen Vorliebe für Literatur ist. Nachdem er am Ende von Die Wörter entdeckt, dass die Wahl seiner selbst, sein unersättlicher Drang zu schreiben, nichts weiter ist 188
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als Poulous durch die Jahrzehnte nachhallende Neurose, verzichtet er auf seine Berufung. „Ich habe das geistliche Gewand abgelegt, aber ich bin nicht abtrünnig geworden: ich schreibe nach wie vor. Was sollte ich sonst tun? Nulla dies sine linea“ (Die Wörter, S. 194). Eine Diagnose ist noch keine Genesung und er schrieb auch nach „Vollendung“ von Die Wörter lange weiter. Er schrieb sogar sein längstes Werk überhaupt aus Eifersucht gegenüber denen, die seine chronische Sucht nicht teilten. Diese kärgliche Forderung überrascht mich heute durch ihre Starrheit und Unerbittlichkeit. Sie gleicht jenen vorgeschichtlichen und feierlichen Schaltieren, die das Meer auf den Strand von Long Island warf. Sie ist in der gleichen Weise ein Überbleibsel vergangener Zeiten. Lange Zeit habe ich die Pförtnerinnen in der Rue Lacépède beneidet, wenn der Sommer und der Abend sie vor das Haus locken, wo sie rittlings auf ihren Stühlen sitzen. Ihre unschuldigen Augen sehen, ohne genötigt zu sein, zu betrachten. (Die Wörter, S. 125) Bis zum Sommer 1963 tat Sartre kaum mehr, als bis zur Perfektion an Die Wörter zu feilen. Dann machte er sich wieder mit de Beauvoir auf den Weg nach Russland, wieder als Gast des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Einige russische Schriftsteller waren bei Chruschtschow in Ungnade gefallen, weil sie sich zu viele künstlerische Freiheiten herausgenommen hatten. Chruschtschow warf Ilja Ehrenburg, dem Autor von Tauwetter (ein Titel, der die gesamte poststalinistische Ära benennen sollte) vor, Sartre dazu ermutigt zu haben, die kommunistische Partei zu verlassen. Sartre war jedoch niemals Mitglied gewesen. Eine Delegation von Schriftstellern, zu denen auch Sartre gehörte, traf sich mit Chruschtschow in seiner Datscha in Georgien. Der Präsident verurteilte den Kapitalismus und lobte den Sozialismus, während er seinen privaten Swimmingpool präsentierte. Sartre und de Beauvoir besuchten zahlreiche Teile der UdSSR, bevor sie im Sep189
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tember nach Paris zurückkehrten. In diesem Monat ersetzte André Puig Claude Faux und wurde Sartres dritter Sekretär. Im November erschien Die Wörter in Les Temps modernes, im selben Monat, als Sartre und de Beauvoir die Tschechoslowakei besuchten. Sie trafen andere Schriftsteller, hielten Reden und wohnten der tschechischen Premiere von Die Verurteilten von Altona bei. Die Wörter wurde im Januar 1964, kurz nach ihrer Rückkehr nach Paris, als Buch veröffentlicht und erhielt begeisterte Kritiken. Sartre muss sich sehr gefreut haben. Schließlich hatte er sein ganzes Selbst in das Buch gesteckt und das Geld kam ihm mehr als recht. Er fühlte sich jedoch genötigt zu sagen, dass die westliche Zivilisation für ihre Verbrechen nicht entschuldigt sei, nur weil sie monumentale Werke der Literatur hervorgebracht habe. Aber das war nur die übliche Voreingenommenheit eines Schriftstellers, der gerne bereit war, die Verbrechen des Ostens zu übersehen, während er zahlreichen kommunistischen Diktatoren um den Hals fiel, deren Hände mit Blut besudelt waren. Sein alter ENS-Freund René Maheu war Generaldirektor der UNESCO geworden. Er lud Sartre ein, bei einer in Paris stattfindenden Konferenz über Kierkegaard im April eine Rede zu halten. Für Sartre war dies die Gelegenheit, seine intellektuelle Verwandtschaft mit dem Urvater des Existentialismus zu erforschen. Im Gegensatz zu Hegel interessierte sich Kierkegaard für das Individuum als nicht primär durch die Geschichte definiertes Wesen. Sartre ging es um die Beziehung zwischen dem Individuum und der Geschichte. Für ihn war die Geschichte das kollektive Verhalten einzelner Individuen. Er steckte viel Arbeit in seinen Vortrag, da er das Material für seine umfangreichen Betrachtungen von Flauberts individuellem Stellenwert in der Geschichte ausschlachten wollte. Der große Hörsaal, in dem er seine Lesung hielt, war bis auf den letzten Platz besetzt. Ungepflegte Studenten der Sorbonne saßen neben schick gekleideten UNESCO-Delegierten und sie alle waren begierig darauf zu hören, wie ein Existenzphilosoph einem anderen huldigte. 190
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Im Mai las Sartre in Rom, wonach er Kiew und Moskau besuchte. Er und de Beauvoir kamen Mitte Juni kurz nach Paris zurück, bevor sie sich wieder auf den Weg in ihren Sommerurlaub nach Rom machten. Dort begann er an Die Troerinnen zu schreiben, seinem letzten Theaterstück. Im Herbst vernahm Sartre Gerüchte, dass er den Nobelpreis für Literatur gewinnen solle. Die Wörter hatte die Welt wieder an Sartres Existenz erinnert und einen weiteren Beleg für sein literarisches Genie geliefert. Die Anerkennung durch das Nobelkomitee war lange überfällig – Camus hatte seinen Preis bereits 1957 entgegengenommen. Beratschlagungen mit seinen Freunden, insbesondere mit de Beauvoir, bestätigten Sartres Neigung, den Preis abzulehnen. Am 16. Oktober, im Versuch, einen Skandal und Kontroversen zu vermeiden, schrieb er dem Sekretär der Schwedischen Akademie einen Brief, in dem er den Preis höflich ablehnte. Dieser Brief musste weitergeleitet werden und erreichte den Sekretär erst, nachdem Sartre am 22. Oktober als Preisträger bekannt gegeben worden war. Am selben Tag sah sich der von der Presse Verfolgte zu einem offiziellen Statement genötigt, wobei er sich Mühe gab, das schwedische Volk nicht zu verärgern. In seiner Presseerklärung, die der schwedische Journalist CarlGustav Bjurström aufzeichnete, betonte Sartre, dass es sein Grundsatz sei, offizielle Auszeichnungen abzulehnen, dass er zum Beispiel 1945 bereits im Fall der Ehrenlegion so verfahren sei: „Der Schriftsteller muss verhindern, von Institutionen verwandelt zu werden, selbst wenn es sich wie in diesem Fall um Institutionen der ehrwürdigsten Art handelt.“ Die Schwedische Akademie musste in einer zweiten Erklärung festhalten, dass der Nominierte den Preis abgelehnt hatte. Mit Erhabenheit betonte sie, dass Sartres Ablehnung die Gültigkeit der Nominierung keineswegs beeinträchtige. Sartre lehnte den Preis zum Teil auch deshalb ab, weil er niemals einem nicht oppositionellen Sowjetschriftsteller verliehen worden war, aber hauptsächlich weil er, wie er in seiner Presseerklärung andeutete, nicht wollte, dass all seinen erreichten und künftigen Errungenschaften der Stempel „Nobelpreisträger“ aufgedrückt werde, als 191
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ob dies das Endziel seines Lebenswerks gewesen wäre. Er hatte sich wiederholt abfällig über literarische Denkmäler geäußert. Am Wenigsten wollte er selbst noch zu Lebzeiten eines werden. Obwohl Sartre die meisten Schriftsteller respektierte, die den Preis zuvor erhalten hatten, hatte er das Gefühl, dass der Nobelpreis einen Schriftsteller, wie militant er auch sei, in eine Figur des Establishments verwandle – und wir wissen, wie Sartre über das Establishment dachte. Cohen-Solal bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „[S]tolz weigerte sich Sartre, noch zu Lebzeiten einbalsamiert, zu einer Statue gegossen und vorzeitig heiliggesprochen zu werden“ (Cohen-Solal, S. 678). Sartre genießt sowohl das Prestige, den Literaturnobelpreis verliehen bekommen, als auch die Bekanntheit dafür, ihn abgelehnt zu haben. Der Preis wurde 1964 keinem anderen angeboten, da derjenige damit eindeutig die zweite Wahl gewesen wäre. Sartres Name findet sich auf beinahe jeder Liste von Nobelpreisträgern und neben ihm der besondere Anti-Establishment-Zusatz: „abgelehnt“. Boris Pasternak hatte den Preis bereits 1958 zurückgewiesen, aber er stand unter Druck der Sowjetregierung. Die einzige Macht, die eine Pistole an Sartres Kopf hielt, war sein Selbstverständnis. Sartres einziges Bedauern war, dass das beträchtliche Preisgeld von 250 000 Kronen zahlreiche politische Initiativen unterstützt hätte, obwohl er und Éditions Gallimard gewiss den Erlös der unbezahlbaren Publicity ernteten.
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23 Hilfe für die Hilflosen Im März 1965 wurde Arlette Elkaïm Sartres Adoptivtochter. Die Jüngste aus seinem Harem wurde seine einzige Nachlassverwalterin und Erbin. So dankte er de Beauvoir für Jahrzehnte persönlicher und intellektueller Aufopferung. Sie hätte es verdient, zumindest mit seinem literarischen Vermächtnis betraut zu werden, und es hätte auch Sinn ergeben. Andererseits war de Beauvoir weniger als drei Jahre jünger als Sartre und wie sich herausstellte, überlebte sie ihn lediglich um sechs Jahre. In Sartres Logik leuchtete es ein, alles der jüngsten der ihm nahestehenden Personen zu vermachen: vor allem wenn es eine hübsche junge Frau, die nicht einmal halb so alt ist wie er, für den Rest seines Lebens an ihn bindet. Sartre-Biographen haben spekuliert, dass die Adoption seiner jüngsten Geliebten die Erfüllung einer lange bestehenden Inzestphantasie Sartres war. In seinen Werken gibt es zahlreiche Anspielungen auf Bruder-Schwester-Inzest und in Die Verurteilten von Altona mehr als nur Anspielungen. Seine erste Freundin Annie Lannes war seine Cousine. Arlette war nicht seine Schwester, aber indem er seine jüngste Geliebte zu seiner Tochter machte, zielte Sartre darauf ab, wie Hayman behauptet, der „Institution Familie [einen Schlag ins Gesicht zu versetzen]. Er machte sich auf frevlerische Weise darüber lustig, während er eine Variation über eine seiner Lieblingsphantasien spielte“ (Hayman, S. 579). Dies ist eine interessante Überlegung zu Sartres Motiven und genau die Sorte Freud’scher Analyse, die Sartre selbst bevorzugte und oft anwandte. Man kann darüber denken, wie man will. Es ist auf jeden Fall interessant, dass er Arlette adoptierte, anstatt dasselbe rechtliche Ziel durch eine Heirat zu erreichen. Andererseits wissen wir, wie er zur Ehe stand. Ein verheirateter Sartre wäre in den Augen seiner Freunde, Geliebten und der ganzen, großen Welt ein ganz anderes Wesen als ein Single-Sartre gewesen. Und vor allem in seinen eigenen Augen ein ganz anderes Wesen. 193
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Eine weitere Theorie ist, dass Sartre Arlette als „einen Akt der Solidarität mit den Unterprivilegierten“ (Hayman, S. 373) adoptierte. Sie wurde dreifach unterdrückt: als Frau, als Algerierin und als Jüdin. Dass er sie adoptierte und ihr alles gab, war ein Rundumschlag des kleinen, privilegierten bürgerlichen Fürsprechers der Unterdrückten gegen Diskriminierung. Und was die Tatsache angeht, dass Arlette Jüdin war, behaupten Stimmen, dass Sartre nun begann, für Juden alles zu tun, was er konnte, um seine Schuldgefühle zu besänftigen, dass er während des Weltkriegs nicht mehr für sie hatte tun können. Vielleicht hatte es aber gar nichts mit der Schuld am Holocaust zu tun. Er mochte einfach jüdische Frauen – Arlette, Evelyne, Lena – und einige von ihnen mochten ihn auch. Wenn die einfachsten Erklärungen die besten sind, adoptierte Sartre Arlette aus pragmatischen Gründen, die beiden Vorteile boten. Wenn die derbsten Erklärungen die besten sind, war er ein alter Dreckskerl und sie mehr als willig. Im selben Monat, in dem Arlette adoptiert wurde, wurde Sartres letztes Theaterstück Die Troerinnen im Théâtre National Populaire uraufgeführt. Es erschien sechs Jahre nach seinem vorherigen Theaterstück, dem ehrgeizigen Projekt Die Verurteilten von Altona, und war eine relativ kurze Adaption von Euripides’ Tragödie und ein Nachkömmling in Sartres Karriere als Theaterschriftsteller. In anderer Hinsicht war es ein runder Abschluss seines Weges als Drama tiker, da es ihm erlaubte, dort aufzuhören, wo er begonnen hatte, nämlich bei der Verwendung eines griechischen Mythos, um die zeitgenössische politische Situation im Konkreten sowie Krieg und Unterdrückung im Allgemeinen zu kommentieren. Sein erstes professionelles Stück, Die Fliegen, war ein Kommentar zur Besetzung von Paris durch die Nazis. Als er Die Troerinnen zu schreiben begann, waren sie ein Kommentar zum Algerienkrieg. Bei der Uraufführung waren sie jedoch ein Kommentar zum eskalierenden Vietnamkrieg. In einem Interview mit Bref: Die Monatszeitschrift des Théâtre National Populaire sagt Sartre, dass Euripides Die Troerinnen schrieb, um den griechischen Kolonialismus in Kleinasien aufs Korn zu neh194
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men: „Es war dieser griechische Kolonialismus in Kleinasien, den Euripides anprangerte, und wo ich in Bezug auf diese Feldzüge den Begriff ‚schmutziger Krieg‘ verwende, habe ich mir gegenüber dem Originaltext keinerlei Freiheiten genommen“ (Bref, Februar 1965). Die Troerinnen spielt vor den Mauern Trojas. Die Griechen haben nach zehn Jahren Belagerung endlich die Trojaner besiegt. Deren Frauen und Kinder, nunmehr zu bloßer Kriegsbeute verkommen, erwarten ihr Schicksal in den Händen der Griechen. Einige werden getötet, die meisten als Sklaven nach Griechenland gebracht. Die Frauen beklagen ihr Schicksal und das ihrer toten Männer, verfluchen die Griechen und die Götter. Die Prophetin Kassandra prophezeit den Tod und die Zerstörung, die den Griechen auf ihrer Rückreise in die Heimat widerfahren werden. Das Stück endet damit, dass der Gott Poseidon die Sterblichen dafür verflucht, dass sie Krieg führen und sich selbst Leid zufügen. Im schlechten Glauben geben die Menschen den Göttern die Schuld am Krieg, verantwortlich dafür sind sie aber selbst. Krieg tötet letzten Endes alle und bringt nur vergängliche Siege. Nun sollt ihr bezahlen. Führt nur Krieg, ihr blöden Sterblichen, verwüstet nur die Felder und die Städte, schändet nur die Tempel und die Gräber und foltert die Besiegten: Ihr werdet daran verrecken. Alle. (Die trojanischen Frauen, Letzte Szene, S. 762) Das Stück, sowohl bei Euripides als auch bei Sartre, versucht die Verschwendung, Vergeblichkeit, Ungerechtigkeit und Verworfenheit des Krieges zu betonen und die Unterscheidung zwischen Sieger und Besiegtem infrage zu stellen. Da der Krieg beiden Seiten Tod und Zerstörung bringt, ist er das Mittel, mit dem die Menschheit sich selbst zerstört. Dieser Punkt gibt einen zentralen Gedanken aus 195
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Sartres vorhergehendem Theaterstück Die Verurteilten von Altona wieder: Der Mensch ist sein eigener schlimmster Feind. Nach März 1965, da Algerien endlich unabhängig geworden war, war der Vietnamkrieg Sartres wichtigstes Anliegen. Um gegen die zunehmende Einmischung in Vietnam zu protestieren, sagte er eine Reihe von Vorlesungen ab, die er in der Cornell University in New York halten sollte. Wie sonst auch stand eine generelle Verurteilung der USA im Kontrast zu den vielen Zugeständnissen, die er an die UdSSR und China machte. Indem er die Cornell-Vorlesungen absagte, verpasste er eine vorzügliche Gelegenheit, um die US-Außenpolitik von innen heraus zu kritisieren und Kontakte zu den zunehmend links gerichteten US-Amerikanern zu knüpfen, die den Vietnamkrieg und andere Dinge ähnlich sahen wie er. Vielleicht hatte er auch einfach Angst, Dolorés wieder zu treffen. Im Mai 1965 veröffentlichte das Erotikblatt Playboy ein von Madeleine Gobeil geführtes Interview mit Sartre: „A Candid Conversation With the Charismatic Fountainhead of Existentialism and Rejector of the Nobel Prize“ (dt.: „Ein offenes Gespräch mit dem charismatischen Gründer des Existentialismus und Ablehner des Nobelpreises“). Sartre wurde gut dafür bezahlt und es ist sein berühmtestes Interview, weil es in einer Männerzeitschrift erschien. In diesem Interview, das bereits 1964 stattfand, also vor der Episode mit dem Nobelpreis, spricht Sartre ganz offen über einige Aspekte seines Lebens. Über sein Leben als Erwachsener sagt er darin mehr als in Die Wörter. Mit der Leugnung einiger skandalöser Geschichten über sich selbst wusste er die Playboy-Leser durchaus anzuregen. Ins Reich der Fabel verweist er zum Beispiel die Geschichte, dass er auf dem Höhepunkt des Existentialismus ein Mädchen in sein Schlafzimmer eingeladen habe, nur um einen überreifen Camembert vom Schrank zu nehmen und ihn ihr unter die Nase zu halten. „Riech!“, soll er ihr gesagt haben, bevor er sie fortschickte. Im Juli 1965 waren Sartre und de Beauvoir wieder in Russland. Wie immer durften sie die Gäste russischer Schriftsteller sein. Breschnew und Kossygin waren im Oktober 1964 auf Chruschtschow 196
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gefolgt und hatten die Zensur deutlich abgemildert. Einige zuvor zensierte Bücher kamen nun in den Handel. Dennoch wurde eine wachsende Anzahl von Schriftstellern dafür verhaftet, im Ausland antisowjetische Bücher veröffentlicht zu haben; andere Schriftsteller, die versuchten, sie in Schutz zu nehmen, wurden mundtot gemacht und von der Staatsgewalt eingeschüchtert. Mitte Juli nahm Sartre den relativ kurzen Flug von Leningrad nach Helsinki, um am Weltkongress für den Frieden des Jahres 1965 teilzunehmen, der von den Kommunisten unterstützt wurde. Seine Rede bekräftigte seinen Rückhalt für das sowjetisch unterstützte Nordkorea und forderte den vollständigen Rückzug aller US-Streitkräfte aus Vietnam. Neben seinen ständigen Reisen und politischen Engagements arbeitete Sartre hart an seiner psychoanalytischen Biographie über Flaubert, Der Idiot der Familie – ein Werk, das im Verlauf der kommenden Jahre absurde Ausmaße annehmen sollte. Es fiel ihm leichter zu schreiben, während er reiste. Paris war mit ständigen Unterbrechungen verbunden. Paris war auch gleichbedeutend mit den neuesten Entwicklungen der kontinentaleuropäischen Philosophie, die größtenteils an ihm vorbeigingen. Er war zu sehr mit seinem kosmopolitischen Leben beschäftigt, zu sehr damit beschäftigt, Flaubert zu totalisieren, zu sehr damit beschäftigt zu politisieren, um sich um Strukturalismus, Poststrukturalismus und dem mühsamen Linguistic Turn in der französischen Philosophie zu kümmern. 1965 waren Lévi-Strauss, Barthes und Foucault die Schwergewichte der Pariser Intellektuellenszene, nicht Sartre. Sartres marxistischer Existentialismus war es jedoch, der eine schnell wachsende Anzahl von verarmten, marginalisierten, verdrossenen Studenten, die einen radikalen Wechsel herbeisehnten, inspirierte und ihnen eine Stimme verlieh. Seit Ende der 1950er-Jahre war die Zahl der Studenten in Frankreich stark angestiegen, aber das Bildungssystem hatte nicht mit der Entwicklung Schritt gehalten. Die Hörsäle waren überfüllt, die Gebäude marode, es fehlten Gelder, es fehlten Lehrer und vor allem herrschte das Gefühl vor, 197
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dass Bildung nicht länger der Freifahrtschein zu einer besseren Zukunft war. Auch wenn Sartre oft nicht in Frankreich war, sondern vor Schriftstellervereinigungen sprach oder sich in irgendein fremdes Hotelzimmer mit Flaubert und einer Dosis Corydran eingenistet hatte, sprach sein Marxismus die Studenten auf eine Weise an, wie der Strukturalismus es nicht vermochte. Vor allem sein Radikalismus fand Zuspruch bei den Anführern der Studentenverbindungen, die zunehmend an Macht gewannen. Sartre-Zitate und der SartreJargon waren ständig auf Pamphleten von Studentenverbindungen und Zeitschriften zu finden und als die Unzufriedenheit der Studenten sich schließlich in den Protesten von 1968 entlud, nannten einige sie eine „Sartre’sche Rebellion“. Das ist aber ganz sicher übertrieben. Sartre war eine Inspiration – wie viele andere auch, einschließlich Nizan –, aber der wahre Katalysator der 68er-Proteste war der Vietnamkrieg. Die Studenten wussten, dass das US-angeführte kapitalistische Establishment nichts auf die jungen Erwachsenen gab, die einst ihre Zukunft werden sollten. Es war zu beschäftigt damit, Napalm auf Kinder zu werfen. In ihrem Zorn auf das Establishment solidarisierten die Studenten sich mit den geopferten Vietnamesen. Für die meisten ging es bei den Protesten eher um Ressentiments als um Ideologie; aber unabhängig von der Motivation war der Vietnamkrieg der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als Sartre und de Beauvoir 1966 nach Russland zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass die Regierung gegenüber Intellektuellen die Schrauben anzog. Einige ihrer Schriftstellerkollegen wurden in Arbeitslagern „Umerziehungsmaßnahmen“ unterzogen, während der Rest in Angst davor lebte, verhaftet zu werden. Sartre wollte den großen russischen Schriftsteller Solschenizyn treffen. Einige seiner zuvor zensierten Werke waren kürzlich von der UdSSR wieder freigegeben worden. Lena Zoninas Überredungskünsten zum Trotz lehnte Solschenizyn ab. Als offiziellen Grund für seine Absage gab er an, dass es ihn bedrücken würde, einen Schriftsteller zu treffen, der Redefreiheit genoss. Er gab später zu, dass er 198
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Sartre dessen Sympathie für den Schriftsteller Michail Scholochow vorwarf, der eine Pro-Establishment-Figur und Mitglied des Obersten Sowjets war und Solschenizyns klassischen antistalinistischen Roman über die Arbeitslager Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch verrissen hatte. Bevor Sartre den Juli und August in Griechenland und Italien verbrachte, kehrte er für ein paar Wochen nach Paris zurück. Am 18. September 1966 unternahmen er und de Beauvoir als Gäste der Kyoto-Universität und ihrer japanischen Verleger eine monatelange Japanreise. Ihre Ankunft erinnerte an die Beatlemania. 200 Fotographen und über 1 000 Studenten belagerten sie am Flughafen, wo sie eine Pressekonferenz hielten. Anders als in China, wo die Menschen trotz seiner ultralinken politischen Haltung nie von ihm gehört hatten, war Sartre im kapitalistischen Japan sehr berühmt. All seine Werke waren ins Japanische übersetzt worden und wurden von Professoren unterrichtet, die an der ENS gearbeitet hatten. Japan hatte großes Verlangen nach allem Französischen. Die japanische Presse bezeichnete Sartre neben Napoleon und de Gaulle als einen der drei in Japan berühmtesten Franzosen. Sie erschienen im Fernsehen, hielten Vorlesungen, sprachen bei einer Antikriegsdemonstration, besuchten Nagasaki und nutzten jede Gelegenheit, um in einem Land, das begeistert dem US-Kapitalismus anhing, den US-Imperialismus zu verdammen. Sie überlebten einen Taifun und Sartre war nach einem Sushi-Essen sehr erkrankt. Auf ihrer Rückreise nach Paris hielten sie für ein paar Tage in Moskau. Mitte November fand Sartres Opposition gegen den Vietnamkrieg ihren Höhepunkt im Russell-Tribunal. Der englische Philosoph Bertrand Russell, der zu dem Zeitpunkt bereits neunzigjährig ein Buch zum Thema veröffentlicht hatte, berief ein internationales Tribunal ein, um von den USA begangene Kriegsverbrechen in Vietnam zu untersuchen. Obwohl es eine private Organisation war, die von den USA ignoriert wurde, leistete das Tribunal nach dem Vor199
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bild der Nürnberger Prozesse einen großen Beitrag dazu, die weltweite öffentliche Meinung gegen den Krieg zu wenden. Sartre wurde eine zentrale Figur des Tribunals, das manchmal das Russel-Sartre-Tribunal genannt wurde. Er nahm 1966 an seiner Gründungssitzung teil und gehörte zu denen, die 1967 bei den beiden Hauptsitzungen in Schweden und Dänemark vorsaßen. Überwältigenden Beweise für US-Kriegsverbrechen in Vietnam wurden vor die Tribunalssitzungen gebracht, einige davon von ehemaligen US-amerikanischen Soldaten. Das Tribunal sammelte Beweise für Folter, systematische Vergiftung von Ernten und die Vernichtung von ganzen Dörfern. Es untersuchte auch von Napalm furchtbar gezeichnete Kinder. Das Tribunal schloss, dass die USamerikanischen Militäraktionen in Vietnam nichts weniger waren als Völkermord. Einige Tage nach der Eröffnungssitzung des Russell-Tribunals erhielt Sartre Nachricht, dass Evelyne Rey ihre nicht sehr erfolgreiche Bühnen- und Filmkarriere durch Selbstmord vorzeitig beendet hatte. Einige Kritiker gaben Sartre die Schuld an Evelynes Überdosis und behaupteten, sie habe ihr Leben beendet, als er ihre Beziehung beendete. In Wahrheit blieb ihre Beziehung immer geheim und sozusagen in Teilzeit und sie hatte viel mehr Liebhaber und Liebesgeschichten neben Sartre; als sie starb, war er für sie im Grunde zu einer 61-jährigen Vaterfigur geworden. Wie Rowley in Tête-à-Tête betont, hatte Evelyne Angst um ihre Karriere – ihrem Bruder zufolge hatte sie Angst vor Theaterproben – und Anfang 1966 zog sie sich eine Rippenfellentzündung zu, die sie erschöpft und deprimiert und mit nur einer funktionierenden Lunge überstand (Tête-à-Tête, S. 397). Sartre erlitt bei der Nachricht von Evelynes Tod Magenkrämpfe. Er empfand auch Schuldgefühle – aber nicht weil er sich für ihren Tod verantwortlich fühlte, sondern weil er, gemeinsam mit anderen, darunter ihren Brüdern, es nicht geschafft hatte, mehr zu tun, um einer jungen Frau zu helfen und sie zu beschützen, deren Schönheit eine tiefe Verletzlichkeit verbarg. 200
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Als ob seine Aktivitäten gegen den Vietnamkrieg nicht ausreichten, beschloss Sartre, sich Hals über Kopf in den arabisch-israelischen Konflikt zu stürzen und sowohl nach Ägypten als auch nach Israel zu fahren. Er, de Beauvoir und Lanzmann besichtigten die antiken Stätten Ägyptens und unternahmen eine Bootsfahrt auf dem Nil. Sie besuchten ein palästinensisches Flüchtlingslager und trafen Präsident Nasser. Sie wollten alles tun, was sie konnten, um die arabisch-israelischen Beziehungen zu verbessern, aber insgesamt überwog die Meinung, dass die Juden den Gazastreifen wieder verlassen sollten. Viele Araber, die Sartre traf, rechneten damit, dass er angesichts seiner Unterstützung Algeriens mit dieser Position sympathisieren würde. Aber wie wir wissen, hatte Sartre langjährige und tiefgehende Sympathien für Juden. Seine eigene „Tochter“ war Jüdin. Arlette traf Sartre und de Beauvoir für eine gemeinsame Rundreise durch Israel. Sie besuchten verschiedene Kibbuze und sprachen bei verschiedenen Konferenzen, in einigen über Vietnam, in anderen über örtliche Spannungen. An ihrem letzten Tag in Israel hatten sie eine Audienz bei Premierminister Eshkol. Sartre verließ die Region wie viele vor ihm, ohne sich Illusionen über die Schwierigkeiten hinzugeben, sowohl palästinensische als auch israelische Interessen befriedigen zu können. In diesem Konflikt fiel es Sartre nicht leicht, einen höheren moralischen Standpunkt zu finden, von dem aus er die Situation beurteilen konnte. Kurz danach erklärte er, sowohl Freund der Araber als auch ein Verteidiger des Anrechts Israels auf einen eigenen Staat zu sein. Die meisten Araber schlossen aus dieser Erklärung, dass er aufseiten der Juden stand. Das Russell-Tribunal wollte Anfang Mai seine erste Hauptsitzung in Paris abhalten, aber vielen Verantwortlichen wurde die Einreise verwehrt. Sartre schrieb einen knappen Brief an de Gaulle auf kariertem Papier, in dem er von Ungerechtigkeit sprach und fragte, ob die französische Regierung das Tribunal verbieten wolle. De Gaulle schrieb eine ähnlich knappe Antwort. Sie begann mit den Worten „Mon cher Maître“, womit er darauf anspielte, dass Sartre sich aufführte, als wäre er de Gaulles Lehrer. De Gaulle sagte, dass er sich 201
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von Sartre nicht über Gerechtigkeit belehren lasse. Der Tagungsort für das Tribunal wurde nach Stockholm verlegt. Nach der ersten Tribunalssitzung im Mai wurden Sartre und de Beauvoir wieder in Russland erwartet. Sie waren erneut zur Konferenz des Schriftstellerverbandes der UdSSR eingeladen worden. Diesmal lehnten sie die Einladung ab aus Protest gegen die zunehmend schlechte Behandlung russischer Intellektueller durch den Staat. Der Protest war lange überfällig. Sie wussten sehr genau, dass viele russische Schriftsteller seit Langem Opfer von Verhaftungswellen und „Umerziehungsmaßnahmen“ wurden. Anscheinend drängte es Sartre inzwischen nicht mehr so sehr wie früher, Lena Zonina zu sehen. Die zweite Sitzung des Russell-Tribunals fand im November in Roskilde bei Kopenhagen statt. Es befand die USA für schuldig, durch ihren Terrorismus und Völkermord in Vietnam das Völkerrecht gebrochen zu haben. Sartre stimmte diesem Urteil zu, obwohl er mit dem gesamten Konzept eines internationalen Rechts nichts anfangen konnte, das er als bürgerliches Konzept betrachtete, welches nur eigenen Zwecken diente. Die Länder, die dabei waren, Strukturen für ein internationales Recht zu entwickeln, waren zugleich brutale Kolonialisten und Neokolonialisten. Insbesondere die USA waren schnell damit, anderen Ländern den Bruch internationalen Rechts vorzuwerfen, wie zum Beispiel in Nürnberg, aber zugleich nicht bereit, ihre eigenen Verfehlungen zuzugeben. Für Sartre konnte nur der weltweite Sieg des Marxismus ein wahres internationales Recht bringen. Das Jahr 1967 endete damit, dass Sartre vom Tod einer weiteren ehemaligen Geliebten erfuhr. Diesmal war es die frühere Schauspielerin und Salonlöwin Simone Jollivet, sonst bekannt als Toulouse oder Camille – sie war eben die andere Simone –, deren große Schönheit, Lebhaftigkeit und deren Egoismus Sartre in seinen Jahren als Student so bezaubert hatten. Am 12. Dezember starb sie mit Mitte sechzig in Armut. Die große Liebe ihres Lebens, den charismatischen Schauspieler und Regisseur Charles Dullin, hatte sie achtzehn Jahre vorher verloren. 202
24 Revolution liegt in der Luft Sartre erkrankte 1968 an Arteriitis – einer Entzündung der Arterienwände – und war gezwungen, es zumindest für seine Verhältnisse langsamer anzugehen. Dennoch war er relativ fit für sein Alter, vor allem wenn man den Raubbau berücksichtigt, der er jahrelang an seiner Gesundheit betrieben hatte. Während er genas, ereigneten sich folgenschwere Ereignisse in der Tschechoslowakei. Alexander Dubček, der Erste Sekretär der dortigen Kommunistischen Partei, leitete den „Prager Frühling“ ein, der zu einer Reihe liberaler Reformen führen sollte: Dezentralisierung, Demokratisierung, Rede- und Reisefreiheit. Mit Fortschreiten der Liberalisierung wurden kommunistische Anführer benachbarter Länder, insbesondere der UdSSR, zunehmend unruhig ob des Präzedenzfalls, den die Tschechoslowakei gerade schuf. Er drohte, ihre eigenen Völker zu ermutigen, das Joch kommunistischer Unterdrückung abzuwerfen. Doch das Land, das im Frühling 1968 am stärksten vom revolutionären Fieber gepackt wurde, war Frankreich. Die Wurzeln der französischen Maiaufstände lagen in den schlechten Bedingungen und Aussichten. Außerdem wurden die jungen Menschen zusätzlich von Abscheu vor ihren Regierungen aufgrund des Vietnamkrieges motiviert. Als der Zorn der Studenten schließlich ausbrach, neigten große Teile der breiten Bevölkerung zur Solidarität mit ihnen. Millionen Arbeiter in ganz Frankreich waren bereit, für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen und Tausende Pariser fühlten sich aus Entsetzen vor der Polizeibrutalität gegen die studentischen Protestierer ebenfalls zum Handeln aufgestachelt. Die Schwierigkeiten begannen am 22. März an der kurz zuvor erbauten Universität Paris-Nanterre in einem westlichen Vorort von Paris. Er wurde bald als das „rote Nanterre“ oder „verrückte N anterre“ bekannt. Der führende marxistische Denker Henri Lefebvre erlaubte 203
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seinen Philosophie- und Soziologiestudenten, ihre militanten Ansichten im Unterricht zu diskutieren. Als diese Studenten hörten, dass örtliche Mitglieder des Nationalen Vietnam-Komitees verhaftet worden waren, besetzten sie aus Protest das Verwaltungszentrum von Nanterre. Die Studenten verlangten Reformen der französischen Gesellschaft im Allgemeinen und des französischen Bildungssystems im Speziellen. Sie verließen das Gebäude friedlich, nachdem die Polizei angerückt war. Die Universitätsleitung wurde vom rechten Establishment dazu ermutigt, diejenigen, die sie für die Anführer des Protestes hielt, zusammenzutreiben und zu maßregeln. Diese Einschüchterungsmaßnahme nötigte die anderen Teilnehmer der spontanen Demonstration dazu, sich als Gruppe zu definieren und einen Wortführer vorzuschicken, Daniel Cohn-Bendit, um zu erklären, dass sie keine Anführer hätten. In diesem Prozess entwickelte sich eine unorganisierte Gruppe von Studenten, die aus einem Impuls heraus gehandelt hatten, zur militanten Organisation Mouvement du 22 mars (M22M). Die Unruhen in Nanterre gingen weiter, bis die Universitätsleitung am 2. Mai schließlich die Hochschule schloss, um einen dreitägigen „Teach-in“ zu verhindern: Studenten verbarrikadierten sich in Hörsälen, anstatt die Vorlesungen zu schwänzen, wie sie dies zuvor normalerweise getan hatten. Die Schließung Nanterres löste am 3. Mai eine anfangs friedliche Demonstration an der Sorbonne aus, bei der eine große Menge Zuschauer Zeuge wurde, wie die Polizei mit übertriebener Härte 500 Studenten verhaftete. Entsetzt vom Vorgehen der Polizei, schrien die Zuschauer zur Unterstützung der Studenten, bis die Situation außer Kontrolle geriet und die Polizei die Zuschauermenge stürmte. In den folgenden Tagen eskalierten die Feindseligkeiten zu Unruhen auf breiter Front, bei denen die Polizei nicht aus Straßenschlachten mit Studenten und ihren Unterstützern herauskam. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, während die Demonstranten Pflastersteine und Molotowcocktails warfen. 204
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Am 7. Mai mischte Sartre mit und hoffte, eine umfassendere Rebellion in Gang zu bringen. Gemeinsam mit de Beauvoir und anderen Intellektuellen unterschrieb er ein Manifest, das die Polizeigewalt verurteilte und die Arbeiter dazu aufrief, die Studenten zu unterstützen. In einem Interview mit Radio Luxembourg am 12. Mai sagte Sartre: „Das einzige Verhältnis, das sie zu der Universität haben können, ist, sie zu zerstören.“ Wieder lieh er den jungen Menschen seine Stimme. Seine Botschaft erschien bald auf Flugblättern und Postern. Die Gewerkschaften hatten kein Interesse daran, sich von bürgerlichen Studenten und Intellektuellen in eine Revolution führen zu lassen. Unterdessen sagte die PCF, diese höchst konservative Organisation, dass eine echte Revolution nur im von ihr organisierten Proletariat entstehen könne. Das Proletariat war jedoch nicht bereit, sich von konservativen Kommunisten und ihren eigenen Gewerkschaften zurückhalten zu lassen. Streiks und Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich begannen, das Land zu paralysieren. Obwohl de Gaulle einwilligte, das Bildungssystem zu reformieren und die Gewerkschaften die Arbeiter durch die erfolgreiche Aushandlung höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen zu beschwichtigen suchten, gingen am 24. Mai etwa neun Millionen Menschen auf die Straße. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Frankreich am Rande einer zweiten Revolution stand. In gewisser Hinsicht waren die Ereignisse vom Mai 1968 Frankreichs zweite Revolution. Es mussten große politische und wirtschaftliche Zugeständnisse gemacht werden, und zwar schnell, um die Nation vor dem Abgrund zu retten. Die Angst vor einer totalen Revolution wurde so greifbar, dass die Reichen begannen, mit ihren Kindern Paris zu verlassen. Als am 29. Mai Präsident de Gaulle kurz verschwand, kam das Gerücht auf, dass die Regierung zusammengebrochen sei. Der Meistertaktiker war insgeheim zur französischen Militärkaserne in Baden-Baden knapp hinter der deutschen Grenze gereist, um sich beim betagten Veteranen General Massu persönliche Zusicherungen einzuholen, dass die französische Armee noch hinter ihm stand. De Gaulle verschwand teilweise wohl auch, um den Ély205
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sée-Palast zu verlassen und damit die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs von Demonstranten zu verringern. Vielleicht hegte er auch den Hintergedanken an Deutschland als persönlichen Zufluchtsort, falls die Situation in Paris sich verschlimmern sollte. De Gaulles Verschwinden erwies sich als kluger Schachzug. Es führte dazu, dass die Demonstranten innehielten, während sie rätselten, was gerade vor sich ging, und sich dem Glauben hingaben, dass sie ihn bereits besiegt hätten. Die Pause zwang weniger Militante in Frankreich, die von der aufgeheizten Atmosphäre der Rebellion mitgerissen waren, auch die dunklen und langfristigen Konsequenzen einer totalen Revolution zu erwägen: Vorherrschaft der extremen Linken, Verlust der Vorzüge des Kapitalismus und anderes. In de Gaulles Abwesenheit gab das französische Volk klein bei und schloss, dass das bekannte Übel das kleinere sei. Am nächsten Tag kehrte de Gaulle auf die politische Bühne zurück, um sich zu rächen. Im Wissen um die Unterstützung der Armee löste er die Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen aus. Dies trug sehr dazu bei, die Situation zu entschärfen. Die Studenten setzten ihre Kampagne fort und riefen die Bevölkerung auf, die Wahlen zu boykottieren, aber der revolutionäre Schwung war dahin. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Studenten, Gewerkschaften und der PCF wurden zu regelrechten Spaltungen. Die Arbeiter nahmen ihre Lohnerhöhungen an und kehrten wieder an ihre Arbeit zurück. Als am 16. Juni die Sorbonne wieder an die Polizei fiel, war alles vorüber. Bei den Wahlen am 23. und 30. Juni konnten die Gaullisten ihre Position stärken und gewannen 358 von 485 Sitzen. Sartre sprach sich für die Studenten und Jugendlichen aus. Er machte die PCF und die Gewerkschaften für das Scheitern der Revolution verantwortlich, weil sie sie nicht ernsthaft genug unterstützt hätten, anstatt die Ursache beim fundamentalen, kleingeistigen Konservatismus der breiten Mehrheit der französischen Bevölkerung zu erkennen – trotz Rebellionskarneval. Sartre hatte bereits vor langer Zeit mit der PCF gebrochen. Aber obwohl er die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 206
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und die Behandlung russischer Schriftsteller verurteilt hatte, hatte er immer ein gewisses Maß an Sympathien für die sowjetkommunistische Partei übrig gehabt. Das sollte sich bald ändern. Während Frankreich in Aufruhr war, hatte der „Prager Frühling“ zu große Fortschritte gemacht, als dass die Sowjets länger tatenlos zusehen konnten. Im August, während der langen Sommerferien, als Frankreich seinen revolutionären Kater ausschlief, marschierte Russland mit 200 000 Soldaten und 2 000 Panzern in die Tschechoslowakei ein. Viele Panzer rollten direkt in das Zentrum von Prag und walzten den „Frühling“ mit ihren schweren Ketten nieder. Obwohl die Tschechen nur symbolischen Widerstand leisteten, hielt der befreiende Geist des „Prager Frühlings“ stand und breitete sich aus. Letztlich erwies er sich als stärker als das sowjetische System, die weniger als 25 Jahre später moralisch und wirtschaftlich bankrott waren und kollabierten. Sartre, der Urlaub in Rom machte, verurteilte die Besetzung der Tschechoslowakei, wie er vorher die Besetzung Ungarns verurteilt hatte. Aber diesmal warf er nicht mehr Chruschtschow das Missmanagement eines ansonsten soliden Regimes vor, um später intime Plaudereien mit ihm zu haben. Sartre war endlich fertig mit den Sowjets, endlich aus seinen genauso sturen wie naiven Hoffnungen herausgewachsen, dass der Kommunismus den Weg zu Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ebnen könne. Am 25. August teilte er der italienischen kommunistischen Zeitung Paese Sera mit, dass, wiewohl er keineswegs ein Antikommunist sei, „das durch Bürokratie erstickte sowjetische Beispiel nicht länger gültig“ sei. Im Oktober tat er sich mit Bertrand Russell und Herbert Marcuse zusammen, um die sowjetische Unterdrückung der Tschechoslowakei zu rügen und den unverzüglichen Rückzug aller sowjetischen Truppen zu verlangen. Ende November bekräftigte er seine Solidarität mit dem tschechischen Volk, als er Prag besuchte, um der tschechischen Premiere von Die Fliegen beizuwohnen. Sartres Mutter lebte noch immer in demselben Hotel auf dem Boulevard Raspail, in das er sie 1962 gebracht hatte, damit die OAS 207
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sie nicht in die Luft sprengen konnte. Die inzwischen 86-jährige Anne-Marie litt an gesundheitlichen Problemen, die denen ähnlich waren, die ihr Sohn sich selbst zugefügt hatte: Herzprobleme, hoher Blutdruck, Kopfschmerzen. Zu Weihnachten 1968 ging es ihr noch gut genug, um mit Poulou und de Beauvoir mit einem Glas Champagner anzustoßen. Aber an Neujahr fühlte sie sich sehr unwohl. Nach einer Herzattacke am 3. Januar wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. In der folgenden Woche erlitt sie einen Schlaganfall, der ihre gesamte rechte Seite paralysierte, ihre Lippen verzerrte und sie ins Koma fallen ließ. Sartre verbrachte den größten Teil der folgenden zwei Wochen an ihrem Krankenbett, umgeben von Messinstrumenten, und wartete auf die seltenen Momente, in denen ihre gute Hand sich regte und sein Handgelenk drückte. Am 30. Januar rief das Krankenhaus ihn an und teilte ihm mit, dass ihr Zustand sich rasch verschlechterte. Er und de Beauvoir beeilten sich sehr, zu ihr zu kommen, aber sie waren noch eine halbe Stunde entfernt, als sie ruhig einschlief. Als sie ankamen, fanden sie einen sehr weißen Leichnam vor mit einem Gesicht, das nicht mehr verzerrt war.
208
25 Ultralinks Anne-Marie war der Ansicht gewesen, dass Sartre seine Kindheit in seiner Autobiographie falsch dargestellt habe. Nach ihrem Tode begann Sartre nicht damit, an einem zweiten Band von Die Wörter zu schreiben, um all die Dinge zu sagen, die er nicht sagen wollte, während sie noch am Leben war. Stattdessen arbeitete er an seiner Flaubert-Biographie weiter, die einige als seine eigene heimliche Biographie ansehen. Beispielsweise heißt es, dass Sartre in Wahrheit über seinen eigenen Großvater Charles schrieb, als er Flauberts bürgerlichen, konservativen Vater Achille-Cléophas schilderte. Die beiden Charaktere sind einander auf jeden Fall sehr ähnlich, aber vielleicht rührt dies daher, dass die beiden Großschriftsteller einander wirklich ähnlich waren. Sartre dachte, dass jeder gute Biograph seine eigene Vorstellungskraft nutzen solle, um seiner Figur Leben einzuhauchen und Zugang zu deren Subjektivität und wahren psychologischen Motiven zu erhalten. Wenn dabei jedoch die Vorstellung und Psychoanalyse gegenüber der Recherche harter Tatsachen überwiegt, wenn gewisse markante Details ignoriert oder zurückgewiesen werden, wie es in allen Biographien der Fall ist, die Sartre geschrieben hat, dann ist ein Zug zur Autobiographie nicht auszuschließen. Ein Biograph muss ständig auf der Hut sein, die beschriebene Persönlichkeit nicht in sich selbst zu verwandeln, weil seine eigenen Ängste, Komplexe, Motive und Vorlieben zu leicht zur Interpretationsgrundlage werden können. Der Psychoanalytiker als eine Art Biograph befindet sich in Bezug auf seinen Patienten in genau derselben Position. Sartre wusste all dies selbstverständlich. Er wusste, wovor eine genaue und faire Biographie sich schützen musste. Aber Der Idiot der Familie war keine gewöhnliche Biographie. Neben vielen anderen Dingen ist sie eine Erforschung von Sartres komplexer Beziehung zu Flaubert, eine Beziehung, die sich immer komplexer gestaltete, je 209
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länger das Buch wurde. Ein Biograph wählt sein Sujet selten zufällig aus. Sartre wählte Flaubert, weil er bereits eine Menge Flaubert-ähnlicher Komplexe hatte und eine lebenslange Hassliebe mit dem Romancier samt allem, wofür er stand. Wofür stand Flaubert? Am Anfang des „Flaubert“ stach Sartre bewusst in das größte Wespennest, das er sich vorstellen konnte, um zu sehen, was daraus hervorkommen würde. Am Ende ging es nur noch darum, wie viele Wespen er hineinquetschen konnte. Sartre schrieb Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre nichts von philosophischer Bedeutung, weil Der Idiot der Familie alles enthalten sollte, was er an philosophisch Bedeutsamem jemals geschrieben hatte. Gedanken über Psychologie, Soziologie, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Ethik und Literatur landeten allesamt in Der Idiot der Familie. Es war der übereifrige Versuch, einen anderen Menschen vollständig zu verstehen. Bei seiner Reflexion über Der Idiot der Familie schreibt Hayman: „Die Bedeutung von Sartres gigantischem, unausgewogenem, unvollendeten, fast unlesbarem Buch liegt letztendlich vielleicht nur in dem Energieaufwand, der in diesen Angriff auf das Unergründliche eingeht“ (Hayman, S. 593). Trotz all der Einsichten in Flauberts Zeit und Leben offenbart Der Idiot der Familie weitaus mehr über Sartres eigene Neurose. Im Frühling 1969, während Sartre das Unbekannte erforschte, verlor de Gaulle endgültig die Macht. Beim Versuch, weitere Verfassungsreformen durchzusetzen, bat er die französische Bevölkerung, ihn nochmals zu unterstützen, oder er würde zurücktreten. Es war ein Referendum zu viel. 53 Prozent der Wähler stimmten gegen ihn, sodass er am 24. April zurücktrat. Er starb im darauffolgenden Jahr, einige Wochen vor seinem achtzigsten Geburtstag. Als Sartre um einige großzügige Worte über einen Staatsmann gebeten wurde, der gewissermaßen sein Widersacher gewesen sei, antwortete er lakonisch, dass er nie viel über ihn nachgedacht habe. In einem im Mai in Le Monde veröffentlichten Brief sprachen Sartre, de Beauvoir und weitere berühmte linke Intellektuelle ihre Unterstützung für den Trotzkisten Alain Krivine aus, dem Präsidentschaftskandidaten für die Ligue communiste révolutionnaire. Sartre 210
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führte jedoch keine Werbekampagne für Krivine durch und bei den Präsidentschaftswahlen, die Pompidou gewann, ging er nicht wählen. In den kommenden fünf Jahren versuchte Sartre nicht mehr, die herrschenden politischen Verhältnisse zu verändern, sondern seine politischen Ansichten hoben sich weit darüber hinaus: jenseits des Kommunismus zur Ultralinken, zum Maoismus und an den Rand der Anarchie. Aus Bitterkeit über die mangelnde Unterstützung der Aufstände von 1968 seitens der Kommunisten näherte er sich zunehmend den Gauchisten an, den jungen linksextremen Radikalen. Mit ihnen wollte er die Revolution wieder entfachen. Die meisten Menschen werden mit zunehmendem Alter konservativer und fügen sich in den Status quo. Sartre ging bewusst in die entgegengesetzte Richtung. Es war der fast verzweifelte Versuch, sich selbst und der Welt zu beweisen, dass fortgeschrittenes Alter keineswegs mit Quietismus und der Anerkennung bürgerlicher Werte einhergehen müsse. Mit einer Horde junger Linksradikaler herumzuziehen und gegen alle denkbare Ungerechtigkeit der Welt zu protestieren verschaffte ihm nicht zuletzt den Nervenkitzel, den er vom Schreiben nur noch schwer bekommen konnte. Es fiel ihm nicht mehr so leicht, sich lange zu konzentrieren, hauptsächlich weil er die Amphetamine nicht mehr so regelmäßig einnehmen konnte wie früher. Sein lange misshandelter Körper hatte sich abgenutzt und vertrug das Corydran nicht mehr oder konnte sein Hirn nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgen. Sein großer Geist begann an den Rändern zu zerbröckeln. Er verbrachte den Sommer 1969 in Jugoslawien und dann in Italien, wo er die Gelegenheit nutzte, um sich mit Anführern von Studentenbewegungen zu treffen. Zurück in Paris nahm er seine Arbeit an Der Idiot der Familie wieder auf. Ende des Jahres hatte er bedeutende Fortschritte mit dem dritten Band gemacht. Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg war noch immer sein größtes Anliegen. Am 11. Dezember 1969 erschien er im französischen Fernsehen, um das Massaker von My Lai zu verurteilen: das Abschlachten Hunderter unbewaffneter südvietnamesischer Män211
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ner, Frauen und Kinder durch US-amerikanische Truppen. Viele der Leichen waren verstümmelt und einige Frauen Gruppenvergewaltigungen zum Opfer gefallen. Das Verbrechen hatte im März 1968 stattgefunden, aber es wurde erst 1969 bekannt, vor allem deshalb weil die Amerikaner es vertuschen wollten. Die Nachrichten vom Massaker und den Vertuschungsversuchen erregten insbesondere in den USA heftigen Widerstand gegen den Krieg. Sie bestätigten die Urteile des Russell-Sartre-Tribunals von 1967, dass das westliche, kapitalistische, neokolonialistische Establishment in Vietnam nichts weniger als einen Völkermord beging. Die 1970er-Jahre begannen damit, dass Sartre seinen politischen Aktivismus noch steigerte. Bis zum Frühling hatte er Stellungnahmen unterschrieben, an Begegnungen teilgenommen und Interviews gegeben, in denen er Unrecht in Biafra, Brasilien und Mexiko verurteilte. Er schloss sich auch einem Komitee linksextremer Kämpfer an, die glaubten, dass sie die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern beeinflussen konnten. Im April traf er sich zu einem Geschäftsessen im Café La Coupole mit Benny Lévy, Alain Geismar und weiteren Führungsfiguren der Proletarischen Linken, einer radikalen Gruppe, die teilweise aus Cohn-Bendits M22M hervorgegangen war. Die Gruppe hatte die Zeitung La Cause du peuple übernommen, die als Kommunikationskanal bei Streiks, Demonstrationen, Sit-Ins und Sabotageakten militante Aktivitäten unterstützte. Die Zeitung war in erster Linie eine Brücke zwischen Intellektuellen und Arbeitern: ein Mittel, durch das Intellektuelle den Arbeitern beim Erreichen ihrer Ziele helfen konnten. Obwohl die Behörden darauf verzichteten, die Zeitung durch ein Verbot attraktiver zu machen, beschlagnahmte die Polizei regelmäßig Ausgaben. Zwei ihrer früheren Redakteure, Jean-Pierre Le Dantec und Michel Le Bris, wurden wegen Subversion angeklagt und zu jeweils achtzehn Monaten Haft verurteilt. Sartre willigte begeistert ein, als neuer Chefredakteur die Zeitung unter seinen Schutz zu nehmen. Vor zehn Jahren hatte de Gaulle noch erklärt: „Man steckt Voltaire nicht einfach ins Gefängnis.“ Obwohl 212
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das Establishment Sartre hasste – das rechtskonservative Wochenblatt Minute nannte ihn „das rote Krebsgeschwür der Nation“ –, waren sie nicht bereit, den gauchistes den Nährboden zu liefern, mit dem ein Prozess gegen Sartre sie versorgt hätte. Sartre vor Gericht zu bringen hätte mindestens für ernsthafte Unruhen gesorgt. Genau aus diesem Grund wollte er gerade verklagt werden. Aber da die Behörden ihm unbedingt Immunität verleihen wollten, machte er das Beste daraus und nahm La Cause du peuple unter den Schutz dieser Immunität. Die Polizei beschlagnahmte weiterhin Ausgaben von den Straßenverkäufern und nahm diese in Untersuchungshaft, um sie zu verhören. Aber ihr Geschäftsführer, dessen Name auf jeder Seite neben demjenigen de Beauvoirs geschrieben stand, war unantastbar. Was würde passieren, wenn Sartre die Zeitung selbst verteilte? Am 20. Juni ging er in seinem typischen alten Mantel mit dem Imitatfellkragen auf die Straße, um es herauszufinden. Während Freunde, Unterstützer, Journalisten und ein von Gallimard entsandter Fotograph sich im Hintergrund versteckt hielten, begann der große Schriftsteller, die amateurhaft hergestellte radikale Zeitung selbst zu verhökern. Nachdem er anfangs schüchtern war, wurde er bald mit seiner neuen Aufgabe warm und begann, aus vollen Hals „Lesen Sie La Cause du peuple“ zu rufen, während er Passanten die Zeitungen in die Hände drückte. Ein Polizist stellte ihn zur Rede und wollte ihn auf die Polizeiwache bringen, als jemand rief: „Sie verhaften gerade einen Nobelpreisträger.“ Als er begriff, dass sein Gefangener niemand Geringeres als der berühmte Schriftsteller, der den Nobelpreis abgelehnt hatte, und die rote Bedrohung Frankreichs war, machte der Polizist sich davon. „Man steckt Voltaire nicht einfach ins Gefängnis.“ Die Showeinlage wurde sechs Tage später mit noch größerem Erfolg wiederholt. Diesmal schaffte es Sartre, sich verhaften zu lassen, wurde aber nach neunzig Minuten „höflicher Befragung“ wieder auf freien Fuß gesetzt. Sartre hatte seit Jahren nicht mehr so viel Freude an Paris gehabt. Aber er war nicht bereit, seine Pläne für den Sommerurlaub dafür aufzugeben. Mit Arlette bereiste er Skandinavien, bevor er sich auf 213
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den Weg zu seiner zweiten Lieblingsstadt Rom machte, um de Beauvoir zu treffen. Als er im September wieder nach Paris zurückkehrte, machte er dort weiter, wo er aufgehört hatte. Er erlaubte jeder ultralinken Initiative, seinen Namen zu gebrauchen – oder zu benutzen –, die dies wollte. Einige fragten ihn nicht einmal um Erlaubnis. Zum Jahresende war er dem Namen nach Chefredakteur einer ganzen Reihe extremistischer Blätter, die zum Teil Anarchie, wenn nicht sogar Terrorismus propagierten und sich allesamt mit Sartre’schem Teflon bedeckten. Er war davon überzeugt, dass er kein Recht zur Ablehnung hätte, wenn er der Revolution dienliche politische Aktivitäten unterstützen könnte. Dennoch gab er der Zeitung L’Idiot international gegenüber zu, dass die bürgerlichen Zeitungen besser geschrieben und hergestellt und sogar glaubwürdiger waren. Sartre hatte, wenig überraschend, Les Temps modernes weiter nach links gerückt, was zu zahlreichen Rücktritten unter seinen langjährigen Mitarbeitern führte. Seine jungen maoistischen Freunde erklärten jedoch, dass die Zeitschrift eine Institution und deshalb Teil der etablierten Ordnung geworden sei. Sartre neigte dazu zuzustimmen, dass sein Baby erwachsen geworden war und es nichts dezidiert Revolutionäres mehr daran geben könne. Anfang Oktober sandte er Gallimard den dritten Band von Der Idiot der Familie. Die ersten beiden Bände waren noch Monate von ihrer Veröffentlichung entfernt. Obwohl die Biographie bereits 3 000 Seiten lang war, war sie selbstverständlich noch unabgeschlossen. Nachdem er entschieden hatte, dass Flaubert ohne weitere detaillierte Recherchen zu Flauberts berühmtestem Roman Madame Bovary nicht erfasst werden kann, begann Sartre einen vierten Band zu planen. Sartres Gesundheit verschlechterte sich bereits seit Langem. Dennoch hatte er eine bemerkenswerte Ausdauer, hielt einen aufreibenden Tagesablauf ein und rauchte weiterhin vierzig Zigaretten am Tag. Er hatte seit Jahren an gelegentlichen Schwindelanfällen gelitten, die überwiegend auf Alkohol und Drogen zurückzuführen waren; doch nachdem er im vorangegangenen Monat mehrere sol214
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cher Anfälle erlitten hatte, ergaben medizinische Untersuchungen Mitte Oktober die Diagnose verengte Arterien und Gehirnasphyxie. In einem Wort, sein Körper war eine wandelnde, tickende Zeitbombe und konnte jederzeit einen Herz- oder Schlaganfall erleiden. So bekam er Medikamente verschrieben, um seinen Blutdruck zu senken und seinen Kreislauf anzuregen. Er kannte kein anderes Leben als das, beschäftigt zu sein. Da die gesundheitlichen Vorzüge von Beschäftigung nicht unterschätzt werden sollten, war diese nicht sein Hauptrisiko. Das lag eher bei den Zigaretten und beim Alkohol. Obwohl er sich ein wenig einschränkte, zumindest was den Alkohol betraf, und generell versuchte mehr auf sich zu achten, fand er sich praktisch damit ab zu sterben, bevor er siebzig wurde. Was hätte er anderes tun sollen? Wie die „Bibel“ des Existentialismus predigt, ist das Leben ein endliches Unterfangen. Was immer er auch unternahm, er würde nicht ewig leben. Wichtig ist, wie man lebt, nicht wie lange. Am 21. Oktober begann der Prozess gegen Geismar wegen seiner Beteiligung an einer Demonstration im Mai, am Abend der Gerichtsverhandlung gegen Le Dantec und Le Bris. Sartre zog es vor, vor dem Renault-Werk in Billancourt eine Rede an die Arbeiter zu richten, als einem Prozess mit vorbestimmtem Ausgang b eizuwohnen – Geismar wurde zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Vielleicht gab es eine Chance, dass der Geismar-Prozess die Stimmung beim Proletariat so weit aufpeitschen konnte, dass es die Aufstände von 1968 oder zumindest die damalige Allianz zwischen Arbeitern und Intellektuellen wieder aufleben lassen konnte. Er stand auf einem Ölfass, um besser gesehen zu werden. Sein berühmtes Gesicht, das inzwischen elf Jahre verbrauchter aussah als zur Zeit von Hustons so grausamer Kritik, ragte aus seinem Imitatfellkragen heraus. Mit dem Megafon in der Hand sprach er zu einer kleinen Menge von fast ausschließlich Journalisten und Maoisten, die ihm dorthin gefolgt waren. Er erklärte, dass die Rolle des Intellektuellen darin bestehe, der Verbündete des Volkes zu sein. Das Volk, hier die das Renault-Werk verlassenden Fabrikarbeiter, ignorierte ihn weitgehend. An diesem Tag sollte es keine Revolution geben. 215
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Die Presse fand das Spektakel deprimierend und die Botschaft genauso müde wie den Mann. Gewiss, eine derart bedeutende Figur, das Sprachrohr einer Generation, zahlreicher Generationen, hätte sich in einer Autofabrik nicht auf ein Ölfass zu stellen brauchen. Sartres Reputation war sicher, aber der alte Mann verlor sie allmählich und wurde eine Karikatur seiner selbst. Und dennoch hat diese Renault-Episode rückblickend etwas Ergreifendes und Kraftvolles, und zwar mehr noch als wenn er vor einer der großen Menschenmengen gesprochen hätte, die er sonst anzog. Das Event war ein Schlüsselelement in der Folklore des späteren Sartre geworden und ein entscheidender Teil im Sartre-Puzzle – ein Sokrates-Moment, wenn nicht sogar ein Jesus-Moment. Der gekreuzigte Sartre auf einem Fass in Renault-Golgota vor den Stadtmauern von Paris: „Menschen, warum habt ihr die Revolution verlassen, warum seid ihr so weit davon entfernt, euch selbst zu helfen, und von den Worten, die ich euch zurufe?“ Unerschrocken setzte Sartre seine militanten Aktivitäten 1971 fort. Im Januar sprach er bei einer Protestveranstaltung über die Behandlung der Juden in Russland. Im darauffolgenden Monat schloss er sich Maoisten bei der Besetzung der Kirche von Sacré-Cœur an, um auf einen Zwischenfall aufmerksam zu machen, bei dem ein junger Linksradikaler namens Richard Deshayes von einer Reizgasgranate verstümmelt wurde. Plakate des entstellten Gesichtes des jungen Mannes erschienen in ganz Paris. Im April brach Sartre mit Castro wegen Menschenrechtsverletzungen auf Kuba und warf ihm vor, sich wie Stalin zu verhalten. Nach seiner Rückkehr aus einem Frühlingsurlaub an der französischen Riviera mit Arlette, de Beauvoir und Sylvie Le Bon, die später von de Beauvoir adoptiert wurde, freute Sartre sich über die ersten Druckfahnen von Der Idiot der Familie. Die ersten beiden Bände wurden am 14. Mai 1971 veröffentlicht, der dritte Band im darauffolgenden Jahr. Das Werk erweckte Interesse aufgrund seines Umfangs, weil sich darin ein großer französischer Schriftsteller mit einem anderen auseinandersetzte und weil es für Sartres Verhältnisse schon eine Weile 216
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her war, dass er etwas Bedeutendes geschrieben hatte. Dieses Interesse übertrug sich jedoch nicht in hohe Verkaufszahlen. Außer für die masochistischsten Sartre-Fans war das Buch einfach viel zu lang. Dass es einen dritten und vielleicht sogar noch vierten Band geben würde, war dem auch nicht zuträglich. Die meisten Rezensenten waren ähnlich verschreckt. Bis 1985 hatte Gallimard 27 000 Exemplare verkauft, was angesichts der Umstände gar nicht schlecht ist. Am Anfang desselben Jahrzehnts begann Carol Cosman, das Werk für die University of Chicago Press ins Englische zu übersetzen, eine Mammutaufgabe, die sie 1993 schließlich beenden konnte. Wie Sartres andere Werke über Schriftsteller auch ist Der Idiot der Familie nicht so sehr eine die wichtigsten Ereignisse seines Lebens chronologisch nacherzählende Biographie Flauberts als vielmehr eine gründliche psychologische Studie Flauberts und eine Übung in existentialistischer Psychoanalyse. Zugleich ist es eine ausführliche soziologische Studie aus marxistischer Perspektive, die beides versucht: erstens Flaubert als Produkt seiner spezifischen (Familie) und allgemeineren (Alter, Kultur) gesellschaftlichen Umstände und zweitens als Reaktion darauf darzustellen. Sartre verfolgt das Ziel, die psychologische und soziologische Perspektive geschickt miteinander zu vermengen, um Flaubert ganzheitlich zu begreifen. Was die bereits erwähnte These angeht, dass Der Idiot der Familie in Wahrheit Sartres heimliche Autobiographie und der Nachfolger von Die Wörter sei: Sartre selbst wies sie zurück und machte darauf aufmerksam, dass seine Kindheit ganz anders als die Flauberts verlaufen war. So wurde er etwa vergöttert, während Flaubert zu wenig geliebt wurde. Sartre ist weit davon entfernt, sich selbst als Flaubert zu sehen; stattdessen erklärte er sogar, dass Flaubert ihn als sein Gegenteil faszinierte. Sartre war zum Beispiel überaus produktiv: Er schrieb schnell und hatte immer mehr als ein Projekt gleichzeitig in Arbeit. Flaubert auf der anderen Seite schrieb akribisch langsam; er konnte jahrelang an einem Buch arbeiten und dafür endlos weiterrecherchieren und -korrigieren. Dennoch stellt sich die Frage, wie viel Sartre von sich selbst in Flaubert hineinprojiziert hat, sei es absichtlich oder unabsichtlich. 217
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Gewiss ist, dass „der Flaubert“ das zentrale Thema von Die Wörter aufgreift: Schreiben als Seinsentscheidung. Die These, dass Der Idiot der Familie Sartres heimliche Autobiographie sei, ist nicht haltbar, aber es ist dennoch ein Werk, in dem Sartre von der Entscheidung besessen ist, Schriftsteller zu werden – eine Entscheidung über sein Selbst, die allein seine eigene war. Sartre vergleicht die Familie des jungen Gustave Flaubert mit einem tiefen Brunnen. Gustave kann zwar aus dem Grund des Brunnens heraufsteigen, aber er wird immer darin gefangen bleiben. Die Wände des Brunnens wurden erbaut, bevor er geboren wurde. Seine Mutter wollte eine Tochter, eine weibliche Begleiterin, um ihre einsame Kindheit zu kompensieren, folglich war Gustave eine Enttäuschung. Und nicht nur das: Da die beiden vor ihm geborenen Geschwister gestorben waren, ging seine Mutter davon aus, dass auch er nicht überleben würde. Es gab deshalb nur wenig mütterliche Zuneigung für das enttäuschende, aussichtslose Kind; er erhielt gerade genug, um still zu bleiben. Sartre identifiziert Flauberts Passivität als seine fundamentale Selbstwahl, zumindest bis er in seinen Zwanzigern eine radikale Wende vollzog. Die intellektuelle Entwicklung des ruhiggestellten, vernachlässigten Gustave ging nur langsam vonstatten. Sartre zufolge konnte er nicht lesen, bis er sieben war, obwohl andere FlaubertBiographen diese Behauptung bestreiten. Seine Familie bestärkte das niedrige Selbstwertgefühl als Kern seiner Langeweile dadurch, dass sie ihn als Idioten ansah. Sartre zufolge brachte irgendwann der örtliche Priester ihm das Lesen bei. Der entscheidende Moment in Gustaves Leben ereignete sich 1844, als er eine nervöse Krise erlitt, vermutlich einen epileptischen Anfall, der ihn unfähig machte, die von seinem Vater für ihn ausgewählte Laufbahn fortzusetzen. Gustaves wohl selbst herbeigeführte Krise erlaubte ihm, sich von der Herrschaft seines Vaters zu befreien und Schriftsteller zu werden. Der Invalide war zu nichts anderem zu gebrauchen und durfte schreiben. Endlich war der Idiot frei, sich in ein Genie zu verwandeln. 218
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Für Sartre war Flauberts Krise eine radikale Konversion zu Authentizität und ein Akt der Selbstbehauptung, in dem er endlich seine Passivität, seine Entscheidung, sich nicht zu entscheiden, seine Unaufrichtigkeit aufgab. Durch einen Akt, der äußerlich wie ein Nervenzusammenbruch aussah, in Wahrheit jedoch eine positive Behauptung der eigenen Freiheit war, hörte er auf, hauptsächlich für andere zu leben, und begann in eigenem Recht zu existieren. Für einige ist Der Idiot der Familie Sartres bestes Werk, in dem er all die Schlüsselelemente seines Lebenswerkes zusammenführt. Für andere ist es ein selbstgerechtes Ungetüm, in dem Sartre sich ein groteskes Porträt von Flaubert zusammenschustert, ohne viel Rücksicht auf bewiesene Tatsachen. Merkwürdigerweise scheinen beide Sichtweisen etwas Wahres an sich zu haben, obwohl die eigentliche Wahrheit wohl irgendwo dazwischen liegen wird. Julian Barnes schrieb am 3. Juni 1982 in London Review of Books: „Dieses Buch ist selbstverständlich verrückt. Bewundernswert, aber verrückt.“ Von der Veröffentlichung der ersten beiden Bände motiviert, begann Sartre bald mit der Arbeit an Band vier und spielte sogar mit dem Gedanken, ein Theaterstück oder einen Roman zu schreiben. Weder das Stück noch der Roman nahm jedoch jemals konkrete Gestalt an und die Umstände zwangen ihn bald, Band vier aufzugeben. Seine phänomenale Karriere als Schriftsteller, als mehrere großartige Schriftsteller in einer Person, war vorbei. In der Nacht des 17. Mai 1971, ein paar Tage nach der Veröffentlichung von Der Idiot der Familie, erlitt er einen Schlaganfall, als er bei Arlette übernachtete. Am folgenden Morgen war sein Mund vollkommen verdreht und er konnte kaum laufen. Als er am Abend in de Beauvoirs Wohnung ankam, befand er sich noch immer in diesem Zustand. In ihrem Buch Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, das auf bewegende Weise die letzten zehn Jahre seines Lebens dokumentiert, schreibt de Beauvoir: „Wie geht’s?” habe ich ihn wie gewohnt gefragt. „Na ja, nicht besonders.“ Tatsächlich schwankte und stammelte er, sein Mund war ein bißchen verzerrt. Ich hatte am Vortag nicht gemerkt, daß er 219
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müde war, denn wir hatten Platten gehört und kaum gesprochen. Aber abends war er in schlechter Verfassung zu Arlette gekommen. Und morgens war er in dem Zustand, wie ich ihn jetzt sah, aufgewacht: offensichtlich hatte er in der Nacht einen leichten Anfall gehabt. Seit langem befürchtete ich so etwas und hatte mir vorgenommen, nicht die Ruhe zu verlieren […] Ich mußte mich sehr anstrengen, um meine Panik nicht zu verraten. Sartre verlangte seine gewohnte Menge Whisky. (Zeremonie des Abschieds, S. 28) Ein Arztbesuch am folgenden Tag ergab, dass die Blutzufuhr zu seinem Gehirn sich weiter verschlechtert hatte. Sein Blutdruck lag bei alarmierenden 180 und er hatte die im Oktober verschriebenen Medikamente nicht eingenommen. Als er seine Medikamente wieder nahm, erholte er sich schnell. Er übernahm eine weitere radikale Publikation und begann der Polizei vor einem Volksgericht „den Prozess zu machen“. Bei der Feier seines 66. Geburtstags am 21. Juni war er bester Laune. Als er im Juni, wieder mit Arlette, in der Schweiz war, hatte er einen erneuten Schlaganfall. Erneut erholte er sich wieder, zumindest so weit, um Wanda in Neapel zu treffen und Pompeji zu besuchen. Als er Rom erreichte, machten die Schmerzen eines entzündeten Zahnes ihm mehr zu schaffen als die Nachwirkungen des Schlaganfalls. Seine Zähne befanden sich in einem furchtbaren Zustand. Seit dem Zwischenfall von 1959 mit dem irischen Zahnarzt hatte er sie schwer vernachlässigt. Um ihn davor zu warnen, seine Volkstribunale fortzusetzen, hatten die Behörden begonnen, Verfahren gegen ihn einzuleiten, die auf seinen Aussagen in einigen Artikeln von La Cause du Peuple beruhten. Er hatte seine Pläne für die Tribunale zugunsten von Treffen und Pressekonferenzen über Polizeitätigkeiten auf Eis gelegt, am 24. September musste er jedoch vor zwei Richtern erscheinen. Die Richter ließen die Anklage fallen. „Man steckt einen Voltaire nicht einfach ins Gefängnis.“ Fast in Erwartung, jeden Moment zu sterben, gab Sartre keine Ruhe. Im Oktober schloss er sich mit Genet und Foucault einer Anti220
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rassismusdemonstration an und im Januar 1972 begann er sich für die Verbesserung der Haftbedingungen stark zu machen. Er, D eleuze, Foucault, Michelle Vian und François Mauriacs Sohn Claude wurden aus dem Justizministerium geworfen, nachdem sie versucht hatten, dort eine Pressekonferenz über Unrecht im Strafvollzug zu halten. Am 14. Februar 1972 wurden Sartre, mehrere Journalisten und die Sängerin Colette Magny in ähnlicher Weise von Renault hinausgeworfen, nachdem ein Laster sie in die Fabrik geschmuggelt hatte, damit sie Flugblätter verteilen konnten. Bei der folgenden Pressekonferenz erklärte Sartre: „Da Renault ja verstaatlicht ist, müßte man dort herumspazieren dürfen. Wir haben nicht mit den Arbeitern sprechen können. Das beweist, daß Renault faschistisch ist“ (Zeremonie des Abschieds, S. 40 f.). Ende Februar sprach er in Brüssel in einem gammeligen schwarzen Pullover herablassend auf eine Menge anzugtragender Anwälte ein und erklärte ihnen, dass die bürokratische Gerechtigkeit, mit der sie hausieren gingen, eine repressive Kraft darstelle, die durch die wahre Gerechtigkeit des Volkes ersetzt werden müsse. Die philosophische Komplexität seiner These „ist beim Publikum auf taube Ohren gestoßen“ (Zeremonie des Abschieds, S. 39), die, zumindest zu weiten Teilen, klug genug waren, sich nur durch seine schlechte Kleidung beleidigt zu fühlen: „Beim Hinausgehen hat eine Dame mit Blick auf Sartre gemurmelt: ‚Es war nicht der Mühe wert, sich gut anzuziehen‘, und eine andere: ‚Wenn man in der Öffentlichkeit spricht, überwindet man sich und zieht sich ordentlich an‘“ (Zeremonie des Abschieds, S. 40). Vielleicht hatte Sartre im Oktober 1970 auf seiner Tonne vor den Toren von Renault mehr Saat für Unzufriedenheit gesät, als die Presse ihm zugutehielt. Maoisten hatten seit Januar vor den Fabriktoren Flugzettel verteilt und einige Militante unter der Arbeiterschaft waren gefeuert worden. Während Sartre in Brüssel mit Anzug gekleideten Anwälten Moralpredigten hielt, nahm eine vor den Fabriktoren stattfindende Demonstration gegen die Kündigungen ein hässliches Ende. Zwischen Maoisten und bewaffneten Sicherheitsleuten brach 221
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eine Schlägerei aus, bei der Pierre Overney, ein Arbeiter, der einige Monate vorher gekündigt worden war, erschossen wurde. Der Mord trieb ein paar Tage später 30 000 Menschen auf die Straße und in der darauffolgenden Woche marschierten über 160 000 Menschen vor dem Beerdigungszug her, einschließlich Sartre. Die PCF fiel damit auf, dass sie auf die Erschießung Overneys nicht reagierte. Sartre warf ihr vor, das kommunistische Ideal zu pervertieren und mit der Regierung im Bunde zu sein. In der französischen Politik gab es keinen größeren Hass als zwischen den Maoisten und der PCF. Cohn-Bendit hatte 1968 den ersten Schuss abgegeben, als er die PCF als „stalinistischen Abschaum“ bezeichnete. Aus Rache für die Ermordung Overneys entführte eine am alleräußersten linken Rand stehende Untergrundfraktion der ohnehin schon ultralinken Gauche Prolétarienne den stellvertretenden Personalchef bei Renault, Robert Nogrette. Sie hielt ihn 48 Stunden gefangen, bevor sie ihn unverletzt wieder freiließ. Zwar hatte sie politische Forderungen erhoben, jedoch ohne Bedingungen daran zu knüpfen, und sie erhielt kein Lösegeld. Sartre war vorsichtig genug, die Entführung nicht öffentlich zu billigen, aber er sagte wortreich, dass sie zu erwarten gewesen sei. Nun bewegte er sich am Rande des Terrorismus. Im Frühling unternahm er eine weitere Reise nach Südfrankreich mit de Beauvoir und Sylvie – das war mehr als die meisten Arbeiter bei Renault sich leisten konnten. Nach seiner Rückkehr nach Paris setzte er seine übliche linke Empörungsmaschinerie wieder in Gang und startete eine Kampagne für die Rechte von Obdachlosen. Er schrieb auch das Vorwort zu einem Buch, das Psychiatern vorwarf, ihre Patienten zu unterdrücken. Nötig sei ein Dialog auf Augenhöhe, was inzwischen in vielen Bereichen der Psychotherapie, insbesondere der Existenzberatung, zur gängigen Praxis gehöre. Trotz seiner unverminderten Militanz begannen sich in seiner Beziehung zu den Maoisten im Allgemeinen und zu den Herausgebern von La Cause du peuple/J’accuse im Besonderen erste Risse zu zeigen – das Blatt hatte seit seiner Fusion mit einem anderen radikalen Blatt seinen Namen geändert. Als es erklärte, dass ein des Mordes 222
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angeklagter Anwalt an den Eiern aufgehängt, mit einem Rasiermesser aufgeschlitzt und gelyncht werden solle, erinnerte Sartre seine Herausgeber an den fundamentalen Rechtsgrundsatz, dass ein Mensch für unschuldig befunden werden müsse, bis seine Schuld bewiesen sei. Er wusste, dass das Blatt engstirnig und unvernünftig war; dennoch tat er, was er konnte, um es am Laufen zu halten. Trotz all seiner Bemühungen nörgelten Sartres junge maoistische Freunde zunehmend, dass er es lieber lassen solle, über eine Figur aus dem letzten Jahrhundert zu schreiben – er schrieb noch immer an seinem „Flaubert 4“ –, um stattdessen einen erfolgreichen zeitgenössischen Roman zu verfassen, um die Revolution anzufachen. Sartre erwiderte: Er sei fest entschlossen, „den Flaubert“ abzuschließen, aber auch unsicher, was im Jahre 1972 einen erfolgreichen Roman ausmache. Er hielt es für keineswegs sicher, dass ein Roman eine so große Wirkung hätte, und verwies zudem darauf, dass ein anständiger Roman Zeit brauche. In Wahrheit hatte er keine Kraft mehr, um einen Roman zu schreiben. Außerdem hatte er keinen neuen Roman in sich, den zu schreiben seine schlechte Gesundheit ihn gehindert hätte. „Warum Racine die Möglichkeit zuerteilen, eine neue Tragödie zu schreiben, da er sie nun eben nicht geschrieben hat?“ (Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 40). Sein an Sauerstoff verhungerndes Hirn konnte kaum an Der Idiot der Familie weiterarbeiten, geschweige denn glaubhafte Charaktere erschaffen und sie in einer bedeutsamen Handlung miteinander koordinieren. Er hatte seit 1949 keinen Roman veröffentlicht und nicht einmal versucht, einen zu schreiben, als es noch im Rahmen seiner Kräfte gewesen wäre. Sogar ein schwülstiges Theaterstück hätte ihn nun überfordert. Seine Zähne und sein Zahnfleisch verursachten ihm höllische Schmerzen, sein Augenlicht und sein Gehör waren schwach, seine Beine schmerzten und er schlief schlecht. Manchmal ging es ihm wenig besser als einem sabbernden Greis. „‚Ja, ich sabbere. Seit vierzehn Tagen sabbere ich.‘ Ich hatte ihn, aus Angst, ihn in Verlegenheit zu bringen, nicht darauf aufmerksam gemacht, aber er nahm es nicht wichtig. Was ihn ein bißchen störte, war seine Schläfrigkeit“ (Zere223
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monie des Abschieds, S. 84). Das Schlimmste in Bezug auf jegliches Bestreben, einen Roman zu schreiben, war, dass sein Gedächtnis ihn verließ. An einem Nachmittag in Rom im Herbst 1972, während sie am Pantheon vorbeiliefen, erzählte er de Beauvoir und Sylvie, dass einige Katzen ihm von einer Balustrade auf die Hosen gepinkelt hatten. Vielleicht war er so senil geworden, dass er es selbst glaubte, aber de Beauvoir wusste, was wirklich geschehen war. „Sylvie hat ihm geglaubt und hat Scherze darüber gemacht. Ich habe gewußt, was ich davon halten mußte, aber ich habe nichts gesagt“ (Zeremonie des Abschieds, S. 49). Der große Mann begann also, sich auf der Straße in die Hose zu pissen, vor allem wenn er selbst ein bisschen angepisst war, was oft vorkam. Oder, wenn Sie lieber nicht darüber kichern wollen, ein 67 Jahre alter Mann bei schlechter Gesundheit, der mehrere Schlaganfälle erlitten hatte, war blaseninkontinent geworden, insbesondere wenn er unter dem Einfluss von auch nur geringen Mengen Alkohol stand. Am Ende passiert das fast allen Menschen, auch denen, die nicht gerne mal einen oder zwei Whiskys getrunken haben. Ein solcher Niedergang scheint bei Sartre schockierender zu sein als in anderen Fällen – vor allem nachdem er körperlich sein Leben lang so zäh und widerstandsfähig gewesen war, nicht zuletzt seine Exzesse gut wegsteckte. Vielleicht unterstreicht es einfach die existenzielle Wahrheit, dass auch die größten Geister, die größten Menschen letztlich von dem verletzlichen Fleisch abhängig sind, das ihre Größe aufrechterhält. Es ist viel Wahres an Hustons Aussage, dass für Sartre nur der Geist von Bedeutung war. Aber Sartre irrte darin, dass das physische Universum für ihn nicht existierte. Andererseits steckte Sartres Größe nun in Schriften, die seinen verfallenden Körper weit übertroffen hatten. Er war nur in einem sehr beschränkten Sinne ein kleiner alter Mann. Seine wahren Knochen waren Papier, Tinte und Kleber, die zu praktischer Unzerstörbarkeit für unzählige Bücherregale vervielfacht worden waren. Er hatte seinen Körper gebraucht, um dieses Ziel zu erreichen, und zu diesem Zweck hatte er ihm ausreichend gedient. Jetzt, da er das Ziel 224
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erreicht hatte, stand sein Körper ihm nur im Weg. Er würde nur aus Gewohnheit weiterleben, tat, was er konnte, und wartete darauf, das zu werden, wovon er seit seiner Kindheit immer geträumt hatte: ein großer, toter Schriftsteller. Meine Knochen sind aus Leder und Pappe, mein Papierfleisch riecht nach Kleister und Druckerschwärze, behaglich türme ich mich auf mit sechzig Kilo Papier […] Mein Bewußtsein ist zerbröckelt: um so besser: Andere Bewußtseine haben mich in sich aufgenommen, man liest mich, ich setze mich durch; man spricht mich, ich bin in aller Munde als universelle und einzigartige Sprache; aus Millionen Augen schaue ich als neugierige Voraussicht […] ich existiere nirgends mehr, ich bin, endlich! Ich bin überall: Ungeziefer der Menschheit, meine Wohltaten fressen an ihr und zwingen sie unablässig, meiner Abwesenheit zu gedenken. (Die Wörter, S. 122)
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26 Der lange Weg bergab Sartre hatte sich damit abgefunden, dass sein Körper sterben würde, bevor er siebzig wurde. Aber der Weg bergab war länger und vor allem grausamer, als er es sich vorgestellt hatte. Er war zwar krank, aber er war erstaunlich widerstandskräftig. Es steckte noch Leben in dem alten Philosophen. Ein alter Mann kann damit umgehen, sich gelegentlich in die eigenen Hosen zu machen, aber ständige Zahnschmerzen sind unerträglich. Es wäre für ihn am besten gewesen, sich bereits vor vielen Jahren einfach alle Zähne ziehen zu lassen, aber er befürchtete, dass eine Zahnprothese ihn daran hindern würde, in der Öffentlichkeit klar verständlich zu sprechen, und ihm aus dem Mund fiele, wenn er es doch versuchte. Als er sich gegen Ende 1972 endlich dafür entschied, war er angenehm überrascht, wie schnell er sich daran gewöhnte. Das Beste war, dass er keine schmerzvollen Abszesse mehr hatte. De Beauvoir schreibt: Zwei Tage später, gegen halb sechs, ist er ganz begeistert in meine Wohnung gekommen: seine neuen Zähe behinderten ihn überhaupt nicht, er hatte keinerlei Probleme beim Sprechen und konnte besser kauen als vorher. Als er gegen Mitternacht zu mir gekommen ist, habe ich ihn gefragt, wie er den Abend, den er als langweilig vorhergesehen hatte, verbracht hätte. „Es war öde“, hat er gesagt. „Aber ich habe nur an meine Zähne gedacht und war so froh!“ (Zeremonie des Abschieds, S. 50) Die Befreiung von den Zahnschmerzen verlieh ihm neuen Auftrieb. Da er sich des amateurhaften Journalismus und der miesen Druckqualität der ultralinken Blätter bewusst war, die er unter seine Fittiche genommen hatte, plante er, eine qualitativ hochwertige Zeitschrift namens Libération zu gründen. Qualität erforderte Geld 226
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und er steckte eine ganze Menge von seinem eigenen Geld in das Projekt. Um mehr Geld aufzutreiben, machte er sich an ein neues Buch – eines, das wenig Schreibarbeit erforderte. Er begann im November 1972 an Der Intellektuelle als Revolutionär zu schreiben, das 1974 veröffentlicht wurde. Es handelt sich um die Aufzeichnung von Gesprächen zwischen Sartre, Philippe Gavi und Pierre Victor, wobei Letzterer das Pseudonym Benny Lévys war. Zur Bestürzung de Beauvoirs und anderer alten Weggefährten Sartres wurde der junge, demagogische Lévy bald Sartres Sekretär, Vorleser und Sprachrohr. Lévy begann, Sartre zum Teil fremde Wörter in den Mund und fremde Gedanken in sein zunehmend verwirrtes Gehirn zu legen. Aber Sartre mochte es, Lévy als eine Art ultralinken Kampfhund um sich herum zu haben, damit die Bourgeoisie ihm nicht vorwerfen konnte, sich in der König-Lear-Phase seines Lebens zu befinden. 1973 begann er, all seine verbliebenen Kräfte in das LibérationProjekt zu stecken. Am 7. Februar trat er im Fernsehen auf, wo er Fragen über sein Werk und Leben auswich und stattdessen für seine neue Zeitung warb. Nachdem er im Monat darauf an einer Bronchitis gelitten und sich selbst angepeitscht hatte, einen Artikel für Libération fertigzustellen, erlitt er das, was vermutlich ein weiterer kleiner Schlaganfall war. Eine Reihe von Injektionen linderten die Lähmungen in seinem Gesicht und Arm, aber er war seitdem desorientiert und es fiel ihm schwer, sich an Menschen zu erinnern. Während eines Urlaubs in Südfrankreich zum Frühlingsanfang, den zu machen Arlette ihn gebeten hatte, zeigte er mehrere Symptome für vaskuläre Demenz. Er verwechselte Personen miteinander und begann sogar zu glauben, dass fiktionale Charaktere wirklich waren. Nunmehr war er darauf beschränkt, Detektivgeschichten zu lesen, und rechnete mit dem Erscheinen Hercule Poirots. Glücklicherweise begann er nicht, die Ankunft seines alten Widersachers, des Hummers, zu erwarten, der sich versteckte. Als er de Beauvoir in Avignon traf, verwechselte er sie ständig mit Arlette. Zu seinen bes227
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ten Zeiten muss es ihm ganz schön schwergefallen sein, seine vielen Frauen nicht durcheinanderzubringen; in seinem aktuellen Zustand war es unmöglich. Der Mai 1973 brachte die besten und die schlechtesten Neuigkeiten für Sartre. Die gute Neuigkeit war der erfolgreiche Auftakt von Libération. Die erste Ausgabe erschien am 22. Mai. Die Gründung dieser qualitativen politisch linken Zeitung in Zusammenarbeit mit Serge July war einer der großen Triumphe des späten Sartre. Die Zeitung existiert heute noch, obwohl sie inzwischen politisch Mittelinks orientiert ist. Sartre wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, dass heute ein großer Anteil der Zeitung der steinreichen Rothschild dynastie gehört. Die schlechte Nachricht war, dass das Licht seines „guten Auges“ rasch abnahm. Auf der Rückseite seines linken Auges waren Adern geronnen, die bluteten. Eine Behandlung verbesserte die Situation kurzzeitig, aber nicht genug, damit er lesen konnte, was er schrieb. Schließlich war er gezwungen, Der Idiot der Familie aufzugeben. Im August war sein Sehen noch schlechter als im Frühjahr. Sein Augenarzt stellte darüber hinaus fest, dass er am grünen Star litt. Im Oktober wurde seine Sehbehinderung offiziell für unheilbar erklärt, als sich herausstellte, dass seine Retina in der Nähe des zentralen Sehfelds permanent vernarbt war. Trotz der Diagnose konnte er nur hoffen, dass sein Augenlicht sich ausreichend normalisieren würde, um seine eigenen Werke lesen zu können. Er probierte verschiedene Lesehilfen aus, aber diese erforderten einen derart hohen Vergrößerungsfaktor, dass er nur ein Wort auf einmal lesen konnte und darüber den Satzzusammenhang vergaß. „Die Wörter zogen so langsam an seinem Auge vorbei, daß er sich lieber laut vorlesen ließ und daß es ihm unmöglich gewesen wäre, auf diese Weise seine eigenen Texte durchzusehen und zu korrigieren“ (Zeremonie des Abschieds, S. 80). Für einen Mann, der den Großteil seines Lebens jeden Tag stundenlang geschrieben hatte, war es eine Qual, plötzlich seiner Beschäftigung beraubt zu werden. Lustlos und deprimiert verbrachte er Stunden damit, Radio zu hören oder einfach in den Raum zu starren; das 228
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Einzige, was er noch sehen konnte, war Licht. Seine einzige Erleichterung war der Schlaf, dem er dank seiner Gebrechlichkeit und der beschränkten Sauerstoffversorgung seines Gehirnes häufig nachgab. Sartre zahlte den Preis dafür, seinen Körper so viele Jahre lang dazu gezwungen zu haben, seinen Geist produktiver zu machen. Er hatte sich selbst mit einer großen Bandbreite von Stimulantien aufgeputscht, von denen das Schlimmste nicht Corydran, sondern Tabak war, und nun hatte er das kardiovaskuläre System eines ungesunden Hundertjährigen. Er litt auch an Diabetes. Als Schriftsteller war er viele Marathons im Sprinttempo gelaufen. Aber hätte er mehr auf seine Gesundheit geachtet, hätte er vermutlich mehr Marathons laufen können. Er lebte weitere sieben Jahre lang, ohne etwas Bedeutendes zu schreiben. Es scheint haarsträubend, Sartre vorzuwerfen, nicht genug geschrieben zu haben; aber als Schriftsteller, der am meisten an dem interessiert war, was er in Zukunft noch schreiben wollte, wird er sich diesen Vorwurf vermutlich selbst gemacht haben. Er hätte sich bestimmt gerne selbst in den Hintern getreten, aber die Arterien seiner Beine waren durch das Rauchen verhärtet und die Beine steif, schwach und schmerzend. Indem er weiterrauchte, obwohl er es deutlich reduziert hatte, riskierte er, dass ihm nach und nach beide Beine amputiert werden mussten. Als er widerstrebend zu akzeptieren begann, dass seine Blindheit von Dauer war, erzählte er einem Interviewer: Mit meinem Beruf als Schriftsteller ist es vorbei […] Das einzige Ziel meines Lebens war das Schreiben […] Mir ist von nun an etwas verwehrt, was viele junge Leute von heute verachten: der Stil, oder sagen wir, die literarische Form, einen Gedanken oder Wirklichkeit auszudrücken. Das erfordert notwendigerweise Korrekturen […] Ich kann mich aber nicht ein einziges Mal mehr korrigieren, wie ich das, was ich geschrieben habe, nicht lesen kann. (Sartre über Sarte, 180 ff.) Als das rechtskonservative Blatt Minute ihn 1973 schließlich für Bemerkungen verklagte, die er vor vielen Jahren in La Cause du peuple 229
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und anderswo gemacht hatte, war ihm das eine fast willkommene Ablenkung. Seine Anwältin erhielt die Gelegenheit, ausführlich Sartres Anschuldigungen vorzutragen, dass die Redakteure von Minute Verbrecher seien, die aktiv die OAS unterstützt hätten: „Gisèle Halimi sprach länger als eine Stunde: sie erhob unbarmherzige Anklage gegen Minute: Beziehungen zur OAS, Aufrufe zum Mord, Rassismus. Der Vorsitzende erinnerte sie hin und wieder daran, daß es um etwas anderes ginge, aber er ließ sie sprechen“ (Zeremonie des Abschieds, S. 79). Sartre erhielt eine Strafe von 400 Francs und Minute Schadensersatz in Höhe von einem Franc. Die Boulevardpresse, die von dem Prozess berichten sollte, war mehr daran interessiert, wie krank Sartre aussah. Schamlos, „gierig wie Kannibalen“ (Zeremonie des Abschieds, S. 79) baten sie Halimi, sie wissen zu lassen, wenn es ihm schlechter gehen sollte. Da er nicht mehr alleine leben konnte und schon gar nicht in einem alten Gebäude, in dem der Aufzug ständig defekt war, bezog er ein modernes Appartement auf dem Boulevard Edgar-Quinet in der Nähe des Friedhofs Montparnasse und des Tour Montparnasse. Viele Menschen sagen, dass der große Vorteil des Tour Montparnasse darin besteht, dass er eine spektakuläre Aussicht über Paris bietet, in der der Tour Montparnasse nicht zu sehen ist. Sartre stand dem recht gleichgültig gegenüber, da er weder den Turm noch die Aussicht sehen konnte. Er akzeptierte, dass der Umzug notwendig war, aber zeigte wenig Interesse an seiner neuen Wohnung, die er später als den Ort bezeichnete, „wo ich nicht mehr arbeite“ (Zeremonie des Abschieds, S. 87). Seine Frauen kümmerten sich um alles und wurden gerne seine Pflegekräfte – vielleicht der intellektuellste Haufen von Pflegekräften, die jemals ein alter Mann hatte. Sie halfen ihm beim Anziehen und beim Essen und wuschen ihn, wenn er die Kontrolle über seine Blase oder seinen Darm verlor. De Beauvoir schlief fünf Nächte die Woche im Gästezimmer, Arlette zwei. Lévy wurde das, was Hayman als Sartres „intellektueller Pfleger“ (Hayman, S. 659) bezeichnet: Er las ihm vor, ermutigte ihn, Der Intellektuelle als Revolutionär abzuschließen, und regte mit herausfor230
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dernden Fragen seinen Geist an. Es war ein harter Job, den er gut machte, obwohl er manchmal auch aufgeben wollte. Aber er tat es nicht, zum Teil aufgrund seiner großen Bewunderung für Sartres Werk, zum Teil weil er dem alten Philosophen viel Dank schuldig war. Als ägyptischer Jude war Lévy staatenlos. Als Sartres Angestellter durfte er in Frankreich leben. 1974 setzte Sartre sich in einem Brief an Präsident Valéry Giscard d’Estaing für Lévy ein. Der Präsident, der entweder ein Sartre-Fan war oder den Wert schätzte, ihn als Verbündeten zu wissen, antwortete unverzüglich und zog alle nötigen Fäden, um Lévy die französische Staatsangehörigkeit zu verleihen. De Beauvoir begann, Lévy wegen seines zunehmenden Einflusses auf Sartre zu hassen und weil Sartre zunehmend abhängig von ihm wurde. Wenn Lévy täglich in seiner Rolle als Sartres Sekretär ankam, hatte de Beauvoir bereits das Haus verlassen. Da der zuvor maoistische Lévy begann, großes Interesse am Judentum zu entwickeln, bekam sie das Gefühl, dass er den alten Existentialisten und Erzatheisten zu metaphysischen oder sogar religiösen Sichtweisen führte. Sartre war König Théoden von Rohan und trotz all seiner Unterstützung war Lévy etwas wie Gríma Schlangenzunge, die dem alten König ins Ohr flüsterte. De Beauvoir sorgte sich über den Schaden, den Lévy Sartres intellektuellem Vermächtnis zufügen konnte. Aber in Wahrheit nimmt niemand das Werk ernst, das der senile Sartre mit Lévys Unterstützung schuf. Es ist nicht Das Sein und das Nichts und Der Ekel auch nicht. Stattdessen ist es größtenteils das inkonsequente Nebenprodukt eines Therapieprogrammes, das darauf ausgerichtet war, Sartres Geist vor totaler Stagnation zu retten. Arlette dagegen mochte Lévy. Sie waren beide jung, stammten beide aus Nordafrika und waren beide jüdischer Abstammung. Sie hatten sogar gemeinsam bei Shmuel Trigano Hebräisch studiert. Nicht zuletzt bildeten sie den Kern einer Allianz junger Sartre-Schüler, die den von de Beauvoir angeführten älteren Schülern gegenüberstanden. 231
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Der Intellektuelle als Revolutionär wurde im Mai 1974 veröffentlicht. Um das Werk zu bewerben, nahmen Sartre, Gavi und Lévy an einem Gespräch mit Herbert Marcuse teil, von dem Hélène Lassithiotakis (alias Melina) in Libération berichtete. Melina war eine junge griechische Frau, die sich 1972 mit Sartre bekannt gemacht hatte und mit der er die letzte seiner vielen Affären hatte. Der alte Charmeur war noch da und das alte Portemonnaie war nach wie vor offen, wenn es um ein attraktives Mädchen ging. Obwohl seine Mittel stark beansprucht waren – er hatte eine Menge Geld investiert, um Libération anzuschieben –, begann er ihr eine finanzielle Unterstützung zu bezahlen, damit sie in Paris leben und Philosophie studieren konnte. Er besuchte sie auch mehrmals in Griechenland, nachdem sie nach einem Nervenzusammenbruch dorthin zurückgekehrt war. Zugleich unterhielt er auch Arlette, Wanda und Michelle, die zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich keine Mädchen mehr waren. De Beauvoir hatte ihr eigenes Geld. Trotz seiner schlechten Gesundheit reiste er weiterhin viel. Es gab ihm etwas zu tun. Neben seinen Besuchen in Griechenland, Portugal, der Schweiz, in Deutschland und Israel unternahm er mit Arlette regelmäßige Ausflüge nach Junas im Süden Frankreichs und verbrachte lange Aufenthalte in seinem geliebten Italien mit de Beauvoir. Im Sommer 1974 sammelte de Beauvoir ihn in einem Florentiner Hotel auf, in dem er mit Wanda übernachtet hatte, um ihn mit dem Zug nach Hause nach Rom zu bringen. Er hatte begonnen, sich einen ungepflegten weißen Bart wachsen zu lassen, den er nicht rasieren konnte, weil er ihn nicht sah. Er stand ihm nicht besser als der falsche Kriegsbart von 1939 und de Beauvoir beschloss, wie sie es bereits damals getan hatte, dass er ihn so schnell wie möglich wieder loswerden sollte. Sobald sie die Ewige Stadt erreicht hatten, beauftragte sie den Hotelbarbier, den Bart abzurasieren. Zugleich wurde Sylvie, die ein paar Tage später von der Beerdigung ihres Vaters in Brittany zurückkehren sollte, mit genauen Anweisungen beauftragt, einen elektrischen Rasierer zu besorgen. Lévy, der oft auswählte, was er Sartre vorlas, half ihm dabei, über die aktuellen Ereignisse in der linken Szene im Bilde zu bleiben. Bei232
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de Männer sympathisierten mit der Roten Armee Fraktion oder Baader-Meinhof-Gruppe, eine westdeutsche kommunistische Terrororganisation, die sich gegen Imperialismus und die Vorherrschaft ehemaliger Nazis in der deutschen Politik wandte. Am 4. Dezember 1974 besuchten Sartre, Lévy und Cohn-Bendit, der als Dolmetscher fungierte, den Anführer der Gruppe, Andreas Baader, im Gefängnis Stammheim-Stuttgart. Sartres Hauptziel bestand darin, die psychische Folter politischer Gefangener publik zu machen. Er versuchte der deutschen Presse und dem deutschen Fernsehen klarzumachen, dass er die extremen Gewalttaten der Gruppe nicht guthieß. Doch dies ging in der medialen Berichterstattung vollkommen unter, stattdessen wurde Sartre für seine Intervention heftig kritisiert. Sartre für seinen Teil war trotz der massiven Kritik froh, dass er auf seiner Liste ultralinker Tätigkeiten das ultimative Kästchen abhaken konnte: eine Kampagne für die Rechte von Terroristen und Massenmördern. Das erinnert an die absurden Bemühungen des alternden Lord Longford zugunsten der Serienmörderin Myra Hindley. Das Jahr 1975 begann damit, dass Sartre und seine Entourage Pläne für eine zehnteilige TV-Serie über die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus Sartres Perspektive vorantrieben. Der Schluss jeder Folge sollte die behandelte historische Periode mit zeitgenössischen Belangen in Verbindung setzen. Es war eine großartige Idee. Schließlich hatten nur wenige Menschen die wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts im selben Ausmaß erlebt, reflektiert und zu beeinflussen versucht wie Sartre. Niemand konnte ihm vorwerfen, dass er nicht versuchte das Jahrhundert zu seinem zu machen. Jetzt, da er sich seinem siebzigsten Geburtstag näherte, war er eine Art lebende Verkörperung seines Jahrhunderts geworden. Es wurden Historiker eingestellt, um Material für jede Folge zu recherchieren und zusammenzutragen, während Sartre, mit Lévy an seiner Seite, gegen die ständige Müdigkeit und Erschöpfung ankämpfte, um das Projekt zu koordinieren. Im September wurde jedoch klar, dass der Fernsehsender Antenne Deux kalte Füße bekommen hatte. 233
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André Vivien, ein Regierungsvertreter, der für die Beziehungen zur französischen nationalen Rundfunkanstalt, dem Office de Radiodiffusion Télévision Française, verantwortlich war, hatte die Synopse der geplanten Serie in Kopie an Premierminister Jacques Chirac gesandt, der darüber besorgt war, dass derart linksextreme Geschichtsdarstellungen ausgestrahlt werden sollten. Die Beinaherevolution von 1968 war schon sieben Jahre her, aber die französische Staatsmacht war noch immer nervös. Am 21. September lud Sartre zu einer Pressekonferenz ein, die den Titel hatte: „Ein Problem mit Fernsehzensur“. Mit all dem Zorn, den sein Körper zusammenbringen konnte, erklärte er, dass er durch indirekte Zensur genötigt wurde, seine TV-Serie aufzugeben. „Es ist gesagt worden: Sartre gibt auf. Nein. Man hat mich zum Aufgeben gebracht, dies ist ein Fall von formeller und indirekter Zensur“ (Zeremonie des Abschieds, S. 88). Die Streitereien und wütenden Diskussionen über die Fernsehserie waren seiner Gesundheit nicht zuträglich, die während eines langen Sommerurlaubs in Griechenland erstaunlich gut gewesen war. Im Oktober 1973 brach er wieder häufiger zusammen. Sein Blutdruck stieg in astronomische Höhen und er konnte kaum verhindern, im Rollstuhl zu landen. Aus Angst davor, dass seine Beine amputiert werden mussten, unternahm er qualvolle Anstrengungen, um das Rauchen aufzugeben. Er konnte die Boyards erst im März 1977 vollständig über Bord werfen, bis dahin gelang es ihm nur, den Konsum zu reduzieren. Jeden Morgen brauchte er eine Ewigkeit, um die Lähmung abzuschütteln, die seinen Mund betäubte und ihm die Kehle zuschnürte. Er versuchte, auf einem geliehenen Fernseher Filme zu schauen – sabbernd und nur wenige Zentimeter vom Bildschirm entfernt. Kraftlos wie er war, hielten einige rechtskonservative Gruppen ihn dennoch für gefährlich genug, um gelegentliche Morddrohungen gegen ihn auszusprechen. Nachdem ein besonders bedrohlicher Brief eingetroffen war, ließ de Beauvoir eine gepanzerte Tür in seine Wohnung einbauen. Obwohl er in den frühen 1960ern bereits das Ziel von zwei OAS-Bomben gewesen war, blieb Sartre ob der erneuten Drohungen recht unbeeindruckt. 234
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Ab 1976 förderte er eine Kampagne gegen seine einst geliebte UdSSR. Im Januar begann er Demonstranten zu unterstützen, die wegen der Besetzung der sowjetischen Botschaft in Paris verhaftet worden waren, als sie auf Menschenrechtsverletzungen in Russland aufmerksam machten. Im Februar konnten er und de Beauvoir fünfzig Nobelpreisträger dazu überreden, eine Petition zu unterzeichnen, die in Libération und Le Monde erschien und zur Freilassung der russischen Dissidenten aufrief. Er war fit genug, um den größten Teil des Sommers auf Reisen zu verbringen, und besuchte Venedig, Capri und Rom, bevor er nach Athen flog, um Hélène zu treffen. An diesen Orten schaffte er ein paar sehr langsame Spaziergänge und entschuldigte sich bei den Frauen dafür, dass er sie aufhielt. Als er im Herbst nach Paris zurückkehrte, überredete Lévy ihn, wieder an den Redaktionstreffen von Les Temps modernes teilzunehmen. Er hatte seine Pflichten eine ganze Weile vernachlässigt, teilweise weil seine neuen Publikationen ihn mehr interessierten. All diese Dinge halfen ihm dabei herauszukommen und Körper und Geist in Bewegung zu halten. Am 27. Oktober erschien Sartre – ein Film. Alexandre Astruc und Michel Contat hatten diesen 190-minütigen Streifen 1972 gedreht. Darin sehen wir einen kettenrauchenden Sartre, der hinter dicken Brillengläsern in seinem vor Büchern berstenden Studio zu einer Gruppe kettenrauchender Freunde über sein Leben und seine Arbeit spricht. Der Film ist ein echter Marathon, wenn man ihn in einem Stück ansehen möchte, aber er bietet eine großartige Gelegenheit, dem großen Mann und einigen seiner engsten Vertrauten näherzukommen. De Beauvoir äußerte dazu: „Auch da feierte die Kritik Sartre enthusiastisch, und es herrschte großer Pubikumsandrang“ (Zeremonie des Abschieds, S. 126). Im November brach Sartre seine Regel, keine offiziellen Ehren anzunehmen und besuchte die israelische Botschaft in Paris, um eine Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität in Jerusalem zu empfangen. Wie immer bemühte er sich, in Bezug auf den arabisch-israelischen Konflikt unparteiisch zu sein. Er bekräftigte seine Freundschaft mit Israel, während er zugleich Bedenken gegen Israels 235
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Umgang mit den Palästinensern äußerte. „Er erinnerte an seine Reise nach Ägypten und Israel im Jahr 1967 und erklärte, daß er eine Ehrendoktorwürde der Universität von Kairo annähme, wenn sie ihm angetragen würde“ (Zeremonie des Abschieds, S. 127). Im Januar 1977 wäre Sartre nach einem schweren Trinkgelage mit Michelle beinahe gestorben. Sie kam manchmal samstags kurz vorbei, um den anderen Frauen unter die Arme zu greifen. Michelle war in Bezug auf seinen Alkoholkonsum die nachlässigste – Sylvie hatte mit de Beauvoirs Erlaubnis seine Whiskyflaschen bereits eine ganze Weile mit Wasser verdünnt. Am nächsten Abend war sein Blutdruck so hoch – 250! –, dass de Beauvoir den Rettungsdienst anrufen musste, der ihn mit einer Injektion stabilisierte. Michelle, die sich damit rechtfertigte, ihn glücklich sterben lassen zu wollen, erhielt von der Königin de Beauvoir Besuchsverbot. Jahre später erzählte Michelle Rowley in einem Interview, dass de Beauvoir seine Mama war, die Einzige, die ihm seine Flasche geben durfte (Tête-à-Tête, S. 448 f.). Im Februar machte er sich mit Lévy auf den Weg nach Athen, um eine Woche mit Hélène zu verbringen. Während seines Aufenthaltes ging es ihm gut genug, dass er vor einem großen Publikum eine Lesung über „Was ist Philosophie?“ halten konnte. Nach seiner Rückkehr tauchte Hélène für ein paar Wochen in Paris auf und sie verbrachten viel Zeit miteinander. Er sagte ihr, dass sie die Kraft hatte, ihn zu verjüngen und sich auch jünger fühlen zu lassen. In Wahrheit aber ging es mit ihm ständig bergab. Die Blutzirkulation in seinen Beinen war auf dreißig Prozent gefallen und er wurde gewarnt, dass sogar ein kurzer Spaziergang bereits einen Infarkt verursachen konnte. Er fuhr mit de Beauvoir nach Venedig, musste jedoch im Rollstuhl sitzen. Trotz seines Zustandes reiste er diesen Sommer viel. Wenn er seine Lieblingsorte erreicht hatte, konnte er dennoch wenig mehr tun, als zu schlafen und Musik zu hören. Auf Junas im Juli mit Arlette folgten zwei Wochen Venedig mit Wanda, dann über ein Monat in Rom mit de Beauvoir. Er reiste teilweise mit dem Flugzeug und der Bahn, aber es ist bemerkenswert, dass er die Ausdauer und den Wunsch hatte, so lange Zeit in einem unerträglich heißen Auto zu verbringen, ohne überhaupt die Aus236
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sicht genießen zu können. Alles war besser, als zu Hause in Paris herumzusitzen und sich selbst leidzutun. Am Ende des Sommers kehrte er nach Paris zurück und trennte sich von Hélène. Er sagte ihr, dass sie ihn nicht mehr verjüngen könne und er sie nicht mehr liebe. Er stillte ihre Tränen mit dem Versprechen, er würde weiterhin für sie zahlen, damit sie noch eine Weile in Paris bleiben konnte. De Beauvoir erzählte er dagegen, dass er die Affäre beendet hatte, weil „Sie […] zu eigennützige Interessen [hat], sie ist nicht interessant. Sie bedeutet mir nichts mehr“ (Zeremonie des Abschieds, S. 139). Anscheinend ging Hélène ihm einfach nur auf seine alternden Nerven. Schließlich hatte er bereits genug jammernde Frauen um sich herum. Vielleicht wollte er auch einfach nur der emotional und zum Teil auch geistig instabilen jungen Frau den Anblick seiner letzten Tage ersparen, die bestimmt bald an der Zeit waren. Die Beziehungen zwischen Israel und Ägypten hatten sich auf ein Friedensabkommen zubewegt, das schließlich 1979 von den Präsidenten Begin und Sadat im Beisein des US-Präsidenten Carter unterzeichnet wurde. Im Februar 1978 reiste Sartre mit Lévy und Arlette nach Israel, um seinen Beitrag zum Friedensprozess zu leisten. Das Ergebnis der Reise war ein Artikel über die arabisch-israelische Situation, der größtenteils von Lévy geschrieben und von Sartre abgesegnet worden war. In klassischer Lévy-Manier war der Artikel weitschweifig, schlecht geschrieben und etwas wirr, mit einem kleinen Einschlag von zionistischem Mystizismus. In dem Artikel spricht Lévy (Victor) zu Sartre: „Da Sie weder Salomo noch ein universelles Bewusstsein sind, von welchem Standort aus sprechen Sie?“ Der Standort stellte sich als das Paris der Französischen Revolution heraus. Der Artikel wurde an Le Nouvel Observateur gesandt, wo Bost ihn mit Schrecken las. De Beauvoir war gleichermaßen alarmiert und riet Sartre nachdrücklich dazu, den Artikel zurückzuziehen. Sartre kam dem gerne nach, aber Lévy war außer sich. Es war der letzte Showdown zwischen den jungen und alten Sartreanern. 237
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Bei einem Treffen von Les Temps modernes entzündete sich eine hitzige Auseinandersetzung, in der Jean Pouillon, André Gorz und weitere Seniormitglieder der Redaktion Lévys Artikel verrissen und seine Dreistigkeit kritisierten, ihn als Sartres Werk durchgehen lassen zu wollen. Der hitzköpfige Lévy nannte sie im Gegenzug einen Haufen Leichen und ließ sich nie wieder in den Räumen von Les Temps modernes blicken. Vielleicht hätten die alteingesessenen Sartreaner den Artikel erscheinen lassen sollen. Schließlich hat das verrückte Geschwätz während Nietzsches geistiger Umnachtung seiner Reputation keinen Abtrag getan. Aber wenigstens war es Nietzsches eigenes verrücktes Geschwätz gewesen. In ihrer Analyse Lévys in Adieux, die unmittelbar auf ihre Darstellung des Streits um den Artikel folgt, wird de Beauvoir durchaus verletzend. Wie gerne hätte sie Sartre von Lévys Einfluss befreit, aber Sartre mochte ihn aus denselben Gründen, aus denen de Beauvoir ihn hasste: Als Ex-Wortführer der G[auche] P[rolétarienne] hatte Victor eine „Führermentalität“ behalten, alles mußte vor ihm in die Knie gehen. Er ging leichtfertig von seiner Überzeugung zu einer anderen über, aber immer mit der gleichen Sturheit. Aus der unkontrollierten Intensität seiner jeweiligen Begeisterung schöpfte er Gewißheiten, die er nicht in Frage stellen ließ. Dies verlieh seinen Reden eine Kraft, die manche mitreißend fanden. (Zeremonie des Abschieds, S. 143 f.) Im Frühling 1978 teilte Sartre de Beauvoir mit, dass er sich keine neuen Schuhe leisten konnte; trotzdem war er noch in der Lage, mit ihr und Sylvie Ostern in Norditalien zu verbringen. Vielleicht hatte de Beauvoir gezahlt. Trotz seiner weltweiten Einnahmen aus seinen Publikationen schuldete Sartre Gallimard Geld. Über die Jahre war der Verleger sein privates Kreditinstitut geworden, bereit, ihm Vorschüsse für sein nächstes Buch zu zahlen, obwohl sie noch keine Vorstellung davon hatten, was das nächste Buch sein sollte. Gallimard war dank 238
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einiger Neuausgaben, Neuauflagen, Taschenbuchausgaben und Übersetzungsrechte gut versorgt, aber nachdem seit einigen Jahren (außer den Lévy-Kollaborationen) nichts Neues erschienen war, konnten sie sich nicht mehr leisten, so großzügig zu sein wie bisher. Sartre hatte ein anständiges Einkommen, aber seine Ausgaben waren enorm. Die Reisen waren das eine, die vielen politischen Angelegenheiten das andere, aber die Hauptbelastung waren all die Anhänger, die er finanziell unterstützte. Er war übermäßig großzügig und hatte die Taschen stets voller Geld, mit dem er gerne die Tischrechnungen bezahlte. Zu seiner Verteidigung muss auch gesagt werden, dass er nie ein großes Vermögen durch Sparen, Investieren oder den Verkauf seiner künstlerischen Integrität an den Höchstbietenden anhäufte. All diese Dinge wären viel zu bürgerlich für ihn gewesen. Im Laufe des Jahres 1978 reiste Sartre, wann immer er konnte – um in verschiedenen europäischen Hotelzimmern im Halbschlaf herumzusiechen. Auch täuschte er sich weiterhin darin, zu meinen, dass er mit Lévy bedeutende Arbeit an dem langen, wirren Werk Macht und Freiheit leistete, das sie auf dieselbe Weise zusammenbrauten wie Der Intellektuelle als Revolutionär. Als de Beauvoir schließlich Anfang 1980 das Werk las, was sie entsetzt darüber, wie unrepräsentativ und Sartres Philosophie unwürdig es war und vor allem welch überheblichen Ton der unbekannte Lévy sich gegenüber dem großen Denker herausnahm. Alle anderen führenden Sartreaner empfanden das genauso. Sartre bestand dennoch auf der Publikation einer Vorrede zu Macht und Freiheit unter dem Titel „Hoffnung jetzt“. Diese Diskussionen mit Lévy erschienen kurz vor Sartres Tod im Le Nouvel Observateur. Sartre war bedrückt und enttäuscht über die allgemein negative Rezeption von „Hoffnung jetzt“ durch seine Freunde – ein Schmerz, der dazu beitrug, sein Ende zu beschleunigen. Nach seiner Rückkehr aus der Provence nach Ostern 1979 wurde Sartre von Gérard de Clèves, einem belgischen Dichter, der an psychischen Störungen litt, an der Hand geschnitten. Sartre hatte die Gewohnheit, de Clèves hineinzubitten und ihm etwas Geld zu geben, wenn dieser zum Betteln an seiner Tür klopfte. Schließlich hatte 239
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er genug von seinen viel zu häufigen Besuchen und sagte ihm hinter der mit Kette gesicherten gepanzerten Tür, dass er weggehen und nicht wiederkommen solle. De Clèves verlor die Nerven, schnitt durch den von der Kette offen gelassenen Schlitz hindurch Sartres Hand und hatte, als die Polizei eintraf, es fast geschafft, die Tür einzuschlagen, die eigentlich Plastiksprengstoffen standhalten sollte. Sartre verzichtete auf eine Anzeige gegen de Clèves. Sartres dick bandagierte Hand ist auf Fotos beim Verlassen des Élysée-Palastes am 26. Juni 1979 zu sehen, wo Präsident d’Estaing ihm persönlich für seine Spendenaktion zugunsten der vietnamesischen „Boat-People“ dankte. Auf den Fotos sieht man auch Sartres einstigen Freund und langjährigen Gegner Raymond Aron. Sartre und Aron hatten sich zuvor der Presse zuliebe die Hände geschüttelt, aber es hatte keine Annäherung zwischen den beiden alten Männern gegeben. Auf Arons „Bonjour, mon petit camarade!“ erwiderte Sartre bloß mit einem abrupten „Bonjour“. Als Aron versuchte, ihn zu umarmen, wich er zurück. Aron war eindeutig bereit, die jahrelangen öffentlichen Meinungsverschiedenheiten zu verzeihen, aber Sartre nicht. Für Aron war Sartre ein wohlmeinender, aber naiver alter Kommunist. Für Sartre hatte Aron sich Ende der 1940er-Jahre an das Bürgertum verkauft und 1955 mit seiner antimarxistischen Polemik Opium für Intellektuelle seine rechtskonservative Haltung bestätigt. 1968 hatten sie sich wieder Schusswechsel geliefert. Aron, der sich öffentlich gegen die Studentenproteste wandte, hatte sich über den von Sartre und anderen Ultralinken vorgebrachten Vorschlag lustig gemacht, Universitäten auf Kuba finanziell zu unterstützen. Sartre rächte sich mit einem vernichtenden Angriff auf Aron. Darin warf er ihm die typische Überheblichkeit von Universitätsprofessoren vor, die jahrzehntelang mit ein- und derselben müden These, als wäre sie das Evangelium, vor Studenten hausieren gingen, die sie nicht anzweifeln durften. Wenn ein alternder Aron seinen Studenten endlos die wichtigsten Lehren eines Werkes wiederholt, die er 1939 geschrieben hatte, 240
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ohne sie jegliche Kritik äußern zu lassen, dann übt er eine reale Macht aus, die jedoch nichts mit dem zu tun hat, was den Titel einer Wissenschaft würdig ist. (Le Nouvel Observateur, Juni 1968) Sartre war selbst im Sommer 1979 noch genug bei Verstand, um sich zu weigern, Aron die antirevolutionäre Haltung zu verzeihen, die er 1968 eingenommen hatte – obwohl Arons Auffassung mehr mit Vernunft und Mäßigung zu tun hatte als mit Gaullismus. Für einen Mann, der seit 1968 den größten Teil seiner Kräfte darauf verwendet hatte, die Revolution wieder aufleben zu lassen, war und blieb Aron ein Verräter, ein Kollaborateur. Er war bestimmt nicht Sartres Genosse. Sartre stand Nostalgie immer skeptisch gegenüber; entfernte Erinnerungen an Aprikosencocktails oder was immer sie an jenem schicksalsträchtigen Tag im Frühling 1933 am Bec de Gaz, an dem Aron Sartre mit der Phänomenologie bekannt machte, getrunken hatten – damit ließ er sich nicht besänftigen. Die Vergangenheit war gekommen, um sich zu verabschieden, um zur elften Stunde um Versöhnung zu bitten, aber Sartre wollte nichts davon wissen. Er wusste, wo er stand und wo er stehen wollte, nachdem sein erschöpfter Leib die Szene verlassen haben würde. Beide Männer hatten sich jeweils ihr eigenes Bett bereitet und nun würden sie darin sterben müssen. In einem früheren Leben waren sie Freunde gewesen, aber jetzt, jedenfalls für Sartre, waren sie bis zuletzt Feinde. In den nächsten Monaten reiste Sartre ein bisschen mehr, trank ein bisschen mehr und war ein bisschen mehr politisch aktiv und seine körperliche Verfassung verschlechterte sich ein bisschen mehr. Seine Fähigkeit, immer weiter zu verkommen, ohne zu sterben, ist genauso bemerkenswert wie viele seiner anderen Errungenschaften. Aber selbstverständlich war er keines seiner Werke und konnte nicht auf ewig unvollendet bleiben.
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27 Unsterblichkeit Die Kreislaufprobleme hatten Beine, Arme, Herz, Augen und Gehirn beschädigt. Seine Lungen, durch die er den Rauch einer Million Boyard-Zigaretten und einer Unmenge von Pfeifen in seinen kleinen Körper eingeatmet hatte, hatte erstaunlich lange ausgehalten. Am 20. März 1980 begann sein Atmungssystem jedoch, ebenfalls an ernsthaften Kreislaufproblemen zu leiden. Er hatte ein Lungenödem entwickelt: Es gelangte nicht genügend Blut in seine mit Flüssigkeit gefüllten Lungen und deshalb nicht genug Sauerstoff in sein Blut. Als de Beauvoir ihn um neun Uhr morgens vorfand, hatte er seit fünf Uhr keuchend an seiner Bettkante gesessen, ohne Hilfe rufen zu können. Sein Telefon war wegen einer unbezahlten Rechnung abgestellt worden, sodass sie das Haus verlassen musste, um den Arzt zu holen. Der Arzt kam bald und rief sofort den Notdienst. Es dauerte fast eine Stunde, um ihn zu stabilisieren, bevor er auf einer Bahre in den Ambulanzwagen und dann auf die Intensivstation des nahe gelegenen Broussais-Krankenhauses gebracht werden konnte. Die Paparazzi schossen vom Dach eines angrenzenden Gebäudes Fotos von ihm, während er im Bett lag. Der Sauerstoffmangel ließ ihn halluzinieren, dass er bereits gestorben sei und sich mit Arlette in einer Situation befinde, die der Geschlossenen Gesellschaft ähnelte. Er fragte sie, wie es sich angefühlt hatte, eingeäschert zu werden. Als er einige Tage später wieder bei klarem Verstand war, durfte er in einem Stuhl sitzen und essen, bevor die Krankenschwestern ihn wieder in sein Bett brachten. Er empfing einen ständigen Strom von Besuchern, einen nach den anderen. Sein Kreislauf war inzwischen so schwach geworden, dass seine Nieren versagten und die wundgelegenen Stellen in Wundbrand übergingen. Als Pouillon ihm ein Glas Wasser reichte, versuchte er fröhlich zu sein: „Das nächste Mal, wenn wir zusammen etwas trinken, das wird 242
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bei mir zu Hause sein, und zwar Whisky“ (Zeremonie des Abschieds, S. 160). De Beauvoir beharrt darauf, dass dies nicht, wie andere gesagt haben, seine letzten Worte waren. Am nächsten Tag versuchte er nicht mehr fröhlich zu wirken und fragte sie, wovon sie die Beerdigung bezahlen würden. Als er gegen Mitte April zwischen Wachsein und Delirium hin- und herwechselte, fasste er de Beauvoir am Handgelenk und sagte: „Ich liebe Sie sehr, mein kleiner Castor“ (Zeremonie des Abschieds, S. 160). Dies waren seine letzten bedeutungsvollen Worte. Am Montag, den 14. April, zu schwach, um seine Augen zu öffnen, spitzte er seine Lippen, um einen letzten Abschiedskuss zu bekommen. De Beauvoir küsste ihn sanft auf Mund und Wangen. Gegen Abend fiel er in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Etwas mehr als 24 Stunden später um neun Uhr am 15. April 1980 starb er. Arlette saß bei ihm. „Um neun Uhr hat das Telefon geklingelt. Sie hat mir gesagt: ‚Es ist zu Ende.‘ Ich bin mit Sylvie hingegangen. Er sah aus wie immer, aber er atmete nicht mehr“ (Zeremonie des Abschieds, S. 161) Sein missbrauchter, abgenutzter Leib war endlich ein Leichnam und stand ihm nicht mehr im Weg. „Ich existiere nirgends mehr, aber ich bin, endlich!“ (Die Wörter, S. 149). Ein menschliches Wesen ist niemals. Es ist immer nur ein Mangel an Sein im Prozess des Werdens. Nun, da er für immer tot war, war er in seiner Abwesenheit vollständig und frei, unsterblich zu sein. „Nur die Abgeschiedenen sind in der Lage, die Unsterblichkeit zu genießen“ (Die Wörter, S. 151). Arlette, de Beauvoir, Sylvie, Lanzmann, Bost, Pouillon und Gorz, aber nicht Lévy, hielten eine Nachtwache um seinen Leichnam, tranken Whisky, sprachen über alte Zeiten und seine letzten Tage, flüsterten ihm ihre letzten Abschiedsworte zu und schützten ihn vor der aufdringlichen Presse. De Beauvoir, die eine Weile mit ihm alleine gelassen wurde, legte sich zu ihm. Sie versuchte, unter die Laken zu schlüpfen, aber eine Krankenschwester hielt sie davon ab, aus Angst, dass sie sich mit Wundbrand anstecken würde. Zwei Stunden vor Morgengrauen kamen Krankenpfleger und trugen ihn davon. 243
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De Beauvoir sah seinen Leichnam am Freitag und dann wieder am Samstagmorgen vor der Beerdigung. Sein Gesicht war geschminkt worden und er trug einen braunen Kordanzug. „Sartre [lag] aufgebahrt […], das Gesicht entblößt, streng und starr in seinem schönen Anzug“ (Zeremonie des Abschieds, S. 163). Bei ihrem Samstagstermin bat sie einen Freund, Fotos vom Leichnam zu machen. Überwältigt von der Gelegenheit, ließ er seine Kamera auf den Sarg fallen, bevor er Fotos schießen konnte. Obwohl sie mit viel Valium ruhiggestellt worden war, flossen de Beauvoirs Tränen, während sie ihm über seine Stirn strich und ein letztes Mal auf sein Gesicht schaute. Er war zu ihr nicht so gut oder treu gewesen, wie er es hätte sein können, aber sie hatten eine einzigartige und unzerbrechliche Beziehung gehabt: eine große, kreative Romanze, die mehr als fünfzig Jahre andauerte. Der Stoff, aus dem Legenden gemacht sind. Präsident d’Estaing besuchte den Leichnam ebenfalls. Er blieb für eine Stunde, wie um die historische Bedeutung von Sartres Ableben zu betonen. Sartre sollte sich Descartes, Pascal, Voltaire, Diderot und Bergson anschließen: große französische Philosophen, deren Gedanken das Gesicht der Welt verändert haben. Der große Leichenwagen verließ das Krankenhaus um vierzehn Uhr hinter einem mit einer Unmenge Kränzen und Bouquets vollgeladenen Citroën-Laster. Außer dem Sarg trug der Leichenwagen de Beauvoir, Poupette, Arlette und Sylvie. Die zwei Fahrzeuge bahnten sich gemächlich ihren Weg durch die an diesem trüben, schiefergrauen Pariser Nachmittag versammelte Menschenmenge. 50 000 Pariser schlossen sich Sartre in einer letzten Straßendemonstration an, um friedlich dagegen zu protestieren, dass der alte Denker und Provokateur am Ende tot war. Wo sonst als in Frankreich konnte der Tod eines Intellektuellen so große Emotionen hervorrufen? Andererseits war Sartre kein gewöhnlicher Intellektueller. Er wurde vom französischen Volk gleichermaßen geliebt und gehasst – aber für sie alle stand er für die Jahre zwischen den Weltkriegen, für den Sturz Frankreichs, die Besatzungszeit, den Widerstand, die Befreiung, der größte Vertreter 244
Unsterblichkeit
einer Philosophie, die half, Frankreich in der Nachkriegszeit eine neue Richtung zu geben; er stand für den Streit um Algerien, die Entrüstung über Vietnam und die 1968er-Proteste. All diese Geschichte war in diesen Holzkasten verdichtet, der auf seine letzte Reise durch sein Paris, an seinen Cafés und Restaurants vorbei zum Friedhof Montparnasse ging. Die große, dem Leichenwagen folgende Menschenmenge vermischte sich mit der großen Menge, die sich bereits auf und um den Friedhof herum versammelt hatte. Sie säumten die Wände, standen auf Gräbern und Grabsteinen, schoben und drängten, um einen Blick auf das Ende einer Ära zu erhaschen. Ein Mann wurde versehentlich in das für Sartre vorgesehene Loch geschoben, andere wurden im Gedränge verletzt. Die Polizei und die Leichenbestatter hatten Mühe, Platz für den Sarg und die aus dem Leichenwagen aussteigenden Trauernden aus seinem engsten Kreis zu machen. „Der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen; ich glaube ihn bis zum Ende betrieben zu haben“ (Die Wörter, S. 194). Es gab keine religiösen Worte oder Gesten, während sie den streng ungläubigen Sartre in den Erdboden herabließen. Es gab keine Zeremonie und keine Rede. Sartre setzte seine Ansicht durch, dass es nichts zu sagen gab. Damit betonte er die existenzielle Wahrheit, dass der eigene Tod nichts ist, was man selbst erleben kann, sondern die Grenze aller Erfahrung. „[D]er Tod [ist] nicht meine Möglichkeit“ (Das Sein und das Nichts, S. 676). Oder, um es anders zu sagen, das Leben hat kein Draußen. Sein Tod war für die Tausende versammelter Menschen ein Event, aber für ihn war er ein absolutes Nichtevent und deshalb wäre es absurd gewesen, Beschwörungsreden jeglicher Art über seinen bereits verrottenden Leichnam zu sprechen. Es ist die ironischste aller Sartre’schen Ironien, dass ein Mann, der vollkommen davon überzeugt war, dass der Tod das Ende sei, so viel Lebenszeit damit verbrachte, sich selbst als Schriftsteller unsterblich zu machen, als ob er dem irgendwie beiwohnen und etwas davon haben könne. Er wurde sich dieser Ironie, dieser Absurdität bewusst, aber jeder Mensch muss irgendein Ziel in seinem Leben 245
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haben. Immerhin hatte er in seinem Leben die Vorstellung genießen können, dass er unsterblich sein würde. „Es ist widersinnig, daß wir geboren sind, es ist widersinnig, daß wir sterben“ (Das Sein und das Nichts, S. 688), aber das wahrhaft existenzielle Problem war, wie Sartre genau wusste, womit wir uns dazwischen beschäftigen. Ein Stuhl wurde für de Beauvoir besorgt, die zu tief von Schmerz ergriffen war, um stehen zu können. Die Menge machte gerade genug Platz, damit sie an seinem Grab sitzen konnte; eine kleine, verlorene, von Valium und untröstlicher Trauer zugrunde gerichtete Gestalt. Während die Kameras unaufhörlich klickten, versorgten die anderen Frauen sie und hielten sie vorsichtig fest, als befürchteten sie, dass sie versuchen könnte, ihrer geliebten anderen Hälfte ins Grab zu folgen. Sein Tod trennt uns. Mein Tod wird uns nicht wiedervereinen. So ist es nun einmal. Schön ist, daß unsere Leben so lange harmonisch vereint sein konnten. (Zeremonie des Abschieds, S. 165) Sartres Leichnam wurde einige Tage später exhumiert, um auf dem Friedhof Père Lachaise eingeäschert zu werden. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, nicht in Père Lachaise zwischen seiner Mutter und Mancy begraben zu werden. Seine Asche wurde zum Grab in Montparnasse zurückgebracht, das bis heute eine populäre Pilgerstätte ist.
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28 Eine Art Fazit Wenn Sie jemand sind, der denkt, dass eine Biographie abrupt mit dem Tod des fraglichen Menschen enden sollte oder zumindest mit der Entsorgung seines Leichnams, brauchen Sie dieses Kapitel nicht zu lesen. Ein Grund, warum so viele von Sartres Werken unvollendet geblieben waren, ist, dass er es hasste, Schlussfolgerungen zu schreiben. Offensichtlich besaß er die Fertigkeit, eine Schlussfolgerung zusammenzuschustern, aber er fand Schlussfolgerungen künstlich; er hielt sie für ein literarisches Mittel, durch das ein Schriftsteller dem Leser den tröstenden Eindruck vermittelt, zu einem bestimmten Thema alles gesagt zu haben. Insbesondere ein philosophisches Werk ist niemals abgeschlossen. Wie immer es auch an seinem Ende erscheinen mag, wie ordentlich es auch mit großen Worten zusammengeschnürt ist, es gibt immer etwas, das ein philosophisches Werk noch gesagt haben könnte. Jedes philosophische Werk ist in Wahrheit nach hinten offen und Teil eines andauernden historischen Prozesses. Sartre wusste dies und die Offenheit seiner Werke ist eine offene Einladung, die Debatte fortzuführen. Sofern eine Biographie die Zusammenfassung eines Lebens ist, läuft die Schlussfolgerung einer Biographie Gefahr, die Zusammenfassung einer Zusammenfassung zu sein; sie läuft Gefahr, etwas zu sein, wodurch der Biograph den Leser zu dem zu lenken versucht, was er glaubt, dass der Leser über den Gegenstand der Biographie insgesamt denken soll, nachdem alles gesagt und getan ist – wie ein Richter versucht, die Jury am Ende eines Prozesses in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es widerstrebt mir, dies zu tun und auch nur so zu tun, als ob ich es täte, weil ich selbst nach vielen Jahren des Studiums unseres französischen Philosophen noch immer nicht sicher bin, was ich insgesamt über ihn denken soll. 247
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Wie kann ich so etwas nur sagen? Gewiss, diese Biographie ist das, was ich insgesamt über Sartre denke. Nun, ja und nein. Meine Sicht auf Sartre veränderte sich ständig während des Schreibens an dieser Biographie, als ich mehr und mehr über sein Leben erfuhr, und es würde sich zweifellos weiter verändern, wenn ich das ganze Buch noch einmal von vorne schriebe. Weiteres Reflektieren würde gewiss eine etwas andere Biographie hervorbringen. Wenn ich diese Biographie zehn Mal neu schriebe, sie zehn, zwanzig, fünfzig Mal länger machte, hundert Mal mehr Recherche machte, würde ich dann endlich Sartres wahres Wesen erfassen? Vermutlich nicht, weil, wie ich zu Beginn gesagt hatte, das Leben eines Menschen, sowohl während des Lebens als auch danach, ständig offen für Interpretationen und Wiederinterpretationen ist. Jede Biographie ist ein weiterer Versuch, ein Leben zu durchdringen, das eine weitere Lage von Interpretationen erzeugt, die von anderen durchdrungen werden wollen. Der Romancier und Biograph David Lodge wiederholt gerne: „Jeder Entschlüsselungsversuch ist zugleich eine neue Verschlüsselung.“ Vielleicht ist Sartres „bewundernswerter, aber verrückter“ Versuch, Flaubert zusammenzufassen, das sehr gesunde Experiment zu beweisen, dass Vollständigkeit unerreichbar ist. Denken Sie daran, was Hayman über den Feldzug gegen das Unbekannte gesagt hat. Die grundlegenden Fakten über Sartres Leben sind die grundlegenden, für alle Zeiten in Stein gemeißelten Fakten, Daten und so fort, aber der Rest ist mehr oder weniger willkürlich. Ich überlasse es Ihnen deshalb, sich auf der Basis des wenigen, das ich hier geschrieben habe, ihre eigenen Gedanken über Sartre zu machen. Es gibt bestimmt genug Material über Sartre, sowohl in der Welt als auch in der eigenen Vorstellung, dass jeder, der die Arbeit auf sich nehmen möchte, eine weitere Biographie, Pathographie oder Hagiographie über Sartre zu schreiben, die Der Idiot der Familie in den Schatten stellt, dies tun kann. Vielleicht könnte ihr Titel lauten: Das Genie der Familie. Für mich bleiben am Ende nur die abschließenden Klischees zu sagen, dass Sartre durch seine tiefgründigen und nach wie vor hitzig 248
Eine Art Fazit
debattierten Werke weiterlebt, so wie er es immer wollte. Er lebt auch weiter durch das Interesse, das Sie und ich und viele andere an seinem Leben haben und damit seine Reise weiterschreiben. Diese Biographie und die Tatsache, dass Sie sie gelesen haben, fügt dieser Reise ein paar zusätzliche kleine Schritte hinzu und ein paar neue Facetten zu einem bereits unendlich facettierten Phänomen. Trotz seines neurotischen Verlangens, einer der Götter und Unsterblichen der Philosophie und der Literatur zu werden – sein Verlangen, ein Name zu werden, der in einem Atemzug mit Platon, Descartes, Nietzsche, Proust, Flaubert oder Dickens genannt würde –, war Sartre weise und realistisch genug zu begreifen, dass es so etwas wie eine echte Unsterblichkeit nicht gibt. In Die Wörter akzeptiert Sartre, dass die sogenannte Unsterblichkeit jedes Schriftstellers und Denkers, jedes Philosophen, vollkommen von zukünftigen Generationen Sterblicher abhängt, die von seinem Leben und Werk wie auch von seinem Beitrag zur Geschichte des Denkens beeinflusst sind. Für Sartre gibt es kein Leben jenseits des Todes, außer im Geiste lebender Männer und Frauen, die des Verstorbenen gedenken, kein ewiges, metaphysisches Reich, in dem die Geister und ihre Gedanken verweilen. Und so wird Sartres Vermächtnis, seine relative Unsterblichkeit, mit dem Ende der Menschheit zu existieren aufhören. Bis dahin werden seine Gedanken unvermeidlich eine Rolle dabei spielen, die Welt der Zukunft zu formen, genauso wie sie eine Rolle dabei gespielt haben, die Welt unserer jüngeren Vergangenheit und unsere Gegenwart zu formen. Um mit einem leichteren Tonfall abzuschließen, gibt es fünf Wörter, die meine aktuelle Sichtweise Jean-Paul Sartres wiedergeben: genial, hartnäckig, fleißig, moralisierend und charismatisch. Welche sind Ihre?
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Bibliographie Werke Jean-Paul Sartres Der Aufschub. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. Baudelaire. Ein Essay. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1953. Bei geschlossenen Türen, in: Gesammelte Dramen Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 67–98. Die Eingeschlossenen, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 593–713. Der Ekel. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1971. Entwürfe für eine Moralphilosophie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2005. Die Fliegen, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 7–65. Fragen der Methode, 13. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983. Freud: Das Drehbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970. Herostrat, in: Die Mauer und andere Erzählungen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962, S. 87–113. Ist der Existentialismus ein Humanismus? Zürich: Europa 1947. Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1977. Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Mit einem Die Imagination, in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, S. 97–254. Der Intellektuelle als Revolutionär. Streitgespräche. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1986. Intimität, in: Die Mauer und andere Erzählungen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962, S. 115–167. Kean, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970. Die Kindheit eines Chefs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968. „Die Kommunisten und der Frieden“, in: Krieg im Frieden 1: Artikel, Aufrufe, Pamphlete 1948–1954. 1. Aufl. 1982 Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, 75–82. Kriegstagebuch: September 1939–Januar 1941. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994. Kritik der dialektischen Vernunft Bd. 1: Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1967. Die letzte Chance, in: Der Pfahl im Fleische. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. Die Mauer und andere Erzählungen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962. Nekrassov, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 467–591. Der Pfahl im Fleische. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. Die respektvolle Dirne. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965/1987. Saint Genet, Komödiant und Märtyrer. 1. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982. Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Bd. 2, hg. v. Traugott König. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1977.
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Bibliographie „Sartre über das Theater“, in: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931–1970. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1991. Die schmutzigen Hände. In: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 169–260. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962. Skizze einer Theorie der Emotionen, in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, S. 255–321. Der Teufel und der liebe Gott, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970. Tote ohne Begräbnis. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965. Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, S. 39–96. Die Troerinnen des Euripides, in: Gesammelte Dramen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 715–762. Überlegungen zur Judenfrage. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994. Was ist Literatur? Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1978. Die Wörter. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965. Zeit der Reife. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970. Das Zimmer, in: Die Mauer und andere Erzählungen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, S. 43–86.
Sonstige Werke Aron, Raymond: Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1957. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Hamburg: Europa 1994. Camus, Albert: Der Fremde. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994. Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1972. Cocteau, Jean: Kinder der Nacht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966. Cohen-Solal, Annie: Jean-Paul Sartre: 1905–1980. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1989. de Beauvoir, Simone, Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1986. de Beauvoir, Simone: Der Lauf der Dinge. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. de Beauvoir, Simone: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1986. de Beauvoir, Simone: „Merleau-Ponty et le Pseudo-Sartrisme“, Les Temps modernes 10. Paris: Éditions Julliard 1955, S. 2072–122. de Beauvoir, Simone: In den besten Jahren. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. 17. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2000. de Beauvoir, Simone: Sie kam und blieb. 4. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2004. Ehrenburg, Ilja: Tauwetter. 2. Aufl. Berlin: Verlag Kultur u. Fortschritt 1957.
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Bibliographie Eliot, George: Die Mühle am Floss (Reclams Universal-Bibliothek). Tübingen: Reclam 1986. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Vorwort von Jean-Paul Sartre. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Faulkner, William: Licht im August. 5. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2010. Flaubert, Gustave: Madame Bovary. München: dtv 2014. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. (Studienausgabe) Bd. 2 von 10. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 1989. Hayman, Ronald, Jean-Paul Sartre. Leben und Werk. München: Heyne 1988. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Philosophische Bibliothek Bd. 414. Hamburg: Meiner 1988. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen: Niemeyer 2006. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur: Buch I: Über den Verstand (Philologische Bibliothek). Hamburg: Meiner 2013. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur: Buch II: Über die Affekte Buch III: Über Moral (Philologische Bibliothek). Hamburg: Meiner 2013. Huston, John: An Open Book. London: Macmillan 1981. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Koestler, Arthur: Sonnenfinsternis. Coesfeld: Elsinor 2010. Lagache, Daniel: Les hallucinations verbales, OEuvres 1 (Paris: Presses Universitaires de France 2000). Lévinas, Emmanuel: Théorie de l’intuition dans la Phénoménologie de Husserl (Bibliothèque d’Histoire de la Philososphie). Paris: Vrin 1994. Lucács, György: Existentialismus oder Marxismus? Berlin: Aufbau 1951. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenlogie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter 1966/1974. Murdoch, Iris: Sartre: Romantic Rationalist. London: Vintage 1999. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (Reclam Universal-Bibliothek). Tübingen: Reclam 1988. Nizan, Paul: Das Leben des Antoine B. 2. Aufl. Köln: DuMont 2005. Nizan, Paul: Aden. Die Wachhunde. Zwei Pamphlete. Mit einem Vorwort von JeanPaul Sartre. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1969/1993. Perrin, Marius: Mit Sartre im deutschen Kriegsgefangenenlager. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1998. Rowley, Hazel: Tête-à-tête: Leben und Lieben von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Berlin: Parthas 2007. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Sämtliche Werke Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Sämtliche Werke Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Solschenizyn, Alexander: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. München: Droemer Knaur 1999.
252
Register A Die Abenteuer der Dialektik (MerleauPonty) 155 Aberglaube 138 Abhängigkeit (Sucht) 51, 231 Absurde, das 18, 47, 52 f., 58, 60, 69 f., 89 f., 197, 233, 245 Abtreibung 74, 95, 136 Aden. Die Wachhunde (Nizan) 176 Adoption 158, 193 f., 216 Afrika 27, 94, 136, 157, 231 agrégation 30 Ägypten 157, 201, 231, 236 f. Alcan 50, 60 Alger républicain 68 Algerien 132, 157, 161, 163, 201, 245 Algerischer Unabhängigkeitskrieg 162 f., 180–183, 185, 194, 196 Algier 101 Algren, Nelson 125, 128, 131 Alkohol 45, 147, 150, 214 f., 224, 236 Alleg, Henri 162 Allgegenwärtigkeit 17 f., 46, 117 Alliierte 90–94, 103–105, 112 Alliierte Bombardements 92–94, 103 Alliierte Invasion Frankreichs (D-Day) 104 Alphen, Henriette 27 Alquié, Ferdinand 89 Alter Ego 31, 50, 57, 74, 76, 131 Amphetamine 149, 163 f., 211 Amputation 229, 234 Anarchismus 39, 156, 211, 214 Angst 10, 35, 37, 52–54, 64, 67 f., 70, 76, 82, 92, 98, 114, 136, 138, 147, 149, 154, 183, 187, 196, 198, 200, 205, 209, 223, 234, 243 Anhänger 132, 168, 239 Anschluss 110, 244
Anschluss Deutschstämmiger 72 Antenne Deux 233 Antibes 182 Antibotschafter 179 Antibourgeois 103 Antifaschistisch 76, 183 Antimilitarismus 35 Antisemitismus 89, 107 Antoine Bloyé (Nizan) 45 Appeasement 73 Aprikosencocktails 43, 128, 241 Araber 156 f., 201 arabisch-israelischer Konflikt 201, 235, 237 Arbeitslager 131, 132, 135, 186, 198 f. Arbeitsurlaub 148, 153 Aristoteles 26 Ärmelkanal 83 Armut 59, 109, 156, 202 Aron, Raymond 26, 29, 42–46, 84, 108, 119 f., 128, 135, 188, 240 f. Arteriitis 203 Ärzte 54, 154, 165, 167, 220, 228, 242 Aspirin 163 Ästhetik 126 Atmungssystem 242 Atombombe siehe Nuklearwaffen Aufputschmittel 49, 52, 124, 149, 163 f., 167 Der Aufschub (Sartre) 47, 73, 75, 94 f., 100, 116 Augenlicht 16, 223, 228 Ausbildung 16, 19, 24, 35 Außenseiter 22, 115 Ausgangssperre 84, 92 Ausstellung der faschistischen Revolution 45 Authentizität 23, 78, 96, 114, 121, 131, 147, 219
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Register Autobiographie 10 f., 14, 30, 35, 119, 148, 153, 172, 186, 209, 217 f. Avantgarde 22, 24 Avignon 227 B Baader, Andreas 233 Baader-Meinhof-Gruppe (Rote Armee Fraktion) 233 Baby 13, 53, 74, 214 Baden-Baden 205 Bariona (Sartre) 85 Barnes, Julian 219 Bart 26, 79, 81, 232 Barthes, Roland 197 Bastille 181 Batista, Fulgencio (Präsident) 175 Baudelaire (Sartre) 102, 134, 147 Baudelaire 11, 102, 134, 147, 188 BBC 94 Beatlemania 199 Beauvoir, Hélène de (alias Poupette) 30, 244 Beauvoir, Simone de (alias Castor) 11, 26, 29–36, 38, 40, 42 f., 45 f., 48–59, 62 f., 71– 74, 76 f., 79–81, 84, 86, 88–95, 100–105, 108 f., 111, 113 f., 118 f., 124 f., 128 f., 131, 134, 136, 139 f., 142, 144, 151, 153, 155 f., 158 f., 164, 166–168, 172 f., 175 f., 179–184, 186, 189–191, 193, 196, 198 f., 201 f., 205, 208, 210, 213 f., 216, 219, 222, 224, 226 f., 230–232, 234–239, 242–244, 246 Bec de Gaz 43 Beerdigung 15, 28, 185, 222, 232, 243 f. Befreiung 20, 72, 103–105, 107, 113, 127, 152, 176, 207, 218, 226, 238, 244 Begeisterung 17, 24, 38 f., 61, 150, 166, 190, 199, 212, 226, 238 Begin, Menachem (Präsident ) 237 Beine 223, 229, 234, 236, 242 Belgien 82, 149 Belgrad 159, 179 Belletristik 40, 186 Benzinrationierung 92
254
Bergson, Henri 24, 244 Berlin 42–44, 48–50, 136, 150 Besessenheit 56, 74 Besetzung (Frankreichs) 85, 88 f., 91–93, 95, 103, 105–107, 114, 194, 205, 207, 216, 235, 244 In den besten Jahren (de Beauvoir) 35 f., 41, 43, 51, 53, 57, 63, 76, 86, 95, 114 betrunken 45, 124 Bewusstsein 24, 36, 43 f., 50, 54, 58, 63–65, 69 f., 82, 98 f., 116, 126, 134, 149, 157, 177 f., 182, 237 Biafra 212 „Bibel“ des Existentialismus 97, 215 siehe auch Das Sein und das Nichts Bibliothek 16, 22, 69, 123, 177, 187 Bibliothèque Nationale 29 Bier 40, 43, 46 Billancourt 154, 215 Biographie 10 f., 14, 21, 30 f., 35, 42, 44, 66, 69 f., 81, 89, 102, 119, 131, 134, 137, 142, 147 f., 153, 156, 158, 166, 172, 184, 186, 197, 209, 214, 217 f., 247–249 Bjurström, Carl-Gustav 191 Blindheit 86, 167, 229 Blitzkrieg 82 blonde Locken 16 Blutdruck 149, 165, 208, 215, 220, 234, 236 Bohemien 75 bolschewistische Revolution 179 Bomben 89, 92–94, 103, 113, 136, 182–184, 215, 234 Bonnafé, Alphonse 128 böse 17, 21, 53, 112, 138, 171 Bost, Jacques-Laurent (alias Kleiner Bost) 45, 49, 57 f., 61 f., 76, 79, 84, 90, 92, 94, 125, 175, 182, 184, 237, 243 Bost, Pierre 49, 61 Boulevard Edgar-Quinet 230 Boulevard Raspail 93, 182, 207 Boulevard Saint-Michel 23, 43, 58 Bourgeois/bourgeois 39, 67 f., 74 Bourgeoisie 16, 20, 22, 39, 136, 227 boxen 25, 40, 59, 84
Register Boxverein 40 Boyards Caporal 132, 164, 184, 234, 242 Braco 86 Brasilien 179 f., 212 Brasseur, Pierre 138 Brecht, Bertolt 149 Bref 194 Breschnew, Leonid (Präsident ) 197 Briefe 28, 36, 42, 61, 80 f., 84, 111, 136, 138, 172, 180 f., 191, 201, 210, 231, 234 Brillengläser 235 Broadway 118, 132 Bronchitis 227 Broussais-Krankenhaus 242 Brumath 81 Brüssel 185, 221 Budapest 159 bürgerlich 13, 27, 35, 37, 66, 81, 90, 116, 120, 136, 140, 148, 154, 158, 166, 186–188, 194, 202, 205, 209, 211, 214, 239 C Café Cintra 76 Café Coupole 93, 212 Café Flore 72, 93, 95, 105 Cafés 40, 49, 62, 92 f., 111, 245 Camembert 196 Camus, Albert 68, 70 f., 94 f., 101, 103–105, 108, 112, 124 f., 135, 139–143, 157, 168, 175, 188, 191 Capri 162, 235 Carter, Jimmy (Präsident) 237 Casarès Maria 101, 140 Castor siehe Beauvoir, Simone de Castro, Fidel (Präsident) 175 f., 216 Cau, Jean 123 f., 150 f., 183 Ce Soir 68 Champagner 208 Chantilly 104 Chaplin, Charlie 108 Charles Porta Turnhalle 40 Chartres 104 Chirac, Jacques (Premierminister) 234 Christlich 19, 127
Chruschtschow, Nikita (Präsident) 159 f., 186, 189, 197, 207 Churchill, Winston 94, 103 Cité Universitaire 29, 31 Civil Rights Movement 110 f., 122 f. Clèves, Gérard de 239 Cocteau, Jean 101 Cohen-Solal, Annie 22, 42, 47 f., 140 f., 192 Cohn-Bendit, Daniel 204, 212, 222, 233 Collège de France 146 Colonna d’Istria, François 24 f. Columbia University 118 Combat 101, 104 f., 108, 112 Comichefte 17, 21, 109 Commentaire 88 Conditio humana 44, 75, 98, 100, 165, 187 Corneille, Pierre 17 Corydran 163–167, 198, 211, 229 Cosman, Carol 217 D Dänemark 128, 200 Deleuze, Gilles 221 Demokratie 110, 120, 123, 130, 135, 203 Demonstrationen 46, 183, 185, 199, 204– 206, 212, 215, 221, 235, 244 Descartes, René 26, 33, 50, 132, 244, 249 Deshayes, Richard 216 Detektivgeschichten 109, 227 Deutschland 15, 21, 38, 44–48, 59, 72 f., 76– 78, 81–84, 86 f., 90–92, 94, 104 f., 131, 135, 137, 147–149, 151, 170 f., 179, 205 f., 232 f. Diabetes 229 Dialektik 98, 177 Dichtung 126 Dickens, Charles 17, 24, 249 Diderot, Denis 244 Diktatur 159, 175, 179, 186, 190 Dilettantismus 24 Diplomatie 150 Dissidenten 181, 235 Dogmatismus 127, 130, 135 Dos Passos, John 40, 73, 110 Dostojewskij 61, 186
255
Register Dramatiker 11, 28, 85, 101, 149, 155, 194 Dreiecksbeziehung 57 f., 104 Dreyfus-Le Foyer, Henri 88 3. Armee (US-amerikanisch) 105 Drittes Reich 89, 94 Drogen 54, 69, 173, 177, 184, 214 Dubček, Alexander 203 Dublin 173 Dullin, Charles 28, 61, 95, 202 Dumas, Alexandre 146 f. Dünkel 22 Dünkirchen 85 Dürer, Albrecht 61 E Eklektizismus 24 École normale supérieure (ENS) 24–30, 36, 39, 51, 84, 190, 199 Ehrenburg, Ilja 189 Ehrendoktorwürde 235 f. Ehrenlegion 27, 67, 191 Eifersucht 57, 112, 129, 189 Einäscherung 246 Die Eingeschlossenen (Sartre) 53, 166–172, 190, 193 f., 196 siehe auch Die Verurteilten von Altona Eitelkeit 101, 140–142 Der Ekel (Sartre) 28, 31, 37 f., 50, 53, 61, 67– 70, 75, 95, 120, 142, 148, 187, 231 Ekel 69, 83 El Alamein 94 elektrischer Rasierer 232 Eliot, George 31 Elisabeth, Prinzessin 131 Elkaïm-Sartre, Arlette 157 f., 168, 172, 193 f., 201, 213, 216, 219 f., 227, 230–232, 236 f., 242–244 Elsass-Lothringen 15, 78, 81 Élysée-Palast 205 f., 240 England 27 Engstirnigkeit 16, 20, 22, 67, 127, 223 Enterokolitis 13 Entfremdung 70, 170 Entführung 222
256
Enthusiasmus 9, 24, 31, 95, 176, 235 Entwürfe für eine Moralphilosophie (Sartre) 121 f. Ermordung 90 f., 96, 114, 129, 162, 182, 222, 230 Erniedrigung 100 Erschöpfung 44, 50, 52, 80 f., 99, 151, 167, 173, 200, 233, 241 Eshkol, Levi (Premierminister) 201 Establishment 26 f., 192, 198 f., 204, 212 f. Ethik 25 f., 39, 121 f., 127, 129, 131, 134, 210 Euripides 194 f. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 148 f. Exhumierung 246 Existentialismus 70, 75, 96 f., 106, 114–116, 119, 127, 133, 141, 150, 161, 163, 177, 190, 196 f., 215 Ist der Existentialismus ein Humanismus? 9, 116, 223 Existentialismus oder Marxismus (Lukács) 133 Existentialist 35 f., 119, 132, 142, 231 existentialistische Psychoanalyse 14, 134, 142, 161, 217 Existenz 18, 52 f., 67–70 Existenzberatung 222 Existenzphilosophie 115, 190 F Fahrkartenkontrolleur 18 Fahrrad 90 f., 94, 100 „Faktum über Kontingenz“ 37, 43, 46, 50, 61 Familienstammbaum 14 Fanon, Frantz 182 Faschismus 45, 108, 135, 146, 159, 168, 183, 221 Faulkner, William 40, 110 Faux, Claude 183, 190 Feigheit 104, 106, 113 Feminismus 33, 109 Ferien (Urlaub) 28, 36, 42, 45, 48 f., 51, 59,
Register 76, 90, 112, 118, 128 f., 132, 136, 139 f., 148, 153, 158, 175, 191, 207, 213, 216, 227, 234 Fiktion 97, 227 Finnland 128 Flashbacks 51, 54 Flaubert, Gustave 11, 14, 17, 147, 153, 158, 162, 184, 188, 190, 197 f., 209 f., 214, 217– 219, 223, 248 f. siehe auch Der Idiot der Familie Die Fliegen (Sartre) 92, 94–97, 103, 161, 194, 207 Fliegeralarm 92 Flucht 64, 85–87, 180, 183, 188 Die Folter (Alleg) 162 Folter 104, 113–114, 162–163, 180, 200, 228 Frankreich 22, 24, 30, 36, 40, 44, 48, 72, 76 f., 82 f., 86, 90, 94, 100, 103 f., 108 f., 112, 115, 118–120, 125, 130 f., 136, 148–150, 152 f., 156 f., 163, 168, 175, 179, 181 f., 185, 197 f., 203, 205–207, 213, 222, 227, 231 f., 244 f. Foucault, Michel 197, 220 f. France-Observateur 175 Franco-Sowjetische Vereinigung 151, 160 frankophile Nazis 87 Französische Armee 82, 180, 205 Französische Nationalversammlung 206 französische Provinz 15, 34–36, 41, 45, 93, 129 französische Riviera 216 französische Widerstandsbewegung 105 f., 113, 181, 244 Frauen 28, 30, 34, 48, 71 f., 75, 85, 109, 111, 122, 132, 147, 157, 169, 188, 194 f., 212, 228, 230, 235–237, 246, 249 Freie Französische Befreiungsarmee 105 Freie Französische Streitkräfte 83 Freiheit 14, 24, 31, 34–36, 48 f., 63, 70, 75, 80, 84, 96, 98 f., 111 f., 115, 121, 123, 127, 131–133, 137 f., 150, 160, 177–179, 183, 189, 195, 199, 203, 219 Der Fremde (Camus) 70, 94, 142 Freud. Das Drehbuch (Sartre) 166, 172, 174 Freud, Sigmund 14, 33, 64, 166 f., 174, 193
Friedensbewegung 150, 156 Friedhof Montparnasse 11, 63, 230, 245 f. Front de libération nationale (FLN) 156, 180–182, 185 Frühreife 17, 187 Frustrationstheorie (der Emotionen) 65 fundamentale Entscheidung (Selbstwahl) 18, 75, 142, 218 G Gallimard (Éditions Gallimard) 61, 108, 192, 213 f., 217, 238 Gallimard, Gaston 61, 168, 175 Gallimard, Michel 175 Gallimard, Robert 168 Galster, Ingrid 88 Gare de l’Est 77 Gauche Prolétarienne 222, 238 Gauchisten 211, 213 Gaulle, Charles de (Präsident) 83, 91, 128, 167, 181 f., 185, 199, 201, 205 f., 210, 212 Gaullisten 119, 206, 241 Gavi, Philippe 227, 232 Gefangenschaft 60, 83–86, 90, 103, 113 f., 131 Gegenseitigkeit 71 Gehirn 215, 220, 227, 229, 242 Geismar, Alain 212, 215 Der Geist Stalins (Sartre) 160 geistige Gesundheit 21 geistige Krankheit 52 Geld 21, 74 f., 103, 118, 132, 187, 190, 192, 198, 222, 226 f., 232, 238 f. Genet, Jean 11, 101 f., 134, 137, 142 f., 188, 220 Genie 9 f., 19, 25, 98, 142, 146, 191, 218, 248 f. gepanzerte Tür 234, 240 gescheit 30 Geschichte (Weltgeschichte) 27, 32, 73 f., 78, 105, 107, 121 f., 149, 162, 177–179, 190, 210, 233 f., 245 Geschlossene Gesellschaft siehe Bei verschlossenen Türen
257
Register gesunder Menschenverstand 165 Gesundheit 13, 17, 58, 163, 203, 208, 214 f., 223 f., 229, 232 f. Gewalt 119, 122–125, 133, 136 f., 139, 142, 183, 185, 197, 205, 233 Gide, André 90, 135 Giscard d’Estaing, Valéry (Präsident) 231 Gobeil, Madeleine 196 Gorz, André 238, 243 Gott 96, 137 f., 195 Götter 195, 249 Grab 246 Griechenland 59, 62, 159, 195, 199, 232, 234 Großbritannien 74, 77, 159 Großer Schritt vorwärts 156 großes Tier 133, 144 grüner Star 228 Guevara, Che 176 Guillemin, Louise (Großmutter) 15 Gulags siehe Arbeitslager Guppy, Shusha 155 Guru 114, 172 H Hagiographie 248 Hakenkreuz 46, 59, 105 Halimi, Gisèle 230 Halluzinationen 50 f., 53 f., 242 Harem 134, 168, 193 Harvard-Universität 118 Hässlichkeit 48, 71, 80, 165, 172, 174, 221 Hausfrau 34, 92 Havanna 133 Hayman, Ronald 81, 107, 138, 145, 187, 193 f., 210, 230, 248 Hebräische Universität Jerusalem 235 Herz 34, 61, 126, 136, 165, 167, 182, 208, 215, 242 Herzattacke 208 Hitzewelle 131 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 98, 139, 190 Heidegger, Martin 24, 44, 46, 72, 79, 84, 86, 98, 144, 188
258
Heiliger Geist 19, 165 Heirat 13–15, 20, 27, 34, 58, 74, 96, 118, 174, 193 Helsinki 156, 197 Hemingway, Ernest 108, 133, 144, 188 Herbaud, André siehe Maheu, René Herostrat (Sartre) 60 Herriot, Edouard (Premierminister) 26 Hetzjagd 153 Hexenjagd (Miller) 158 Hindenburg, Paul von (Präsident) 48 Hiroshima 171 Hitler, Adolf 47 f., 72 f., 77, 82, 112, 128 Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt 90 „Hoffnung jetzt“ (Sartre) 239 von Hofmannsthal, Hugo 38 „Die Hölle, das sind die anderen!“ 21, 104 Hollywood 86, 166, 172 f. Holocaust 171, 194 Homosexualität 95 Hotel Printania 39 Hume, 97, 132 Hummer 52, 59, 62 Hunde 53 Husserl, Edmund 24, 43–46, 48, 50, 60, 79, 98, 144 Huston, John 166, 168, 172–174, 215, 224 Huxley, Aldous 40 Hysterie 138, 165 I Ideologie 90, 119, 122, 127, 154, 158, 188, 198 Der Idiot der Familie (Sartre) 147, 153, 162, 197, 209–211, 214, 216–219, 223, 228, 248 ikonoklastisch 116 Das Imaginäre (Sartre) siehe Psychologie der Einbildungskraft Die Imagination (Sartre) 60 Imperialismus 27, 136, 152, 157, 183, 199, 233 Index Librorum Prohibitorum 132 Individualismus 47, 115, 133 Informant 87 Inkontinenz 224 Institut Catholique 29
Register Institut Sainte-Marie 29 intellektuelle Entwicklung 16, 218 intellektueller Pfleger 230 Intellektuelle 22, 27, 47, 81, 87, 90 f., 96, 101–103, 107, 110, 119 f., 158, 161, 180 f., 197 f., 202, 205, 210, 212, 215, 227, 230, 232, 239 f., 244 Der Intellektuelle als Revolutionär ( Sartre) 227, 230, 232, 239 Intentionalität 50, 64, 99 Internationales Recht 202 Intimität (Sartre) 57, 60, 76 Invasion 74, 104, 136, 149 Inzest 170, 193 Irland 172 Island 139, 189 Italien 45 f., 59, 72, 101, 119, 140, 144, 148, 151, 166, 182, 199, 211, 232, 238 J Jankélévitch, Vladimir 107 Japan 34, 91, 113, 199 Jardin du Luxembourg 19, 23, 27 Jean-Paul Sartre: 1905–1980 (Cohen-Solal) 22, 42, 47 f., 140 f., 192 Jean-Paul Sartre. Leben und Werk (Hayman) 81, 107, 138, 145, 193 f., 210, 230 Jeanson, Francis 139 f., 168, 180 f. Jeanson Netzwerk 180 Jerusalem 235 Jollivet, Simone 28, 61, 71, 169, 202 Joyce, James 40 Juden 46, 82, 87–89, 92, 107, 194, 201, 216, 231 jüdisch 107, 185 f., 194, 231 Judentum 107, 231 Jugoslawien 179, 211 July, Serge 228 Junas 232, 236 Jungfrauen 71 f. K Kaffee 40, 95, 164 Kafka, Franz 61
Kalter Krieg 130, 146, 153 Kanada 118 Kant, Immanuel 26, 33, 79, 97, 121, 132 Kapitalismus 91, 120, 133, 149, 153 f., 159, 170 f., 189, 198 f., 206, 212 Karibik 133 Karikatur 143, 153, 216 Kasper 103 Kategorischer Imperativ 121 Katholische Kirche 132, Kean (Sartre) 10, 146 f., 170 Kibbuze 201 Kierkegaard, Søren 79, 190 Kiew 191 Kinder 15–17, 21, 53, 76, 134, 195, 198, 200, 205, 212 Kindheit 11, 13, 16, 19 f., 28, 60, 109, 118, 136, 209, 217 f., 225 Kindheit eines Chefs (Sartre) 18, 60, 66 f. Kino 39, 92, 102, 108 kleinbürgerlich 29 kleiner alter Mann 224 kleiner Ehemann 81 Klimaanlage 167 Koestler, Arthur 124 Koestler, Mamaine 124 Kollaboration 87, 89–91, 102, 105 f., 112, 123, 239, 241 Kolonialismus 68, 110, 157, 161, 176, 182– 185, 194 f., 202, 212 Koma 208, 243 Kommunismus 119, 125, 130, 135 f., 145, 154, 156, 160 f., 207, 211 Kommunisten 91, 115, 120, 127, 133, 139, 144 f., 150 f., 160, 183, 197, 205, 211 Die Kommunisten und der Frieden (Sartre) 144 f., 149, 160 Konflikt 20 f., 103 f., 157 f., 175, 201, 235 König Lear 227 konservativ 16, 112, 128, 133, 139, 153 f., 180, 205, 209, 211, 213, 229, 234, 240 Kontingenz 37, 43, 46, 50, 61, 67, 70, 187 kontingente Liebe 34, 56, 71 Kopenhagen 202
259
Register Kopfschmerzen 81, 167, 208 Koreakrieg 136, 149 Körperhygiene 25, 79 Korsika 76 Kosakiewicz, Olga (alias die kleine Russin) 54–62, 65, 72, 74, 92, 104, 111, 169 Kosakiewicz, Wanda 58, 72, 80 f., 92, 111, 129, 136, 147, 155, 168, 220, 232, 236 Kossygin, Alexei 197 Krabben 53, 170 Krankenhaus 57 f., 84, 136, 150 f., 180, 208, 244 Krankenpfleger 243 Krawtschenko, Wiktor 132 Kreta 13 Kriegsgefangener 84, 90, 131, 183 Kriegstagebücher 79, 184 Kriegsveteranen 181, 205 Kritik der dialektischen Vernunft (Sartre) 115, 155, 161–163, 176 f., 187 Kritik der reinen Vernunft (Kant) 97 Krivine, Alain 210 f. Krustentiere 51, 53, 67 Kuba 175 f., 179, 216, 240 kubanische Revolution 176 kubanische Zigarren 176 Kunst 9, 31, 39, 84, 95, 102 f., 109, 125–127, 132, 143, 171, 186–189, 239 Küssen 42, 243 Kyoto-Universität 199 L La Cause du peuple 212 f., 220, 222, 229 La Nouvelle Revue Française 40, 60 f. La Pouëze 93 f., 103, 113, 129, 134 La Rochelle 20–22, 41 lächerlich 34, 38, 74, 128, 172 Lagache, Daniel 26, 51 Langeweile 35, 218 Lannes, Annie 28, 193 Lanson, Gustave 26, 188 Lanzmann, Claude 153, 155, 158 f., 175, 201, 243 Laon 59, 82
260
Lassithiotakis, Hélène (alias Melina) 232, 235–237 Der Lauf der Dinge (de Beauvoir) 119 Le Bon, Sylvie 216, 222, 2242, 232, 236, 238, 243 f. Le Bris, Michel 212, 215 Le Dantec, Jean-Pierre 212, 215 Le Figaro 110–112 Le Figaro littéraire 135 Le Havre 35, 37, 39, 41 f., 44 f., 49 f., 59, 93, 128 Le Monde 130, 210, 235 Le Nouvel Observateur 237, 239, 241 Lebensmittelvergiftung 72 Leberinfektion 167 Lecarme, Jacques 88 Lefebvre, Henri 203 Leibniz, Gottfried Wilhelm 31 Leiche 114, 208, 212, 238, 243–247 Leichenbestatter 245 Leichenwagen 244 f. Leiris, Michel 108 Leningrad 150, 197 Les Enfants Terribles (Cocteau) 101 Les Lettres françaises 132 Les Temps modernes 88, 107 f., 116, 119 f., 125, 128, 134–136, 139 f., 142, 144 f., 149, 153, 157, 160 f., 163, 180, 182, 190, 214, 235, 238 Lesehilfe 228 lesen 11, 14, 16f-, 25, 43, 46, 61, 69, 76, 89, 93, 97, 125, 127, 141–143, 177, 213, 218, 227– 229, 247, 249 Die letzte Chance (Sartre) 131 Lévinas, Emmanuel 43 Lévi-Strauss, Claude 146, 197 Lévy, Benny (alias Pierre Victor) 212, 227, 230–233, 235–239, 243 L’Express 159, 163, 167 Libération 146, 226–228, 232, 235 Licht im August (Faulkner) 110 L’Idiot international 214 Liebe 16 f., 20, 22, 25, 31, 33–36, 38–40, 42,
Register 56, 69, 71, 81, 85, 100, 118, 125, 138, 148, 169, 174, 202, 210, 237, 243 Ligue communiste révolutionnaire 210 Limoges 15 Linguistik 145, 197 linksextrem 47, 125, 135, 196, 211 f., 216, 234 Linsentrübung 16 Literatur 9, 23, 25, 31, 34, 40, 46, 68, 88, 91, 95, 102, 108, 110, 125–127, 142 f., 184, 186– 188, 190–193, 210, 229, 247, 249 siehe auch Was ist Literatur? Literaturkritik 40, 110 Lodge, David 248 Logik 26, 32, 39, 96, 193 London 83, 108, 128, 139 London Review of Books 219 Lukács, György 133 Lungenentzündung 57, 62 Lungenödem 242 Luxemburg 85 Lycée Condorcet 88 Lycée François Ier 35, 40 Lycée Henri IV 20, 23 Lycée Louis-le-Grand 24 Lyon 29, 94 Lyre Havraise 40 M Macht und Freiheit (Sartre) 239 Madame Bovary (Flaubert) 214 Madame Z. siehe Zonina, Lena Magenkrämpfe 200 Magie 64 f. magischer Realismus 143 Magny, Colette 221 Maheu, René (alias André Herbaud) 30 f., 84, 190 Maiaufstände (Frankreich 1968) 203, 211, 215 Mali 136 Mallarmé, Stéphane 131, 134, 147 Malraux, André 90, 108 Mancy, Joseph (Stiefvater) 20, 22, 76, 112, 188, 246
„Manifest der 121“ 180 f. Männlichkeit 53, 74, 77 Mao Zedong 156 Maoismus 211, 214–216, 221–223, 231 Marcel, Gabriel 114 Marcuse, Herbert 207, 232 Marine 13 Marne (Fluss) 82 Marokko 72, 136 Marseilles 36, 42, 76, 153 Marx, Karl 33, 81, 119, 138, 145, 154, 177 f. Marxismus 27, 33, 107, 115 f., 119 f., 127, 130, 133, 135, 137 f., 140, 142, 145, 147, 149, 151, 154 f., 158, 161–163, 170 f., 177 f., 197 f., 202 f., 217, 240 Masochismus 71, 100, 217 Massu, Jacques (General) 205 Die Mauer (Sartre) 60 f., 113, 188 Die Mauer und andere Geschichten 75 Mauriac, Claude 221 Mauriac, François 146, 221 McCarthyismus 153, 158 Mittelmeer 36, 94 Melancholia (Sartre) 61 Melencolia (Dürer) 61 Melina siehe Lassithitakis, Hélène Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (de Beauvoir) 30 f., 33 Der Mensch in der Revolte (Camus) 139– 141 Merleau-Ponty, Maurice 90 f., 108, 125, 134–136, 145 f., 155, 158, 161, 182, 188 „Merleau-Ponty und der Pseudo-Sartreismus” 155 Meskalin 51–55, 60, 69 Metaphysik 31, 39, 231, 249 Meteorologie 35, 77 f. Meudon 15, 19 Mexiko 212 militant 192, 204, 206, 212, 216, 221 Militärdienst 34 f., 37, 84 Miller, Arthur 158 Minute 213 Misanthropie 69
261
Register Misfits (Huston) 174 Mitte-links 228 Mittelamerika 133 Mittelschicht 67, 109, 136 siehe auch Bourgeoisie Mobbing 21 Mogul 172 Molotowcocktails 204 Morddrohungen 234 moralische Erziehung 16 Moralität 11, 47, 75, 84, 89, 91, 113, 121 f., 127, 133, 138, 140, 175, 201, 207, 221, 249 Morel, Madame 93 f., 100, 129 Morsbronn-les-Bains 81 Moskau 150, 191, 199 Moskauer Prozesse 125 Mouvement du 22 mars (M22M) 204, 212 Mühle am Floss (Eliot) 31 Mumps 119 Münchner Abkommen 72 Murdoch, Iris 38 Musik 26, 84, 109, 126, 236 Mussolini, Benito 45 Mut 106, 123, 131 My Lai, Massaker von 211
Nekrassov (Sartre) 153–155, 170 Neuilly-sous-Clermont 104 Neujahr 48, 208 Neurose 187, 189, 210, 249 New York 17, 109–111, 118, 196 Nichtsein 98 f. Niederlande (Holland) 82, 124, 147 Nieren 242 Nietzsche, Friedrich 24, 37, 238, 249 Nihilismus 60, 70, 127 Nikotin 164 „Nitre und Sarzan“ 23, 27 Nizan, Paul 23–28, 30, 37, 45, 47, 61, 68, 76, 54 f., 176, 198 Nobelpreis 15, 146, 157, 191 f., 196, 213, 235 Nogrette, Robert 222 Nordafrika 27, 94, 231 Norwegen 139 Nostalgie 241 Notizen 37, 66, 76, 84, 110, 127, 184 notwendige Liebe 34, 36, 56, 71 notwendiges Wesen 66 NSDAP 144 Nuklearwaffen 113, 146 Nürnberger Prozesse 200
N Nachmittagsschläfchen 167 Nacktheit 100 Nagasaki 199 Naher Osten 27, 201, 236 f. Naivität 37, 81, 88, 90, 108, 119, 124, 135, 140, 156 f., 207, 240 Napalm 198, 200 Napoleon 199 Narzissmus 21 f., 140 Nasser, Gamal Abdel (Präsident) 201 Nationales Vietnam-Komitee 204 NATO 149 Nazis 46, 47, 72, 83–87, 89 f., 102 f., 106 f., 133, 145, 151 f., 170 f., 194, 233 Neapel 220 Negation 98 Nekrasov, Nikolay 156
O Obszönität 39, 100 f. öffentliche Meinung 200 Office de Radiodiffusion Télévision Française 234 ontologisch 37, 97, 144 Optimismus 70, 110, 115, 132 Organisation de l’armée secrète (OAS) 181–184, 207, 230, 234 Orphée (Cocteau) 101 Orthedrin 164 Ostern 48, 58, 93, 103, 238 f. Österreich 72, 151 Ostraconophobie 53 Overney, Pierre 222
262
P Padoux 82
Register Paese Sera 207 palästinensisch 201, 212, 236 Paparazzi 242 Paralyse (Lähmung) 205, 208, 227, 234 Paris 11, 13, 15, 19, 22–24, 28 f., 34–36, 42 f., 49, 51, 59, 61, 63, 68, 72, 76, 78, 81–83, 86–89, 91–96, 101–107, 109, 111 f., 114, 116 f., 125, 131, 136, 139, 147 f., 150 f., 157, 159, 161, 167 f., 172, 174–176, 180–183, 184, 190 f., 194, 197, 199, 201, 203, 205 f., 211, 213 f., 216, 222, 230, 232, 235–237, 244 f. Parti communiste français (PCF) 27, 86, 90, 108, 130 f., 133, 139 f., 151, 159–161, 205 f., 222 Pascal, Blaise 244 Pasternak, Boris 192 Pathé 102 Pathographie 248 Patriotismus 122 Paulhan, Jean 61, 108 Pearl Harbor 91 Péju, Marcel 180 Père Lachaise (Friedhof) 246 peripherische Emotionstheorie 63 Perrin, Marius 86 persönliche Identität 137, 147 Pessimismus 49 Pétain, Philippe (Marschall) 83 Pfaffenhofen 15 Der Pfahl im Fleische (Sartre) 82 f., 131 Pfeife 9, 31, 40, 42, 46, 93, 123, 164, 184, 242 Phänomenologie 43 f., 46, 50, 54, 60, 63, 116, 144, 146, 241 Phänomenologie des Geistes (Hegel) 98 Phänomenologie der Wahrnehmung (Merleau-Ponty) 146, 155 Philosophendichter 39 Philosophie 18, 20, 22, 24–26, 30 f., 33 f., 38, 40 f., 43 f., 46, 48 f., 58, 70, 74 f., 79 f., 83, 86, 88 f., 97–99, 115 f., 121 f., 137, 139 f., 146, 157, 161 f., 168, 197, 204, 232, 236, 239, 245, 249 Philosophiegeschichte 26, 80, 97, 132, 249 philosophische Psychologie 98
philosophischer Roman 38, 61, 70 Picasso, Pablo 95, 103 Plastiksprengstoff 182, 240 Platon 26, 32, 249 Playboy 196 Polemik 120, 141, 240 Polen 42, 73, 77, 82, 84, 159, 161 Politik 44, 47 f., 59, 73 f., 108, 110, 124 f., 127–129, 146, 148, 196, 210, 222, 233 politische Gefangene 233 politisch links 27, 47, 59, 91, 110, 112, 115, 119 f., 125, 133, 135 f., 140, 145, 155, 157, 179 f., 196, 199, 206, 210–216, 222, 226– 228, 232–234, 240 politisch rechts 46 f., 91, 115, 119, 128, 130 f., 133, 139, 153 f., 156, 168, 180 f., 204, 213, 229, 234, 240 Polizei 83, 125, 181, 183–185, 203–206, 212 f., 220, 240, 245 Polygamie 34 Pompeji 220 Pouillon, Jean 238, 242 f. Poulou (Jean-Paul Sartre als Kind) 13, 16, 21, 187, 189, 208 Poupette siehe Beauvoir, Hélène de Prager Frühling 203, 207 Pragmatismus 88 f., 129, 187, 194 Presse 128, 139, 150, 153–155, 176, 191, 199, 216, 221, 230, 233, 240, 243 preußisch-französischer Krieg 15 Proletariat 81, 135, 144, 149 f., 205, 212, 215, 222 prominent 90 Propaganda 87, 111, 130, 133 Prosa 120, 126, 148, 186 protestantisch 16 Proust 23 f., 249 Prüfungen 10, 22, 24, 29–34, 42 Pseudophilosophie 140 Pseudo-Sartre 155 Die Psyche (Sartre) 63, 65 f. Psychiater 51, 222, 222 Psychoanalyse 64, 134, 142, 147, 158, 161 f., 166, 187 f., 197, 209, 217
263
Register psychogastronomischer Nebeneffekt 52 Psychologie 26, 34, 39, 50 f., 53 f., 60, 63, 98, 102, 113, 121, 130, 148, 178, 183, 209 f., 217 Psychologie der Einbildungskraft (Sartre) 50, 54, 60 „Psychologie und Logik“ (Sartre) 32 Psychose 51 Puig, André 190 Q Quietismus 211 R Racine 223 radikale Veränderung 96, 129, 138, 161, 197, 219 Radio 94, 102, 128, 205, 228, 234 Radio Luxembourg 205 Rassemblement démocratique révolutionnaire (RDR) 130–135 Rassismus 67, 111, 122 f., 183, 230 Realismus 115, 143 Realität (Wirklichkeit) 9, 17, 33, 37, 54, 63, 79, 92, 99, 108, 130, 143, 187, 229 Rebellion 22, 144, 198, 205 f. Rechte 66, 110, 130, 156, 163, 222, 233 rechtsextrem 46 f. Red Gloves 132 regressiv-progressive Methode 161 f. Reich der Zwecke 121 Reife 17, 27, 57, 74 f., 77, 109, 135, 187, 196 Reisegefährte 27, 108 Rembrandt 132 Renault 215 f., 221 f. repressiv 188, 221 Die respektvolle Dirne (Sartre) 110 f., 122, 128 f. Revolution 45, 107, 119, 123, 125, 149, 159, 175 f., 179, 181, 205–207, 210 f., 214–216, 223, 234, 237, 241 Rey, Evelyne 155, 157, 168, 194, 200 Ricœur, Paul 146 Rippenfellentzündung 200
264
Rollstuhl 158, 234, 236 Rom 45, 59, 146, 159, 162, 166–168, 182, 186, 191, 207, 214, 220, 224, 232, 235 f. Romancier 49, 61, 68, 74, 125, 142, 210, 248 romantisch 31, 39, 47, 81, 109, 141, 146, 169, 175, 186 Roosevelt, Franklin Delano (Präsident) 112 Rosen 145 Rosenberg, Ethel 146 Rosenberg, Julius 146 Roskilde 202 Rote Armee Fraktion siehe Baader-Meinhof-Gruppe Rote Armee (Sowjetrussland) 94, 160 „rotes Krebsgeschwür der Nation“ 213 Rothschilddynastie 228 Rouen 42, 49, 51, 54, 56, 59, 93 Rouleau, Raymond 101 Rousset, David 130, 135 Rowley, Hazel 134, 200, 236 Royale Air Force (RAF )103 f. Rue Bonaparte 123, 182 f. Rue d’Ulm 29 Rue Jean-Paul Sartre 41 Rue Le Goff 19 Rue Montparnasse 43 Ruhm 122 Russel, Bertrand 199–202, 207, 212 Russel-Sartre-Tribunal 199–202, 212 russische Front 94 Russland 76, 90, 101, 103, 131 f., 135, 149– 151, 154, 156, 186, 189, 196, 198, 202, 207, 216, 235 S sabbern 223, 234 Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Sartre) 102, 134, 137, 142, 147, 161 Sarg 244 f. Mit Sartre im deutschen Kriegsgefangenenlager (Perrin) 86 Schach 82 schielen 16, 87, 172
Register Schläfrigkeit 223 Schlaganfall 165, 208, 215, 219 f., 224, 227, 236 schlechte Rezensionen 95, 139 f., 155 Die schmutzigen Hände (Sartre) 129–132, 137 Schnurrbart 66 f. schreiben 11, 14, 17–19, 22, 31, 35, 40, 45, 49 f., 59 f., 68–70, 78–83, 85, 93 f., 101, 105, 110, 113, 118, 120, 124–126, 129, 132, 136–138, 140 f., 147 f., 151, 153, 160, 164, 166 f., 179 f., 182 f., 186–189, 191, 194, 197, 209, 211, 218 f., 223 f., 227, 229, 248 f. Schreibtischaktivismus 145 Schriftstellerverband 179, 186, 189, 198, 202 Schuld 87, 96, 107, 113 f., 148, 170, 188, 194 f., 200, 202, 223 Schwarzfahrer 18 Schwarzhemden 45 Schwarzmarkt 88 Schweden 128, 200 Schwedische Akademie 191 Schweiz 119, 220, 232 Schwindelanfall 116, 165, 167, 214 Sein Für-sich-Sein 18, 54, 67, 98 Für-andere-Sein 20, 67, 98, 100, 104, 114, 179, 219 An-sich-Sein 18 In-der-Situation-Sein 23, 78–80, 96, 115 Das Sein und das Nichts (Sartre) 63 f., 71, 80, 83 f., 94, 97–100, 104, 110, 115 f., 121, 141 f., 147 f., 162, 177 f., 231, 245 f. Sein und Zeit (Heidegger) 98 Seine (Fluss) 51, 124, 184 Selbstmord 112, 124, 200 Sieg der Alliierten in Europa 112 Sinnlosigkeit 60, 69 f. Skizze einer Theorie der Emotionen (Sartre) 63 Sonnenfinsternis (Koestler) 124 sowjetischer Schriftstellerverband 186, 189 Das Spiel ist aus (Sartre) 102
Spielplatz 16 Sterblichkeit 98 Stockholm 202 Straßburg 78 Streik 205, 212 Streit 49, 124 Strukturalismus 145, 197 f. Student 25, 27, 29 f., 33 – 34, 37, 45, 101 – 102, 149, 176, 190, 197 – 199, 202 – 206, 211, 240 Studentenverbindungen 198 Subversion 212 Sudetenland 72 Suez-Krise 157 Sushi 199 T Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (Solschenizyn) 199 Tapferkeit 90, 96 Der Teufel und der liebe Gott (Sartre) 137 f. Teufelskirsche 54 Tod 19, 34, 41, 48, 52, 58, 60, 70, 91, 96, 101 f., 112–114, 121, 142, 149 f., 159, 162, 165, 175, 195, 200, 202, 209, 239, 244–249 Tote ohne Begräbnis (Sartre) 113 f., 122, 128 toter Schriftsteller 17, 225 Tour Montparnasse 230 Traumdeutung (Freud) 166 Träume 49, 51, 54, 61, 166, 225 trinken 49, 57, 124, 149, 236, 242 Tschechoslowakei 72, 76, 84, 190, 203, 207 Tschechoslowakische kommunistische Partei 203 Talent 9 f., 68, 84 Tränengas / Reizgas 204, 216 Terrorismus 162, 181, 202, 214, 222, 233 Tête-à-tête (Rowley) 134, 200 Tauwetter (Ehrenburg) 189 Théâtre Antoine 139, 155 Théâtre de la Renaissance 169 Théâtre du Vieux-Colombier 103 Théâtre National Populaire 194 Théâtre Sarah-Bernhardt 147
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Register Die Theorie der Anschauung in der Husserl‘schen Phänomenologie (Lévinas) 43 Thiviers 13, 15, 28 Tito, Josip Broz (Marschall) 179 Tabak 9, 40, 93, 164, 229 Tokio 35 totalitär 135 Totalität 162, 217 Toulouse 28, 202 Tours 35 Transzendenz 104, 147 Die Transzendenz des Ego (Sartre) 44, 60 Ein Traktat über die menschliche Natur (Hume) 97 Trikolore 105 Trier 84, 86 Trigano, Shmuel 231 Die Troerinnen 191, 194 – 195 Trotzki, Leo 133 Tuberkulose 13, 28, 95 Tugendethik 121 U Überflüssigkeit 18 f., 37, 53, 67, 70 Über-Ich 188 Überläufer 91, 132 Überlegungen zur Judenfrage (Sartre) 107 Übermensch 24 übler Trip 51 UdSSR 108, 136, 139, 146, 149, 151, 154, 156, 159–161, 176, 179, 189 f., 196, 198, 202 f., 235 Umerziehungsmaßnahmen 198, 202 Unaufrichtigkeit 64, 67, 79, 99, 123, 147, 170, 219 das Unbewusste 64 UNESCO 190 ungarische Revolution 159 f., 206 Ungarn 159, 168, 207 Ungerechtigkeit 22, 122 f., 138 Ungleichberechtigung 110 Universität Freiburg 144 Universität Kairo 236 Universität Köln 46
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Universität Kyoto 199 Universität Paris-Nanterre 203–205 Universität Princeton 118 unmaterialistisch 132 Unsterblichkeit 11, 17, 19, 41, 242 f., 245 f., 249 Unterdrückung 27, 67, 87, 92, 107, 111, 120 f., 135, 144, 156, 160, 178, 180, 183, 194, 203, 207, 222 Untersuchung 43, 64, 162, 166, 199 f., 215 unvollendete Werke 65 f., 179, 210, 241 USA 90 f., 95, 103–105, 108–113, 117 f., 122 f., 125, 128 f., 131–133, 136, 146, 148 f., 151–153, 156, 160, 170 f., 176, 196, 199 f., 202, 212 Usbekistan 150 Utopie 108, 133, 151 V Valium 244, 246 Vanetti, Dolorés 111, 118 f., 125, 133 f., 136, 196 vaskuläre Demenz 227 Vaterfigur 169, 188, 200 Venedig 146, 158 f., 161, 168, 235 f. Verantwortung 34, 39, 48, 74 f., 77–80, 96, 98 f., 114 f., 123, 160, 168, 195, 200 Verbale Halluzinationen und Sprache (Lagache) 51 Die Verdammten dieser Erde (Fanon) 182 Verdammung 138, 199 Verhaftung 91, 181, 197 f., 202, 204, 213, 235 verhätscheln 16, 20 Verité-Liberté 180 verlobt 28 Vermächtnis 12, 158, 187, 193, 231, 249 vernarrt 56–58, 74 Versailles 35 Bei verschlossenen Türen (Geschlossene Gesellschaft, Sartre) 21, 57, 101, 103 f., 118, 132, 148, 155, 147, 242 (Hoch)Verrat 180 f. Verräter 106, 241
Register Die Verurteilten von Altona siehe Die Eingeschlossenen Verwundbarkeit (Verletzlichkeit) 169, 200, 224 verzogen 19, 172, 187 Verzweiflung 31, 56, 60, 76, 163, 173, 211 Vian, Boris 125, 134 Vian, Michelle 125, 134, 136, 146, 151, 158 f., 162, 166, 221, 232, 236 Vichy-Regime 83, 113 Victor, Pierre siehe Lévy, Benny Vierte Republik 167 vietnamesische Boat-People 240 Vietnamkrieg 194, 196–203, 211 f., 245 Vitold, Michel 101, 155 Völkermord 200, 202, 212 Voltaire, François Marie Arouet de 11, 132, 181, 212 f., 220, 244 Voodoo 180 Vorstellungskraft 22, 50, 98, 209 Voyeurismus 71
Zweiter Weltkrieg 75, 89, 159, 171, 183, 194 Werte 33, 66, 115, 154, 166, 211 westliche Zivilisation 190 Whisky 108, 164, 220, 224, 236, 243 Wien 130, 166 Wilde, Oscar 127 Willenskraft 165 Wirklichkeit siehe Realität Witwe 15 Wodka 150, 164 Woolf, Virginia 40 Workaholic 10, 166 Die Wörter (Sartre) 10 f., 13–20, 59, 147 f., 165, 173, 184, 186–191, 196, 209, 217 f., 225, 243, 245, 249 Wundbrand 242 f. Wutanfall 168
W Waffenstillstand 82 Wahl 18, 22, 25, 40, 64, 75, 80, 89, 96, 142, 178, 189, 192, 210, 218 Wahnsinn 17, 51 f., 77 Wahrnehmung 37, 54, 71, 98, 135, 174 Was ist Literatur? (Sartre) 125–127, 186 „Was ist Philosophie?“ (Sartre) 236 Die Wege der Freiheit (Sartre) 57, 73 f., 82, 131 Wehrmacht 95 Weihnachten 48, 51, 93, 118, 129, 186, 208 Wein 92, 150, 164, 184 weiße Überlegenheit 122 Die Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer) 98 Weltkongress für den Frieden 1965 197 Weltkriege 33, 244 Erster Weltkrieg 21, 29
Z Zahnarzt 173, 220 Zähne 172 – 173, 220, 223, 226 Zahnprothese 226 Zahnschmerzen 173, 226 Zeit und Freiheit (Bergson) 24 Zeit der Reife 57, 74 f., 77, 79, 81 f., 95, 116 Zeitlichkeit 24 Zensur 95, 163, 180, 197 f., 234 Zeremonie des Abschieds (de Beauvoir) 219 Zigaretten 31, 40, 72, 93, 164, 184, 214 f., 242 Das Zimmer (Sartre) 60 zionistischer Mystizismus 237 Zonina, Lena (alias Madame Z.) 186, 194, 198, 202 Zug 15, 18, 38, 42, 77, 100, 104, 144–145, 236 zukunftsschaffende Intention 99, 114
Y Yale-Universität 118
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Über den Inhalt Gespickt mit humorvollen, aber auch tragischen Anekdoten aus dem Leben dieses Ausnahmedenkers gibt Cox einen umfassenden und packenden Einblick in das Leben und Werk des bedeutenden Philosophen. »Gut zu lesen und zum Nachdenken anregend. Eine bemerkenswert lebendige und persönliche Biographie.« Michael Thomas Berry, New York Journal of Books »Klare Aussagensätze und kurze aber detaillierte Absätze sorgen für eine flotte Einführung inSartres gigantisches Werk.« The Tablet »In seiner schwungvollen, leicht zugänglichen Biographie, versucht sich Gary Cox an der These, dass die beste Arbeit Sartres tiefe Einsichten in die menschliche Existenz ermögliche.« National Review
Über den Autor Gary Cox ist promovierter Philosoph an der Universität von Birmingham. Zahlreiche Publikationen, u.a. zum Existentialismus, zu Sartre und zur Religionsphilosophie.