Intersubjektivität oder Robinson Crusoe: Herausgegeben von Wahl, Pit; Sasse, Heiner; Lehmkuhl, Ulrike 9783525450178, 9783647450179, 3525450176

Die in diesem Band dokumentierten Beiträge, die sich auf die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsych

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German Pages 380 [384] Year 2010

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Intersubjektivität oder Robinson Crusoe: Herausgegeben von Wahl, Pit; Sasse, Heiner; Lehmkuhl, Ulrike
 9783525450178, 9783647450179, 3525450176

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525450178 — ISBN E-Book: 9783647450179

Beiträge zur Individualpsychologie

Band 36: Pit Wahl Heiner Sasse Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Intersubjektivität oder Robinson Crusoe

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525450178 — ISBN E-Book: 9783647450179

Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.)

Intersubjektivität oder Robinson Crusoe

Mit 22 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525450178 — ISBN E-Book: 9783647450179

Umschlagabbildung: Alexander Selkirk und die Robinsoninsel. 2. von 6 (Werbe-)Kärtchen einer Bildergeschichte der Firma »Dr. Thompson’s Seifenpulver« um 1900. Bearbeitung: Schleipdruck GmbH, Gotha

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45017-8

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: E Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen. Thematische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chris Jaenicke Aggression – eine intersubjektive Sichtweise . . . . . . . . . . . . . .

33

Josef Brockmann und Holger Kirsch Mentalisierung. Alter Wein in neuen Schläuchen? . . . . . . . . . .

52

Hans-Jürgen Lang Das Erleben früher Lebensbewegungen: Die Bedeutung der Babybeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Petra Heisterkamp Formen des Bezogenseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Rainer Lemm-Hackenberg Robinson Crusoe, Alfred Adler und die Macht der Metaphern

125

Günter Heine Psychodynamische Beziehungsarbeit in der Schule . . . . . . . . .

150

Werner Morbach Wozu Metaphern? – Gedanken zur Intersubjektivität . . . . . . . .

173

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Hanna Reinhardt-Bork Intersubjektivität und Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

Birgit Schmitt Von der Not, gut sein zu müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Hanna Marx Über »unanalytisches Vorgehen«. Brüche, »Enactments« und »Abweichungen« in der Psychotherapie als Ausdruck der Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Gerd Lehmkuhl Autistische Syndrome und ihre Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Klaus-Jürgen Bruder »Ehe der Hahn kräht …« – Zur Intersubjektivität der Verleugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Ronald Wiegand Einsamkeitsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

Michael Kavšek »Ich sehe was, was da nicht stimmt.« Vom frühen Blick für Andere(s) – Aspekte der sozial-kognitiven Entwicklung in der frühen Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Pit Wahl Das Ende der Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

348

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

361

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

»Robinson Crusoe« – das war zunächst ein im Jahre 1719 mit flotter Feder geschriebener Zeitungsartikel über die »wahre Geschichte« eines Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel, verfasst von dem chronisch »klammen« Journalisten Daniel Defoe. Doch er traf den Nerv seiner englischen Zeitgenossen, erlangte schnell als Roman Weltruhm und begründete eine eigene literarische Gattung, die »Robinsonade«. Mit dieser allegorisch gemeinten, aber als fiktive Prosa verfassten Geschichte des in der Insel-Isolation auf sich selbst zurückgeworfenen Robinsons, seiner Überlebensarrangements und seiner »Bewährung« hat Defoe intuitiv die unterschiedlichsten Sehnsüchte nachfolgender (männlicher?) Generationen erfasst. Allerdings gestalteten sich die Lebensumstände realer Schiffbrüchiger damals eher konträr zu der von Defoe beschriebenen sittlich begründeten Idylle. Die Erlebnisse des historischen Robinson-Vorbilds Alexander Selkirk zeigen, dass sich der Mensch bei dem Versuch, in ungewisser Einsamkeit auf einer Insel zu überleben, selbst schnell »zum Wolfe« wird. Defoe aber hat seine Phantasie walten lassen. Mit der Einführung der Figur des »Wilden« Freitag erweiterte er den Blick auf intrapsychische Prozesse um die soziale Dimension der Intersubjektivität. Und: Er hatte eine Botschaft. Am Erfolg von Robinson Crusoe kann man die Mechanismen der Instrumentalisierung eines literarischen Helden für religiös-moralischerzieherische Zwecke nachvollziehen. Robinson Crusoe fungiert bis heute als Metapher und Projektionsfläche für … ja, wofür? Wie lässt sich nun der Bogen schlagen von der hier skizzierten »Vorgeschichte« zur Entscheidung für das Thema der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) 2009, deren Vorträge in diesem Tagungsband dokumentiert sind? Das spon-

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Vorwort

tane Interesse am Tagungstitel und an einer Verknüpfung von Intersubjektivität und »Robinson Crusoe« war bei vielen Kollegen ungewöhnlich groß. Warum? Spiegelt sich darin die mittlerweile zentrale Bedeutung des Konstrukts der Intersubjektivität in den psychoanalytischen Fachverbänden wider? Oder wurde hier – intuitiv und seismographisch – auf ein genuin adlerianisches Thema reagiert? Jeremy Holmes bezeichnete Alfred Adler auf der Jahrestagung der DGIP 2008 in Berlin nicht zu Unrecht als »Vorläufer der interpersonalen Psychoanalyse«, hat dieser doch bereits früh die soziale Bezogenheit des Menschen, den »Sinn für andere«, als unverzichtbar für die Entwicklung von »Eigensinn« und Individuationsprozessen betont. Das zeigt sich beispielsweise an den Konzepten »individueller Lebensstil« und »private Logik«, die neben der Bedeutung der Gemeinschaftserfahrung gerade auch auf den Einfluss subjektiver Sichten und auf den notwendigen Respekt vor der Besonderheit jedes Einzelnen verweisen. Die in diesem Band veröffentlichten Arbeiten zeigen, wie vielfältig und produktiv die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Thema der Intersubjektivität sein kann. Hinsichtlich der Form der Beiträge ist zu berücksichtigen, dass sie ausnahmslos zunächst als Vorträge konzipiert und gehalten wurden und erst in einem zweiten Schritt – von jedem Autor in jeweils spezifischer Weise – in eine Schriftform gebracht wurden. Diese Transformation erforderte teilweise eine weitgehende Überarbeitung oder auch eine Umarbeitung der ursprünglichen Entwürfe, vor allem, wenn diese bei der Präsentation verschiedene Medien (zum Beispiel Bild- und Tondokumente) mit verwendeten. Einige Texte entsprechen noch etwas mehr der »Originalversion«, andere hingegen sind »klassische« Schriftbeiträge. Den Lesern dieses Buches wünschen wir, dass sie sich entlang des Robinson-Crusoe-Themas noch einmal intensiv mit Intersubjektivität und mit Adlers spezifischen Beiträgen und Entwürfen zu Ich- und Fremdbezogenheit befassen und dass sie die im Thema enthaltenen Assoziationen und Implikationen für ihre aktuelle pädagogische, psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit nutzen können. Pit Wahl, Heiner Sasse, Ulrike Lehmkuhl

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff

Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen Thematische Einführung

Self-will – and the longing for the other, Introduction into the topic of the meeting Illustrated by the biography of the Scottish sailor Alexander Selkirk who was cast away alone on a desert island for four years and four months and thus served as an example for Daniel Defoe’s novel »Robinson Crusoe«, some considerations are presented that refer to self-reference, to intersubjective, conflicting coping with »others« and to the continuous social relatedness of human existence. After explaining and reflecting the topic of this year’s meeting some parts of the movie picture »Cast Away«, a modern kind of a »robinsonade«, are analyzed with reference to inner psychic processes under the condition of longstanding isolation.

Zusammenfassung Am Beispiel der Lebensgeschichte des schottischen Seemanns Alexander Selkirk, der vier Jahre und vier Monate allein auf einer einsamen Insel lebte und Daniel Defoe als Vorbild für seinen Roman »Robinson Crusoe« diente, werden Aspekte des Selbstbezugs, der intersubjektiven, konflikthaften Auseinandersetzung mit anderen sowie die fortdauernde soziale Bezogenheit menschlicher Existenz dargestellt. Nach der Erläuterung und der Reflexion des Tagungsthemas werden Sequenzen aus dem Film »Cast Away – Verschollen«, einer modernen Version der »Robinsonade«, analysiert und im Hinblick auf innere Verarbeitungsformen unter der Bedingung langjähriger Isolation untersucht.

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff

Robinson Crusoes historisches »Vorbild« 650 Kilometer westlich der chilenischen Küste liegt im pazifischen Ozean eine circa vier Millionen Jahre alte Inselgruppe, die nach ihrem Entdecker »Juan Fernández« benannt ist. Teils ist sie mit immergrünem Regenwald bewachsen, teils ist sie rau und karg. Heute ist sie berühmt für ihre zahlreichen endemischen Arten, die fischreichen Gewässer, die sie umgeben, und die hier immer noch wild lebenden Ziegen.

Abbildung 1 und 2: Insel »Mas a tierra« der Inselgruppe »Juan Fernández« (seit 1966: »Isla Robinson Crusoe«) sowie eine auf der Insel wachsende (endemische) Farnart (Fotos: P. Wahl)

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Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen

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Auf dieser Insel lebte der schottischer Seemann und Abenteurer Alexander Selkirk (eher) gegen seinen Willen vier Jahre und vier Monate lang von Oktober 1704 bis Februar 1709. Alexander Selkirk wurde im Jahr 1680 in Nether Largo, einem Dorf in der ostschottischen Grafschaft Fife, als siebter und letzter Sohn des Gerbers und Schusters John Selkirk und seiner Frau Euphan geboren. Alexanders Mutter glaubte – und ließ ihn das auch wissen –, »als siebtem Sohn sei es ihm bestimmt, anderen Glück zu bringen und selbst ein Vermögen zu machen. Sie ermutigte ihn in seinem Ehrgeiz, was ›Ursache vielfältigen häuslichen Zanks und Streits‹1 war«. So beschreibt die britische Sachbuchautorin Diana Souhami (2002, S. 45) in ihrem Buch »Selkirks Insel«2 den Mann, an dessen Leben sich Daniel Defoe orientierte, als er 1719 seinen Roman »Robinson Crusoe« verfasste. Wir wissen nicht, ob Alexander ein besonders schwieriges, aggressives und eigensinniges Kind war – wohl aber ist überliefert, dass er sich im Alter von 15 Jahren wegen ungebührlichen Verhaltens vor einem Kirchengericht verantworten sollte. Er entzog sich der wahrscheinlichen Bestrafung, indem er sich einer schottischen »Expedition« in die »Südsee« anschloss, einer Unternehmung, mit der sich Schottland als Kolonialmacht zu etablieren versuchte. Den 1200 freiwilligen Teilnehmern an dem waghalsigen Unternehmen wurden Abenteuer und Reichtum versprochen – jeder Mann würde 50 Morgen Ackerland und ein Haus auf 225 Quadratmeter Grund erhalten. Nach sechs Jahren kehrten von dieser Gruppe nicht einmal 300 Seeleute ohne jede nennenswerte Beute nach Schottland zurück. Keiner der Überlebenden erhielt auch nur die geringste Belohnung. Während der Abenteuerreise hatte sich Selkirk nicht nur ein umfangreiches Wissen über Navigation und Seefahrt angeeignet, er war auch zu einem aufbrausenden und gewalttätigen Mann geworden, der seine aggressiven Impulse und Affekte oft nicht unter Kontrolle hatte.

1 Die mit ›…‹ gekennzeichneten Zitatfragmente beziehen sich auf Textstellen aus (meist alten) Quellen, die Souhami (und später auch Nitzschke) in ihren Texten verwendet haben. 2 Diesem Buch sind die meisten Fakten zu Selkirks Leben entnommen.

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff

Kaum dass er, nunmehr 23 Jahre alt, nach Hause zurückgekehrt war, kam es zu einem Streit, den Diana Souhami wie folgt beschreibt: »Andrew [einer seiner Brüder] hatte eine Kanne Meerwasser ins Haus geholt. Selkirk trank ahnungslos daraus und spuckte dann das Salzwasser aus. Andrew lachte ihn aus. Selkirk fasste das als eine Beleidigung auf, schlug ihn mit einem Knüppel, beschimpfte ihn, drohte, ihn umzubringen, und machte Anstalten, in das Obergeschoss zu gehen und die Pistole ihres Vaters zu holen. Um ihm den Weg zu versperren, setzte sich ihr Vater mit dem Rücken gegen die Tür auf den Boden. Selkirk schlug ihn. Andrew lief zu John und Margaret [seinem ältesten Bruder und dessen Frau], die ganz in der Nähe wohnten, Hilfe holen. Ihre Mutter, die eine wüste Schlägerei befürchtete, lief aus dem Haus. John versuchte, den Vater zum Aufstehen zu bewegen und zum Kamin zu führen. Selkirk ›warf seine Jacke hin‹ und forderte John zu einem Faustkampf heraus. Ihr Vater ging dazwischen. Selkirk nahm ihn und seinen Bruder in den Schwitzkasten und rang beide zu Boden. Margaret versucht ihn zurückzureißen. John rannte nach draußen. Sie folgte ihm und schrie dabei Selkirk an: ›Du elender Schuft, willst du beide auf einmal, deinen Vater und meinen Mann, ermorden?‹, woraufhin Selkirk sich auch gegen sie wandte. Sie konnte nicht genau sagen, wo er sie geschlagen hatte, aber ›seither [litt] sie unter heftigen Kopfschmerzen‹« (Souhami, 2002, S. 51 f.).

Weil er ausgelacht worden war, war er ausgerastet. Er, der sich als Seemann bewährt hatte, ein harter, gefahrengeprüfter Mann, Mitglied und Überlebender einer Expedition, bei der drei Viertel der Schiffsbesatzung gestorben waren, musste sich den Spott seines Bruders anhören. Das vertrug sich weder mit seinem Größen-Selbst noch mit den mühsam verborgenen Minderwertigkeitsgefühlen. Narzisstisch gekränkt reagierte er lebensstiltypisch mit dem Versuch, sich gewaltsam Respekt zu verschaffen. Dass er dabei andere und sich selbst gefährdete, war ihm in diesem Moment gleichgültig, auf Konsequenzen achtete er nicht. Ähnliches sollte sich in seinem Leben noch häufiger ereignen. 1703 schloss sich Alexander Selkirk erneut einer Kaperfahrt an. Eine Kaperfahrt von Freibeutern war kein gewöhnlicher Raubzug. »Eine Kaperfahrt war ein patriotisches Unternehmen im Dienste Königin Annes. […] Eine königliche Proklamation legitimierte ›auf hoher See verübte Repressalien gegen den Besitz Ihrer katholischen Majestäten, der Könige von Frankreich und Spanien‹. Der Admiralitätsgerichtshof verlieh Interessenten eine Lizenz, einen so genannten ›Kaperbrief‹, für einen solchen Angriff auf feindliche Schiffe« (Souhami, 2002, S. 25 f.), der mit dem willkommenen »Nebeneffekt« verbunden war, die Angreifer reich zu machen.

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Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen

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Auch das ist ein Beispiel für subjektive Sichtweisen, für willkürliche Wertungen bzw. für kollektiv-private Logik mit erheblichen Folgen für die intersubjektive Dynamik. Begingen ein Einzelner oder eine beliebige Gruppe solche Taten, dann war das kriminell. Ging eine staatlich, eine königlich legitimierte Schiffsbesatzung auf Kaperfahrt, dann war das ein von höchster Stelle belobigtes, ruhmreiches Unternehmen, das für den Einzelnen zu ehrenhaftem Reichtum führen konnte. Der Gegner, der Feind, war dabei immer der Böse. Für die Engländer, die Niederländer und Österreicher waren es zum damaligen Zeitpunkt die Spanier und Franzosen. Von den verschiedenen, in diesem Falle südamerikanischen Ureinwohnern, sprach man erst gar nicht. Die einen waren die Herren, die anderen die Sklaven. Das Ziel, die Welt zu erobern und sich die am jeweiligen Ort vorhandenen Schätze anzueignen, wurde nicht hinterfragt. Es galt »einfach« als legitim. Auch das ist Subjektivität bzw. eine Form der Intersubjektivität, die auf Unterdrückung und Herrschaft ausgerichtet war. Piraterie wurde übrigens damals mit dem Tod durch Erhängen bestraft – vorausgesetzt natürlich, man wurde der Piraten habhaft. Am 11. September 1703 gingen zwei Schiffe, die »Saint George« und die »Cinque Ports«, auf Kaperfahrt. Das größere, die Saint George, mit 120 Mann Besatzung, wurde von Kapitän Dampier befehligt, das kleinere mit 90 Seeleuten an Bord, zunächst von Kapitän Pickering, dann, nachdem dieser Ende November an den Folgen einer Grippeepidemie verstarb, von dem 21-jährigen Adeligen Thomas Stradling. Selkirk war auf diesem Schiff Steuermann und Navigationsoffizier. Von Beginn an verband die beiden Männer eine feindselige Konkurrenz. Selkirk erlebte Stradling in seiner aristokratischen Selbstherrlichkeit als hochnäsig, eingebildet und inkompetent, Stradling befürchtete, dass Selkirk seine Machtstellung als Kommandant des Schiffes untergraben könnte. Hier existierte also eine hochbrisante intersubjektive Beziehungskonstellation, die für Konflikte geradezu prädestiniert war. Auf der einen Seite der inzwischen erfahrene, tüchtige, kompetente und eigensinnige Steuermann Alexander Selkirk, dort der junge, snobistische Kapitän, der sich als Adeliger schon qua Geburt für etwas Besseres und für überlegen hielt. Schon am 24. November 1703, als die beiden Schiffe vor der »Ilha

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff

Grande«, einer Insel vor der brasilianischen Küste, ankerten, wurde festgestellt, dass die Schiffe, mit denen sie segelten, zu lecken begannen, da ihre Beplankung von Schiffsbohrmuscheln befallen war. Aber obwohl es unter den gegebenen Bedingungen keine Möglichkeit gab, sie zu reparieren, ging die kleine Flotte weiter auf Raubzug. Dabei stellte sich nun heraus, dass der Leiter der Kaperfahrt, Kapitän Dampier, sich einige Male auf Kämpfe mit überlegenen feindlichen Booten einließ, so dass statt der erhofften reichen Beute nur schwere eigene Verluste zu beklagen waren. Dann wieder wurden reich beladene feindliche Schiffe aufgebracht, die Dampier, vermutlich, weil er persönlich hierfür große Summen Bestechungsgeldes erhielt, weitersegeln ließ. Ein einziges Mal kaperten die Freibeuter ein spanisches Handelsschiff, doch auch dieses wurde auf Dampiers Anordnung hin einige Tage später wieder freigelassen. Nicht nur die Mannschaft, auch Stradling fühlte sich immer mehr hintergangen. Obwohl sein kleines, wenig bewaffnetes Schiff nur wenig Aussicht auf weitere große Beute hatte, entschloss er sich, den gemeinsamen Truppenverband zu verlassen und mit der Cinque Port und 40 Mann Besatzung, darunter auch Alexander Selkirk, allein weiterzusegeln. So nachvollziehbar dieser emotionale Entschluss auch sein mag – bald wurde klar, dass die kleine Gruppe nicht nur weitgehend kampfunfähig war, sondern nicht einmal eine begründete Hoffnung auf die Rückkehr nach England haben konnte. In dieser Situation gerieten Selkirk und Stradling in Streit. Stradling ließ Selkirk einsperren und beauftragte einen rangniederen Offizier mit dessen Aufgaben. Immer stärker leckend erreichte die Cinque Port schließlich im September 1704 die große Bucht einer Insel, die von den spanischen Entdeckern seinerzeit »Mas a Tierra« – mehr zum Land hin gelegen – genannt worden war. Aber obwohl die Insel die Männer reichlich mit frischem Wasser und Nahrungsmitteln versorgte und sich die Mannschaft nach einer Weile erholt hatte, konnten die von den Schiffsbohrmuscheln zernagten Eichenplanken nicht so einfach ersetzt werden. Diana Souhami (2002) beschreibt die Situation in jenem Oktober 1704 (S. 83 ff.) folgendermaßen: »Und das Verhältnis zwischen Selkirk als dem Steuermann des Schiffes und Stradling als dessen Kapitän wurde zunehmend feindseliger. Selkirk hielt es für unsinnig, ihre Fahrt auf diesem lecken Schiff […] fortzusetzen. Sie würden

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Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen

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damit kein feindliches Schiff angreifen und keine Prise machen können. Er sagte Stradling, sie sollten nicht eher weitersegeln, als bis sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Bohrmuscheln durch Ausbrennen des Schiffsrumpfes abzutöten und die beschädigten Planken zu ersetzen. Stradling wollte keine weitere Zeit verlieren. […] Was er jetzt brauchte, waren Taten und Erfolg, wenn er die Expedition und seinen Ruf noch irgendwie retten wollte. […] Anfang Oktober ordnete Stradling an, Segel zu setzen. Selkirk riet der Besatzung, den Befehl zu verweigern. […] Stradling, der Gentleman-Seefahrer, reagierte mit herablassendem Spott auf seine ›übertriebene‹ Vorsicht. Selkirk geriet in Rage und antwortete mit seinen Fäusten. Stradling bezichtigte ihn der Anstiftung zur Meuterei. Er erklärte, er solle seinen Willen haben und auf der Insel bleiben: Das sei immer noch ein besseres Los, als ihm eigentlich zustünde. […] Stradling befahl, Selkirks Seemannskiste, Kleidung und Bettzeug an Land zu bringen. Selkirk beobachtete vom Strand aus, wie die Männer sich für die Abfahrt rüsteten. […] Er bat Stradling, ihm zu verzeihen, ihm zu erlauben, wieder an Bord zu kommen – er werde sich von nun an fügen. […] Selkirk sah zu, wie die kleinen Boote abfahrbereit gemacht wurden. Er sprang von Stein zu Stein und versuchte, an Bord zu steigen, wurde aber zurückgestoßen. Er watete ins Wasser und flehte um Erbarmen. Er sah zu, wie der Anker gelichtet und das Schiff ins offene Meer geschleppt wurde.«

Das also ist ein Teil der »wahren Geschichte von Robinson Crusoe« bzw. der Lebensgeschichte des Alexander Selkirk. Auch in dieser dramatischen Zuspitzung finden wir alle Zutaten konflikthafter In-

Abbildung 3: Alexander Selkirk und die Robinsoninsel. 2. von 6 (Werbe-) Kärtchen einer Bildergeschichte der Firma »Dr. Thompson’s Seifenpulver« um 1900

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Pit Wahl und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff

tersubjektivität: einen Menschen wie Kapitän Dampier, gierig nach Reichtum und Ruhm, bedenkenlos Gewalt anwendend, wenn diese ideologisch legitimiert erscheint, jemand, der andere zu übervorteilen versucht, der lügt und betrügt, wenn er die Macht hat und die Aussicht, ungestraft davonzukommen. Einen Menschen wie Stradling, noch relativ jung und unerfahren, dafür aber ausgestattet mit den Privilegien seiner Herkunft, mit einem gehörigen Maß an Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung, immer wieder verwickelt in erbitterte Machtkämpfe mit seinem älteren und erfahreneren Steuermann. Und einen Menschen wie Selkirk, der seinerseits zu Aggressivität und mangelnder Affektkontrolle neigt, der sich nicht beherrschen kann, wenn er sich ignoriert, verachtet und gedemütigt fühlt, der schwankt zwischen Unter- und Überlegenheitsgefühl, der aber durchaus auch beachtliche Fähigkeiten und Kompetenzen hat – Fähigkeiten, die ihm helfen, vier Jahre und vier Monate auf dieser einsamen Insel zu überleben, die seit 1966 »Isla Robinson Crusoe« heißt. Auf dieser Insel also findet der eigensinnige Hitzkopf Alexander Selkirk notgedrungen zu sich selbst, hier wird er – nach seinen eigenen Worten – ein besserer Mensch und gläubiger Christ, bis er am 2. Februar 1709 zwei englische Schiffe am Horizont erblickt. Doch so

Abbildung 4: Alexander Selkirk und die Robinsoninsel. 3. von 6 (Werbe-) Kärtchen einer Bildergeschichte der Firma »Dr. Thompson’s Seifenpulver« um 1900

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Eigensinn – und die Sehnsucht nach dem anderen

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groß die Hoffnung auf Erlösung aus der Einsamkeit, seine Sehnsucht nach menschlicher Gemeinschaft und seine Freude über seine Errettung auch ist – als er sich vorstellt, dass Stradling der Kapitän des kleineren Schiffes ist, das in Sichtweite vor Anker geht, will er lieber in den Bergen sterben, als diesem Mann noch einmal ausgeliefert zu sein. Ist der Hass also vielleicht doch stärker als der Selbsterhaltungstrieb? Alexander Selkirk hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen: Stradling war mit der Cinque Port bereits nach einem Monat bei Malpelo, »einer öden kleinen Insel vor der kolumbianischen Küste« (Souhami, 2002, S. 102), untergegangen. »Mehrere Besatzungsmitglieder ertranken, Stradling und 31 andere erreichten auf zwei Flößen das Ufer. […] Die Schiffbrüchigen ernährten sich kümmerlich von den Fischen und Vögeln, die sie sporadisch fingen, und mussten, da es kein Wasser gab, ihren Durst mit Schildkrötenblut löschen. 18 Mann überlebten und ergaben sich schließlich […] der guardia-costa. Sie wurden verpflegt, in Ketten gelegt und über Quito und Cisco zu Fuß nach Lima getrieben und dort eingekerkert.«

Während seiner vierjährigen Haft brach Stradling zweimal aus. Beim ersten Mal paddelte er mit einem gestohlenen Kanu 2000 Kilometer weit, wurde aber wieder aufgegriffen und inhaftiert. Beim zweiten Mal erreichte er ein französisches Schiff, das ihn nach Europa zurückbrachte. Krank und mittellos kehrte er schließlich nach England zurück. Und Selkirk? Er wurde tatsächlich noch reich. Nach seiner Rettung durch den vergleichsweise gut ausgerüsteten englischen Flottenverband wurde er wieder zum Steuermann eines gekaperten Schiffes ernannt, machte in dieser Konstellation nun endlich reiche Beute und erhielt nach seiner Rückkehr in England 800 Pfund, damals ein beträchtliches Vermögen, sowie einige wertvolle Beutestücke aus Gold und Silber. Er kehrte in seinen Heimatort zurück, kaufte sich dort Haus und Land. Aber obwohl er nun nicht mehr einsam war und erstmals auch mit einer Frau zusammenlebte, wurde er immer schwermütiger. Nachdem er ein weiteres Mal im Streit beinahe einen Menschen getötet hatte, entzog er sich der Verfolgung erneut durch Flucht und heuerte später, im November 1720, als erster Maat auf dem Kriegsschiff HMS Weymouth an. Dieses Schiff hatte – ganz im Trend der sich verändernden

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historischen und politischen Bedingungen – nunmehr den königlichen Auftrag erhalten, zum Schutze des »freien Welthandels« vor der Westküste von Afrika Piraten zu jagen. Piraten, also Kriminelle, die – auf eigene Faust und nicht im Auftrag einer staatlichen Macht – englische Handelsschiffe überfielen, welche die Reichtümer aus den Kolonien ins englische »Mutterland« transportierten. Selkirk hatte diesmal kein Glück. Vor der sogenannten Goldküste, in der Nähe der Mündung des Flusses Gambia, starb er 41-jährig am 13. Dezember 1721 vermutlich an den Folgen einer Malariainfektion. Lange Zeit hat sich kaum jemand für Alexander Selkirks Erlebnisse und Erfahrungen während seines mehr als vierjährigen Aufenthaltes auf der »Isla Mas a Tierra« interessiert. Zwar hatte sich der Abenteurer und Schriftsteller Edward Cook 1712 einmal mit Selkirk getroffen und mit ihm über seine Inselerfahrungen gesprochen, hatte seine Erlebnisse dann später auch in einem Buch kurz erwähnt, aber erst Daniel Defoe machte ihn und seine Geschichte, allerdings in einer mit künstlerischer Freiheit phantasievoll ausgeschmückten Form, als »Robinson Crusoe« (Defoe, 1925, 1930) der Welt bekannt. Als Defoe dieses Werk verfasste, das später als der erste englische Roman angesehen wurde, war er fast 60 Jahre alt. »Er wohnte ›sehr standesgemäß‹ in einem Haus in Stoke Newington. Er hatte eine ansehnliche Bibliothek, Pferde, einen großen Garten und sieben Kinder. Wie Steele [ein anderer Journalist, der auch einmal über Selkirk geschrieben hatte] war er verschuldet und ständig in Geldnot. Er brauchte Bares, um die Hochzeit seiner Tochter Maria auszurichten. Robinson Crusoe kostete ihn nur ein paar Monate Arbeit und war seine 412. Publikation. Er rang nicht mit Formulierungen. Er war der Verfasser von täglich erscheinenden Flugschriften, von politischen und religiösen Pamphleten, Verssatiren, Oden und Kirchenliedern. Er war ein Fürsprecher von Toleranz, Vernunft und praktischer Arbeit, trat für den freien Handel, die Union von Schottland und England, die Einrichtung von Sparkassen und eine Änderung der Konkursgesetze ein. […] Die erzählende Literatur war für ihn allerdings ein völlig neues Gebiet. Der Robinson Crusoe war als bloßes Gewinn bringendes Seemannsgarn konzipiert. Er erschien anonym am 25. April 1719, wurde am 9. Mai nachgedruckt, dann wieder am 4. Juni, am 7. August und anschließend immer so weiter. Es gab gar kein endgültiges Manuskript. Die erste Auflage wurde noch in der Setzerei umgeschrieben« (Souhami, 2002, S. 206 f.).

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Dies also ist die Geschichte eines der berühmtesten Bücher der Welt. Bereits 1720 wurde es ins Französische und Deutsche übersetzt, später in fast alle Sprachen dieser Welt. Namhafte Autoren, unter anderem Virginia Woolf, James Sutherland, Karl Marx und Eric Berne beziehen sich auf die »Robinsonade«, das Motiv des Menschen auf einer einsamen Insel (vgl. Ellis, 1969). Welches aber sind die »Zutaten« dieses Stoffes, der so viele Menschen über Generationen hinweg weltweit immer wieder beschäftigt und fasziniert hat? Ist es das Motiv des Überlebenswillens, des Überlebenskampfes, der menschlichen Geschicklichkeit und Intelligenz, der kreativen Aneignung der Natur durch den Menschen, der Selbstbehauptung und der Selbstfürsorge? Oder ist es das Motiv der Einsamkeit, der Selbstbeschränkung, Selbstbesinnung und der Selbstgenügsamkeit? Konflikt und Streit, die Unvereinbarkeit von Gegensätzen, die oft vergebliche Jagd nach Reichtum und Ruhm, Gier und Neid, Enttäuschung, Wut und auch Angst – zum Beispiel vor dem Tod durch Ertrinken oder durch Feinde – haben für Selkirk eine entscheidende Rolle gespielt. Und kennt nicht jeder von uns – zumindest gelegentlich – den Wunsch, sich endlich einmal von den nervigen oder gar verhassten anderen zu trennen und nur noch sich selbst verantwortlich zu sein? Geschieht dies, so keimt dann aber auch schnell wieder die Sehnsucht nach dem anderen auf, nach dem Kontakt zu Mitmenschen, nach Aufgehobensein in der Gemeinschaft, nach Geselligkeit. Nicht zufällig hat Daniel Defoe in seiner literarischen Bearbeitung der Selkirk-Erfahrung für seinen Robinson noch einen »Freitag« hinzuerfunden. Die Sehnsucht nach dem anderen, die soziale Bezogenheit, die Bindung an andere, vor allem an geliebte Menschen, sowie die Nöte und Fähigkeiten eines Einzelnen, der unfreiwillig auf eine einsame Insel verschlagen wurde, ist ein Motiv, das nicht nur vor 300 Jahren die Menschen bewegt hat. Als ein offensichtlich archetypisches Bild für eine existenzielle menschliche Erfahrung ist es immer und immer wieder bemüht worden.

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Reflexionen zum Tagungsthema »Intersubjektivität oder Robinson Crusoe« – was wird in dieser Formulierung in Zusammenhang gebracht und gegenübergestellt? Zunächst einmal: zwei sehr unterschiedliche Bezeichnungen, die nicht der gleichen sprachlichen und logischen Kategorie angehören – nämlich ein abstrakter Begriff (Intersubjektivität) und ein fiktiver Name (Robinson Crusoe). Diese ungleichen Teile werden durch eine Konjunktion, ein Bindewort, das gleichzeitig einen Gegensatz bezeichnet (oder), miteinander und zueinander in Beziehung gesetzt. Intersubjektivität ist ein Begriff, der ursprünglich und hauptsächlich in philosophischen Diskursen verwendet wurde und wird und dort seine besondere Bedeutung hat – im Zusammenhang mit einer individualpsychologischen Jahrestagung ist er als Fachbegriff zu verstehen, der unter analytisch orientierten Psychotherapeuten und Pädagogen eine ganz besondere Auffassung von (therapeutischer) Beziehungsgestaltung und Interaktion bezeichnet. Der Name, Robinson Crusoe, ist der Titel eines weltweit bekannten Romans. Er kann als Metapher verstanden werden für Selbstbezug, für isolierte Subjektivität, für Zurückgeworfensein auf sich selbst und die Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben. Auch wenn die Begriffe in dieser Verbindung eine gewisse sprachlogische Inkonsistenz aufweisen – unter anderem, weil hier kategorial unterschiedliche Dinge, ein abstrakter Begriff und ein Name bzw. ein Romantitel, durch das Wörtchen »oder« miteinander verbunden bzw. alternativ gegenübergestellt werden –, so sollen in dieser Überschrift Bedeutungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, die vielfältige assoziative Verbindungen erlauben. Welche assoziativen Verbindungen lassen sich ziehen? Wenngleich Robinson Crusoe auf der einen Seite mit hemmungsund rücksichtsloser Subjektivität in Verbindung gebracht werden kann, so steht sein Name gleichzeitig doch auch für die Sehnsucht nach der Erlösung aus der Isolation. Auch weil Selkirk, alias Robinson, (letztlich) nicht freiwillig auf der abgelegenen Insel lebte, pendelt sein Dasein und Erleben zwischen aufgezwungener Selbstgenügsamkeit und der Sehnsucht nach dem anderen, den anderen. Intersubjektivität umreißt und benennt den anderen Aspekt, den

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anderen Pol: Bei der Sehnsucht nach dem und den anderen geht es um Bezogenheit – sei sie eher auf friedliche Kommunikation und Austausch oder eher auf aggressive Auseinandersetzung und Machtkampf hin orientiert. Inhaltlich stehen die ungleichen Begriffe also in einer engen und sinnhaften Beziehung zueinander – wie das bei Assoziationen oft der Fall ist. Es ist nur ein kleiner Schritt, diese Überlegungen auf das Thema einer individualpsychologischen Jahrestagung zu beziehen. Nach Adlers Auffassung ist der Mensch keineswegs eine Insel, eine Monade, die sich nach vorgegebenem Muster allein vor sich hin und aus sich selbst heraus entwickelt. Er wird vielmehr von Geburt an als soziales Wesen begriffen, das nur in der Bezogenheit auf andere überleben und sich entwickeln kann. Genau dies ist auch eine der zentralen Grundannahmen der Intersubjektivitätstheorie. »Niemand ist eine Insel« – unter dieser Überschrift fassen Altmeyer und Thomä (2006) in ihrem Buch »Die vernetzte Seele – Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse« verschiedene Beiträge der amerikanischen Gegenwartspsychoanalyse zusammen.3 In der Einführung zu ihrem Sammelband schreiben sie: »Der Mensch ist keine Monade – er wird vielmehr in menschliche Beziehungen hineingeboren, gewinnt durch soziale Beziehungen hindurch ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und bleibt bis ins hohe Alter auf soziale Beziehungen angewiesen« (Altmeyer u. Thomä, 2006, S. 8). Es fällt Individualpsychologen nicht schwer, einem solchen Leitsatz zuzustimmen. Bemerkenswert erscheint aber auch, dass das Thema der Intersubjektivität und die therapeutische Haltung, die auf diese Weise charakterisiert wird – unter anderem in der Auseinandersetzung mit den Konzepten der therapeutischen Neutralität und dem Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen –, seit einigen Jahren – zumindest nach Ansicht der oben zitierten Autoren – zu so etwas wie einem neuen Schlüsselbegriff der Psychoanalyse geworden ist. 3 Die Formulierung »No man is an island« (Niemand ist eine Insel) stammt von John Donne, einem britischen Schriftsteller (1572–1631), der circa 100 Jahre vor Selkirk lebte. Siehe Madey, J. (1999). John Donne. Biografisch-Bibliografisches Kirchenlexikon. Bd. 16. (Spalten 396–398): Bautz: Herzberg.

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Altmeyer und Thomä charakterisieren diese Entwicklung als »intersubjektive Wende« und schätzen das Ausmaß der Veränderungen in der psychoanalytischen Theoriebildung als hoch ein. Sie bezeichnen den von ihnen skizzierten Prozess als »paradigmatische Wende, die sich im weiten Feld des psychoanalytischen Pluralismus gegenwärtig vollzieht« (Altmeyer u. Thomä, 2006, S. 5 f.). Für die Individualpsychologie stellt diese Sichtweise im Rahmen ihrer theoretischen Auffassungen keine Wende dar. Da Adler der determinierenden ›Triebstruktur des Menschen‹ schon früh widersprochen, sich vom triebtheoretischen Reduktionismus Freuds abgegrenzt und in seiner Theorie die naturgegebene soziale Bezogenheit des Menschen postuliert hatte, ist die intersubjektive Sichtweise für in seiner Denktradition Stehende kein Paradigmenwechsel. Man kann Adler vielmehr stattdessen durchaus als »Vorläufer der interpersonalen Psychoanalyse« (Holmes, 2009, S. 222) bezeichnen. Die Vereinbarkeit von Individualpsychologie und Intersubjektivitätstheorie ist im Übrigen nicht nur unter dem Aspekt der grundlegenden sozialen Orientierung des Menschen gegeben. Ein weiterer Punkt sei hier benannt: Zur Frage der subjektiven Bedeutungsgebung, die ja innerhalb der Intersubjektivitätstheorie eine wichtige Rolle spielt, schrieb Adler 1931: »Wir sind durch den Sinn, den wir unseren Erfahrungen geben, selbst-bestimmt; […] Der Sinn ist nicht durch bestimmte Erfahrungen festgelegt, sondern wir legen uns selber fest durch den Sinn, den wir den Erfahrungen geben« (Adler, 1931/1979, S. 21). Altmeyer und Thomä schreiben 2006: Das Kind »lernt [auf diese Weise], dass Bedeutungen nicht in den Dingen selbst liegen, sondern, dass wir den Dingen Bedeutungen geben, dass Bedeutungen eine Errungenschaft des menschlichen Geistes sind« (Altmeyer u. Thomä, 2006, S. 20). Auch hier gilt: Was sich für viele freudianisch orientierte Kollegen im Zusammenhang mit der Intersubjektivitätstheorie als Paradigmenwechsel darstellen mag, ist für die Individualpsychologie naheliegend und im Grundsatz vertraute Selbstverständlichkeit. In ihrer konkreten Ausdifferenzierung aber, etwa im Hinblick auf die Mikroanalyse innerseelischer Abläufe oder die Analyse einer konkreten Beziehungsdynamik – zum Beispiel im Rahmen von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen – kann die Intersub-

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jektivitätstheorie Adlerianern sehr wohl Neues sagen und Anstöße für das Verständnis des eigenen pädagogischen und therapeutischen Handelns geben. Zudem hat sich die Individualpsychologie lange Zeit eher wenig mit konkreten Interventions- und Behandlungstechniken und deren Effekten, vor allem im psychotherapeutisch-psychoanalytischen Bereich, befasst und diese erforscht. Die Frage, wie sich intra- und interpsychisches seelisches Geschehen im Einzelnen herausbildet, ausdifferenziert und aktualisiert – und auch die Frage, welche pädagogischen und psychotherapeutischen Interaktionsformen sich im jeweiligen Fall als hilfreich erweisen und welche sich hinderlich auf gewünschte Veränderungsprozesse auswirken, wurde innerhalb der Individualpsychologie lange Zeit zu wenig untersucht und diskutiert. Hier können Adlerianer von anderen Theorieansätzen profitieren und sich gewinnbringend mit denen, die »im weiten Feld des psychoanalytischen Pluralismus« tätig sind, austauschen.

Ein Fallbeispiel: Chuck Noland, der moderne »Robinson-Held« des Films »Cast Away – Verschollen« Wie bilden sich aber nun intra- und intersubjektive Erlebnis- und Erlebnisverarbeitungsprozesse heraus und wie können sie sich unter extremen Bedingungen modifizieren? Bei dem hier gewählten Fallbeispiel handelt es sich nicht um einen realen Patienten – wohl aber um die Darstellung eines leidenden Menschen –, sondern um eine Phantasiegestalt, die als moderne Bearbeitung des Robinson-CrusoeMotivs bzw. der Selkirk’schen Inselerfahrung in all ihren vielfältigen Bedeutsamkeiten gelten kann. Es handelt sich um Chuck Noland, den »Helden« des Films »Cast Away« (Zemeckis, 2000). Chuck Noland, im Film verkörpert von dem Schauspieler Tom Hanks, ist ein »moderner« Mensch. Er ist Systemingenieur bei der Firma »FedEx«, einem weltweit operierenden Transportunternehmen. Auch er ist, wie Selkirk, ein Reisender, ständig unterwegs in Sachen Welthandel. C. Noland – im Englischen auch als »see no land« auszusprechen – wohnt in den USA, ist dort eingebunden in seine Familie und in eine feste Partnerschaft, ansonsten aber ständig in Bewegung, unterwegs rund um den Globus. So gern er reist und so sehr er seinen

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Beruf liebt: Immer, wenn er nach Hause zurückkehrt, fühlt er sich freudig begrüßt, gehalten, gebunden, zugehörig und bedeutsam. Den Firmenidealen Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und vor allem Schnelligkeit fühlt sich Noland persönlich verpflichtet, er hat sie tief verinnerlicht und lebt sie im Sinne seines Unternehmens und in Übereinstimmung mit zentralen Grundsätzen und Werten der amerikanischen Gesellschaft. Das Weihnachtsfest wird er in dem Jahr, in dem sich die im Film dargestellten Ereignisse zutragen, aus dienstlichen Gründen nicht mit seiner Partnerin verbringen können. So tauschen sie ihre Weihnachtsgeschenke noch kurz vor seinem Abflug aus. Seine Freundin schenkt ihm eine alte Taschenuhr, ein Familienerbstück, mit seinem Lieblingsfoto von ihr im aufklappbaren Deckel. Auf der folgenden Reise gerät das Firmenflugzeug unerwartet in Turbulenzen und stürzt ab. Als einzigem Mitglied der Besatzung gelingt es Noland, sich zu retten. Von der Brandung an den Strand einer einsamen Insel gespült, versucht er herauszufinden, ob sich hier noch ein anderes menschliches Wesen befindet. Doch so viel er auch ruft (»Hallo, ist da jemand? Ist jemand hier?«) – es antwortet niemand. Seine einzige Verbindung zur Zivilisation sind sein Weihnachtsgeschenk – die Uhr mit dem Foto seiner Partnerin – und einige Gegenstände, die von der Fracht des Flugzeugs an Land gespült werden: Gegenstände, die zunächst an diesem Ort der Erde absurd wirken: ein paar Schlittschuhe, ein Volleyball. Verzweifelt und vergebens versucht er, sich bemerkbar zu machen und Hilfe herbeizuholen, aber er ist wirklich ganz allein an diesem Ort im »Nirgendwo«. Wie für Alexander Selkirk steht auch für Chuck Noland nun das pure Überleben an erster Stelle. Er lernt, sich vor der Sonne, vor Wind und Wetter zu schützen, sich Trinkbares und Nahrung zu beschaffen. Bei Sturm und Regen findet er in einer Höhle Unterschlupf. Er ist schon ein paar Tage auf der Insel, als er versucht, Feuer zu machen. Bei dem Versuch, mit Hilfe zweier trockener Hölzer so viel Reibungshitze zu erzeugen, dass hieraus eine Flamme entsteht, entgleitet ihm sein Werkzeug. Schreiend und fluchend gibt er seinem Schmerz Ausdruck und schleudert den in der Nähe liegenden Volleyball – der die Markenaufschrift »Wilson« trägt – wütend beiseite. Seine blutverschmierte Hand hinterlässt einen Abdruck auf dem Ball, den er, als

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er ihn nach einer Weile wieder aufnimmt und betrachtet, spontan zu einem Gesicht ergänzt. Mit einem Mal ist Noland nicht mehr allein. Er kreiert sich Wilson als ein Gegenüber, mit dem er fortan seine Gedanken- und Gefühlswelt teilen kann. In Zukunft wird er seinen »imaginären Gefährten« (vgl. Seiffge-Krenke, 2001) in der Nähe behalten, wird ihm besondere Plätze zuweisen und mit ihm sprechen. Bei dem neuerlichen Versuch, Feuer zu machen, fragt er Wilson, sein lebensrettendes Übergangsobjekt (Winnicott, 2006) beiläufig und selbstironisch: »Du hast nicht zufällig ein Streichholz bei dir, oder?«

Abbildung 5 und 6: Chuck Noland (Darsteller: Tom Hanks) im »Gespräch« mit Wilson im Film »Cast Away – Verschollen« (Zemeckis/DreamWorks SKG, 2000). Szenenbilder. Mit freundlicher Genehmigung von Paramount Pictures.

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In der geschilderten Szene geht es unter anderem um die Bewahrung zweier elementarer zivilisatorischer Errungenschaften: um die Fähigkeit, Feuer zu machen, und um die Fähigkeit zur Bezogenheit und zur Kommunikation. Unter den gegebenen Bedingungen der völligen Isolation bedeutet dies vor allem den Erhalt der inneren Verbundenheit und die Aufrechterhaltung des Dialogs mit anderen. Auf der einsamen Insel, unter den in mehrfacher Hinsicht regressiven Lebensumständen, hat der Verunglückte als Erinnerungsstück zunächst nur das Portraitfoto seiner Geliebten. Dann aber erschafft er sich in dem spontanen Bedürfnis, seinen Schmerz und seine Not, aber auch seine Hoffnungen und seine Anstrengungen im Überlebenskampf mit jemandem zu teilen, einen Phantasiegefährten. Wilson, der Volleyball, wird von ihm spontan beseelt, vermenschlicht, und zu einem Objekt gestaltet, das er projektiv besetzen, mit dem er sprechen, und dem gegenüber er sogar, schon im ersten Satz, den er an ihn richtet, humorvoll sein kann (»Du hast nicht zufällig ein Streichholz bei dir, oder?«). So wird der zunächst nutzlos erscheinende Gegenstand zu einem eminent wichtigen Übergangsobjekt, mit dem er in Beziehung tritt wie ein Kind zu seinem Lieblingsspielzeug, einem Steifftier oder einer Schmusedecke. In einer Art inneren Spaltung erschafft sich Noland so ein Gegenüber, ein Du, das für ihn überlebenswichtig wird. Man kann diese Situation vergleichen mit dem Erleben eines Kindes, das sich auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, getrennt erlebt von der geliebten Bezugsperson, und das sich seine eigene Vorstellungswelt aufbaut, um qualvolle seelische Mangelzustände auszuhalten und kreativ zu kompensieren. So kreiert auch Noland innere Bilder – die er unter anderem auf die Wände seiner Höhle malt –, Imaginationen, die ihm helfen, in dieser aussichtslosen Situation nicht restlos zu verzweifeln. Auf diese Weise legt er den Grundstein für das eigene seelische Überleben. Er erreicht hierdurch auch, dass er seine Hoffnung nicht verliert, seinen Lebensmut, seinen Lebenswillen – und nicht zuletzt: seine Sprache. Mehr noch als Alexander Selkirk, der ja immerhin noch in der Bibel lesen konnte, ist er auf diese inneren Objektbeziehungen und auf seine Phantasie angewiesen. Der Betrachter des Films gewöhnt sich rasch an die »Dialoge« zwischen Mensch und personifiziertem Ball. Dies zeigt, wie tief

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das menschliche Bedürfnis nach Bezogenheit verwurzelt ist und wie selbstverständlich es für die meisten von uns ist, sich in eine solche Situation einzufühlen und sich spontan inneren Mitbewegungen zu überlassen. Mit Wilson teilt Noland fortan seine Sorgen, Gefühle und Gedanken, mit ihm ist er im Gespräch. In einer Art selbsttherapeutischer Ich-Spaltung schafft er sich sein Gegenüber, das gänzlich andere Bedürfnisse befriedigen kann als sein kostbares Erinnerungsstück, das Foto der geliebten Freundin, das man neben seiner realen Relevanz auch als Symbol der guten, der besseren, der liebevollen, fernen und vermeintlich heilen Welt begreifen kann. Wilson ist dagegen reines Projektionsobjekt, vielseitiger einsetzbar und verwendbar. Ihn kann er rücksichtslos anschreien, beschimpfen, ihm alles erzählen, was ihm wichtig ist, ihm all seine Gedanken mitteilen, wann immer er will. Wilson ist ständig verfügbar, omnipräsent, jederzeit bereit, Nolands jeweilige seelische Bewegung mitzuvollziehen. Wilson ist nicht gekränkt, nicht nachtragend, er verzeiht alles und ist auf seine Art nahezu unzerstörbar. So durchlebt Noland (noch einmal) ein Entwicklungsstadium, das mit der höchst kreativen Phase des kindlichen »Als-obSpiels« – auch Puppen und Kuscheltiere sind geduldig und nehmen nie etwas übel – verglichen werden kann (vgl. Lohmann u. Fooken, 2009). In der im Film dargestellten Situation findet also keine lebendige intersubjektive Kommunikation statt, sondern ein symbolisches intersubjektives Geschehen, das dem ›Helden‹ dabei hilft, immer wieder die eigene innere Verfassung zu klären und eigene Entscheidungen zu entwickeln und zu treffen – ein Vorgang, der auch innerhalb therapeutischer Beziehungsverhältnisse wohl nur durch eine in ausreichendem Maße zurückgenommene Haltung zu fördern oder zu erreichen ist. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch, bei dem er sich schwer verletzt hat, richtet sich Noland auf der Insel ein. Vier lange Jahre lang schwankt er zwischen Hoffnung auf Rettung von außen, dem Nachgrübeln über Fluchtmöglichkeiten aus eigener Kraft und Resignation. Die Jahre hinterlassen tiefe Spuren. Aus dem Wohlgenährten, an Komfort gewöhnten und selbstbewussten US-Bürger wird im Laufe der Zeit ein an die Natur angepasster, geschickter Jäger und wilder Mann, für dessen Überleben die Erinnerungen an die Geliebte und die

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Aufrechterhaltung der Bindung an sie von ebenso großer Bedeutung sind wie das Leben und die Gespräche mit Wilson. Aber auf lange Sicht sind diese Kompromissbildungen, so kreativ sie auch sind, nicht tragfähig. Der fortdauernde Entzug des lebendigen intersubjektiven Austauschs, des persönlichen Miteinanders, unterminiert und zersetzt seine seelische Gesundheit. Die allzu lange Einsamkeit und Isolation machen ihn krank und bedrohen ihn in seiner psychischen Existenz. Bernd Nitzschke hat in einem Beitrag an ein Experiment erinnert, das Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert initiierte. Der Kaiser wollte wissen, »›in welcher Weise sich Kinder miteinander verständigen würden, die niemals ein gesprochenes Wort gehört hätten‹. Aus diesem Grund ließ er ›verwaiste Säuglinge von Ammen aufziehen‹, die den Befehl hatten, die Kinder ›mit allem bestens zu versorgen, aber niemals ein Wort oder eine Liebkosung an sie zu richten‹. Des Kaisers Frage blieb unbeantwortet. ›Die Kinder starben‹, bevor sie sprechen konnten« (Nitzschke, 2009, S. 77).

Auch das wohl bekannteste Beispiel für eine extreme Vernachlässigung im Kindesalter und für durch sprachliche und soziale Deprivation hervorgerufene weitgehend irreversible Schädigungen, Kaspar Hauser, ist hier zu nennen. Nun sind Noland und Selkirk nicht schon als Kinder aus der Gemeinschaft herausgefallen und zu weitestgehender Isolation »verdammt« worden. Als mehr oder weniger normal Sozialisierte verfügen sie über einen entwickelten psychischen Apparat, einen Fundus an internalisierten guten und weniger guten Objekten, die sich in der Kindheit und über Jahrzehnte im Zuge vielfältigster sozialer Interaktionen und intersubjektiver Austauschprozesse herausgebildet haben. Dennoch ist ihre psychische Gesundheit durch die lange Isolation bedroht und ihre Symbolisierungsfähigkeit unterliegt durch die Einsamkeit und das Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst einem Zerfallsprozess. Die Bewahrung der Sprachfähigkeit, gegebenenfalls ihre Wiedererlangung, ist daher von entscheidender Bedeutung für den Erhalt des Selbst- und des Fremdbezuges. Wir können dies bei Selkirk und Noland nachvollziehen, bei alten oder auch bei sozial entwurzelten Menschen, die mit sich selbst oder ihren Tieren sprechen – das muss ja nicht einmal notwendigerweise ein pathologisches Geschehen sein –, wir kennen es als ein bedeutsames Phänomen bei weit in sich zurückgezogenen Patienten, die im Rahmen einer psychotherapeutischen

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Behandlung erst allmählich wieder lernen, verbal und emotional mit einem anderen Menschen in Beziehung zu treten, sich mitzuteilen, anzuvertrauen und auszutauschen. Chuck Nolands Erinnerungen verblassen wie das Foto seiner Geliebten. So sehr er auch mit seinen Träumen und seiner Vorstellungskraft gegen die Einsamkeit ankämpft, im Laufe von vier Jahren wird er schließlich doch ein abgestumpfter, verwilderter, unsicherer und ängstlicher Mensch, der in Folge der erlittenen Isolation zunehmend Zeichen von Verwirrung und psychischem Verfall zeigt, wie wir sie auch aus dem psychiatrischen Alltag kennen: emotionale Labilität, erhöhte Aggressionsbereitschaft, Irritierbarkeit und ängstliches Misstrauen. Im Film wird seine nunmehr desolate Verfassung in einer Szene dargestellt, in der er nach einem nächtlichen Unwetter von einem scheppernden Geräusch geweckt wird, das er zunächst Wilson zuschreibt. »Halt die Klappe!«, schreit er unbeherrscht. Als er aber mit Blick auf den stummen Wilson realisiert, dass der ungewohnte Lärm von einem angeschwemmten Gegenstand außerhalb seiner Höhle stammt, macht er sich angstvoll auf die Suche nach dem Störenfried. Mit seinem selbstgefertigten Speer versucht er, das von der Brandung immer wieder an einen Felsen geworfene Metallstück anzuheben, vorsichtig, als würde sich der Teufel selbst darunter verbergen. Dann aber fällt sein Blick auf einen ins Blech eingeprägten Schriftzug, aus dem für ihn ein Wort hervorsticht: »Bakersfield«. Dieser Ortsname, den er erst zweifelnd ungläubig, dann aufgeregt begeistert ausspricht und ausruft, bricht nun den Bann der verblödenden Einsamkeit und hilft ihm, aus seiner Lethargie und Isolation herauszufinden. Durch dieses Fragment der ihm wohlbekannten Zivilisation, durch dieses Teil eines Bauarbeiterklos, wird er daran erinnert, dass es die Welt außerhalb der Insel, seine Heimat, Amerika, tatsächlich noch gibt. Nun werden Gefühle von Bindung und Verbindung mit der Gemeinschaft, der er sich im Innern stets zugehörig fühlte, wiederbelebt. In der Betrachtung des angeschwemmten Metallstücks kommt Noland auf die Idee, ein Floß zu bauen und das haltbare Strandgut als Segel zu benutzen. Seine Lebensgeister, seine Intelligenz, seine Hoffnungen und sein Tatendrang beleben sich aufs Neue, aber auch seine Zweifel und Ängste.

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Nachdem er neu motiviert und ausdauernd seine Ideen in die Tat umgesetzt hat, findet er in der Nacht vor dem geplanten Befreiungsversuch kaum in den Schlaf. Wieder einmal teilt er auch in dieser Situation seine Gefühle und Befindlichkeiten mit Wilson: »Du bist noch wach? – Ich auch. Hast du Angst? – Ich auch.« Es ist nicht nur ein dramaturgisch-filmisches Stilmittel, das hier, in diesem kurzen, einseitigen »Dialog« zum Einsatz kommt. Vielmehr ist in diesem Moment – wie oft im Kinderspiel – die Spiegelfunktion des Gegenübers nur in der Phantasie, im freien Rollenspiel zu realisieren. Der innerseelische Verarbeitungsprozess kann sich den-

Abbildung 7 und 8: Chuck Noland kommt auf die Idee, mit Hilfe eines angeschwemmten Metallstücks ein Floß zu bauen. Nach dem Verlust von Wilson übergibt er die Ruder dem Meer. Szenenfotos aus dem Film »Cast Away – Verschollen« (Zemeckis/DreamWorks SKG, 2000). Mit freundlicher Genehmigung von Paramount Pictures.

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noch auch unter den reduzierten Bedingungen entfalten, indem und weil er als lebendiger intersubjektiver Austauschprozess imaginiert wird. So kann er helfen, die bedrängenden Affekte zu bewältigen, die beunruhigenden Erlebnisse zu verarbeiten, zur (Selbst-)Beruhigung und Angstreduktion beizutragen. Am folgenden Tag wird das fertige Floß zu Wasser gelassen. Noland (und Wilson!) schaffen es, die Brandung zu überwinden und die See zu bezwingen, bis ein Sturm aufkommt, dem das kleine Boot dann doch nicht mehr gewachsen ist. Aber es ist nicht allein und nicht einmal in erster Linie das Scheitern des Befreiungsversuchs, der drohende Tod, der unseren fiktiven »Patienten« seine ganze Verzweiflung und seinen Schmerz spüren, der ihn nun verzweifeln und resignieren lässt – es ist der Verlust des längst zur Person mutierten Volleyballs, der sich aus seiner Verankerung gelöst hat und nun von der Strömung immer weiter abgetrieben wird. Ein mit letzter Kraft unternommener Versuch, ihn noch schwimmend zu erreichen und zurückzuholen, misslingt. »Ich kann nicht mehr«, ruft Noland Wilson zu, und: »Es tut mir leid, es tut mir so leid«. Er spricht zu ihm, seinem Leidensgenossen, seinem Hoffnungsträger, seinem Alter Ego, und gleichzeitig zu sich selbst. Die Trennung von Wilson ist für ihn gleichbedeutend mit der Akzeptanz der Niederlage, der Akzeptanz des bevorstehenden Todes. Folgerichtig übergibt er der See seine beiden Ruder. Das könnte durchaus das Ende des Films sein. Es ist aber scheinbar so, dass die meisten Menschen von Märchen und Geschichten besonders berührt werden, wenn sie ein glückliches Ende nehmen. Und so wird auch Chuck Noland im Film »Cast Away – Verschollen« doch noch gerettet und seine Geschichte kann noch ein bisschen weitererzählt werden. Was aber Wilson betrifft, so kann man aus seiner Bedeutung für den in Not geratenen Noland auch erkennen, dass eine gute und geduldige Projektionsfläche manchmal für das Überleben eines in innerer Not und Isolation Befindlichen von überlebenswichtiger Bedeutung ist. Anders gesagt: Die Rolle des zuhörenden und des zurückhaltenden Beraters und besonders des Analytikers, der auch seine Funktion als Projektionsfläche annimmt, bleibt bei aller Anerkennung der Bedeutung des intersubjektiven Verstehens-, Beziehungs- und Arbeitsansatzes von nicht zu unterschätzender Bedeutung und Wirksamkeit, vor

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allem bei Patienten, die noch vor der Aufgabe stehen, erst allmählich eigene wohlwollende innere Selbstrepräsentanzen zu entwickeln.

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Aggression – eine intersubjektive Sichtweise1

Aggression – an intersubjective point of view The close connection between the therapist’s subjectivity, his choice of theory and the vicissitudes of the therapeutic process are demonstrated. Aggression played a pivotal part in the life history of the patient described in the case material. Inasmuch as the therapeutic encounter is understood from an intersubjective viewpoint, the therapist’s personal experience of aggression and the effect it had on the process is also considered. The paper attempts to show that no matter which analytic school informs our theoretical understanding, we can only understand the therapeutic process in terms of the interaction between the patient’s and the analyst’s transference. The paper tries to show that whatever our theory of aggression is, we can only comprehend its meaning as it becomes contextualized in the intersubjective field of a specific therapeutic encounter.

Zusammenfassung Im folgenden Beitrag wird der enge Zusammenhang zwischen therapeutischer Subjektivität, Wahl der Methodik und den Wechselfällen des therapeutischen Prozesses aufgezeigt. Dabei spielte, wie in der Fallstudie der geschilderten Lebensgeschichte des Patienten verdeutlicht, die Aggression eine entscheidende Rolle. In dem Maße, in dem die therapeutische Begegnung von einem intersubjektiven Standpunkt heraus verstanden wird, werden auch die persönliche Erfahrung des Therapeuten mit Aggression und die damit zusammenhängenden Auswirkungen auf die Prozesse mit berücksichtigt. Der Beitrag versucht zu zeigen, dass wir – ganz unabhängig davon, welche psychoanalytische Richtung unser theoretisches Verständnis geprägt hat – die therapeutischen Prozesse nur aus der Interaktion zwischen der Übertragung des Patienten und des Analytikers verstehen können. In diesem Beitrag wird unabhängig von der zugrunde gelegten Aggressionstheorie versucht nachzuweisen, dass wir die Bedeutung der Aggression nur insoweit verstehen können, als sie sich im intersubjektiven Feld eines konkreten therapeutischen Zugangs kontextualisiert.

1 Dieser Artikel (übersetzt von E. Vorspohl) wurde erstmals 2009 in der Zeitschrift Selbstpsychologie (Heft 36/37, 2–3) publiziert und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlages, Stuttgart, abgedruckt.

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Vorbemerkung Diese Arbeit ist eine Kurzfassung des Kapitels über Aggression aus meinem Buch (2010) »Veränderung in der Psychoanalyse« (Arbeitstitel). Eine der Hauptthesen des Buches ist, dass die Subjektivität des Therapeuten für seine theoretische Orientierung und besonders für den Behandlungsverlauf eine weit wesentlichere Rolle spielt, als bisher angenommen wurde. Es gilt nun zu klären, inwieweit meine Thesen weiter nichts sind als das sehr bescheidene Resultat meiner persönlichen Erfahrung. Wir können, wie ich zu zeigen versucht habe, unsere Subjektivitäten nicht aus unseren Theorien extrahieren. Wir können sie lediglich explizit machen. In meiner Kindheit und Jugend habe ich mich infolge zahlreicher Umzüge wie ein Steppenläufer gefühlt, den der Wind durch unzählige Länder, Kulturen und Sprachen vor sich her treibt. Das Gefühl der Entwurzelung und Heimatlosigkeit, das mich ständig begleitete, ließ mich zu der Überzeugung gelangen, nirgendwo, gleichgültig wo ich mich befand, »richtig« zu sein. Daraus entwickelte sich ein Organisationsprinzip, das mir vor allem anderen die Fähigkeit abverlangte, mich an einen Konflikt zwischen meiner Integrität und meinem Bedürfnis, die Verbindung zu meiner Umwelt nicht zu verlieren, anzupassen – ungeachtet dessen, was ich erlebte. Mit anderen Worten: Das Ergebnis waren Unterwürfigkeit und Gefügigkeit, denn ich war überzeugt, dass meine schiere Existenz von meiner Anpassungsfähigkeit abhing. Noch zerstörerischer waren mein Gefühl, nichts zu taugen, und mein Schuldbewusstsein, denn wie jedes Kind gab ich mir selbst die Schuld an all diesen quälenden Gefühlen. Inmitten all der Turbulenzen, die mich umgaben, lernte ich, mich still zu verhalten. Ich scheute vor Konflikten zurück und ging direkter Aggression aus dem Weg. Zusätzlich bestärkt wurde ich in meiner Angst vor Aggression durch die schwierige Beziehung zwischen meinen Eltern und durch meinen älteren Bruder, der in seiner eigenen Verzweiflung mein Rivalitätsverhalten nicht ertrug und in einem Versuch der Selbstkorrektur die Rolle des Angreifers übernahm. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie meine eigenen Organisationsprinzipien im Zusammenhang mit Ag-

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gression den Behandlungsverlauf, den ich schildern werde, im Guten wie im Schlechten beeinflussten. Wenn ich den Advocatus diaboli spielen und ein Plädoyer gegen mich selbst halten müsste, würde ich behaupten, dass mein Organisationsprinzip der Willfährigkeit mich zur Betonung des Primats der wechselseitigen Regulierung veranlasste, dass meine eigenen Überlebenskämpfe mich zur Formulierung der »kritischen Zuspitzung« bewogen und dass mein Bedürfnis, meine Integrität zu schützen, meiner Behauptung zugrunde liegt, dass Patient und Therapeut sich verändern müssen, damit die Psychotherapie etwas bewirken kann. Meine Antwort auf diese kritischen Einwände lautet, dass meine Subjektivität selbstverständlich mit meinem theoretischen Denken verwoben ist. Entscheidend ist, wie meine mehr oder weniger aufmerksame Wahrnehmung meiner Subjektivität den Verlauf der Behandlung beeinflusste und ob mein Grundsatz zutrifft, dass jede Form der Subjektivität des Analytikers eine zentrale Rolle für das Verständnis der Schicksale des intersubjektiven Feldes spielt. Im Laufe der Behandlung stellte sich mir die Frage, wie sich meine persönlichen Erfahrungen mit überwältigenden Affekten, mit Aggression und Konflikten, auf den Prozess auswirkten. Da es sich um einen Fallbericht unter dem Blickwinkel der Intersubjektivitätstheorie handelt, für die das Feld durch beide Subjektivitäten determiniert wird, beschreibe ich auch meine eigene Subjektivität, insoweit diese für das Verständnis des Behandlungsprozesses notwendig ist. In den Bericht über die Reaktionen beider Beteiligter schalte ich theoretische Erläuterungen über das Aggressionsverständnis verschiedener analytischer Schulen ein. Ich hoffe zu zeigen, dass wir das, was in einer Analyse geschieht – gleichgültig, welchen Argumenten wir uns anschließen –, als ein »größeres System [verstehen können], das durch die wechselseitige Interaktion zwischen der Übertragung des Patienten und der Übertragung des Analytikers erzeugt wird« (Stolorow, Atwood u. Brandchaft, 1994, S. 38). Anders formuliert: Wir können das, was geschieht, verstehen, indem wir das intersubjektive Feld verstehen.

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Frau M. Als Frau M. zu mir in Behandlung kam, war sie Ende dreißig. Sie wirkte auf mich wie von einer warnenden Aura umgeben, die »Bleib mir vom Leib« und: »Leg dich bloß nicht mit mir an« zu signalisieren schien. Ihr Gesichtsausdruck aber war der eines Menschen, der unter Schock steht, traumatisiert ist, verletzt und bis aufs Blut geschlagen wurde – ein stummer Hilfeschrei hinter dem aggressiven Schutzschild ihrer Offensivverteidigung. Sie sagte, dass sie misshandelt worden sei: »Mein Vater ist ein Schwein.« Ihre Mutter habe sie benutzt, um sich selbst über Wasser zu halten. Sie könne ihre eigenen Grenzen nicht spüren, fühle sich wie ein Opfer. Sie befürchte, dass kein Mann es mit ihr aushalten werde. Auch der Analytiker werde nicht ungeschoren davonkommen. Bislang hätte sie noch jeden auf die Palme gebracht. Sie wolle lernen, mit Beziehungen umzugehen, und hoffe auf den Rückhalt, der ihr immer verwehrt geblieben sei. Ihr Vater habe sie in aller Öffentlichkeit verprügelt und um den ganzen Wohnblock gejagt. Er habe ausgeholt und zugeschlagen, so dass sie durchs Zimmer geflogen sei. Sie fühle sich beruflich und im Leben überhaupt wie gefangen, als stecke sie in einer Falle. Sie habe das Gefühl, nicht respektiert, nicht als ebenbürtig behandelt zu werden. Lebendig fühle sie sich, wenn sie um jemanden kämpfe. Ohne Auseinandersetzungen drohe ihr die innere Leere. Ihr Freund sei ambivalent. Sie wünsche sich Kinder und habe Angst, schon bald zu alt dafür zu sein. Sie habe auch Angst, in der Beziehung einzugehen – das Begehren würde sich verflüchtigen, und dann wären sie miteinander wie Bruder und Schwester. Sie habe einen anderen Analytiker abgelehnt, weil sie sich die Analyse bei ihm nur wie einen nicht endenden Kampf habe vorstellen können. Im Laufe ihrer insgesamt sechsjährigen Behandlung lernte ich weit besser zu verstehen, dass Frau M.s Grundeinstellung zum Leben ganz im Zeichen ihrer Überzeugung stand, Unrecht erlitten zu haben und zutiefst verletzt worden zu sein. Infolgedessen war sie von einer chronischen Empörung durchdrungen, die ohne Unterlass in ihr schwelte und jeden Moment zu explodieren drohte. Eine andere Seite ihrer Explosivität waren ihr hitziges Temperament und die Leidenschaft, mit der sie ihre Überzeugungen vertrat. Wie reagierte ich? Ich war angesichts der schieren Wucht ihrer Persönlichkeit ebenso verdattert

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wie berührt von ihrem Schmerz, und mir war augenblicklich klar, dass ich früher oder später zur Zielscheibe ihrer Wut werden würde – wie sie es ja auch selbst angekündigt hatte. Mehr noch als die Wut aber war es ihre Strenge, die ein Gefühl der Angst in mir weckte. Von Anfang an brachte Frau M. eine tiefe Ambivalenz gegenüber der Analyse zum Ausdruck. Einerseits hielt sie es für dringend erforderlich, dreimal wöchentlich zu mir zu kommen. Andererseits hatte sie Angst, verschlungen und ausgebeutet zu werden und ihre eigenen Grenzen in einer derart verbindlichen Beziehung zu verlieren. Fünf Monate nach Beginn der Therapie erklärte sie verärgert, sie wolle nicht nach meiner Pfeife tanzen müssen. Die Sitzungsfrequenz wurde für viele Jahre zu einem Dauerthema. Öfter als einmal wöchentlich zu kommen bedeutete für sie automatisch, ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen und sich meinen Erwartungen unterzuordnen. Es dauerte nicht weniger als vier Jahre, bis sie das Gefühl hatte, sich mir dreimal pro Woche gefahrlos anvertrauen zu können. Innerhalb und außerhalb der Behandlung konnte sie ihre Grenzen nur durch Aggressionsausbrüche behaupten. Regelmäßig trennte sie sich von ihrem Freund, um sich dann wieder mit ihm zusammenzutun. Nach lautstarken Streitigkeiten geriet sie in Todesangst, die sie loszuwerden versuchte, indem sie mit Büchern um sich warf. Ihr war bewusst, dass sie in einem Dilemma steckte: Weil sie sich vor einem Selbstverlust fürchtete und den Freund deshalb zurückweisen musste, konnte sie nichts mit ihm teilen; dann aber geriet sie in Wut, wenn er sie vernachlässigte. Sie hasste ihre eigene Bedürftigkeit und wusste, dass sie ihn nur dann rauswerfen konnte, wenn sie sich seiner Rückkehr sicher war. Beide erlebten die Liebe als ein Verschlungenwerden, als Selbstauslöschung, und sehnten sich gleichzeitig danach, vom anderen geliebt zu werden. Panikattacken und Suizidphantasien folgten auf jede Trennung. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sie als Kind mit der Drohung, nie mehr zurückzukehren, allein gelassen und ihr die Schuld daran gegeben hatte, dass ihre Geschwister mutterlos würden aufwachsen müssen. Als Kind versteckte sie sich in ihrem Zimmer, wenn ihr Vater zu Hause war. Sie wusste nie, wann er sie schlagen würde, geschweige denn, wofür. Wenn ihr jüngerer Bruder, der »Prinz« in der Familie, den Eltern Geld stahl, wurde sie bestraft. Sie blieb in ihrem Versteck,

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träumte sich an einen anderen Ort mit vielen Süßigkeiten oder erträumte sich eine Hochzeit in Weiß als Trost. Das permanente Gefühl der körperlichen Bedrohung durch den Vater und des Alleingelassenwerdens durch die Mutter war mit Händen greifbar. Frau M. fühlte sich abgrundtief schutzlos. In der Behandlung reagierte sie wütend, als ich wegen einer plötzlichen Erkrankung eine Sitzung absagen musste. Meine Ferien bedeuteten für sie, dass ich sie im Stich ließ. Auch die Vorstellung, auf der Couch zu liegen, weckte in ihr das Gefühl, allein gelassen zu werden und niemanden zu haben, auf den sie wütend sein konnte. Bereits der Gedanke daran, sich klein und hilflos zu fühlen, ließ sie in Wut geraten. Vage Katastrophenängste wurden abgelöst von Phantasien, in denen sie mich quälte. Sie machte mich dafür verantwortlich, dass ihr nach der Arbeit und vor den Sitzungen keine Zeit zum Essen blieb. »Warum bieten Sie mir nicht wenigstens einen Schokoriegel an?«, fragte sie mit unverkennbarer Wut, auch wenn sie ihren Worten einen scherzhaften Anstrich zu geben versuchte. Wenn ich sie im Wartezimmer abholte, traf ich sie häufig beim Essen an. Nach den Sitzungen aß sie Schokolade. Ihre Wut richtete sich vorwiegend gegen ihre Kollegen und ihren Freund, doch die Art und Weise, wie sie darüber berichtete, ließ keinen Zweifel daran, dass ich zur Verbesserung ihrer Situation wenig oder nichts beitrug. Häufig leitete sie die Sitzungen mit langen Tiraden über das große Opfer ein, das sie brachte, wenn sie mit leerem Magen die weite Fahrt auf sich nahm, obwohl sie viel lieber zu Hause wäre. Ich reagierte auf all dies, indem ich Frau M.s Deprivationsgefühle anerkannte und mit ihr gemeinsam nach den Auslösern ihrer Wut und Empörung forschte. Am wichtigsten erschien es mir, ihre Wut zu halten und nicht meinerseits angriffslustig zu reagieren. Tatsächlich ließ ihr Zorn nach etwa einer Viertelstunde gewöhnlich nach, und sie konnte sich wesentlich ruhiger anderen Dingen widmen. So vergingen die Sitzungen und im Laufe der Zeit wurde ich mir eines gewissen Überdrusses bewusst. Ich musste meine eigenen Wut- und Ohnmachtsgefühle im Zaum halten. Nach einer Weile deutete ich ihr, dass ich es für wichtig hielt, ihrer Kampfeslust nicht mit denselben Waffen zu begegnen, denn solche Reaktionen seien ihr vertraut und lenkten sie von ihrem Grundgefühl ab, ihrer Verzweiflung und Bedürftigkeit. Wenn ich ihre Bedürftigkeit mir gegenüber direkt ansprach,

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bestritt sie sie regelmäßig und behauptete, keinerlei Gefühle in Bezug auf mich zu empfinden. Uns beiden war klar, dass dies nicht zutraf, doch wir konnten über solche Gefühle nur so sprechen, als ob sie Teil eines parallelen Universums seien. Auf der bewussten Ebene gingen mir zwei Überlegungen durch den Kopf: Einerseits hielt ich meine Reaktionen für ausgesprochen hilfreich. Ich wusste, dass die Wutanfälle Frau M.s einzige Möglichkeit waren, ein fragiles Selbstgefühl zu stützen und aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite aber war ich allmählich zermürbt, und mein eigenes Integritätsgefühl begann unter all der Wut und Verzweiflung, die ich absorbieren zu müssen glaubte, zu leiden. Einem Teil in mir widerstrebte es, als Punchingball herzuhalten. Außerdem war mir bewusst, dass ich es aufgrund meiner eigenen Subjektivität und all der Jahre, in denen ich die Aggression meines älteren Bruders absorbiert hatte – zum einen, weil ich der körperlich Schwächere war, zum anderen aus Loyalität ihm gegenüber und um ihn vor dem noch größeren Zorn meiner Eltern zu schützen –, hervorragend gelernt hatte, ohne Gegenschlag abzuwarten, bis der Zorn eines jeden Aggressors verraucht war. Mir war sogar ein letztlich masochistisches Gefühl der sadistischen Befriedigung und des Stolzes auf meine Duldsamkeit bewusst. Deshalb fragte ich mich, ob es tatsächlich richtig war, mich von der Patientin »prügeln« zu lassen, oder ob ich sie stattdessen konfrontieren sollte. Lagen meiner Haltung solide theoretische Überlegungen zugrunde oder war ich schlicht und einfach unfähig, anders zu reagieren? An dieser Stelle scheinen mir einige theoretische Erläuterungen zu dem Fallmaterial angebracht.

Theoretische Überlegungen Im Folgenden werde ich Argumente aus verschiedenen psychoanalytischen Schulen erörtern – der freudianischen Psychoanalyse, der Selbstpsychologie, der kleinianischen Theorie, der relationalen und feministischen Psychoanalyse und der Theorie der motivationalen Systeme.2 Die Intersubjektivitätstheorie postuliert, dass jeder Klini2 Ich stütze meine Ausführungen auf ein Heft der Zeitschrift »The Analytic

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ker ungeachtet seiner theoretischen Präferenzen intersubjektiv arbeiten kann. Um die folgenden theoretischen Überlegungen in unserer Perspektive darzustellen, muss ich die Diskussion deshalb mit einer Beschreibung unserer klinischen Sensibilität einleiten. Dies wiederum bedeutet, dass ich mit meiner eigenen Subjektivität beginne. Bestimmte kritische Einwände gegen meine klinische Arbeit können zur Klärung des intersubjektivistischen Blickwinkels ausgesprochen hilfreich sein. Mir wurde zum Beispiel unterstellt, dass ich aufgrund meiner Persönlichkeit wie auch meines selbstpsychologischen Hintergrundes nicht in der Lage sei, mit Aggression umzugehen. In dieser Kritik sind zwei Annahmen impliziert, die ich für unzutreffend halte. Die erste davon besagt, dass ein Analytiker in ein vorgegebenes, normatives psychologisches Profil passen müsse, um analytische Arbeit im eigentlichen Sinn leisten zu können. Im Gegensatz dazu halten wir dies weder für möglich noch für notwendig. Erforderlich ist vielmehr, sich ständig zu vergegenwärtigen und zu bedenken, wie die Organisationsprinzipien unserer eigenen Persönlichkeit unsere Patienten und das intersubjektive Feld beeinflussen. Ich habe bereits versucht zu erklären, dass ich die Kritik, dass Aggression für mich ein schwieriges Terrain sei, verstehen und ihr sogar zustimmen kann; der Schlussfolgerung aber, dass ich sie deshalb nicht bearbeitete, widerspreche ich entschieden. Als Intersubjektivisten gehen wir davon aus, dass die Bewussthaltung unserer Organisationsprinzipien das »sine qua non« für die Fähigkeit ist, sich von ihnen zu dezentrieren und die Aufmerksamkeit auf die wechselseitige Regulation zu richten, die den therapeutischen Austausch steuert. Normative technische Sichtweisen bringen das Problem mit sich, dass sie ein bestimmtes klinisches Verhalten vorschreiben, und ebendies ist für den Therapeuten und für den Patienten von Nachteil. Die zweite Grundannahme – die Selbstpsychologie befasse sich nicht mit der Aggression – beruht zum Teil auf einem Missverständnis der selbstpsychologischen Theorie, zum Teil auf basalen theoretischen Differenzen, die manche Theoretiker, beispielsweise Frank Lachmann Inquiry« (18/1, 1998) zum Thema »Aggression – Contemporary Controversies« sowie auf F. Lachmanns (2000) Buch »Aggression verstehen und verändern« (dt. 2004).

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(2000), für unüberwindbar halten. Solche theoretischen Differenzen können unterschiedliche klinische Ansätze fundieren. So lehnt etwa die Selbstpsychologie das Postulat eines angeborenen Aggressionstriebs ab. Bevor ich die unterschiedlichen Sichtweisen näher erläutere, sei festgehalten, dass die Wahl unserer Theorien unsere Subjektivität widerspiegelt, so wie sich in den Theorien selbst unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben abbilden. Auch in diesem Punkt haben meine Kritiker also teilweise recht. Wenn man die Aggression als kontextunabhängiges Fundament der menschlichen Persönlichkeit betrachtet, kann eine prinzipiell aversive Haltung gegenüber dem Patienten die logische Folge sein. Nimmt man hingegen an, dass Aggression entweder eine Reaktion auf Defizit, Deprivation, Frustration und Trauma ist – was dem selbstpsychologischen Verständnis entspricht – oder Bestandteil eines Motivationssystems, das aversive Reaktionen ermöglicht (Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage, 1992), dann wird man im konkreten Fall eher nach dem Kontext suchen, in dem das aggressive Verhalten tatsächlich ausgelöst wurde. Und ein solches kontextuelles Verständnis wird immer auch die Rolle des Therapeuten berücksichtigen. Ergo trifft es zwar zu, dass eine weniger aversive Haltung meiner Persönlichkeit entspricht; in analoger Weise aber ist auch ein eher konfrontativer Stil Ausdruck der Subjektivität des Klinikers. Unsere Aufgabe bleibt, um es zu wiederholen, die gleiche: Wir müssen uns bewusst machen, wie unsere unterschiedlichen Subjektivitäten die Behandlung beeinflussen.

Angeborene versus reaktive Aggression Wir beginnen – wie sollte es anders sein? – mit Freud, der in seiner Schrift »Jenseits des Lustprinzips« (1920g) bekanntermaßen zwischen Lebens- und Todestrieben unterschied und den Aggressionstrieb als einen von den anderen Trieben unabhängigen Abkömmling des Todestriebs betrachtete. Das Ziel des Aggressionstriebs, daran lässt Freud keinen Zweifel, sind Tod und Zerstörung. Der Mensch neigt dieser Sichtweise zufolge von Natur aus zu Hass und Grausamkeit und hat lebenslang die Aufgabe, diese Leidenschaften zu meistern und zu überwinden. Die Frage lautet somit, ob die Aggression als

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»primäres, obligatorisches Streben triebhafter Art« (Raphling, 1998, S. 100), das allein durch das Ich modifiziert werden kann, angeboren ist. Verstehen wir die Destruktivität als Abkömmling der Aggression, als Entität, die wir als Teil unserer selbst akzeptieren müssen? Gibt es, wie Rothstein (1980) behauptet, in jedem Menschen »eine Quelle elementarer Wut« (S. 433)? Oder ist die Aggression, wie Kohut und nach ihm Lachmann (2000; 2004) zu bedenken geben, »eine Reaktion auf massive Deprivation, auf Frustration und narzisstische Kränkungen, die die Entfaltung des Selbst verhindern« (S. 22)? Solche Beeinträchtigungen der Selbstentwicklung beruhen auf Unterbrechungen der für das Kind unentbehrlichen Verbindung zu seiner Betreuungsperson. Hat die Wut zum Ziel, das Objekt zu zerstören, oder ist sie ein Ringen um die Integrität des Selbst, ein Versuch, die Selbstkohärenz wiederherzustellen? Lachmann (2000) zufolge schließen sich die Positionen angeborene versus reaktive Aggression gegenseitig aus. Sie sind nicht miteinander vereinbar. Das bedeutet, dass Kliniker ihre Patienten je nach ihrem theoretischen Bezugsrahmen unterschiedlich behandeln werden. Das Hauptargument der triebtheoretisch orientierten Kritiker der Selbstpsychologie stützt sich auf die Biologie der Triebe und insbesondere der Aggression. Auch Mitchell, ein Vertreter der relationalen Psychoanalyse, nimmt eine unverkennbare Polarität zwischen Freudianern und Nicht-Freudianern wahr und konstatiert, dass jede Seite die andere eines unzulänglichen Realitätsverständnisses beschuldigt (Mitchell, 1998a). Drängen unsere Triebe uns zu Grausamkeit und Hass? Ist das Leben ein Kampf um die Kontrolle über diese Leidenschaften? Oder werden wir im Zustand der Unschuld geboren und entwickeln Hass erst in Reaktion auf erlebte Grausamkeit und Deprivation? Verleugnen wir unsere dunklen und animalischen Seiten? Verschließen wir die Augen vor der tieferen Wahrheit über das Wesen des Menschen, oder konzeptualisiert die freudianische Theorie schwierige Aspekte der menschlichen Natur als eine psychologische Variante der Erbsünde – um den Preis, dass sie Kindesmissbrauch und -vernachlässigung bagatellisiert und auch nicht sieht, welchen Beitrag wir zu den aggressiven Reaktionen unserer Patienten leisten? Mitchell wirft dem klassischen triebtheoretischen Verständnis der Aggression vor, zu ignorieren, dass da, wo Aggression ist, auch eine Bedrohung

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ist. Die Triebtheorie, so Mitchell, nimmt auf den subjektiven Kontext der Gefährdung zu wenig Rücksicht. Wenn wir die Aggression als angeborenen Trieb betrachten und den psychologischen Kontext der Bedrohung ausklammern, könnten wir sie für unangemessen und ungerechtfertigt halten. In diesem Fall zwingen wir unsere Patienten zur Gefügigkeit oder zum Trotz oder zu beidem (Mitchell, 1998a). Am selbstpsychologischen Ansatz kritisiert Mitchell, dass dieser die subjektive Wahrnehmung mangelnder Einfühlsamkeit betone und den Einfluss vernachlässige, den die Subjektivität des Patienten auf dessen Reaktionen ausübt. Die relationale Schule hat Kohuts Empathiebegriff als neue Variante des anachronistischen Konzepts der »Neutralität« des Analytikers kritisiert. Die Kritik konzentriert sich auf die Vorstellung, dass der Patient für die Auswirkungen seiner Subjektivität auf den Therapeuten nicht genügend verantwortlich gemacht werde. Deshalb besteht ein Aspekt der relationalen analytischen Technik darin, dem Patienten aktiv die Subjektivität des Analytikers bewusst zu machen, indem der Analytiker ihm beschreibt, wie er selbst sich fühlt. Bevor wir uns weiteren theoretischen Überlegungen zuwenden, möchte ich die bislang erwähnten Theorien in einer intersubjektivistischen Diskussion der Behandlung von Frau M. erörtern. Bis zu diesem Punkt lief die Diskussion des Fallmaterials auf zwei miteinander zusammenhängende Fragen zu. Erstens: Reagierte ich im Interesse meiner Patientin, indem ich sie nicht konfrontierte? Zweitens: Beruhte meine Reaktion auf einem theoretischen Missverständnis, das wiederum untrennbar mit meiner eigenen Persönlichkeit zusammenhing? Womöglich fügten sich die Grenzen meiner Subjektivität nahtlos in meine selbstpsychologisch fundierte Theorie ein und ein triebtheoretisches Verständnis der Aggression wäre besser geeignet gewesen, meiner Patientin zu helfen. Hätte ich ihre Wut nicht als Reaktion auf eine narzisstische Kränkung verstanden, sondern als primäre Bewegkraft, dann hätte ich Frau M. konfrontieren müssen. Als sie mir zum Beispiel ohne jedes Verständnis für mein Befinden vorwarf, sie unverfroren fallen zu lassen, als ich wegen meiner Erkrankung eine Sitzung absagen musste, hätte ich dieses Verhalten als Ausdruck ihres Egoismus, ihrer Arroganz und Selbsterhöhung verstehen können, als Beweis für ihre Unfähigkeit, Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen.

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Wenn ich ihre Wut hingegen als Selbstregulation und als Korrektur eines narzisstischen Ungleichgewichts verstand, tat es nicht not, sie als einen Versuch zu sehen, mich zu schikanieren. Ausgehend von meinem eigenen Gefühl, hätte ich eine triebtheoretische Sichtweise befürworten können, denn ich fühlte mich in der Tat schlecht behandelt, ich war verletzt. Ich konnte mich aber von meiner Reaktion distanzieren und mein Augenmerk darauf richten, dass die Patientin sich bedroht fühlte. Hätte ich dieses Bedrohungsgefühl nicht ernst nehmen können, dann hätte ich ihre Aggression zur Begründung ihrer tyrannischen Selbstsucht herangezogen. Hätte ich mich nicht dezentrieren können, hätte ich meine Reaktion auf sie mit einem falsch interpretierten Verhalten der Patientin verwechselt. Nichtsdestoweniger blieb in mir ein Restgroll, der mich beunruhigte und es nicht zuließ, dass ich mich auf meinen Lorbeeren ausruhte und mir meine Fähigkeit, mich zu dezentrieren und den korrekten theoretischen Blickwinkel einzunehmen, zugute hielt. Rückblickend kann ich den Beitrag meiner eigenen Organisationsprinzipien umfassender verstehen. In meiner Mutterübertragung fürchtete ich Frau M.s Zorn und versuchte deshalb, sie zu beruhigen, geduldig abzuwarten und den Affekt – meinen eigenen wie auch den meiner Patientin – zu halten. Meine früheren verschmelzungsartigen Bindungen hatten meine Autonomie in höherem Maß gestützt als bedroht und meine Trennungsangst hatte zu einer Abwehr des aggressiven Affekts geführt. Mir war damals auch bewusst, dass ich mich davor fürchtete, von meiner Wut, sollte ich sie an die Oberfläche treten lassen, überwältigt zu werden. Ich fürchtete mich vor einer Erfahrung, die ich aus meiner Kindheit kannte, vor einer Affektüberflutung. Kurz, mein theoretisches, von meiner Subjektivität durchdrungenes Verständnis war für unsere Arbeit sowohl eine Hilfe als auch ein Hindernis. Es versetzte mich in die Lage, Frau M.s Wut zu kontextualisieren, ignorierte aber Mitchells (1998a) Forderung, dass »die Gründe die Reaktion nie vollständig erklären; dazu ist eine analytische Erforschung der Struktur der multiplen Subjektivitäten des Analysanden erforderlich« (S. 29). Die Triebtheorie versteht Destruktivität als Ausdruck der Aggression, einer Entität, die in uns existiert und infolgedessen als Teil unserer selbst anerkannt werden muss. Frau M. hatte von ihrem Vater wiederholt zu hören bekommen, dass sie auf Männer abschreckend wirke

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und dass sie nie einen Partner »abkriegen« würde. Infolgedessen hätte sich eines der Organisationsprinzipien der Patientin mit einer triebtheoretischen Deutung ergänzt und sie in ihrer Überzeugung bestätigt, von Grund auf pathologisch zu sein. Zwischen einer dekontextualisierten Sicht der Aggression und einer moralisierenden Zuschreibung von Verantwortung liegt zwar nur ein Schritt, die Frage nach der Urheberschaft aber ist trotzdem legitim und beachtenswert. Unter dem intersubjektivistischen Blickwinkel würden wir Frau M.s Wutreaktion innerhalb ihres eigenen Bezugsrahmens zu verstehen versuchen und gleichzeitig berücksichtigen, dass sie vom Analytiker und von der Patientin ko-konstruiert wurde. Beide organisieren die Interaktion, wenn auch nicht zwangsläufig in ähnlicher oder gar gleicher Weise. Wenn wir noch einmal auf meinen Grundsatz zurückkommen, dass die Subjektivität des Analytikers – in ihrer Überschneidung mit der Subjektivität des Patienten – den Behandlungsprozess in weit höherem Maße beeinflusst, als in der Vergangenheit anerkannt wurde, dann könnten wir den Schluss ziehen, dass ich die richtige Deutung gab, weil ich gleichermaßen von den Grenzen meiner Subjektivität wie auch von meiner Theorie geleitet wurde. Betrachten wir das intersubjektive Feld unter einem kohutianischen und intersubjektivistischen Blickwinkel: Frau M.s destruktive Aggression war Ausdruck der narzisstischen Wut, die ihre traumatischen Enttäuschungserfahrungen in ihr hinterlassen hatten. Sie konnte nicht anders, als sich mir gegenüber sadistisch zu verhalten, um Rache zu nehmen und ihr beschädigtes Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Die Wut, die sie in Reaktion auf meine Abwesenheit äußerte, diente der Stärkung ihres Ichs. Sie sollte nicht nur »die Beleidigung, die dem grandiosen Selbst zugefügt wurde, […] tilgen, sondern auch die Unversöhnlichkeit der Wut, die aufkommt, wenn die Kontrolle über das widerspiegelnde Selbst-Objekt verloren geht oder wenn das allmächtige Selbst-Objekt nicht verfügbar ist« (Kohut 1972/1975, S. 234). Dieses Muster ähnelte der Art und Weise, wie sie die Beziehung mit ihrem Freund regulierte, die sie abwechselnd beendete und wieder aufnahm. Anna Ornstein (1998) erläutert, dass das Rachebedürfnis schwierige Reaktionen im Analytiker auslösen kann, deren Anerkennung uns nicht leicht fällt. Unbewusst ziehen wir uns möglicherweise vom Patienten zurück, um uns von seinem Bedürfnis nach perfekter

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Responsivität und von der Wut zu distanzieren, mit der wir für den Fall, dass wir solche Erwartungen frustrieren, rechnen. Ich empfand während der gesamten Behandlung tatsächlich ein unabweisbares Bedürfnis, Frau M.s Attacken auf mich zu absorbieren. Ich sah auch, dass ihr dies half, weil sie auf diese Weise die Imago einer idealisierten, unzerstörbaren Brustmutter wiedererschaffen konnte, die ihre Bestrafungen geduldig in sich aufnimmt und überlebt, indem sie trotz der aggressiven Angriffe eine narzisstisch bestärkende Präsenz bleibt (Stolorow u. Lachmann, 1980). Dies führte zu einer Konsolidierung des Selbst und minderte die Gefahr der Fragmentierung. Im Laufe der Zeit verwandelte sich ihre Wut in einen Signalaffekt. Dies gab eine Veränderung ihrer Selbststruktur zu erkennen, die es ihr ermöglichte, auf Frustrationen mit Ärger statt mit Feindseligkeit zu reagieren (vgl. Ornstein, 1998). Gleichwohl entsprach Frau M.s Bedürfnis nach perfekter Responsivität mein eigenes Bedürfnis, mich perfekt responsiv zu verhalten und die gefürchtete Destabilisierung meiner eigenen Aggression abzuwehren. Eine masochistische Identifizierung mit meiner Mutter in Reaktion auf die sadistischen Angriffe meines Vaters hatte eine defensive Form der Grandiosität entstehen lassen, die durch meine Phantasie, der »Retter« meiner Mutter zu sein, genährt wurde. Für mich lautet die Frage: Verleugnete ich meinen Zorn über Frau M.s massive aggressive Angriffe, indem ich an Omnipotenzphantasien festhielt, die dazu führten, dass ich alles, was die Patientin austeilte, absorbierte? Versuchte ich, Böses mit Gutem zu vergelten? In meiner Herkunftsfamilie war die Rollenverteilung klar geregelt: Mein Bruder war aggressiv, begabt und ungezogen. Ich war pflegeleicht, pfiffig und brav. Ein Teil meiner Aggression war in schulische oder sportliche Leistungen kanalisiert, der Rest blieb unanerkannt und verborgen. Interessanterweise gehörte zu meinen frühen Identifizierungsfiguren ein fiktiver Held namens Lash Larue, ein Maskierter, der grundsätzlich schwarz gekleidet war, eine Peitsche schwang, des Nachts Vergeltung für böse Taten übte und am Tag in die Anonymität abtauchte. Harris, eine relational-feministische Analytikerin, bringt zum Ausdruck (1998), dass sie die Normalisierung der Aggression begrüßt. Dies ist vor allem in Gesellschaften wichtig, in denen Frauen infolge

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der sozialen Konstruktion der Geschlechterunterschiede durch aggressives und rivalisierendes Verhalten in erhebliche Konflikte geraten. Sie berichtet, dass sie sich selbst für aggressiv halte und von jeher rivalisierend sei. Es sei wichtig für Frauen, sich zu ihrer Aggression zu bekennen, statt sie zu verleugnen (vgl. Harris, 1986, 1987). So ist auch bei Harris die Verbindung zwischen Subjektivität und klinisch-theoretischer Haltung erkennbar. Die »Normalisierung« der Aggression würde sozusagen das Kind beim Namen nennen und den Therapeuten daran erinnern, sich der eigenen Aggression wie auch der unserer Patienten zu stellen. In entsprechender Weise lässt sich meine Sympathie für das Konzept der reaktiven Aggression parziell als Versuch verstehen, an meinem Selbstverständnis – dass ich im Grunde ein »guter Kerl« bin – festzuhalten. Lash Larue ist allerdings eine interessante Kompromissbildung: Er tut Gutes, indem er böse Taten bestraft, bedient sich aber einer Peitsche. Er ist ein Held und bleibt doch anonym. Harris beschreibt weibliche Konflikte im Zusammenhang mit der Aggression und klammert dabei auch persönliche Erfahrungen nicht aus. Ich habe einige der Konflikte geschildert, in die meine Patientin und ich infolge aggressiver Gefühle gerieten. Unsere Lebensgeschichten weisen Parallelen auf, die unsere Schwierigkeiten, unsere Wut zu integrieren, erklären – Schwierigkeiten, die sich in dem gemeinsam erzeugten intersubjektiven Feld wechselseitig verstärkten. Die bewusste Auseinandersetzung mit Selbstbehauptung und Wut war für uns beide praktisch tabuisiert; dies hing mit den Rollenerwartungen in unseren Familien zusammen sowie mit den Erfahrungen, die wir als Kinder mit Gewalt gemacht hatten. Harris erwähnt die Hilflosigkeit, die solch traumatischen Erfahrungen innewohnt. Sie erzeugt eine verzweifelte Wut, die das Kind zunächst verleugnen muss, um sein psychisches und körperliches Überleben zu sichern. Kleinianer wie Bion (1959) haben die Aggression mit Dissoziationszuständen in Verbindung gebracht, die sich als Folge von Traumata und als Möglichkeit ihrer Bewältigung einstellen. »Der Missbrauch ist ein überwältigender Übergriff, der nicht nur das Selbst, sondern den Denkprozess fragmentiert« (Harris, 1998). Gefährliche Gedanken und Gefühle werden verkapselt, ihre Verbindungen werden zerstört, und sie werden aus der Selbststruktur ausgestoßen. Unter diesen Umständen ist es

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gefährlich, einem Assoziationsfluss, der solche Gefühlszustände reintegrieren könnte, freien Lauf zu lassen. Als Kind versteckte sich meine Patientin in ihrem Zimmer und träumte sich an einen anderen Ort. In der Behandlung verstummte sie. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich in dieser Stille weit von mir entfernte und ich sie verlor. Wenn ich sie fragte, wo sie sei, gab sie zur Antwort, dass sie es eigentlich gar nicht wisse – eine Art Nebelbank habe sie verschluckt. Dies geschah häufig, nachdem ich sehr emotional interveniert hatte. Nach einer Weile begriff ich, dass sie ausführliche oder eindringliche Interventionen als Übergriff empfand, als intrusiv, als psychische Gewalt, vor der sie fliehen musste, wie sie vor ihrem Vater geflohen war. Ihrer »Nebelbank« entsprach meine Unfähigkeit, die aggressive Atmosphäre, die die Anfangsjahre der Behandlung erfüllte, in klare Worte zu fassen. Meine Angst bewog mich, dieses Thema in der Supervision zu »vernebeln« und in der Behandlung zu meiden. Mir kommt eine Erinnerung in den Sinn: Als Erstklässler hatte ich vor der Schule und dem aggressiven Treiben auf dem Pausenhof panische Angst. Ich reagierte darauf, indem ich zum Fenster hinausstarrte und mich aus dem Klassenzimmer fortträumte. In diesem Behandlungsprozess gab es eine lange Phase, in der Frau M. ihre Auseinandersetzungen mit Berufskollegen schilderte. Diese Männer waren, ihren Worten nach zu urteilen, eingebildete Gockel, die sich selbst zu wichtig nahmen, egoistisch und rücksichtslos nur an ihre eigenen Bedürfnisse dachten und wenig Substanzielles zu bieten hatten. In der Übertragung drückte sich dies in ihrer Ansicht aus, dass ich königlich in meinem Sessel thronte, ihre kostbare Zeit raubte und sie um ihr Geld brächte. Ich würde, so erklärte sie, gemütlich in meinem warmen Zimmer auf sie warten, während sie nach der Arbeit die langen Fahrten in unbequemen öffentlichen Verkehrsmitteln auf sich nahm, um am Ende erschöpft und hungrig in meiner Praxis anzulangen. Ich deutete, dass sich darin für sie die Vorzugsstellung ihres Bruders und die hohle, lärmende Macht ihres Vaters wiederholten, die sie mir in der Übertragung zuschrieb. Kollusiv und stillschweigend aber gingen wir beide, auch wenn sie mich als Mann attackierte, davon aus, dass ich ein Ausnahmeexemplar der männlichen Spezies sei. Tatsächlich bewies sie größeren Mut als ich selbst, indem sie mich fragte, wie es auf mich wirke, wenn sie die Männerwelt herunter-

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mache. Ich zog mich mit humorvollen Bemerkungen aus der Affäre. Doch im Laufe der Zeit stauten sich meine Kränkung, meine Wut und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, in mir auf. Die Peitsche blieb im Verborgenen. Frau M. und ich konnten ihren Neid auf mich mit ihrem Gefühl der inneren Leere und ihren Versuchen in Verbindung bringen, die Wut, die sie auf mich empfand, zu regulieren, indem sie im Wartezimmer Schokolade aß. Ich habe bereits das Paralleluniversum erwähnt, in dem eine zunehmend positive Verbindung aufrechterhalten werden konnte. Meiner Ansicht nach hätten wir unsere Ängste vor der Destruktivität nicht überlebt, wenn Frau M. nicht gespürt hätte, dass ich ihre Verzweiflung in all ihrer Intensität anerkannte. Mittlerweile empfand ich auch eine tiefe Bewunderung für ihre Fähigkeit, der Hölle ihrer Kindheit zu entkommen, sich als Siebzehnjährige auf eigene Füße zu stellen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, eine Ausbildung zu absolvieren und eine ansehnliche berufliche Karriere zu machen. Ich bewundere den Mut und die Energie, mit der sie für sich selbst gekämpft hat. Dies gelang ihr, weil sie ihre Aggression konstruktiv nutzen konnte – auch wenn sie dafür ebenso wie die Patientinnen, von denen Harris (1998) berichtet, einen Preis zahlen musste: Sie fürchtete sich vor Vergeltung und hatte häufig das Bedürfnis, sich sozial vollständig zurückzuziehen, um ihr kollabierendes und inkohärentes Selbstgefühl wieder zu stabilisieren. Rückblickend kann ich sagen, dass meine Subjektivität und die Grenzen, die meine Persönlichkeit in Bezug auf die Aggression aufweist, in einer von mir selbst initiierten Inszenierung gleichsam sinnbildlich zum Ausdruck kamen. Als wir eines Tages gemeinsam ins Behandlungszimmer gingen, fragte mich Frau M. halb scherzend, halb aggressiv, weshalb grundsätzlich ich den Raum als Erster beträte. In der nächsten Sitzung forderte ich sie ebenfalls scherzend, aber nicht ohne einen Anflug von Boshaftigkeit auf, vorauszugehen. Diese Inszenierung setzten wir, wie es für uns typisch war, fort, und zwar viele Monate lang. Ich habe sie nicht analysiert. Vermutlich war es uns beiden ein wenig peinlich, aber niemand wusste einen Ausweg aus dem Dilemma, in das ich uns gebracht hatte. Wir saßen in der Falle; keiner von uns beiden mochte einlenken. Ich war in meinem moralischmasochistischen Triumph gefangen, den ich als eine konkretisierte

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Form einer empathischen und für die Patientin notwendigen Inszenierung rationalisierte. Ich verstand mein Verhalten als eine spielerische Demonstration, dass nicht alle Männer Egomanen sind. Doch der in meinem Verhalten implizierte Nachdruck verrät seinen aggressiven Hintergrund, eine unbewusste Wiederholung der aus meiner Kindheit stammenden Strategie, abzuwarten und den Angreifer ins Unrecht zu setzen. Ein Teil meiner selbst war davon überzeugt, etwas Hilfreiches zu tun – mir war schließlich bewusst, dass ein analytisches Enactment sinnvoll sein kann. Ein anderer Teil aber nahm den aggressiven Anstrich dieser Intervention durchaus wahr. Sehr viel später fragte ich Frau M., wie sie diese Inszenierung erlebt habe. Sie sagte, sie habe sie beschämt. Das erwartete Triumphgefühl sei ausgeblieben; in Wahrheit wolle sie geführt werden und folgen. Sie fügte hinzu, dass es ihr insoweit geholfen habe, als ihr ausnahmsweise einmal ein Wunsch erfüllt worden sei. Es sei eine neue Erfahrung gewesen, zu sehen, dass ihre Wünsche etwas bewirkten. Dies habe ihr klar gemacht, dass sie ihre Wünsche ernster nehmen müsse. Außerdem habe diese spielerische Form, ihre Rechte einzufordern, sie veranlasst, über ihre eigentlichen Bedürfnisse im Leben nachzudenken. Diese klinische Vignette zeigt meiner Ansicht nach, dass analytische Interventionen ein Resultat unserer Subjektivität, zu der auch unsere Theorien gehören, und des intersubjektiven Feldes sind. Ob ich aus den richtigen Gründen das Falsche tat oder das Richtige aus den falschen Gründen oder gar das Falsche aus den falschen Gründen, ist insofern eine überflüssige Frage, als meine Intervention das Ergebnis der Verflechtung unser beider Subjektivitäten war. Das bedeutet nicht, dass alle Interventionen gleichermaßen gut wären. Aber wir können nur versuchen zu verstehen, was in einer Behandlung geschieht, wenn wir anerkennen, dass das, was geschieht, immer das Produkt des Zusammenspiels zweier Subjektivitäten ist. »Indem sich Patient und Analytiker emotional aufeinander einlassen, konstituieren sie gemeinsam ein dynamisches psychisches Feld. Die genaue Beobachtung, das Verstehen und die deutende Abklärung der Schicksale dieses intersubjektiven Systems bilden […] die eigentliche Essenz der psychoanalytischen Arbeit« (Stolorow, 2006, S. 10). Der Behandlungsprozess wird durch die Parameter unserer Subjektivitäten determiniert und begrenzt. In diesem Sinn ist ein Fehlschlag ebenso sehr Teil der Analyse

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wie der Erfolg oder, um es mit den Worten meines Lieblingsdichters Bob Dylan zu sagen: »There’s no success like failure, and failure is no success at all.«

Literatur Bion, W. (1959). Attacks on linking. Internat. J. Psychoanal., 40: 308–315. Freud, S. (1920). Beyond the Pleasure Principle. Standard Edition 18: 7–66. Jenseits des Lustprinzips (1920g). Harris, A. (1998). Aggression: pleasures and dangers. Psychoanal. Inquiry, 18, 31–45. Jaenicke, C. (2006). Das Risiko der Verbundenheit – Intersubjektivitätstheorie in der Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Kohut, H. (1972). Thoughts on narcissism and narcissistic rage. The Psychoanalytic Study of the Child. 27: 360–400. New haven, Ct.: Yale Universities Press. Lachmann, F. (2000). Transforming Aggression.Psychotherapy with the Difficult-To-Treat Patient. New Jersey: Jason Aronson. Lichtenberg, J., Lachmann, F., Fosshage, J. (1992). Self and motivational Systems. Toward a Theory of Psychoanalytic technique. Hillsdale, N. J.: The Analytic Press. Mitchell, S. (1998a). Aggression and the endangered self. Psychoanal. Inquiry 18, 21–31. Mitchell, S. (1998). Commentary on Case. Psychoanal. Inquiry, 18, 89–100. Ornstein, A. (1998). The fate of narcissistic rage in psychotherapy. Psychoanal. Inquiry, 18, 55–71. Raphling, D. L. (1998). The narcissistic basis of aggression. Psychoanal. Inquiry, 18, 100–106. Rothstein, A. (1980). Toward a critique of the psychology of the self. Psychoanalytic Quarterly 49: 423–455. Stolorow, R., Atwood, G., Brandchaft, B. (1994). The Intersubjective Perspective. New York u. London: Jason Aronson. Stolorow, R., Lachmann, F. (1980). Psychoanalysis of developmental Arrest. New York: International Universities Press.

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Josef Brockmann und Holger Kirsch

Mentalisierung Alter Wein in neuen Schläuchen?

Mentalization – Old wine in new bottles? Mentalizing means to see oneself from outside and others from inside. P. Fonagy and colleagues have brought together developmental aspects of affect regulation and self, attachment theory, neurobiology and psychotherapy research. Mentalization based treatment (MBT) for borderline personality disorders is based on this concept. It connects psychoanalytic findings (e. g. Bions model of containing) with next neighbours in the scientific community. The concept of mentalizing is supposed to have relevance for all therapies. We guess that the concept of mentalization is powerful and will gain more significance in psychotherapy and psychotherapy research in the next decade.

Zusammenfassung Mentalisieren heißt sich selbst von außen und den anderen von innen zu sehen. Das Mentalisierungskonzept der Arbeitsgruppe um P. Fonagy verbindet Mentalisierung mit den Annahmen der Bindungsforschung, der interpersonalen Entwicklung der Affektregulation und des Selbst. Es basiert weiter auf Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und der Psychotherapieforschung. Die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen wurde auf dieser Grundlage entwickelt. Das Mentalisierungskonzept ist ein psychodynamischer Ansatz, der Kenntnisse aus der Psychoanalyse (z. B. Bions Modell des Containing) und anderer Psychotherapierichtungen neu ordnet. Mentalisierung ist ein Konzept, das allgemeine Bedeutung für die psychotherapeutische Behandlung erhalten wird. Entlang der Fragestellung: »Was macht ein Konzept wirkungsvoll?« wird gezeigt, warum das Mentalisierungskonzept zurzeit in Forschung und Behandlung an Bedeutung gewinnt.

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Einleitung Ein antikes philosophisches Rätsel lautet: »Was ist der wichtigste Teil an einem Ochsenkarren?« Zunächst fällt einem wohl ein: »die Räder«, »der Ochse«, »der Karren«, »der Fahrer« oder »die Deichsel«. Die richtige Antwort auf dieses Rätsel lautet aber: »das Konzept«. Das Konzept ist der bedeutendste und machtvollste Teil beim Ochsenkarren, obwohl man es nicht sehen kann und auch nicht messend erfassen kann. Was macht nun ein Konzept bedeutend und machtvoll? Es sind vier Elemente: 1. die Klarheit der Definition, 2. seine Nützlichkeit, 3. seine Langlebigkeit und 4. die Generierung von neuen Konzepten1. Was heißt beim Ochsenkarren: Klarheit der Definitionen? Es ist die Klarheit der Begriffe von Rad, Deichsel, Ladefläche, der Verbindung des Karrens mit dem Ochsen. Was heißt beim Ochsenkarren: Nützlichkeit? Seit einigen Jahrtausenden ist der Transport von Lasten dadurch für den Menschen leichter geworden. Was heißt beim Ochsenkarren: Langlebigkeit? Der Ochsenkarren wird noch 3000 Jahre nach seiner Erfindung in vielen Ländern benutzt. Was heißt beim Ochsenkarren: Generierung von neuen Konzepten? Das Auto verdankt letztlich dem Konzept des Ochsenkarrens seine Erfindung. Bemerkenswert ist, dass die Originalität oder die Neuheit für den Wert oder die Bedeutung des Konzeptes hier kein Kriterium ist und keine zentrale Bedeutung hat. Was hat das mit dem Thema Mentalisierung zu tun? Allen, Bateman und Fonagy (2008, S. 1) schreiben kühn: »Wir nehmen an, dass Mentalisieren – in Bezug auf Mental States in uns und anderen – der bedeutendste gemeinsame Wirkfaktor in den therapeutischen Behandlungen ist. Weiter nehmen wir an, dass alle im Gesundheitswesen Tätigen von dem gründlichen Verständnis des Mentalisierungskonzepts und der Vertrautheit mit einiger seiner praktischen Anwendungen werden profitieren können« (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008, S. 1, Übers. die Verf.). Kann man wirklich begründet annehmen, dass das Konzept fundamentaler und bedeutender für die Psychotherapie ist als etwa das Konzept der therapeutischen Beziehung, der Bindung, der Kognitio-

1 Nach einem Text von S. C. Yudofsky (2008).

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Josef Brockmann und Holger Kirsch

nen? Wenden wir dazu die vier Kriterien auf das Konzept der Mentalisierung, so wie es von diesen Autoren vertreten wird, an.

Klarheit der Definition Was heißt mentalisieren? Wir mentalisieren, wenn wir uns bewusst werden, was in einem anderen Menschen vorgeht oder was in uns selbst vorgeht. Peter Fonagy hat es auf die prägnante Formel gebracht: »Having Mind in Mind« (z. B. Allen et al., 2008, S. 3). Mentalisieren heißt sich selbst von außen zu sehen und den anderen von innen. Mentalisierend interpretieren wir automatisch das Verhalten von uns und anderen. Verhalten wird in diesem Kontext verstanden als Verhalten, das auf ›Mental States‹ wie Wünschen, Überzeugungen und Gefühlen basiert. Dabei gelingt es uns von Situation zu Situation besser oder schlechter, die innere Welt einer anderen Person, das heißt ihre Motive, Affekte, Überzeugungen etc. zu lesen. Die Fähigkeit zu mentalisieren hängt dabei nicht nur von der Situation ab, auch können es Menschen unterschiedlich gut. Das Erkennen des mimischen Ausdrucks von Affekten hat dabei eine wichtige Bedeutung für die Verständigung. Insbesondere in bedeutenden Beziehungen vermittelt es die Sicherheit, die Gefühlslage des andern einigermaßen zuverlässig einschätzen zu können. Menschen erkennen in standardisierten Tests den Emotionsausdruck im Gesicht von anderenTestpersonen unterschiedlich gut (Krause, 1998; Baron-Cohen et al., 2001). Da wir die innere Welt unserer Mitmenschen immer nur angenähert und ungenau erfassen können, entstehen Missverständnisse. Je schlechter wir die Welt unserer Mitmenschen (und unsere eigene) erfassen können, umso mehr Missverständnisse entstehen. Auf der Basis falscher Annahmen zu reagieren erzeugt Konfusion. Sich missverstanden zu fühlen, erzeugt heftige Gefühle, die zu Rückzug, Feindseligkeiten, Zwang, Überfürsorge und Zurückweisung führen. Die grundlegende menschliche Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt sich in etwa zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr. Sie ist ebenso wie die Entwicklung von Bindungsmustern störbar durch die nahen Bezugspersonen und Traumata.

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Gelingendes Mentalisieren zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Genauigkeit und Reichtum. Genau Mentalisieren heißt, die anderen so zu sehen, wie sie sind und ebenso sich selbst so zu sehen, wie man ist. Um den anderen so zu erkennen, wie er ist, braucht es Phantasie. Wir müssen uns in den anderen hineinversetzen, uns in seine Schuhe stellen. Aber das ist eine unsichere Sache. Zum Beispiel dann, wenn man sehr selbstkritisch ist, mag man fälschlicherweise annehmen, dass der andere es mir gegenüber auch ist. Mentalisieren ist genau, wenn die Phantasie auf der Realität basiert. Der Reichtum des Mentalisierens bezieht sich auf die Anerkennung und Herausarbeitung verschiedener Perspektiven. Wenn eine Aussage im Ton der Gewissheit getroffen wird wie etwa: »Der Ehemann ist narzisstisch« ist das Mentalisieren meist am Ende. Mentalisieren versetzt uns in die Lage, uns von impulsivem, zerstörerischem oder selbst-zerstörerischem Verhalten distanzieren zu können, zu reflektieren, anstatt zu handeln, die Wut zum Beispiel zu spüren, sie wahrzunehmen, sie zu beobachten und nicht gleich draufzuhauen. Im Sprachgebrauch des mentalisierungsbasierten Therapieansatzes heißt das den »Pausenknopf drücken«. Den Pausenknopf zu drücken ist dann hilfreich, wenn Konflikte durch heftige Affekte nicht mehr verstanden werden, nicht mehr mentalisiert werden können. Mentalisieren ist zwar eine allgemein menschliche Fähigkeit, aber sie hat eine Schwachstelle: Mentalisieren ist am schwierigsten, wenn wir es am meisten brauchen, zum Beispiel in für uns wichtigen Beziehungen, wenn wir uns verlieben oder wenn Konflikte intensiv sind, wenn unsere Gefühle hochdrehen, wenn unser Adrenalin-Spiegel steigt. Das Mentalisierungskonzept ist verknüpft mit Ergebnissen aus verschiedenen Forschungsgebieten. Wir gehen auf drei diese Forschungsgebiete kurz ein: Aspekte der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und der empirischen Psychotherapieforschung. Das Konzept der Mentalisierung ist radikal intersubjektiv: Der Mensch erkennt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch den Anderen. Dies soll mit einem Ausflug in die Entwicklungspsychologie gezeigt werden.

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Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit Bindungsmuster und markierte Affektspiegelung Im ersten Lebensjahr entstehen Bindungsmuster aus Interaktionen, die der Säugling mit seinen primären Bezugspersonen hat. Diese sind abhängig von der »Feinfühligkeit« der Bezugspersonen und ihrer Zuverlässigkeit. Sicher gebundene Kinder entwickeln besser und schneller mentalisierende Fähigkeiten. Die im ersten Lebensjahr entstehenden Bindungsmuster sind dabei abhängig davon, wie die Affekte des Kleinkindes von den primären Bezugspersonen gespiegelt werden. Die Spiegelung der Affekte des Kindes hat eine zentrale Bedeutung für die sich entwickelnde Fähigkeit des Kindes, seine emotionalen Zustände zu regulieren. In der Säuglingsforschung besteht Einigkeit darin, dass Affekte interaktionell moduliert werden, das heißt, ein Affekt wie zum Beispiel Angst wird von der Mutter einfühlsam reguliert, später wird diese Fähigkeit internalisiert. Eltern reagieren auf den Emotionsausdruck des Säuglings. Sie »markieren« dabei ihren spiegelnden Emotionsausdruck, zum Beispiel, indem sie etwas abmildern oder einen anderen Affekt beimischen. Dies ermöglicht dem Säugling zu erkennen, dass die Mutter auf seinen Ausdruck reagiert und es nicht der Ausdruck der Mutter ist. Der spiegelnde Ausdruck der Mutter entschärft die Angst des Kindes. Später wird das primäre Gefühl (z. B. Angst) zusammen mit der Reaktion der Mutter als Gedächtnisspur, beziehungsweise als (sekundäre) Repräsentanz (im Sinne von Vorstellung) aufbewahrt (Dornes, 2004). Dabei spielen Phantasien, wie die Mutter das Kind sieht, eine bedeutende Rolle. Meldet die Mutter nur zurück, was sie beim Kind sieht, dann verliert der Spiegelungsprozess sein symbolisches Potenzial und die Spiegelung kann selbst zur Quelle der Angst werden. Bleibt das Spiegeln aus oder vermischt sich die Angst mit massiver Angst der Mutter, dann kann die Entwicklung der Affektregulation tief greifend gestört werden (Fonagy u. Target, 2002).

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Psychischer Äquivalenz-Modus und Als-ob-Modus Etwa mit Beginn des zweiten Lebensjahres und dem größeren Aktionsradius des Kindes gewinnt neben der Affektspiegelung das »Spiel mit der Realität« an Bedeutung. Gedanken und Gefühle werden in zwei Modalitäten erlebt: im »psychischen Äquivalenzmodus« und im »Als-ob-Modus«. Das Kind oszilliert zwischen beiden parallel existierenden Modi bis zur Integration im reflektierenden Modus mit etwa vier Jahren. Fonagy und Target (2006) vertreten die These, dass Säuglinge und Kleinkinder zunächst die innere mit der äußeren Welt gleichsetzen (psychischer Äquivalenzmodus). Kinder in diesem Alter nehmen Gedanken als Realität und nicht als Darstellungen oder Perspektiven. Das Kind erlebt seine eigenen Gedanken, als ob sie Realität wären, die Gedanken haben einen ähnlichen Effekt wie wirkliche Ereignisse. Zum Beispiel, wenn das Kind die Augen verdeckt, ist es überzeugt, dass andere es nicht sehen können. Der Umgang der Bezugspersonen mit den überrealen Gedanken fördert oder behindert dabei die Entwicklung von Symbolisierungen und Repräsentationen. Die einfühlsame Erfahrung des affektregulierenden Spielens hilft dem Kind zu lernen, dass sich Gefühle nicht automatisch über die ganze Welt verteilen. Die psychische Gleichsetzung, ein Modus der Wahrnehmung der inneren Welt, kann zu schmerzhaften Erfahrungen Anlass geben, weil projizierte Phantasien große Angst auslösen. Der Erwerb des Als-ob-Modus ist daher ein entscheidender Fortschritt. Ein Vorherrschen des Äquivalenzmodus über dieses Alter hinaus gilt als Indiz für eine Pathologie, da die Unmittelbarkeit des Erlebens auf ein Fehlen von sekundären Repräsentanzen zurückzuführen ist. Eigene Gedanken können nicht als eigene Gedanken gesehen werden (konkretistisches Denken). Selbstbezogene negative Emotionen werden als real empfunden und alternative Sichtweisen können nicht toleriert werden. Im Als-ob-Modus wie im Spiel wird die innere Befindlichkeit von der Realität getrennt. Das Spiel stellt den Alltag nach, modifiziert und entkoppelt ihn. Die Realität wird im Spiel suspendiert. Dabei nimmt man an, dass das Kind von Beginn an ein Ahnungsbewusstsein vom fiktiven Charakter des Spiels hat: Intuitiv unterscheidet es zwischen Realität und Spiel (Stock ist gleich/ungleich einem Gewehr). Die Re-

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aktion des Erwachsenen darauf hilft dem Kind, eine externe Darstellung seiner inneren Zustände zu schaffen. Nicht mehr das elterliche Gesicht, sondern die Spielfigur ist eine externe Darstellung der eigenen Gefühle und Gedanken. Reagieren die Eltern auf Spielangebote im Als-Ob Modus angemessen und spielerisch, wird dem Kind signalisiert, dass eigene Impulse und Wünsche von der Wirklichkeit getrennt sind und keine Auswirkungen haben. Die Kommentare zu den Spielhandlungen sind implizite Kommentare zu den im Spiel dargestellten externalisierten Selbstzuständen und diese Kommentare werden zusammen mit den Selbstzuständen repräsentiert. Im reflexiven Modus (ab dem vierten bis fünften Lebensjahr) werden Äquivalenz- und Als-Ob Modus integriert. Dies ermöglicht ein Nachdenken über das eigene Selbst und über das vermutete Innenleben anderer Menschen. Unterschiedliche Perspektiven werden anerkannt und falsche Überzeugungen werden bei sich und anderen erkannt. Einige faszinierende Experimente machen die Säuglings- und Kleinkindforschung auch für Nicht-Experten lesenswert und interessant. So zum Beispiel der »Falsche-Überzeugungen-Test«: Der Falsche-Überzeugungen-Test Maxi bekommt eine bunte »Smarties-Schachtel« gezeigt. Sie wird gefragt: »Was glaubst du, was ist wohl in der Schachtel?« Maxi antwortet plausibel: »Smarties!« Die Schachtel wird geöffnet, aber es sind Buntstifte darin. Anschließend wird Maxi gefragt: »Draußen wartet dein Freund Peter. Wenn wir ihn hereinholen, ihm die geschlossene ›Smarties-Schachtel‹ zeigen und ihn fragen: Was ist in der Schachtel? – Was meinst du, was wird Peter antworten?« Dreijährige Kinder antworten »Bleistifte«, vierjährige antworten »Smarties«. Das dreijährige Kind kann sich nicht vorstellen, dass das andere Kind eine falsche Überzeugung hat.

Dreijährige Kinder können sich nicht vorstellen, dass das andere Kind draußen nicht dasselbe Wissen hat wie es selbst. Sie können die Perspektive des anderen noch nicht zureichend imaginieren und sich vorstellen, dass das andere Kind eine falsche Überzeugung haben wird. Befragt man vierjährige oder ältere Kinder, so werden sie zutreffend antworten, der Freund denke, in der Schachtel befinden sich Smarties, und signalisieren damit, dass sie Perspektiven übernehmen können und falsche Überzeugungen bei sich und anderen erkennen können.

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Die normale Entwicklung der Mentalisierung verläuft von der Fraktionierung zur Integration. Damit verbunden ist die Konstruktion spezifischer Verbindungen zwischen zuvor getrennten Fähigkeiten. Es entstehen komplexere, differenziertere Kontrollsysteme. Auch die Einschränkung der Mentalisierung ist eine Entwicklungsleistung (z. B. nach Traumatisierungen), insofern das Individuum aktiv die Trennung von Kontexten aufrechterhält, die normalerweise nach Integration streben.

Ergebnisse neurobiologischer Forschung Die Forschungsergebnisse der Neurobiologie ergänzen die Ergebnisse der psychodynamischen Theorien und helfen uns, biologische Mechanismen bei psychodynamischen Prozessen zu verstehen. Neurobiologie und psychoanalytische Therapie sprechen verschiedene Sprachen, aber informieren sich wechselseitig. Wir hatten bereits festgestellt, mentalisieren sei am schwierigsten, wenn wir es am meisten brauchen. Dazu ein empirisch gestütztes Modell aus der Neurobiologie,

Abbildung 1: Modell zweier Erregungsmodule nach Mayes (2000), angelehnt an Bateman und Fonagy (2008)

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das helfen kann, den Zusammenhang in einem begrenzten Bereich zu erhellen und zu bestätigen. Arnsten und Kollegen nehmen zwei unabhängige Erregungsmodule im Gehirn an, die eine reziproke Beziehung zwischen Erregung und Mentalisierung haben (Arnsten, 1998; Arnsten et al., 1999; Mayes, 2000). Das erste System A, das frontale und präfrontale Hirnregionen aktiviert, hemmt dabei ein zweites Erregungssystem B, das subkortikale Regionen und den posterioren Kortex aktiviert. Die Regionen des Systems A haben mentalisierende Funktionen, die Regionen des Systems B steuern hingegen Flucht- und Kampfreaktionen. Wie bei einem Schalter wird System B normalerweise erst ab einem sehr hohen Erregungsniveau eingeschaltet und die präfrontalen Aktivitäten abgeschaltet. Damit gewinnen mehr automatische und motorische Funktionen (z. B. Fluchtverhalten) die Oberhand. Der Arousalgrad bestimmt, ab wann eine Umschaltung vom präfrontalen Kortex auf den posterioren Kortex erfolgt. In Abbildung 1 ist das zunächst Punkt 1. Ab diesem Arousalgrad entsteht in den Reaktionen ein Wechsel von System A zu System B. Das Erregungsniveau, in dem die Umschaltung erfolgt, kann durch frühere traumatische Erfahrungen verringert werden. In der Abbildung wandert der Umschaltpunkt dann von Punkt 1 zu Punkt 2. Zudem reagieren Menschen mit unsicherem oder desorganisiertem Bindungsstil sensibilisiert auf intime interpersonale Erfahrungen und entwickeln dabei ein höheres Arousal. Nach dem Modell von Mayes haben traumatisierte Personen häufig ein erhöhtes Arousal und schalten deshalb schneller und früher in einer persönlich angespannt erlebten Situation vom mentalisierenden, reflektierenden Modus in den Kampf- bzw. Fluchtmodus. Ziel einer Behandlung von traumatisierten Patienten muss es deshalb sein, das Arousal zu senken, die Mentalisierungsfähigkeit zu stärken und den Umschaltpunkt zu verschieben.

Ergebnisse der empirischen Psychotherapieforschung Das Konzept der Mentalisierungsfähigkeit wird operationalisiert durch die Reflective Functioning Scale (RF-Skala). Intensiv geschulte Rater können aus den Antworten eines Probanden auf einzelne Fragen

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des »Adult Attachment Interviews« (AAI) Rückschlüsse auf die reflexiven Fähigkeiten des Probanden ziehen und ihnen Werte zwischen 0 (negative reflexive Funktion) bis 9 (außergewöhnlich hohe reflexive Funktion) zuordnen. Dabei stehen bei der Analyse nicht der Inhalt, sondern die Angemessenheit und Kohärenz der Erzählung des Probanden im Vordergrund. So antwortete zum Beispiel ein Proband auf die Aufforderung, Kindheitserinnerungen an seine Mutter mitzuteilen, lediglich mit: »Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder.« Dies wurde von den Experten mit einem niedrigen RF-Wert eingeschätzt, da die Aussage weitgehend einem sozialen Klischee entspricht und die Reflexion der eigenen Geschichte vermieden wird. Ein anderer Proband antwortete auf dieselbe Frage: »Erst jetzt, als Erwachsener, erkenne ich, dass sie krank war. Als Kind habe ich abwechselnd gedacht, dass sie mich entweder einfach nicht sehr mochte oder aber sehr zurückgezogen und scheu war. Jetzt kann ich sie viel besser verstehen, und sie macht mich nicht mehr traurig und ärgerlich.« Dies wurde von Experten mit einem überdurchschnittlich hohen Wert (RF = 6) eingeschätzt. Hier zeigen sich differenzierte Aspekte der Entwicklung und eine sich verändernde Sichtweise über die Kindheit. Die reflexiven Fähigkeiten, gemessen mit der RF-Skala, hängen eng mit dem Strukturniveau der Persönlichkeit des Probanden zusammen (Müller et al., 2006). Die Operationalisierung des Konzepts durch die RF-Skala ist zwar gut abgesichert, aber dies ist keineswegs ausreichend, da die RFSkala nur einen Ausschnitt aus dem Mentalisierungskonzept erfasst. Es braucht weitere Operationalisierungsansätze, die andere Aspekte erfassen, zum Beispiel im Therapieprozess. Dies ist bisher noch nicht überzeugend gelungen. Die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) wurde für die Behandlung von Borderline-Patienten in einem teilstationären Setting entwickelt. Das detailliert ausgearbeitete und manualisierte Behandlungskonzept (Bateman u. Fonagy, 2007, 2006) hat in randomisierten und kontrollierten Studien seine Wirksamkeit bewiesen (Bateman u. Fonagy, 1999, 2001, 2003, 2008). Durch die Studien konnte MBT für Borderline-Störungen als einziger psychoanalytisch orientierter Behandlungsansatz in den USA den Status einer evidenzbasierten Behandlung erreichen. Im Cochrane-Review von Binks et al. (2006) wurden die dialektisch-behaviorale Therapie nach Linehan (1996a,

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1996b) und MBT als einzige Psychotherapiemethoden für die Behandlung von Borderline-Störungen empfohlen. Ein weiterer Ansatz für eine mentalisierungsbasierte Therapie liegt für die Behandlung von in Beziehungen traumatisierten Patienten vor (Stein u. Allen, 2007). Auch in verschiedenen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, arbeiten Forschergruppen an der Überprüfung und Weiterentwicklung des Konzeptes. So forscht die »Single Case Psychotherapy Research Group Frankfurt« (SCPRGF) (unterstützt von der Lotte Köhler Stiftung, dem Annemarie Wolff-Fond, dem Alfred Adler Institut Mainz und seinem Förderkreis) in einer Prozessanalyse über die Wirksamkeit von mentalisierungsbasierten Interventionen in der Therapie einer chronisch depressiven Patientin und einer Patientin mit einer Borderline-Störung (Sammet et al., 2008).

Zur Nützlichkeit des Konzepts Ein traumatisierter Patient – eine Fallvignette Der 35-jährige Wirtschaftswissenschaftler Herr K. begann eine psychoanalytische Langzeitpsychotherapie, nachdem er durch den Tod seines Vaters in eine depressive Krise geraten war. Zur Kindheit: Der Vater war Physiker an einem großen Institut. Herr K. erlebte ihn meist furchtbar und großartig. Der Vater trank viel und schloss sich nachts ein, schrie Reden im nationalsozialistischen Stil und schoss manchmal mit seinem Revolver in die Luft. Der Patient erlebte große Angst vor dem Vater. Manchmal flüchtete er in großer Angst über den Gang in das Bett seiner großen Schwester und manchmal verließ der Vater im Anzug und weißen Hemd das Haus und hielt Vorträge – wunderbar war er dann in der Erinnerung des Patienten. Die Mutter war schwer depressiv und hin- und hergerissen von starken Gefühlsschwankungen mit Suizidversuchen. Sie klammerte sich in einem Moment in heißer Liebe oder Verzweiflung an ihr Kind und stieß es in anderen Momenten grob von sich. Die Mutter verließ einmal für längere Zeit einfach ohne Vorankündigung die Familie. Herr K. kam in die psychoanalytische Behandlung nach dem Ende seines Studiums. Er hatte mit einem guten Examen abgeschnitten,

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trotzdem arbeitete er schon längere Zeit in schlecht bezahlten und unterqualifizierten Jobs. Seine Berufswahl schien ihm verfehlt. In Beziehungen zu Frauen war er glücklos suchend. Er hatte einen großen Wunsch nach einer Familie, der ihn für Frauen zusätzlich sehr attraktiv machte. Seine bisherigen Beziehungen waren auch von Wünschen nach intensiver Nähe geprägt, aber gleichzeitig hatte er auch Angst davor. Als eine Frau es einmal schaffte, ihn zu ihrer Familie zu bringen, floh er, wobei ihm völlig unklar blieb, weshalb. Nach außen war Herr K. sehr kommunikativ und freundlich. Ständig wollten Freunde und Bekannte etwas mit ihm unternehmen. Er wollte aber eigentlich lieber alleine sein. In der Therapie wurde deutlich, Herr K. war ständig auf der Flucht. Man spürte, dass er ständig »unter Strom« stand. Für ihn waren drei Symptom-Bereiche typisch: Flashbacks, massive Affekte und »Reenactments«: 1. Flashbacks: Es gab lebhafte Erinnerungen an frühere Ereignisse, die Herr K. urplötzlich überrollten. Die Flashbacks wurden dabei typischerweise nicht als etwas Vergangenes erinnert, sondern liefen wie ein Film im Hier und Jetzt ab. 2. Massive Affekte kamen urplötzlich, zum Beispiel im Zusammenhang mit Flashbacks oder bei Belastungen und Konflikten im Alltag. Heftige Affekte traten häufig in intensiven Zweierbeziehungen auf. 3. »Reenactments« sind Wiederholungen von früheren Beziehungstraumen. Herr K. fand sich oft in Situationen wieder, die denen ähnlich waren, die ihn früher traumatisiert hatten. Wir wissen, dass sich Personen, die Opfer von Gewalt in ihrer Familie wurden, häufiger als andere Personen in Zweierbeziehungen oder Familien wiederfinden, in denen Gewalt im Spiel ist. Herr K. war nicht gewalttätig und erfuhr auch keine Gewalt in Beziehungen, aber in den Beziehungen, die er einging, war zu erkennen, wie die Wiederholung oder Vermeidung der Wiederholung große Bedeutung hatte. Zum einen band er sich an Frauen, die lieb und nett wie fürsorgliche Schwestern waren. Die taten ihm gut, die hatten Verständnis für sein kompliziertes Wesen. Aber da war von seiner Seite keine Leidenschaft, er war nicht in sie verliebt. Die Frauen, in die er sich verliebte, verwickelten ihn häufig in heftige Auseinanderset-

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zungen, die weder er noch die Partnerin in der Situation unmittelbar nachvollziehen konnten. Die Folge waren Trennungen und heiße Versöhnungen. Herr K. schlief in diesen Zeiten wenig oder gar nicht. In den Therapiestunden war der Überblick schwer zu halten – auch wenn der Therapeut meistens ausgeschlafen war. Für all das, was in der Zwischenzeit passiert war, reichten die Stunden nicht. Herr K. gefährdete auch durch die Belastungen aufgrund seines Schlafdefizits die mittlerweile erreichte qualifizierte berufliche Position. Die Schwerpunkte eines mentalisierungsbasierten Behandlungsansatzes lassen sich in den genannten drei Bereichen verdeutlichen. Flashbacks sind typische Beispiele für das Mentalisieren im psychischen Äquivalenzmodus. In einem Flashback überrollt zum Beispiel die Szene eines Traumas wie von selbst und mit großer affektiver Macht den Traumatisierten im Hier und Jetzt. Der Überrollte ist körperlich und seelisch ganz in der alten Situation. Die innere Repräsentation des Erlebens als mentaler Zustand geht verloren und die äußere Realität (z. B. eine frühere traumatische Situation) ist gleichgesetzt mit dem inneren mentalen Zustand. Das Ziel in einer Psychotherapie ist die Veränderung des überwältigenden, schmerzhaften Wiedererlebens im psychischen Äquivalenz-Modus hin zur schmerzvollen, aber ertragbaren Erinnerung als Vergangenes. Nahezu alle bekannten Behandlungstechniken sind erfolgreich, wenn sie den Prozess des Mentalisierens fördern. Wird aber in einer Behandlung, etwa durch Trauma-Konfrontation, das Arousal zu hoch, so wird der Prozess des Mentalisierens erschwert oder unmöglich gemacht. Die Patienten bleiben dann im psychischen Äquivalenzmodus (konkretistisches Verstehen) oder im Als-ob-Modus (Pseudo-Mentalisierung) gefangen. Mentalisierung ist die Grundlage zur Regulation heftiger Affekte. Massive Affekte treten häufig in der Behandlung Traumatisierter in Zusammenhang mit Flashbacks, Konflikten und Belastungen im alltäglichen Leben auf, aber auch in der Behandlung selbst. Es ist die Aufgabe des Therapeuten, eine Balance zu finden zwischen dem Prozessieren des Traumas in Hinsicht auf Berichten, Denken und Fühlen über das Trauma und einem Aufbewahren, Halten und »Containing«. Das Prozessieren des Traumas betrifft vor allem die Affekte, die abgespaltenen Erinnerungen und die Sichtweisen, wohingegen ein Be-

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harren auf der Erinnerung von realen Details des Traumas sekundär ist. Jede Behandlungsform, die den Patienten in die Lage versetzt, so zu denken und zu fühlen, dass er dabei emotional eingebunden, aber nicht überwältigt ist, während er über das Trauma spricht, fördert und erleichtert Mentalisierung. Aus dieser Sicht können sowohl verhaltenstherapeutische als auch psychodynamische Behandlungsformen erfolgreich sein. Dies zeigen auch die Ergebnisse der Psychotherapieforschung. Ebenso hat sich gezeigt, dass in allen Behandlungsformen, die erfolgreich sind, klare Strukturen vorgegeben werden (Bateman u. Fonagy, 2007, S. 279). Ein strukturiertes Vorgehen hat dabei den Vorteil, dem Patienten Sicherheit zu geben und ihn nicht zu weit weg und nicht zu nah vom Feuer, den Gefahrenpunkten und heftigen Affekten, zu bringen. Mentalisierung ist der Weg, um die Wiederholungen von Traumata zu unterbrechen. Freuds Diktum von 1914, dass Wiederholen das Erinnern ersetzen kann (Freud, 1914), zeigt sich am deutlichsten in den Wiederholungen von frühen Beziehungstraumen in den späteren bedeutenden Beziehungen (van der Kolk, 1989). Wiederholen statt Erinnern ist ein Beispiel für Mentalisierung im psychischen Äquivalenzmodus. Das Reflektieren in einer Sicherheit liefernden therapeutischen Beziehung ist dabei der Weg heraus aus dem Modus der psychischen Äquivalenz, der Weg, um Vergangenes von Gegenwärtigen zu trennen, der Weg, um sich vom Wiedererleben zum Erinnern bewegen zu können. Interventionen, die Mentalisieren fördern können, sind: – einen Standpunkt von Nicht-Wissen einnehmen, – den Pausenknopf betätigen, – auf die gegenwärtigen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle fokussieren, – weitere Explorationen anregen, – alternative Erklärungsweisen anbieten. Einen Standpunkt des Nicht-Wissens einzunehmen, ist eine therapeutische Haltung, in der es darum geht, neugierig zu bleiben. Der Therapeut reagiert dann auf eine Schilderung des Patienten zum Beispiel

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so: »Lassen Sie uns herausfinden, warum Sie sich so verhalten. Ich verstehe es nicht …« Es ist eine Haltung, die der Detektiv Columbo in seinen Kriminalfilmen meisterhaft und kreativ besaß: rhetorisch tiefstapeln und (scheinbar) dumme Fragen stellen. Die Haltung ermöglicht dem Patienten und Therapeuten ein gemeinsames Erforschen der Realität. Der Standpunkt des Nicht-Wissens schützt davor, dem Patienten seine Sichtweise aufzudrängen. Wenn der Therapeut darauf beharrt, dass er es besser weiß als der Patient, ist der Prozess des Mentalisierens gefährdet. Den Pausenknopf betätigen ist eine therapeutische Technik, die dann sinnvoll ist, wenn die Affekte beim Patienten und/oder Therapeuten zu heftig werden und mentalisieren zunehmend schwierig wird. Ein Beispiel: Der Patient kommt hoch affektiv geladen in die Therapiestunde und beginnt gleich: »Ich hör auf, die Therapie bringt nichts, Sie haben mich vor dieser Frau nicht gewarnt!« Der Therapeut könnte dann zum Beispiel sagen: »Können wir versuchen, hier mal zu stoppen? Lassen Sie uns versuchen, erst mal dazu einen Abstand zu gewinnen. Wenn Sie so heftig auf mich einreden, kann ich nicht denken und fange womöglich gleich auch noch an, mit Ihnen zu streiten.« Den Pausenknopf zu betätigen, kann auch sinnvoll sein, wenn der Patient zu lange in einem nicht-mentalisiernden Modus, zum Beispiel dem Alsob-Modus (»Pseudomentalisieren«), verharrt. Auf die gegenwärtigen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle zu fokussieren, bedeutet eine Zentrierung im Hier und Jetzt. Weitere Explorationen anregen würde in dem Beispiel heißen, dass der Therapeut fragt: »Womit könnte es noch zusammenhängen, dass sie jetzt aufhören wollen?« Dies ist aber meist erst dann eine hilfreiche Intervention, wenn der Patient in seinem Erregungsniveau bereits wieder »heruntergekommen« ist, der Patient vom handelnden Modus (»Ich höre auf!«) in den mentalisierenden Modus zurückgekehrt ist. Dies wurde in Abbildung 1 als grundlegender Mechanismus bereits dargestellt. Alternative Erklärungsweisen anbieten könnte in dem Beispiel heißen, dass der Therapeut sagt: »Was könnte Ihre Freundin noch dazu bewogen haben, so zu reagieren, wie sie reagiert hat?« Die Interventionen klingen simpel, sind es meist auch – aber zum Beispiel in hoch affektiv geladenen Situation durchaus nicht.

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Langlebigkeit und Zukunft des Konzepts Fraglos hat das psychoanalytische Konzept Freuds 100 Jahre Bestand gehabt und Akzeptanz gefunden. Das Konzept hat eine Reihe von bedeutenden neuen Ansätzen hervorgebracht, wie den intersubjektiven Ansatz in der Selbstpsychologie, die Objektbeziehungstheorie, die kognitive Theorie nach Beck und auch den Mentalisierungsbegriff, der seine Ursprünge in der französischen Psychoanalyse (Marty, 1991) hat. Nun können wir nicht in die Zukunft blicken, aber es gibt einige Anzeichen, dass das Konzept in der Zukunft weitere Bedeutung haben wird. Das Konzept ist nützlich zum Verständnis und zur Behandlung struktureller psychischer Störungen. Das Konzept inspiriert zurzeit Forschung und Praxis in verschiedenen Bereichen und mehreren Ländern. Das Konzept wird von Forschern auf dem Gebiet der NeuroScience aufgenommen und regt theoretische und praktische Psychotherapieforschung an. Es verspricht, neue Ansätze zur Evaluation von psychoanalytischen und psychodynamischen Therapieprozessen und ihren Ergebnissen zu liefern. Es besteht die Hoffnung, hierdurch Behandlungen besser zu erforschen, sie klarer definieren und angemessener evaluieren zu können – mit dem Ziel, erfolgreicher zu behandeln. Wir haben das Konzept der Mentalisierung und der mentalisierungsbasierten Therapie nur kurz dargestellt. Deshalb auch nur kurz zu seiner Kritik. Einen zentralen Kritikpunkt an dem Konzept haben wir bereits genannt: die noch eingeschränkte Operationalisierung des Konzepts. Weitere Kritikpunkte sind die von Fonagy und Kollegen postulierten Verbindungen von der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeiten mit der Bindungstheorie. Gergely und Unoka (2008) halten dem entgegen, dass die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit und die der Bindungsfähigkeiten weitgehend unabhängig voneinander verlaufen könnten. Fonagy und Kollegen würden in ihrer Argumentation den in einzelnen Studien gefundenen Korrelationen häufig zu viel Bedeutung zuschreiben. Weitere Kritikpunkte am Mentalisierungskonzept beziehen sich auf die zu geringe Bedeutung der Affekte und den zu geringen Stellenwert von Interpretationen (Diamond u. Kernberg, 2008) im Mentalisierungskonzept.

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Donnel B. Stern (2008), ein Vertreter der intersubjektiven Theorie, kritisiert, dass das Konzept der Mentalisierungsstörung dem Therapeuten die scheinbare Macht des Mentalisierungskompetenten zuschreibe, während nach dem Verständnis der intersubjektiven Theorie zwei Personen um Verständnis aus zwei verschiedenen, im Prinzip aber gleichberechtigten Welten, ringen und am Ende Therapeut und Patient verändert aus dem Prozess hervortreten – wenn er gelingt: »Versuche, etwas zu finden, von dem man nicht weiß, wie man danach schauen soll« (»On Having to Find What You Don’t Know How to Look For«, Übers. die Verf.). Zur Überraschung von Stern entgegneten Fonagy und Kollegen auf ein von Stern zur Demonstration dargestelltes Fallbeispiel, dass sie mit ihm völlig übereinstimmten. Wo die Wissenschaft aufhört, beginnt die Kunst der Therapie. Ebenso wie die Now-Moments bei Daniel Stern (2004) ein sehr hohes Maß von Mentalisierungsfähigkeit widerspiegeln, zeigte sich in jedem Fallbeispiel, dass in kritischen Momenten die Versuche zur Mentalisierung immer Versuche bleiben, ein Risiko bergen. Je kritischer die Situation ist, desto mehr Mentalisierungsfähigkeit ist gefragt. Den Standpunkt eines Experten zu deklarieren und aus dieser Position heraus dem anderen zu begegnen ist eine Gefahr, weil sie Mentalisierung verhindert. Das Konzept der Mentalisierung wird weiter angewandt werden und es wird über die Jahre neuen Erkenntnissen und Erfahrungen angepasst werden. Es ist ein Ochsenkarren, der es wert ist, ihn sich näher anzusehen.

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Hans-Jürgen Lang

Das Erleben früher Lebensbewegungen: Die Bedeutung der Babybeobachtung

Experiencing early internal development: the potential of infant observation According to Adler, a patient always draws on his early experiences. Infant observation, which is different from psychoanalytic infant research and attachment theory, creates an outstanding opportunity to understand early developmental processes of the internal world. History and methodology of infant observation are summarized. It is discussed why there is only very little dialogue between infant observation and psychoanalytic infant research respectively attachment theory. It is shown that infant observation first of all enables »learning from experience« (Bion) in a unique manner.

Zusammenfassung Nach Adler kann »der Patient nichts anderes benützen, als was in seiner (früheren) Erfahrung gelegen ist«. Die psychoanalytische Babybeobachtung (nicht zu verwechseln mit Säuglingsforschung) bietet eine herausragende Möglichkeit, frühe innere Landschaften durch eigenes Erleben auf einer tiefen Ebene zu verstehen. Der Beitrag gibt zunächst einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung und Methode der Babybeobachtung. Die auffallende Sprachlosigkeit zwischen Babybeobachtung einerseits und psychoanalytischer Säuglingsforschung beziehungsweise Bindungstheorie andererseits wird diskutiert. Anschließend wird gezeigt, welch vielfältiges und reiches Potenzial die Babybeobachtung für ein »Lernen durch Erfahrung« (Bion) bietet.

Einleitung Intersubjektivität lautet das Thema dieses Bandes – allerdings ist dieser Begriff mit ganz verschiedenen Bedeutungen und Schwerpunkten verbunden, je nachdem, ob ihn etwa ein Säuglingsforscher oder ein Erwachsenenanalytiker verwendet. Aber auch innerhalb dieser beiden Gruppen werden mit dem Begriff unterschiedliche Phänomene beschrieben. Die Säuglingsforscher Beebe, Rustin, Sorter und Knob-

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lauch (2005) plädieren deshalb dafür, von unterschiedlichen Formen der Intersubjektivität zu sprechen. Dabei gehe es aber immer darum, was geschieht, wenn sich zwei Innenwelten begegnen (»what is occurring between two minds«, S. 56). Diese Definition ist nicht auf wechselseitige, symmetrische Prozesse beschränkt. In diesem Sinne lässt sich auch die Babybeobachtung als eine Form eines intensiven intersubjektiven Prozesses verstehen: Es geht vor allem – aber nicht nur – darum, was der Beobachter wahrnimmt, was er aufnimmt, auf sich wirken lässt, welche inneren Prozesse das Beobachtete in ihm auslöst und wie er dies verarbeitet.

Ein Beispiel aus der Babybeobachtung Ich möchte gerne mit einem Beispiel aus der Babybeobachtung beginnen: Die Beobachterin beschreibt in ihrem Beobachtungsprotokoll zunächst genau und eindrücklich, wie der vier Monate alte Jonas auf dem Schoß der Mutter sitzt, das Gesicht der Mutter zugewandt. Die Mutter sagt zu ihm, wie ähnlich er dem Vater sieht, und ergänzt, an die Beobachterin gewandt, dass dieser sich überhaupt nicht um Jonas kümmert, wobei sie beim Erzählen immer aufgeregter und unruhiger wird. Das Kind wirkt währenddessen auf die Beobachterin in sich zusammengefallen, wie ein nasser Sack, ohne lebendige Muskelspannung, so ergänzt die Beobachterin ihre Eindrücke im Seminar. Bei der einfühlsamen Beobachterin, für die diese Situation selbst schwer auszuhalten war, stellte sich während des Schreibens des Protokolls eine spontane Assoziation ein: Sie dachte an das Bild »Es weint« von Paul Klee. Im Seminar konnte mit den Teilnehmern dann die Hypothese erarbeitet werden, dass die Beobachterin wohl etwas aufgenommen hat, das in diesem Moment ein wichtiges Thema für dieses Mutter-Kind-Paar war: Es geht darum, dass die alleinerziehende Mutter verständlicherweise innerlich immer wieder damit beschäftigt und dadurch belastet ist, dass der Vater von Jonas nicht zu dem gemeinsamen Kind steht, weshalb sie sich oft enttäuscht und alleine gelassen fühlt. Das Präsentische des Abwesenden, hier des Vaters, ist auch für das Kind ein Thema – man könnte etwa an die berühmten »ghosts in the nursery« denken, wie sie Fraiberg, Adelson

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und Shapiro (1975) geschildert haben, wobei es Fraiberg et al. um die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erlebnisse geht. So, wie die Mutter sich alleine gelassen und verlassen fühlte, mag sich vielleicht auch Jonas gefühlt haben, als die Mutter aus ihrem eigenen inneren Zustand heraus situativ emotional nicht verfügbar war. Die Beobachterin scheint die Not der beiden in diesem Moment gespürt und aufgenommen zu haben, was sich bei ihr zu dem eindrücklichen Bild »Es weint« von Paul Klee verdichtete. Ich bedanke mich bei der Beobachterin, die gerne anonym bleiben möchte, dafür, dass ich dieses Beispiel verwenden darf. Ich möchte mit dieser kurzen Sequenz zeigen, wie sehr es bei der Beobachtung nicht nur um das genaue Wahrnehmen und Beobachten äußerer, sondern ebenso um das Zulassen, Wahrnehmen und Reflektieren innerer, beim Beobachter ausgelöster Prozesse geht. Die Anfertigung eines schriftlichen Beobachtungsprotokolls und dessen supervidierte Besprechung sind wesentliche Bestandteile eines Prozesses, in dessen Verlauf das außen und innen Gesehene verarbeitet und verstanden werden soll. Schon in diesem Beispiel klingen zwei wesentliche Potenziale der Babybeobachtung an: Das Erlernen und Vertiefen einer aufnehmenden, empathischen Haltung und die Weiterentwicklung der eigenen Reflexionsfähigkeit. Zunächst möchte ich in meiner Arbeit einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Babybeobachtung und ihrer Methode geben, insbesondere zur Haltung, die für die Beobachtung empfohlen wird. Dann möchte ich die Beziehung zwischen Babybeobachtung und Säuglingsforschung ansprechen, mit der sie oft verwechselt wird. Anschließend werde ich ausführlich darauf eingehen, welche Fülle von Erfahrungs-, Selbsterfahrungs- und Lernmöglichkeiten die Babybeobachtung bietet. Zunächst zur historischen Entwicklung der Babybeobachtung; ich möchte hier nur kurz einige bedeutsame Stationen nennen.

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Eine Idee entsteht Das Interesse an der Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern beginnt bereits in voranalytischen Zeiten: Margot Waddell (2006) sieht die Wurzeln dieses Interesses im 17. und 18. Jahrhundert, als innerhalb der sich entfaltenden empirischer Denkrichtungen nicht nur ein von der Religion unabhängiges neues Interesse an sogenannten Fakten, sondern auch eine veränderte Perspektive im Umgang mit diesen »Tatsachen« entstand. Getragen von diesen Strömungen, veröffentlichte Charles Darwin 1877 seine Tagebuchaufzeichnungen über die Beobachtung seines eigenen Sohnes. Bei Freud finden sich keine systematischen Babybeobachtungen; allerdings forderte er die Eltern des fünfjährigen »kleinen Hans« auf, ihren Sohn zu beobachten (1909), und berühmt ist auch seine Beschreibung (1920) des »Fort-Da-Garnrollenspiels« seines Enkels Ernest, der später selbst Psychoanalytiker und begeisterter Anhänger der Babybeobachtung wurde. Adler (1912/1997) erkannte aus seiner Intuition heraus, dass bereits im ersten Lebensjahr wesentliche psychische Strukturbildungsprozesse stattfinden. Melanie Klein beobachtete dann ihre eigenen Kinder, und dies prägte ganz wesentlich ihr Denken über frühe Entwicklungsprozesse (Waddell, 2006). Der Kreis um Anna Freud führte bereits Mitte der 30er Jahre systematische Kinderbeobachtungen durch (Köhler-Weisker, 1980): Edith Jackson, eine amerikanische Kinderärztin, hatte bei ihrem Vater die psychoanalytische Methode gelernt und wandte sich deshalb dankbar an Freuds Tochter mit der Frage, ob sie etwas für die Psychoanalyse tun könne. Mit der finanziellen Hilfe von Jackson wurde dann 1937 eine Kinderkrippe gegründet. Bestandteil der Arbeit dieser Einrichtung, die wegen der Flucht der Familie Freud vor den Nationalsozialisten nur etwa ein Jahr bestand, waren wöchentliche Berichte über die Beobachtungen der Mitarbeiterinnen sowie wöchentliche Besprechungen. An diesen nahmen nicht nur die ständigen Mitarbeiterinnen wie Anna Freud, Dorothy Burlingham und andere teil, sondern immer wieder auch Psychoanalytiker (z. B. Kris, Sterba). In den »Hampstead War Nurseries« (1940–1945) wurden diese Beobachtungen dann weitergeführt. 1951 schrieb Anna Freud über die Haltung des Beobachters: »Die Beobachtungsarbeit war nicht an

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einem vorab festgelegten Plan orientiert. Man ahmte die Haltung des Analytikers nach, der seinen Patienten in der analytischen Sitzung beobachtet, wahrte eine gleichschwebende Aufmerksamkeit und ließ sich vom Material leiten« (S. 20). Der Quantensprung in der Entwicklung der Babybeobachtung wurde dann durch die Arbeiten von Esther Bick eingeleitet, einer Analysandin zunächst von Michael Balint und dann von Melanie Klein (Briggs, 2002): John Bowlby übernahm 1948 die Aufgabe, in der 1920 gegründeten Londoner Tavistock Clinic eine Abteilung für Kinder und deren Eltern aufzubauen. Er lud Esther Bick dazu ein, sich an der Entwicklung einer kinderanalytischen Ausbildung für diese Abteilung zu beteiligen. Die 1983 verstorbene Wiener Psychologin entwickelte daraufhin, auch vor dem Hintergrund eigener, ernüchternder Erfahrungen, die sie noch bei Charlotte Bühler gemacht hatte, ihr berühmtes, heute noch praktiziertes Modell (Bick, 1964/1987 – eine deutsche Übersetzung dieses bahnbrechenden Artikels findet sich in dem 2009 von Diem-Wille und Turner herausgegebenen Band; Briggs, 2002; Lazar, Lehmann u. Häußinger, 1986). Man könnte sich fragen, ob in dieser Ursprungskonstellation bei der Person Esther Bick und in der Idee der systematischen Babybeobachtung nicht bereits zwei Linien psychoanalytischen Denkens zu konvergieren beginnen: Der kleinianische Ansatz mit seiner Betonung des Intrapsychischen und die Ideen Bowlbys mit ihrer Betonung realer Einflüsse. Das Modell wurde jedenfalls zu einer Erfolgsgeschichte: Nachdem die Babybeobachtung 1948 für die kinderpsychotherapeutische Ausbildung an der Tavistock Clinic eingeführt worden war, wurde sie 1960 in die vorklinische Ausbildung am Londoner »Institute of Psychoanalysis« aufgenommen und ist inzwischen weltweit verbreitet. Die begeisterten Berichte über teilnehmende Beobachtungen in der frühen Kindheit, unter anderem durch W. Ernest Freud (1976), den Enkel Freuds, regten dann Angela Köhler-Weisker dazu an, 1977 am Frankfurter Institut mit den entsprechenden Seminaren im Rahmen der psychoanalytischen Ausbildung zu beginnen (Köhler-Weisker, 1980). Eine wichtige Fokusveränderung der Beobachtungshaltung beschreibt Jutta Kahl-Popp (2001) in ihrer Arbeit über das »Kieler Mo-

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dell«: Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Säuglingsforscher und Erfahrungen aus Psychotherapien geht es ihr nicht mehr »nur« um die Entwicklung des Babys, sondern umfassender um das Beobachten und Verstehen der familiären Dynamik. Eine solche Erweiterung ist wohl auch im Kontext der Entwicklung hin zu interpersonalen und intersubjektiven Ansätzen in der modernen Psychoanalyse zu sehen. Auch ein Baby entwickelt sich nicht »für sich alleine«, sondern ist immer in einen Beziehungskontext und dessen interaktive Gestaltung eingebettet (außer der Mutter gehören hierzu natürlich der Vater, aber auch weitere Personen wie etwa Geschwister oder Großeltern). Nach diesem kurzen, ausgewählten Überblick zur Geschichte der Babybeobachtung (ausführlichere Darstellungen finden sich bei Miller, Rustin, Rustin u. Shuttleworth, 1989, und Reid, 1997) nun zur Frage, wie man denn nun eigentlich an eine Babybeobachtung herangehen sollte.

Die »analytische« Haltung des Beobachters: Kein rigides Korsett, aber ein sicherer Rahmen Das oben angeführte Zitat von Anna Freud verweist bereits auf die Parallelen zwischen der analytischen Haltung und der Haltung des Beobachters, in die dieser durch die Babybeobachtung hineinfinden soll. Wie bei der analytischen Haltung geht es auch hier nicht um einen Kanon starrer Regeln, die unter allen Umständen eingehalten werden müssen, sondern um einen sicheren Rahmen und um Orientierungshilfen, die dabei helfen sollen, dem Beobachtungsprozess eine sinnvolle und haltende Struktur zu verleihen beziehungsweise ihn überhaupt erst zu ermöglichen. Für Köhler-Weisker besteht das wichtigste Merkmal dieser Haltung in der freischwebenden Aufmerksamkeit: »Der Beobachter soll sich dem Geschehen teilnehmend öffnen, ohne sich […] zu engagieren. Dazu gehört, daß er Moralisieren oder Kritik an der Art des Umgangs der Mutter mit ihrem Säugling unterläßt und Rat, Anleitung und Beruhigung nach Möglichkeit vermeidet. Er darf nicht ›wild‹ analysieren. Es ist ratsam für ihn, nicht viel von sich zu erzählen. Sicher muß er die Neugierde der Familie in gewisser Weise befriedigen und deren

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Fragen beantworten. Dabei kann er auch Gegenfragen stellen. Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, welche Fragen im Dienst eines latenten, unangemessenen und welche im Dienst eines manifesten und angemessenen Bedürfnisses stehen« (Köhler-Weisker, 1980, S. 632). Kahl-Popp sieht die Haltung der freischwebenden Aufmerksamkeit durch die stille Anwesenheit des Beobachters verkörpert, diese »verletzt die Konvention, schließt sie doch Gespräche in Form von Rede und Gegenrede mit der Familie aus. Unter diesen Ausschluss fallen auch gemeinsames Kaffeetrinken, die Anwesenheit bei spontanen Verwandtenbesuchen, offen stehende Eingangstüren, das Wandern mit den Eltern und dem Säugling durch das ganze Haus, Verlegung der Beobachtung in den Garten etc.« (2001, S. 183). In der Praxis werden sich diese Leitorientierungen freilich nicht immer so umsetzen lassen, es wird auch kein rigides Schema angestrebt. Voraussetzung für Abstinenz in der Beobachtung ist, sich keine Familie aus dem Freundes- und Bekanntenkreis oder dem beruflichen Umfeld zu suchen: »Abstinenz in der Familienbeobachtung bedeutet einerseits, kommentarlos aufzunehmen, was der Beobachter von ›seiner‹ Familie wahrnimmt. Andererseits sollte er unmittelbar geäußerte, auch ausdrucksvolle Mitteilungen der Familienmitglieder in sich umwandeln und eine moderate Antwort finden können, um unnötige Kränkung und Zurückweisung zum Beispiel durch absolutes Schweigen zu vermeiden« (Kahl-Popp, 2001, S. 184). Babybeobachtung orientiert sich an den »goldenen Regeln« Esther Bicks, wie sie Gisela Ermann (1996) referiert: Die angemessene Haltung des Beobachters zur »Schulung psychoanalytischer Kompetenz« besteht aus Wohlwollen, freischwebender Aufmerksamkeit, Abstinenz, Neutralität und Unvoreingenommenheit. Auch Ermann geht es nicht um rigide Verhaltensanweisungen, sondern um die Schaffung eines Halt gebenden Rahmens. Die freundliche, aufnahmefähige und annehmende Haltung des Beobachters soll es ihm ermöglichen, auf ihn projizierte intensive emotionale Zustände (zum Beispiel Ängste) zu spüren. Es geht aber nicht nur um das »Aushalten«, sondern gleichzeitig soll der Beobachter auch seine eigenen inneren Prozesse sowie das äußere Geschehen wahrnehmen und reflektieren. Sowohl Kahl-Popp (2001) als auch Köhler-Weisker (1980) stellen fest, dass die Mütter bzw. Familien durch die Beobachtung auch »etwas

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bekommen«: So wird das kontinuierlich-gleichbleibende Interesse des Beobachters als Gratifikation empfunden. Darüber hinaus entstand oft sogar der Eindruck, dass die Beobachtung die Entwicklung des Kindes fördert: In diesen Fällen registrierte auch die Mutter vieles aufmerksamer und bewusster, dachte vielleicht anders oder mehr über ihr Kind nach. Da Mütter mit kleinen Kindern sich oft relativ isoliert und verunsichert fühlen, genießen sie es manchmal, einen aufmerksamen und verständnisvollen Zuhörer zu haben, was natürlich dann andererseits auch wieder die Wahrung des Beobachtungsrahmens erschweren kann. Auch Perez-Sanchez (1995) beschreibt die »Haltefunktion«, die die Babybeobachtung für die Familie hat und die durch die Haltung des Beobachters sowie die Regelmäßigkeit und zeitliche Begrenztheit der Sitzungen entsteht. Babybeobachtung beinhaltet demnach – trotz oder vielmehr gerade wegen der abstinenten Haltung des Beobachters – ein nicht zu unterschätzendes »Containing« für die Mütter beziehungsweise Familien, die sich von ihrem Beobachter »finden lassen«.

Das Tavistock-Modell: Babybeobachtung in Aktion Wie läuft nun eine Babybeobachtung nach dem Tavistock-Modell von Esther Bick (1964/1987) genau ab? Datler, Steinhardt und Ereky (2002) schildern dies wie folgt: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer versuchen, eine Familie zu finden, die ein Baby erwartet und die dazu bereit ist, den Beobachter regelmäßig in die Familie kommen zu lassen, wo er das Baby in Alltagssituationen beobachtet. Das Baby wird zwei Jahre lang beobachtet, im ersten Jahr erfolgt die Beobachtung wöchentlich, im zweiten Jahr vierzehntägig, jeweils für eine Stunde. Der Beobachter soll all das aufnehmen, was mit dem Baby geschieht und was es an eigenen Aktivitäten zeigt. Im Mittelpunkt der Beobachtung steht aber immer das Baby, das dabei mit anderen Personen (etwa mit der Mutter, dem Vater oder Geschwistern) zusammen oder vielleicht auch einmal alleine ist. Es sollen keine Situationen »gezielt« beobachtet werden, sondern das, was im Moment geschieht (zum Beispiel ist auch ein schlafendes Baby für die Beobachtung interessant). Im Anschluss an die Beobachtung schreibt der Beobachter das von

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ihm Beobachtete nieder, und zwar in deskriptiv-narrativer Weise. Der Bericht soll möglichst frei von Interpretationen bleiben und stattdessen ein möglichst genaues Bild vom beobachteten Geschehen geben. Die anonymisierten Beobachtungsprotokolle werden dann in die einmal wöchentlich stattfindenden Seminarsitzungen eingebracht. Es wird ein Protokoll ausgewählt und ausführlich besprochen. Dabei geht es vor allem darum, wie das Baby in der beobachteten Situation sich und seine Welt wohl erlebt haben mag und welche Beziehungserfahrungen es gemacht hat. Im begleitenden Seminar ist dann auch das Erleben des Beobachters und der anderen Teilnehmer ein wichtiges Thema. Die Seminarteilnehmer können so erkennen, welche Gegenübertragungsgefühle in ihnen ausgelöst wurden, sie können auch erleben, wie das Reflektieren der eigenen Phantasien, Impulse und Gefühle dazu führen kann, das Beobachtete und Erlebte auf einer tieferen Ebene zu verstehen. All dies bleibt jedoch auf das Baby und den Beobachtungsprozess fokussiert, es soll die Kompetenz des Beobachters erweitern und zu einem differenzierteren Verständnis früher Erlebnis-, Beziehungsund Entwicklungsprozesse führen. Zur Vertiefung des Beobachtungsprozesses wird auch über die Besprechung im Seminar für alle Teilnehmer ein Protokoll angefertigt. Charakteristisch für den von Datler et al. (2002) beschriebenen Ansatz ist, dass sich die Beobachtung ganz auf das Baby und das Beobachtete konzentriert. Gegenübertragungen werden vor allem als Informationsquelle über das Baby benutzt. Janine Sternberg (2005), deren Ansatz ich anschließend schildern werde, betont dagegen sehr viel mehr die subjektiven, individuell-persönlichen Reaktionen des Beobachters, das in ihm ganz persönlich durch die Beobachtung Ausgelöste, seine eigene Beteiligung und sein eigenes Erleben sowie weitere intensive Lernprozesse, die durch die Babybeobachtung angestoßen werden. Ein solches Verständnis der Gegenübertragung erscheint mir nicht nur angemessener; es ist darüber hinaus wichtig, dass diese sehr persönlichen Gegenübertragungsreaktionen gesehen und bearbeitet werden. Weitere Arbeiten zum Tavistock-Konzept finden sich bei Ermann (1996), Lazar (1993, 2000; Lazar et al., 1986), Diem-Wille und Turner (2009) sowie im Themenheft: »Säuglingsbeobachtung nach dem

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Tavistock-Modell« der Zeitschrift »Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« (Heft 3, 2007). Inzwischen existiert ohnehin bereits eine sehr umfangreiche Literatur zur Babybeobachtung (siehe hierzu z. B. die »References« am Ende des 2005 erschienen Buchs von Sternberg sowie die von Datler und Trunkenpolz 2009 zusammengestellte und kommentierte Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen), es gibt auch eine eigene Zeitschrift – das »International Journal of Infant Observation« –, die sich ganz dem Thema verschrieben hat.

Babybeobachtung und Säuglingsforschung Adler (1912/1997) verstand Leben bekanntlich als aufnehmende und gestaltende Bewegung (z. B. Bruder-Bezzel u. Bruder, 2004; Eife, 2008). Als Ausdruck dieser dynamischen Lebensbewegung entfalten sich seiner Meinung nach bereits während der Säuglingszeit wesentliche Prozesse der intrapsychischen Entwicklung und Strukturbildung im Kontext früher Beziehungserfahrungen. Natürlich verwendete Adler nicht den modernen Strukturbegriff, sondern sprach von »psychischen Gesten«, »Bereitschaften« und einer »Leitlinie« (1912/1997, S. 94). Aus dieser Betonung früher und frühester innerer Entwicklungsprozesse heraus ergibt sich meiner Meinung nach eine besondere Affinität individualpsychologischentwicklungspsychologischen Denkens zu (psychoanalytisch reflektierten) Konzepten der Säuglings- und Bindungsforschung, wie sie etwa von Lichtenberg (1989), Lichtenberg, Lachmann und Fosshage (2000a, 2000b, 2002), Stern (1992, 2005), Beebe und Lachmann (2004), Beebe et al. (2005) und Fonagy (2003) entwickelt wurden (z. B. Lang, 2002, 2010). Nun ist Babybeobachtung etwas völlig anderes als Säuglingsforschung (zu den Unterschieden vgl. Lang, 2008). Die Säuglingsforschung ist eine empirisch-experimentelle Forschungsrichtung, die meiner Meinung nach vor allem dann interessant wird, wenn Psychoanalytiker sie vor dem Hintergrund ihrer therapeutischen Erfahrung in ihr Denken zu integrieren und therapeutisch nutzbar zu machen versuchen (wenn im folgenden der Einfachheit halber von Säuglings-

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forschung und Bindungstheorie gesprochen wird, dann sind immer deren psychoanalytische Exponenten gemeint, besonders die soeben erwähnten). Obwohl es zwischen Babybeobachtung und Säuglingsforschung wichtige methodische und erkenntnistheoretische Unterschiede gibt, haben beide Richtungen aber dennoch den gleichen Gegenstand: Es geht um Babys und ihre inneren Entwicklungsprozesse. Wenn man nun weiter davon ausgeht, dass die Betonung kindlichen Erlebens beziehungsweise der subjektiven Verarbeitung dieses Erlebens sogar so etwas wie einen »Common Ground« sämtlicher analytischen Schulen darstellt (mit zunehmender Verlagerung weg vom relativ »späten« ödipalen Erleben hin zu früheren Erfahrungen), dann springen bestimmte Auffälligkeiten doch recht schnell irritierend ins Auge: 1. Warum beziehen sich Babybeobachtung einerseits und Säuglingsforschung beziehungsweise Bindungstheorie andererseits kaum oder nur sehr sporadisch aufeinander (gemeint sind hier, wie bereits erwähnt, immer ihre analytischen Vertreter)? 2. Warum ist die Babybeobachtung nicht längst überall zentraler Bestandteil der analytischen Ausbildung, und zwar sowohl für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als auch für Erwachsenen-Psychoanalytiker? Die Antwort auf die erste Frage kann man natürlich mit methodischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen zu begründen versuchen, aber eine solche Antwort muss aufgrund der allzu offensichtlichen Konvergenzen immer etwas Unbefriedigendes haben. Weiter könnte man die Entwicklung in unterschiedlichen Ländern anführen: Die Bick-Methode ist eine Tavistock-Geburt, »Made in Great Britain«, während für die Säuglingsforschung mit ihren Vertretern Lichtenberg, Lachmann, Beebe und Stern sozusagen gilt: »Born in the USA«. Fonagys Denken mit seiner (kleinianisch gefärbten) Verwurzelung in der Bindungstheorie ist wiederum britisch beeinflusst, denn John Bowlby hat ja seine Bindungstheorie bekanntlich in London entwickelt. Die Babybeobachtung wurde ebenfalls in Großbritannien konzipiert, und Fonagy sieht in ihr immerhin einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung, wenn er sich auch nicht weiter mit ihr auseinandersetzt.

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Auch eine »territoriale« Antwort klingt letztlich nicht sehr überzeugend. Möglicherweise geht es eher um mehr oder weniger ideologische Relikte, Altlasten und Spätfolgen weit zurückreichender »schulischer« Dissonanzen: Viele der wichtigsten Säuglingsforscher haben ihre Wurzeln in der Selbstpsychologie (Stern ist eine Ausnahme – er schreibt zwar über die Entwicklung des Selbst, sieht sich aber nicht als Selbstpsychologen). Die Bick-Methode wiederum hat einen deutlich kleinianischen Ideenhintergrund. Rezipiert man sich also letztlich vielleicht deshalb nicht, weil bewusste, latente oder abgewehrte, irgendwie tradierte und mehr oder weniger ideologische Barrieren dies implizit oder explizit blockieren? Auch Säuglingsforscher und Bindungstheoretiker nehmen oft kaum oder nur sehr sporadisch aufeinander Bezug (Lang, 2003); so bezieht sich Fonagy bekanntlich ausführlich auf die Bindungstheorie, die (psychoanalytische) Säuglingsforschung erwähnt er kaum oder gar nicht (etwa Allen, Fonagy u. Bateman, 2008). Immerhin hat er sich sehr anerkennend über Lichtenbergs (2007) Buch zur Entwicklung und Dynamik sinnlichen und sexuellen Erlebens geäußert (Klappentext). Ein neueres Beispiel für das wechselseitige Ignorieren von Säuglingsforschung und Babybeobachtung ist ein Symposion zur Eröffnung der Babyambulanz im Krankenhaus am Biederstein in München im letzten Jahr (16./17.10.2009). Nun ist so eine Babyambulanz eine sehr wichtige Einrichtung. Auffallend war jedoch, dass bei der Eröffnungstagung zum Thema Babybeobachtung die Säuglingsforschung oder auch andere psychoanalytisch-entwicklungspsychologische Ideen als die, auf denen die Babybeobachtung beruht, zumindest in den angekündigten Vortragstiteln nicht auftauchten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte sehr viel von Esther Bicks entwicklungspsychologischen Vorstellungen sowie der kleinianisch-bionianischen Theorie und treffe mich zum Beispiel regelmäßig mit einer kleinianisch orientierten Kollegin zur Intervision. Es ist ausschließlich die einseitige Ausrichtung an nur einem Theoriemodell, die ich kritisiere, und die meiner Meinung nach immer etwas IdeologischAussschließendes hat. Vielleicht sind diese Einseitigkeiten und die Befürchtung impliziter Ideologismen auch ein Grund für Vorbehalte gegen die Babybeobachtung als Bestandteil der psychoanalytischen

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Ausbildung. Ich denke, dass es tatsächlich sehr wichtig ist, sorgfältig darauf zu achten, hier nicht sozusagen durch die Hintertür eine theoretische Einseitigkeit zu importieren, ganz im Sinne Adlers: »alles kann auch anders sein« (1933b/1990, S. 22). Lazar (2000), der selbst in der Tavistock-Tradition steht, erwähnt zu Recht die unterschiedlichen Ausgangspunkte von Babybeobachtung und Säuglingsforschung. Was die Rezeption der Säuglingsforschung (und Bindungstheorie) betrifft, so ist er selbst ziemlich zurückhaltend. Andererseits betrachtet er Babybeobachtung und Säuglingsforschung aber nicht als Gegensätze, »sondern als gegenseitige Ergänzungen und Bereicherungen. Den sich entwickelnden Menschen von Anfang des Lebens an zu studieren – eine der faszinierendsten und wertvollsten Aufgaben, die man sich vorstellen kann – verträgt meines Erachtens ohne weiteres eine Vielfalt an Studiermethoden. Schließlich bleibt das »Objekt« Mensch das Gleiche für alle. Unterschiedliche Betrachtungsweisen können unser Wissen und unsere Erkenntnisfähigkeit darüber nur vergrößern« (S. 401). Und weiter: »In der Interaktion dieser verschiedenen Ansätze erhoffe ich mir viele neue Anregungen und vielleicht einige Antworten auf die Fragen nach dem Werden und Funktionieren des Menschenkindes von klein auf« (S. 415). Und dann spricht Lazar recht kritisch einen Aspekt an, der die merkwürdigen isolationistischen Tendenzen jenseits von Territorialität erklären könnte, nämlich Abwehr: »Allerdings ist mir die andere, viel unangenehmere Seite des ›Nichts-davon-wissen-Wollen‹ sowohl bei mir selbst wie bei Kolleginnen und Kollegen bestens vertraut. Ich kann es nur mit der Phrase ›Ignoranz macht dumm‹ bezeichnen. Denn ich beobachte seit Jahren, dass die Angst vor dem Nicht-Verstehen jeglichen Austausch, jegliches Lernen von einander und damit natürlich jegliche Korrektur von eigenen Ansichten erschwert bis unmöglich macht« (S. 416). Nun zur zweiten Frage: Warum ist die Babybeobachtung nicht längst wesentlicher Teil der analytischen Ausbildung (wofür, wie bereits erwähnt, auch Fonagy plädiert: »placing infant observation once again at the centre of psychotherapeutic training«; Klappentext zum 2005 erschienenen Buch von Janine Sternberg)? Zwar stellt Häußler (2007) fest: »Die Säuglingsbeobachtung ist seit einigen Jahren an den psychoanalytischen Instituten in Deutschland fester Bestandteil in

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der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten« (S. 301). Dies gilt allerdings keineswegs für alle Ausbildungsinstitutionen, und darüber hinaus ist die Babybeobachtung in der Ausbildung zum Psychoanalytiker für Erwachsene weniger selbstverständlich – obwohl sie auch hier Wesentliches anzubieten hat. Vielleicht liegt die Antwort auf die zweite Frage ja gerade in dem begründet, was die Babybeobachtung auslösen kann, wenn man sich wirklich auf sie einlässt (natürlich kann man die Babybeobachtung auch einfach nur »abhaken« oder »aussitzen«, ohne sich wirklich berühren zu lassen): Nämlich eine Vielzahl irritierender Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle, die oft mit gewaltiger Wucht daher kommen und manchmal auch nur schwer zu ertragen sind, zum Beispiel Unsicherheit, Angst, Ohnmacht oder Wut. Diese mitunter schwierigen inneren Zustände werden nicht nur durch identifikatorische Prozesse und durch das Aufnehmen infantiler »Projektionen« (es geht um ein von Empathie getragenes »sich berühren und anstecken lassen«) ausgelöst. Darüber hinaus werden durch die Beobachtung auch bewusstseinsnahe Themen und Konflikte des Beobachters berührt (die wiederum mit seinen eigenen unbewussten Konflikten und damit mit dem frühen Erleben verbunden sein können), man denke etwa an einen Beobachter beziehungsweise an eine Beobachterin, der beziehungsweise die selbst keine Kinder (mehr) bekommen kann, an eine schwangere Beobachterin (beziehungsweise an einen Beobachter, dessen Partnerin ein Kind erwartet), oder an Beobachter, denen es schwerfällt (oder -fiel), mit dem eigenen Baby zurechtzukommen. Es ist davon auszugehen, dass durch die Babybeobachtung aus der eigenen Säuglingszeit stammende, somit vorsprachliche, archaische und mitunter äußerst intensive psychische Inhalte des Beobachters berührt werden können (das »implizite Wissen« – »implicit knowing« – im Sinne von Stern, z. B. 2005). Dies kann natürlich massive Angst und Abwehrprozesse auslösen. Babybeobachtung bietet enorm vielfältige und bereichernde Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten, sie kann einerseits sehr schöne und beglückende Erlebnisse ermöglichen (zum Beispiel durch die identifikatorische Einfühlung in ein zufriedenes Baby, das gestillt wird). Aber sie löst eben auch Angst aus und berührt eigene, unbewusste Konflikte, manchmal mit großer Intensität (in dem gerade erwähnten Bei-

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spiel könnte dies etwa eine tief verwurzelte Neidproblematik vor dem Hintergrund eigener Mangelerfahrungen sein). Dass die Babybeobachtung nicht längst selbstverständlicher Bestandteil der analytischen Ausbildung ist, könnte mit diesen nicht zu unterschätzenden Ängsten und den daraus resultierenden Abwehrprozessen zusammenhängen.

Was die Babybeobachtung bietet Lazar (2000) sieht den Gewinn, den man aus einer Babybeobachtung ziehen kann, in ihrer Funktion als »Empathietraining«. Dabei kommt der Intensität der im Beobachter ausgelösten Prozesse eine besondere Bedeutung zu, wie Maiello (2007) betont: »Der eigentliche Kern der Lernerfahrung der Säuglingsbeobachtung besteht in der Stärkung der Fähigkeit, intensive emotionale Zustände auszuhalten, sei es, dass diese ihren Ursprung in den äußeren Umständen haben oder in der inneren Welt des Beobachters oder in beiden« (S. 343). Nimmt man diese Aussage mit den gerade angeführten Überlegungen zusammen, dann wird schnell deutlich, dass die Babybeobachtung von einer eigenen Analyse begleitet werden sollte, in der das Ausgelöste bearbeitet und verstanden werden kann. Dies ist natürlich vor allem dann wichtig, wenn es sich um tief in der eigenen Lebensgeschichte des Beobachters verwurzelte Themen und innere Konflikte handelt. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass die ausgelösten inneren Dynamiken abgewehrt oder inszeniert werden (zum Beispiel, indem man sich nicht wirklich einlässt, oder etwa in der Wut auf den Seminarleiter, der einem diese Gefühle zumutet, oder in der Idealisierung des Babys beziehungsweise Pathologisierung der Mutter). Zwar kann auch das begleitende Seminar eine gewisse Haltefunktion bieten, aber dessen Selbsterfahrungscharakter ist natürlich begrenzt. Sternberg (2005) hat sich besonders intensiv damit auseinandergesetzt, was durch Babybeobachtung im Rahmen der psychoanalytischen Ausbildung gelernt werden kann (im folgenden werde ich deshalb immer wieder auf ihre Arbeit zurück greifen). Es geht dabei um unmittelbare Erfahrung, in Anlehnung an Gisela Eife (2008) könnte man sagen, es geht um ein Eingetauchtsein, das dem Berührtwerden und Sich-berühren-Lassen durch die Beobachtung entspricht,

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aber auch um die reflektierende Verarbeitung des unmittelbar Erlebten nach dem Wiederauftauchen. Nach Meinung von Sternberg bietet die Babybeobachtung die Möglichkeit, viel grundlegendes Rüstzeug für die praktisch-psychotherapeutische Arbeit zu erlernen. Sie erwähnt ein vor allem bei Psychoanalytikern für Erwachsene verbreitetes Missverständnis: Bei der Babybeobachtung gehe es nur darum, etwas über die Entwicklung von Säuglingen und kleinen Kindern zu lernen. Natürlich wird das auch gelernt (allerdings auf einzigartige Weise, die sich tief mit dem eigenen Erleben verbindet), dies ist natürlich ein wichtiger Aspekt der Babybeobachtung. Aber es ist darüber hinaus noch etwas anderes, das die Babybeobachtung zu einem so zentralen Bestandteil der psychoanalytischen Ausbildung macht: Es geht darum, dass durch die Babybeobachtung intensive Gefühle (vielschichtige emotionale Aspekte, eigene innere Konflikte, Phantasien, affektgeladene Gedanken, intensive Erfahrungen und ähnliches) im Beobachter ausgelöst werden. Die Beobachtung von Neugeborenen und Säuglingen bedeutet eine Begegnung mit dem Leben in seinem radikalen Rohzustand, der noch nicht von geronnenen Abwehrstrukturen überlagert ist. Diese Begegnung kann sehr schmerzhaft sein, aber sie ist deshalb so wichtig, weil ein Psychoanalytiker darauf vorbereitet sein sollte, sich auf radikale, archaische und (ohne dass dies entwertend gemeint ist) primitive Schichten des Erlebens einzulassen. Im Anschluss an das Erleben der mitunter sehr extremen, verunsichernden oder bedrohlichen Gefühle geht es dann freilich darum, dass der Beobachter einen inneren Raum findet, der es ihm ermöglicht, diese Gefühle zu verarbeiten und zu reflektieren. Durch die Babybeobachtung soll eine Haltung gefördert werden, bei der das Beobachtete nicht sofort durch den Filter einer bestimmten Theorie gesehen wird. Sternberg ist sich darüber im Klaren, dass es keine völlig unvoreingenommene Beobachtung geben kann, da jeder Beobachter unweigerlich eine eigene Perspektive mitbringt. Ihr geht es um die Gefahr, das Beobachtete immer schon aus dem Blickwinkel einer bestimmten »Lieblingstheorie« heraus wahrzunehmen, was letztlich dazu führen würde, dass man sich vom Geschehen nicht mehr wirklich berühren lässt und sich verschließt. Reid (1997) schreibt dazu: »Der Student wird dazu ermutigt und dabei unterstützt,

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zu sehen, was es da zu sehen gibt, und nicht danach zu suchen, was da vermeintlich sein sollte« (S. 1, Hervorhebung von Reid). Es geht darum, nicht immer schon alles sicher zu wissen, sondern Nichtwissen auszuhalten und gegebenenfalls die eigenen Theorien und Hypothesen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, dazu bereit zu sein, sie zu revidieren und offen zu bleiben für andere Sichtweisen (»keep an open mind«, Robinson, 1992, S. 19). Wenn der Beobachter in diesem Sinne warten kann, werden bestimmte Muster im beobachteten Material nach und nach von selbst deutlich werden, auch mit Hilfe des begleitenden Seminars. Andererseits bietet die Babybeobachtung aber auch die Möglichkeit, im Verlauf der (späteren) Reflexion des Beobachteten theoretische Konzepte zu klären und sie sozusagen »lebendig« werden zu lassen. Das eigene Erleben während einer Babybeobachtung kann theoretischen Aspekten, die bisher eher intellektuell und »verkopft« rezipiert wurden, eine fundamentale emotionale Bedeutung verleihen, so dass sie erst jetzt wirklich verstanden werden (Sandelson, 1999). Natürlich besteht dabei immer die Gefahr, dass die theoretische Verarbeitung des Gesehenen zu sehr von den theoretischen Vorlieben der Seminarleiter beeinflusst wird. Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, die theoretische Reflexion nicht auf die zweifellos sehr wichtigen kleinianischen Theorien zu beschränken – die Babybeobachtung ist ja aus einem kleinianisch inspirierten Ansatz heraus entstanden –, sondern andere psychoanalytisch-entwicklungspsychologische Theorien sozusagen gleichberechtigt hinzuzuziehen. Die Ansätze nach dem tradierten Tavistock-Konzept (z. B. Lazar, 1993, 2000; Lazar et al. 1986; Israel, 2001, 2007; Diem-Wille u. Turner, 2009) sind hier leider meistens etwas einseitig. Durch die Babybeobachtung wird die Introspektionsfähigkeit gefördert: Der Beobachter lernt, in sich hineinzuschauen, seine eigenen inneren Zustände (»states of mind«, Sternberg, 2005, S. 89) wahrzunehmen und sie in ihrer Beziehung zum Beobachteten zu untersuchen: Die Themen, die im Beobachter ausgelöst werden, sind ein wichtiger Bestandteil bei der Vorbereitung der künftigen Therapeuten auf ihre klinische Arbeit – wenn sie reflektiert und verstanden werden können. Dabei geht es letztlich auch darum, eigene Gefühle von dem zu unterscheiden, was tatsächlich geschieht. Dies kann sehr schwierig

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sein, weil viele der ausgelösten Gefühle mit der eigenen frühen, lebensgeschichtlichen Vergangenheit des Beobachters verbunden sind: Die meisten »stellen fest, dass die besondere Nähe zum Säugling und seiner Mutter in ihnen extrem intensive Gefühle auslöst, die aus ihrer eigenen Säuglingszeit stammen« (Harris, 1977/1987, S. 266). Beobachter versuchen dann oft, die bei ihnen ausgelösten Ängste zu evakuieren, indem sie die Eltern beschuldigen oder das Baby idealisieren (Wittenberg, 1993). Auch hier geht es dann darum, ob der Beobachter in sich einen Raum finden kann, der es ihm erlaubt, über das Erlebte und Gefühlte nachzudenken und es reflektierend zu verarbeiten. Gerade diese Intensität der ausgelösten Gefühle und die Förderung der Fähigkeit, diese zu reflektieren, sind ein wesentlicher Pluspunkt der Babybeobachtung. Wie ein Psychotherapeut, so sollte auch der Beobachter aufmerksam sein, genau wahrnehmen und das Erlebte sorgfältig reflektieren. Dabei geht es auch darum, Nichtwissen zuzulassen und sich nicht sofort in ein scheinbares Wissen oder gar in ein Handeln zu flüchten, das letztlich nur eigene Ängste mindern und die Illusion eigener Kontrolle erzeugen soll (Maiello, 1997). Angestrebt wird eine Haltung, die Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit und Beunruhigung aushält (Rustin, 1988). Diese Ausführungen zeigen, welch intensiven Selbsterfahrungscharakter die Babybeobachtung hat – und sie sind ein gutes Argument dafür, dass der Beobachter selbst in analytischer Behandlung sein sollte, während er diese Erfahrungen durchlebt. Darüber hinaus kommt, wie bereits erwähnt, auch der begleitenden Seminargruppe eine wichtige Halte- und Verarbeitungsfunktion zu: Vieles kann erst mit Hilfe des Seminars reflektiert und verarbeitet werden. Bezüglich des Erlernens einer abstinenten Haltung vertritt Robinson (1992) die Auffassung, dass es weniger darum geht, es (vermeintlich) richtig zu machen, sondern dass vielmehr die Auseinandersetzung mit der Frage, wie der Beobachter seinen Platz finden kann (und wie er es schafft, seine äußere Aktivität zu begrenzen), bereits ein ganz wesentlicher Bestandteil des Beobachtungsprozesses ist. Oft geht es darum, nicht aktionistischen Tendenzen nachzugeben, die letztlich nur eigene Unsicherheiten und Ängste verdecken sollen. Der Beobachter soll lernen, sozusagen in eine langsamere Gangart herun-

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ter zu schalten und eine abwartende Haltung einzunehmen, die für innere Prozesse offen ist. Crick (1997) sieht das besondere Potenzial der Babybeobachtung darin, dass der Beobachter beträchtliche innere Arbeit leisten muss, um zu dieser Haltung zu finden. Diesen Prozess versteht er als wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer psychoanalytischen Identität. Ein wichtiger Bestandteil des Reflexionsprozesses ist die Verarbeitung des Beobachteten durch das Schreiben des Protokolls. Nach Cantle (2000) bietet dies die Gelegenheit dazu, über das Geschehen nachzudenken und es sozusagen zu metabolisieren. Diese erste, ordnende Verarbeitung ist während der Beobachtung – nach Eife (2008), also im Zustand des Eingetaucht-Seins in das unmittelbare Erleben mit seiner ganzen, mitunter bedrohlichen Radikalität – nicht möglich. Beim Abfassen des Protokolls ist es dann oft schwierig, angemessene Worte für das Beobachtete und für präverbales Erleben zu finden, zumal die gewählten Worte immer von einer Vielzahl assoziativer und konnotativer Bedeutungen umhüllt sind (Bick, 1964/1987). Gerade zu Beginn der Beobachtung wird auch vieles vergessen oder die Aufzeichnungen wirken unverständlich. Martelli und Pilo di Boyl (1997) meinen, dass dies nicht nur auf die anfangs mangelnde Übung, sondern auch auf die anfängliche Abwehr des Beobachters zurückzuführen sein könnte: Unbewusst schützt sich der Beobachter dann davor, mit eigenen, bedrohlichen Anteilen in Kontakt zu kommen. Das begleitende Seminar hat eine wichtige Funktion: Es sollte ein sicherer Ort (Sternberg, 2005, S. 100) sein, an dem Schwieriges und Irritierendes entwirrt, das Erlebte benannt und – zumindest teilweise – verarbeitet werden kann. Dabei geht es nicht nur darum, beobachtetes Material nach und nach besser zu verstehen, sondern die Teilnehmer erleben auch die Bedeutung reflektierender Prozesse, so dass sie – aus ihren eigenen Ängsten heraus – weniger ins Handeln oder (scheinbare) Wissen kommen. Um dies zu ermöglichen, ist es wichtig, dass der Seminarleiter die sich entwickelnden gruppendynamischen Prozesse im Blick behält. Davids, Miles, Paton und Trowell (1999) beschreiben folgende Aufgaben des Seminars: Didaktisch geht es darum, Theorie anhand des beobachteten Materials in emotional lebendiger Weise zu lehren und gelegentlich auch auf relevante Literatur hinzuweisen; allerdings

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sollten analytische Konzepte erst dann benannt werden, wenn sie in der Beobachtung »vorkommen« und somit Bestandteil der »gefühlten Erfahrung« werden können (Wittenberg, 1999). Weiterhin hat das Seminar eine wichtige Container-Funktion, indem es dem Beobachter dabei hilft, mit schwierigen inneren und äußeren Situationen umzugehen – das Seminar soll den Beobachter dabei unterstützen, psychoanalytische Kompetenz zu entwickeln, indem er mit den Anforderungen der Babybeobachtung zurecht kommt. Zentral ist für Sternberg, ob es der Seminargruppe gelingt, die ausgelösten Irritationen, Unsicherheiten, Gefühle und Ängste so zu containen, dass der Beobachter wirklich nachdenken und reflektieren kann. Durch ihre Fragen hilft die Seminargruppe dem Beobachter natürlich auch, immer genauer hinzuschauen und genauere Beobachtungen zu liefern. Die Teilnehmer einer (gelingenden) Babybeobachtung erwerben ein Wissen, das tief in ihrem eigenen Erleben verwurzelt ist: Durch ihr Miterleben lernen sie zum Beispiel viel über das komplexe Zusammenwirken innerer und äußerer Welten, können Säuglinge und kleine Kinder ganz anders verstehen und erfahren eine ganze Menge über infantile, nonverbale Kommunikationsprozesse. Der Beobachter wird dadurch für die nonverbalen Inszenierungen unbewusster Phantasien, wie sie ihm später bei der Arbeit mit Patienten begegnen werden, sensibilisiert (Wittenberg, 1999). Die Beobachtung eines Babys innerhalb seiner Familie verdeutlicht rasch das Zusammenspiel individueller, konstitutioneller Faktoren – etwa des Temperaments des Säuglings – mit den individuellen Stärken und Schwachstellen seiner haltgebenden Umwelt (Rustin, 1988). Für Bick (1964/1987) war in diesem Zusammenhang am wichtigsten, zu erleben, wie einzigartig das individuelle Zusammenspiel jedes Mutter-Kind-Paares ist. Dadurch kann auch miterlebt werden, wie sich der Mentalisierungsprozess im Sinne von Fonagy vollzieht (Fonagy, 2003), wie das Baby durch das innere »Bild«, das die Mutter von ihm hat, verstanden wird und sich so seine eigene Innenwelt entwickelt. Darüber hinaus kann auch erlebt werden, welch großes Erholungspotenzial »resilience« Säuglinge haben, etwa wenn Mutter und Baby im ersten Jahr des Kindes vielleicht einen schlechten Start hatten, im zweiten Lebensjahr dann aber erhebliche positive Veränderungen

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möglich werden. Das mag durchaus auch Zuversicht für die spätere psychotherapeutische Arbeit geben (Sternberg, 2005). Beobachter lernen nicht nur lebendig und emotional involviert etwas über die individuellen Besonderheiten früher Mutter-Kind-Beziehungen, sondern darüber hinaus auch viel über andere Beziehungseinflüsse, etwa über die Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung, über Geschwisterbeziehungen und über familiäre Dynamiken, beispielsweise, wenn der Beobachter miterlebt, welche Auswirkungen die Geburt eines Babys auf die ganze Familie hat. Insgesamt wird also enorm viel und differenziert über die grundlegende Bedeutung von Beziehungen für die psychische Entwicklung deutlich. Auf einer Metaebene lernt der Beobachter darüber hinaus auch etwas über die Bedeutung von Beziehungen für Beziehungen, wenn er erleben kann, wie seine eigenen Beziehungserfahrungen in der Seminargruppe sowohl seine eigene Beziehungsgestaltung (zum Beispiel im Hinblick auf Abstinenz) als auch sein Erleben der Beziehungen in der beobachteten Familie verändern. Diese Sensibilisierung für das frühe Beziehungserleben kann einerseits mit Hilfe des Container-Contained-Modells verstanden werden, sie öffnet darüber hinaus aber auch einen Zugang zu den weiteren interpersonalen und intersubjektiven Perspektiven der modernen Psychoanalyselandschaft. Diese hat sich ja bekanntlich in den letzten Jahren – wohl nicht zuletzt auch durch die von der Säuglingsforschung und Bindungstheorie ausgehenden Einflüsse – verändert, die Betonung eines überwiegend intrapsychischen Verständnisses hat sich zugunsten intersubjektiver und interpersonaler Ansätze verlagert: In interaktiven Austauschprozessen werden nun sehr viel mehr die wesentlichen strukturbildenden Kräfte gesehen, die zur Entstehung innerer Welten führen. Die eigene innere Beteiligung am Beziehungsgeschehen beziehungsweise die empathische Einfühlung in die jeweils Beteiligten (also etwa Mutter, Baby, Vater, ältere Geschwister, Großeltern) ist eine gute Übung darin, sich in unterschiedliche Perspektiven hineinzuversetzen und in der eigenen Psyche sowohl ein inneres Bild etwa der Mutter als auch des Babys zu entwickeln und zu bewahren, sich also nicht einseitig mit nur einer Sichtweise zu identifizieren. Inzwischen ist hoffentlich deutlich geworden, welch wichtigen Beitrag die Babybeobachtung für die psychotherapeutische Arbeit

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leisten kann. Natürlich ist eine Babybeobachtung etwas anderes als eine psychoanalytische Behandlung (Wittenberg, 1999): Der Beobachter deutet in der Beobachtungssituation nicht, er beobachtet, wartet und teilt seine Reflexionen der Seminargruppe und deren Leiter mit. Sternberg (2005) sieht darin, wie jemand mit der Babybeobachtung umgeht, allerdings einen prognostischen Indikator dafür, wie es dem Betreffenden im Umgang mit Patienten gehen wird: Wer distanziert bleibt, sich nicht einlassen kann oder vom Erlebten völlig überflutet wird, wird wohl auch später mit Patienten entsprechende Schwierigkeiten haben (Wittenberg, 1999). Ähnliches gilt dafür, ob es dem Beobachter trotz anfänglicher Schwierigkeiten (die wohl jeder hat) gelingt, zu einer angemessenen Beobachtungshaltung zu finden. Wem es während der Babybeobachtung nicht gelingt, eine reflektierende Haltung zu entwickeln, der wird sich wohl auch später damit schwer tun. Babybeobachtung bietet sowohl künftigen Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytikern als auch Psychoanalytikern, die mit Erwachsenen arbeiten, etwas Wesentliches an. Für Kinderanalytiker mag dies auf den ersten Blick offensichtlicher erscheinen – aber eben nur auf den ersten Blick. Auch Psychoanalytiker, die Erwachsene behandeln, müssen sich schließlich mit deren »infantilen« und kindlichen Anteilen auseinandersetzen, das heißt mit der (subjektiv verarbeiteten) frühen Lebensgeschichte ihrer Patienten. Dabei ist es sehr hilfreich, sich in frühe Formen des Erlebens einfühlen zu können sowie frühe, infantile und nonverbale Kommunikationsprozesse zu erkennen und sie zu verstehen, wenn sie sich in der therapeutischen Beziehung inszenieren. Jedenfalls berichten diejenigen Psychoanalytiker, die eine Babybeobachtung absolviert haben, dass sie ihrer Meinung nach dadurch die frühen Lebenserfahrungen ihrer erwachsenen Patienten besser verstehen können (Sternberg, 2005). Darüber hinaus ermöglicht es das Erleben während der Babybeobachtung, mit sehr intensiven Gefühlen und inneren Zuständen in Kontakt zu kommen, die der Verarbeitung und Reflexion bedürfen – dies sind Prozesse, die für alle analytischen Psychotherapeuten von zentraler Bedeutung sind, ob sie nun Kinder, Jugendliche oder Erwachsene behandeln. Deshalb ist die Babybeobachtung seit sieben Jahren fester Bestandteil beider Ausbildungsrichtungen am Münchener Alfred Adler Institut.

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Sternberg (2005) sieht einen Schwerpunkt der modernen Psychoanalyse darin, dass besonders darauf geachtet werde, wie die innere Welt des Patienten (seine »inneren Arbeitsmodelle« oder wie auch immer man dies nennen möchte) seine subjektive Wahrnehmung realer Ereignisse beeinflusst. Individualpsychologisch könnte man von tendenziöser Apperzeption (Datler, 1995) sprechen, von der Tendenz des Patienten, die äußere Welt durch die Brille seiner inneren Welt zu sehen. 1931 beschrieb Adler die zentrale Funktion, die der frühen Erfahrung bei der Gestaltung dieser Brille zukommt. Seiner Meinung nach kann »der Patient nichts anderes benützen, als was in seiner (früheren) Erfahrung gelegen ist. Es ist unmöglich, irgendwie anders vorzugehen als unter Benutzung früherer Erfahrungen« (Adler, 1931m/1982b, S. 184; siehe auch Eife, 2008). Babybeobachtung bietet eine herausragende Möglichkeit, diese frühen inneren Landschaften durch eigenes Erleben auf einer tiefen Ebene zu verstehen – das damit verbundene Lernen durch Erfahrung (im Sinne von Bion, 1962) ermöglicht einen tiefen Zugang zu Patienten, deren gegenwärtiges Erleben von ihren jeweils aktivierten frühen Erfahrungen und deren subjektiver Verarbeitung geprägt wird.

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Petra Heisterkamp

Formen des Bezogenseins

Forms of being related With reference to traditional and contemporary theoretical as well as practical basic assumptions Individual Psychology can be classified as a kind of relational psychoanalysis. In the following contribution similarities are outlined between Adler’s visionary points of view and the premises of today’s representatives of psychoanalysis. Furthermore, it is delineated how Individual Psychology and relational psychoanalysis have moved towards each other as far as their basic assumptions are concerned. Accordingly, the following points are in line with the arguments of Stephan A. Mitchell who himself stands in the tradition of Loewald, Fairbairn, and Sullivan. Current relational psychoanalysts agree in emphasizing the immediate or present interaction in the course of psychic development as well as analytic therapy thus focussing on a sensual-physical level. The analytic treatment is conceived as a kind of relatedness in which early experiential forms are reawakened in the patient’s as well as the psychoanalyst’s mind. These experiences can next be transformed and widened as long as the psychoanalyst is responsive. The developmental course of a psychoanalytical process is described and illustrated by an extensive case study.

Zusammenfassung Aufgrund ihrer traditionellen und heutigen theoretischen sowie praxeologischen Positionen wird die Individualpsychologie der relationalen Psychoanalyse zugeordnet. Der Aufsatz zieht Parallelen zwischen visionären Ansätzen Adlers und Vertretern der Psychoanalyse. Darüber hinaus wird gezeigt, wie sich individualpsychologische und relationale Psychoanalytiker in ihren Auffassungen einander angenähert haben. Dabei beziehen sich die folgenden Ausführungen insbesondere auf Positionen von Stephen A. Mitchell, der sich wiederum in einer Tradition mit Loewald, Fairbairn und Sullivan sieht. Analytiker einer gegenwärtigen relationalen Psychoanalyse finden ihren Bezugspunkt darin, dass sie ihr Augenmerk stärker auf den unmittelbaren oder präsentischen Austausch in der seelischen Entwicklung sowie der analytischen Behandlung richten, der die sinnlich-leibliche Ebene mit erfasst. Die analytische Behandlung wird als eine Form von Bezogensein verstanden, in der sich frühe Erlebensformen sowohl im Patienten als auch im Analytiker wieder beleben sowie verwandelt und erweitert werden können, wenn letzterer dafür durchlässig bleibt. An einem längeren Beispiel wird ein Behandlungsverlauf geschildert.

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Formen des Bezogenseins

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Thematische Einführung Mit einem Beispiel aus der Praxis möchte ich den Leser unmittelbar in basale Formen des Bezogenseins einführen: Eine früh traumatisierte, schwer belastete Patientin meinte, als sich nach einer langen Phase der Stagnation, Wiederholung, Unerreichbarkeit und sich einstellender Resignation die Beziehungsatmosphäre allmählich zu lockern schien, auf meine Frage, was sich denn für sie verändert habe: »Ich habe den Eindruck, eine Mauer fällt. Ich habe mehr ein Gegenüber, wie ein Mensch. Sie verhalten sich anders. Nicht so analytikerhaft. Sie haben gelächelt. Mir tut das gut, wenn Sie freundlicher zu mir sind. Ich habe dann das Gefühl, dass Sie mich auch mögen. Ich sehe das hier als meine letzte Chance.«

Wenn Jaenicke (2006) die Subjektivität des Analytikers als die Grundlage einer jeden Behandlung sieht, dann hatte die tiefe Verzweiflung der Patientin, die sich zumeist in Anklagen gegen ihre Umgebung äußerte, eine Erlebensebene in mir erreicht, in der ich diese Verzweiflung kannte, vor der ich mich jedoch durch emotionale Distanz zu schützen versuchte. Erst durch die Hartnäckigkeit, mit der die Patientin mich immer wieder darauf stieß, konnte ich mir im Laufe der Behandlung, in der sich wie in einer geheimen Dramaturgie eine gemeinsame Szene immer mehr zuspitzte, die Tragweite und Bedeutung meiner Verfassung allmählich zugestehen. Dieses leitete die entscheidende Wende und eine Verwandlung des Beziehungs- und Selbsterlebens der Patientin in der Behandlung ein. Wolfgang Mertens (2009, S. 133) führt zu entsprechenden Behandlungssituationen aus: »Die Pathologie eines Patienten kann andauern, nicht, weil intrapsychische Mechanismen innerhalb des Patienten wie statische, unbeeinflussbare Entitäten wirken, sondern weil pathogene Interaktionsmuster des Patienten ebensolche Antworten des Analytikers zunächst nahe legen, bis dieser die Retraumatisierung für seinen Patienten anhand seiner Reaktionen erkennt und sein Verhalten verändert.« Offenbar hatte ich mich für die Patientin zu sehr in die scheinbar sichere analytische Rolle zurückgezogen und war für sie dadurch gefühlsmäßig unerreichbar geblieben. Solche Momente der Begegnung (»now-moments«; Stern, 1998/2002) »schaffen neue Organisationen bei den interagierenden Personen und verändern die Beziehung zwischen ihnen« (Milch, 2008, S. 413). Zu mir und meiner

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Patientin fällt mir auch eine Aussage Patrick Casements ein: »Wer auf unbekanntem Terrain ein ihm vertraut scheinendes Element zur Orientierung benutzt, mag zunächst erleichtert sein, kann aber leicht in die Irre gehen« (Casement, 1989, S. 25).

Traditionelle Wurzeln und aktuelle Weiterführungen einer relationalen Psychoanalyse Die Individualpsychologie hat aufgrund ihrer traditionellen Wurzeln und theoretischen Positionen sowie in ihren Weiterführungen ihren theoretischen und praxeologischen Ort in einer relationalen Psychoanalyse. In meinem 1996 veröffentlichten Aufsatz habe ich Alfred Adler in seinen Konzepten zur Entwicklung und Behandlung bereits als Vordenker der intersubjektiven Perspektive in der Psychoanalyse dargestellt (Heisterkamp, P., 1996). Der inzwischen im analytischen Diskurs und als Tagungsthema zentrale Begriff der »Intersubjektivität« umfasst je nach theoretischem und praxeologischem Verständnis unterschiedliche Bedeutungen und Konzepte. Teilweise wird Intersubjektivität synonym für Beziehung oder Interaktion gebraucht. Stolorow, Brandchaft und Atwood (1987/1996) verstehen darunter ein Beziehungsfeld, das durch zwei unterschiedliche Subjektivitäten im gemeinsamen Dialog erschaffen wird. Jessica Benjamin (2006, S. 67) wie auch Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2004, S. 216 ff.) gehen bei ihrem Verständnis von Intersubjektivität ausdrücklich von einer Entwicklungsleistung aus. Auch Stephen A. Mitchell (2003, S. 166) betont und beschreibt anhand von Fallbeispielen die Bedeutung des affektiven Entwicklungsprozesses für die Repräsentation eines unabhängigen Anderen in der seelischen Struktur des Patienten. Im schulenübergreifenden Diskurs kommt insbesondere Mitchell eine herausragende Bedeutung als Entwickler und Vermittler eines relationalen Standpunktes zu (Aron u. Harris, 2006). Er bezieht sich auf Loewald (1986), der die »anachronistische« Sprache (Mitchell, 2003, S. 48) Freuds zwar verwandt, diese jedoch in einer visionären Weise neu definiert habe. Auch Adler können wir als in seiner Zeit ver-

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haftet sehen. Andererseits versammeln seine Konzepte eine Vielzahl schöpferischer Ideen, die heute von der relationalen Psychoanalyse wieder neu aufgegriffen werden (Heisterkamp, P., 1996; Lehmkuhl, G. u. Lehmkuhl, U., 2008; Presslich-Titscher, 2008, S. 397 ff.). Presslich-Titscher (2008, S. 395 f.) geht auf eine Falldarstellung Adlers in der Mittwochsgesellschaft ein, in der Adler bereits 1909 auf die mögliche – heute würden wir sagen: intersubjektive – Beteiligung des Analytikers am destruktiv-aggressiven Beziehungsgeschehen hinweist, zu einer Zeit, als das analytische Ideal von der Fiktion der Neutralität des Analytikers geboren und hochgehalten wurde. Wie Adler sah später auch Loewald den »Ort« bzw. »den Ursprung des Erlebens aus dem Individuum in das Beziehungsfeld« (Mitchell, 2003, S. 76) verschoben. Fairbairn rückte, statt der Suche nach Lust, das originäre Bedürfnis nach sozialer Bezogenheit (S. 86) als ein ursprüngliches Streben der menschlichen Psyche in den Mittelpunkt. Mitchell (S. 158 f.) beruft sich auf Fairbairn (1992/2007, S. 185) und Sullivan (1953/1980), wenn er »die Natur der menschlichen Psyche […] als in ihrem Kern sozial und interaktiv« ansieht. Genauso wie der Mensch nicht anders könne, als zu atmen, sei er auf soziales Bezogensein angewiesen. In seinen Ausführungen zum Zärtlichkeitsbedürfnis befasst sich Adler damit bereits 1908 (2007, S.78 f.), wenn er schreibt: »Unter den äußerlich wahrnehmbaren psychischen Phänomenen im Kindesleben macht sich das Zärtlichkeitsbedürfnis ziemlich früh bemerkbar. Man hat darunter durchaus kein umgrenztes psychisches Gebilde zu verstehen, das etwa in der psychomotorischen Gehirnsphäre lokalisiert wäre. Sondern wir nehmen darin den Abglanz von mehrfachen Regungen [Erg. 1922: des Gemeinschaftsgefühls], von offenen und unbewussten Wünschen wahr, Äußerungen von Instinkten, die sich stellenweise zu Bewusstseinsintensitäten verdichten. Abgespaltene Komponenten des Tasttriebs, des Schautriebs, des Hörtriebs [Hervorhebung P. H.; Erg. 1922: der Sexualität] liefern in eigenartiger Verschränkung die treibende Kraft [1922: das auszuwählende Material]. Das Ziel liegt in der Befriedigung dieser nach dem Objekt strebenden Regungen [Erg. 1922: befriedigenden Stellungnahme des Kindes zu seiner Umwelt].« Adler bringt hier erstmalig die leibliche Dimension des Zärtlich-

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keitsbedürfnisses – die über den Körper sich unmittelbar mitteilende sinnliche Atmosphäre in der körperlichen Berührung, im Blickkontakt, im stimmlichen Dialog – ins Spiel. Wie heute die Säuglings- und Bindungsforschung sowie die analytische Entwicklungspsychologie sah Adler auf der einen Seite in der liebevollen Beantwortung des Zärtlichkeitsbedürfnisses, in ermutigenden Beziehungsangeboten und auf der anderen Seite im Alleinbleiben des Kindes mit seiner Sehnsucht nach Resonanz, also in den frühen positiven sowie negativen Ausformungen des Bezogenseins, die entscheidenden Voraussetzungen und Prägungen für die späteren Bindungs- und Beziehungsmuster (Adler, 1908/2007). Das originäre, auf Adler (1926a/1982, 1926b/1982, 1927/1982, 1933a/1973, 1933b/1983) zurückgehende und unter anderem von Günter Heisterkamp (1990, 2007a) wieder aufgegriffene Konzept der Lebensbewegung, in der sich die vitalen Tendenzen eines Strebens zum anderen hin sowie ein primäres, unabhängiges schöpferisches Streben zeigen und dessen aktuelle Weiterführungen lassen sich in den neueren Positionen und Konzepten der relationalen Psychoanalyse wie in dem mentalisierungsbasierten Entwicklungs- und Behandlungsansatz von Fonagy et al. (2004, S. 210 ff.) – unter dem Stichwort das Selbst als Akteur – wiederfinden. Adler (1926a/1982, S. 135) sah im einzelnen Menschen einen Künstler am Werk, der aus verschiedenen Möglichkeiten so etwas wie eine seelische Komposition oder eine eigene Melodie geschaffen hat. Wenn relationale Analytiker heute von Beziehungsmustern sprechen, die jeder Mensch aufgrund seiner frühen Beziehungserfahrungen mit bedeutsamen Beziehungspersonen herausbildet, so finden wir darin Adlers Begriffe des individuellen Bewegungsgesetzes bzw. des Lebensstils (Adler 1933a/1973, S. 22 u. 56). In seinem Vorwort zur deutschen Herausgabe von Mitchells Buch »Bindung und Beziehung« (2003) weist Buchholz (S. 9) darauf hin, dass dieser »die psychoanalytische Situation als eine der gegenseitigen Beeinflussung bei gleichzeitiger Autonomiewahrung und Autonomiegewinnung«, damit also als wechselseitig, beschreibt. Mit seiner Aussage von 1918 »Niemand will Objekt sein« hat Adler ein Grundthema intersubjektiver Beziehungsprozesse beschrieben (Adler, 1918/1982, S. 28 f.; Heisterkamp, P., 1995, S. 239 ff.). Dies spiegelt auch Robert

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Antochs (2006) Auffassung vom Selbstsein im Bezogensein sowie Günter Heisterkamps (2002a u. b) Konzept der Selbst- und der MitBewegung mit dem Behandlungsziel der wechselseitigen Befreiung wider. Wie Adler (1926a/1982, S. 135 f.), der von der Einheit der Persönlichkeit ausgegangen ist, so versteht die relationale Psychoanalyse – Mitchell (S. 91) zufolge – das anfangs oft fragmentarische bzw. diffuse Erleben eines Patienten ebenfalls als ein einziges, zumeist »undifferenziertes Kraftfeld« (Loewald, 1986, S. 371 f.), auf das sich der Analytiker emotional einlassen müsse, um gemeinsam die innerseelischen Verbindungen wieder zu entdecken und wieder zu erleben, damit aus Gespenstern wieder Vorfahren werden. Dieses vielleicht etwas ungewöhnliche, meines Erachtens jedoch sehr eindrückliche Bild stammt von Loewald, der mit Gespenstern emotional hoch besetzte, jedoch in ihrer Bedeutung oft unzugänglich erscheinende, abgespaltene Beziehungsformen mit frühen bedeutsamen Bezugspersonen bezeichnet, die erst im Laufe einer analytischen Beziehung allmählich wieder lebendig, integriert und verwandelt werden können. Dem Psychoanalytiker begegnet im Patienten ein Anderer mit dem ihm eigenen psychischen Kraftfeld als Summe seiner emotionalen Bindungs- und Beziehungsstrukturen und umgekehrt. Relationale Psychoanalytiker beschäftigen sich mit – über zutreffende Deutungen und Rekonstruktionen hinausgehenden – sinnlichen bzw. atmosphärischen Aspekten der Behandlung, die in der Stimme (Leikert, 2007), im Blick (Küchenhoff, 2007), in den leiblichen Andeutungen, in Enactments, also in den Aspekten, die die unmittelbare Beziehung betreffen, ihren Ausdruck finden (Geißler u. Heisterkamp, G., 2007; Heisterkamp, G., 2006, 2007a u. b; Poettgen-Havekost, 2007; Reinert, 2007; Scharff, 2007; Streeck, 2000; Volz-Boers, 2007; Worm, 2007a u. 2007b). Das präsentische Erleben und Verstehen (Heisterkamp, G., 2002a) geht dem sprachlichen Erfassen von Bedeutungen voraus und über dieses hinaus. Dem unmittelbaren sinnlich-leiblichen Austausch (Heisterkamp, G., 1993), der leiblichen Präsenz und Ko-Präsenz (Pflichthofer, 2008) werden als Agens der Veränderung und Erweiterung seelisch blockierten Erlebens im Vergleich zum repräsentierenden Verstehen zusehends mehr Beachtung geschenkt. Bereits Loewalds

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Anliegen war es nicht nur, durch Sprache Bedeutungen zu vermitteln, sondern »seelische Zustände« hervorzubringen und diese innerlich zu verbinden (Mitchell, 2003, S. 52). Zunächst steht im Vordergrund, eine emotionale Beziehung zum Patienten zu fördern, die sich von den zumeist katastrophalen früheren Beziehungsmustern unterscheidet, auch wenn ein Patient zum Beispiel mit einer Borderlinestörung unerträgliche Beziehungsanteile, sogenannte fremde Selbstaspekte, externalisieren und der Analytiker sich dafür zur Verfügung stellen muss (Reinert, 2004; Bateman u. Fonagy, 2008). Um die hohe Erlebnisdichte zwischen Analytiker und Patient im analytischen Dialog zu kennzeichnen, spricht Mitchell (2003, S. 145), indem er sich auf Sullivan beruft, vom Transpersonalen, das beide, Analytiker und Analysand, unkontrollierbar erfasst; Günter Heisterkamp von Wirkungseinheit (2002a), vom gemeinsamen Werk, von Atmosphäre (2006, 2007b), die Analytiker und Analysand gleichermaßen erschaffen; Jessica Benjamin (2006, S. 68 ff.) vom »potenziellen Raum« eines Dritten, dem es sich hinzugeben gilt; Masud Khan (1991) vom »Möglichkeitsraum«; Thomas Ogden (2006, S. 35 ff.) vom »analytischen Dritten«. Orange, Stolorow und Atwood (2006, S. 160 ff.) verstehen die analytische Beziehung als ein Feld bzw. ein System, das Analytiker und Analysand auf dem Hintergrund ihrer eigenen Beziehungsschicksale gleichermaßen mitgestalten, wobei der Analytiker seine Mitbeteiligung fortwährend reflektiert und seine analytische Kompetenz in den Dienst des Patienten stellt. Stephen Mitchell (2003, S. 99 ff.) stellt vier Beziehungsmodi vor, die während der analytischen Behandlung einen relationalen Bezugsrahmen bieten, um die sich entwickelnde Beziehungsdynamik besser zu verstehen. Der erste Modus betrifft beobachtbares Verhalten, wofür sich zum Beispiel die Säuglingsforschung interessiert. Als einen entscheidenden Beziehungsmodus (Modus 2) in der analytischen Behandlung beschreibt er das Erfasstwerden von einem gemeinsamen Gefühlsgeschehen, bei dem zumeist nicht unterschieden werden kann, wer in welcher Weise beteiligt ist. Während das Konstrukt der Projektiven Identifizierung impliziert, dass der Patient etwas in den Analytiker projektiv »hineinlegt«, geht Mitchell (S. 60) davon aus, dass der Patient im Analytiker eine Form

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des Bezogenseins wieder belebt, bei der es um ein frühes Stadium geteilter, noch undifferenzierter intensiver Gefühlszustände (Loewald, 1986) geht, die er kinästhetische Erinnerungen nennt. Die hier interessierenden weiteren Beziehungsmodi (3 und 4) bilden einen affektiv-emotionalen Prozess ab, vom »Selbst-mit-demanderen-Sein« (Fairbairn/Modus 3) bis hin zur erlebten Intersubjektivität, das heißt der wechselseitigen Anerkennung selbstreflexiver, eigenständiger Personen (Modus 4) (Mitchell, 2003, S. 103 ff.). In meinen früheren Ausführungen zur Intersubjektivität (1996) habe ich mich damit befasst, wie sich aus dem affektiv noch undifferenzierten Zustand eines Wir – als Urform des Gemeinschaftsgefühls – über ein »Selbst-mit-dem-anderen-Sein« ein auf wechselseitiger Anerkennung beruhendes Bezogensein entwickeln kann. Wie Fonagy sieht auch Mitchell die Erlebensform von Intersubjektivität als aus den anderen Modi sich entwickelnde Form der Begegnung. Das heißt jedoch keineswegs, dass frühe Erlebens- und Beziehungsformen ein für alle Mal überwunden werden, sondern dass sie lebenslang erhalten bleiben. Analytiker unterscheiden sich von ihren Patienten nicht durch eine größere Reife in dem Sinne, dass sie frühe Erlebensformen, bei denen das Selbst- und Fremderleben noch ungetrennt ist, endgültig hinter sich gelassen hätten. Sie sind für Patienten auf der einen Seite gerade durch ihre Fähigkeit hilfreich, für die Ebene des archaischen Bezogenseins und die sich entwickelnden frühen Beziehungsgestalten durchlässig zu bleiben und sich darin verwickeln zu lassen, um dem Patienten auf diese Weise emotional zu begegnen. Andererseits sind sie bestenfalls in der Lage, zwischen den unterschiedlichen Verfassungen zu wechseln, um auf diese Weise isolierten und diffusen, unverständlich gebliebenen Gefühlszuständen des Patienten in sich sowie zwischen sich und dem Patienten einen Spielraum und eine Form zu geben (Mitchell, 2003, S. 93). Voraussetzung dafür ist, dass der Analytiker in seiner eigenen Analyse diese Erlebensebenen selbst erfahren und durchgearbeitet hat. Wenn Günter Heisterkamp (2002a) vom regredienten oder strukturellen Tiefgang der leibfundierten Behandlung im präsentischen Verstehen spricht, dann geht es genau um diese im unmittelbaren Körpererleben des Hörens, des Sehens, des Berührens und Berührtwerdens affektiv inkorporierten Erinnerungsspuren.

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Analytische Entwicklungskonzepte zu den frühen Formen des Bezogenseins Um meine bisherigen Ausführungen weiter zu veranschaulichen, möchte ich kurz auf das Präsentische in der frühen Entwicklung eingehen. Ich möchte daran erinnern, dass Adler, wie bereits erwähnt, im Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes eine Verdichtung sinnlicher Qualitäten des Tastens, Schauens und Hörens sah. Auf diesem Hintergrund ist die frühe Beziehungsmatrix – wie Mitchell sagen würde – angelegt. Wie im Konzept des »Wir« von Künkel (1929) sieht Loewald (1986) am Anfang eine einzige ganzheitliche Erlebniswelt – das Primärprozesshafte – in dem es affektiv, emotional noch keine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Selbst und Anderem gibt. »Subjektivität entwickelt sich immer (erst) [Hinzufügung durch P. H.] im Kontext von Intersubjektivität« (Mitchell, 2003, S. 99). Im Verlauf eines frühen sowohl Reifungs- als auch seelischen Entwicklungs- und Differenzierungsprozesses bedarf die spontane Geste des Säuglings und Kindes, um als solche von ihm erkannt und repräsentiert zu werden, der Anerkennung eines bedeutsam erlebten Gegenübers. Aus der anfänglich noch undifferenzierten vorgeburtlichen und nachgeburtlichen Atmosphäre entwickeln sich im Zusammenspiel von spontanen Selbstbewegungen des Säuglings als Ausdruck seines Daseins, seines Zärtlichkeitsbedürfnisses und den emotionalen Mitschwingungen der Mutter – in der annehmenden, der haltenden, der antwortenden, der ordnenden, der bestätigenden und der vorsorgenden Funktion (Heisterkamp, G., 1991, S. 31 ff.) – erste differenzierte prototypische Beziehungsmuster (Dornes, 2000, S. 37 ff.). Im sicheren Rhythmus der Wiederholung von Ausdruck und emotionaler Resonanz im gemeinsamen Blickkontakt, im stimmlichen Dialog, im Berührtund Gehaltenwerden und damit fortwährender, sich vertiefender Erfahrung kann das Kind seine schöpferischen Kräfte entfalten. Im Erleben des Kindes wird diese Form des Aufeinander-Bezogenseins emotional besetzt. Das bedeutet, dass spätere soziale Interaktionen entsprechend der aktiv gebildeten Beziehungserwartungen strukturiert werden.

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Die frühen Bedürfnisse, Impulse und Affekte des Säuglings sind zunächst noch undifferenziert und hoch spannungsgeladen. Die Mutter wird unmittelbar in die vom zum Beispiel schreienden Säugling angestoßene Beziehungsgestalt hineingezogen, die erst durch ihre Antwort und Mitwirkung wieder zur Beruhigung führt (Leikert, 2007). Diese wiederholte Verlaufsgestalt von Spannung und Entspannung durchzieht die frühen gelungenen sozialen Interaktionen. Sebastian Leikert (2007) befasst sich in seinem Aufsatz zur Stimme mit dieser frühen Ebene des sinnlich-affektiven Dialogs zwischen Mutter und Kind. Die Stimme als erste Objekterfahrung gibt dem Bezogensein bereits vor der Geburt des Kindes eine erste Form und stellt die »pränatale Wurzel des Seelenlebens« dar (S. 465), genauso wie sie nach der Geburt als spontane Geste des Säuglings dessen unmittelbare Selbstbewegung verkörpert. Mit der Berührung der Haut wird die Stimme zu einem archaischen Modus der Erfahrungsbildung (S. 472 ff.). Der Säugling ist all diesen Stimmungen in einer existenziellen ganzkörperlichen Weise ausgesetzt. Leikert (S. 468) spricht in diesem Zusammenhang von »archaischer Resonanz«, um das emotionale Ausgeliefertsein zu bezeichnen, das sinnliche Offensein und Angewiesensein des Säuglings auf einen stimmlich vermittelten Halt, den er zum Aufbau einer guten Beziehung zur Umgebung existenziell benötigt. Wie über den frühen stimmlichen Dialog so spielt auch der Blickkontakt in der Entwicklung von Subjektivität eine entscheidende Rolle – ich erinnere nur an das bereits geflügelte Wort vom »Glanz in den Augen der Mutter« – bei dem allerdings der freudige Glanz in den Augen des Säuglings beim Anblick der Bezugsperson und deren Glückserleben in den Hintergrund gerückt bzw. ausgeblendet wird. Dieses Beispiel zeigt im Grunde, dass letztlich nicht unterscheidbar ist, von wem die Freude ausgeht, und vermittelt einen Eindruck von einem mit einander geteilten Erleben eines gemeinsamen intensiven Gefühlszustandes. Im Ringen um seine Subjektivität ist das Kind auf die Anerkennung eines bedeutsamen Anderen angewiesen, der es in seiner Eigenheit erkennt und wertschätzt, so dass es schließlich zu einer differenzierten Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung des anderen kommen kann. Diese differenzierten emotionalen Aneignungs- bzw. Mentalisierungs-

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prozesse, ihr Gelingen und ihr Scheitern, haben viele Autoren beschrieben (Beebe u. Lachmann, 2004, 2006, S.122 ff..; Dornes, 1997, 2000; Fonagy et al., 2004; Stern, 1992). Intersubjektivität ist – wenn der Begriff nicht nur synonym für Interaktion oder Beziehung steht – daher nicht angeboren (s. dazu kontroverse Auffassungen: Dornes, 2002, S. 303 ff., sowie Diskussion von Fonagy et. al., 2004, Kap. 4 u. 5), sondern muss sich in einem affektiven Kommunikationsprozess entwickeln, um zu einer wechselseitigen Anerkennung der je eigenen Subjektivität zu kommen (ebd.; Mitchell, 2003, S. 166). Anstoß dafür, das Augenmerk stärker auf die unmittelbare Beziehung und ihr Potenzial für korrektive Beziehungserfahrungen bzw. für den Aufbau neuer innerer Beziehungsstrukturen zu richten, ist sicherlich, dass wir als Analytiker häufig Patienten mit unerträglichen, früh chronifizierten Beziehungserfahrungen in unserer Praxis sehen, die bei diesen zu einer eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeit und damit zu einer emotionalen Unfähigkeit zur Wechselseitigkeit bzw. Intersubjektivität geführt haben (Bateman u. Fonagy, 2008). Das sind Patienten, denen es unmöglich ist, – eine Kontinuität im Erleben wahrzunehmen, – die emotionale Bedeutung in ihren eigenen und den Handlungen anderer zu erkennen sowie zwischen beiden zu differenzieren (Einfühlungsstörung), – zwischen dem äußeren Anschein und inneren Zusammenhängen sicher zu unterscheiden und zu erkennen, dass diese nicht unbedingt übereinstimmen (Fonagy et al., 2004). Das Zentrum der »theory of mind« bildet das Konzept der emotionalen Markierung der spontanen Gesten – der Subjektivität – des Kindes durch die Mutter. Um zwischen äußerer Realität und innerem Erleben sicher zu unterscheiden, bedarf es der mütterlichen Unterstützung. Psychisch gesunde Mütter verhalten sich in der Regel intuitiv entsprechend der von Fonagy entwickelten Markierungshypothese. Auch Adler (1929/1981, S. 49) hat herausgestellt, wie zentral »die psychische Gesundheit der Mutter«, »ihre Mentalität« und »die Breite ihrer Lebensauffassung« für die früheste Lebensperiode des Kindes sind.

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Bei der markierten Affektspiegelung bekommt das Baby durch die Mutter den eigenen Affekt in einer markierten Weise, also insbesondere durch Stimme, Mimik und Blickkontakt so gespiegelt, dass es seinen in dieser Weise markierten Affekt bzw. seine Emotion als zu sich und nicht zur Mutter gehörend erkennen und symbolisieren kann. Die markierte emotionale Spiegelung drückt sich qualitativ in der zwischen Säugling und Mutter zum Tragen kommenden Beziehungsatmosphäre in der Stimme, dem Blick, der Mimik, der Gestik, der Haltung etc. der Mutter aus, wobei die atmosphärische Gesamtqualität eine Folge ihrer zutreffenden Interpretation der Gesten des Säuglings ist. Bei der fehlenden Markierung werden die Mütter von eigenen Affekten, die dem Affekt des Säuglings entsprechen, überflutet, was sich wiederum leibhaftig stimmlich und mimisch vermittelt. Aufgrund dessen kann der Säugling seinen Affekt nicht als von dem der Mutter abgekoppelt wahrnehmen und sich selbst zuschreiben. Die Folgen sind laut Fonagy eine defiziente Selbstwahrnehmung und affektive Selbstkontrolle. Wenn die Mutter in einer inkongruenten, kategorialen Weise markiert – zum Beispiel wenn sie eine überkontrollierende Haltung gegenüber dem Baby einnimmt oder wenn sie dessen Affekt in (falscher) verzerrter Weise wahrnimmt und wiedergibt, zum Beispiel seine ungebremste Zärtlichkeit oder das Schreien des Säuglings (wie Adler (1908/2007, S. 71 f.), der den ersten Schrei des Kindes bereits als feindselig bezeichnete), als Aggression erlebt und beantwortet – folgt daraus eine verzerrte Wahrnehmung des Selbstzustandes durch den Säugling, die nicht seiner spontanen Emotion entspricht. Die Autoren sehen in diesem Typ devianter Spiegelung eine Verbindung zum Winnicott’schen Modell des falschen Selbst, das sowohl Anpassung an die Bezugsperson wie auch Schutz des spontanen Selbst bedeutet. Das gesamte Spiegelungskonzept von Fonagy et al. weist Ähnlichkeiten zu Winnicotts Konzept der Objektverwendung auf, in dem er die Folgen einer gelungenen und misslungenen Objektverwendung bzw. -zerstörung für die Subjektwerdung beschreibt (Winnicott, 1985, S. 101 ff.).

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Die Atmosphäre des Bezogenseins in der analytischen Behandlung Die Aufnahme einer Psychotherapie lässt sich als Suche nach einem Gegenüber verstehen mit dem Anliegen, in seiner Subjektivität wahrgenommen zu werden. Eine meiner Patientinnen formulierte es anfangs so, dass sie während ihres bisherigen Lebens fortwährend das Gefühl gehabt habe, nicht zum »Eigentlichen« zu kommen. Was passiert, wenn der anfängliche Dialog im Wechselspiel mit den früheren Beziehungspartnern durch fehlenden Halt, durch Grenzen verletzende Übergriffe behindert und blockiert wurde? Wenn die frühen Bindungserfahrungen mit einem mütterlichen Objekt nachhaltig gestört wurden – durch die alarmierende Stimme, den flackernd kontrollierenden Blick, den unsicher klammernden Griff der ängstlichen Bezugsperson – oder durch die schneidende, verächtliche Stimme, den strengen, vernichtenden Blick, den schmerzhaft zupackenden Griff einer unzufriedenen, wütenden Elternfigur – bzw. durch die monotone bis gänzlich verstummende Stimme, den vermeidenden, teilnahmslosen, sich abwendenden, leeren Blick, den schlaffen oder vermiedenen Körperkontakt einer depressiven Bezugsperson? Die Verarbeitung dieser Beziehungserfahrungen, die einen Angriff auf die Subjektivität des Kindes darstellen, drücken sich später darin aus, dass Patienten den Blick nicht nach innen richten und bei sich verweilen können, dass sie nicht assoziieren sowie über sich selbst reflektieren können. Statt sich selbst zu fühlen, erleben und agieren sie fremde Selbstanteile. Nun spüren sie in sich den gnadenlos vernichtenden Blick, die ständig tadelnde, fordernde, ansprüchliche Stimme oder suchen im Wiederholungszwang den verführerisch bedrohlichen, einerseits sehnsüchtig erwarteten und andererseits gefürchteten Kontakt. Das Fatale und Schwierige in der analytischen Behandlung besteht darin, dass auch diese frühen, chronisch belastenden Beziehungserfahrungen mit bedeutsamen Bezugspersonen zu einer ebenso starken emotionalen inneren Besetzung und entsprechenden Selbststrukturen

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geführt haben wie die beruhigenden, entspannenden Erfahrungen mit sicheren Bindungsfiguren und somit oft für diese Patienten den einzigen Halt bedeuten. Frühe Erlebensformen zeigen sich in der analytischen Behandlung, wenn beide, Analytiker und Patient, in intensive diffuse, oft unerträgliche Gefühlszustände hineingeraten, die sich dann in ihrer Gesamtqualität als Atmosphäre oder Stimmung ausdrücken und ihren Niederschlag im unmittelbaren Körpererleben finden (z. B. Desinteresse, Resignation, Leere, Gereiztheit, Verzweiflung, Abflachen der Atmung, Anspannung, Missempfindungen, Schmerzen, Müdigkeit). Hier werden, wie in allen seelischen Behinderungen, die Monotonie, die erstarrte oder die sich auflösende Bewegung, die verhinderte Schwingung, der unterbrochene Rhythmus zwischen Spannung und Entspannung deutlich. Im herkömmlichen analytischen Setting geht es um ein Zuhören, ein Hinhören. Da erst die Stimme den Worten erlebnismäßige Bedeutung verleiht, lauschen wir als Analytiker der Stimme des Patienten und beachten deren Wirkung auf uns. Darüber hinaus scheint es mir wichtig, auch dem Ton oder Klang der eigenen Stimme zuzuhören, um die atmosphärisch gemeinsam gestaltete Form des Bezogenseins – als Ausdruck eines früheren unverständlich gebliebenen, abgespaltenen und zwanghaft wiederholten Beziehungsmusters – zu entdecken und zu verwandeln. Wir erleben unmittelbar, ob die Stimme – unsere eigene oder die des Patienten – moduliert, fließend, expressiv und lebendig schwingt oder monoton, stockend und verhalten tönt. Die Stimme zeigt oft als erstes ein inneres Berührtsein an. Die Stimme eines Gegenübers kann uns kalt lassen, unangenehm oder angenehm berühren. Eine Stimme kann fest und bestimmt, schneidend oder warm, sanft bzw. verführerisch klingen. Bereits im telefonischen Erstkontakt vermittelt die Stimme einen ersten Eindruck, ruft innere Bilder, Stimmungen, positiv oder negativ getönte Gefühle bzw. affektive Gestimmtheiten des Angezogen- oder Abgestoßenseins sowie entsprechende personcharakteristische Antworttendenzen hervor. Bedeutsame unbewusste emotionale Beziehungskonstellationen deuten sich über die Stimme an. Besonders hellhörig werde ich, wenn

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mir selbst auffällt, wie unterschiedlich meine Stimme bei dem einen oder anderen Patienten in unterschiedlichen Phasen des analytischen Prozesses sowie bei unterschiedlichen Beziehungsthemen klingt und sich vielleicht zunächst nur in dem wechselnden Tonfall eine Veränderung im analytischen Prozess andeutet. Ich möchte meine bisherigen Ausführungen an dem folgenden Fallbeispiel erläutern.

Erläuterndes Fallbeispiel Zur frühen Beziehungsgeschichte der Patientin Alarmstimmung: Bei einer meiner Patientinnen mit Angst- und Panikattacken waren die frühen Beziehungserfahrungen mit ihrer Mutter dadurch bestimmt, dass die Patientin, sobald sie als Kind eine schmerzliche Erfahrung erlebte und sich an ihre Mutter wandte, diese in »Alarmstimmung« geriet, für die sich die Patientin verantwortlich fühlte. Die mütterliche Alarmstimmung schien die Patientin jedes Mal zu überwältigen und ihren eigenen körperlichen und seelischen Schmerz zu überlagern und in den Hintergrund zu drängen. Die Mutter machte ihr Vorwürfe und statt sie, das kleine Mädchen, im konkreten wie im übertragenen Sinne durch ihren Blick und ihre Stimme zu halten und zu trösten, kam es vor, dass ihr, der Mutter, vor Aufregung schwindelig wurde und sich andere um die Mutter kümmern mussten. In der Folge fühlte die Patientin sich oft angesichts ihrer spontanen Bedürfnisse und Wünsche überwältigt und geängstigt (Modus 2). Sie hatte den Eindruck, dass eine panikartige Angst in sie eindrang und sie gefangen hielt. Den als fremd erlebten Selbstanteil, die Identifikation mit den eindringenden, von ihr Besitz ergreifenden mütterlichen Gefühlen veranschaulicht ihr Initialtraum, von dem sie lediglich erinnern konnte, dass sie an Brustkrebs erkrankt sei. Der als fremd erlebte externalisierte Selbstanteil nahm von ihr Besitz wie ein zerstörerischer Krebs und bedrohte ihre Subjektivität. Gleichzeitig rückte der Traum ins Bild, wie sie die der Mutter geltende Aggression gegen sich richtete.

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Kalter Blick: Die Patientin beklagte sich bitter, dass ihre Mutter sie selbst nicht wahrzunehmen schien und ihr selbst gegenüber so gar nichts Anerkennenswertes äußern konnte; ihr stattdessen, seit sie sich erinnern konnte, von den Vorzügen anderer Mädchen bzw. Frauen vorschwärmte. Hinter ihrem Rücken – so die Patientin – konnte die Mutter dann mit den Fähigkeiten ihrer Tochter prahlen und sich selbst damit schmücken. Der Glanz in den Augen der Mutter schien ihr verwehrt, stattdessen richtete sie in einer frühen Identifikation mit ihrer Mutter einen unerbittlich strengen, »gnadenlosen Blick« auf sich, dem sie nicht standhielt (und sich ohnmächtig und wertlos, beschämt und schuldig fühlte), der aber ihr frühes Bezogensein zu ihrer Mutter ausmachte, indem sie darin ihren einzigen Halt erlebte (Modus 3). (Die Bedeutung des Vaters habe ich hier der Komplexität wegen und der zunächst im Vordergrund stehenden Beziehung zur Mutter ausgeklammert.) »Ich bin nie zu ihr durchgedrungen. Entweder war da Aufgeregtheit oder ein moralischer Zeigefinger«, so die Patientin einmal. Verformungen des Selbst: Scham, Schuld, Angst, Ohnmacht, Minderwertigkeitsgefühle: Sie hatte sich bereits früh mehr und mehr in sich zurückgezogen. Nach außen hin entwickelte sie ein angepasstes Selbst. Ihre spontanen Gefühle – ihre Subjektivität – hielt sie vor sich selbst verborgen, da sie diese aufgrund ihrer Identifikation mit der frühen Mutter äußerst scham- und schuldbesetzt erlebte. Aufgrund ihrer frühen Verlorenheit fühlte sie sich von einer existenziellen Angst vor ständiger Auflösung und Selbstverlust bedroht: »Da tut sich ein Loch auf.« Zumeist ging sie innerlich ganz auf Distanz: »Ich bin so emotionslos.« Ihrer Angst begegnete sie mit Selbstvorwürfen und rigiden Kontrollbemühungen (Modus 3), die sie nur kurzfristig beruhigten. Dann setzte die Angst zu scheitern, sich nicht in den Griff zu kriegen, umso heftiger ein. Sie befand sich in einer Art innerer Dauerspannung und erlebte sich unter ständigem Druck. Sie entwickelte eine Vielzahl von körperlichen Symptomen (u. a. Schwindel, häufige Spannungskopfschmerzen und Infekte). Mir fielen ihre wenig ausgeprägte Selbstfürsorglichkeit, ihre hohen Ansprüche an sich selbst – sie litt unter ihrer Überforderung, ihrer Rastlosigkeit – und im Vergleich dazu ihre geringe Wertschätzung für sich selbst auf.

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Erstkontakt: Unmittelbare Wiederbelebung früher Formen des Bezogenseins Nach dieser Einführung für Sie als Leser möchte ich in einer Art Filmschnitt den Anfang mit der Patientin schildern, bei dem Sie miterleben können, wie sich zwischen uns unmittelbar eine frühe Form des Erlebens gestaltete. Im telefonischen Erstkontakt klingt die Patientin äußerst dringlich. Sie gestaltet unsere Beziehung gleich als ein »Wir«, indem sie auf mein Angebot eines Erstgesprächs meint: »Das machen wir jetzt!« Sie hat bereits einen Konsiliartermin vereinbart, ohne meine Antwort abzuwarten. Die Kontaktaufnahme gestaltet sich nach dem frühen Beziehungsmuster, einer Verschränkung von Alarmstimmung, Kontrolle und Vereinnahmung (Modi 2 und 3), mit der die Patientin mich unmittelbar erreicht und die ich als unangenehm empfinde. Gleichzeitig vermitteln sich mir ein großer Leidensdruck und ihre Sehnsucht nach einem Gegenüber, das ihr zuhört, sich in sie einfühlt und sie versteht. Wie ein Schwall bricht anfangs ein nur durch ein ticartig anmutendes Räuspern unterbrochener Redefluss über mich herein. Ich komme inhaltlich kaum mit und beschließe, mich mehr den atmosphärischen Anmutungen zu überlassen. Beim Begrüßen und Verabschieden fällt mir eine aufgesetzt wirkende fröhliche, formelle Munterkeit auf. Ihr Lächeln wirkt dabei wie angeknipst. Ich merke, wie auch ich innerlich verhalten bleibe. Die Patientin bewegt mich schließlich, mich mit ihr auf eine analytische Behandlung einzulassen, indem sie mich unmittelbar teilhaben lässt, wie sehr sie unter ihrer »Fassade« leidet. Sie erlebt sich selbst »wie in einem gläsernen Käfig«. Ich spüre ihre potenzielle Vitalität, als sie einmal voller Inbrunst meint: »Ich kann das schaffen und daran arbeiten« und von ihrer »Lust auf das pralle Leben« spricht, die sie nach beendeter Therapie wiederzuerlangen hofft.

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Therapieverlauf Vor jeder Sitzung kündigt sich mir die Patientin durch ein mehrmaliges Räuspern im Flur an, so, als wolle sie auf diese, noch wie erstickt oder stecken gebliebene Weise sagen: »Ich bin da!« Gleichzeitig kommt es mir jedes Mal vor, als müsse sie sich auf die Stunde vorbereiten und einen festsitzenden Fremdkörper ausstoßen. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit im medizinischen Bereich funktionalisiert sie die Couch anfangs als Behandlungs- bzw. Entspannungsliege und äußert von sich aus den Wunsch, während der Behandlung wegen ihrer »Anspannung vor etwas Neuem« zu liegen. Kompromisslösung im Blickkontakt – Sehnsucht und Schutz: Im Liegen wendet sie den Kopf ein wenig schräg nach links oben in meine Richtung, so dass ich den Eindruck habe, als ob sie einerseits den Blickkontakt zu mir sucht und andererseits nicht wagt, sozusagen auf halbem Weg stecken bleibt, vielleicht auch, so mein weiterer Einfall, um mich im Auge zu behalten. Auf ihre Kopfwendung angesprochen, antwortet die Patientin so, dass ich erahne, wie sie unsere Beziehung erlebt: Ihr angespannter Kopf könne so besser liegen. In einer fortgeschrittenen Phase der Therapie bezieht sie ihr erweitertes Selbstund Beziehungserleben mit ein, wenn sie betont: Im Liegen werde sie nicht die ganze Zeit angeguckt. »Ich kann den Blick so schweifen lassen. Ich muss mich visuell nicht auf den anderen konzentrieren, um wie bei meiner Mutter die ganze Ladung abzukriegen.« Ankommen und erleichternd erlebte Teilhabe eines Anderen (der Analytikerin): Über eine lange Zeit vermittelt die Patientin mir durch pausenloses Sprechen ihre inneren Spannungszustände. Gleichzeitig zieht sie mich dadurch in ihren Bann und hält offenbar auftauchende, sie ängstigende Gefühle unter Kontrolle. Meistens beginnt sie die Stunden mit dem Anliegen, Erleichterung zu finden: »Wie gut, dass ich heute hierherkommen kann.« Oder: »Hier kann ich das ja sagen.« Sie legt beide Hände an die Schläfen. Als ich sie darauf anspreche, meint sie: »Ich mache das, damit ich mich spüre. Ich bin so verloren in meinem Körper.« Ich habe in mir das Bild eines verlassenen Babys, das an seinem Daumen nuckelt und sich dabei streichelt. In den fol-

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genden Stunden kommt die Patientin häufig ein Bonbon lutschend zur Sitzung. Leerlauf und Rückzug: Nach und nach verstärkt sich mein Eindruck, als ob die Patientin sich und mich mit ihren Produktionen ständig in Bewegung hält. Sie wirkt angestrengt bemüht und ich fühle mich allmählich unbehaglich, irgendwie benommen und betäubt in den Stunden. Wie in einer Art gemeinsamer Abwehr und Wiederholung entwickelt sich offenbar zwischen uns ein früheres Beziehungsmuster, an dem wir beide gemeinsam unseren Anteil haben, die Patientin, indem sie sich angepasst freundlich, fleißig im Sinne einer guten Patientin (Tochter) bemüht und ich, indem ich, so als wolle ich mich und die Patientin aus einer Art Leblosigkeit aufrütteln, vom Stimmfall konfrontierender, strenger und fordernder werde (Schutz vor Leere und Schmerz durch Identifikation mit strengen mütterlichen Beziehungsaspekten). Diese sich zwischen uns entwickelnde Szene scheint der gemeinsamen Abwehr zu dienen. Indem ich mir meiner Stimme und der sich zwischen uns ausbreitenden Stimmung bewusst werde, verstehe ich unsere Verwicklung als eine frühe Form des Bezogenseins, die sowohl in der Patientin als auch in mir wieder belebt wurde. Auch ich hatte früher zumeist vergeblich um die Anerkennung und Liebe meiner Mutter geworben, die für mich aufgrund ihres eigenen Lebensschicksals hinter einer erkalteten, strengen Fassade lange Zeit unerreichbar blieb. Erst später habe ich verstanden, wie sie sich mit ihrer Einfühlungsstörung selbst vor eigenem Schmerz und eigener Angst zu schützen versuchte. Es ist sozusagen unser gemeinsames Werk, an dem die Patientin und ich mitgewirkt haben: im Miteinanderteilen von depressiver Leere (Modus 2) und in unterschiedlichen Versuchen, sich davor zu schützen (Modus 3). Auflösung vertrauter pathogener Beziehungsmuster – Angst vor dem Absturz in eine Leere: Im Laufe des ersten Jahres kommt die Patientin dann erstmals an eine Stelle, als ihr nichts mehr einfällt und mir auffällt, dass sie diese kurze Lücke ganz schnell wieder mit irgendwelchen Geschichten füllt, die auf mich wie Fremdkörper wirken und mich völlig unberührt lassen (vgl. die leiblichen Andeutungen der Patientin im Räuspern). Ich lasse sie an meiner Beobachtung teilhaben

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und betone, dass ich ebenfalls im Schweigen bei ihr bleibe und sie auch da durch begleite. Auch in unserer Beziehung taucht die entscheidende Stelle nun verdichtet auf, an der ihre originären Selbstbewegungen bisher durch ein fremdes Selbsterleben ersetzt und geschützt werden mussten. Als eine Art Wendepunkt erlebt sie, anstatt aufgesetzter Munterkeit, nun eine Lücke, eine Leere. Einmal sagt sie: »Ich kämpfe darum, dass ich einatme und ausatme.« Die gefühlte Leere muss sie zunächst aus Angst vor einem erneuten traumatischen Haltverlust schnell wieder mit hektischer Betriebsamkeit füllen. Auch ihre körperlichen Symptome wie Bauch- und Rückenschmerzen sowie Infekte (Stirnhöhlen-, Blasen- und Mundentzündungen) häufen sich. Die Patientin äußert zwischenzeitlich große Angst, sich im Spiegel nicht zu erkennen, so, wie sie sich früher im mütterlichen Blick nicht erkennen konnte: »Ich fühle mich ganz furchtbar allein, so wie kurz vor der Panik.« Ich verstehe ihre Angst als Ausdruck ihres Kernproblems einer ausbleibenden oder unpassenden mütterlichen Antwort. Ich fühle mich darin ein, was sie ängstigt. Ich frage nach und ermutige sie, ihre Gefühle, Phantasien und Erwartungen auszudrücken (Arbeit im Modus 3). Dabei suche ich mit ihr nach Alternativen zu ihren negativen Vorstellungen. Ich schätze sehr, wie die Patientin sich einlässt und sage ihr, dass ich sie für mutig halte und sie auf einem guten Weg wähne. Was ich hier als Episode beschreibe, zieht sich über einen längeren Zeitraum mit rhythmischen Phasen von sich zuspitzender Spannung, Verzweiflung und allmählicher Entspannung, Hoffnung und zunehmender Selbstgewissheit hin. Während dieser Zeit ergreift mich die sich zwischen uns entwickelnde Beziehungsdynamik so, dass sich in einer Sitzung die tief greifende Not der Patientin bei mir in einer heftigen körperlichen Reaktion ankündigt und ich einen anhaltenden ziehenden Schmerz in der Herzgegend spüre (Modus 2) und ich mich – wie des Öfteren die Patientin selbst – ganz auf meinen Atemrhythmus zentriere, um mich selbst zu halten. Einmal, gegen Ende einer Sitzung, meint sie, und es klingt wie erleichtert: »Das ist schön, dass ich das klargekriegt habe. Ich war so eingemauert.« Sie fühle sich wie nach einer durchlittenen Krankheit. Wenn ich meinem Herzschmerz nachspüre, stimme ich ihr innerlich zu.

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Allmählicher Entwurf eines hilfreichen getrennten Gegenübers – Begegnung: Auch in der folgenden Zeit vertraut sich die Patientin mir in einem Zustand »völliger Orientierungslosigkeit wie in einem Panikanfall« an: »Ich habe nicht mehr gewusst, wo oben, wo unten, wo rechts und wo links ist« (vgl. Winnicotts Konzept vom »Erleben des unaufhörlichen Fallens«). Die sie überbordende Angst ihrer Mutter fasst sie in die Bilder eines »Erkennungschips«, der ihr eingepflanzt wurde, »einer Spritze, einer Injektion«. Einmal meint sie: »Ich rutsch da so rein.« Ich bleibe in ihrem Bild des Hineinrutschens, indem ich ihr als Ausdruck meiner Präsenz eine dazu passende Metapher eines ihr von mir zugeworfenen Seils anbiete (Arbeit im Modus 3). Wie der Mutter, der sie sich nicht zumuten konnte, äußert sie die Sorge, und wenn mir nun etwas passiere. Ich: »Soweit es in meiner Macht liegt, werde ich für sie da sein!« Das erste Mal schaut mich die Patientin bei unserer Verabschiedung ernsthaft an, ohne ihr künstlich wirkendes Lächeln oder ihren aufgesetzt anmutenden, munter klingenden Tonfall in ihrer Stimme. Ich erlebe ihren Blick als wirkliche Begegnung (Modus 4). Anvertrauen der verletzlichen Keimformen des Selbst (Haut-Ich, Anzieu, 1992): Nach einer Pause weckt sie in mir Bilder von einem rohen Ei, einem Fötus, wenn sie mir ihr noch unsicheres »wie ätherisches« Selbstgefühl, »ohne jede Bodenhaftung« wie noch »fremd im eigenen Körper« anvertraut. Als Ausdruck ihrer noch unsicheren Körpergrenzen und wie in einer schmerzlichen Reinszenierung – die Patientin hatte sich als Kind bei Unfällen oft schmerzhafte Verletzungen zugezogen – zieht sie sich eine Wunde am Kopf zu, die anschließend genäht werden muss. Als sie danach zu mir kommt, bittet sie mich um eine Decke, in die sie sich einkuschelt, so als erschaffe sie sich eine zweite Haut (Anzieu, 1992). In der Folgezeit fühlt sie sich klarer: »Ich gehe entkrampft hier weg.« Sie liegt das erste Mal für eine längere Zeit schweigend und wirkt ruhig und entspannt. Neu-Konturierung und Verlebendigung des Selbst – Entdeckung und Belebung des innerseelischen Raums sowie des Beziehungsraumes: »Gestern hatte ich ein Gefühl wie ein Schmetterling.« »Ich muss die Angst nicht ganz allein tragen. Das war für mich so spürbar.«

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Inzwischen kommt die Patientin des Öfteren in die Sitzung und erzählt mir begeistert von ihren Erfolgen (Modus 3): »Ich erzähle noch etwas, das ist so toll!« »Ich konnte der in die Augen sehen.« Ihre ansteckende Freude über ihre gelungene Selbstfindung und Selbstbehauptung gipfelt dann fast in einem Jubelruf: »Ich war eins.« »Ich hab ein gutes Bauchgefühl, als ob ich mich durch so’n Monolithen durchgearbeitet habe.« Die von der Patientin verwendete Metapher eines Monolithen stellt eine Verdichtung ihres Selbst- und Beziehungserlebens dar. Zum einen veranschaulicht sich daran der Blick, der nicht zum anderen durchdringt, die Stimme, die wie an einer Felswand abprallt und nur als Echo widerhallt, ohne die Resonanz eines Gegenübers zu finden sowie die Berührung, die harte und kalte Leblosigkeit ausstrahlt. Über den Beziehungsraum hinaus geht es auch um den innerseelischen Raum der Patientin, der ihr weitgehend verschlossen war und der in der analytischen Beziehung erst wieder gemeinsam neu entdeckt bzw. erschaffen und mit Leben gefüllt werden musste. Die eigene Selbstwahrnehmung der Patientin schien gnadenlos unerbittlich, ihre eigene innere Stimme glich in ihrem zwanghaften Grübeln einer Echolalie, statt eines Selbstdialogs. Sie fühlte sich in ihrer monolithischen Erstarrtheit innerlich wie erkaltet und behandelte sich in ihrem Perfektionismus hart und lieblos, statt wertschätzend und selbstfürsorglich. Demgegenüber steht nun als ein erweitertes inneres Bild das des Schmetterlings. Unsere Form des Bezogenseins hat sich inzwischen – so würde ich es nennen – um eine Dimension erweitert, nämlich um die Teilhabe an freudigen Erfahrungen, etwas, das die Patientin mit ihrer Mutter schmerzlich vermisste, jedoch in einer stillen Version mit ihrem Vater erleben konnte. Es handelt sich dabei – wie Mitchell es nennt – um eine Konfiguration des Selbst-mit-dem-anderen-Seins (Modus 3). Entwicklung fürsorglicher Selbstmuster: Sie selbst traut sich in zwischenmenschlichen Kontakten mehr zu, sich emotional mitzuteilen. Als sie sich einmal wieder wegen ihrer großen Empfindlichkeit kritisiert – sie wolle die darin erlebte frühere Verlorenheit und anklingende Aufgeregtheit ihrer Mutter nicht wieder erleben – , sage ich in etwa Folgendes: Ob sie sich vorstellen könne, statt dass sie ebenfalls zu

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sich auf Distanz gehe (wie damals ihre Mutter), dass sie jetzt bei sich und ihrer Empfindlichkeit bleiben könne. Ohne dass mir das selber in diesem Moment bewusst gewesen ist, mag meine Stimme besonders behutsam und sanft geklungen haben, so als ob ich quasi stimmlich eine verletzte Stelle zu versorgen gehabt hätte (Arbeit im Modus 3). Jedenfalls meint die Patientin glücklich erleichtert: »Ich finde das toll, mit welcher Tonlage Sie das sagen. (Sie wiederholt die Aussage nun in meinem Tonfall.) Sie sind da empfindlich! Sie sagen das nicht wie meine Mutter (und – so würde ich ergänzen – wie sie selbst) (Patientin in empörter Tonlage): Sei nicht so empfindlich!« In Anspielung auf die Couch und den nicht vorhandenen Blickkontakt sagt sie: »Ich höre Sie ja und das nehme ich jetzt mit! Es war anfangs schwer für mich, die Kontrolle abzugeben. Jetzt fühle ich mich getragen durch Ihre Stimme.« In dieser Reinszenierung eines Bezogenseins zu einem unsicheren mütterlichen Objekt konnte die Patientin den Spielraum einer korrektiven emotionalen Erfahrung ausloten, in der es vorwiegend um das geteilte Erleben intensiver Gefühlszustände über durchlässige Grenzen hinweg ging. Als Analytikerin ließ ich mich in das gemeinsame Erlebnisfeld einbeziehen, hielt die auftauchenden Gefühlszustände mit ihr aus und durchlebte sie sozusagen mit ihr in einer Weise, die ihr einen ausreichenden, quasi mütterlichen Halt bot. Ich spürte in mir die ganze Zeit über die Zuversicht, dass wir auf einem guten Weg waren. Rekonstruktive Zusammenhänge konnte ich mit ihr oft erst danach herstellen.

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Rainer Lemm-Hackenberg

Robinson Crusoe, Alfred Adler und die Macht der Metaphern

Robinson Crusoe, Alfred Adler and the power of metaphors The metaphoric interpretation of »Robinson’s story« serves as a starting point to outline similarities with Alfred Adler’s metaphor of »space and motion«. With reference to metaphor theory within cognitive linguistics, the basically creative and (potentially) subversive meaning of the metaphoric can be proved by case vignettes as far as perceiving ›the psyche‹ as well as coping with counselling and therapeutic processes is concerned.

Zusammenfassung Ausgehend von einem metaphorischen Verständnis der Robinson-Geschichte werden Parallelen zur Raum- und Bewegungsmetaphorik Alfred Adlers herausgearbeitet. Auf dem Hintergrund der Metapherntheorie der kongnitiven Linguistik wird die grundlegende kreative und subversive Bedeutung der Metaphorik für die Erfassung des Seelischen und die Handhabung beraterischer und therapeutischer Prozesse anhand von Vignetten aus der Praxis dargestellt.

Daniel Defoes »Robinson Crusoe« – nicht nur eine Inselgeschichte Ich möchte Sie als Leser mitnehmen – auf eine Reise. Ich möchte mit Ihnen das Gebiet der Metaphern, der Sprachbilder, erkunden. Wir werden Robinson Crusoe und Alfred Adler besuchen, aber auch die Autoren Lakoff und Johnson, die 1980 ein völlig neues Konzept vorgelegt und damit das Verständnis der Metapher neu definiert haben. Wir beginnen in der Zeit des Daniel Defoe. Wir machen dann einen

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Zeitsprung in die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts, begeben uns anschließend in die aktuelle Metapherndiskussion. Auf einer Tagung, die ich jüngst besuchte, fragte eine Kollegin nach einem Vortrag: »Und was mache ich am Montag in meiner Praxis damit?« Wir enden also bei unserem beruflichen Alltag: Was gehen uns Metaphern an? Wie gehen wir mit ihnen um? Was nützen sie uns in unserer beraterischen und therapeutischen Arbeit? Doch bevor die Reise losgeht, muss ich mit Ihnen einen Abstecher, einen Exkurs, machen. Als ich auf die Idee kam, diesem Beitrag die Reisemetapher zu hinterlegen, kamen mir metaphorische Assoziationen: Reise ins Metaphernland, Reise in die weite Welt der Metaphern! Ein alter Buchtitel fiel mir ein: »Das weite Land der Individualpsychologie« (Kehrer, Scheer und Bogyi, 1983). Ich habe diese Ideen schnell beiseite gelegt, ich fand diese Metaphern unangemessen und überzogen. Sie kennen solche Metaphern aus anderen Bereichen: Ein Kaufhaus nennt sich »Kaufland«, das Sonnenstudio wird zum »Sonnenland«. Das Museum einer bekannten Automarke wird zur »BMWWelt«, das Möbelhaus zu, im Plural, »Wohnwelten«. Werbung und Marketing versuchen uns mit diesen dick aufgetragenen Metaphern zu ködern. Schauen wir weiter: So lesen und hören wir in den letzten Monaten immer wieder, die Aktienblase sei geplatzt, die Wirtschaft im freien Fall. Sind das angemessene Metaphern, die eine dramatische Entwicklung sinnfällig zum Ausdruck bringen? Oder sind sie überzogen und damit selbst wieder beunruhigend? Metaphern wurden oft kritisch gesehen. In Philosophie, Rhetorik und Literatur gab es immer wieder Bedenken (Kurz, 2004; SchmitzEmans, 2009). Es hieß: Metaphern sind schmückende Girlanden, überflüssige Verzierungen! Besser klare Begriffe und Erklärungen als blumige Metaphern! Paradoxerweise argumentierten die Kritiker metaphorisch, Metaphern verdunkelten den Verstand. Nehmen wir die Naturwissenschaften: Können wenigstens die auf Metaphern verzichten? Nein, hier gibt es die »Kernspaltung«, die uns an ein Stück Holz denken lässt, das wir mühsam mit der Axt zu spalten versuchen, hier gibt es Sonnenwinde, die nicht eigentlich Winde sind.

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Und was wäre unsere Sprache, hätten wir die Metaphern nicht? Wie wollten wir die Teile des Tisches nennen, auf denen sich die Tischplatte abstützt, hätten wir nicht die Metapher des Tischbeins? Andere Sprachen, andere Metaphern: Tischbeine heißen dort »Tischfüße« oder »Tischpfoten«. »Begriffe« und »begreifen« gäbe es nicht, auch nicht die »Vor-Stellung«. Uns ist der metaphorische Charakter dieser sogenannten lexikalisierten Metaphern meist nicht mehr bewusst, wir gehen wie selbstverständlich damit um. Die Position »Pro Metapher« lautet: Metaphern sind notwendig, sie bereichern unser Denken und unsere Sprache um immer wieder neue Varianten. Auch in den Wissenschaften erfahren Metaphern seit den 1990er Jahren eine neue Wertschätzung. (Buchholz, 2003a, S. 1). Fischer (2005) bezeichnet auf einem Symposium des Heidelberger Instituts für systemische Forschung unter dem Titel »Eine Rose ist eine Rose … Zur Rolle und Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie« die Metapher als »hot topic« der gegenwärtigen Forschung. Es gibt sicherlich überflüssige Metaphern, Metaphern, die die Realität beschönigen, verbiegen. Denken Sie an das schöne Wort »Entsorgungspark«! Vorsicht ist also geboten! Eine ambivalente Einstellung zur Metapher hat übrigens Alfred Adler, der in seinem Spätwerk »Der Sinn des Lebens« schreibt: » Man darf die aufputschende Kraft der Metaphern nicht übersehen… Ihr Wert ist unbestritten, wenn sie geeignet sind, unserem Leben Spannkraft zu verleihen, ihre Schädlichkeit muss enträtselt werden, wenn sie dazu dienen, durch Anspornung unserer Gefühle den gemeinschaftswidrigen Geist in uns zu bestärken« (1933, S. 146). Beginnen wir nun unsere Zeit- und Erkundungsreise, gehen wir zurück in das beginnende 18. Jahrhundert. Da schreibt ein Daniel Defoe einen Roman, der bald viele Leser finden wird (Defoe, 1719/1981). Sie werden es unschwer erraten: Natürlich möchte ich diesen Roman mit Ihnen metaphorisch lesen. Viele von uns kennen diesen Roman oder besser: glauben ihn zu kennen. Was die meisten von uns kennen, ist eine Kurzfassung des Romans, oft herausgegeben als Kinder- oder Jugendbuch, das lediglich die Inselepisode enthält. Kurzgefasst erzählt uns der Autor die Geschichte eines jungen Mannes, Sohn eines nach England ausgewanderten Bremer Kauf-

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manns, der – um mit Adler zu sprechen – seinen Ohrfeigen hinterherläuft. Die väterlichen Mahnungen in den Wind schlagend: »Junge, lerne etwas Ordentliches!«, widmet sich der junge Mann einem Medium, das keine Balken hat, dem Wasser, der Seefahrt. Die erste Fahrt endet im Desaster: Überfall, Versklavung im nördlichen Afrika. Als die Freiheit auf abenteuerlichen Wegen wiedergewonnen ist, folgt Crusoe zunächst seines Vaters Rat, wird sesshafter Kaufmann. Doch dann treibt es ihn erneut zur See. Die Fahrt wird wiederum zum Desaster: Schiffbruch, Strandung auf einer kleinen, menschenleeren Insel. Die dann folgende Geschichte kennen Sie, Sie kennen auch das Happy End: Robinson wird errettet, wandelt sich und wird zu einem wohlhabenden und sesshaften Mann, der zu guter Letzt noch einmal an den Ort seiner Not, seiner not-wendigen Erfahrungen und seiner Errettung zurückzukehrt, an einen Ort, der inzwischen von zivilisierten und friedlichen Menschen bewohnt ist. Von seiner Intention her war der ursprüngliche Roman ein Gesellschaftsroman. Es ist die Zeit der Aufklärung, die Zeit der Bildungsreisen des gehobenen Bürgertums, deren Berichte von einem breiten Publikum gelesen werden. Romane dieser Zeit sind – wie Robinson Crusoe – Reiseromane. Es entstehen Enzyklopädien, die das Wissen über die sich erweiternde Welt breiten Volksschichten zugänglich machen. Es entstehen auch erste Sammlungen und Museen, die Dinge aus aller Welt zusammentragen. Neugier, Reiselust, Fernweh! In den Opern dieser Zeit spielen Italien, Spanien und auch das ferne Ägypten eine große Rolle. Es ist die Zeit des Aufbruchs in die sogenannte Moderne und Beginn einer Bewegung, die heute, in der Postmoderne, ständig an Beschleunigung zunimmt und uns einem immerwährenden Veränderungsprozess aussetzt. Wo hat uns die Spur hingeführt, psychologisch, psychoanalytisch? Nicht nur das Kernmotiv des Ein- und Abgeschlossenseins und seiner Bewältigung, sondern auch die komplette Geschichte lassen sich zwanglos als Metapher lesen, als Metapher eines bewegten Lebens, eines Lebens mit Irrungen und Wirrungen, mit Erfahrungen von Not, mit Lösungswegen, mit Misslingen und Gelingen, als Metapher für die Erweiterung des gesellschaftlichen, politischen und geistigen Horizontes. Die Fremde, die man im Mittelalter das »Elend« nannte und die als Ort des Ausgestoßenseins aus traditionellen Bezügen erlebt

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wurde, rückt nun in erreichbare Nähe. Das Fremde wird akkomodativ oder assimilativ bewältigt: Robinson passt sich und seine bereits bestehenden Erfahrungsschemata an seine neue Umgebung an, aber er macht auch aus Freitag, dem »Wilden«, assimilativ einen wohlerzogenen und frommen Engländer. Sie sehen, Bewegung, Reise und Erweiterung des Raumes sind metaphorische Aspekte, die Defoes Roman als Abbild der Strömungen seines Jahrhunderts durchziehen.

Alfred Adler als Metaphoriker Wir machen nun einen Zeitsprung von mehr als 200 Jahren. Wir kommen zu einem anderen Mann, dem Bewegung am Herzen lag. Manès Sperber schildert ihn in seiner Monographie »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie« (1971, S. 12) wie folgt: »Auf der schwarzen Tafel zeichnet ein untersetzter Mann einen kreideweißen Strich, er zieht ihn sachte von unten nach oben. Mit einer Entschiedenheit, als ob er mit diesem Strich einen unwiderleglichen Beweis lieferte, fügt er hinzu: ›Sie sehen, das ist also das seelische Leben; alles Seelische ist eine Bewegung, muss als eine Bewegung von unten nach oben verstanden werden.‹« Sperber fährt fort: »Es mag sein, dass nicht wenige der jungen Zuhörer Adlers nicht zuletzt wegen dieses Wortes wiederkamen: Bewegung. Es war einfach und doch ein Schlüsselwort ohnegleichen.« Sie sehen und wissen, dass Bewegung für Alfred Adler eine zentrale Metapher war: Bewegung von unten, von Not, Mangel, Schiffbruch, Isolation, nach oben, hin zu Gemeinschaft, schöpferischer Bewältigung, Kompromiss, Befreiung – oder hin zu einer Position von Überhöhung und Überlegenheit. Die Bewegung lässt sich verfolgen als eine gedachte Leit-Linie, hat Ausgangs- und Endpunkt. Für Robinson war Ausgangspunkt sein Ringen um Autonomie und Expansion, verbunden mit dem Protest gegen den Vater. Es folgten der Aufbruch in ein Leben eigener Prägung, die vielen lebensnotwendigen Erfahrungen mitsamt der Kriegskosten, schließlich ein Gelingen dieser Bewegung im Sinne damaliger gesellschaftlicher Vorstellungen. Für Adler war, so wie er sich schildert, Ausgangspunkt seine Kränklichkeit und Schwächlichkeit, der Weg der Überwindung seine

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Berufswahl und sein unermüdliches und zuletzt ruheloses, sich selbst überforderndes Engagement, Ende schließlich sein früher Tod, seiner überkompensatorischen Überlastung geschuldet.

Metaphorik, kognitive Linguistik und deren Anwendungen in Psychologie und Psychoanalyse Wir sind also bei Alfred Adler und seinen Bewegungs- und Raummetaphern angekommen. Eigentlich stünde jetzt eine Vertiefung der individualpsychologischen Metaphorik an. Ich muss Sie jedoch um Geduld bitten. Wir werden einen zweiten Exkurs machen, diesmal auf das Gebiet der neueren Metaphernkonzeptionen in Linguistik, Psychologie und Psychoanalyse (Lakoff u. Johnson, 2007; Schmitt, 2001, 2004). Wegweisend sind hier die Arbeiten der Linguisten Lakoff und Johnson, die die Metapher nicht nur für die Linguistik, sondern auch für den Bereich des Sozialen und Psychischen wiederentdeckt haben. Sie geben ihrem Buch »Leben in Metaphern« den Untertitel »Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern«. Dort schreiben sie: »Unser tägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch« (Lakoff u. Johnson, 2007, S. 12). Sie geben für die Verankerung dieses Konzeptsystems drei Beispielsätze, die ich – etwas aktualisiert – wiedergeben möchte: – Beispielsatz 1: Horst Gröner1 ist in der Geschäftsstelle der DGIP. Hier bezeichnet das »in« eine klar bestimmbare physische, in diesem Fall räumliche Orientierung. – Beispielsatz 2: Horst Gröner ist in der DGIP. – Beispielsatz 3: Horst Gröner ist in Sorge um die Finanzen der DGIP. In den letzten beiden Sätzen sind wir auf der metaphorischen Ebene, denn das »in« ist kein räumliches mehr. Im zweiten Satz bezieht sich 1 Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) seit 1982

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die Präposition »in« auf eine soziale Gruppe, die DGIP, im dritten auf einen emotionalen Zustand, die Sorge. Auf dem Hintergrund der Metapherntheorie der Kognitiven Linguistik bedeutet dies: 1. Eine Metapher ist eine Gleichung zwischen einem bildempfangenden Zielbereich, nämlich den sozialen und emotionalen Erfahrungen (Satz 2 und 3), und einem bildgebenden Ursprungsbereich aus der physischen, konkret erfahrbaren Welt (Satz 1). Durch Metaphern finden diese an sich schwer fassbaren Erfahrungen einen adäquaten und lebendigen sprachlichen Ausdruck. »Sprechen ist ganz offenbar nicht etwas, was sich in den Gegensatz zu Körperlichem (Physischem, d. V.) begibt, sondern eher etwas, was das Körperliche aufnimmt und verlängert« (Buchholz, 2008). Als Beispiel Adlers Metapher: »Seelisches ist Bewegung«. Seelisches ist für uns unmittelbar schwer fassbar, wir brauchen hierfür einen Bildspender aus dem Bereich des ursprünglich Physischen: »Bewegung«. Ein anderes Beispiel: Eine meiner Patientinnen kommentiert das Ende der Behandlung mit der Bemerkung: »Der Ball, der rollt!« Mit dieser Metapher hat sie einen Ausdruck dafür gefunden, dass es ihr gelingen wird, die in der Analyse angestoßene innere Bewegung über das Analyseende hinaus fortzusetzen. Sie metaphorisiert also etwas Emotionales in Begriffen des Physischen. 2. Die Metapher ist keine mathematische Gleichung, sondern zugleich Gleichung und Ungleichung. Ein Beispiel: Ein Patient sagt zu mir: »Ich bin ein Pferd auf der Wiese, das einfach losgaloppieren möchte.« Es ist in diesem Beispiel klar und banal zugleich, dass sich der Patient in diesem Augenblick als Pferd phantasiert, aber natürlich ein Mensch ist, der gerade auf der Couch liegt, seine Phantasien ausbreitet und in metaphorische Formen gießt. Wenn wir sagen: Neurose ist Stillstand, dann wollen wir mit Hilfe der Metapher sagen, dass die Lebensbewegung eines Menschen zum Stillstand gekommen ist. Gleichzeitig aber haben wir andere Vorstellungen über die Neurose: Dass sie zum Beispiel Leiden bedeutet, dass sie eine individuelle Schöpfung und dass sie ein Selbstheilungsversuch ist.

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Die Metapher ist also Ersetzung, jedoch keine Gleichsetzung. Damit eröffnet sich ein niemals eingrenzbarer interpretativer Zwischenraum, ein Spalt für imaginative, den vorgegebenen Rahmen überschreitende Interpretationen (Jain, 2001, S. 1). In der Literatur wird diese zentrale Dimension der Metapher wie folgt beschrieben: »Metaphern haben offene Horizonte …« (Buchholz, 2003a, S. 19), sie haben eine »innovative Funktion«, ein »kreatives Subversionspotenzial« (Jain, 2001, S. 3). Dieses Potenzial durch Medizinalisierung und Anpassung an sozial- und berufsrechtliche Modalitäten nicht zu verlieren, das hat Rainer Schmidt immer wieder angemahnt (Schmidt, 2008). Der französische Psychoanalytiker Lacan spricht in diesem Zusammenhang vom »schöpferischen Funken der Metapher« (zit. nach Jain, 2001, S. 5). Natürlich soll hier daran erinnert werden, dass nicht bei jeder Metapher ein Funke überspringt. Vorsicht Metapher! Es gibt im Gegensatz zu originellen und kreativen auch konventionelle, klischeehafte und abgedroschene, eher verhüllende als enthüllende Metaphern. Es gibt auch abwertende Metaphern, wenn wir von einem Menschen sagen, er habe einen Sprung in der Schüssel oder nicht mehr alle Tassen im Schrank (Schmitt, 2000). Zum kreativen Potenzial der Metaphern ein Beispiel aus meiner analytischen Praxis: Ein Patient träumt mehrfach vom Einbruch in das ehemalige elterliche Haus. Er ist in seinen Träumen meist hilflos, die Eltern verhalten sich passiv. Die Bewegungslinie oder Bewegungslogik sind Ohnmacht, Rückzug und Flucht. Plötzlich lächelt der Patient und sagt: »Ich bin immer wieder eingebrochen, aber anders, in der Schule und auch jetzt, in meiner Ausbildung!« Der Raum, den die Metapher eröffnet, schafft ein schöpferisches Potenzial, lässt unsere Phantasie in Bewegung geraten. Die Doppeldeutigkeit der Metapher des Einbruchs führt letztlich zur Erinnerung an mehrfachen Schiffbruch, dem des Robinson nicht unähnlich, und schließlich in der Vertiefung zu einem innerseelischen Drama: »Ich will etwas bekommen, ohne mich mühen zu müssen, ich ›hole‹ es mir einfach, nächtens, auf krummen Wegen! Und wenn ich es so mache, dann verliere ich den Boden unter den Füßen und laufe Gefahr, einzubrechen.« Die Einbruchsmetapher spielte auch in der Übertragung eine Rolle, so in einem Traum, in dem der Patient in mein Haus einbrach. Schließlich

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waren die ödipale Konstellation, also das Dreieck Kind–Eltern, und die Sexualität des Patienten von der unbewussten Idee des doppelten Einbruchs bestimmt. Kehren wir zur kognitiven Linguistik zurück: Hier werden zwei grundsätzliche metaphorische Bezugsrahmen unterschieden: Die präverbalen, unmittelbar erfahrbaren Schemata und die sogenannten metaphorischen Konzepte (Lakoff u. Johnson, 2007; Schmitt, 2004). Ursprungsbereich der präverbalen Schemata sind grundlegende physische Orientierungen, die unser Leben von Anfang an bestimmen. Wichtig sind hierbei die Raumorientierungen. Des Weiteren machen wir die grundsätzliche Erfahrung, dass Menschen und Dinge Einzelgebilde sind, Entitäten, dass diese Gebilde Grenzen und einen stofflichen Inhalt haben. Diese grundlegenden Erfahrungen sind metaphorische Bildspender für den sozialen und emotionalen Bereich. Gehen wir die präverbalen Schemata im Einzelnen durch: 1. Orientierungsmetaphern: Hier geht es um unmittelbar erfahrbare, alltägliche Orientierungen: oben – unten, innen – außen, vorne – hinten, hell – dunkel, warm – kalt, stark – schwach, männlich – weiblich u. v. m. Wenn wir »Hochhaus« sagen, dann meinen wir real ein hohes Haus, wenn wir hingegen »Hochstimmung« sagen, dann sind wir schon im Metaphorischen. Die realen Orientierungen werden zu Bildspendern für Metaphern, die auf diese Weise Unbewusstes verräumlichen. Wir sprechen vom »Tiefpunkt«, bezeichnen einen Menschen als »vorwitzig« oder »hinterhältig«, als »hellen Kopf« oder als jemanden mit »dunklen Machenschaften«. Das Oben und Unten, das ist Alfred Adlers Terrain. Er hat diesem Schema »stark« und »schwach« sowie »männlich« und »weiblich« zugeordnet. Es ist ein Schema, das in unserer Kultur fest verankert ist und unsere Gesellschaft zu einer »Überbietungsgesellschaft« werden lässt, ein Begriff, den Metzger bereits im Jahr 1970 formuliert hat (zit. nach Kausen, 1985). 2. Objektmetaphern und Personifikationen: Wir erleben die Welt um uns herum ganz ursprünglich als eine Welt von Objekten, als abgegrenzte Entitäten, die wie wir selbst Akteure in dieser Welt sind. Beispiele aus der Psychoanalyse gibt es zuhauf: Wenn wir über einen Patienten sagen: »Sein stabiles Selbst lässt ihn angsttolerant sein«,

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oder: »Sein Über-Ich lässt ihm keinen Spielraum«, oder: »Sein Lebensstil bringt ihn dazu, dass er anderen immer gefallen muss«, dann behandeln wir unsere seelischen Konstrukte wie »Selbst«, »ÜberIch« und »Lebensstil« wie Akteure, die aus sich heraus handeln – wie Homunkuli, die künstlich erzeugten Menschlein der mittelalterlichen Alchemie. An dieser Stelle erinnere ich mich gerne an die Vorlesungen des Kölner Psychologie-Professors Wilhelm Salber, der – wir mussten an der Stelle immer wieder schmunzeln – mit Verve feststellte, dass das Seelische nicht aus Klötzchen bestehe. Salber sah in Psychologie und Psychoanalyse die Gefahr, dass wir unsere theoretischen Begrifflichkeiten, die ja selbst immer nur Metaphern sind, letztlich entmetaphorisieren, einfach gesprochen: Ihren metaphorischen Charakter vergessen, verdrängen, und letztlich so tun, als seien der Lebensstil, das Ich und das Es Klötzchen, mit denen wir in unseren Psychodynamiken jonglieren, mit deren Hilfe wir uns unter Umständen vor einer wirklichen »Mitbewegung« (Heisterkamp, 1990a, 1990b) mit dem seelischen Leid unseres Patienten schützen. James Hillman schreibt dazu in seinem Buch »Die Heilung erfinden«: »Sowohl Adler wie Freud wurden später von weniger subtilen Denkern entmetaphorisiert, verwörtlicht« (1986, S. 149). Kein Geringerer als Leon Wurmser gibt bereits 1977 seinen Bedenken Ausdruck, indem er formuliert: »Die meisten aufmerksamen analytischen Theoretiker […] teilen die Sorge: dass die analytische Theorie von Metaphern her aufgebaut ist, die zu res [lateinisch Dingen], gemacht wurden« (S. 678). Verwandt mit den Gegenstandsmetaphern sind die metaphorischen Personifikationen, in denen der »Akteur« nicht wie ein Gegenstand, sondern als eine handelnde Person phantasiert wird. Die Aussage eines Patienten: »Der Alkohol war stärker als ich!«, gibt, wie es Menschen mit Alkoholproblemen oft tun, dem Alkohol die personifizierte Schuld wie der bösen Ehefrau, wegen derer er zu trinken behauptet. 3. Gefäßmetaphern sind solche, in denen ein soziales oder psychisches Phänomen als Gefäß mit seinen mehr oder weniger scharfen Grenzen metaphorisiert wird. Wenn wir formulieren, wie oben geschehen: »Horst Gröner ist in der DGIP«, dann »fassen« wir die DGIP auf als soziale Gruppe in Form eines Gefäßes. Wenn wir sagen »Das Selbst

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enthält ›gute‹ und ›böse‹ Selbstanteile«, dann metaphorisieren wir das Selbst als Gefäß, in dem sich anteilig etwas Gutes und Böses befindet. Oder wir sagen im Sinne der Gefäßmetaphorik: »Der Patient fühlt sich leer und ausgebrannt.« Hier sind auch die Metaphern der zweiten und dritten Haut zuzuordnen: Kleidung als Gefäß, das unseren Körper schützend umhüllt und zum Bedeutungsträger wird, und Wohnung als Gefäß (Funke, 2006), das uns ebenfalls schützt, uns gleichzeitig individuelle Sinnund Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Hier ist auch das Haus als Gefäß zu erwähnen, in dem, wie es Freud formuliert hat, das Ich nicht der Herr ist. Hier müssen wir insbesondere an Bions berühmte »Containermetapher« denken, mittels derer er die Mutter oder den Therapeuten als ein aufnehmendes Gefäß metaphorisiert, das die überschäumende Wut oder die tiefe Traurigkeit, von der das Kind randvoll ist, aufnimmt und diese Gefühls-Substanzen verarbeitet und verändert und in anderer Qualität und Quantität an das Kind zurückgibt. Bions Container ist also eine Kombination von Gefäß- und Substanzmetapher. Von letzterer später. Adlers Bewegungsmetapher ist nicht ohne einen realen oder fiktiven Raum denkbar, in dem sich diese Bewegung vollzieht. Dieser fiktive Raum ist – metaphorisch gesprochen – ein Gefäß. Die Grenzen dieses Gefäßes bezeichnen Ansbacher und Ansbacher als »soziales Eingebettetsein« (S. 135). Es ist im Kindesalter der Raum, der durch Mutter und Familie geschaffen ist. Später ist es der Bewegungsraum, der sich dadurch ergibt, dass die Menschen unserer näheren und ferneren Umgebung der ihnen eigenen Bewegungslogik folgen. Wenn wir Glück haben, ist es ein ausreichender Raum zur individuellen Entwicklung, der uns zugemessen wurde und wird. Es geht aber ebenso um den inneren Raum, wenn Adler von der »Enge der Behausung« oder vom privaten Bezugssystem (Ansbacher und Ansbacher, S. 240) des Nervösen spricht – ein innerer Raum, den wir durch das geglückte Angebot eines intersubjektiven Raumes in Beratung und Therapie erweitern wollen. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, dass auch der reale Raum der Analyse vom Patienten metaphorisiert wird. Guderian arbeitet in ihrer Monographie (2004, S. 82–127) die Raummetaphern des gut hundert Jahre alten analytischen Behandlungsraumes heraus:

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der Behandlungsraum als Gefängnis, Untersuchungsraum, Andachtsraum, Opfertisch, Schlachtbank, Beichtstuhl, Studierstube, als Grab oder Gruft. 4. Substanzmetaphern: Dass wir als Lebewesen körperliche Substanz sind, ist uns zwingende Erfahrung. Auch die dingliche Umwelt um uns herum hat eine stoffliche Grundlage. Der Begriff »Substanz« hat metaphorischen Charakter, wenn wir zum Beispiel sagen, eine Überlegung habe »Substanz«, oder den Eindruck haben, dass wir etwas Substanzielles zu einer Sache beitragen. Jenseits der Alltagssprache hat natürlich auch die Psychoanalyse Substanzmetaphern. Klassisches Beispiel ist hier Freuds Libido, eine »Substanz«, die Vitalität und sexuelles Begehren repräsentiert, eine »Substanz«, die in ihrem Fluss gehemmt, kanalisiert oder in eine andere Substanz verwandelt, sprich sublimiert werden soll. Auch wenn ich in einem Vortrag etwas sprachlich »ausdrücke«, handelt es sich um eine Metapher: Das Gesprochene wird als Substanz metaphorisiert, das wir wie Farbe aus einer Tube herausdrücken. Substanz ist Sprache auch, wenn wir vom Redefluss oder davon sprechen, dass wir Nichts mehr herausbekommen. In der Individualpsychologie gibt es meines Wissens keine »offiziellen« Substanzmetaphern wie in der freudschen Psychoanalyse. Adler hatte sich in seiner Zeit mit und bei Freud mit dem Aggressionstrieb als Pendant zum Sexualtrieb beschäftigt, ihn aber nach Trennung von Freud wieder verworfen. Später gab Adler dem Thema Aggression eine doppelte Bedeutung: Aggression als pathologische und als konstruktive Form. Adler schreibt zur konstruktiven Form der Aggression in der zweiten Auflage von Heilen und Bilden (zit. nach Rogner, 1985): »Wie einer […] [seine Lebens-] Aufgaben anpackt, daran kann man ihn erkennen. Diese Haltung hat immer etwas Angreifendes.« Adler sprach außerdem vom »(Lebens-)Mut«, von der »Kraft Leben« (Adler, 1933, S. 259) und der mehr oder weniger freien schöpferischen Kraft. Witte schreibt in einem Artikel mit dem metaphernreichen Titel »Wo nisten die Adler? Die Individualpsychologie im Revier der analytischen Psychotherapien«: »›Adlers Wille zur Macht‹ ist der Lebenswille schlechthin« (2009). Verstecken sich hinter Adlers Begrifflichkeit nicht doch Substanz-

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metaphern für etwas Treibendes in uns, etwas Triebähnliches? Presslich-Titscher schreibt zu dieser Metaphern-Lücke der Individualpsychologie äußerst zutreffend: »Wenn Adler später für die Individualpsychologie hervorhob, ›als erste psychologische Schule mit der Annahme von inneren Kräften (Instinkten, Trieben, Unbewusstem, etc.) als irrationalem Material gebrochen‹ zu haben, so bestätigt das für mich, dass er Freud nicht anders loswerden konnte« (2008, S. 399). Die Metaphern-Lücke wäre also letztlich Ergebnis einer Tabuisierung. Jenseits der präverbalen Schemata, von denen wir gerade berichtet haben, gibt es komplexere Metaphernfelder, bei denen es sich um Bündelungen einzelner metaphorischer Formulierungen handelt, die im Ursprungs- und Zielbereich zusammenhängen. Man unterscheidet dabei zwischen (Schmitt, 2009, Abs. 1.5): – Ontologische Metaphern: Sie dienen dazu, bestimmte Sichtweisen, Ideen oder Vorstellungen zu repräsentieren. Als Beispiele: Etwas ist ein guter Fang. Man löst ein Problem. Das Nervenkostüm wird dünn. Man ist niedergeschmettert. Psychologisch gesehen handelt es sich zum Beispiel bei der »Leib-Seele-Einheit« um eine ontologische Metapher. – Komplexe Strukturmetaphern: Bestuntersucht von der kognitiven Linguistik ist das metaphorische System »Liebe«: Liebe ist eine Reise: Man kommt bei einer Frau oder einem Mann an oder auch nicht. – Liebe ist Physik: Es wird einem heiß und kalt, wenn man in die Nähe des begehrten Menschen kommt. – Liebe ist eine Krankheit: Man ist krank vor Eifersucht. – Liebe ist Verrücktheit: Man kann nicht mehr klar denken, man ist verrückt nach jemandem. – Liebe ist Magie: Man ist bezaubert von der Gegenwart des geliebten Anderen. – Liebe ist Krieg: Hier sind die Pfeile des Amor die schönste Form, der Rosenkrieg das Ende einer Liebe. Diese Strukturmetaphern sind Adlers und Freuds Spielfeld. »Seelisches ist Bewegung von unten nach oben« – das ist Adlers Metapher für die grundlegende Qualität alles Seelischen, aber es ist nicht die einzige Metapher Adlers. Wir werden später an diese Stelle anknüpfen. Die Göttin Libido und der tragische Held Ödipus, das ist der Stoff, aus dem Freuds Metaphern gewebt sind. Es sind im Gegensatz zu

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Adlers Raum- und Wegmetaphern vielschichtige und vieldeutige Metaphern, so verständlich wie missverständlich und angreifbar. Komplexe Strukturmetaphern sind auch die generellen Metaphern »der Kur«: Katharsis, Schachspiel, Archäologie, Kriminalistik, Enthüllung, Eindringen in Tiefen oder Spiegeln (Buchholz, 2003a; Mertens u. Haubl, 1996). Metaphern meiner Patienten für die situative Struktur des analytischen Prozesses waren zum Beispiel: Expedition, Schwimmen lernen, Topfschlagen, Jonglieren, Reise, Brücke, Entchenangeln, Pirouetten drehen. Therapie als Feriencamp oder als Getränkeautomat. Sie werden sich an Metaphern aus Ihrer Arbeit erinnern.

Alfred Adlers Metaphorik – »im Leben und in der Neurose« Kehren wir zurück zu Alfred Adler und den Metaphern der Individualpsychologie. Da ist als Erstes, wie wir bereits herausgearbeitet haben, die Bewegungs-, Weg- bzw. Raummetapher: Eine Bewegung nach vorn nennen wir Progression, die Bewegung zurück Regression (Liebscher, 2008). Zurück wird mit »unten«, vor mit »oben« identifiziert. Adler spricht in diesem Sinne von Schwäche, Unsicherheit, Zurückweichen, Erhöhung, Abbiegen, Vorwärtsgehen, Zögern, Stillstand, Rhythmus, Dynamik, Fortschritt, Streben, Finalität usw. (zit. nach Ansbacher u. Ansbacher, 1982). Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Es gibt auch Gleichwertigkeit, eine Existenz auf Augen-Höhe, ein Gefühl des Verbundenseins mit den Menschen, der Welt und dem Kosmos. Weitergeführt hat diese Adler’sche Konzeption Günther Heisterkamp mit der Begrifflichkeit der Originären Lebensbewegung. Er sieht Individualpsychologie als Programm, das »Individuelle«, das heißt das Originäre und Einzigartige persönlicher Lebensläufe zu erfassen (1990, S. 88). Auf der Seite des Therapeuten fordert Heisterkamp ebenfalls Bewegung, nämlich Mit-Bewegung. Diesen Begriff versieht er in der Wortfuge von »Mit« und »Bewegung« mit einem Bindestrich, um die dreifache Bedeutung von Mitbewegung deutlich zu machen: erstens das empathische Wahrnehmen des Patienten wie auch eigenen Innen-

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welt, zweitens die in uns ablaufende transformatorische Bewegung und schließlich die daraus folgende Intervention. Adler gibt aus seiner Raummetaphorik heraus einen wichtigen Hinweis für Bewegung und Mitbewegung: »Man soll seine Sache auf Nichts stellen!« Es ist die Fiktion eines freien Raumes bzw. der voraussetzungslosen Analyse, wie sie Freud konzipiert hat. Die Bewegungsmetapher begegnet uns auch im übergeordneten Bezugssystem, sprechen wir doch zum Beispiel von der psychoanalytischen bzw. individualpsychologischen Bewegung. So sagt Adler im Vorwort des 1926 erschienenen Handbuchs der Individualpsychologie: »Die Individualpsychologie ist Massenbewegung geworden.« Freud, Adler und Jung selbst waren große Beweger in den Gründerjahren der Psychoanalyse – und haben sich auch selbst als solche verstanden. Seelisches also ist Bewegung, die sich in einer unendlichen Vielfalt und stets individuell vollzieht. Wie aber können wir diese Bewegung auf einer abstrakteren, jedoch ebenfalls metaphorischen Ebene fassen? Adler hat hierzu einen Vorschlag gemacht, den Sie alle kennen, er spricht vom Bewegungsgesetz und verwendet auch für diese Begrifflichkeit wiederum eine Vielzahl verwandter Metaphern. Er spricht unter anderem von Schema, Schablone, von Form und Formenwandel, von leitender Fiktion, von Leitlinie, von fiktivem Lebensplan, vom Modus dicendi, von Bewegungs- und Handlungslinie, von Konstruktion, von Gangart, Grundgesetz, Prototyp – und letztlich vom Lebensstil (zit. nach Ansbacher u. Ansbacher, 1982). Adler warnt jedoch, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt sei, die seelische Bewegung in einem ruhenden Bild einzufangen: »Der menschliche Geist ist nur allzu sehr gewöhnt, alles Fließende in eine Form zu bringen, nicht die Bewegung, sondern die gefrorene Form zu betrachten, Bewegung, die Form geworden ist« (1933–37/1983, S. 72). Anders äußert er sich in einem Artikel über »Körperform, Bewegung und Charakter« aus dem Jahr 1930: »Bewegung wird gestaltete Bewegung: Form. So ist Menschenkenntnis aus Form möglich, wenn wir die gestaltende Bewegung in ihr erkennen« (S. 573). Dieses Zitat war jedoch von Adler auf die körperliche Form bezogen. Ich meine, wir können das Zitat auch auf Seelisches beziehen, denn Seelisches lässt

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sich als Form oder Gestalt fassen, sofern wir, ich zitiere Adler noch einmal, »die gestaltende Bewegung in ihr, (der Form, Anm. d. V.), erkennen«. Den Begriff der Gestalt hat Adler unter Bezug auf die Gestalttheorie übrigens selbst verwendet (Ansbacher 1982, S.177; Soff und Ruh, 1999, S. 186). Auch Gisela Eife versteht Lebensstil als eine Gestalt und formuliert: »(Das) Streben in Richtung auf ein Ziel formt eine Gestalt« (2006, S. 6). Adler geht aber noch einen Schritt weiter, er fasst Seelisches und seine einzelnen Äußerungen als Ergebnis einer »Modellierung«, als individuell gestaltete Kunstform oder Kunstwerk, das von der Künstlerschaft bzw. der schöpferischen Kraft seines Urhebers zeugt. Seelisches ist also einerseits Gestalt, Form und Kunstwerk und wirkt als solches wiederum gestaltend und formend. »Fingere« heißt auf Lateinisch »bilden, erdichten«. Davon abgeleitet ist der Begriff der Fiktion, den Adler nach der Trennung vom Freud-Kreis der 1911 erschienenen »Philosophie des Als-ob« des Philosophen Hans Vaihinger entnahm (Rattner, 1978). Was sind Fiktionen anderes als Metaphern: Sprach-Bilder für unsere Lebensbewegung? Fiktionen wie Metaphern dienen der Ordnung und dem Verstehen unseres Seelischen. Allerdings verbindet Adler mit der Idee des Fiktionalismus ein nosologisches Anliegen; davon später mehr. Was die allgemeinpsychologische Metaphorik Adlers angeht, so können wir nun zusammenfassen: 1. Seelisches ist Bewegung in einem Raum von unten nach oben. 2. Seelisches ist Gestalt, Form und Kunstwerk. Kommen wir nun zur Metaphorik des »Nervösen«. Schauen wir uns auch hier die Formulierungen Adlers an (zitiert nach Ansbacher und Ansbacher, 1982). Er spricht von: Kampf um Überlegenheit, von Revolte, von kämpferischer und feindseliger Stellung, von Kriegskosten, von der Angst als Waffe und anderen Kampfesmitteln, von Niederlage und Sieg, von Symptombarrikaden, Konstruktion von Hindernissen, von der Front des Lebens, vom Hauptangriffspunkt der Psychotherapie, von Feindesland und vieles mehr. Wir erkennen unschwer die Ausrichtung dieser Metaphern: Neurose ist Kampf und Krieg als Verschärfung der Dynamik von Unten nach Oben. Wie bei der Metaphorik des Allgemein-Seelischen wird auch die

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Neurose als Kunstform metaphorisiert. Adler sagt: »Wir werden die Symptomwahl verstehen, wenn wir […] (die Neurose – d. V.) als Kunstwerk betrachten« (zitiert nach Ansbacher u. Ansbacher, 1982, S. 308). Was die Neurosenmetaphorik betrifft, so sehen wir zusammenfassend zwei grundlegende Aspekte: 1. Neurose ist Kampf und Krieg 2. Neurose ist ebenso Gestalt, Form und Kunstwerk. Adler hat darauf hingewiesen, dass der Mensch in der Neurose nicht mehr die fiktive Beweglichkeit eines vergleichsweise seelisch gesünderen Menschen hat. Wir Menschen fahren schlecht, wenn wir die Fiktionen entfiktionalisieren und die Metaphern entmetaphorisieren. Wir sind dann an infantile Fiktionen oder Metaphern gebunden, »fixiert«. Alfred Adler sprach davon, wir seien in der Neurose an das Kreuz unserer Fiktionen geschlagen. Wie könnte man den Begriff der Fixierung metaphorisch besser fassen! Im schlimmsten Fall der psychotischen Entgleisung schließlich werden fiktiv-metaphorische Konzepte durch »Intensitäts- und Formenwandel« zu unverrückbaren Dogmen (Adler, 1912). Kommen wir zur letzten Etappe unserer Reise! Denken Sie an die eingangs zitierte Frage: »Was machen wir am nächsten Montag mit dem Thema ›Metaphern‹ in unseren Praxisfeldern?« Ein Ratsuchender kommt und teilt sich spontan mit. Wir horchen. Wie teilt er sich mit? Spricht er über seinen Körper, die nicht endenden Symptome einer somatoformen, angstneurotischen oder hypochondrischen Störung? Oder spricht er konkretistisch? Der hat das gesagt, jener hat das getan und dann passierte dieses und jenes! Oder spricht der Patient davon, dass er bitter enttäuscht sei über das, was er erlitten habe. Dass er verletzt sei, empört, bestürzt oder beflügelt, im siebten Himmel. Das alles sind Metaphern. Zur Erinnerung: Übertragungen von originären physischen Erfahrungen auf emotionale Befindlichkeiten. Sie werden sagen: So reden doch alle. Nein! Hören Sie genau hin, folgen Sie den individuellen Metaphern. Jedes seelische Leiden hat seine eigene Metaphernwelt. Je reifer ein Patient, desto reicher und reifer ist seine Metaphorik (Buchholz, 2003a). Aber Vorsicht! Ich

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denke an einen Analysanden, der mich mit Metaphern geradezu überschüttete. Seine Metaphernproduktion war unerschöpflich. Er muss mein Interesse am Thema gespürt haben. Aber auch diese Dynamik hat ihre Metapher: Dieser Patient war jemand, der ein Feuerwerk abbrannte. Mit dieser Metapher ließ sich wiederum arbeiten, sie warf ein Licht auf die innere insuffiziente Verfassung des Patienten und die dadurch ausgelöste Übertragungsdynamik. Dann haben auch unsere Interventionen, das Übertragungsgeschehen und der sich daraus ergebende Prozess entsprechende Metaphern. Adlers Metaphern zur therapeutischen Intervention hat Günther Heisterkamp (1983) herausgearbeitet und stieß dabei auf einen verblüffenden Befund: Dass Adler nämlich in manchen seiner Interventionen in einem Widerspruch steht zwischen dem, was er an partnerschaftlicher Haltung theoretisch fordert, und dem, wie er in seinen eigenen Behandlungsvignetten therapeutisch handelt. Nach Heisterkamp (1983) schwankt Adler zwischen manipulativen Formulierungen, integrativen und paradoxen Formulierungen. Manipulativ steht für »dem Patienten seine Überschätzung klarmachen«, »Irrtümer durch Belehrung überwinden« oder »das Kind zum Instrument des sozialen Fortschritts machen«. Metaphorisch macht Adler sein Gegenüber zum Gefäßobjekt, dessen Substanz er zu ändern trachtet. Integrative Formulierungen sind die, wo Adler fordert, das Kind nicht zum Objekt zu machen, sondern als Subjekt zu behandeln. Hier haben wir metaphorisch zwei abgegrenzte Subjekte auf gleicher Höhe, die sich in einem gemeinsamen Bezugsraum befinden und miteinander in einem stofflichen Austausch stehen. Denken Sie auch an Freuds Metaphern von der Spiegelplatte, vom Chirurgen und vom Schachspiel. Widersinnigere Metaphern kann man sich nicht vorstellen (Buchholz, 1997, S. 88): Hier der Spiegel, der völlig passiv nur zurückwirft, was er empfängt, da der Chirurg, der in den Körper eindringt, dort Patient und Analytiker als Schachspieler, die sich gegenseitig belauern. Dass unsere Urväter trotz ihrer sich monistisch und geschlossen darstellenden Theorien so widersprüchliche Aussagen machen, sollte uns nicht schrecken, sondern uns ermutigen, die Eindimensionalität der Paradigmen zu verlassen und uns hineinzubewegen in die Unendlichkeit des metaphorischen Raumes und in Pluralität und Polyzentrik

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analytischer Konzepte. Buchholz argumentiert: »Wer eine Sprache, eine Identität der Psychoanalyse fordert, will in die Zeit vor […] [der babylonischen Sprachverwirrung] zurück« (2003a, S. 20, Hervorhebung der Verf.). Und weiter sagt Buchholz: »Wenn die psychoanalytische Theorie kein definierbares Territorium hat […], dann muss man es mit der Annnahme versuchen, dass ihr Territorium in ihren und durch ihre Metaphern existiert« (2003a, S. 21). So seien, wie Jürgen Körner 2009 auf der letzten Tagung der DGPT in Berlin pointiert formulierte, die technischen Begriffe der Psychoanalyse nicht mehr als »Brühwürfel«, das heißt kondensierte kasuistische Beziehungserfahrungen, die sich erst entfalten, wenn wir sie ins warme Wasser des analytischen Prozesses werfen und damit in kasuistische Erzählungen zurückverwandeln. Was die Metaphorik der Psychoanalyse und des analytischen Prozesses betrifft, so hat uns Buchholz in den letzten Jahren unschätzbare Dienste erwiesen. Sein Buch »Metaphern der ›Kur‹« (2003a) und viele andere Publikationen (u. a. 2003b, 2008) zeugen von seinen Bemühungen um ein umfassendes Verständnis des analytischen Prozesses mit Hilfe von Metaphern. Auch der Psychologe und Germanist Rudolf Schmitt hat sich in vielen Arbeiten (1995, 1995/1996, 2000, 2009) mit den Metaphern des Helfens und anderer Themen aus Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie ausführlich befasst und verweist in eindrucksvollen Beispielen, mit welcher Gestaltungsmacht Metaphern unsere Wahrnehmung und unser Tun bestimmen. Ich zitiere noch einmal Leon Wurmser (1977): »Die Metapher nimmt, wie wir wissen, eine zentrale Stellung in der klinischen Arbeit ein, da sie zur unbewussten Bedeutung hinführt – ähnlich wie Träume, Fehlleistungen oder Symptome.« Betrachten wir letztlich, was die Diagnose an Metaphorik in sich birgt. Sehen wir den Patienten als konflikthafte Persönlichkeit, gibt es konfligierende »Agenten«, Treibendes und die seelische Bewegung Hemmendes. Sehen wir den Patienten eher im Licht eines Defizits, so sind Gefäß- und Substanzmetaphern angesagt: Der Patient hat als Gefäß brüchige Außengrenzen. Das Selbst als Gefäß fragmentiert unter dem Druck einer als bedrohlich wahrgenommenen Realität. Hier ist auch das Gefühl der »Leere« zuzuordnen, von der Patienten berichten.

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Viele Patienten mit depressiven Symptomen haben ihre eigenen Metaphern, die von Enge und Eingeschlossensein erzählen. Neurotische Schmerzpatienten haben ebenfalls ihre eigenen Metaphern, die sie von denen unterscheiden, die unter sensorischen Schmerzen leiden, also Schmerzen, die durch eine körperliche Schädigung verursacht sind. Mechthilde Kütemeyer (2002) hat hier eindrucksvolle Beispiele geliefert: Schmerz als ungebärdige Person, Schmerz in Form invasiver, aggressiver, teils anorganischer Metaphern. Körperlich begründbare Schmerzen werden anders metaphorisiert – oder auch relativ metaphernfrei beschrieben. Hier bietet die Metaphorik also Möglichkeiten der Differentialdiagnostik. Zuletzt möchte ich noch einige Hinweise zum Umgang mit Metaphern geben: 1. Metaphern können in der Beratung oder Therapie wie Träume behandelt werden. Für den Philosophen D. Davidson sind Metaphern »Traumarbeit der Sprache« (zit. nach Fischer, 2005, S. 54). Wir sammeln Assoziationen aus unserem »metaphorischen Sinnreservoir« (Fischer, 2005, S. 52) und schauen, wohin sich der Prozess entwickelt. Sind es fruchtbare oder unfruchtbare Metaphern? Bleibt der Patient bei der Metapher oder bewegt er sich von der Metapher weg? Macht es Sinn, ihn in der Metapher zu halten, um mit ihm weiter an der Metapher zu arbeiten? Oder ist das Thema noch nicht reif? Fallen den Beteiligten weitere, ähnliche Metaphern ein, die sich zu einem metaphorischen Feld verdichten und dynamische Alternativen eröffnen? – Natürlich sind auch Träume voll von Metaphern. Denken Sie an den Einbruchstraum, den ich Ihnen erzählt habe. 2. Metaphern haben, wie bereits formuliert, »offene Horizonte« und eine »innovative Funktion«, sind Ergebnis kreativer und imaginativer Akte. Spielen Sie mit den Metaphern, mit denen des Patienten wie mit Ihren eigenen! Hier gilt, was Rainer Schmidt gesagt hat: »Analytische Psychotherapie in allen ihren von der klassischen Analyse abgeleiteten Variationen ist immer – ›kreative spielerische‹ – Arbeit.« Es gibt Momente, in denen ich dem Patienten sage: »Ich hatte gerade folgendes Bild vor Augen: …« Dann schaue ich, wie der Patient damit umgeht. Fällt das Bild auf fruchtbaren Boden, nimmt der Patient die Metapher auf? Oder lässt

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er sie fallen wie eine heiße Kartoffel? Mit Metaphern spielen ist in diesem Sinne Probehandeln in einem Übergangsraum, in dem es noch nicht »ernst« wird. In diesem Zusammenhang ist es ermutigend, wenn die Neurobiologe Gerald Hüther unter Bezug auf die Lernfähigkeit des phantasiebegabten Gehirns metaphernreich feststellt: »Wir können bestimmte […] auf der Spielwiese unserer Phantasie gewachsene Blumen […] zu einem neuen Blumenstrauß innerer Bilder zusammenbinden« (2009, S. 111). 3. Da Metaphern nach den überzeugenden Befunden präverbale Quellen haben, bekommen wir über Metaphern Zugang zum Bereich des Impliziten, zu einem Bereich, der nicht so einfach in Sprache gefasst werden kann. Gerd Rudolf schreibt hierzu in seiner »strukturbezogenen Psychotherapie«: »Das Ansprechen der Kindheitssituation formuliert stark emotional gefärbte Themen aus dem unbewussten impliziten Gedächtnis und macht sie damit zu sprachlich fassbarer Erfahrung, über welche der Patient und Therapeut sich in Worten und häufig in bildhaften Metaphern austauschen können« (zit. nach Eife, 2008, S. 419). Ich erinnere mich an dieser Stelle an einen durch frühes Verlassenwerden, eine lebensbedrohliche Krankheit und dann durch Verpflanzung in eine Adoptivfamilie schwer traumatisierten Patienten, der seine innere Befindlichkeit in Momenten sozialer Angst wie folgt schilderte: »Ich habe es gespürt, es war wie eine kalte Hand, die mich von hinten packt. Ein Bild aus dem Gruselfilm … dann ist eine tierische Wut in mir, alles sträubt sich. Und es ärgert mich, dass ich dann nicht auf die anderen zugehe, sondern einfriere.« Sie können sich vorstellen, wie es in meiner Gegenübertragung aussah. Was das Ansprechen der Kindheitssituation angeht, so möchte ich kurz ein methodisches Vorgehen ansprechen, das in der individualpsychologischen Praxeologie etwas verloren gegangen zu sein scheint: Der Erhebung der frühen Kindheitserinnerungen. Hier geht es nicht darum, kausalen Traumatisierungen nachzugehen, sondern Metaphern aufzuspüren, die es einem Menschen ermöglichen, sich besser verständlich zu machen, sich zu verstehen und zu handhaben. Ich würde mir wünschen, dass diese Vorgehensweise wieder mehr Eingang in die beraterische und die kurzzeittherapeutischen Arbeit finden würde.

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Ich komme zum Schluss, nicht ohne Ihnen ein Metaphern-Beispiel des Freiburger Kollegen Herbert Will (2006, S. 29) zu geben. Er deklariert diese Vignette in seiner Schrift über psychoanalytische Kompetenzen als Beispiel für »kompetentere Praxis«: Eine Patientin beginnt die Analyse mit haarkleinen Erzählungen aus ihrem Alltag: Einkäufe fürs Abendessen, Widrigkeiten des Straßenverkehrs, Anstrich der Wohnung, Impfung des Sohnes, Reservierung des Ferientickets etc. Plötzlich hält die Patientin inne und fragt: »Die Menge an infantilen Banalitäten, die ich erzählen kann, ist unglaublich, aber Sie da, hinter mir, was machen Sie eigentlich die ganze Zeit? Langweilen Sie sich nicht?« Der Analytiker antwortet. »Ich stricke!« Will kommentiert: Hier haben wir es mit einem sehr erfahrenen Analytiker zu tun, der nach eigenem Bekunden erst später die Tragweite seiner Intervention erkannt habe: »Nein, ich langweile mich nicht. Denn ich höre Ihnen zu, wie eine Mutter, die für ihr Baby strickt und sich beim Stricken mit ihm beschäftigt.« Buchholz weist darauf hin, dass es bei unerfahrenen Therapeuten oft nicht zu einer Ausbildung gemeinsamer Metaphoriken mit dem Patienten kommt (2003a, S. 45). Im Titel dieses Beitrags war von der »Macht der Metaphern« die Rede. Unser therapeutisches und beraterisches Tun ist »ein machtvoller Ort im Diskurs« (Jain, 2001, S. 10) mit unseren Patienten und Klienten, den es verantwortungsvoll zu nutzen gilt. Ziel ist es – in Anlehnung an die berühmten Freudschen Formeln – unseren Patienten und Klienten zu helfen, mehr »Herr im eigenen Haus zu werden«, und »wo Symptom war, wieder Metapher werden zu lassen« (Buchholz, 1997, S. 84). In diesem Sinne ist Psychoanalyse Metaphernanalyse.

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Günter Heine

Psychodynamische Beziehungsarbeit in der Schule

Psychodynamic »relational work« in the school context The everyday routine in school provides teachers with joyful moments as well as with a growing feeling of being stressed too much. Conflicting relations with pupils, parents, colleagues, and the school management, often result in decreased happiness as far as job satisfaction is concerned. Especially relations with »trouble kids« result in feelings of burn-out, depression, health problems and inner disengagement. Becoming more aware of the processes of transference and countertransference in the relations with the pupils, as well as reflecting and getting toward a deeper comprehension of the developing »scenes« in everyday school life enable teachers to become emotionally more secure and offer them a wider range of possible actions. Teachers who keep up a spirit of joy working with their pupils create a basis for successful teaching and educational training in the school context.

Zusammenfassung Der schulische Alltag bringt neben den vielen freudvollen Erfahrungen viele Lehrer auch immer stärker an den Rand ihrer Belastbarkeit. Die konflikthaften Beziehungen zu den Schülern, ihren Eltern, den Kollegen und der Schulleitung führen häufig dazu, dass sie immer weniger Freude bei ihrer Arbeit empfinden. Besonders die Beziehungen zu den »schwierigen« Schülern lassen es dahin kommen, dass sich immer mehr Lehrer ausgebrannt und deprimiert fühlen, krank werden oder einen inneren Rückzug antreten. Das Wahrnehmen der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse in der Beziehung zu den Schülern, ihre Reflexion und ein tieferes Verständnis der sich im Schulalltag entwickelnden »Szenen« ermöglicht es den Lehrern, sich emotional zu stabilisieren und erweitert das Spektrum ihrer Handlungsmöglichkeiten. Lehrer, die ihre Freude an der Arbeit mit den Schülern erhalten, bilden die Grundlage für eine erfolgreiche Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Schule.

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Psychodynamische Beziehungsarbeit in der Schule

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Unterschiedliche Beziehungen in der Schule Als Lehrer einer Gesamtschule bin ich in die Dynamik der unterschiedlichsten Beziehungen involviert. Wenn es um die Arbeit als Klassenlehrer geht, arbeite ich in der Regel mit einer Kollegin, die auch Klassenlehrerin ist, eng zusammen. Sie ist die wichtigste Bezugsperson für mich. Gelingt die Kooperation, kann dies die tägliche Arbeit in hohem Maße erleichtern und kommt den Schülern zugute. Sie kann aber auch zu einem Alptraum werden, wenn beide Lehrer aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zusammen arbeiten können. Ein Austausch ist auch mit den Kollegen erforderlich, die unsere Schüler und Schülerinnen in den Fächern unterrichten, die nicht durch meine Kollegin und mich abgedeckt sind. Hier prallen häufig die unterschiedlichsten Ansichten, Haltungen und Interessen aufeinander. Es gilt, einen Weg im Interesse der Schüler zu finden. Ein weiteres Feld ist die Elternarbeit und die oft konflikthafte Beziehung zur Schulleitung. Die Beziehung zu den Schülern ist die Hauptaufgabe. Dabei hat man den einzelnen Schüler zu berücksichtigen und die Gruppe als Ganzes. Fokus meiner heutigen Ausführungen soll die Beziehungsarbeit mit dem einzelnen Schüler sein. Dabei werden die Beziehungen zu den Klassenkameraden, soweit erforderlich, mit reflektiert.

Ausgangslage und Problem Wenn ich als Klassenlehrer die Leitung einer Klasse übernehme, versuche ich, eine Beziehung zu den Schülern herzustellen, in der sie sich wahrgenommen, angenommen und wertgeschätzt fühlen. Dies bewirkt emotionale Sicherheit und Ermutigung, wichtigstes Prinzip in der individualpsychologischen Pädagogik. Dies ist natürlich zu Beginn eines 5. Schuljahres ganz besonders wichtig, weil die meisten Kinder durch den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule sehr verunsichert sind. Sie haben in unterschiedlichen Schulen unterschiedliche Erfahrungen gemacht und kennen sich meist nicht. Ermutigung und emotionale Sicherheit innerhalb einer Gruppe wird aber nicht nur durch ein Klima bewirkt, in dem sich Kinder vom Lehrer (und später von den Mitschülern) angenommen fühlen, son-

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dern auch durch Orientierung gebende, klare Regeln, die zusammen mit den Schülern besprochen, diskutiert und festgelegt werden. Ich bin als Lehrer anschließend in der Verantwortung, darauf zu achten, dass sie eingehalten und durchgesetzt werden und bei Missachtung angemessene Konsequenzen zur Folge haben. Ich bewege mich ständig in der Spannung zwischen den Aufgaben, mich einzufühlen und die Schüler zu verstehen einerseits und andererseits der gegenteiligen Aufgabe, mich zu verweigern, Grenzen zu ziehen und nein zu sagen. Wird das Verständnis überbetont und der Regelrahmen vernachlässigt, führt dies zwangsläufig zu Orientierungslosigkeit; das geht bis hin zu chaotischen Zuständen, wo Schüler sich an nichts mehr halten. Werden die Regeln überbetont und die Einfühlung, das Verständnis und die Annahme vernachlässigt, entsteht in der Gruppe eine zunächst ruhige, aber emotional distanzierte Atmosphäre, die auf Dauer zu mehr oder weniger offenem Widerstand führt, weil die Schüler sich nicht gesehen und wahrgenommen fühlen und spüren, dass sie nur funktionieren sollen. Für Adler besteht die wichtigste Aufgabe eines Erziehers bzw. »seine heilige Pflicht« darin, darauf zu achten, dass kein Kind in der Schule entmutigt wird und dass ein bereits entmutigtes Kind sein Selbstvertrauen wiedergewinnt. Ermutigung, so sie denn gelingt, führt zum Abbau von Ängsten und zu Gemeinschaftsbezogenheit des Kindes. Sie stärkt seine Bereitschaft, Einstellungen und Handlungsformen zu ändern (vgl. Benkmann, 1995). Wie aber eine verständnisvolle, annehmende und ermutigende Beziehung zu Schülern herstellen, wenn ich als Lehrer Gefühle habe, die genau diese Art der Beziehung erschweren oder vielleicht sogar unmöglich machen? Gefühle, die mich manchmal noch lange nach dem Unterricht beschäftigen, die mich quälen und nachts nicht schlafen lassen, die mich nicht selten bis in meine Träume verfolgen und die ich nicht einordnen und verstehen kann? Da gibt es zum Beispiel Schüler, die mich ärgerlich und gleichzeitig besorgt machen, weil sie ständig zu spät oder oft gar nicht in die Schule kommen; Kinder, die mich wütend machen, weil sie meinen sorgfältig vorbereiteten Unterricht immer wieder stören und dadurch seine Durchführung erschweren; Schüler, die mich verzweifeln lassen, weil sie nicht lernen oder verstehen, was

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ich ihnen schon zigmal erklärt habe oder die trotz vieler Gespräche mit ihnen und ihren Eltern kein Arbeitsmaterial dabei haben. Schüler, die mich zornig machen, weil sie Schülerinnen schlagen, erniedrigen oder sie sexuell belästigen oder Dinge behaupten, die nicht wahr sind; Schüler, die Rachegefühle in mir auslösen, weil sie Schwächere erpressen, bedrohen oder auf dem Schulweg zusammenschlagen und die einem hilflosen und viel jüngerem Mädchen eine brennende Zigarette im Gesicht ausdrücken. Ich denke aber auch an Schüler, denen ich mich aufgrund ihres Verhaltens so nah fühle, dass ich Schwierigkeiten habe, eine notwendige Distanz zu wahren, die mir so sehr ans Herz wachsen, dass ich zur Verwöhnung neige und dadurch ihre Verselbständigung erschwere oder den Neid der Mitschüler provoziere, die ich immer wieder ungewollt bevorzuge. Bei all diesen Schülern realisiere ich, dass es aufgrund der beteiligten Affekte schwerfällt, eine förderliche Beziehung zu gestalten. Wie aber gehe ich mit diesen Gefühlen um? Leugne ich sie oder spreche nicht darüber, wie das üblicherweise in Schule der Fall ist? Oder bearbeite ich sie in der außerschulischen Supervision, damit sie im Umgang mit den Schülern nicht weiter »stören«? Oder habe ich das Glück, an einer Schule zu arbeiten, wo der offene Umgang mit diesen Gefühlen zum Beispiel in der kollegialen Fallbesprechung gewünscht und institutionalisiert ist? Oder kann ich sie nutzen im Kontakt zu den Schülern? Der Gegenstand meiner heutigen Ausführungen ist die Frage, wie eine psychoanalytisch orientierte Pädagogik dem Lehrer helfen kann, diese Gefühle zu integrieren. Und wie es ihm möglich ist, möglichst viel von dem Kind zu verstehen, das diese Gefühle bei ihm auslöst und der entstehenden Beziehung zu ihm. Psychoanalyse im pädagogischen Zusammenhang ist für mich in erster Linie eine Verstehenslehre. Unverstandenes zu verstehen und zu integrieren habe ich immer als große Erleichterung erlebt.

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Grundannahmen zur psychodynamischen Beziehungsarbeit in der Schule Übertragung und Gegenübertragung Um das interaktive Geschehen zwischen Lehrer und Schüler zu erfassen, gehe ich von folgenden Grundannahmen aus: Zwischen Menschen entfaltet sich eine Wirkungseinheit, die sich aus einem ständigen Wechsel von Übertragung und Gegenübertragung konstituiert. Übertragung stellt sich in allen Beziehungen ein. Ich betrachte sie als ein universales Streben und als Ausdruck des lebensstiltypischen Gestaltungsprinzips, das sich aus früheren Erfahrungen herauskristallisiert. Dieses Gestaltungsprinzip ist ein bestimmtes Muster oder eine bestimmte Strategie, Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten. Bezogen auf Schule bedeutet dies, dass der Schüler zum Lehrer eine Beziehung wiederherzustellen versucht, die positive, aber auch kränkende oder traumatische Erfahrungen aus seinen frühen Beziehungen widerspiegelt. »Gerade wenn er sich dessen nicht bewusst ist, gestaltet der Mensch seine Interaktion nach dem Muster seiner frühen Beziehungserfahrungen, besonders der unbewältigten. Es drängt ihn stets, anderen auf versteckte Weise sein Leiden mitzuteilen, es ihnen in der emotionalen Beziehung aufzubürden oder sie zu dessen Überwindung zu verwenden« (Leber, 1985, S.155). Der Schüler benötigt diese Form der Beziehung. Es ist sein ganz individueller Versuch, notdürftig elementare Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Nähe und Selbstbestimmung zu befriedigen und sein Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Adler spricht in diesem Zusammenhang auch vom Bewegungsgesetz eines Individuums. Die Bewegungen werden dabei immer von einer subjektiv erlebten Mangellage bzw. einem Minus zu einem subjektiv erlebten Plus streben. Die Gegenübertragung wird von Kernberg »als die gesamte emotionale Reaktion des Psychoanalytikers auf den Patienten« (Kernberg, 1978, S. 157) verstanden. Ich verstehe sie als Kompromissbildung zwischen eigenen Übertragungsstrebungen und der mehr oder weniger kontrollierten Übernahme der Rolle, die ihm sein Gegenüber aufdrängt. Es geht für den analytisch geschulten Lehrer darum, die eigenen Gefühlsreaktionen zu reflektieren, um zu verstehen, was der

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Schüler ihm in der Gegenübertragung unbewusst entgegenbringt. Meine Selbstwahrnehmung wird somit zum Medium des Fremdverständnisses. Anders ausgedrückt: Ich nutze meine Gefühle, um den Schüler besser zu verstehen (vgl. auch Sandler, 1976). Es handelt sich um eine Kompromissbildung, weil nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer eigene Übertragungsanteile in die Beziehung einfließen lässt. Dabei ist es zunächst unerheblich, wie viel Supervision und Lehranalysestunden er absolviert hat. Es geschieht, ob er will oder nicht. Je stärker der Schüler aber belastet ist und je weniger der Lehrer versteht, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Schüler beim Lehrer eigene unverarbeitete Stellen berührt, die bei diesem Angst auslösen und abgewehrt werden müssen. Die entstehenden Affekte werden immer heftiger und der eskalierende Teufelskreis ist für alle Beteiligten belastend und krankmachend, solange er nicht verstanden wird. Bei der Reflexion eigener lebensstiltypischer Anteile an den Reaktionen seiner Schüler lässt sich der Lehrer deshalb von der Frage leiten: Was an den Reaktionen meiner Schüler ist Gegenübertragung auf meine eigene unbewusste Inszenierung, das heißt auf meine Ängste, Wünsche und Sicherungen? (vgl. Heisterkamp, 2002). In diesem Zusammenhang weist Leber (1985, S. 155/156) darauf hin, dass der Lehrer in die Versuchung geraten kann, seine Schüler in dreifacher Weise für sich zu verwenden: 1. Er wird dem »Kind vor ihm« das antun, was er einst selbst erlitt. 2. Er wird die Rolle von Vater oder Mutter, wie er sie sich gewünscht hätte, übernehmen und dem »armen« Kind alles zuteil werden lassen, was er selbst vermisste. 3. Er kann sich ganz großartig geben und das Kind an seiner Größe teilnehmen lassen. Ich möchte hierzu auch auf Reimer und Heisterkamp hinweisen, die die in Schule gemachten Beziehungserfahrungen zukünftiger Lehrer untersucht haben. Ausgehend von der These, dass spontan abgerufene Schulerinnerungen die unbewusste Dimension der Lehrer-SchülerBeziehung symbolisieren, konnte Heisterkamp (1975) nachweisen, dass sich in Schule typische Beziehungsformen entwickeln. Auf der Grundlage von ca. 900 bei Lehramtsstudenten erhobenen Schulerinnerungen konnte er zeigen, dass die Sozialisationsinstanz Schule

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im vor- und unbewussten Erleben künftiger Lehrer zu etwa 80 % als Ort der »Unterdrückung, Demütigung und Reglementierung« und nur zu 20 % als Ort der »Anerkennung, Zuwendung und Verständigung« erinnert wird. (Heisterkamp, 1975; zit. nach Reimer, 2006, S. 4). Reimer (2006) findet in einer weiteren Untersuchung, in der Schulerinnerungen von 2700 Lehramtsstudenten erhoben wurden, unter anderem heraus, dass es sich zu über 70% um Erinnerungen an Beziehungsepisoden mit einzelnen Lehrern handelt. Der hohe Anteil der spontan abgerufenen Erinnerungen an unterdrückende, demütigende, reglementierende und isolierende Erfahrungen in der Schule verweist ihrer Ansicht nach »auf eine kollektiv geteilte – teilweise auch wissenschaftlich legitimierte – Übereinkunft darüber, dass auf das heranwachsende unwillige Kind einzuwirken sei, um vorgeblich effektive Lernerfolge zu erreichen« (Reimer, 2006, S. 386). Bei der »erfolgreichen« Anpassung ans System werden, so Reimer weiter, die beschämenden und demütigenden Erfahrungen unterdrückt und dem Bewusstsein ferngehalten. Später werden diese Lehrer diese Mechanismen in der Beziehung zu den Schülern unbewusst wiederholen und selbst beschämen und demütigen, ohne die selbst erlittenen Demütigungen damit in einen Zusammenhang bringen zu können. Die durch sie selbst produzierten seelischen Verletzungen bleiben ihnen verborgen. Und eigene Störungen, die aus den chronisch erlittenen Entmutigungen und Beschämungen hervorgehen, gelangen damit nicht ins Blickfeld. Es gilt, die Wirkungseinheit zwischen Lehrer und Schüler, die sich im schulischen Rahmen aktuell inszeniert, es gilt, die »Verstrickungen«, in die wir zwangsläufig besonders mit »verhaltensauffälligen« Schülern geraten, zunächst einmal besser zu verstehen, um in einem zweiten Schritt entwicklungsförderliche Antworten auf das Verhalten des Schülers zu finden.

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Der fördernde Dialog Hierzu möchte ich ein Modell von Leber vorstellen, das mir in meiner Arbeit geholfen hat, das sich entwickelnde interaktive Geschehen zwischen Lehrer und Schüler besser zu verstehen. Leber nennt dieses Modell »Der fördernde Dialog« (1988; zit. nach Heinemann, 1992, S. 42). Dieser »fördernde Dialog« ist ein unbewusster Dialog.

Abbildung 1: Der fördernde Dialog (in Anlehnung an Leber, 1988; Heinemann et al., 1992, S.42)

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Leber geht davon aus, dass der Schüler den Lehrer in Situationen verstrickt. Dies sind entweder »erlebte« oder »ersehnte« Szenen. In diesen Szenen werden unbewältigte Ängste oder Konflikte reproduziert. Oder es handelt sich um Szenen, in denen die Sehnsucht des Schülers deutlich wird, kränkende Erfahrungen zu überwinden und endlich auf jemanden zu treffen, mit dem er neue und befriedigendere Beziehungserfahrungen macht (Übertragung). Dabei wird der Lehrer vom Schüler unbewusst zur Übernahme von Gefühlen und oder zu Reaktionen gedrängt, die unbewältigte Erfahrungen repräsentieren (Gegenübertragung). So fühlt der Lehrer zum Beispiel, wie das Kind sich früher fühlte, oder er empfindet, wie die erlebte oder ersehnte Bezugsperson reagiert hat und reagiert ähnlich wie sie. Möglich ist auch, dass der Schüler sich so verhält, dass der Lehrer im Kontakt spürt, was mit dem Kind früher gemacht wurde. Psychoanalytiker sprechen in dem Zusammenhang von konkordanter oder komplementärer Übertragung und Gegenübertragung oder auch von projektiver Identifikation (vgl. Thomä u. Kächele, 1992, S.101 ff.). Es gilt, die entstehenden Szenen, die sich meist in für den Schüler konfliktträchtigen Situationen entwickeln, zu verstehen. In der Selbstreflexion versucht er, das Wirrwarr der unterschiedlichen Gefühle zu entflechten. Denn zu den Gefühlen, die der Schüler ihm aufdrängt, gibt es auch eigene Gefühle, die ausgelöst werden und mit seiner eigenen Geschichte zu tun haben. Dies gilt es zu unterscheiden. Es ist nach Möglichkeit auch mit zu reflektieren, was an der Übertragung durchaus realistisch und was Gegenübertragung auf seine Übertragung ist. Das Verstehen ermöglicht dem Lehrer, nicht immer wieder so zu reagieren, wie es der Schüler provoziert, sondern »Antworten« zu geben, die dem Schüler neue Erfahrungen ermöglichen. Mit »Antwort« meint Leber die Reaktion des Lehrers auf den Schüler. Bei der »Antwort« wahrt der Lehrer eine Balance zwischen Entwicklungsbedürfnissen des Schülers, seinen eigenen Bedürfnissen und den Rahmenbedingungen der Schule. Die »Antwort« des Lehrers auf das unbewusste Beziehungsangebot des Schülers besteht aus dem »dialektischen Verhältnis aus Halten und Zumuten«. Das haltende und empathische Beziehungsangebot des Lehrers ist wichtig, damit der Schüler eine entsprechende (Selbst-)

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Sicherheit in der Beziehung zu ihm findet. Nur dies ermöglicht die Entwicklung einer Beziehung, in der dem Schüler auch etwas zugemutet werden kann. Beim Zumuten gilt es abzuschätzen, was der Schüler von den ihm gegebenen Rückmeldungen verwerten kann. Anders ausgedrückt: es ist wichtig abschätzen, was sinnvoll in die Beziehung mit eingebracht werden kann. Zumuten kann dann bedeuten, dass der Lehrer sich dem provozierten Verhalten verweigert, dass der Lehrer eine Deutung ausspricht, die die aktuelle Beziehung betrifft und den Realitätsbezug verbessert (zum Beispiel konfrontiert er den Schüler damit, was sein Verhalten in der Beziehung zum Lehrer auslöst oder bewirkt), dass der Lehrer den Schüler mit den sachlichen Anforderungen der Realität konfrontiert und dass er Gelegenheit zur Wiedergutmachung gibt. Dabei ist es wichtig, als reale Person mit eigenen Gefühlen und eigener Betroffenheit sichtbar und spürbar zu werden.

Fallbeispiel Der Schüler Paul Die Dynamik im fördernden Dialog möchte ich im Folgenden an einem Schüler demonstrieren. Es handelt sich um Paul. Er ist zehn Jahre alt und besucht die 5. Klasse einer Gesamtschule. Ich bin sein Klassenlehrer. In dieser Zeit führe ich die Klasse allein. Paul ist mindestens zwanzig Zentimeter größer als alle anderen Schüler, sehr dick und trägt meistens eine tief ins Gesicht gezogene Kappe. Unter der Kappe befindet sich ein übergroßer und nahezu kugelrunder Kopf. Er trägt eine große rechteckige dunkle Hornbrille, hat blondes kurzgeschnittenes Haar und wirkt wie ein übergroßes, sich etwas unbeholfen bewegendes dickes Baby. Schon in den ersten Tagen nach Schulbeginn zieht er meine Aufmerksamkeit auf sich. 1. Szene: Im Englischunterricht fällt Paul durch sehr gute Leistungen auf. Seine mündlichen Leistungen sind überragend. Er liest gut, hat eine sehr gute Aussprache. Wochenplanaufgaben werden sorgfältig erledigt, schriftliche Lernzielkontrollen schreibt er grundsätzlich »sehr gut«. Ich bin begeistert von ihm. Ich lobe ihn oft und schreibe positive Kommentare unter seine Tests. Er scheint dies zu genießen. Ich selbst bin stolz und fühle mich als fähiger und kompetenter Pädagoge. Paul vermittelt mir das Gefühl, ein toller Lehrer zu sein.

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2. Szene: Als ich den Schülern mitteile, dass ich ein Aquarium besäße und mit ihnen besprechen wolle, ob wir dieses Aquarium in unserer Klasse aufstellen und einrichten wollen, gibt es ein begeistertes Ja. In den anschließenden Gesprächen geht es darum, die Organisation der Pflege des Beckens und der Fische festzulegen. Paul ist dabei äußerst hilfsbereit. Er will Futter besorgen, regelmäßig füttern und sagt mir bei allen regelmäßig anstehenden Reinigungsund Pflegearbeiten seine Unterstützung zu. Das Aquarium bietet in den ersten Wochen und auch später immer wieder Anlass für Paul, auf mich zuzugehen. Ich fühle mich unterstützt und entlastet und bin froh, eine kompetente Hilfe zu haben. Ich bin froh, dass er da ist. Mit seiner Hilfe, so meine Phantasie, wird das Aquarium kein großes Problem sein und könnte zur Motivation bei den anderen Schülern beitragen. In diesen beiden Szenen bewirkt Paul durch seine besonderen Anstrengungen und Bemühungen Sympathie bei mir.

Der rote Faden, an dem sich der Lehrer entlanghangelt, wenn er versucht zu verstehen, was der Schüler ihm unbewusst mitteilen will, ist sein Gegenübertragungsgefühl. In der komplementären Gegenübertragung zu Paul spiegelt mein positives Gefühl das seiner Bezugspersonen. Ich vermute, dass sie sich genauso an dem Jungen erfreuen und begeistert sind über seine Anstrengungs- und Hilfsbereitschaft, wie ich es bin. In der Reflexion wird mir deutlicher, dass der Schüler schon früh gelernt zu haben scheint, die offensichtlichen oder auch vermuteten Bedürfnisse seiner Bezugspersonen zu erspüren und ihnen zu entsprechen. Dadurch sichert er sich ihre Wertschätzung, Akzeptanz und Nähe. Mir wird klarer, dass auch ich durch mein Verhalten diese Eigenart fördere und mich darüber freue. Ob er dabei eigene Bedürfnisse, ähnlich wie ein überangepasstes Kind, immer hintanstellt, gilt es herauszufinden. Dass er durchaus nicht selbstlos handelt, zeigt die nächste Szene. 3. Szene: Ich arbeite in dieser Zeit auch als Beratungslehrer. Es besteht die Möglichkeit, dass Schüler mich in den Pausen aufsuchen, um mich kennenzulernen oder zu besprechen, was sie bedrückt, oder einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Paul nutzt diese Möglichkeit und sucht mich in dieser Zeit häufig auf. So kommt er kurz in den Fünf-Minuten-Pausen in mein Zimmer, um mich etwas zum Aquarium zu fragen oder mir etwas mitzuteilen. Auch in der Frühstücks- und Mittagspause sucht er meine Nähe. Er möchte nicht zu den anderen Schülern gehen, sondern bei mir und mit mir die Pausen verbringen. Ich freue mich darüber, zeigt es doch, dass er sich von mir angenommen fühlt. Andererseits frage ich mich, ob das Zusammensein mit anderen Schülern in den Pausen für ihn beängstigend ist und ich ihn vor einer unangenehmen Si-

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tuation beschützen soll. Trotz meiner Bedenken lasse ihn öfter bei mir bleiben. Wir unterhalten uns angeregt über die geplante Einrichtung des Aquariums und viele andere Dinge. Paul gibt mir das Gefühl, dass ich wichtig bin und dass er mich braucht. Ich genieße das Zusammensein mit diesem intelligenten Jungen zunächst sehr und gebe seinem Bitten gerne nach.

Hat Paul zuvor sehr sensibel erkannt, dass ich mich über seine Unterstützung freue und sie bereitwillig gewähre, so bittet er nun um meine Unterstützung. Obwohl ich bereits früh spüre, dass er damit eine unangenehme Situation vermeidet, nämlich die Pause mit den Gleichaltrigen zu verbringen, lasse ich mich auf seine Bitte ein und übernehme damit die von ihm gewünschte Beschützerrolle. Als jemand, der sich als Kind selbst häufig ohnmächtig und alleingelassen fühlte, bin ich bei solch einem Wunsch leicht verführbar. Ich verstehe nur allzu gut, wenn Kinder sich nach einer väterlichen Person sehnen, die ihnen hilfreich zur Seite steht. Und allzu gerne verstehe ich mich als Beschützer meiner Schüler. Beim Versuch, den Schüler zu verstehen, ist es allerdings notwendig, eigene Gefühle und Motive von denen des Schülers zu unterscheiden. Siegfried Bernfeld (1925; zit. nach Leber, 1985, S. 155) weist darauf hin, dass der Erzieher vor zwei Kindern steht, »dem zu erziehenden vor ihm und dem verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders als jenes zu behandeln wie er dieses erlebte«. Mit der Zeit beginne ich, mich unwohl zu fühlen. Die Freude, mit ihm zusammen zu sein, weicht dem Gefühl, vereinnahmt zu werden. Zudem beginnen einige seiner Mitschüler ähnliche Ansprüche und Wünsche zu formulieren.

Durch die Übernahme der ersehnten Beschützerrolle bildet sich eine Wirkungseinheit zwischen ihm und mir heraus, die gekennzeichnet ist von gegenseitiger Versorgung. Er unterstützt mich beim Aquarium und entspricht unbewusst meinem Wunsch nach einem leistungsorientierten Schüler und ich erlaube ihm, die Pausen mit mir zu verbringen. Pauls Ängste werden dabei beschwichtigt. Meine narzisstischen Bedürfnisse werden bedient. Er stellt die Nähe zu einem Erwachsenen her und vermeidet die unangenehme Situation, mit seinen Klassenkameraden zusammen zu sein. Dieses Arrangement hat seinen Preis. Paul bleibt klein und abhängig von meiner Zuwendung. Ich selbst fühle mich eingeengt. Ich kann meinen Aufgaben und Bedürfnissen

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nicht mehr nachgehen. In meinen Reaktionen und Gegenübertragungsgefühlen spiegeln sich vermutlich Pauls Beziehungserfahrungen. In einem Gespräch erläutere ich Paul vorsichtig mein Problem. Ich müsse in den Pausen oft andere Dinge erledigen, andere Schüler wollten mich sprechen und dann würde ich die Zeit auch zur eigenen Erholung benötigen. Als ich ihm schließlich erkläre, dass ich seinem Wunsch, mit mir die Pausen zu verbringen, nicht weiter nachkommen könne, habe ich das Gefühl, ihm etwas Schlimmes zuzumuten. Seine Enttäuschung verursacht in mir Schuldgefühle. Dies verstehe ich als Hinweis auf meine eigene Abgrenzungsproblematik. Ich vermute, dass es aber auch Paul und seinen Bezugspersonen schwerfällt, sich gegenseitigen Vereinnahmungen zu entziehen. Hierzu weist Leber in seinem Konzept »Der fördernde Dialog« daraufhin, dass der Lehrer bei der »Antwort« auf das Beziehungsangebot des Schülers eine Balance zwischen den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes und seinen eigenen Bedürfnissen wahren soll. Ich mute Paul eine ihn ängstigende Situation zu, signalisiere andererseits aber auch Vertrauen in ihn, dass er sie bewältigen wird. Das Loslassen gibt ihm die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und mir die Möglichkeit, meinen anderen Aufgaben und meinen Bedürfnissen nach Entspannung nachzugehen. Im Verlauf des ersten Schulhalbjahres werden weitere Aspekte meiner Beziehung zu Paul deutlich. Am Beispiel einer Szene aus dem Sportunterricht möchte ich verdeutlichen, wie sich eine erlebte Enttäuschung in Paul entwickelt und zu generalisieren droht. Zur Entwicklung einer Enttäuschung: Bei Wettkampfspielen ist Paul besonders motiviert. So jagt er mit hochrotem Kopf dem Ball hinterher. Aufgrund seiner bereits erwähnten Größe und Körperfülle fällt es ihm allerdings schwer, plötzliche Richtungsänderungen vorzunehmen. Einmal in Fahrt gekommen, kann er nicht mehr stoppen oder einen Bogen laufen. Wie eine Dampfwalze läuft er dann alles, was ihm im Weg steht, über den Haufen oder er rempelt andere Schüler an, die schreiend zu Boden gehen. In einer Situation muss ich aus diesem Grund ein Foulspiel gegen ihn pfeifen. Unglücklicherweise führt dies dann auch noch zu einem Gegentor. Paul gerät außer sich. Voller Wut tritt er gegen die Matten, die Bank, Wände und Türen und tut sich dabei ein ums andere Mal heftig weh. Seine Mitschüler äußern Kritik, weil er aus dem Feld geht. Dann wird es noch schlimmer. Entweder er geht voller Wut auf sie los, beschimpft sie lauthals oder aber er schlägt auf sich selbst ein und beginnt dann zu wei-

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nen. Einige Mitschüler äußern Mitgefühl, bagatellisieren sein ungeschicktes Verhalten und fordern ihn auf, wieder mitzumachen. Andere provozieren ihn, was ihn zusätzlich reizt. Dies versuche ich zu unterbinden, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Auch meine Versuche, ihn zu trösten und ihn zum Mitmachen zu bewegen, prallen wirkungslos von ihm ab. Er ist zu keiner weiteren Teilnahme am Sportunterricht zu bewegen. Eine undurchdringliche Mauer scheint um ihn herum zu entstehen. Er reagiert auf nichts. Nichts und niemand kann zu ihm vordringen. Schließlich wenden wir uns von ihm ab. Der Unterricht wird ohne ihn weitergeführt. Diese Situationen wiederholen sich. Ich selbst fühle mich in der Gegenübertragung einerseits besorgt, andererseits auch zunehmend ärgerlich auf Paul, weil ich hilflos und ohnmächtig ertragen muss, dass er sich nicht helfen lässt und die Situation bestimmt. Zunehmend spüre ich den Impuls, ihn zwingen zu wollen.

Die Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht intensivieren sich in den folgenden Wochen und die Situation von Paul spitzt sich zu. Ich unterrichte vier Stunden pro Woche, in denen die Schüler ihre Hausaufgaben erledigen. Paul stellt kurz vor den Herbstferien sein Arbeiten völlig ein. Meine Versuche, ihn zum Arbeiten zu bewegen, verpuffen wirkungslos. Ähnliches berichtet der Mathematiklehrer. Auch dort hat Paul das Arbeiten eingestellt. Gespräche mit ihm haben dort genauso wenig genutzt wie Zwangsmaßnahmen. Der Mathematiklehrer hat Paul mitgeteilt, er werde seine Eltern einschalten, hat ihn gezwungen, nachzuarbeiten und Sonderarbeiten anfertigen lassen. All dies hat nichts genutzt und nichts an Pauls Verweigerung geändert. In der Reflexion wird mir immer deutlicher, dass Pauls Verhalten einen Herausforderungszirkel in Gang setzt, in dem er zunehmend fremdbestimmt wird. Meine Ohnmachtsgefühle deuten darauf hin, dass Paul in einer Situation lebt oder gelebt hat, in der seine Autonomieentwicklung stark behindert worden ist. In der Schule werden seine ausgeprägten Selbstbestimmungstendenzen zu ständigen Machtkämpfen mit den Lehrern führen, so meine Sorge.

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Pauls Eltern Nach den Herbstferien kommen Pauls Eltern ohne Paul zum Elternsprechtag. Ich bin gespannt auf die Begegnung. Wir haben nur etwa 15 Minuten Zeit. Ich erfahre, dass die Mutter nicht seine leibliche Mutter ist. Seine Eltern hatten sich getrennt und Frau W. ist seit einigen Jahren die Lebensgefährtin von Pauls Vater. Beide äußern ihre Überraschung darüber, dass sie noch keine Beschwerden über Paul gehört haben. Im Gegenteil, sie hätten den Eindruck, er gehe sogar ganz gerne in die Schule. Ich ergänze, dass er auch ansprechende Leistungen bringe. Sie berichten, dass Paul in der Grundschule viele Probleme hatte. Er habe nicht gelernt und gearbeitet, sich meistens verweigert und war nur dann zur Mitarbeit zu bewegen, wenn er mit dem Rektor der Schule konfrontiert wurde. Diesem Mann gelang es dann zumindest kurzfristig, Paul zum Arbeiten zu bewegen. Was er konkret gemacht hatte, konnten oder wollten seine Eltern mir nicht mitteilen. Sein Vater deutet in dem Zusammenhang an, dass ich ihn ruhig schlagen könnte, wenn es Probleme gäbe und Paul unverschämt werden würde. Ich frage ihn, ob er dies manchmal tue. Der Vater bestätigt das. Er habe ihn häufiger geschlagen – bei Paul ginge es manchmal eben nicht anders. Ich gebe zu verstehen, dass ich das nicht für sinnvoll halte. Ich hätte den Eindruck, dass man mit Zwang oder Gewalt bei Paul auch nichts erreichen könne. Das bestätigt der Vater. Was den Vater sehr bedrückt, ist die Tatsache, dass Paul keine Freunde hat. Er sei nie vor die Türe gegangen, habe sich zu Hause in seinem Zimmer aufgehalten und sehr viele Bücher gelesen. Seine Stiefmutter, eine ehemalige Leistungssportlerin, schimpft im Laufe des Gespräches immer heftiger über Paul. Es scheint nichts an ihm zu geben, was sie wertschätzt oder mag. Sie werde alles daransetzen, dass der Junge anders wird, wörtlich sagt sie, sie wolle ihn brechen. Er sei von seiner Mutter sehr verwöhnt worden. Deshalb sei er auch so dick. Sie trägt mir auf, mich nicht so viel mit ihm zu beschäftigen. Mein Hinweis, dass er einige Male die Pausen mit oder bei mir verbracht hat, regt sie völlig auf. Ich solle ihn stattdessen auf den Hof schicken, damit er andere Kinder kennenlernt und Freunde findet.

Ich bin von der Heftigkeit dieser Begegnung sehr überrascht und hatte nicht erwartet, dass Paul unter solch einem Druck lebt. Auch ich fühle mich von der Stiefmutter heftigst unter Druck gesetzt und bin wie vor den Kopf geschlagen, als ich höre, dass sie ihn »brechen« will, und der Vater mich schon fast auffordert, seinen Sohn zu schlagen. Wie groß muss die Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut der Eltern über ihren »missratenen« Sohn sein, wenn sie zu solchen Gewaltmaßnah-

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men greifen und mir dazu raten. In der komplementären Gegenübertragungsreaktion auf Pauls Verhalten kann ich ihre Gefühle erahnen. Andererseits werden mir aber auch Pauls Ohnmachtsgefühle und seine kompensatorischen Selbstbestimmungstendenzen nachvollziehbarer. Sich in sich selbst zurückziehen, sich unerreichbar und unempfindlich machen, scheint mir in dieser Familie überlebensnotwendig. Nur so können die seelischen und vermutlich auch körperlichen Schmerzen ertragen werden. Es gelingt mir dennoch, gegen den Redeschwall der Stiefmutter einige positive Seiten (großes Allgemeinwissen durch das viele Lesen; Hilfsbereitschaft; Leistungsstärke) herauszustellen und von angenehmen Erfahrungen mit Paul zu berichten. Besonders der Vater scheint dadurch entlastet. Ich bitte den Vater und die Stiefmutter zu überlegen, ob es nicht möglich sei, an bestimmten Stellen Druck wegzunehmen. Vorrangiges Ziel sei für mich, dass Paul Freunde findet, in die Tischgruppe integriert und in die Klasse aufgenommen wird und sich zugehörig fühlt. Mehr ist in der fünfzehnminütigen Sprechzeit nicht zu besprechen. In der Folgezeit gelingt es mir, die Beziehung zum Vater zu intensivieren. Wir treffen uns einmal im Monat nach dem Unterricht. Der Vater leidet sehr darunter, dass sein Sohn sozial so isoliert ist. Schläge werden als Lösung auch von ihm nicht für sinnvoll erachtet. In den Gesprächen mit ihm geht es darum, wie er die sinnlosen Machtkämpfe, die Ohnmachtsgefühle und Aggressionen bei seinem Sohn bewirken, vermeiden, wie er die Beziehung zu ihm stärken kann und wie er sich seiner neuen Partnerin gegenüber abgrenzen und ihr vermitteln kann, wie wenig hilfreich es ist, Paul »zu brechen«.

Paul und seine Klassenkameraden Mit Sorge registriere ich auch, dass Paul innerhalb weniger Wochen nahezu alle Schüler gegen sich aufgebracht hat und mit vielen von ihnen ständige Auseinandersetzungen führt. Sie fühlen sich gestört durch seine Aktionen im Unterricht. Ständig fühlt er sich zu Unrecht wegen etwas beschuldigt, abgewertet oder nicht ernst genommen. Auf Neckereien, die zu Beginn des 5. Schuljahres ständig Thema sind zwi-

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schen den Schülern, die sich kennenlernen, reagiert er mit Brüllen und entsprechenden Drohgebärden, die einige seiner Mitschüler in Angst und Schrecken versetzen. Seine Explosionen (Brüllen, Tische und Stühle umschmeißen und gegen sie treten, anderen hinterherlaufen und sie mit üblen Schimpfwörtern beleidigen) führen immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Die Tatsache, dass auch geringste Anlässe zu völlig überzogenen Reaktionen führen, bewirkt, dass Pauls Klassenkameraden ihn immer wieder provozieren, um sich dann anschließend über seine Reaktion zu amüsieren oder sich zu beschweren. Der Schüler sorgt dafür, dass er permanent im Mittelpunkt des Interesses steht. Allerdings erfährt er über die Reaktionen seiner Mitschüler immer wieder Ablehnung. Dies verstärkt seine Empfindlichkeit und reproduziert dadurch immer heftigere, leider vergebliche Versuche, diese Ablehnung zu überwinden. Paul wird bereits nach wenigen Wochen nicht mehr ernst genommen. Diejenigen, die ihn nicht provozieren, wenden sich ab. Es entsteht eine chaotische Situation, in der ein Großteil der Klasse mit Paul im Clinch liegt. Freundliche Bitten, ihn nicht zu provozieren, führen zu nichts. Jeden Tag gibt es neue Vorfälle. In meiner Hilflosigkeit gerate ich immer wieder in die Rolle, Paul gegen die besonders penetranten Attacken einiger seiner Mitschüler zu schützen, indem ich ihnen mit Konsequenzen drohe, wenn sie ihre massiven Provokationen nicht einstellen würden. Durch die Reflexion dieser Szenen wird mir die Dynamik deutlicher. Die Klassenkameraden fühlen sich vermutlich zurückgesetzt, wenn ich mich immer wieder schützend vor Paul stelle und damit gegen sie. Meine Ablehnung der anderen verursacht Enttäuschung, Wut und Ärger bei ihnen. Die Aggressionen richten sich aber nicht gegen mich, sondern gegen den »bevorzugten« Schüler. Dies wiederum erlebt Paul als Ablehnung. Meine Gegenübertragungsreaktion stabilisiert das Fortbestehen des Teufelskreises. Langsam erschließt sich mir im Durcheinander des äußerlichen Chaos und meiner unterschiedlichen Gefühle Pauls Not. Seine Ablehnungsängste produzieren immer wieder Situationen, die seine Befürchtungen bestätigen. Er scheint sich nicht vorstellen zu können, dass andere Kinder ihn mögen, andererseits sehnt er sich danach, respektiert zu werden und strengt sich sehr an, um dazuzugehören.

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Wenn er im Vergleich zu seinen Klassenkameraden Dinge allerdings nicht so gut kann, grenzt er sich selbst aus oder wird aggressiv gegen andere oder sich selbst. Ich vermute, dass er dem befürchteten Ausschluss oder Ablehnung durch die Gruppe oder einzelner damit zuvor kommen will. Mir wird immer klarer, dass ich Pauls Situation auf Dauer nicht verbessere, wenn ich immer meine schützende Hand über ihn halte. Andererseits ist der Schüler überfordert und benötigt Unterstützung.

Antworten Nach Leber (1988) besteht die »Antwort« des Pädagogen aus dem dialektischen Verhältnis von »Halten und Zumuten«. Ein haltendes Beziehungsangebot des Lehrers sieht er als Grundlage für eine Beziehung, in der dem Schüler auch Versagung zugemutet wird. Wie bereits erwähnt, gilt es dabei abzuschätzen, was der Lehrer sinnvoll in die Beziehung mit einbringen kann. Es ist deutlich, dass Paul sich alleine fühlt und sich danach sehnt, dass die Klassenkameraden ihn aufnehmen, ihn respektieren, ihn mögen. Andererseits hat er auch Angst vor Kontakt und der Möglichkeit der Zurückweisung. Mein vorrangiges Ziel besteht darin, Paul in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Wie aber kann ich ihm dabei helfen? Wie kann ich verständnisvoll, annehmend und anerkennend mit ihm umgehen, wie kann ich ihn stärken, wenn er immer wieder aufs Neue Mitschüler gegen sich aufbringt und auch ich zunehmend ärgerlicher werde. Gemeinsame Gespräche mit den Klassenkameraden zeigen keinerlei Wirkung. Andere Mitschüler äußern, sie hätten Angst, von Paul geschlagen zu werden, wenn er wütend werde. Die Fachlehrer fordern die Auflösung der Tischgruppe und die Entfernung von Paul aus dem Unterricht. Einige Kollegen empfehlen die Förderschule. Als die Situation weiter eskaliert, führt ein Gespräch weiter.

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Einzelgespräch In dem Gespräch nach dem Unterricht konfrontiere ich Paul mit den eskalierenden Schwierigkeiten in der Klasse. Ich beschreibe die ablehnende Wirkung seines Verhaltens auf Schüler und Lehrer. Viele Schüler würden ihn nicht mehr ernst nehmen und sich nur noch über seine Wutanfälle lustig machen. Ich teile ihm mit, dass ich mich sehr hilflos fühle und sich aus meiner Sicht nichts verändern lasse, wenn er nicht die Bereitschaft hätte mitzuhelfen. Ich würde ihm gerne helfen, seine Schwierigkeiten zu überwinden, wisse aber nicht wie. Er habe einen guten Anfang an unserer Schule gemacht, mittlerweile befürchtete ich aber, dass sich eine Situation wie in der Grundschule einstellen werde, wo er keine Freunde hatte. Mit Tränen in den Augen und schluchzender Stimme erklärt er, dass er schon immer große Schwierigkeiten gehabt habe, sich in Auseinandersetzungen zu kontrollieren. Auf den Sportunterricht angesprochen erklärt er, wie schlimm es für ihn sei, nicht so gut zu sein wie die anderen. »Ich bin halt so dick und kann mich nicht so schnell wie die anderen bewegen«, sagt er mit tränenerstickter Stimme. Ich entgegne darauf, dass ich seine sportlichen Leistungen gar nicht so negativ einschätzen würde wie er. Er sei so gut wie viele andere und würde gar nicht auffallen, wenn er nicht immer so wütend werden würde. Vorsichtig spreche ich seine häusliche Situation an. Er möchte nicht darüber sprechen. Stattdessen sprechen wir über seine hohen Ansprüche an sich und über seinen Wunsch, Freunde zu finden. Er möchte nicht immer alleine sein. Er wolle sich in Zukunft bemühen, nicht immer so aus der Haut zu fahren. Als wir später plaudernd das Schulgelände verlassen, äußert er den Wunsch, von mir nach Hause gefahren zu werden. Ich lehne freundlich, aber bestimmt ab. Er akzeptiert diese Ablehnung kommentarlos und winkt mir noch einmal zum Abschied zu, als ich mit dem Auto den Schulparkplatz verlasse.

Ich habe nach diesem Gespräch das Gefühl, ihn erreicht zu haben. Das freut und stimmt mich hoffnungsvoll. Mir war es wichtig, ihn mit seinem Problem anzunehmen, aber auch als reale Person mit eigenen Gefühlen und eigener Betroffenheit sichtbar und spürbar zu werden. Nach Wochen der Unterstützung konfrontiere ich Paul vorsichtig mit den Wirkungen, die sein Verhalten in der Beziehung zu mir und zu anderen auslöst. Er ist berührt und zum ersten Mal spricht er über seine Ängste und sein Unzulänglichkeitsgefühl, äußert den Wunsch, Freunde zu finden und zeigt sich kooperationsbereit. Mein Hinweis zu seinen überhöhten Ansprüchen und dass er ein durchschnittlich guter Sportler ist, hat ihn entlastet. Die vermuteten hohen Erwartungen seiner Stiefmutter, einer ehemaligen Leistungs-

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sportlerin, an ihn und ihren Wunsch, ihn grundlegend zu verändern, habe ich nicht angesprochen. Am Ende konnte ich mich von seinen Versorgungswünschen abgrenzen und er hat es gelassen zur Kenntnis genommen. Unsere Beziehung ist so gefestigt, dass ich Paul diese Konfrontation und Abgrenzung meinerseits zumuten konnte.

Paul und die Tischgruppe Die Schwierigkeiten nehmen allerdings nach einer vorübergehenden Beruhigung nach den Weihnachtsferien wieder zu. Paul ist in dieser Zeit für mich emotional nicht mehr erreichbar. Er verweigert sich in jeglicher Hinsicht. Seine Tischgruppe stört mittlerweile so massiv, dass eine Grenze bei mir erreicht ist. Ich komme nicht weiter, meine helfenden Angebote im Rahmen der Tischgruppengespräche laufen ins Leere. Ebenso möchte ich die Bedürfnisse der übrigen Schüler nicht aus dem Auge verlieren und dazu beitragen, dass Unterricht möglich ist. Ich werde immer wütender auf den Schüler und die Tischgruppe. Mir wird klar, ich kann und will die Störungen im Unterricht und die Beschwerden der Kollegen nicht mehr ertragen. Ich frage mich, ob es Paul ähnlich geht und er sich unbewusst nach einer Begrenzung meinerseits sehnt. Nach einer unruhigen Nacht teile ich der Klasse mit, dass ich im Moment sehr hilflos sei. Ich hätte den Eindruck, alle Tischgruppen würden sich einigermaßen gut verstehen und zusammen arbeiten können. Nur Pauls Tischgruppe gelänge dies nicht und ich könnte ihnen auch nicht helfen. Ich betone, wie schwierig es sei, in einer Tischgruppe zu sitzen, viel schwieriger als allein. Paul und ein weiterer Schüler schienen mir im Moment damit überfordert. Ich gebe der Klasse zu verstehen, dass es mir wichtig ist, dass erst mal wieder Unterricht möglich ist. Ich sei zwar mit dieser Maßnahme auch nicht zufrieden, denn ich würde mir wünschen, alle könnten in ihren Tischgruppen sitzen, aber im Moment ginge es nicht anders. Die Maßnahme könne nach einiger Zeit noch mal überprüft werden. Danach setze ich Paul neben das Pult und einen anderen Schüler aus seiner Tischgruppe direkt frontal vor mich. Beide Schüler gehören ihrer Tischgruppe weiter an.

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Die Entscheidung ist mir sehr schwergefallen, denn das Ausgrenzen bestätigt Pauls Grunderfahrung. Das hätte ich gerne verhindert. Dennoch treffe ich diese Entscheidung und mute ihm damit meine Grenzsetzung zu. Darüber hinaus erfährt der Schüler Konsequenzen seines Handelns. Ich signalisiere weiterhin Bereitschaft, für Veränderungen und Entwicklungen offen zu sein. Der Klasse gebe ich deutlich zu verstehen, dass es mir wichtig ist, dass alle Schüler arbeiten können. Zu meiner Überraschung nehmen sowohl Paul als auch der andere umgesetzte Schüler nach einigen Minuten des Schmollens am Unterrichtsgespräch teil. Paul bittet mich sogar in einer Stillarbeitsphase, ihm etwas zu erklären. Die Stunde nimmt einen ruhigen Verlauf. Die Klasse, die Tischgruppe und die beiden separat sitzenden Schüler arbeiten ruhig und interessiert.

Paul und sein Klassenkamerad sitzen für die nächste Zeit an einem Einzeltisch in meiner unmittelbaren Nähe. Die Tischgruppe wird arbeitsfähiger. Paul versucht in dieser Zeit, mich wiederholt dazu zu bewegen, meine »Schutzfunktion« für ihn gegen die anderen wieder aufzunehmen. Ich lehne dies ab. Stattdessen tauschen wir uns darüber aus, was er selbst tun könne, damit die anderen aufhörten, ihn zu ärgern. Einige Wochen später äußern die beiden weggesetzten Schüler, dass sie sich allein und isoliert fühlen. Die anderen vermissen Paul und den Mitschüler auch. Ich greife dies gerne auf. In einem gemeinsamen Gespräch mit der Tischgruppe werden Chancen und Gefährdungen einer Wiedereingliederung abgewogen. Die Schüler erbeten meine Meinung. Als ich ihnen sage, dass ich mich über einen erneuten Versuch freuen würde, wird ein Kompromiss ausgehandelt. Paul und der andere Schüler bleiben an ihren Tischen sitzen, allerdings rückt die übrige Gruppe in ihre unmittelbare Nähe. Dies macht eine Anbindung möglich. Die Gruppe hat dadurch ein Maß an Nähe und Distanz gefunden, in der sich alle Gruppenmitglieder wohlfühlen. Die Auseinandersetzungen werden weniger, ihre Heftigkeit nimmt ab. Paul gelingt es besser, Konflikte selbst zu regeln. Er beteiligt sich wieder stärker am Unterricht. Paul sitzt von nun an bis zum Herbst des nächsten Schuljahres in dieser Tischgruppe. Auch nachdem danach neue Tischgruppen gebildet wurden, bleibt er ständiges Mitglied der neuen Tischgruppe. Selbst nachdem er im sechsten Jahrgang eine bestimmte Zeit lang wieder aufhört zu arbeiten und sich massive Schwierigkeiten mit den Lehrern einhandelt, bleibt er immer Mitglied einer

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Tischgruppe. Ein Ausgrenzen wird bis zum Ende der Klasse sieben, dem Ende meiner Klassenlehrertätigkeit in dieser Gruppe, nicht mehr thematisiert. In der Nachschau ist mir deutlich geworden, dass das Gefühl, etwas für mich tun zu wollen und den Schüler zu begrenzen, eine Weiterentwicklung möglich gemacht hat. Der Schüler beruhigt sich. Indem ich für mich sorge, tue ich auch etwas für ihn. Ich vollziehe eine Grenzsetzung und ermögliche ihm damit eine Distanzierung zu seinen Klassenkameraden, die er alleine nicht umsetzen kann. Er benötigt diese Distanzierung, um aus dem Herausforderungszirkel und seinen permanenten negativen Rückmeldungen auszusteigen.

Schlussbemerkung Ich erinnere mich an eine Situation während meiner Supervision: Ich weiß nicht, ob ich Lehrer bleiben will oder etwas anderes machen möchte. Ich fühle mich ausgelaugt. Es gibt so viele Dinge in diesem Beruf, die mich unzufrieden machen. Verzweifelt und hin- und hergerissen bewege ich das Für und Wider. Meine Supervisorin bittet mich, in der Phantasie die Schule aufzusuchen und von einem beginnenden Arbeitstag zu erzählen. Ich erzähle, wie ich morgens unausgeschlafen ankomme und leicht mürrisch aus dem Auto steige. Ich gehe Richtung Schulhof. Und dann sehen mich einige Schüler. Sie begrüßen mich, einige kommen auf mich zu, lachen, scherzen und schauen mich mit ihren lebendigen Augen offen an. Mir wird warm ums Herz. Die Schwere verliert sich. Ich spüre ein Gefühl von Lebendigkeit und Freude. Als ich dies erinnere, wird mir meine eigene alte Sehnsucht als Schüler bewusst, einen Lehrer zu finden, der mich sieht, der mich versteht und der mir unterstützend in dieser schwierigen Zeit, wo ich mich oft so allein fühlte, zur Seite steht. Mir wird in diesem Moment klar, ich bin gerne mit Schülern zusammen. Und ich will weiter meine Kraft für sie einsetzen, gerade auch für die »Schwierigen« in einer Zeit, in der Leistungs- und Anpassungsdruck immer größer werden.

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Wozu Metaphern? – Gedanken zur Intersubjektivität

Why use metaphors? – Some thoughts on intersubjectivity If the unconscious resembled gravel, objects waved and love was not chocolate … In this article I want to analyze the functions and effects of metaphors in psychoanalytic therapies concerning the aspects of intersubjectivity and compare them to other therapeutical means.

Zusammenfassung Wenn das Unbewusste wie Geröll ist, Gegenstände winken und Liebe keine Schokolade ist … In diesem Beitrag möchte ich Funktion und Wirkungsweise von Metaphern in psychoanalytischen Therapien unter dem Aspekt der Intersubjektivität untersuchen und mit anderen therapeutischen Mitteln vergleichen.

Vorwort oder: Das Dilemma von Leib und Seele Was ich hier ausdrücken möchte, ist etwas verschwommen, aber indem ich es ausdrücke, ist es bereits klar konturiert: Sie lesen ja eben das Wort »verschwommen«, nicht etwa das Wort »verschmowwen« oder »virschommen«. Damit wird das, was ich ausdrücken möchte, klar benannt, jedoch es bleibt inhaltlich unklar, eben: verschwommen. Dieser Sachverhalt, dass nämlich Sprache stets klar und eindeutig ist – abgesehen von speziellen Ausnahmen –, erzeugt im Bereich des Gedanklichen, des Gefühlten ein Unbehagen, haben wir doch stets den Eindruck, dass Gedachtes eben zumeist verschwommen ist, nicht klar in Worte gefasst werden kann, sich eben nicht vollständig und

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gehaltlich identisch ausdrücken lässt. Dieses Unbehagen wächst mit der Not, sich auch im Unklaren oder im starken Gefühl verständlich zu machen, zum Beispiel in der Liebe, woraus eine Menge Poesie entstanden ist. Jeder Gedanke, den ich ausdrücken möchte, erhält durch die Not seiner Ausdrücklichkeit eine feste Gestalt in Form eines lautlichen Ausdrucks oder auch eines Schriftbildes. Anders ist es, wenn ich mich körperlich mitteilen möchte: Da kann ich einen Menschen umarmen, mehr oder weniger fest, mit mehr oder weniger Körpereinsatz, ich werde eine Mimik zeigen, vielleicht werde ich mich auch mit einem Laut des Wohlbehagens oder der Ablehnung äußern; manche dieser Laute können dabei sogar Wortcharakter annehmen, zum Beispiel ein »Hmmm« usw. Aber auch mein Ausdrucksverhalten ist natürlich durch einen Gedanken vorbestimmt; insofern unterscheidet meinen Gedanken an etwas Sprachliches nichts von meinem Gedanken an etwas durch Handeln Auszudrückendes – auch Sprechen ist Handeln. Der gemeinsame Ursprung von Sprechen und Handeln ist eine Vorstellung, die auf einem Gefühl für die augenblickliche Situation beruht. Im Sprechen finde ich nur nicht mehr einen solchen analogen Modus meines Gefühlsausdrucks wie in meinen körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Nun hat die klare Kontur meines Sprechens neben Angaben des Maßes (»wenig«, »viel«, »groß«, »klein« etc.) sowie neben der Möglichkeit der Steigerung allerdings auch die Möglichkeit, verschiedene semantische Konturen übereinanderzulegen, gewissermaßen durch verschiedene Begriffe Ecken zu runden, Unterbrechungen zu glätten, Schiefes zu begradigen. Das Benutzen dieser Möglichkeiten ergibt die Welt der Vergleiche, die – verdichtet genommen – zu Metaphern werden können. Woran sind nun Metaphern zu erkennen? Metaphern bestehen aus einer Unvereinbarkeit von Bedeutungen zweier zusammengefasster Ausdrücke, wobei die Unvereinbarkeit aus ihren Kontexten entsteht (sog. konterdeterminierender Kontext). Beispielsweise ist der Begriff Rückenmassage keine Metapher, wohl aber der Begriff der Seelenmassage (Xiao-an Zhu, 1994). Der Kontext des Begriffes Seele erlaubt nicht den Kontext des Begriffes Massage, man benötigt für das Verständnis des Begriffes Massage im Kontext des Seelischen ein neues Verständnis des Begriffes »Massage«, das über die Heilbehandlung von Körpergeweben hinaus geht. Die beiden Begriffe sind im

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Alltag von ihrer Bedeutung her unvereinbar. Fasst man sie dennoch zusammen, so ergibt sich ein Augenblick der Verwirrung und damit auch der Aufmerksamkeit. Der neue Begriff von Massage muss zunächst gefunden werden, damit er zum Begriffsfeld (Kontext) des Seelischen passt. Hier könnte zum Beispiel eine besonders schonende Vorgehensweise, eine wohltuende Einwirkung verstanden werden, so dass der logische Gegensatz der Begriffsfelder zu einer metaphorischen Verdrehung (Beardsley, 1983) führt, die im Grunde den Begriff der Massage ablöst von seiner Bedeutung – also seinen Anwendungsbezügen – und hinführt zu seinem Sinn – also zu dem Gemeinten, wenn ich ›Massage‹ denke. Insofern und nicht nur deshalb ist Sprache ein mächtiges Werkzeug: »[Sie] […] erlangt […] eine einzigartige Vielseitigkeit: Im Hirn verbindet sie bildliches beziehungsweise sinnliches Denken mit verbalem Denken und hat Teil an der Strukturierung von körperlichen Erfahrungen, Vorstellungen, Gedanken, Emotionen; im Übergang von ›Innenwelt‹ zu ›Außenwelt‹ wirkt sie als Medium der höchst differenzierten ›Umwandlung‹ mentaler Konstrukte und Prozesse in physisch realisierte, lautliche oder schriftliche Sprache; und ›außerhalb‹ des Körpers ermöglicht sie im Zusammenspiel mit anderen Tätigkeiten des Menschen als primäre Form der Kommunikation die Interaktion mit der Umgebung sowie auch Beziehungen zum Innenleben der Mitmenschen« (Kohl, 2007, S. 173 f.). Vielleicht führte die Not dieser sprachlichen Ausdrücklichkeit in einer festen Form zu der aristotelisch begründeten Annahme, dass Körper und Geist als getrennte Einheiten zu verstehen sind. Der Leib-Seele-Dualismus wäre damit selbst eine Metapher, geboren aus dem Vollzug des Sprechens: Der sprachliche Ausdruck ist wesentlich ein körperlich erfahrener Vorgang, das zuvor vorhandene emotionale, unscharfe Bild ein geistiger. Wenn der soziale Mensch Kommunikation ›ist‹, so ist sein ›wahres‹ soziales Selbst eine unbehagliche Sache. Es ist die Sache der Vieldeutigkeit, der Ambivalenz. Und wir sehen im therapeutischen Prozess unsere Aufgabe als Therapeuten, nicht etwa diese Vieldeutigkeit zu beseitigen, das – naiv formuliert – »wahre Selbst«1 zu entdecken 1 Das »wahre Selbst« im Sinne Winnicotts ist allerdings ein schweigendes Selbst, insofern ein Objekt metaphysischer Betrachtung: In diesem Zusammenhang steht Winnicott einem Leib-Seele-Dualismus nahe.

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und zu verwirklichen, sondern die Vieldeutigkeit zu neuem und erträglichem Bewusstsein kommen zu lassen, indem wir zum Beispiel das Unbewusste bewusst zu machen trachten, im sprachlichen Sinne: das Unverstandene (als Begriff des Unbewussten in Anlehnung an A. Adler) zu verstehen trachten. Therapieziel ist insofern, Ambivalenz miteinander aushalten zu können im Gefühl der Notwendigkeit, sich sprachlich zu erklären, entscheiden zu müssen aus einem Gefühl der Bezogenheit. Dieses Bemühen um Verstehen belastet ja bereits die alltägliche Kommunikation erheblich, um wie vieles schwieriger mag dann erst die therapeutische Kommunikation mit einem Mitmenschen sein, der sich selbst nicht mehr zu verstehen meint.

Die Verortung des Metaphorischen in der Seele Nun wird ja aber bekanntlich nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und aus diesem Wissen leisten wir im Gefühl der geborgten Sicherheit unserer Theorien täglich unsere therapeutische Begegnung mit der Angst des anderen und der eigenen … Was diese schwer verdauliche Wahrheit nämlich erleichtern kann, ist der bereits erwähnte Gebrauch von Metaphern. Aber Vorsicht: Metaphern lassen sich zwar häufig auch in die Form eines Vergleiches übersetzen, zum Beispiel: Seine Art, mit ihr zu sprechen, war genauso sanft wie eine Massage für die verspannte Muskulatur. Jedoch: Mittels einer Metapher geschieht mehr als mittels eines Vergleiches. Doch dazu später mehr … In der genaueren Untersuchung von Metaphern treffen wir zunächst mannigfache Unklarheiten an: Es beginnt schon mit der Frage, ob nicht alles Sprachliche letzten Endes metaphorisch sei. So finden wir zum Beispiel bei Lacan, die Grundbedingung (Conditio humana) des Menschen bestehe aus Natur, Gesellschaft und Kultur, wobei Kultur zurückführbar sei auf den Begriff der Sprache. Dabei sei eine Wirkung der Existenz von Sprache, Antworten zu wissen auf alle Bedürfnisse. Ich zitiere: » […] die Metapher hat ihren Platz genau da, wo Sinn im Un-Sinn entsteht, das heißt an jenem Übergang, der in umgekehrter Richtung genommen, wie Freud entdeckt hat, jenem Wort Raum gibt, das im Französischen ›das Wort‹ par excellence ist, das Wort, für das kein anderer als der Signifikant des esprit (Witz) die Patenschaft über-

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nimmt, woran sich begreifen lässt, dass der Mensch sogar noch seinem Schicksal Hohn spricht durch den Spott des Signifikanten.« Die Traumarbeit folge den Gesetzen des Signifikanten, die aus der Verdichtung (wie in der Poesie), der Verschiebung (wie in der Metonymie) und der Darstellbarkeit bestehen. Für Lacan ist das Unbewusste nicht das Ursprüngliche oder das Instinktive, und an Elementarem enthält es nur die Elemente des Signifikanten. Lacan untersucht insofern die »Vorderseite« der Freud’schen Abwehrmechanismen und findet hier: Periphrase (Umschreibung, zum Beispiel »altes Haus« statt »alter Freund«), Retractatio (Verminderung, zum Beispiel »Du Wicht« statt »Du Bösewicht« statt »Du böser Mensch«), Suspension (Unterbrechung, zum Beispiel in der Zensur, wenn einem ein Gedanke entfällt), Exkurs (Abschweifung, zum Beispiel ein »Nebenkriegsschauplatz« anstelle des eigentlich Gemeinten) und beschreibt viele andere mehr; letztlich ist ein Symptom für ihn eine Metapher, Begehren eine Metonymie, also eine Namensvertauschung (durch gedanklich Benachbartes) (Lacan, 1983). Eine durchaus ähnliche Position finden wir neuerdings wieder bei Michael Buchholz und Günter Gödde (2005, S. 703), wenn sie feststellen, dass der Traum eine Metapher für das unbewusste Erleben eines Menschen sei. Neurobiologische Forschungen ergaben eine verstärkte Aktivierung der rechten Hirnhemisphäre, wenn ungewöhnliche Metaphern gebraucht werden. In der rechten Hirnhälfte erfolge eine langsamere, eher assoziative Verarbeitung. Insofern wirkten neue Metaphern sinnlich belebend, imaginativ. Die Konventionalisierung einer Metapher führe zur lexikalischen Speicherung in der linken Hirnhemisphäre, deren Verarbeitung schneller erfolge. Dabei seien an der kognitiven Verarbeitung von Metaphern stets beide Hirnhälften beteiligt. Metaphern seien als primär kognitive Phänomene anzunehmen, die sich erst sekundär in der artikulierten Sprache manifestierten. Allerdings sei auch die Sprache nicht von der Gesamtheit der kognitiven Prozesse isolierbar (Kohl, 2007, S. 152 ff.).

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Zur Geschichte der Metaphorik Die Theorien, wie Metaphern eigentlich funktionieren, beschreibt Katrin Kohl (2007, S.181 ff.) als vielfältig: Sie begännen in der Antike (Aristoteles) mit dem Begriff der Übertragung beziehungsweise Substitution, insofern ein »uneigentliches« Wort an die Stelle eines »eigentlichen« gesetzt werde, verliefen über die Theorie des »Mappings«, insofern der Herkunftsbereich der Metapher auf deren Zielbereich abgebildet werde, weiteten sich aus durch die Theorie der Strukturierung, der gemäß ein kognitiver Begriff durch einen anderen strukturiert werde, bezögen die Möglichkeit komplexerer Projektionen, Ausarbeitungen und Erweiterungen mit ein, ließen sich als Vermischung (Conflation / Blending) fassen und erstreckten sich bis hin zur Theorie der Interaktion, nach der insbesondere suggestive Komplexe von implizierten Vorstellungen, Ansichten, Werten und affektiven Besetzungen aktualisiert werden. Umfassend könne die Metapher aufgefasst werden als eine ein Vorbild begründende (prototypische) Verbindung von mentalen, auch im Sinne von Handlung zu verstehenden, und artikulierbaren sprachlichen Prozessen, wobei der kognitive Aspekt mehr bildlich oder mehr verbal sein könne. Daraus folge, dass sich der metaphorische Prozess unbegrenzt vielfältig gestalte und dass er begrifflich weder eindeutig noch eindeutig bestimmbar sei, zumal auch der Kontext unbegrenzt variiere. Dies gelte gerade bei kreativen, sogenannten kühnen Metapher.2 Im Grunde bezeichne der Begriff der Metapher ein komplexes und letztlich nicht abgrenzbares Phänomen der Interaktivität zwischen Denken und artikulierbarer Sprache. Dabei ergebe sich erst mit der Rhetorik ein umfassendes Konzept der Wirkungsweise von Metaphern, insofern die 2 Zum Begriff der »kühnen« Metapher vergleiche Harald Weinrich (1983). Im Übrigen halte ich Metaphern im Gegensatz zu Weinrich und auch zu Buchholz nicht für logisch paradox, sie wirken lediglich im ersten Moment des Hörens so und erzeugen genau damit ihren Überraschungseffekt. Dies gilt besonders für das Oxymoron: Die Metapher »schwarze Milch« in der Todesfuge von Paul Celan ist nicht paradox, sonst wären es die schwarzen Schwäne als bekannter Topos der Logik auch. Insofern halte ich es für sehr fraglich, ob die Metapher den psychischen Primärprozess nach S. Freud sprachlich repräsentiere, wie Buchholz annimmt (vgl. Buchholz, 1998, S. 557).

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Rhetorik die Metapher als eine ganzheitliche Gestalt erscheinen lasse, in der die Vorstellungen, der Körper und die Sprache in eine Wechselwirkung zueinander treten. Wirklichkeit werde damit zur Gesamtheit der gemeinsam erfahrenen, vorgestellten und kommunizierten Gegebenheiten des menschlichen Lebens. Die Sprache vermittle zwischen dem Denken des einzelnen, das selbst nicht sprachlich zu sein braucht (Musik, Mathematik etc.) und den anderen. In der Rückwirkung der Sprache auf den einzelnen strukturiere sie dessen Denken. Insofern mit der Metapher insbesondere das Unbegreifliche begreiflich oder anschaulich gemacht werden könne, werde es vorstellbar und kommunizierbar. Historisch und auch konzeptuell gesehen unterschieden sich die sprachwissenschaftlichen Spielräume der Metapher je nach Verwendungszweck: Im platonisch-philosophischen Bereich erhielten sie eine nur randständige Berechtigung, in der rhetorischen Sprachauffassung einen unbegrenzten Spielraum mit allerdings unterschiedlicher Stilhöhe, im magischen Bereich erhalte die Metapher einen ritualistisch begrenzten Spielraum mit allerdings größter Wirkkraft, wenn nämlich der metaphorische Prozess als Stiftung von Wirklichkeit anerkannt werde, in der imaginativen Sprachauffassung vermittelten Metaphern kreative, unkonventionelle und irrationale Prozesse, Sprache und Denken bewegten sich gemeinsam im Raum der Phantasie. Metaphern können letztlich konstitutiv sein für eine Gruppe von Spachhandelnden (zum Beispiel in der Dichtung), insofern durch sie die Imagination trainiert wird und sich die Erfahrung von Wirklichkeit weitet, selbst das Unausdrückbare kommunikativ geteilt werden kann.3 In Anlehnung an Pastior4 kann zum Beispiel in der psychotherapeutischen Wirklichkeit formuliert werden: »man bedenke was die therapeutische wahrheit ohne die in der therapeutischen begegnung nicht vorkommenden erkenntnisse überhaupt wäre.« Das Unausgedrückte ist stets auch Bestandteil des Ausgedrückten; wenn wir im therapeutischen Alltag also auch niemals vollkommen sein können, 3 In Anlehnung an Katrin Kohl (2007) zum Begriff der poetologischen Metapher (S. 188 f.). 4 Oskar Pastior (2003): »Jetzt kann man schreiben was man will« (zit. nach: Kohl, 2007, S. 319): »man bedenke was das gedicht ohne die im gedicht nicht vorkommenden wörter überhaupt wäre«.

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so handeln wir doch stets auf der Matrix der vollkommenen Kommunikation. (Nicht nur ein Schelm, wer hier an die Fiktion des Gemeinschaftsgefühls denkt!) Bezugnehmend auf das beschriebene Dilemma von Leib und Seele möchte ich nun das verwirrende topologische Suchspiel verlassen und die Wirkung von Metaphern im therapeutischen Dialog untersuchen.

Überraschung, Veranschaulichung, Verbindung und Entängstigung Michael Buchholz (1998, S. 553 f.) wies auf zwei Traditionen der Theorie des Verstehens hin, die mit den Begriffen Symbol und Metapher voneinander geschieden und miteinander ergänzt werden könnten: Symbole benennen das zu Sagende, sie legen also das wörtlich Gemeinte fest; Metaphern dagegen deuten an, erzeugen Vorstellungen. Symbole setzten auf Kommunikation, Metaphern auf Imagination. Die Metapher bilde die Brücke zwischen dem psychischen und dem sozialen System der Kommunikation; sie formuliere als Darstellung, was als Vorstellung entstehe und hörend wieder vernommen werden solle und im Dialog als gemeinsames Wissen hergestellt sei. Durch das neue und ergreifende Verstehen einer Metapher gebe es ein Miteinander (sharing) geteilter Vorstellungen – durch die Sprache, aber jenseits von ihr. Metaphern erzeugen damit stets auch eine Überraschung, sofern sie neu gefunden werden. »Weil die Metapher einen Sachverhalt vermittels eines anderen symbolisiert, ist es möglich, den symbolisierten Sachverhalt mit dem Gefühlswert des symbolisierenden Sachverhalts zu durchdringen« (Henle, 1983, S. 99). Dichter bezeichnen zum Beispiel das Alter als den Abend des Lebens, man kann natürlich auch den Abend als das Alter des Tages bezeichnen. Der gefühlsmäßige Unterschied ist offenbar: Der Lebensabend ist eine freundliche Bezeichnung des Alters, das Tagesalter aber eine eher unfreundliche Beschreibung des Abends. Insofern dienen Metaphern der Veranschaulichung. Gilt diese kommunikationswissenschaftliche Erkundung auch als Wirkprinzip für die Therapie? Und hier komme ich auf meinen oben bereits angedeuteten Vorbehalt zurück: Metaphern sind nicht nur kreative Sprach-

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schöpfungen, nicht nur anschauliche Vermittler des geistig Gemeinten in einer verdinglichten Sprache, sondern sie betreiben auch das Geschäft der Zuschreibung, der Festlegung und der Wertung. Der psychoanalytische Dialog sollte meines Erachtens nach nur mit Umsicht ein Austausch von Metaphern sein, wobei die Wahl der Metapher dem Patienten zukommen sollte. Diese Metapher zunächst in einen Vergleich umzuwandeln, sie damit durchaus zu paraphrasieren, ihr damit aber auch eine Bedingtheit der Gültigkeit zuzuschreiben, die Bedingtheit der Situation des Patienten nämlich, erscheint mir aus Gründen der therapeutischen Vorsicht erforderlich. Zwar ist es eine Freude zu erleben, wenn Patienten eigenes Verhalten metaphorisch beschreiben, erst recht, wenn es sich um ungebräuchliche oder gar kühne Metaphern handelt, aber ihr Verstehen als Ausdruck einer Bewusstmachung von seelischen Vorgängen benötigt nicht nur den gemeinsamen Gebrauch der Metapher, sondern auch die Erkundung ihrer Bedeutung und ihres Sinns in der je vorgefundenen therapeutischen Situation. Ein Vergleich legt weniger fest: Zum Beispiel macht es einen emotionalen Unterschied, ob ein Patient mitteilt, sein Seelisches sei Geröll, oder ob er mitteilt, er erlebe sein Seelisches wie Geröll. Der Grad der Entmutigung ist im ersten Fall spürbar größer. Natürlich kommt es auch auf die nichtsprachlichen Randbedingungen seiner Äußerung an, zum Beispiel auf seine Wortmelodie, seine Gestik und auf die Situation, um die Äußerung zu verstehen. Andererseits können Metaphern als verstandene Erlebensweisen einen gemeinsamen virtuellen Begegnungsraum codieren, der im Laufe der Therapie immer wieder aufgesucht werden kann. Hiermit ergibt sich neben der Veranschaulichung eines Gedankens ein weiterer, insbesondere therapeutischer Effekt beim Einsatz von Metaphern: die Entängstigung. Ein gemeinsam erarbeitetes Verständnis einer Metapher wird zu einem Ort des verbundenen Verstehens, der auch in bedrohlichen Situationen wieder aufgesucht werden kann. So berichtete eine Patientin im Laufe ihrer Behandlung von den Gegenständen in ihrer Wohnung, die ihr alle winkten. Nun war sie keineswegs psychotisch erkrankt, sondern die Metapher der winkenden Gegenstände leitete sich her von einer unnachgiebigen, selbst schwer traumatisierten Mutter, deren Wohlergehen ihr bereits in der Kindheit der Patientin deutlich wichtiger war als das ihres Kindes. So blieb

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meiner Patientin in der Bildung ihres Lebensstils kaum eine andere Wahl, als die Pflichten der Mutter im Vornherein zu erspüren, dem bedrohlichen Winken der Mutter zuvorzukommen und dieses Winken bereits bei den Gegenständen zu verorten, die demnächst das Missfallen der Mutter auslösen könnten. In dieser Haltung fuhr sie in ihrem Leben fort, und es muss uns kaum wundern, dass sie als Mutter zweier Kinder, Ehefrau eines beruflich erfolgreichen leitenden Angestellten und selbst als berufstätig ehrgeizige Frau bald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen war, die sich dann in Form einer hypochondrisch gefärbten Angstneurose Ausdruck verschafften. Diesen Topos der winkenden Gegenstände konnten wir als Erhellung immer wieder aufsuchen, wenn neuerliche Beschwerden und ängstigende Konflikte vor dem Hintergrund des bereits Verstandenen durchzuarbeiten waren. Ein weiteres Beispiel mögen Sie dem Abstract meines Beitrags entnehmen: Liebe ist keine Schokolade. Dies ist auf den ersten Blick überhaupt keine Metapher, sondern eine logisch richtige Feststellung im Rahmen eines Vergleiches. Diese Feststellung wurde aber abgeleitet aus einer Kindheitserinnerung: Die Patientin als Viertjüngste von fünf Geschwistern in einem kühlen und gewalttätigen Elternhaus, von denen die anderen Geschwister sämtlich äußerst klug, aber auch seelisch äußerst labil waren, sah sich bereits zu Schulzeiten stets als die intellektuell weniger Begabte an, jedoch auch als die emotional Verständigere. So versuchte sie, oft vergebens, durch eigenen Einsatz das Leid ihrer Geschwister zu mildern. Aus ihrer frühen Kindheit fiel ihr eine Begebenheit ein: Sie aß eine ihr geschenkte Schokolade erst, als sie sicher war, dass auch alle anderen Geschwister ein Stück davon abbekommen hatten. In ihrer Liebe war die Patientin nicht sehr glücklich. Zwar war sie eine langjährige Partnerschaft eingegangen, der Partner entpuppte sich jedoch bald als Bigamist. Seine zweite Freundin heiratete er nach vielen Jahren einer doppelt geführten Beziehung, ohne diese Ehe mit seiner anderen intimen Freundin, meiner Patientin, zuvor zu besprechen. Sie war keine betrogene Frau, wusste vielmehr von seiner zweiten intimen Beziehung und hatte mit dieser Frau sogar eine eigene freundschaftliche Beziehung aufgenommen. Die Kränkung der Heimlichkeit und der Bevorzugung der nur unbewusst als Rivalin wahrgenommenen Frau vermochte es aber nicht, ihre Bezie-

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hung mit dem Geliebten zu klären, vielleicht auch zu beenden. Dies gelang ihr erst nach einer Klärung ihrer kindlichen Not, für andere da zu sein, bevor sie eigene Bedürfnisse befriedigen konnte. Sie stellte also fest, dass Liebe keine »Schokolade« sei. Hiermit metaphorisierte sie einen Vergleich, festigte ihn in Form einer sprachlichen Wendung und konnte ihn fürderhin benutzen als sichernden Rückgriff auf den verstandenen Lebensstil, wenn neue altruistische Herausforderungen, zum Beispiel im Beruf, erneute Versuchungs- und Versagenssituationen bedrohlich aufleuchten ließen. Diese kreativen Metaphern waren also ein Raum des Verstandenen, ein Beispiel für noch zu Verstehendes und ein Raum der Intimität des therapeutischen Dialogs, so wie auch Liebende sich Chiffren suchen gegen das Vergessen.

Die Bedeutung von Metaphern für Diagnostik und Therapie Nun darf man einschränkend erwarten, dass nicht alle Patienten schöpferische Metaphern zu bilden imstande sind, wie ja auch nicht alle Menschen zu einer reifen Liebesbeziehung in der Lage sind. Hier erhält die Frage eine diagnostische und zugleich auch differentialtherapeutische Bedeutung, wie ein Patient schöpferische Metaphern verwendet: Die Möglichkeit der Metaphorik, Vergleiche zu verkürzen, um eine möglichst rasche Übereinstimmung mit anderen herzustellen, gewissermaßen eine rhetorische Bewertungsallianz, lässt sie wahrscheinlich für weniger differenzierte beziehungsweise für narzisstisch strukturierte Menschen attraktiv erscheinen. Ich vermute hier eine Bevorzugung des affektgetragenen, wertenden Aspektes der Metaphorik, ihres Spiegelbildes zur Vorläufigkeit.5 Bei einer solchen Ausgangslage ist es differentialtherapeutisch geboten, zunächst die Metaphern des Patienten zu erkennen und sie in ihrem Kontext zu analysieren, sie also in einen Vergleich zurückzuübersetzen. Je mehr ein Patient zu einer objektalen Beziehungsaufnahme und zu einer regressionsorientierten therapeutischen Beziehung imstande ist, desto früher kann der Therapeut aus dem Traummaterial oder aus Kindheitserinnerungen 5 Vergleiche zu historischen Aspekten auch den Anhang.

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seines Patienten die schöpferische Kraft und die sprachliche Freiheit des Patienten anregen, indem er das Traummaterial oder die Erinnerungen als Metaphern in neuen Zusammenhängen einbringt, somit zum Beispiel auf bereits Erlebtes verweist, also der Entängstigung Vorschub leistet; gleichzeitig bringt er seine aufmerksame Begleitung des Patienten damit zum Ausdruck wie auch seine Wertschätzung, nämlich dessen Traumbilder oder Erinnerungen als etwas privatlogisch Allgemeingültiges aufzugreifen und sie in der je vorgefundenen Situation zu verwenden. Sowohl in der therapeutischen Begegnung mit der erstgenannten (ich-strukturell defizitären) als auch mit der zweitgenannten (quasi neurotisch reiferen) Gruppe von Patienten eignen sich übrigens auch sogenannte tote Metaphern (zum Beispiel: »Jetzt ist der Groschen gefallen« für: »Sie haben soeben verstanden«, oder: »Sie haben einen dicken Kloß im Hals« im Sinne von: »Sie fühlen sich unsagbar traurig«), da sie eben lexikalisiert sind, dem Patienten also einen Sinn vermitteln, andererseits aber eben auch noch einen emotionalen, konkreten, oft sensorisch-körperlichen Bezug haben, der die Zufriedenheit des Patienten mit der therapeutischen Arbeit nachweislich erhöht (Fabregat u. Krause, 2008). Allerdings wird bei der therapeutischen Verwendung einer toten Metapher nicht die Wertung, sondern die Vorläufigkeit zu betonen sein, die zum Beispiel in der Sprachmelodie (prosodisch) als Frage oder als Zweifel konnotiert werden kann. Krause und Fabregat wiesen nach, dass Psychotherapien symptomreduzierend besser verliefen, wenn die Anzahl der interaktiv gefundenen, also der miteinander entwickelten oder der vom Therapeuten wiederholt aufgegriffenen Metaphern des Patienten höher war und die Metaphorisierungen einem starken Affekt mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung folgten, also nicht sofort, aber auch nicht zu spät ausgedrückt wurden. Dies führten sie zurück auf einen Vorgang der Prozessierung von Affekten aus einer primär ikonischen (bildhaften) Bewältigung heraus zu einer sekundär sprachlichen, damit repräsentationalen Bewältigung, die eben auch mit einem Gewinn an Ausdrucksfähigkeit, virtueller Bemächtigung und somit Affektverstehen verbunden ist. Der Gebrauch von Metaphern allein führte statistisch nicht zu einer Symptomverbesserung, jedoch zu einer höheren Zufriedenheit der Patienten mit der Therapie. Metaphern können sprachlich berühren, und diese Berührung erscheint notwendig für einen Erfolg von

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Psychotherapien. Die Gefahr einer Verdunkelung durch Metaphern, wie sie in der Philosophie traditionell gesehen wird, wiegt in der analytisch begründeten Psychotherapie weniger, man könnte sagen, wir begeben uns ja in den dunklen Bereich der Seele. Metaphern helfen damit, die Symbolisierungsfähigkeit eines Patienten zu verbessern, insofern überhaupt erst Licht ins Dunkle zu bringen. Und mit diesem Gewinn an Symbolisierungsfähigkeit ist ein struktureller Gewinn des Ichs zu verzeichnen: Metaphern sind, einzeln genommen, selten umfassend stimmig. Findet man aber im Laufe der Behandlung mehrere Metaphern für denselben Sachverhalt, so ergibt sich zwangsläufig ein Blick aus verschiedenen Perspektiven, der Strukturbildung und damit Angstminderung und Affekttoleranz fördert (vgl. Quinodoz, 2004, S. 576). Insofern allerdings Metaphern, wie gesagt, auch Verkürzungen von Vergleichen sind, sind sie stets vorläufig, halten in der Schwebe: »Die metaphorische Ausdrucksweise ist sehr wirkungsvoll, da sie nicht bloß, wie der Vergleich, einen gemeinten Gegenstand mit einer anschaulichen Vorstellung verbindet, sondern diesen in jenen überführt: aus etwas Totem etwas Lebendiges macht, mineralisches verwandelt oder das Unbelebte verlebendigt. […] Die Metapher ist Ausdruck einer bewegten Wirklichkeit, in der die Positionen (tot und lebendig, lebend und mineralisch) austauschbar sind. […] Metaphorische Redeweise deutet auf das Unfertige, Offene der Gegenstände und Themen hin, indem sie nicht fix und fertige Benennungen übernimmt, sondern diese gerade negiert, durch neue Identifizierungen ersetzt und damit die gemeinte Sache in der Schwebe hält oder erneut schwebend macht« (Ueding u. Steinbring, 1994, S. 296). Im Gegensatz zu Deutungen hat also die Verwendung von Metaphern eher eine explorative, sinnstiftende, Beziehung anbietende, bei interaktiv gewonnenen Metaphern auch eine die Beziehung bekräftigende Funktion, bereitet die Entwicklung des Realitätsprinzips somit vor. Deutungen dagegen fordern eher heraus, konfrontieren und erzeugen die Wirklichkeit der Macht in der therapeutischen Beziehung. Allerdings können sich auch Deutungen einer Metapher bedienen, benutzen dann jedoch deren verkürzenden Effekt, schreiben damit Eigenschaften zu. 6 Quinodoz berücksichtigt noch eine ganze Reihe weiterer sprachlicher Aspekte, um den Begriff der sprachlichen Berührung zu präzisieren.

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Die Metapher als Grundlage der therapeutischen Beziehung Therapie ist nach Buchholz (1998, S. 555 ff.) – wie die Liebe, die Zeit etc. – ein leeres Konzept, sie benötigt die Anschauungskraft des Konkreten, die ihr durch eine Metapher zuteil wird; Buchholz erinnert an die verschiedenen Freud’schen Anschauungen des leeren Konzeptes von Psychoanalyse, zum Beispiel das des Psychoanalytikers als Spiegel, als Chirurg, als Archäologe. Die Leere des Konzepts ziehe die Aufmerksamkeit, die Neugier an, es sei die Leere des abstrakten Begriffs. Man wolle ihn füllen, ihn verstehen. So komme es zum Austausch von Metaphern zum Beispiel über das Wesen der Therapie, die Metapher fülle den abstrakten Raum mit Vorstellungen. Insofern Metaphern also eine Wahrheit bezeichneten, erzeugten sie erst den Gegenstand, zum Beispiel der Liebe, der Therapie. Aber eben nie vollständig, auch andere Metaphern seien möglich, besser geeignet, die Entwicklung der Metaphern im therapeutischen Prozess könne hier auch die Entwicklung der therapeutischen Beziehung widerspiegeln. So kann die therapeutische Arbeit von einem »Beichtstuhl« zu einem »detektivischen Unternehmen« und von dort zu einem »Tanz« werden … Das Besondere an der metaphorisch getragenen Beziehung sei ihre Doppelsinnigkeit von wahr und unwahr zugleich, zum Beispiel werde der Therapeut in der Übertragung, aber auch jenseits von ihr geliebt; allerdings habe er sich der Doppelnatur dieser Liebe bewusst zu bleiben, wenn er nicht die Liebe oder die Übertragung abwehren wolle. Die metaphorische Sicht des Patienten auf sich selbst erweise sich als (privatlogisch) eingeschränkt, könne aber eben in der therapeutischen Beziehung durch den Erwerb einer neuen metaphorischen Wahrheit erweitert werden, so dass Rollenwechsel, Blickwechsel, Selbstwahrnehmung erst möglich werde. Je nach metaphorisch verinnerlichtem Selbstverständnis des Therapeuten könne es hier zu Veränderungen in der Beziehung mit seinen Patienten kommen, oder auch nicht, was man konzeptualisieren kann als eine Interferenz von Lebensstilen, nämlich als mehr oder weniger eingeengten Lebensstil auf beiden Seiten: Wenn zum Beispiel ein Patient sich als krank und den Therapeuten als Halbgott in Weiß sieht, Letzterer aber nun unter Therapie Heilung versteht, so finden sich beide wieder außerhalb eines psychoanalytischen Prozesses, indem sie gemeinsam uneinsichtig versuchen,

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Heilung herzustellen statt Konflikte zu verstehen. Buchholz (2006, S. 301) bringt es auf eine prägnante Formel: »Einer, der ›beichtet‹, erwartet von seinem Therapeuten eine andere Leistung als einer, der ›repariert‹ zu werden wünscht.« Sich über die Doppeldeutigkeit der jeweiligen Sichtweisen oder Erwartungen zum Beispiel innerhalb einer Übertragungsbeziehung der Liebe miteinander zu verständigen, stößt an die oben besprochenen Grenzen der Verständigung durch Sprache. Ein einziger Ausdruck bringt das Gemeinte nur selten auf den genauen Begriff. Mit Hilfe einer Metapher kann der Therapeut nun diese begriffliche Unklarheit andeuten, durch verschiedene – möglichst gemeinsam gefundene – Metaphern geradezu betonen und damit einen Vorgang der Irritation, des Nicht-Verstehens im Patienten auslösen. Als mich beispielsweise meine oben zweitgenannte Patientin wiederholt fragte, wie es denn überhaupt mir gehe, antwortete ich mit der metaphorischen Deutung, sie wolle mir soeben auch ein Stück Schokolade anbieten … Hierdurch wurde eine Mitteilung über unsere Kommunikation, also eine Metabotschaft ausgesprochen, nämlich: Was ich gerade zum Ausdruck bringe, kann zwar nicht wörtlich stimmen, stimmt aber in einem übertragenen Verhältnis. Es stimmt aber auch nur mit dem Wissen um Vorläufigkeit, ich kann schließlich weitere stimmige Metaphern für unsere augenblickliche Beziehung finden. Die Vorläufigkeit selbst bindet uns dabei grundsätzlich wieder zurück auf die Erfahrung von Zeit und Unvollkommenheit als Bedingungen unserer (therapeutischen) Beziehung, macht also bescheiden und damit mitmenschlich. Sind kommunikative Vorgänge solcherart hinreichend häufig erfolgt, kann es zu erleichternder Einsicht, letztlich zum verstehenden Schweigen kommen; es entsteht nämlich ein psychisch strukturierender Effekt durch die Verwendung von Metaphern: Wie bereits oben angedeutet, entsteht die Struktur des Denkens, indem dasselbe unter je anderen Gesichtspunkten verstanden wird, und diese Erfahrung je anderer Gesichtspunkte für dasselbe erzeugt erst einen abstrakten Begriff, gibt ihm seine Anwendbarkeit und damit eben seine wirksame, stimmige Kommunizierbarkeit. Und dies trifft nicht nur zu auf abstrakte Begriffe wie Liebe, Zeit oder eben auch Therapie, sondern sogar, im Erwerb der Sprache, auch auf konkrete Begriffe wie Hund, Tisch oder Abendessen, so dass Menschen in der Lage sind, verschieden gezüchtete

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Hunde doch stets als Hund wahrzunehmen, ungewöhnlich geformte Tische von Stühlen zu unterscheiden oder vorgezogene Abendessen von späten Mittagessen. Dem geht allerdings voraus ein phänomenologisch entwickelter Begriff von Eigenschaften, also eine Offenbarung von Bedeutung in einer Beziehung, aus einem »Wau-Wau« kann dann ein »Hund« werden. Buchholz (1998, S. 564 ff.) schlägt als Metapher für die therapeutische Beziehung den Begriff des (Betrachtungs-)Rahmens (»frame«) vor. Bewusstmachen sei sodann als ein Wechsel des Rahmens zu verstehen: Mit dem Wechsel eines Betrachtungsrahmens würden die Ereignisse zu Erlebnissen, sie würden beseelt, Unverstandenes könne sich zu einem Bild zusammenfügen. Damit werde der Patient wieder Herr der Lage statt Opfer der Ereignisse. Diese Erklärung erscheint intuitiv nachvollziehbar, entbehrt aber einer Begründung. Dass der Patient Ereignisse wieder beseelen kann, Unverstandenes verstehen kann, damit wieder Herr der Lage wird, scheint mir an eben dem strukturbildenden Effekt der Metaphorik zu liegen. Er entsteht durch einen Wechsel metaphorisch gebrauchter Bilder über den je selben therapeutischen Gegenstand (vgl. Ciompi, 1982, S. 104). Als Basis einer solchen Strukturbildung dürfte wohl stets die positive Beziehung zum Therapeuten gelten, indem der Patient dessen Sichtweise, zum Beispiel ausgedrückt durch eine gemeinsame Metaphorik, probeweise annimmt und untersucht, ob sie ihm Vor- oder Nachteile bringt. Laut Buchholz kommt es zu einem Sehen durch zwei verschiedene Rahmen, so dass »Tiefe« im Begreifen entstehe. Diese »Tiefe« halte ich für eine poetische Umschreibung für den Begriff Struktur; erst Struktur macht aus einem Ereignis auch Erfahrung, gibt dem Erleben damit eine Tiefendimension des Verstehens (verstandenes Erleben ist Erfahrung). In den frühen Lebensjahren strukturiert gerade die Umgebung eines Kindes dessen Weltverstehen, indem sie den Erlebnissen des Kindes Sprache beisteuert und ihm bei ihrer Verwendung hilft, sie verfeinert, sich ihrer Verwendung freut. In der Psychotherapie finden wir eine ähnliche Sprachentwicklung durch den Gebrauch von Metaphern wieder: Deren Verwendung befreit von fixen Ideen über sich selbst, indem die verschiedenen metaphorischen Prägungen des therapeutischen Problems zeigen, dass frühere Ideen eben nur eine Möglichkeit für den Patienten (und natürlich auch für den Therapeu-

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ten) waren, sich selbst zu erleben. Hierin wurzelt das gemeinsame Schweigen, das Gefühl zeitlos klarer Verbundenheit miteinander im kurzen Moment des Verstehens.

Wozu also Metaphern? – Aus sprachlichwissenschaftlicher Sicht sind sie nahezu unumgänglich, machen abstrakte Gegenstände anschaulich, vorstellbar, laufen damit aber auch Gefahr, das Gesagte zu vereinseitigen, mithin zu »verdunkeln«. – Aus affektiver Sicht verkleinern Metaphern den affektiven Gehalt einer noch unklaren, unsicheren Vorstellung, indem sie eben auf bereits Bekanntes zurückverweisen. Damit einhergehend läuft metaphorisches Denken aber auch Gefahr zu manipulieren, es ist letztlich eben auch ein rhetorisches Instrument. – Aus kognitiver Sicht halten Metaphern dazu an, vorläufig zu bleiben, mehrere Sichtweisen einzunehmen, befördern damit affektlogisch eine Strukturbildung des Ichs. Hierbei ist allerdings die Möglichkeit von bloßer Imitation zu beachten, also die Weiterentwicklung eines »falschen Selbst«, derzufolge der aktive Gebrauch von Metaphern seitens des Therapeuten oben angeführten Vorsichtsmaßnahmen entsprechen sollte. – Aus der Sicht der – nicht nur therapeutischen – Beziehungsentwicklungen regen Metaphern zu Kreativität und zu einem Gebrauch von Freiheit in der Beziehung an, schaffen damit Freude in der spontanen und neuen Begegnung, im gegenseitigen Verstehen. Andererseits können sie die Kommunikation einengen, da sie als konzeptuelle Metaphern der Auffassung, wie man einander gerade begegnet, stets vorbewusst sind. Hier kann erst die Wahrnehmung einer Blockade des kommunikativen beziehungsweise therapeutischen Prozesses den Verdacht erbringen, dass die Kommunikationspartner sich von ihren Haltungen her (also von ihren vorbewussten Konzepten her) gegenseitig hemmen, sich gewissermaßen in ihren Erwartungen aneinander verstrickt haben. Dies macht eine interaktionelle Analyse der Situation unumgänglich und öffnet im positiven Falle Raum für die Verwendung neuer Metaphern.

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Anhang Es gibt über den mittelbaren oder unmittelbaren konterdeterministischen Kontext einer Metapher hinaus einen historisch übergreifenden Metaphernkontext, der historische Anspielungen in sich birgt; diese Tropen können als »metaphorische Präzedenzen« verstanden werden (nach Keller-Bauer, zit. nach Xiao-an Zhu, 1994, S. 440) (Beispiel: »Ratten und Schmeißfliegen« als rassistisch diskriminierender Begriff der NS-Zeit für Juden und Intellektuelle). Xiao-an Zhu unterscheidet synchronische, diachronische, horizontale und vertikale Kontexte, was das Verstehen einer Metapher zu einer Verstehensleistung einer Kultur werden lassen kann. Zudem kann auch das Bildfeld eine kontextuelle Funktion ausüben – nach Weinrich: »Im Maße, wie das Einzelwort in der Sprache keine isolierte Existenz hat, gehört auch die Einzelmetapher in den Zusammenhang ihres Bildfeldes. Sie ist eine Stelle im Bildfeld« (zit. nach Xiao-an Zhu, 1994, S. 443). Metaphern können sich im Rahmen ihres kulturellen Gebrauchs gegenseitig erklären. Nicht zuletzt gibt es einen außersprachlichen Kontext der Kommunikation, zum Beispiel ein situativer, der eine Metapher als solche erkennbar, eher aber noch interpretierbar macht (Xiao-an Zhu, 1994, S. 445 ff.). Der situative Kontext ist dabei stets ein auch historischer. Ferner einen soziokulturellen Kontext, aus dem die Bilder der Metaphern schöpfen, also religiöse, sagenhafte und märchenhafte Motive. Der Emotionalkontext bezieht sich auf die gesprochene Sprache und verwendet die Mimik, die Psychomotorik, die Prosodie. Zusammenfassend ist also die Metapher eine Funktion des Kontextes, der im Falle einer Metapher eine Konterdetermination aufweist und sie damit identifizierbar macht.

Literatur Altmeyer, M., Thomä, H. (2006). Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Beardsley, M. C. (1983). Die metaphorische Verdrehung. In A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher (S. 120–141). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Hanna Reinhardt-Bork

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Intersubjectivity and the group For the past decades group psychotherapy has lost its significance. The following contribution analyzes general social aspects and subject specific reasons of this development, yet points to the positive scientific evidence of analytical group psychotherapy’s effectiveness. Furthermore, basic theoretical conceptions as well as group therapeutic practical evidence go along well with new research results in infant development, attachment and brain research. In contrasting individual and group therapy both therapeutic approaches are discussed as to differences, possibilities, and limitations.

Zusammenfassung In den vergangenen Jahrzehnten hat die Gruppenpsychotherapie quantitativ an Bedeutung verloren. Der Beitrag untersucht die gesellschaftlichen und fachspezifischen Hintergründe dieser Entwicklung, weist aber auch darauf hin, dass die vorliegenden wissenschaftlichen Forschungsergebnisse die Wirksamkeit der analytischen Gruppenpsychotherapie positiv belegen. Zudem lassen sich die theoretischen Grundannahmen wie auch die gruppentherapeutische Praxis sehr gut mit neueren Forschungsergebnissen aus dem Bereich der Säuglings-, der Bindungs- und der Hirnforschung verbinden. In der Gegenüberstellung von Einzel- und Gruppentherapie werden Unterschiede, Möglichkeiten und Grenzen beider Therapieverfahren erörtert.

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Vorbemerkung Selten sind in der Geschichte der Psychotherapie zwei Entwicklungslinien so konträr verlaufen wie im Bereich der Einzel- und der Gruppentherapie. Während die Einzeltherapie in den letzten Jahren zumindest quantitativ immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist die Gruppentherapie sowohl im Versorgungssystem wie auch in der therapeutischen »Community« immer mehr an den Rand geraten und fast schon zu einem marginalen Phänomen geworden.

Wieso ist die Gruppentherapie out? In den 1970ern und Anfang der 80er Jahre gab es eine Hochphase der Gruppenbewegung mit einer erheblichen Idealisierung von Gruppe. Die Gruppe, das Kollektiv wurde zum Hort des Guten, zum Bollwerk gegen den »verderblichen« Egoismus. Bis in die Kinderbücher hinein galt die Idee: Gemeinsam sind wir stark. Innerhalb der Individualpsychologie gab es die Sommerschulen für ganze Familien mit vielfältigen internationalen Begegnungsmöglichkeiten, die sich auf dem Boden der Begeisterung für den Sozialismus und das Gemeinschaftsgefühl entwickelt hatten. Heute stehen eher Werte wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hoch im Kurs. Mit anderen zu sein, zwingt zur Anpassung und zu Kompromissen. Nie gab es so viele Einzelkinder, nie so viele Singlehaushalte, nie verfügten einzelne Personen über mehr Quadratmeter Wohn- bzw. Lebensraum. Wenn es aber stimmt, dass Menschen biologisch gesehen zur Sorte der Kleinherdentiere gehören, kann der Bezug zum Kollektiven nicht einfach aufgehört haben zu existieren, auch dann nicht, wenn wir in einer Welt zunehmender Vereinzelung leben. Dauerhaft passiert nichts komplett gegen die bio-soziale Ausstattung des Menschen, allenfalls die Formen können sich gewandelt haben. Und in der Tat, was wir sehen, sind unverminderte, wenn auch qualitativ veränderte Gruppenbezüge, die sich etwa in Form von Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, Kirchentagen, Public Viewing, Fanmeilen und spontanen Trauerversammlungen zunehmend großer Beliebtheit erfreuen. Auch die sogenannten »neuen Medien«, speziell

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das Internet, bescheren uns neue Formen der Vergesellschaftung, vom Chatroom über Foren bis hin zum Facebook. Solch konstruktiven Formen von Zusammenschlüssen stehen aber auch neue Formen destruktiven Miteinanders gegenüber, wie zum Beispiel Flashmob oder Cyberbulling.

Was ist anders als früher? Anders als noch vor einigen Jahren sind die Formen der Vergesellschaftung flüchtiger, unverbindlicher geworden, die Hierarchien flacher. In »modernen« Gruppen verweilt man, solange es sich gut anfühlt, und man geht, wenn (harte) Arbeit lauert – oder Unbehagen. Der Hedonismus hat zugenommen, die Gruppe ist geblieben. Nicht hingegen im Medizinsystem. Trotz mittlerweile angemessener Bezahlung bleibt Gruppentherapie in der ambulanten Praxis bislang ein unbedeutend kleiner Posten bei der Geldverteilung im Kassensystem. Auf Gruppentherapie entfallen nur 0,5 bis 1% des Budgets für psychotherapeutische Leistungen. Es trifft zu, dass Patienten nur in seltenen Fällen das therapeutische Format »Gruppe« nachfragen und wenn, dann am ehesten diejenigen, die in Kliniken und Kuren schon Erfahrungen mit dieser Form von Psychotherapie gesammelt haben. Hinzu kommt, dass das Format Gruppe – selbst von Therapeuten, die Gruppen anbieten – oft wenig überzeugend »verkauft« wird. Dies legt den Verdacht nahe, dass auch manche Gruppentherapeuten die fehlende Wertschätzung von Skeptikern und Gegnern der Gruppenbehandlung heimlich teilen. Die meisten Psychotherapeuten haben ihre erste therapeutische Identität als Einzelbehandler entwickelt. Das beeinflusst die Wahrnehmung wie auch die indikatorischen Erwägungen. So neigen Therapeuten, die gelernt haben, in erster Linie auf das Intrapsychische zu achten, dazu, im Gruppenprozess eher auf einzelne Patienten zu achten als auf die spezifischen Gruppenprozesse und deren Dynamik zu fokussieren. Wenn Gruppentherapie so aufgefasst und als eine Art Einzeltherapie in der Gruppe praktiziert wird, dann – so könnte man denken und rechnen – hat ein einzelner Gruppenteilnehmer bei einer Gruppengröße von neun Patienten während einer hundertminütigen Gruppentherapie

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lediglich elf Minuten für die Darstellung und Bearbeitung seiner Probleme und nicht üppige fünfzig Minuten wie im Einzelsetting. Heißt dies nun, dass dem Zug zum Einzelkind die Bewegung hin zur Einzeltherapie gefolgt ist? Und dass nur die Einzelbehandlung optimale Entwicklung gewährleistet? Auch wenn es heute nicht mehr im gleichen Maße wie früher zutrifft, so ist doch die Bedeutung von Geschwistern für die kindliche Entwicklung lange Zeit nur wenig untersucht und die vorliegenden Erkenntnisse – etwa der empirischen Entwicklungspsychologie – haben in neueren analytischen Entwicklungstheorien nur wenig Berücksichtigung gefunden. Lange hatte es bei dem vorherrschenden Fokus auf die Mutter-Kind-Beziehung schon der Vater schwer, seine eigenständige Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung oder etwa die Herausbildung einer stabilen Geschlechtsidentität des Kindes nachzuweisen. Die analytisch orientierte Entwicklungspsychologie war lange Zeit stark von John Bowlby, dem Vaters der Bindungstheorie, beeinflusst und orientierte sich an seinen bindungstheoretischen Grundannahmen. Bowlby sprach in einigen Veröffentlichungen Vätern die grundlegenden biologischen Voraussetzungen für eine stabile emotionale Bindung an das Kind ab und beschränkte seine Aufgabe innerhalb der Familie auf die wirtschaftliche Absicherung der Familie und die emotionale Unterstützung seiner Partnerin (Bowlby, 1976, 1982). Von dieser Sichtweise hat sich bis heute viel erhalten. Dass der Vater als ein den Unterschied markierender Dritter eine ganz eigene spezifische und unersetzliche Aufgabe für Kinder beiderlei Geschlechts hat, wird erst in der neueren Väterforschung allgemein anerkannt (Mühling u. Rost, 2007).

Wie erfolgreich ist Gruppentherapie? In der empirischen Forschung wird der Gruppenpsychotherapie in mehreren Metaanalysen eine vergleichbare Effektivität wie der Einzelpsychotherapie attestiert. Orlinsky (2009) sagte vor wenigen Wochen in einem Vortrag auf der DGPT-Tagung in Berlin: »Relevant für die psychoanalytische Therapie dürfte […] der Umstand sein, dass sich keine konsistent besseren Ergebnisse für Einzel- im Vergleich zu Gruppentherapien aufweisen lassen« (Orlinsky, 2009). Heinzel

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weist darauf hin, dass dies bei ungleich ökonomischerer Arbeitsweise seitens der Gruppentherapie zutrifft (Heinzel et al., 1998, S. 149). Hier wäre nun anzunehmen, dass die Krankenkassen dieses Faktum sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen und es in ihrer Aufklärungsarbeit stark akzentuieren würden, böte es doch die Möglichkeit, Geld zu sparen, ohne dem Kunden Qualität vorzuenthalten! Von solchen Bemühungen ist aber nichts zu bemerken. Vielleicht, weil der Vorwurf erhoben werden könnte, dass man an psychisch Kranken sparen oder ihnen nur die unattraktivere Discounter-Variante von Psychotherapie zugestehen wolle? Heinzel (2010) beklagt, dass im gesamten Bereich der Psychotherapieforschung dezidierte Kosten-Nutzen-Analysen immer noch eher die Ausnahme sind. Einschränkend sei hier allerdings hinzugefügt, dass stationäre Gruppenpsychotherapie insgesamt besser untersucht ist als ambulante und hier wiederum die kognitiv-behavioralen Modelle umfangreicher als die psychodynamischen. Leider ist auch die störungsspezifische Forschung bei den analytisch begründeten Verfahren noch nicht sehr weit entwickelt, so dass es heute oft nicht möglich ist, empirisch abgesicherte adaptive Indikationen vorzunehmen. Aber es gibt inzwischen auch vielversprechende Forschungsansätze. So ist es etwa Peter Fonagy und seinen Mitarbeitern gelungen, die Wirksamkeit und sogar die Überlegenheit der von ihm auf der Grundlage der Mentalisierungstheorie entwickelten mentalisierungsbasierten Gruppentherapie (MBT) bei der Behandlung von Borderline-Störungen eindrucksvoll zu belegen (Bateman u. Fonagy, 2008, S. 89 ff.). Damit wendet sich Fonagy gegen das in der Psychotherapie vielfach anzutreffende »Dodo-Prinzip«, das behauptet, dass alle Therapieformen gleichgut helfen, wenn sie nur lege artis angewendet werden. Bei genauerem Hinsehen kann man aber feststellen, dass nicht bei jeder Störung alle Ansätze gleich hilfreich und wirksam sind. Das gilt im Übrigen sowohl für die Einzel- wie für die Gruppenpsychotherapie. Generell muss gelten, dass einer Person umso mehr Schutz – nämlich der Schutz der therapeutischen Dyade – gewährt werden muss, je weniger sie den normalen Anforderungen des sozialen Lebens gewachsen ist, vor allem, je verletzlicher sie ist. Aber auch wenn man einer solchen Sichtweise und Einschätzung zustimmt, so bleibt es meiner Ansicht nach ein wichtiges Ziel, Patienten auf ihre »Auswilderung« vorzubereiten,

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also eine Tauglichkeit für durchschnittlich erwartbare Umwelten anzustreben. Genau dies aber kann die Gruppenpsychotherapie leisten. Geschieht dies nicht, bleiben soziophobische Patienten tendenziell oder zu lange abhängig von Therapieangeboten, die den Betroffenen in einer allzu geschützten Atmosphäre weit weniger abfordern als die Alltagswelt. Die Gruppe hat in dieser Hinsicht eben entscheidende Vorteile: Sie bietet nicht nur eine professionelle Begleitung und Hilfestellung, sondern nutzt auch die kreativen und konfrontativen Potenzen der Laientherapeuten und nähert sich daher mehr der Realität und der sozialen Komplexität.

Warum aber soll, wenn doch von allen Seiten kein rechter Appetit auf therapeutische Gruppen besteht, darin vermehrt Heil gesucht werden? Man könnte an dieser Stelle vorbringen, dass die Gruppentherapie auch deshalb nicht mehr so dringlich gebraucht wird, weil das Verständnis interpsychischer und interpersoneller Zusammenhänge neben den intrapsychischen Abläufen in fast allen analytischen Schulen und Strömungen zunehmend als wichtig und unverzichtbar für einen angestrebten Heilungsprozess angesehen wird. Tatsächlich ist analytische Einzeltherapie vom intersubjektiven Standpunkt aus betrachtet ein Beziehungsstück, an dem zwei Personen als Drehbuchautoren und Akteure beteiligt sind – die alternative und beispielhafte Beziehungserfahrung soll heilen (und tut dies durchaus). In den meisten therapeutischen Fachgruppen hat sich inzwischen eine intersubjektive Wende vollzogen. Kaum ein Therapeut, der auf sich hält, kann sich heute noch – ohne als rückständig und ewig-gestrig belächelt zu werden – der Ein-Personen-Psychologie verschreiben oder einer Triebpsychologie, die nicht den Adressaten mitdenkt. Selbst Vertreter der Triebpsychologie wie Müller-Pozzi (2008) beeilen sich, die Entfaltung der Triebdynamik aus der Interaktion zu beschreiben. Martin Altmeyer und Helmut Thomä sind gar der Auffassung, »dass Intersubjektivität zu einem einheitsstiftenden Paradigma der modernen Psychoanalyse werden kann« (Altmeyer u. Thomä, 2006, S. 6). Insofern hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Psyche als

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solche intersubjektiv verfasst ist und bis in die tiefsten unbewussten Tiefen hinein nicht hintergehbar sozial. Dies klingt für Adlerianer ja durchaus plausibel oder sogar selbstverständlich – es hat aber in der eher freudianisch orientierten analytischen Community zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Gäbe diese nämlich das ureigenste Feld – das Intrapsychische – auf und verlagerte stattdessen die therapeutische Aktivität an die Oberfläche – und als solche werden Begriffe wie Anpassung, Miteinander oder Bindung begriffen –, wo bliebe da der radikal-emanzipatorisch analytische Ansatz? Wo ist dann noch der Respekt vor der dämonischen Dimension des Unbewussten als einer prinzipiell unsozialen Kraft zu finden? Dem Verdacht der Verharmlosung lässt sich aber leicht begegnen: Konkurrenz, Neid, Krieg und die systematische Vernichtung des Menschen durch den Menschen, das alles ist Teil der Conditio humana, wie wir spätestens seit den Studien von Reemtsma (2008) wissen. Es ist eben auch der normale Mann und Familienvater, der »Unmenschliches« tut, wenn es denn die soziale Situation hergibt. Die Abwehr dieser Einsicht dagegen dient der eigenen Beruhigung, indem man zum Beispiel groben Gewalttätern nur mit psychiatrischen Etiketten entgegentritt (»Sadismus«), denn in der Gefahrenzone der Psychiatrie sehen sich die meisten berechtigterweise nicht. Aber natürlich kann man solcher Distanzierungsversuche nicht wirklich froh werden. Die Verwandlung von Bürgern zu Ungeheuern war zu flächendeckend, als dass man allein mit dem Abnormen argumentieren könnte. Die erste Fassung der Wehrmachtsaustellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Heer, 1997), die zwischen 1995 und 1999 in Deutschland knapp eine Million Menschen gesehen haben, und das Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel J. Goldhagen (1996) trafen auf eine schockierte bis aggressiv ablehnende Öffentlichkeit. Diese wollte es lieber sehen, dass die früheren und heutigen Gräueltaten von einer kleinen, perversen Minderheit begangen worden waren, aber doch nicht von den eigenen Eltern, Großeltern und Nachbarn! Reemtsma warnt daher vor der »Verrätselung« des Offensichtlichen. Die Frage, »Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden« (Welzer, 2005), beantwortet sich eben auch durch die primär soziale Natur des Menschen.

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Individualpsychologie und Intersubjektivität Als Adlerianer könnte man den – mit Altmeyer und Thomä gesprochenen – Paradigmenwechsel in der Theoriebildung der Psychoanalyse zufrieden als das Problem der anderen betrachten und sich endlich bestätigt sehen in der Grundüberzeugung des Primates des Sozialen, hätte sich nicht in den letzten Jahrzehnten – mit der Anerkennung der adlerianischen Ausbildungsinstitute durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung Anfang der 1980er Jahre – hier eine leise, aber gründliche Annäherung an die freudianische Psychoanalyse ergeben. Dies betraf weniger die triebtheoretischen Erklärungsansätze, mehr schon die Ich-Psychologie und vor allem die Selbstpsychologie in der Nachfolge Kohuts. Adlerianer wollten – und mussten auch – dem Verdikt des »Nichtanalytischen« entgehen und entweder das eigene Theoriegebäude »tiefer legen« oder anschlussfähige psychoanalytische Ansätze finden. Die »gute alte Lebensstilanalyse« feiert beispielsweise aktuell in der »Schematherapie« der Verhaltenstherapeuten fröhliche (aber nicht zitierte) Urständ (Young et al., 2005). Bei der Selbstpsychologie gelang der Individualpsychologie die Annäherung ohne allzu schmerzliche Unterwerfungsakte, bot deren Focus auf Selbstwertprobleme (narzisstische Wunden) doch die Verbindung zum ›guten alten Minderwertigkeitsgefühl‹ Adlers geradezu an. Zudem fühlten viele Individualpsychologen ein Unbehagen ob der gelegentlich allzu harten und konfrontativen Art Adlers im therapeutischen Umgang mit Patienten und ob seiner moralischen Wertungen. Viele Kollegen waren in der humanistischen Psychologie sozialisiert und mit dieser identifiziert und fanden die bedingungslose Annahme der Patienten ebenso wichtig wie den empathischen Zugang zu ihnen. Also war und ist vielen eine Haltung, die Verständnisschwierigkeiten zwischen Therapeut und Klienten als Empathieversagen des Therapeuten begreift, naheliegend und sympathisch. Die Säuglingsforschung und die Bindungsforschung verhalfen dann ab den 1980er Jahren der schon von Vorläufern angelegten, aber bis dahin wenig beachteten intersubjektiven Wende zum Durchbruch. Auch hiermit hatte die Individualpsychologie keine Probleme. Wohl aber teilweise die freudianische Psychoanalyse: Die klassisch-psychoanalytische Idee besagt, dass Beziehungen nur zustande kommen,

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weil ein Gegenüber, die Mutter, zur primären Bedürfnisbefriedigung unverzichtbar ist und der Säugling die Mutter in den primärnarzisstischen Zustand qua symbiotischer Verschmelzung mit hineinnimmt – später dann erst verzichtet er unter Kämpfen und Leiden auf das damit verbundene Gefühl von Grandiosität und Allmacht. Der Mitmensch bleibt eine prekäre Aufgabe, die Sehnsucht gilt dem spannungs- und schwerelosen intrauterinen Zustand. Diese Kernideen können als widerlegt gelten, der »kompetente Säugling« hat sich durchgesetzt. Der/die andere muss nicht erst (mühsam) etabliert werden, sondern ist immer schon da, im Gehirn, lange vor der Geburt, als »virtuell anderer« angelegt. Das Gehirn selbst ist in den Jahrhunderttausenden seiner Ausformung in und durch die Kooperation und den Kampf mit dem Mitmenschen zu einem »Beziehungsorgan« geworden (Fuchs, 2008). Insofern kann es als ewige Baustelle beschrieben werden, auf der das entwickelt wird, was gerade gebraucht wird. Weil die zu bewältigende Umwelt des Menschen eine überwiegend menschliche ist, bedarf der Mensch zu ihrer erfolgreichen Handhabung »social tools«. Deshalb ist das Gehirn/der Mensch von Anfang an auf soziale Stimulation aus, deshalb sucht der Säugling eine »Antwort« und wird krank, wenn diese ausbleibt (vgl. auch Green, 2004). Dass die ersten sozialen Erfahrungen des Säuglings nicht nur auf seine Fähigkeiten zu späteren Beziehungsgestaltungen auf allen Ebenen (Bindungsforschung) Einfluss nehmen, sondern viel umfassender die Grundlagen seines Selbstbezuges legen, ist unumstritten. Sogar die Fähigkeit, allein zu sein, setzt die verinnerlichten guten Erfahrungen mit den frühen Beziehungspersonen voraus. Wie Winnicott schon Ende der 1950er Jahre in seinem gleichlautenden Artikel ausführt (Winnicott, 1957), ist der Mensch nie allein, wenn er den beruhigenden und tröstenden inneren Dialog mit anderen führen kann. Diese Fähigkeit ist das Sediment unendlich vieler sozialer Minibegegnungen vom ersten Lebensmoment an. Es gibt den Menschen also nicht als Einzelwesen – weder genetisch noch seelisch. Selbst wer unter einer Soziophobie leidet, kann mitnichten den anderen entbehren. Der/die andere ist lediglich durch aversive Erfahrungen zu einer schmerzlichen sozialen Tatsache geworden. Wie in der Schopenhauer’schen Stachelschweinparabel können Menschen nicht ohne Nähe überleben, wollen sie nicht den sozialen Erfrierungstod erleiden. Nähe

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aber kann heftige Verletzungen zufügen, so dass sich viele Menschen in einer unablässigen Pendelbewegung befinden zwischen einem »zu nah« und einem »zu fern«. Dieses Phänomen ist vielen Therapeuten aus Behandlungen von Borderline-Patienten und – hoffentlich abgeschwächt – bei sich selbst bekannt. John Bowlby hat schon in den 1960er Jahren eine soziobiologische Richtung gewiesen, als er die Selektionsvorteile der Bindung erstmals aufzeigte. Neuere Forschungen an der Schnittstelle von Hirnentwicklung und früher psychosozialer Erfahrung haben die Bindung als Organisator der physiologischen Regulation und der Hirnregulation sicher belegt. Nicht nur das Fühlen, auch das Denken bedarf der anderen und zwar auf dem Boden sicherer Bindungen (Lehmkuhl, 2009).

Die Befunde der Soziobiologie: Entstehen menschlichen Miteinanders im Verlauf der Evolution Entgegen dem evolutionären Kerngedanken, dass der Stärkste seine Gene weitergeben kann und sich mit dieser kämpferischen Haltung durchsetzt, finden wir sowohl bei Tieren als auch bei Menschen einen auf den ersten Blick unerklärlich erscheinenden Altruismus. Unter Verwandten noch am ehesten theoriekonform (Nepotismus), erklärt sich Altruismus unter Fremden schwerer. Dennoch: Wer als Spezies bestehen will, muss mit Artgenossen kooperieren – das gilt auch für Menschen. Martin Nowak, Biochemiker und Mathematiker an der Universität Harvard, entwickelte zunächst Computersimulationen darüber, wie sich Kooperation für primitive Organismen »auszahlt«. Für ihn ist der bemerkenswerteste Aspekt der Evolution ihre Fähigkeit, in einer von Konkurrenz geprägten Welt Kooperation hervorzubringen. Neben Mutation und Selektion postuliert er »die natürliche Kooperation« als drittes fundamentales Prinzip der Evolution (Nowak, 2005). Der Homo sapiens ist das Tier, das klug wurde, weil es kooperierte. Kooperation heißt genau genommen Gegenseitigkeit. Diese wird praktiziert in der Erwartung, gegebenenfalls auch Nutznießer zu werden. Das ist dann der reziproke Altruismus. Erforscht wurde er unter anderem an der Spezies der Mittelamerikanischen Vampirfledermäuse in Costa Rica, die weniger erfolgreichen Artgenossen

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erbeutetes Blut abgeben, und an Menschenaffen, die bei der Fellpflege und Nahrungsbeschaffung aufeinander angewiesen sind (Voland, 2009, S. 69 ff.). Bei näherer Analyse zeigt sich, dass diese Arten von Kooperation verkappter Egoismus ist, der das Ziel verfolgt, selbst Nutzen aus dem auf den ersten Blick rein altruistisch erscheinenden Verhalten zu ziehen, auch wenn dies oft erst mit zeitlicher Verzögerung geschieht. Beim Menschen kann der Zusammenhang von »guter Tat« und »Eigenertrag« zeitlich sehr gestreckt bis unerkennbar sein. Nowak nennt das Handycap-Altruismus. Diese Form des Handelns ist darauf ausgerichtet, durch Geben die Erhöhung des eigenen Status zu erreichen und hieraus Gewinn zu ziehen, frei nach dem Motto: »Tue Gutes und rede darüber.« Eine solche Form der Selbsterhöhung ist sicher spezifisch menschlich, weil die Voraussetzung hierfür differenzierte soziale Gefüge mit Prestigehierarchien und öffentlichen Kommunikationsstrukturen sind. In einem Artikel der Zeitschrift GEO vom Dezember 2005 wird unter der Überschrift »Die Abkehr vom Egoismus« auf Forschungsergebnisse der Universität Stuttgart-Hohenheim hingewiesen, die ermittelt haben, dass in Deutschland jährlich fünf Milliarden Stunden freiwillige soziale Arbeit geleistet werden – das sind 10 % mehr als im gesamten bezahlten öffentlichen Dienst in diesem Bereich. Ausdruck altruistischer Einstellungen und von sozialem Engagement ist beispielsweise auch der »Volontourism« – Freiwilligenarbeit im Urlaub, ein Engagement, das von den Hilfswilligen sogar noch selbst bezahlt werden muss. Die Nachfrage ist trotzdem gut, wie der Service Civil International (SCI) berichtet. Überhaupt schreiben mittlerweile alle, die auf der Welle der gerade aktuellen Glücksforschung mit schwimmen, dass Geben glücklich macht. Die Gratifikation für die freiwilligen Helfer: Sie leben zufriedener, gesünder und länger (Ramge, 2006, S. 41 ff.). »Die Großzügigkeit liegt in unserer Natur, weil sie sich lohnt« (S. 39). In der menschlichen Natur scheint es aber auch zu liegen, nach Möglichkeiten zu suchen, die Großzügigkeit anderer auszunützen. Einzelne können manchmal von den Leistungen der Gemeinschaft profitieren, ohne selbst etwas zu leisten – und der Nettogewinn ist für einen solchen Menschen am höchsten bei eigener Nullinvestition. Gegen solche Praktiken mussten die Gemeinschaften, wenn sie ihren

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evolutionären Vorteil nicht verspielen wollten, Maßnahmen ergreifen, nämlich Steuerung durch Reputation und Strafe. Reputation meint die oben skizzierten Prestigehierarchien, die dem Anerkannten handfeste Vorteile in Form von bevorzugter Unterstützung bei eigener Bedürftigkeit einbringt und auch in komplexen Gruppen sehr wirksam ist. Strafe bedeutet hier: Die Gemeinschaft ächtet Übeltäter durch soziale Isolation und durch spürbare Konsequenzen und ist bereit, dafür Kosten auf sich zu nehmen (altruistische Bestrafung). Ergebnisse der sogenannten Public-goods-Spiele (Voland, 2009, S. 83 f.) zeigen, dass es zur Verelendung öffentlicher Güter kommt, wenn »Schmarotzer« nicht bestraft werden. Glücklicherweise bedarf die Moral nicht nur der sozialen Affirmation durch Belehrung und Bestrafung – sie ist bereits Teil unsrer neuronalen Ausstattung. Nicht nur Affen haben ein Gefühl für Fairness, auch schon sehr kleine Kinder bewerten absichtliches und unabsichtliches Fehlverhalten unterschiedlich. Der Philosoph Joshua Greene hat mittels Neuroimaging gezeigt, dass bei der Entscheidung moralischer Dilemmata immer auch Emotionen erheblich beteiligt sind (Greene, 2002). Das wissen die Fundraising-Organisationen auch, die durch Bilder von Kindern, von leidenden und weinenden Menschen eine Hilfsbereitschaft erzeugen, die abstrakte Zahlen und Daten nicht hervorbringen. Mit Distanz und Fremdheit der Bedürftigen verliert die altruistische Ader jedoch ihre Kraft. Die Fähigkeit zur Kooperation, und damit zur Solidarität und Friedfertigkeit ist eben über Jahrhunderttausende an das Leben in kleinen Gruppen gebunden gewesen. Und es waren die Kleingruppen und ihre spezifische Kooperation, die – so wird vermutet – für die sensationelle Entwicklung des Menschen verantwortlich sind. Der Anthropologe Carel van Schaik hat eine gut fundierte Theorie, wieso es Menschen gelang, ihre Affenverwandtschaft zu übertrumpfen. Im Gegensatz zu ihren nächsten Verwandten sind Menschen »cooperative breeders«, sie ziehen ihre Kinder gemeinschaftlich auf. Das erlaubt ihnen, alle zwei bis vier Jahre Nachwuchs zu haben – etwa im Gegensatz zu den Orang-Utan-Weibchen, die allein für ihr Junges sorgen und nur alle sieben bis neun Jahre gebären (Van Schaik, 1996). Menschenaffen teilen mit uns die Fähigkeit, zu kooperieren und auch Erfahrungen weiterzugeben, aber sie sind nicht altruistisch – sie geben Futter nie einfach spontan ab. Die einzig-

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artige menschliche Fähigkeit zum spontanen Teilen fühlt van Schaik auf das gemeinschaftliche Brutgeschäft unserer Vorfahren zurück. Tomasello vom Max-Blanck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig spricht vom Menschen als dem »Tier, das ›wir‹ sagt« (Tomasello, 2009, S. 17). Die Grundemotionen teilt der Homo sapiens mit den Menschenaffen – auch die Freude. Die Freude jedoch, etwas mit anderen zu teilen und gemeinsam zu tun, ist nach Ansicht von Tomasello ein spezifisch menschliches Gefühl. Er spricht von »shared intensionality«. In der Lösung von Intelligenzaufgaben ähneln sich Affen- und zweijährige Menschenkinder. Die Aufforderung an das Gegenüber, sich den eigenen Interessen zuzuwenden, findet sich aber nur auf Seiten der Menschen. Kleine Kinder zeigen mit Begeisterung auf Dinge, die sie gerade interessieren. Menschenaffen hingegen, so intelligent sie auch sein mögen, zeigen nicht. »Apes don’t point for apes«, sagt Tomasello, und in diesem scheinbar unscheinbaren Unterschied im Verhalten von Menschen und ihren nächsten Verwandten liegt für ihn ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis dessen, was menschliche Intelligenz so besonders macht. Das sind die schönen Seiten unseres Sozialverhaltens. Unserer Kultur ist die Weitergabe des erworbenen Wissens und Könnens an die anderen immanent – ein ungeheuerlicher evolutionärer Vorteil. So ist Kultur nicht der Gegensatz von Natur, sondern ein Teil von ihr. Wie allumfassend die multiplen anderen in unser Leben eingreifen, zeigt die Studie des Politikwissenschaftlers Fowler und des Sozialmediziners Christakis (Christakis u. Fowler, 2009), die 5000 Probanten 20 Jahre lang wissenschaftlich begleiteten: Menschen, die in räumlicher Nähe (Netzwerk) um uns sind, beeinflussen Glücksgefühle, Rauchverhalten, Essverhalten, Körpergewicht – und zwar unerwartet massiv. Für den allgemeinen Gesundheitszustand und die Lebensdauer ist die heilsame Kraft der sozialen Bindungen in etlichen demographischen Untersuchungen belegt (Coan, 2008). Die geteilte Aufmerksamkeit und Beeinflussung kann auch zerstörerischen Charakter haben. Ich verweise hier auf die berühmten Asch-Studien (Asch, 1951) aus den 1950er Jahren, die zeigen, in welchem Ausmaß Menschen ihre eigene Meinung unter Gruppeneinfluss nicht einfach nur anpassen, sondern tatsächlich in Gruppenrichtung ändern. Auf forensischem Gebiet werden immer wieder Fälle bekannt,

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in denen es zu Gruppentaten kommt, die für die Einzelperson keinen Sinn machen und die aus deren Leben und Persönlichkeit allein nicht zu erklären sind. Bei der Ausarbeitung dieses Beitrags traf ich zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung auf einen Versuch, die Angeklagten des sogenannten Sauerlandprozesses zu verstehen. Die Überschrift des Artikels lautet: »Ein schrecklich unauffälliger Weg in den Hass«. Einmal mehr wird in dem Beitrag Unverständnis angesichts der unauffälligen Biographien der Gruppenmitglieder geäußert und darüber, dass ursprünglich nichtreligiöse Militärdienstverweigerer gemeinschaftlich den massenhaften Tod von Menschen geplant haben. Aber das ist Gruppendynamik. Da entsteht etwas aus dem gemeinsamen Tun, aus dem geteilten Genuss von Machtphantasien. Reemtsma meint, »dass Organisationen und Situationen Charakterzüge hervortreten lassen, die den meisten als Aspekte ihres Wesens gleichsam zur Verfügung stehen, die aber in anderen Situationen und außerhalb des organisatorischen Zusammenhangs die Persönlichkeit in keiner Weise dominieren. Das heißt bekanntlich nicht, dass aus allen alles werden kann, aber aus sehr vielen sehr vieles …« (Reemtsma, 2008, S. 441). In diesem Zusammenhang sei auch noch auf die oft zitierte Milgram-Gehorsam-Studie von 1962 (Milgram, 1974) und das StanfordPrison-Experiment von Zimbardo 1971 (Haney, Banks u. Zimbardo, 1973) verwiesen, beides Klassiker der experimentellen Sozialforschung, die zeigen, wie unter dem Einfluss von Autoritäten und der Gruppe das eigene Verhalten manchmal bis zur späteren Unverständlichkeit geformt wird.

Bezüge zur neueren Hirnforschung Die in neuerer Zeit in Therapeutenkreisen so häufig erwähnten Spiegelneurone wurden zwar erst 1991 in Parma als zufälliges Nebenprodukt neurologischer Forschungen entdeckt, gesucht hat man das neurologische Substrat des Mitgefühls aber schon lange. Psychotherapeuten haben diesen Forschungen viele Einsichten zu verdanken. Die Ergebnisse der neueren Hirnforschung zeigen, dass das Neugeborene das Mitmenschliche in Form einer Bereitschaft und Fähigkeit zu korrespondierendem Reagieren mit auf die Welt bringt. Der/die andere

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steckt im menschlichen Gehirn und wird weit unterhalb der Bewusstseinsschwelle früh erfasst. Im unbewussten Abtasten des sozialen Nahfeldes besteht im Grunde unser ganzes Tun. Wenn sich zwei Menschen begegnen, werfen ihre Gehirne biochemische Enterhaken nacheinander aus. Fühlen wir uns vertraut, schütten unsere Nervensysteme im Gleichtakt die Bindungshormone Oxytyzin und Vasopressin aus und den Belohnungsstoff Dopamin. Das hält Immunfunktionen intakt und den Blutdruck stabil. Eine Mindestdosis von verstehender Resonanz ist daher nicht nur ein elementares emotionales Bedürfnis, sondern für die körperliche und seelische Gesundheit unerlässlich. Wird sie langfristig verweigert, kommt dies der Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft gleich, dem sozialen Tod (Bauer, 2005, S. 108 f.). Beim Mobbing, einem Phänomen, das den meisten Menschen sowohl in der Opfer- wie auch in der Täterrolle bekannt sein dürfte, handelt es sich vermutlich um ein ubiquitäres Phänomen, mit dem Menschen abweichendes Verhalten mehr oder weniger subtil bestrafen. Aber wie kann es geschehen, dass der Mitmensch plötzlich aus der Empathie fällt, dass seine Leiden nicht mehr das eigene Schmerzzentrum anregen, ja manchmal sogar ein triumphales Machtgefühl erzeugen mit der Lust am Quälen? Wie schnell und gründlich dies geschehen kann, darüber haben viele jüdische Opfer erschütternde Zeugnisse abgelegt. Auch der Balkankrieg und der Völkermord in Ruanda können hier genannt werden. Was schaltet die Aktivität der Spiegelneurone ab? Auch dafür gibt es offensichtlich archaische Mechanismen, die uns zum Thema der Gruppe zurückführen. Es gibt ein Innen und ein Außen, »Ingroup« versus »Outgroup«, Familie versus Fremde. Versehen mit dem Etikett »zugehörig«, unterliegt man anderen Behandlungsregeln als mit dem Etikett »Fremder«. Zur Verdeutlichung dieses Prinzips zitieren die Evolutionspsychologen gern ein altes arabisches Sprichwort, das folgendermaßen lautet: »Ich gegen meinen Bruder; ich und mein Bruder gegen unsere Vettern; ich, mein Bruder, meine Vettern gegen die, die nicht mit uns verwandt sind; ich, mein Bruder, meine Vettern und Freunde gegen unsere Feinde im Dorf; sie alle und das ganze Dorf gegen das nächste Dorf« (zit. nach Barash, 1981, S. 162). In einem Sozialstaat, in dem das Überleben des Einzelnen nicht mehr von der Blutsverwandtschaft garantiert wird, verschiebt sich der Ingroup-Out-

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group-Mechanismus vom Blut auf geteilte Interessen, sprich Freundschaften, Cliquen, ohne dass die Gefährlichkeit dieses Musters und dieser Dynamik abnimmt. Wenn eine für eine Massengesellschaft geeignete Moral etabliert werden soll, kommt man um die Beschäftigung mit gruppalen Systemen, Dynamiken und Steuerungen nicht herum. So betrachtet ist Intersubjektivität in der Psychotherapie die logische Folge der Erkenntnisse aus den Bereichen Bindungsforschung, Säuglingsforschung, Hirnforschung und Soziobiologie. Heute kann es als Konsens angesehen werden, dass Menschen einander benötigen, um gespiegelt zu werden, um sich selbst zu entwerfen, sich im sozialen Miteinander zu stabilisieren.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wozu aber den multiplen Anderen, wozu Gruppe in der Psychotherapie? Die Säuglingsforschung und die Bindungsforschung mit dem Focus auf die Analyse frühester Interaktionen hat die Mutter-Kind-Beziehung einseitig zum Modell der Psychotherapie werden lassen. Die Dyade wird bis heute von vielen als Anfang der seelischen Entwicklung gesehen. In der dyadischen Psychotherapie sollen emotionale Defizite aufgefüllt werden, sollen sich basale Formen der Selbstvergewisserung entwickeln, soll Bindung entstehen. In den im kassenfinanzierten Bereich der Psychotherapie obligatorischen »Berichten an den Gutachter« werden eine Unzahl von Störungen auf frühe(ste) Mangelerfahrungen zurückgeführt. Die Standardindikation, das Standardrezept lautet – je nach dem, welche Abrechnungsziffern im Einzelnen bemüht werden dürfen – »korrigierende emotionale Erfahrung im Zweiersetting«. Die ungünstige Entwicklung des Patienten durch mangelhafte frühe Spiegelung seitens der Mutter soll korrigiert werden und zwar mutteranalog durch eine Einzelperson. Die Möglichkeit, auch und vielleicht sogar gerade frühe Störungen in gruppalen Kontexten nachhaltig zu behandeln, wird weitgehend ausgeblendet. Dabei wurden im Bereich der Gruppenanalyse ähnlich wie in die Einzelanalyse schon seit längerem Modifikationen der klassischen Behandlungstechniken vorgenommen, um auch strukturgeschwächten Klienten ein optimales Lernfeld zu bieten. Schon in den 1970er Jahren entwickelten und

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praktizierten Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl und ihre Mitarbeiter in Tiefenbrunn bei Göttingen im stationären Bereich die »interaktionellanalytische Gruppentherapie« (Heigl-Evers u. Ott, 2002) für schwer gestörte Patienten. Aktuell schließen Peter Fonagy und seine Schule mit der MBT-Gruppentherapie für tagesklinische Borderline-Patienten an diese Entwicklung an (Bateman u. Fonagy, 2008, S. 89 ff.). Dies hat aber in Deutschland bislang nicht zu einer nennenswerten vermehrten Inanspruchnahme von Gruppenangeboten geführt. So gesehen spiegelt sich in der Psychotherapielandschaft eher die gesellschaftliche Entwicklung hin zu Einelternfamilien und Einkindfamilien wider. Statt dies therapeutisch zu korrigieren durch komplexere Angebote, behauptet sich weiterhin die Dyade als kleinste und am leichtesten zu handhabende soziale Einheit im therapeutischen Raum. Nun könnte man sagen: »Na, passt doch« – wenn dies in der Folge nicht ein sehr eingeschränktes therapeutisches Verhaltensrepertoire bedeuten würde. Um sich in der Welt, die im erheblichen Maße eine soziale ist, entwickeln zu können und erfolgreich zu sein, bedarf es umfangreicher Fähigkeiten. Und – wie oben belegt – kann es kein individuelles Glück auf Dauer geben ohne gute soziale Verankerung. Insofern kann ein allgemeines Therapieziel nicht allein in einer verbesserten psychischen Binnenstruktur bestehen. Die psychotherapeutische Versorgung wird auch Angebote bereitstellen müssen, die auf die Wiederherstellung und Verbesserung sozial-kommunikativer Kompetenzen abzielen, Angebote, die in ihrer Reizkomplexität den Anforderungen des Außen und dem angelegten Potenzial im Innen entsprechen. Eine wunderbare einfühlsame Mutter bietet eben nur das weibliche Modell einer Verantwortungsperson. Sie kann nicht das Männliche ersetzen und auch nicht Geschwister, mit denen Positionen ausgehandelt und ausgekämpft werden können und müssen. Geschwister sind die Menschen, mit denen wir im Leben am längsten zu tun haben und mit denen Modelle von Reziprozität, gleichberechtigtem Handeln und Unterstützung gelernt werden können. Ich erinnere daran, dass es Alfred Adler war, der als Erster im analytischen Lager die enorme Entwicklungsbedeutung von Geschwistern erkannt und benannt hat (Adler, 1973, S. 152 ff.). Geschwister markieren den Übergang von einer asymmetrischen in eine symmetrische Beziehung mit je eigenen Regeln.

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Psychotherapie als Lernvorgang ist auch an das reale Beziehungsund Übertragungsangebot gebunden, das im Einzel- und im Gruppensetting durchaus unterschiedlich ist. Auch die gegebene spezifische Geschlechterkonstellation spielt dabei eine nicht unbedeutende Rolle – auch hier bietet die Gruppe vielfältigere Möglichkeiten. Eine Patientin wird in einer einzeltherapeutischen Behandlung beispielsweise bei einer empathischen Therapeutin vermutlich innerhalb der therapeutischen Beziehung selbst weniger gut die Regeln des Konkurrierens erkennen, erlernen und bearbeiten können, und sie wird in dieser Konstellation auch nicht real erfahren und ausprobieren können, wie es ist, mit einem Mann zu flirten. In der Gruppe ist dies anders: Zwar sind auch hier durch die Person der Therapeutin oder des Therapeuten bestimmte Geschlechterkonstellationen im Therapeut-Patient-Verhältnis gegeben – auch in der Gruppentherapie steht ja nicht regelhaft ein gemischtgeschlechtliches Therapeutenpaar zur Verfügung –, jedoch bieten sich hier durch die Gruppenmitglieder, die ja auch gleichzeitig Laien-Ko-Therapeuten sind, vielfältigere Konstellationen, Erfahrungs- und Projektionsfelder an. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil psychotherapeutisches Beziehungsgeschehen auch immer mit – meist unbewussten – subtilen Inszenierungen zu tun hat, die Auskunft darüber geben können, über welches implizite Beziehungswissen eine Person verfügt und wie sie dieses anwendet. Das gilt natürlich nicht nur für Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Bei der Überlegung, wie psychotherapeutische Änderungen erreicht werden, formuliert Ulrich Streeck: »Vorrangig geht es […] nicht um Veränderungen im autobiographischen Gedächtnis, sondern um Modifikationen des impliziten Beziehungswissens des Patienten, nicht um neue Erzählungen, sondern darum, neue Wege zu erschließen, das Selbst mit anderen zu erfahren. Das aber heißt: An erster Stelle steht Interaktion, nicht Erzählen« (Streeck, 2008, S. 12).

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Wie schafft analytische Gruppentherapie einen heilsamen Interaktionsraum? Gruppe bildet komplexe soziale Realitäten auf kleinem Raum und in geschütztem Raum ab. Da finden sich Geschwister, Generationen, soziale Schichtung, Bildungsstufen, mögliche Sexualpartner, Temperamente und Persönlichkeiten. Da gibt es die eigene Person in ihrem Begehren und da gibt es die anderen, die auch was wollen. Da gibt es Konkurrenz und Kooperation, Zuneigung und Feindseligkeit, Verstehen und Missverstehen, kurz: alles das, was es an hilfreichen und destruktiven Beziehungsformen zwischen Menschen gibt. In der Tradition von Foulkes (1978) wird eine Gruppe so zusammengesetzt, dass sich komplementäre Störungsbilder zu einer »gesunden« Gruppe zusammenfügen, unter anderem durch maximale Vielfalt. Eine analytische Gruppe im Sinne und in der Tradition von Foulkes zu leiten, bedeutet, immer im Auge zu behalten, dass es die Gruppe ist, die die Therapie trägt. Der Gruppentherapeut ist ein »facilitator«, ein »conductor«. Er regt das Miteinander an und gestattet ein Erleben der Selbstwirksamkeit der Gruppe. Er lässt die Gruppe spielend arbeiten und greift, wie Eltern auf einem Spielplatz, nur ein, wenn Schaden verhindert werden muss. Er verkörpert Engagement und Wohlwollen und fördert wechselseitige Unterstützung. Er generiert im Winnicott’schen Sinne eine »haltende Umwelt«. Die Gruppe als Globalobjekt kann von den Mitgliedern idealisiert werden – und muss dies auch, soll sie Anreize zur Identifikation bieten –, aber sie bildet auch ein geeignetes Übergangsobjekt, das zwischen dem gefahrenreduzierten Gruppenmilieu und der komplexen Außenwelt begehbare Wege bereithält. Gruppenmitglieder können auf den anderen nicht verzichten, aber die anderen sind – wie jedes einzelne Gruppenmitglied selbst – auch gefährlich. »Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut«, schrieb einst Wilhelm Busch (»Der Einsame«). Selbst Wohlmeinende tun sich zumindest gelegentlich gegenseitig etwas an. Die Stärke des »therapeutischen Formats Gruppe« liegt auch darin, dieses erlebbar zu machen und eine Toleranz für das eigene und fremde Gefährliche zu entwickeln. Dabei gilt es, die Projektion des eigenen unerträglichen Bösen auf die anderen in der Gruppe als individuelles Abwehrmanöver zu erkennen und die gemeinsam organisierte Projek-

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tion feindseliger Impulse der Gruppenmitglieder auf »die da draußen« (die verständnislosen Partner, die bösen Eltern, mobbenden Kollegen usw.) als kollektive Abwehr zu erkennen und in den diesen zugrunde liegenden Motiven zu verstehen. In dem Maße, in dem eine solche individuelle und Gruppenpsychodynamik offen gelegt, erkannt, bearbeitet und angenommen werden kann bzw. entsprechende Impulse und Strebungen weniger verleugnet werden müssen, kann sich die eigene Ambivalenztoleranz erhöhen und das Über-Ich kann weniger streng und unerbittlich werden. Die für viele Patienten so quälende Diskrepanz zwischen Ideal- und Realselbst vermindert sich, der positive Selbst- und Fremdbezug wird gestärkt.

Ist Gruppe also die Therapieform, die als Standardformat angeboten werden sollte? In den Psychotherapierichtlinien sind Einzel- und Gruppentherapie – zumindest abrechnungstechnisch – als einander ausschließende Alternativen dargestellt. Das ist bedauerlich. Beide Therapieformen haben ihre Stärken und ihre Grenzen und lassen sich durchaus sinnvoll und produktiv miteinander verbinden, wie unter anderem die langjährigen Erfahrungen im Bereich der stationären Psychotherapie belegen. Inhaltlich kann man die therapeutische Entwicklung von einer dyadischen Einzel- hin zu einer multiplen Gruppenbeziehung vergleichen mit dem Entwicklungsweg eines Kindes, das sich aus einer eher schützenden Mutter-Kind-Beziehung allmählich zu einer Person entwickelt, die sich sowohl in einer intimen Zweierbeziehung als auch in einer Gemeinschaft lustvoll erleben und ausreichend angstfrei selbst behaupten kann. Genau diesen Prozess kann Gruppentherapie initiieren und befördern. In der Einzeltherapie macht sich der Therapeut als Mitmensch weit weniger fordernd bemerkbar, jedenfalls nicht im Sinne eines Anspruchs auf Raum für eigene Themen. Hier geht es überwiegend um den Nutzen für den Patienten. Außer Bezahlung und Freude über die Entwicklung des Patienten sollten Therapeuten nichts erwarten oder verlangen. Eine so einseitige, nahezu bedingungslose Zuwendung gibt es unter günstigen Umständen in der Regel nur für sehr kleine Kinder. In der Gruppe und in der Alltagswirklichkeit ist

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dies anders: hier stößt das eigene Begehren immer an das der anderen und Prozesse des Aushandelns sind unverzichtbar, wenn friedliches Miteinander gelingen soll. In einer langen Einzeltherapie können das Ausmaß und die Differenziertheit der Selbsterkenntnis größer sein, und in einer Gruppe kann es deutlich länger dauern, bis schamhaft besetzte Themen ansprechbar werden. Dafür ist aber der Transfer in das übliche soziale Umfeld besser. In der Gruppe lernt man mehr über das unvermeidlich Konflikthafte des Miteinanders. Das relativiert eigenes Leid, macht es »normaler« und somit erträglicher. Dennoch ist »Gruppe« nicht für alle Patienten zu jedem beliebigen Zeitpunkt gleichermaßen geeignet und hilfreich. Für Menschen, die früh traumatische Erfahrungen mit Gruppen gemacht haben – etwa in der Familie – oder Patienten, die nur wenig Gelegenheiten für soziale Erfahrungen hatten, oder die in einem sehr eingeengten oder allzu überbehütenden Umfeld groß geworden sind, kann Gruppentherapie eine Überforderung darstellen. Für diese Patientengruppe können symmetrische Beziehungen zu beängstigend sein. In einem solchen Fall bedarf es einer behutsamen Hinführung zur Gruppenbehandlung. Auch Patienten in einem akuten Leidenszustand verfügen oft zu wenig über die Fähigkeit, sich für andere zu öffnen. Überhaupt dauert es bei einigen Gruppenpatienten lange, bis sie begreifen, dass alles in der Gruppe auch mit ihnen zu tun hat, dass sie grundlegende Gefühle und Konflikte mit anderen teilen, dass sie daher von jeder thematischen Bearbeitung profitieren. Umgekehrt gibt es aber auch Patienten, für die die mögliche Intimität und Dichte einer Zweierbeziehung zu fremd und zu bedrohlich ist, und die sich erst im Schutz der Gruppe zum Beispiel bedrohlichen Elternfiguren annähern können. Für diese Gruppe kann durchaus erst eine Gruppentherapie und zu einem späteren Zeitpunkt eine Einzeltherapie angezeigt sein. Gruppentherapie ist anstrengender für den Therapeuten als Einzeltherapie und aufwändiger. Die Gruppenzusammensetzung muss passen und die Dynamik in der Gruppe ist auch für erfahrene Leiter immer wieder überraschend und auch manchmal beängstigend. Gruppe wirkt als Affektverstärker und zieht die Therapeuten nicht selten mit hinein in emotionale Strudel. Das muss man wollen. Aber Gruppe stellt Erfahrungen über sich und andere bereit, die die Einzeltherapie nicht bieten kann. Tschuschke resümiert knapp: »Es gibt keinen Wirk-

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faktor, in der Einzeltherapie, der nicht auch im Gruppensetting zum Tragen kommen könnte. Umgekehrt gilt dies nicht für die Wirkfaktoren der Gruppentherapie« (Tschuschke, 2010, S. 14).

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Von der Not, gut sein zu müssen

On the need of having to be perfect The following article introduces case material from the treatment of a female university student being 27 years old and suffering from anxiety and depression. It is reported on the patient’s longing for security with incapable objects and her struggle for achievement. Thus the therapist’s balancing act between her acceptance of the patient’s denied »grandios self« and the necessity to reduce these delusions of grandeur is described.

Zusammenfassung Es werden Ausschnitte der im Rahmen der Ausbildung zur Psychoanalytikerin erstellten Fallarbeit über die analytische Behandlung einer 27-jährigen Studentin mit einer ausgeprägten und lang anhaltenden Angststörung sowie depressiver Entwicklung vorgestellt. Es geht dabei um die wiederholte Suche der Patientin nach Halt bei untauglichen Objekten sowie unerreichbarem Leistungsanspruch. Dabei soll unter anderem die Gratwanderung der Therapeutin zwischen der Anerkennung der verleugneten Grandiosität, die die Patientin als Gegenkonzept für Beschämung und Selbstentwertung benötigt, und der Notwendigkeit, diese Größenideen zu reduzieren, betrachtet werden.

Erste Begegnungen – »Sieh, wie schwach ich bin, aber schau nicht hin« Es handelte sich um eine Patientin, die von sich selbst berichtete, dass sie mit ihrer Angst seit ihrer Kindheit gekämpft und dass diese sie daran gehindert hätte, einen Beruf zu finden. Sie sprach von Versagensängsten, Sozialphobie, ausgeprägten Rückzugstendenzen und

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beschrieb Abbrüche in ihren Ausbildungsbemühungen. Dabei hätten die damit verbundenen Enttäuschungen auch zu Überlegungen geführt, das Leben beenden zu wollen, aber sie hätte dann die Entscheidung getroffen, leben zu wollen. Sie sei außerdem immer wieder mit dem Tod ihres Vaters, der starb, als sie selbst elf Jahre als war, beschäftigt. Mein erstes inneres Bild der Patientin zeigte mir einen Menschen mit hoher Vulnerabilität. Das Wort »fragile« (engl. für »zerbrechlich«) kam mir in den Sinn. Im Fallbericht schrieb ich: Wenn ich mich heute an den ersten Eindruck von der Patientin erinnern soll, sehe ich eine Figur in Brauntönen vor mir, die weiblich ist, ohne Frau zu sein, die jung ist, ohne jugendlich zu sein, die gebeugt ist, unscheinbar wirkt und deren Blick abgewendet ist. Der Ausdruck und die Haltung sind von großem Leid bestimmt. Ich spürte – neben meinem Wunsch, sie trösten zu wollen – auch ein Gebot von Vorsicht, gewissermaßen eine Überzeugung, dass sie sich bei Erleben von Forderungen meinerseits sofort zurückziehen würde. Als sie zum Beispiel berichtete, dass sie bei ihrer Mutter in X. leben, aber gerne nach Y. ziehen würde, weil sie so lange Fahrzeiten hätte, aber ein Umzug nicht in Frage käme, weil sie ja kein Geld hätte, dachte ich spontan: »Warum sucht sie sich nicht einen Job?« Wenn ich diese Frage tatsächlich gestellt hätte (mal von allen therapeutischen Erwägungen abgesehen), wäre bei ihr, so fühlte ich, eine Reaktion in Richtung »die versteht mich auch nicht« zu erwarten gewesen. Dieser Eindruck bestätigte sich für mich, als ich ihr sagte, dass sie einen Termin (zur biographischen Anamnese) mit meinem Supervisor vereinbaren möge. Sie sagte mit gewissem Ärger: »Warum muss man eigentlich schon vor dem erfolgreichen Ende einer Therapie das können, womit man doch Schwierigkeiten hat?« Neben ihrer leidvollen Ausstrahlung war da also auch Zorn über das Erleben von mangelnder Empathie, die andere ihren Hilflosigkeits- und Ohnmachtgefühlen entgegenbringen würden, zu spüren. Und sie vermittelte sehr wohl auch Kompetenz und Leistungsfähigkeit, wehrte sich gegen das Bild des kleinen Mädchens, das sie nichtsdestotrotz im anderen erzeugte. Hier tauchte bereits das Thema auf, das sich durch die Behandlung zog: die Anerkennung der verleugneten Grandiosität der Patientin, die die Patientin als Gegenkonzept für Beschämung und Selbstent-

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wertung benötigte. Kohut (1973, S. 204) empfahl zum Umgang mit dem Größenselbst und den damit verbundenen Störungen: »Wenn der Analytiker jedoch ein echtes Verständnis für das Phasenadäquate der Forderungen des Größen-Selbst aufbringt, und wenn er begreift, daß es für lange Zeit ein Fehler ist, dem Patienten klar zu machen, daß seine Erwartungen unrealistisch sind, sondern er im Gegenteil zeigen muss, daß sie im Gesamtzusammenhang der frühen, in der Übertragung wiederbelebten Lebensphase adäquat sind und sie ihren Ausdruck finden müssen, dann kann der Patient schrittweise die Bedürfnisse und Phantasien des Größen-Selbst enthüllen und der langsame Prozess wird eingeleitet, der zur Integration des Größen-Selbst in die Struktur des Real-Ichs und zu einer adaptiv nützlichen Umwandlung seiner Energien führt – in beinahe unsichtbaren Schritten und häufig ohne besondere Erklärungen des Analytikers.« Diese Idee – dass die Anerkennung verleugneter Größenideen diese reduzieren und durch größere Selbstintegration ersetzen kann – war in der Behandlung der Patientin ein hilfreiches und oft für mich auch Hoffnung erhaltendes Konzept. Im Erstgespräch stellte die Patientin mehrfach die Frage, was sie eigentlich habe. Sie wollte wissen, welche Diagnose sie habe, weil dann alles viel klarer werden würde. Sie bräuchte eine Antwort auf die Frage, ob sie krank sei oder es nur fehlender Wille sei. Dabei hatte ich den deutlichen Eindruck, dass »Kranksein« sie zwar einerseits entlasten würde (im Rahmen der Akzeptanz einer gegebenen strukturellen Störung), ihr andererseits »fehlender Wille« lieber sein könnte, weil das implizierte, dass sie bei Aufbringen entsprechender Willenskraft selbst in der Lage sein würde, ihre Probleme zu lösen (also nur funktionell gestört wäre). Wie sollte ich mit ihrer Frage umgehen? Sollte ich ihr eine Antwort geben, und wenn ja, was sollte ich sagen? Sagte ich ihr, dass sie krank sei, würde es sie kränken, möglicherweise beschämen (sie sich also in ihrem Wert gemindert erleben). Und natürlich war es keine Option, ihre Schwierigkeiten auf »fehlenden Willen« zurückzuführen, da dies trotz der beschriebenen Tendenz der Patientin eine so starke Kränkung gewesen wäre, dass sie sicher sofort gegangen wäre. Auch aufgrund meiner schnell entstandenen Idee von einer bestehenden strukturellen Störung kam dies außerdem nicht in Frage. Ich entschied, ihr zu ant-

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worten, und sagte ihr, dass sie eine anerkannte Störung von Krankheitswert habe, die der Behandlung bedarf, und dass sie gut daran getan hätte, zur Therapie gekommen zu sein. Sie meinte in einer späteren Stunde, dass es erleichternd gewesen sei zu hören, dass sie krank sei, auch wenn das ihrem Bild von sich selbst nicht entspräche. Sie müsse stark sein und sich ihren Ängsten stellen. Als ich dazu sagte, dass sie dies ja gerade tue, fragte sie: »Wieso? Ich bin doch gerade weggelaufen!« (Das bezog sich auf ein von ihr direkt zu Beginn der Therapie abgebrochenes Uni-Praktikum.) Ich antwortete ihr, dass hier in der Therapie doch auch ein »Sichstellen« sei. Sie sagte leicht erstaunt, dass ihr dies nicht so bewusst sei, aber sie schon das Gefühl hätte, dass etwas verändert sei.

Erste Übertragungsangebote der Patientin – »Sage mir, wie ich bin, aber lass es« Frau B. imponierte über einen langen Zeitraum mit einem Wechsel von angstbesetztem Rückzug und überraschender Offenheit. Die Stunden begannen fast immer mit einer einleitenden Frage meinerseits zu ihrem Befinden. Es erschien mir nötig, ihr mit dieser Gesprächseröffnung zu ermöglichen, in Kontakt mit mir zu kommen, da sie mich über eine lange Phase zum Stundenbeginn nur starr anblickte, und sich in mir rasch eine unangenehme Spannung aufbaute. Ich interpretierte dies als ein Abbild ihrer Angst und Hoffnungslosigkeit, in der sie gefangen schien, und empfand, dass eine Zurückhaltung meinerseits ihre Qual vergrößern würde. Im Verlauf der Stunden konnte sie dann auch meist ihre Affekte zeigen. Sie konnte weinen, und die sich darin abbildende Traurigkeit konnte ich spüren. Sie konnte in ihrer Suche nach Lösungen ihrer Verzweiflung Ausdruck geben, die sich durch die Ungeduld und den Zorn in ihrer Stimme vermittelte. Die Anspannung wich in nachfolgenden Schweigephasen, was ich daran erkannte, dass sie weniger Beunruhigung in mir auslösten, und sie konnte sich mehr mit dem beschäftigen, was in ihr vorging. Sie überraschte mich dann häufiger durch eine fast unvermittelte Offenheit, in der sie sich auch schwierigen Themen wie Schuld- und Schamgefühlen zuwandte. Dies wechselte mit Situationen, in denen sie erklärte, »nur halb da zu sein«

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oder sich dafür entschuldigte, dass sie so »zumache«. Sie wolle da eigentlich gar nicht richtig hingucken, weil das alles so schrecklich und beängstigend sei. An anderen Stellen sagte sie, es sei ihr furchtbar peinlich, dass sie so hoffnungslos sei, und weinte heftig. Es gab auch Situationen, in denen ich nach Einzelheiten bestimmter Gegebenheiten fragte (z. B. den Anforderungen eines Praktikums, vor dem sie große Angst hatte), und solchen Fragen gegenüber zeigte sie sich zunächst sehr widerständig. Einmal, als ich sie darauf ansprach, gab sie ihren »Therapeutenhass« als Grund an, was ich nicht verstand. Ich äußerte tastend meine Vermutung, dass durch meine Fragen vielleicht eine Forderung, funktionieren zu müssen, in ihr auftauchen würde. Das konnte sie aufgreifen. Sie reflektierte dann über ihr Erleben, sich »in die Ecke gedrängt« zu fühlen, bei gleichzeitigem großen Wunsch, doch endlich wirklich zu funktionieren. Interventionen, mit denen ich an die »Quelle« ihrer Ängste rührte, blockte sie ab, indem sie sich zurückzog oder verdeckt ärgerlich wurde. Auf Interventionen, die empathisch miterlebend ein Verständnis für ihre Versagensängste und ihre Hoffnungslosigkeit zeigten, reagierte sie mit Belebung sowie vermehrter Selbstexploration. Anders ausgedrückt: Ihr Dilemma bestand darin, dass sie als eine Person gesehen werden wollte, die fähig ist, und gleichzeitig als eine Person wahrgenommen werden musste, die schwach ist und ängstlich, dem Leben nicht gewachsen ist, und der man Verständnis entgegen bringt. Fragte ich sie nach Einzelheiten zu bestimmten Anforderungen, schien dies sofort ihre (verleugneten) Zweifel an ihren Kompetenzen zu berühren. Aber sie zeigte sich mir auch als jemand, dem die Kompetenzen zu fehlen schienen und der geführt werden musste, und zog mich doch gleichzeitig immer wieder in die Übertragung, die darin bestand, ihr zu belegen, dass sie die Anforderungen sicher bewältigen könne (weil das alles eben nicht so schwer sei und sie doch gute Ressourcen hätte), ihre Ängste somit unbegründet seien. Tat ich dies, dann traf ich auf Zorn und ihren Vorwurf, dass ich sie auch nicht verstünde. Eine spätere Sequenz (um die 170. Stunde) soll diese Herausforderung in der Behandlung verdeutlichen: Frau B. scheiterte mehrfach an der Hürde eines außeruniversitären Praktikums, und immer wenn ein geplanter Termin näher rückte, konnte sie sich auch auf anstehende

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Klausuren oder Testate schlechter vorbereiten, fiel auch durch zwei Klausuren mehrfach durch. Als sie sich erneut auf diese Klausuren vorbereitete, kam sie zu einer Stunde sehr verzweifelt, fing fast sofort an zu weinen, sprach davon, erneut kurz vor dem Abbruch des Studiums zu stehen, wollte zum Arzt, um sich ein Attest zu besorgen. Aber sie hatte überflutende Angst, zum Arzt zu gehen. Sie fragte, ob ich nicht mit ihr gehen könne. Ihre Überforderung schien mir so groß, dass ich konkrete Schritte mit ihr durchsprach, nicht ohne zu markieren, dass ich ihre Not erkennen und anerkennen würde. In der nächsten Stunde saß sie mir gegenüber und schwieg etwa 15 Minuten. Nachfragen hatten keine Resonanz. Sie guckte mich aber die ganze Zeit an. Ich spürte den Wunsch, sie umsorgen zu wollen, fühlte mich bedrängt, dann hilflos, dann ärgerlich, und ich interpretierte ihre Blicke als drängendintensiv, dann kindlich-ängstlich und schließlich trotzig-wütend. Ich versuchte, ihr mein Erleben umgearbeitet zu spiegeln: »Mir kommt es so vor, als sitze vor mir ein kleines ängstliches Mädchen, das dringend Halt und Unterstützung braucht. Das Mädchen kann dies aber nicht äußern, hofft darauf, dass ich es auch ohne Worte herausfinde, und weil mir das nicht gelingt, zieht es sich trotzig zurück – ›mir hilft ja doch niemand‹.« Mit Hilfe dieses Bildes gelang es ihr, ihre Gefühle anzunehmen und auszudrücken. Sie habe versucht, ein Attest zu bekommen, sei aber gescheitert. Sie wisse einfach nicht, was sie dem Arzt erklären solle. Ich fragte sie, was sie meine, sagen zu können. Aus ihrer Antwort wurde deutlich, dass sie nur verhalten von ihren Problemen sprechen konnte. Dies meldete ich ihr so zurück, worauf sie meinte: »Ich habe das Gefühl zu lügen, wenn ich sage, was ich habe.« Ich bot ihr den Gedanken an, dass ihre Überzeugung, es sei ja nichts mit ihr, und sie müsse sich nur mehr anstrengen, verhindere, dass das Gegenüber mitbekommen könne, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung sei, sie Hilfe benötige. Sie erwiderte, ganz aufgebracht: »Ja, aber die Ärzte haben mir doch nie geglaubt.« Ich bestätigte ihr, dass dies demütigende Erfahrungen gewesen sein müssen. Dann entschied ich jedoch auch, damit sie aus der zugespitzten Situation einen Ausweg finden konnte, ihr konkreten Rat zu geben, wie sie mit dem Arzt sprechen könne. Dabei betonte ich, dass es darum ginge, ihr die Zeit zu verschaffen, die sie bräuchte, um ihr Erleben durchzuarbeiten. Sie konnte sich dann ein Attest besorgen, sprach aber erst in der über-

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nächsten Stunde davon, wie sie das erreicht hatte. Sie meinte, sie wolle da am liebsten nicht drüber nachdenken. Sie habe aber festgestellt, dass sie sich früher in so einer Situation ganz abgewandt und alles hingeschmissen hätte. Diesmal sei das schon anders, sie wäre auch relativ angstfrei gewesen. In der nachträglichen Betrachtung dieser Sequenz konnte ich Folgendes herausarbeiten: Die Patientin deutete ihre Schamgefühle immer nur an, wodurch zwar klar wurde, dass sie ihr bewusst waren, es wurde aber auch deutlich, dass sie nicht wusste, wessen sie sich schämte. Ich verstand, dass sie sich schämte, weil sie glaubte, etwas können zu müssen, was sie eben nicht konnte. Ihr dies zu sagen, schien mir überfordernd im schon genannten Sinne: Es hätte ihr ohnehin schon fragiles Werterleben gekränkt, sie benötigte die Hoffnung, es doch schaffen zu können. Und ich glaube auch, dass sie darauf achtete, ob ich hoffnungsvoll war, was für die Entwicklung einer positiven Übertragung wesentlich war, mich aber auch in ein Dilemma brachte: Denn einerseits sah ich schon ihre fähige Seite, ihre Intelligenz, ihr Reflexionsvermögen, ihre Interessen und auch ihren Mut, aber eben auch ihre Schwächen. Andererseits spürte ich, dass es wichtig sein würde, dem Leistungsaspekt nicht so viel Gewicht beizumessen. In einer der letzten Stunden der 320-stündigen Behandlung bestätigte Frau B. dies: Sie sagte, dass ein wesentlicher Punkt in der ganzen Zeit war, dass ich so ruhig geblieben sei, als sie mir (in der 8. Stunde) erzählte, sie habe das Uni-Praktikum abgebrochen. Meine bereits beschriebene Idee, warum sie mit ihren Hilfegesuchen nicht ankäme, hatte zunächst zu einer heftigen Reaktion geführt. Man würde ihr nicht glauben. Auch habe sie das Gefühl zu lügen. Dem kann man entnehmen, dass die (internalisierten) Forderungen, funktionieren zu müssen, von ihr so sehr akzeptiert schienen, dass sie keine Möglichkeit sehen konnte, ihnen eine Absage zu erteilen, indem sie bekannte, etwas nicht zu können. Oder anders ausgedrückt: Die Übertragung der Suche nach bestätigenden und billigenden Reaktionen auf mich, die ich durch mein Gefühl, still halten zu müssen, sie nicht zu fordern, erschloss, wies auf frühe Unterbrechungen in ihrer Entwicklung hin. Ihre Angst, ihr Grundgefühl, dass etwas nicht mit ihr stimme, wies auf ihr unbewusstes Wissen um diesen Mangel. Die Überlegungen von Siegel (2000, S. 94) lieferten mir ein Mo-

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dell, ihr Dilemma besser zu verstehen. Siegel beschreibt ein »für Beschämung anfälliges Ich, ohne Selbstwertgefühl«, welches resultiert aus einer vertikalen Spaltung der Person, die »das gleichzeitige Wissen und Nicht-Wissen um unannehmbare Inhalte ermöglicht« (S. 93). Gesunde narzisstische Energie ist demnach an das Größen-Selbst gebunden und steht für Ich-syntone Aktivitäten und realistische Erfolge nicht zur Verfügung, was dem Realitäts-Ich Unzufriedenheit und beeinträchtigtes Selbstwertgefühl einbringt, es also real schwächt. Die Angst der Patientin, ihr Grundgefühl, dass etwas nicht mit ihr stimmen würde, wertete ich als unbewusstes Wissen um diese Spaltung und ihre Folgen, wie etwa ihre Einschränkungen bei sozialen Anforderungen oder auch im praktischen Handeln.

Das Verstehen der Angst – »Nimm sie weg, aber rühre nicht daran« Insbesondere zum Verständnis der Angstdynamik bot mir der von Mentzos (1984, S. 171 ff.) beschriebene »angstneurotische Modus« in Verbindung mit den im Laufe der Behandlung von der Patientin beschriebenen Erfahrungen und Lebensereignissen hilfreiche Anhaltspunkte und auch konkretere Bilder einer inneren Landschaft, die ich vor allem im Dialog mit der Patientin nutzen konnte. So fiel zunächst auf, dass Frau B. sich in ihrer Suche nach Halt an schwache Objekte anlehnte. Die Mutter wurde als eine zweifelnde, unsichere, eher körperferne Frau beschrieben, die nur ungenügend geeignet erschien, Halt und Beruhigung zu ermöglichen. Den Vater, der verstarb, als die Patientin elf Jahre als war, bezeichnete sie als liebevoll und zärtlich. Er habe jedoch ebenfalls mit starken Ängsten zu tun gehabt, war vermutlich wenig durchsetzungsfähig und aggressiv gehemmt. Die Patientin hatte also weder bei der Mutter noch beim Vater die ausreichende Möglichkeit gefunden, ihrem Bedürfnis nach einem Halt gebenden Objekt nachzugehen. Um dies zu kompensieren, suchte sie Halt in eigener Leistungsfähigkeit, die sie aber in sich nicht finden konnte. Die Leistung sollte ihr Sicherheit geben und das schwache innere steuernde Objekt ersetzen bzw. ergänzen. Auftauchende Schwierigkeiten im Leistungsbereich führten jedoch zu Versagensängsten, nicht

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zu Zuversicht (im Sinne von »Das schaffe ich schon!«). Die Angst vor dem Misserfolg stieg dann so stark an, dass die Patientin sich zurückzog, sich wieder an schwache äußere Objekte anlehnte, dabei jeweils zu dem Punkt ihrer maximalen Stabilität regredierte, aber an ihrem Ich-Ideal festhielt. Die erneut versuchte regressive Anlehnung an die Mutter sollte die bisher misslungenen Versuche, eine stärkere Objektrepräsentanz zu erlangen, nun endlich erwirken, was jedoch misslang. Es führte zu verstärkter Konfrontation mit der eigenen Schwäche sowie drohendem Verlust der Selbstrepräsentanz (»Ich bin nichts und ich kann nichts«). Dies wiederum erhöhte die Angst. Die Patientin schien also, um Ängsten und Unsicherheiten zu entgehen, an Bestehendem festzuhalten bzw. immer wieder dahin zurückzukehren, bei gleichzeitig und stärker werdendem Wunsch, dem Zirkel (Mangel – Angst vor Kontrollverlust – Festhalten an Bestehendem – Blockade – Mangel) zu entkommen. Sie schien gefangen zu sein zwischen der Suche nach Halt bei (untauglichen) Objekten und der Suche nach Halt in (unerreichbarer) Leistungsfähigkeit. Bezogen auf den Behandlungsplan zur Therapie erwartete ich, dass die früh abgewehrte Liebessehnsucht, ihre Suche nach Sicherheit und Halt sowie Förderung und Wertzumessung zunächst im Hintergrund bleiben würden. Die Patientin würde eine unpersönliche mechanische Hilfestellung fordern, die das eigentliche Problem umginge, aber hartnäckig auf der Lösung des »Nicht-Lösbaren« bestehen würde. Als ihre Therapeutin musste ich damit rechnen, dass ich anfangs als Person nicht gewahr werden, sondern eher wie eine »mechanisch-stützende […] Einrichtung« (Mentzos, 1984, S. 180) gelten würde. Dabei musste ich die dahinter liegende narzisstische Störung im Blick behalten und gewahr sein, dass ich mit Hilflosigkeit, Leblosigkeit und Wirksamkeitszweifeln zu kämpfen haben würde. Es bestand die Gefahr, dass die therapeutische Beziehung zu einer »Pseudobeziehung« erstarrte und nur praktische Lösungen gesucht werden würden. Eine lebendige Beziehung würde nur erreicht werden, wenn zunächst die »Leblosigkeit« erkannt und akzeptiert würde. Dies bedeutete, nicht vorschnell in Beziehungstiefe bzw. Leistungs- und Realitätsfindung vorzustoßen, sondern eine geduldige Begleitung der emotionalen Befindlichkeit im Hier und Jetzt herzustellen. Dabei musste ich sorgfältig auf Unterbrechungen von Regulation der Affekte, Emotionen und Phantasien

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achten, die durch erhöhte Affekte erkennbar sein würden, mit dem Ziel der Beziehungsregulation. Wenn mir dies über einen längeren Zeitraum gelingen würde, sollte sich mehr Lebendigkeit und mehr authentischer Austausch einstellen. Und dies würde sich strukturell als Aufbau eines empathischen inneren Objektes, das zuverlässig und belastbar ist, niederschlagen. Erst wenn dies erfolgt wäre, könnte es möglich werden, die Auswirkungen der Vergangenheit auf Wünsche, Abwehr und Konflikt zu erörtern, Enttäuschungswut und Trauer durchzuarbeiten. Zu Beginn der Therapie verstand ich vor allem, dass Frau B. in dem (schon erwähnten) Dilemma stand, sofort funktionieren zu müssen, wenn es ihr besser ging, sie weniger traurig oder weniger hoffnungslos war. Dies löste unmittelbar Angst aus. Nur wenn es ihr ganz schlecht ging, war es ihr erlaubt, in der Regression zu verharren, und dabei weniger Angst zu haben. Für mich bedeutete dies still zu halten, ihre Bewegungen sehr unaufdringlich zu begleiten mit dem Fokus auf dem einfühlenden und tröstenden Verstehen. Wenn ich zu früh intervenierende Erklärungen abgab, unterbrach sie den Kontakt ebenso wie bei zu intensiver Suche nach Lösungen. Im Zusammenhang mit zu frühen Interventionen in Form von Erklärungen, Vorschlägen oder auch Interventionen zur Klarifizierung meinte sie einige Male im Verlauf der Behandlung, dass sie sich wie beim Zahnarzt fühle. Sie wollte keine Antworten geben, und mir teilte sich ein verhaltender Zorn mit. Die Übertragungserwartung schien hier der Mutter zu gelten, die ihre Gefühlswelt nicht verstehen konnte, sich (hilflos) abwandte, dabei den Ärger über die schwierige Tochter verbergend. Zu solchen zu frühen Interventionen oder verstärkten Nachfragen meinerseits kam es immer dann, wenn ich in meiner Gegenübertragung das Abbild des Chaotischen erlebte, also den Faden verlor, den Überblick nicht fand oder auch ansetzte, mit ihr in Hoffnungslosigkeit zu versinken und dies abwehren musste. Ein Beispiel dafür findet sich in der 95. Stunde. Die Patientin beschrieb, dass sie unerträgliche Angst habe. Sie wisse gar nicht, was sie machen solle, sei kurz vor dem Abbruch (sie stand zu der Zeit erneut in einem universitären Praktikum). Sie sehe überhaupt keinen Ausweg, wolle aber gar nicht vor der Uni weglaufen, sondern nur vor dem Gefühl, bedroht zu sein und hoffnungslos. In den Seminaren sei so viel Druck, vor

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allem dieses Praktikum sei furchtbar. Dies sei auch ihr dritter Versuch, wenn sie versage, müsse sie das Studium schmeißen. Ich fragte, wie das denn mit dem Praktikum sei, und sie äußerte wütend, dass das alles einfach lächerlich sei. Kein Mensch bräuchte das. Ich fragte sie dann, ob sie denn glaube, dass alles, was sie da lernen solle, Freude machen müsse. Sie antwortete mit ungeduldigem Tonfall: »Wenn es mich nicht interessiert, kann ich es mir nicht merken.« An dieser Stelle merkte ich, dass etwas schief lief. Ich hatte versucht, sie argumentativ davon zu überzeugen, dass man beim Studium Durststrecken hätte, aber mit diesen intervenierenden Erklärungen bzw. Fragen erreichte ich sie nicht, sondern vergrößerte ihren Zorn. Als ich dann ansprach, dass ich so viel Zorn in ihr spüren würde, atmete sie laut aus und meinte: »Ja, es ist auch alles ein Chaos; nichts läuft wie es soll.« In ihrer Wohnung bekäme sie keine Ordnung hergestellt, und ihre Freundin hätte kurzfristig ein Treffen abgesagt. Ich erwiderte, dass ich das ja sehr schade fände, zumal wir auch unseren Termin deswegen nicht gehabt hätten (sie hatte darum gebeten, den Termin ausfallen lassen zu können). Sie drückte ihren Ärger darüber aus, meinte dann aber auch, wie sehr sie sich allein und verlassen gefühlt hätte. Ich bot ihr zum Ende der Stunde an, den ausgefallenen Termin am nächsten Tag nachzuholen, was sie annahm. In der folgenden Stunde erklärte sie mir, dass es ihr wesentlich besser ginge als zuvor, sie sei zu einer bestimmten Vorlesung gegangen, hätte sich vorher überlegt, sie gucke einfach mal, und dann hätte sie festgestellt, dass sie doch zuhören konnte und auch einiges verstanden hätte. Dann meinte sie, sie hätte darüber nachgedacht, was ich sie gestern gefragt hätte, über das Lernen und den Spaß. Es habe sie sehr irritiert, sie hätte sich gefragt, wieso ich das gesagt hätte. Ob ich denn fände, dass darin ihr Problem läge? Ich fragte, was sie denn selbst meinen würde, und sie erwiderte, dass sie halt nichts lernen könne, was sie nicht interessiere. Ich erklärte, mich darauf bezogen zu haben, dass man manchmal, wenn man etwas erreichen wolle, auch langweilige oder unangenehme Dinge in Kauf nehmen müsse. Sie sagte dann, dass sie ja im Grunde gar nicht wisse, ob ihr Berufsziel das Richtige für sie sei. Ich erwiderte, dass vielleicht ihre Zweifel berührt würden, wenn sie fehlendes Interesse erlebe. Sie erging sich in dann in Äußerungen über Studienregeln, die pure Zeitverschwendung seien. Zum Ende der Stunde sagte ich, dass wir die

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Frage ihrer Ziele jetzt nicht weiter berührt hätten, worauf sie ausrief: »Ja, aber wie soll ich das beantwortet kriegen?« Ich lud sie ein, mal ein bisschen über ihr Berufsbild zu phantasieren oder einfach mal dem nachgehen, wo und wann ihr Berufswunsch angefangen habe. Sie wehrte ab, sagte, dass sie nur bei der Vorstellung schon sofort große Angst verspüren würde. In der nachträglichen Reflexion über diese Stunden stellte ich fest, dass ich zunächst mit meiner Frage zu dem Praktikum mitagierend ihrer Not und Hoffnungslosigkeit ausgewichen war. Ebenso wie sie versuchte ich, das fehlende Vertrauen in die eigene Wirksamkeit, also auch in die Wirksamkeit der Therapie, mit Kontrolle (oder Vernunft) zu ersetzen. Immer wieder vermied sie das Durcharbeiten der tieferen Ebenen ihrer Ängste, führte mich zu Nebenschauplätzen, wandte sich ab. Meine Gegenübertragung drückte sich dann in Verwirrung aus, und dann geriet ich über die Suche nach ihr auf Abwege und übersah ihre Gefühlslage. Den Zorn der Patientin, der sich zum Beispiel in ihren Bemerkungen zur Banalität von Psychologie äußerte, verstand ich später als ihre Reaktion auf die Unterbrechung. Aber auch mein Angebot, die von ihr abgesagte Stunde nachzuholen, verstand ich im Nachhinein als eine Form des Mitagierens. Ihre Not und ihre Einsamkeit berührten mich, und ich fühlte mich aufgefordert, verstärkt für sie da zu sein, was sie jedoch kaum aushalten konnte, so dass sie sich in dieser (zusätzlichen) Stunde distanziert verhielt, indem sie sachliche Diskussionen anfing oder sich intellektualisierend mit ihren Problemen befasste. Die Übertragung schien geprägt von der unbewussten Erwartung, dass es ihr trotz des zusätzlichen Angebots an Zuwendung mangeln würde. Frau B. schien zudem vage die Idee gehabt zu haben, dass ich mich ihr nur zuwenden würde, damit sie besser funktioniere. Also wandte auch sie sich ab, versuchte sich hinter den Fragen zur Sinnhaftigkeit ihres Tuns zu verstecken, und die zusätzliche Stunde endete in Abwehr. In dieser Phase der Behandlung hatte ich verstärkt mit eigenen quälenden Gefühlen von Verlorenheit zu tun. Die Fragen »Was mache ich hier? Wozu soll das gut sein?«, aber auch Gefühle von Ohnmacht und fehlendem Kontakt waren gegenwärtig. Ich schloss daraus, dass die Patientin sich ebenfalls in solchem Erleben befand und ich reagierte – wenn es mir gelang, meine Gegenübertragung zu verstehen – mit

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verstärkten Empathiebemühungen. Immer wieder ging es im Verlauf der Behandlung um das Verstehen der Angst, und darum, hingeführt und – so nahm ich es wahr – gleichzeitig von dem vertieften Verstehen weg geführt zu werden. Wie ich erst später im Laufe der Arbeit mit ihr erkannte, obwohl ich darüber theoretisch reflektiert hatte, ging es in dem Prozess des Verstehens nicht darum, ob ich ihre Angst tatsächlich nachvollziehen konnte, sondern ob ich zugewandt blieb, ob ich sozusagen immer weiter im Prozess des Suchens nach dem Verständnis blieb.

Das Eintreten in den potenziellen Raum – »Kann ich mich zeigen?« In der folgenden Sequenz aus der 108. Stunde spiegelt sich diese spezifische Dynamik zwischen der Patientin und mir, es zeigt sich aber auch, wie ich unten weiter ausführe, dass die Patientin vorsichtig versuchte, basale Bedürfnisse nach Anerkennung ihres Soseins zu zeigen. Frau B. erzählte, dass sie depressive Tendenzen spüre, dass sie nichts fühlen wolle, aber trotzdem fühle, und dass sehr viel Angst da sei. Am Wochenende sei sie bei der Hochzeit ihrer Freundin gewesen, wo sie sich wie 15 gefühlt hätte, klein und schäbig. Sie schleppe immer so einen Kummer mit sich herum und habe große Angst, dass etwas ganz Schlimmes passiere. Es stünden weitere Klausuren an, zur Bank müsse sie auch etc. Und dann sagte sie, dass sie Sehnsucht nach einem Freund gehabt hätte. Ihre Mutter habe ja immer gesagt, dass sie viel zu kompliziert sei und zu hohe Erwartungen hätte. Und jetzt sei sie schon 28, und ihre Freundinnen würden nach und nach heiraten, nur für sie sei niemand in Sicht. Sie schwieg länger, erzählte dann von einem Buch, das sie toll fände, in dem sie sich wiedererkennen könnte. Sie zitierte eine Passage: »Es ist so, als ob die Dunkelheit sich über ihr zusammenzieht – mache einfach zu.« Dann schwieg sie wieder. Ich sagte, dass sie im Moment im Dunkeln zu sein scheine. Sie bestätigte das und äußerte, dass sie nicht wisse, wie sie es heute Abend zu Hause allein aushalten könnte. Dann schwieg sie wieder, kämpfte mit Tränen und sagte dann: »Ich finde mich unmöglich. Sie bemühen sich so, mich zu verstehen, und ich mache dicht.« Ich fragte: »Un-

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möglich?«, sie meinte: »Ja, das geht doch nicht.« Ich sagte: »Warum denn nicht? Ihnen geht es doch gerade offensichtlich sehr schlecht, Sie scheinen um Fassung zu ringen, da können Sie sich doch nicht um mich kümmern.« Sie konnte dann weinen. Indem sie zuließ, dass ich die fürsorgerische Aufgabe annahm, sie sich somit nicht um mein Wohlergehen kümmern musste, konnte sie sich der Entdeckung und Entfaltung ihrer inneren Welt zuwenden. Man könnte hier auch sagen, dass es darum ging, mich so passgenau wie möglich als subjektives Objekt zur Verfügung zu stellen, um für die Patientin den potenziellen Raum für Erfahrungen zwischen Phantasie und Realität zu ermöglichen. Sie schien sowohl erreichbarer geworden zu sein, als auch »mehr in der Lage, die Beziehung mit mir als Brücke zwischen der inneren und äußeren Welt zu nutzen« – eben den »intermediären Bereich von Erfahrungen« (Winnicott, 1974, S. 11). In der 121. Stunde sprach Frau B. zuerst erneut ihre Ängste vor dem zu leistenden außeruniversitären Praktikum an, nannte es den Prüfstein, an dem alles hinge, aber sie glaube nicht, dass sie das jemals schaffen könne. Ich fragte, ob daran die bekannten Vorstellungen von Demütigung, Beschämung und Nicht-gewollt-Sein mit verknüpft seien. Sie weinte, sagte, dass es da nicht weiterginge. Immer, wenn sie daran denken würde, sei sie gelähmt. Sie wolle einfach nur weg. Ich fragte, ob es irgendeine Idee gäbe, wohin sie denn wolle. Sie: »Nein, dann wäre ich schon da.« Ich sagte dann, dass mir dieses Praktikum als ein Symbol für etwas anderes erscheinen würde, als ob sie eine Schwelle überschreiten müsste, wogegen ein zäher Widerstand in ihr sei. Sie guckte mich nur an. Dann zögerte sie, guckte auf ihre Tasche, und sagte, sie hätte mir ein Foto mitgebracht. Sie zeigte mir ein Foto aus ihrer Kindergartenzeit. Ein Foto von einem hübschen, blonden Mädchen, das gelöst wirkte und offen in die Kamera lächelte. Was teilte sie mir mit? Zum einen verstand ich, dass sie sich noch zu klein für dieses Praktikum fühlte. Ich empfand es als symbolisch, dass sie mir ein Bild von sich aus dem Kindergarten zeigte, als es um die Frage des weiteren Fortkommens in der Ausbildung ging. Interessanterweise hatte ich mir in einer Supervisionsstunde vorher über die Frage, was ich selbst denn von ihr wollte oder erwartete, Gedanken gemacht. Natürlich wünschte ich mir ein erfolgreiches Studium für sie, wusste aber, dass sie ihren Weg nur finden könnte, wenn es ihr erlaubt sei, in

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Kontakt mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Befürchtungen zu sein. Das Bedürfnis der Patientin war, zu spüren, dass sie so gewollt wäre, wie sie eben war, und sie kam in die paradoxe Situation, dass sie, wenn sie sich ihren beruflichen Zielen annäherte, keine Hoffnung mehr hatte, jemals in ihrem Sosein gesehen und geliebt zu sein. Andererseits steckte ich in dem Dilemma, selbst erfolgreich mit ihr sein zu wollen, da es sich um einen Ausbildungsfall handelte, ich meine Arbeit mit ihr sorgfältig betrachtet sah und dies auch gut machen wollte, gleichzeitig mich öfters klein und erfolglos fühlend. Aufgrund der Ähnlichkeit der inneren Landschaft war die Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellation schwierig und ich bemühte mich, eine Haltung zu finden, in der ich meine eigenen Bedürfnisse nicht leugnete, aber der Patientin nicht den Raum nahm, ihre eigenen Bewegungen und Strebungen zu finden. Durch verschiedene Schilderungen der Patientin bestätigte sich für mich, dass die Ängste der Eltern schon früh eine große Rolle gespielt hatten. Aus ihren Beschreibungen konnte ich erkennen, dass sie, wenn sie mit ihrer Angst zur Mutter ging, deren Unsicherheiten oder gar Ängsten begegnete, und sie schien, um die Sorgen der Mutter nicht zu erhöhen, ihre eigenen Ängste zurückzuhalten, die Mutter sogar beruhigen zu müssen. Um mit dem Konzept der Mentalisierung zu sprechen: Sie konnte ihre eigene Angst nicht in markierter Weise von der Mutter gespiegelt und damit ihrer Spitze genommen sehen, wodurch die Selbstrepräsentanz »Angst und Beruhigung« nicht in ausreichendem Maße gebildet werden konnte. Köhler (2004, S. 167) schreibt: »Die unmarkierte Spiegelung eines negativen Affektes durch eine vom Affekt selbst überwältigte Mutter führt zu dem Resultat, dass das innere Erleben des Kindes nun auch plötzlich zum äußeren Erleben wird.« Durch die fehlende adäquate Markierung konnten die Gefühle der Patientin nicht festgehalten und in eine Selbststruktur integriert werden, sondern wurden zur Bedrohung (der Beziehung zum Halt gebenden Objekt). Ihr inneres Erleben wurde zum äußeren Erleben – der Gedanke an Beängstigendes wurde dem Beängstigenden gleichgesetzt. In der Arbeit mit der Patientin halfen mir diese Überlegungen dabei, nicht in Versuche der Beschwichtigung ihrer Angst zu geraten, sondern ihre Ängste, die sie auch in unsere reale Beziehung brachte, immer wieder zu halten und auszuhalten, sie gegebenenfalls über die Deutung der Übertragung zu markieren. So kam es durchaus

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vor, dass Frau B. mir sagte, sie habe Angst vor mir, oder dies zeigte, indem sie mich wie erstarrt ansah. Was befürchtete sie? Ich vermutete, dass sie zeitweilig Zorn auf mich erlebte, weil ich ihr nicht dabei helfen konnte, ihre Angst loszuwerden. Die Erstarrung in der Angst vor mir schien mit ihrer unbewussten Befürchtung vor einer Auseinandersetzung mit mir, einem Angriff ihrerseits auf mich, zu tun zu haben. Da ich einem möglichen Angriff ebenfalls nicht gelassen entgegen sehen konnte, nutzte ich die Supervision, um hier mehr Klarheit über meine Rolle in der Beziehung zu erhalten. Die zornigen Angriffe, die ich mit dem ängstlichen Gefühl erwartete, ihnen nicht gewachsen zu sein, hatten sicher mit meinen eigenen Zweifeln an meiner Wirksamkeit zu tun. Ich fragte mich aber natürlich auch, was es denn für sie so unmöglich machte, zum Beispiel das Praktikum durchzustehen, suchte nach praktischen Lösungen. Und dann stellte ich fest, dass ich, wenn ich die Verantwortung für ihre Heilung übernahm, selbst unter starken Druck geriet und mir die Verantwortung für aufdeckende Ideen und die Gestaltung sowie das Ansprechen der Beziehung aus dem Blick geriet. Anstatt also zu fragen, was mich denn so gefährlich machen würde, wenn sie Angst vor mir äußerte, hinzugehen und zu sagen: »Sie sind in einer sehr belastenden Situation und haben so viel Wut und wohl auch das Gefühl, ich helfe Ihnen nicht. Das muss sehr schwierig sein. Wie könnte die Hilfe denn aussehen?« Oder auch anzudeuten, dass sie Angst haben könnte, was in der Therapie passieren könnte, wenn sie ihrer Wut Raum gäbe. Es ging also darum, nicht bei der Angst stehen zu bleiben, sondern ihr die Möglichkeit zu geben, zu sagen, was sie mir gegenüber empfand, dabei die Angst akzeptierend. Und für mich ging es darum, Ausbrüche mir gegenüber nicht persönlich zu nehmen, sondern diese zornigen Mitteilungen als Ausdruck ihrer Verzweiflung zu werten. Ich denke jedoch im Nachhinein, dass mein Erleben ängstlicher Erwartung über Zornesäußerung auch damit zu tun hatte, dass es sich um einen Ausbildungsfall handelte, den ich bestrebt war, gut zu machen, aber vor allem auch zu Ende bringen zu können. Zornige Angriffe ihrerseits auf mich beinhalteten den gewissermaßen bedrohlichen Aspekt, dass sie ja auch gehen könnte und ich dann ohne Ausbildungsfall dastünde. Dies hatte vielleicht zur Folge, dass ich an

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manchen Stellen besonders behutsam war, vielleicht sogar manchmal zu zurückhaltend. Und doch scheint mir in der Arbeit mit dieser Patientin ein wesentlicher Wirkfaktor gewesen zu sein, dass ich mich anhaltend und mit einer gleich schwebenden Rollenübernahmebereitschaft ein Stück weit in die Übertragung hineinziehen ließ und meinem eigenen Erleben nicht auswich. Dies bedeutete, oftmals gegenüber der Angst der Patientin auch die eigene Hilflosigkeit zu erleben, aber mich nicht abzuwenden. Oder die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit von Frau B. so stark zu spüren, dass meine eigenen Gefühlsregungen für sie sichtbar wurden, mich aber nicht davon überwältigen zu lassen. Meine Bemühungen, ihr inneres Sosein mit Hilfe der verschiedenen theoretischen Modelle, die ich heranzog, zu verstehen, sprechen von meiner Not, dabei gut genug zu sein. Das Bild der sich abwendenden, mit der Angst der Tochter überforderten Mutter war ebenfalls nachhaltig wirksam für meine Rollenübernahmebereitschaft. Diese Erfahrungen, davon ging ich aus, hatte die Patientin wohl schon zu einem Zeitpunkt gemacht, an dem sie noch kein Narrativ dafür bilden konnte, und die daher mit der Bewertung, »nicht richtig zu sein«, in das Selbstbild der Patientin eingeflossen waren. Ich möchte hierzu abschließend noch eine Sequenz in der Behandlung beschreiben, die um die 210. Stunde stattfand. Frau B. bezichtigte sich, wie dies im Laufe der Behandlung immer wieder vorgekommen war, der Schlechtigkeit. Sie sei diejenige, die nichts auf die Reihe kriege. Sie sei nicht nur ohne Geld, Partner, Ausbildung und Job, sondern auch noch nicht mal in der Lage, in ihrer Wohnung Ordnung und Sauberkeit zu halten. Sie finde sogar ihr Abi-Zeugnis nicht mehr. Auf meine Bemerkung, dass es um ein Zeugnis davon ginge, was sie entgegen den Zweifeln der Eltern und Großeltern doch geschafft hätte, ging sie nicht ein, sie schien woanders mit ihren Gedanken, brachte dann unvermittelt zornige Äußerungen hervor, die mit den Worten endeten: »Ich will, dass das weggeht!« In meiner Gegenübertragung erlebte ich Überforderung und eine Mauer des Widerstands. Ich konnte keine Antworten finden. Auf konfliktpsychologischer Ebene konnte keine Lösung präsentiert werden, und ich erlebte selbst erneut Ohnmacht. Ich versuchte eine Intervention, indem ich das strukturelle Geschehen, die quälenden Gefühle von Hoffnungslosigkeit und »Auf-der-Stelle-

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Treten« als eine Folge der frühen Abstimmungsstörung zwischen ihr und ihrer Mutter beschrieb. Ich versuchte zu verdeutlichen, dass ihr diese grundsätzliche Traumatisierung nicht genommen werden könnte und wir wohl beide akzeptieren müssten, dass es diese heftigen, unbefriedigenden Gefühle gäbe. Wir könnten nur versuchen, diese ihr so unerträglichen affektiven Spannungszustände, für die wir keine Worte fänden (es gibt kein Narrativ) durch neue Erfahrungen erträglich zu machen. Ihre Antwort darauf war: »Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, wäre das jetzt das Ende.« Ich war sehr erschrocken und versuchte, den Kontakt an der Stelle der Unterbrechung wiederzufinden, indem ich mich ihren Gefühlen der Verletzung, die durch meine Worte entstanden waren, zuwandte. Sie konnte auf die Annäherung eingehen. In der Stunde darauf erzählte sie mir folgenden Traum, den sie als »so einen Klassiker« bezeichnete: Sie war mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Garten. Irgendwann beschloss ihre Mutter so aus Spaß, einen Stier loszulassen. Aber der Stier griff an. Sie versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, aber er warf sie um. Sie dachte: »Was für ein Risiko!« Dann flüchteten sie gemeinsam in das Haus, nach oben, verbarrikadierten sich. Die Mutter meinte, sie sollten die Tür anzünden, damit der Stier ihren Geruch nicht wahrnehmen könnte. Das taten sie. Dann waren Mutter und Schwester plötzlich weg. Sie wunderte sich, warum eigentlich niemand Polizei oder Feuerwehr rufen würde. Sie versuchte es selbst, erreichte zunächst niemanden, war bei einem weiteren Versuch aber erfolgreich. Sie lief dann zum Haus zurück, wo die Feuerwehr schon aktiv war. Die hatten eine Vorrichtung dabei, um das Haus in eine Gasblase zu legen und Giftgas hineinzuleiten. Sie dachte: »Wie nutzlos, warum erschießen sie den Stier nicht?« Und sie war bestürzt, weil ihre Kleintiere dabei auch getötet werden würden. Das sagte sie ihrer Mutter, die wieder da war, und die antwortete: »Ach, wird schon nichts passieren!« Sie wurde darüber ganz wütend und dachte: ›Das sagst du nur so, weil du jetzt nichts unternehmen willst.‹ Als sie die letzten Worte aussprach, schwang viel Zorn in ihrer Stimme mit, worauf ich sie aufmerksam machte. Sie meinte: »Ja, genau! Ist doch auch so gewesen!« Dann sagte sie, ihr wäre schon klar, dass der Stier ein Mann sei, und im Traum wäre sie sich sicher gewesen, von diesem vergewaltigt zu werden. Und sie habe im Traum ebenfalls

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gewusst, dass dieser Vergiftungsversuch nicht gelingen könnte, nur ihre geliebten Tiere töten würde. Betrachtet man den Traum im Übertragungs-GegenübertragungsGeschehen, fällt zunächst auf, an welcher Stelle sie ihn anbrachte. In der vorhergehenden Stunde hatte ich davon gesprochen, dass es etwas, einen traumatisierten Kern, in ihr gäbe, für den wir keine Worte finden könnten. Dieser Traum wirkte daher auf mich wie ein Angebot, über das Namenlose reden zu wollen, was sie dann in ihren Bildern auch versuchte. Unabhängig von dem, was wir in der Stunde über den Traum assoziierten, schien es mir, als wollte sie mir mitteilen, dass ich einen Stier, etwas sehr Gefährliches losgelassen hätte und ihre Seele gefährden würde. Ich solle nicht versuchen, sie mit leeren Worten zu beschwichtigen, sie würde sich da sehr viel besser kennen. Sie schien mir ebenfalls zu sagen: »Ich bin noch zu wehrlos, um ungefährdet den eigenen sexuellen Bedürfnissen oder dem begehrenden Mann begegnen zu können (›was für ein Risiko …‹), bin weit entfernt von der Möglichkeit der Hingabe.« Und es wirkte auf mich, als ob sie mir die Fortsetzung des mit der Mutter unterbrochenen Dialogs anbot. Ich verstand auch, dass ein Basisgefühl von Zuverlässigkeit gegeben war, sie das Geschehen der vorhergehenden Stunde nicht als tiefgehende Kränkung (Herabsetzung ihres Wertes), sondern als eine Zurückweisung ihrer Nähewünsche erlebt hatte, die sie mittlerweile in der Lage war aufzugreifen.

Ausblick – »Waren wir gut genug?« Diese letzte Sequenz weist deutlich auf eine strukturelle Veränderung, die erreicht werden konnte, hin. Die Fähigkeit, an Unterbrechungen im Kontakt nach erlebten Verletzungen anzuknüpfen, hat sich im Laufe der Behandlung mehr und mehr entwickeln können, wie auch ihre Schilderungen von Kontakten an der Uni oder von Begegnungen mit Freundinnen verdeutlichten. Sie ist kaum noch mit ihrer anfangs so bezeichneten »Sozialphobie« beschäftigt. Handlungen wie das Telefonieren mit fremden Personen, Arztbesuche, Einkäufe, aber auch Beteiligung an Gruppengeschehen (eine Gruppe rief sie selbst ins Leben) liefen weitgehend ohne Angstzustände ab. Sie hatte die

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Birgit Schmitt

Möglichkeit gefunden, mir ihr gefährdetes Selbst mehr und mehr zu zeigen, sich berühren zu lassen und letztendlich ein empathisches inneres Objekt aufzubauen. Holding, Containing, das Durchsprechen der Beziehung und ein zuverlässiges Setting haben dazu beigetragen. Das Fehlen bzw. der Mangel des inneren steuernden Objekts führte an anderen Stellen dazu, dass ich oft sehr konkret mit ihr gearbeitet habe, um diese Entwicklung zu ermöglichen. Die (emotional erlebte) Differenzierung, dass ihre Wünsche, geliebt zu werden, und ihre Wünsche, Leistung zu erbringen, nicht in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, und dass ihr Bedürfnis, in ihrem Selbst geliebt zu werden, richtig und berechtigt ist, konnte sich nach und nach entwickeln. Sie konnte realistischere Ziele für sich finden und annehmen und hatte die Energie zur Verfügung, diese auch zu verfolgen. Abschließend scheint mir folgende Anmerkung noch wichtig: Die Patientin imponierte über den gesamten Behandlungszeitraum mit faszinierendem Traummaterial und ebenso einer ausgesprochenen Fähigkeit und Bereitschaft, zu assoziieren und zu reflektieren. Die gemeinsame Arbeit mit diesem »Material« trug sicher dazu bei, dass das sich entfaltende Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen nicht in eine maligne Schleife geriet. Es vermittelte sich ihr Werterleben und sie erlebte Zuwendung – ihre Übertragungserwartung bestätigte sich nicht –, weil ich eben tatsächlich von ihrer reichen Innenwelt fasziniert war und sie mir somit eine Seite ihres Seins zeigen konnte, die sie immer verborgen gehalten hatte, weil sie befürchtete, damit abgelehnt zu werden.

Literatur Köhler, L. (2004). Frühe Störungen aus der Sicht zunehmender Mentalisierung. Forum der Psychoanalyse. Bd. 20. Berlin u. Heidelberg: Springer. Kohut, H. (1973). Narzissmus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mentzos, S. (1984). Neurotische Konfliktverarbeitung. Frankfurt a. M.: Fischer. Siegel, A. M. (2000). Einführung in die Selbstpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Winnicott, D. W. (1974). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Hanna Marx

Über »unanalytisches Vorgehen« Brüche, »Enactments« und »Abweichungen« in der Psychotherapie als Ausdruck der Intersubjektivität

About »non-analytic« encounters. »Breaks«, enactments, and »dissensions« during psychotherapy as an expression of intersubjectivity During the course of psychotherapies spontaneous and surprising situations can occur that differ from usual procedures: »breaks« in the setting happen, enactments, and other encounters that normally should be avoided. How significant are these »dissensions« as to the therapeutic relationship, the course of the therapy, and as to the personal background of the psychotherapist himself/ herself that is always present, although not specifically made transparent. Case vignettes exemplify the intersubjective nature of these phenomena – in a positive as well as negative sense.

Zusammenfassung Im Verlauf von Psychotherapien ergeben sich gelegentlich spontane, überraschende, von dem üblichen Vorgehen abweichende Situationen. Es entstehen Brüche im Setting, »Enactments«, Aktivitäten, die klassischerweise vermieden werden sollten. Welche Bedeutung haben diese »Abweichungen« für die therapeutische Beziehung, für den Therapieverlauf und für die Therapeuten selbst, angesichts ihres eigenen, individuellen »backgrounds«, der mitschwingt, aber nicht offengelegt wird? Fallvignetten illustrieren den intersubjektiven Charakter dieser Phänomene – im Positiven wie im Negativem.

Vorbemerkung Der Beitrag beschäftigt sich mit den Veränderungen der psychoanalytischen Haltung, der Vorgehensweise und der Identität der Psychoanalytiker, die unter dem Namen »Intersubjektivitätswende« Eingang in den analytischen Diskurs gefunden haben. Nach einem kurzen Abriss über die Vorstellungen, was als »richtig analytisch« in der klassischen

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Hanna Marx

Psychoanalyse und in der Individualpsychologie galt, folgen Gedanken zu den Konzepten der Intersubjektivisten und zu den veränderten Auffassungen der – durchaus bekannten – Phänomene. Diese werde ich an einigen Fallvignetten aus eigener Praxis darstellen. Zur Erinnerung: Die Entwicklung der Psychoanalyse als Behandlungsmethode fußte auf der Auffassung Freuds, dass es den Patienten neben der Auflösung der Symptome einer psychischen Störung unbewusst darum geht, ihre infantilen Wünsche zu befriedigen, die zugleich, weil triebhaft, verboten sind. Das Bedürfnis, diese Wünsche zu befriedigen, sowie das Verlangen, sie zu unterdrücken, wird in Form eines Kampfes mit dem Analytiker inszeniert, also übertragen. Nur durch die Offenlegung dieses Kampfes und seine Abmilderung kann der Analytiker einen tieferen Zugang und Einsicht in die vormals unbewussten inneren Konflikte des Patienten erreichen (vgl. Zaretsky, 2009, S. 67). Adler ging davon aus, dass Menschen immer wieder unerfüllte Wünsche und Verlangen verspüren, wodurch sie mit dem Erleben des Mangels konfrontiert werden. Das bringt sie dazu, sich aus dem Mangelzustand auf verschiedene Weise herauszubewegen. Das ganze Leben sei durchdrungen von dem Ziel, die Gefühle der Unterlegenheit und der Schwäche, aber auch der Entwertung und der Geringschätzung durch Andere, abzuwenden und sich davor zu schützen. Auf dem Weg, aus diesen Gedanken Lehren und Schulen zu bilden, benutzten beide Forscher das übliche Instrumentarium zur Abgrenzung gegen Andere einerseits und zur Stärkung der Kohärenz innerhalb des eigenen Zirkels andererseits. Die Lage wurde verschärft nach dem Tod der beiden Gründer, als die Erben daran gingen, immer enger, dogmatischer und konservativer die Theorie in die Praxis umzusetzen. Der Höhepunkt der Entwicklung fand in den 1950er Jahren statt, als die Individualpsychologie von der kognitiven Richtung um Rudolf Dreikurs dominiert wurde und das Standardverfahren der klassischen Psychoanalyse den Analytiker zum Schweigen hinter der Couch zwang, bis er kurz vor Ende einer Sitzung eine Deutung abgeben sollte.

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Über »unanalytisches Vorgehen«

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»Abweichungen« bei Freud und Adler Was waren die Gebote der Psychoanalyse, die, wenn man sie nicht befolgte, zur schlimmsten Abqualifizierung führten, man sei »nicht analytisch«? Es waren: Abstinenz, technische Neutralität, gleichschwebende Aufmerksamkeit, Verbot des Mitagierens, suggestionsfreie Deutung, Objektivität, Dichotomie von Innen und Außen, unkontaminierte (reine) Übertragung. So mächtig die Gebote auch waren, die im Übrigen auch für die europäischen Individualpsychologen seit der Annäherung an die (freudianischen) analytischen Wurzeln seit etwa Mitte der siebziger Jahre galten, fragt man sich doch: Wie viel ist hiervon tatsächlich befolgt worden? Von Freud sind unzählige Übertretungen der eigenen therapeutischen Richtlinien überliefert. Ein besonders abenteuerlicher Fall der umfassenden Verwicklung von Arbeit, Privatleben und Wissenschaft ist die Geschichte der Dorothy Tiffany Burlingham, die bei Freud eine Lehranalyse machte, ihre Kinder bei Anna Freud in die erstmals durchgeführte Kinderanalyse gab, mit Familie Freud in die Ferien fuhr und schließlich 1928 in die Berggasse 19 einzog und Lebensgefährtin von Anna Freud wurde, bis sie im Alter von achtundachtzig Jahren 1979 starb. Sie publizierte Beiträge zur Kinderanalyse und baute nach dem Krieg gemeinsam mit Anna Freud in London ein Lehr- und Ausbildungsinstitut für Kinderpsychoanalyse auf (Salber, 2006, S. 200 ff.). Von Alfred Adler ist zu seinem technisch-therapeutischen Vorgehen folgende Geschichte quasi aus erster Hand bekannt: Der erst 21-jährige, über Nacht durch seinen Erstlingsroman »Schüler Gerber« berühmt gewordene Friedrich Torberg schätzte sich glücklich, als er 1930 die Gelegenheit bekam, Alfred Adler kennenzulernen. »Das von mir mit so überschwenglicher Hoffnung erwartete Zusammentreffen fand im Café Siller statt. Adler machte auf mich […] den Eindruck eines umgänglichen, fast schon gemütlichen Mannes aus der Wiener Vorstadt, wozu seine dialektgefärbte Ausdrucksweise und die von ihm gerauchte Virginier (die traditionelle Lieblingszigarre der Fiakerkutscher) einiges beitrug. […] ›down to earth‹ würde ihn am besten charakterisieren. Ich hatte sofort Vertrauen zu ihm […]. Als Adler sich ausdrücklich und aufmunternd erkundigte, wie ich mit dem Leben zurechtkäme und was für Probleme ich hätte, schien mir der große

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Moment gekommen. […], dann begann ich ihm meine kleinen, banalen Wehwehchen aufzutischen, die ich natürlich für einmalige, noch nie dagewesene Katastrophen hielt: von meiner Umgebung nicht richtig eingeschätzt, besonders von ihrem weiblichen Teil, das liege wohl an meinen Minderwertigkeitsgefühlen […], ich hätte Hemmungen, ich könne mich nur unglücklich verlieben – die, die ich liebe, bekomme ich nicht – die, die ich bekomme, liebe ich nicht, natürlich wirke sich das auch nachteilig auf meine Arbeit aus […] – Ungefähr an dieser Stelle merkte ich, daß Adler von meinen Mitteilungen in keiner Weise erschüttert war. Sie schienen ihn sogar zu langweilen, denn er trommelte mit den Fingern ziemlich unverhohlen auf die Tischplatte. […] ›Hm‹, machte Adler. ›Was ich da von Ihnen gehört habe – finden Sie das in Ordnung?‹ Neue Hoffnung durchflutete mich. Jetzt, im nächsten Augenblick, würde er mir das heilende Rezept verabreichen. […] ›Nein, Herr Professor!‹ Adler drehte die Handflächen nach oben: ›Na also‹, sagte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, daß er den Fall für gelöst hielt, und zwar durch mich gelöst. Offenbar war damit, daß ich das alles nicht in Ordnung fand, alles in Ordnung. Wie recht er hatte, und daß in diesem Rechthaben eines der Fundamente seiner Seelentherapie beschlossen lag, ist mir erst nach und nach aufgegangen. Und von da an war ich gegen die wehleidige Überschätzung meiner Kümmernisse gefeit« (Torberg, 1981, S. 76 f.).

Erstgespräch im Café, nervöses Trommeln der Finger, eine scheinbare Banalität als Stellungnahme zu der Not des Hilfesuchenden? Das konnten sich doch nur die Alten leisten, oder?

Das intersubjektive Feld Eine der wichtigsten Neuerungen, die die Selbstpsychologie und danach die Intersubjektivitätstheorie mit sich brachten, ist der andere Blickwinkel auf Patienten und Behandler. Vergessen wir nicht, dass trotz des populären Aufrufs zur Empathie, dass also der Patient in seiner Subjektivität möglichst genau und wahrhaftig verstanden wird, eine andere Regung, die wenig reflektiert wurde, mitkonstituierend die Struktur der therapeutischen Beziehung prägte: die Annahme, dass es einen Kampf geben muss, dass die Patienten uns verwickeln, verwirren, manipulieren, uns das Leben schwermachen und uns vage, aber im Grunde nicht wohlgesonnen sind. Überspitzt gesagt, man muss sich vor Neurotikern in Acht nehmen, denn sie wollen uns fertig-

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machen. Sie sind zwar Kraft der unbewussten Mechanismen quasi dazu verdammt, also nicht wissentlich schuldig. Wer sich selbst entwertet oder sogar hasst und in den kindlichen Interaktionen mit den relevanten Bezugspersonen genau das erfahren hat, wird es in der Behandlung übertragen. Es ist natürlich tragisch, dass solche Patienten in die Hand beißen, die ihnen gereicht wird, aber die Konsequenz daraus ist, dass die Haltung des Analytikers notwendigerweise auf Abstand bedacht sein muss. Klassischerweise sollte man sich in der Analyse mit der Untersuchung der »wahren Motive« beschäftigen, sonst droht der Prozess unkontrollierbar zu werden. Die Individualpsychologie kann sich keineswegs davon freisprechen, von dieser Haltung unberührt geblieben zu sein: Ganze Generationen von Individualpsychologen sind mit der Maßgabe groß geworden, sich nicht beirren zu lassen, sondern den Lebensstil zu analysieren, die Mechanismen der Sicherung frei zu legen und finale Ziele auf Überkompensation der Minderwertigkeitsgefühle hin zu untersuchen, und das Ganze dem Patienten so lange vorzuhalten, bis er die »Einsicht« gewonnen hat, sich zu ändern. Die Selbstpsychologie dagegen machte unmissverständlich die emotionale Nähe zum Patienten hoffähig. Die Intersubjektivitätsanhänger gehen einen Schritt weiter und postulieren, dass es ein »spezifisches intersubjektives Feld einer individuellen therapeutischen Dyade« (Jaenicke, 2006, S. 82) gibt und dass das Arbeiten damit die Grundlage der Analyse sei. Das Analysieren bestehe demnach im Verstehen des durch beide Personen geschaffenen Feldes. Das Verstehen beruht auf Empathie, die nicht verwechselt werden soll mit der »mitfühlenden Anteilnahme«. Die Empathie ist vielmehr ein Versuch, die Subjektivität des Patienten anzunehmen und auch das Ungesagte, das Verlorene im gegebenen Augenblick zu verstehen. Das empathische Verstehen ohne die oben geschilderten Annahmen, dass die Patienten eine »gefährliche Spezies« seien, eröffnet mehr mögliche Interventionen: natürlich immer noch Deuten, Klarifizieren und Konfrontieren, aber auch eigene Gefühle offenbaren, in Handlungsdialoge eintreten, selbst handeln im Sinne von Enactments. Wann und ob die Intervention analytisch ist, hängt in diesem Verständnis nicht mehr von der Anwendung der erlaubten und der Vermeidung der verbotenen Mittel ab, sondern von dem stetigen Erfassen

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des Feldes, in dem man sich befindet und an dessen Konstruktion und Aufrechterhaltung der Analytiker selbst beteiligt ist. Es geht weder um eine einseitige Betonung des Intrapsychischen noch des Interpersonalen, sondern vielmehr um den Kontext, in dem sich die innere Welt des Individuums entfaltet in der Begegnung mit dem anderen Individuum (Jaenicke, 2006, S. 70). »Wir sollten […] von einer kontextuellen Psychologie sprechen, in der das Individuum und seine persönliche Erfahrungswelt als ein Subsystem von größeren relationalen oder intersubjektiven Suprasystemen anerkannt werden« (Stolorow, Atwood u. Orange, 1999, S. 384).

Enactments Anhand einiger Beispiele soll nun dargelegt werden, ob ein im analytischen Mainstream-Verständnis unanalytisches Vorgehen im Lichte der Intersubjektivitätstheorie nicht doch als analytisch erscheinen kann. Die frühere Auffassung des »Agierens« hatte eine eindeutige negative Konnotation. Es galt, das »Agieren« zu vermeiden, denn es stand im Verdacht, die Übertragung zu blockieren. Es handelte sich also im engeren Sinne um einen Übertragungswiderstand. Wenn wir die aktualisierte Auffassung vertreten, dass die Enactments (»agieren«) Handlungsdialoge darstellen, bei denen die Beteiligung des Analytikers unfreiwillig geschieht, verliert sich die negative Konnotation und das, was sich zwischen den beiden Beteiligten in der therapeutischen Dyade abspielt, kann ohne Schauder betrachtet werden (Klüwer, 2008). Jessica Benjamin spricht von der Abfolge von »Brüchen und Wiedergutmachungen« (2007, S. 87) als »von beiden geschaffenes Verhaltensmuster«. Die Anerkennung der eigenen Beteiligung als Analytiker ist zwingend notwendig, um dem anderen Respekt zu erweisen und klarzustellen, dass man sich nicht hinter der Rolle versteckt, sondern als Person verantwortlich ist. Ich möchte Ihnen nun drei verschiedene Enactments schildern mit drei unterschiedlichen Ausgängen für die Behandlung. In allen drei geschilderten Fällen hat eine Regelverletzung stattgefunden und meine Beteiligung daran war offensichtlich.

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Vignette 1 Ein neuer Patient lässt mich im Erstgespräch so gut wie gar nicht zu Wort kommen. Ich beobachte dies recht gelassen, der Mann ist mir nicht unsympathisch, wenn ich mir auch Gedanken mache, ob ich Lust haben werde, mich mit derart ausgeprägter narzisstischer Selbstdarstellung zu beschäftigen. Die Sitzung geht zu Ende, wir haben uns verabschiedet, als der Patient, schon die Türklinke in der Hand, sich umdreht und sagt: »Und schreiben Sie das alles gut auf, damit Sie es für’s nächste Mal parat haben.« Ich reagiere sofort, schlage die Hacken zusammen, hebe die Hand zackig an die Stirn, salutiere und rufe: »Jawohl.« Der Patient schaut mich erstmals richtig an, wird unsicher, lächelt und sagt: »Ja, ja, tut mir leid. Ich weiß, ich sollte nicht so rumkommandieren.« Ich lächele ein wenig, nicke mit dem Kopf, der Patient geht. Es wurde eine gute, erfolgreiche Therapie. Eigentlich schätze ich die Regel, dass eine Sitzung nicht nach ihrem Ende im informellen Rahmen verlängert werden sollte, sehr hoch ein. Ich halte mich gerade bei den Erstgesprächen ziemlich strikt daran. Warum habe ich in diesem Fall nicht – wie üblich – auf den Einwurf des Patienten geantwortet, dass die Stunde zu Ende sei und wir alles Weitere beim zweiten Termin besprechen würden, falls er denn anruft und einen zweiten Termin wünscht? Das wäre ordentliches analytisches Handwerk, aber nicht richtig. Durch das Mitgehen beim Enactment ist erstmals ein Kontakt, eine Begegnung hergestellt worden. Durch die Szene sind wir beide klüger geworden: der Patient weiß nun, dass ich – in seinen Augen – unberechenbar bin und er mich nicht beherrschen kann, und ich weiß, dass er die implizite Deutung in meinem Teil des Enactments verstehen, annehmen und sich korrigieren kann. Das Enactment trug von beiden Seiten den Samen der »disruption« (nach Jessica Benjamin) in sich, der Bruch streifte uns, ließ sich aber schnell in der Situationskomik auflösen. Es war trotzdem die Nagelprobe: Hätte er humorlos oder verständnislos reagiert, würde er bei mir vermutlich nicht ankommen – und auch seinerseits nicht ankommen wollen. In diesem kurzen Augenblick erschien meine Realität dem Patienten deutlich vor Augen. Er konnte mich erkennen, wie ich bin, und bekam die Chance, daraus zu lernen, wo die Grenzen der symbolischen Kommunikation bei mir liegen.

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Vignette 2 Ein 38-jähriger Patient lieferte mir in der etwa zwanzigsten Stunde ein beeindruckendes Beispiel seiner destruktiv-aggressiven und rechthaberischen Kräfte. Er ereiferte sich über eine Eheberaterin, die es wagte, auf seine Klage hin, dass es in der Sexualität nicht gut liefe, zu sagen, dass die Bedürfnisse der beiden Eheleute offensichtlich unterschiedlich seien. Seine Ausdrucksweise wurde vernichtend, der Tonfall scharf wie ein Messer, die Anspannung teilte sich mir mit, es war fast unerträglich. Ich fragte, ob er wüsste, dass selbst wenn er mit seiner Kritik recht hätte, sein Sarkasmus sich so negativ auf die Beziehungen auswirke, dass Menschen sich deswegen gekränkt zurückziehen würden. Das liege ganz beim Gesprächspartner, er gebrauche den Sarkasmus nur als rhetorisches Stilmittel, ganz sachlich also. Ich insistierte, sagte, ich sei mir sogar ganz sicher, dass Sarkasmus schädlich für Beziehungen sei. Wir stritten uns eine ganze Weile darüber, bis er dann mich angriff und meinte, selbst wenn ich mir sicher sei, habe dies keine weitere Bedeutung angesichts der zahlreichen Fehler, die mir unterlaufen seien. Ich sei nicht kompetent genug, irgendetwas »mit Sicherheit« zu sagen. Denn ich hätte mich schon bei der Diagnose geirrt, auch andere Fehler begangen, und er frage sich, wie lange er noch seine Zeit für mich verschwenden solle. Ich sagte hitzig: »Nun, ich sehe nicht die lange Schlange der Psychotherapeuten, die anstehen, um Sie behandeln zu wollen.« Er sagte nichts, und das Gemeine meiner Bemerkung wurde mir in diesem Schweigen schlagartig bewusst. Er lächelte fein, fast triumphierend, und sagte: »Kann es sein, dass Sarkasmus auch Ihnen nicht unbekannt ist?« Ich entschuldigte mich sofort und war ehrlich beschämt. Er beobachtete mich aufmerksam und als ich fragte, was er dazu sage, meinte er, jetzt habe er gefühlt, was ich meinte, als ich sagte, dass Sarkasmus den Anderen weh täte. Die Stunde endete in einem erstaunlich guten Einvernehmen, wir sind uns deutlich näher gekommen. Hätte ich besser deuten sollen? Wenn es mir gelungen wäre, die »dritte Position« bzw. die »reflexive Position« (Kernberg, 1999, S. 887) zu bewahren, hätte ich das Beziehungsgeschehen zwischen mir und ihm von außen betrachten können: Ich hätte analysieren können,

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wie der Patient mich als sein Objekt verwendet, also wie die Natur der Übertragung sich darstellt. Wenn ich gedeutet hätte, hätte ich vermutlich etwas in der Art gesagt wie: »Mit Ihrem Sarkasmus stellen Sie sicher, dass es keine freundliche Kommunikation gibt und Sie dementsprechend nicht befürchten müssen, abgewiesen zu werden, wenn Sie es riskieren, freundlich zu sein! Sie haben zwar eine Sehnsucht nach positiven Begegnungen, aber Sie machen lieber die Gesprächspartner zu Idioten als sich selbst idiotisch zu fühlen, wenn Sie nett wären und trotzdem abgewiesen worden wären.« Hätte ich besser deuten sollen? Ich glaube, dass die Deutung den Patienten schon erreicht hätte, dass er sie verstanden hätte. Aber würde er sie spüren? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem – es ist mir bewusst, dass die Reaktion meinerseits unanalytisch und in einem bestimmten Sinne nicht richtig war. Wenn es wahr ist, dass Sarkasmus immer schädlich für Beziehungen ist, dann gilt dies auch für diese Beziehung – und der Moment der Nähe und des fühlbaren Verständnisses kann nicht seine schädliche Wirkung aufwiegen. Nach Kernberg (1999, S. 882) hat die Intersubjektivität, die auf das Hier und Jetzt beschränkt ist, zur Folge, dass der Patient die Möglichkeit hat, sich vor dem tieferen Verständnis der unbewussten Determinanten seines Erlebens zu drücken. Das gilt auch für den Analytiker. In dem oben angeführten Fall habe ich mich vor der Deutung des Unbewussten gedrückt. Gerade wegen der Gefahr, vom Patienten abgewiesen zu werden, obwohl ich freundlich hätte bleiben sollen, und mich dann wie eine Idiotin zu fühlen, machte ich ebenfalls eine sarkastische, ungefilterte Bemerkung. Intersubjektiv betrachtet eröffnete sich in der Sitzung das Feld, in dem es eigentlich um die Sehnsucht nach Angenommen werden geht. Das ist in dem Klima von Entwertung und Angriff verloren gegangen, und ich reagierte so wie alle reagieren, also genau so, wie ich es dem Patienten beschrieben habe. Der Unterschied lag nur darin, dass ich mich nicht gekränkt zurückzog und den Kontakt abbrach, sondern mit der gleichen Waffe zurückschlug und ihn verletzte. War das nun intersubjektiv? Nein, es war zwar authentisch, aber auch nach den Maßstäben der Intersubjektivität ein Fehler. Zur Katamnese ist zu sagen, dass die Therapie fortgesetzt wurde, aus meiner Sicht jedoch nicht besonders erfolgreich verlief und vom Patienten vor Ablauf des Stundenkontingents beendet wurde. Die

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Symptome und die Paarprobleme hatten sich bedeutend gebessert, der Rest solle und könne so bleiben, sagte der Patient, denn er habe nicht vor, sein Wesen zu verändern. Möglicherweise haben wir die Chance zur Einsicht, dass es gerade sein Wesen ist, das einer Korrektur bedarf, verpasst und den günstigen Moment nicht wiedergefunden.

Vignette 3 Ein älterer Mann, der sich in meine Behandlung begab und dessen Lebensgeschichte durch die Verwicklung seines Vaters mit dem Naziregime geprägt war, löste bei mir Unmut aus durch den Gebrauch rassistischer Bemerkungen, wie zum Beispiel: Frau X. hätte »einen Bimbo« geheiratet und er glaube nicht, dass es gut gehen könnte. Dabei wirkte er völlig mit sich im Reinen, ohne eine Spur von Problembewusstsein. Ich konfrontierte ihn damit, dass solche Bezeichnungen als diskriminierend empfunden werden und dass dies möglicherweise zu den distanzierten Kontakten führe, die er beklage. Das führte zu folgendem Dialog: »Das soll diskriminierend sein? Was werden Sie wohl dazu sagen, dass ich ›Mein Kampf‹ im Nachtschränkchen habe?« »Was machen Sie damit?« »Ich lese darin.« Ich sagte, dass man heute »Mein Kampf« lese, um der jungen Generation den Schrecken der Nazi-Zeit vor Augen zu führen. »Ich nicht. Das Buch ist von meinem Vater und ich lese manchmal darin.« Ich wollte es nicht hören und nicht an mich heranlassen, was sich vom Gefühl her immer mehr an uns heranschlich. Ich sagte: »Es geht also nicht um ›Mein Kampf‹, sondern um die Erinnerung an Ihren Vater? Wenn es zum Beispiel ein Roman von Courths-Mahler wäre, würden Sie auch manchmal darin lesen?« »Nee, so was würde ich nicht aufbewahren, das wäre ja Quatsch.« Ich musste meine Gefühle überprüfen, brauchte Zeit und sagte zunächst nichts. Aus 10 Sekunden wurden 30, dann eine Minute und dann war klar, dass niemand mehr etwas sagen würde. Der Raum wurde enger, die Luft knapper. Zwischen uns eröffnete sich ein schwarzes Loch. Wenn ein Stern stirbt und in sich zusammenfällt, wird seine Dichte so hoch, dass die Gravitationskraft wie ein Staubsauger alles um den

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Stern herum einsaugt, sogar das Licht. So etwas trat zwischen uns ein. Dann waren wir nicht mehr allein im Raum. Er saß da mit seinem Nazi-Vater im Rücken und hinter meinem Rücken versammelten sich die im Holocaust ermordeten Familienangehörigen meiner Mutter. Das erkannten wir gegenseitig, er wusste, wer ich bin, und ich wusste, wer er ist. Er stand auf, nickte mit dem Kopf und ging. Ich war mir sicher, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Am nächsten Tag rief er an und teilte mir mit, er käme nicht mehr. Ich sagte, das sei in Ordnung. Es war der bis jetzt einzige Patient in 26 Jahren, dem ich nicht alles Gute zum Abschied gewünscht habe. In diesem Fall kam der Moment der »disruption« an der Stelle, als ich – eigentlich ganz lege artis – Zeit brauchte, um meine Gefühle zu kontrollieren und eben nicht spontan zu reagieren. Mir fehlten allerdings die Worte, die ich hätte sagen können. Es fiel mir einfach nichts ein. Das Enactment bestand darin, dass ich nichts machte und plötzlich der Raum offen stand für das merkwürdige, irreale Erleben des »schwarzen Lochs«. Wir hatten die symbolisierende Ebene der Worte verlassen und auf der Ebene des intersubjektiven Erlebens gab es keinen Weg zurück zu dem so notwendigen »Wiedergutmachen« (Jessica Benjamin), das nach einem Bruch erfolgen soll – und es normalerweise auch tut. Was hat sich als stärker erwiesen als das in vielen Jahren introjizierte therapeutische Ethos, mit dem ich mich hochgradig identifiziere? Was war das für eine Kraft, die mich aus der Haltung der Neutralität, Abstinenz und Hingabe an den Patienten herausbrachte? Ich erlebe es sehr selten, aber wenn Ereignisse eintreten, die entgegengesetzt zu meinem ganz persönlichen Gewissen und meinen moralischen Vorstellungen sind, wird es unmöglich, die Analyse fortzusetzen. An diesen Stellen bricht etwas und wird nicht wieder gut. Vielleicht könnte ich das Material, das mir der Patient mit der »Mein Kampf«-Episode lieferte, analysieren, aber wohin sollte es führen, wenn es so deutlich zu spüren war, dass ich ihm meine gesamte Sympathie entzog? Anders als in der Fallvignette davor hatte hier nicht das Deuten den Vorrang, sondern das Wahrnehmen des intersubjektiven Feldes mit der Konsequenz, dass da nichts zu machen war. Habe ich mich geschämt? Ja, denn ich habe die mir sehr wertvolle analytische Haltung aufgegeben. Habe ich mich schuldig gefühlt? Nein, nicht im Mindes-

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ten. Diesen Mann wollte ich nicht mehr sehen, die Geschichte war für mich damit zu Ende.

Zwei grundsätzliche Fragen Was uns immer wieder in Behandlungen bewegt, sind zwei Fragen, die natürlich auch sonst in Beziehungen außerhalb des analytischen Raumes ständig verhandelt werden: – »Wie sehr liebst du mich?« – »Wer hat das Sagen?« (Gilbert, 2008). Zunächst zu: »Wer hat das Sagen?« Es existiert viel Literatur zu der Frage, wie die Machtausübung in der psychoanalytischen Behandlung zu regeln sei. Am geläufigsten ist wohl die Maxime, dass die Machtausübung des Analytikers kontrolliert wird über die Struktur der Behandlung, indem wir das Setting bestimmen und die Patienten den Inhalt. Kaum ausgesprochen, stürmen die Ausnahmeregelungen daher: Zum einen ist man sich einig darüber, dass in Abhängigkeit vom Strukturniveau auch der Inhalt stärker von uns zu bestimmen sei; zum anderen, dass auch wir allzu menschlicherweise das Setting lockern und – sowohl als Anfänger als auch mit den Jahren – zunehmend Überdruss fühlen, immer pünktlich anzufangen und aufzuhören. Es scheint fast so, als wenn alle mit der oben genannten Regelung im Prinzip einverstanden seien, aber zugleich wüssten, dass sie der gelebten Realität nicht entspricht. Das Setting entfaltet seine Wirksamkeit in alle Schichten der Machtfrage. »Wer hat das Sagen?« Wenn man tiefer blickt in das, was das Setting bewirkt, befindet man sich unweigerlich auf der intersubjektiven Ebene. Dann wird alles noch komplizierter: Wir kommen als Menschen selbst ins Spiel – sind wir eher dominant oder unterwürfig? Fällt es uns vielleicht deshalb schwer, uns an das Setting zu halten und/oder es durchzusetzen, weil wir einer Form genüge tun müssen, ohne dahinter zu stehen? Es gibt natürlich auch Patienten, die scheinbar ganz mit dem Setting einverstanden sind, jedoch selbst dominant genug sind, um insgeheim grollend unsere Fehler zu zählen

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Über »unanalytisches Vorgehen«

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und uns irgendwann die Minuten aufzutischen, die wir zu spät angefangen haben und manchmal sogar die, die wir mit ihnen überzogen haben! Die andere Frage: »Wie sehr liebst du mich?« wird in unzähligen Variationen berührt, wenn wir die Kindheit der Patienten erforschen und die Vergangenheit rekonstruieren, besser gesagt konstruieren (denn die Archäologen-Metapher ist begraben worden) aus der Erkenntnis heraus, dass das Gedächtnis ein unsicherer Geselle ist, der die Inhalte nach der jeweils erlebten Emotion verzerrt und verwandelt speichert. Trotzdem bewegt die Patienten die Frage »Wie sehr haben mich meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister geliebt?« Wäre man mit »mehr davon« heute ein glücklicherer Mensch? Lässt sich in einem regressiven Zustand in der Behandlung die Erfahrung, von der Mutter doch geliebt worden zu sein, herstellen und in der Übertragung erleben, oder droht eher die Wiederholung der damaligen Einsamkeit und Zurückweisung? Dies wird an uns gerichtet, in der Übertragung, aber auch an uns als reale Personen in einer realen Beziehung. Sie versetzt uns in eine schwierige Situation. Wie viel Offenheit, subjektive Wahrheit und Selbstoffenbarung einerseits, Methodentreue, Abstinenz und Professionalität andererseits ist nötig und für den Prozess förderlich? Vor zwanzig Jahren fiel die Beantwortung dieser Frage leicht, es gab diese eindeutigen Normen, was richtig und was falsch sei. Kernberg gab strikte Anweisungen wie: »Das absolute Verschweigen von Gegenübertragungsreaktionen gegenüber dem Patienten ist das Gegenstück zur Freiheit des Analytikers, mit ihnen zu arbeiten und sie in seinen Deutungen zu verwenden« (Kernberg, 1988, S. 324). Wie kann man etwas »absolut verschweigen«, was sich längst dem Anderen mitgeteilt hat? Inzwischen ist selbst die Formulierung von Anweisungen schon angreifbar: Selbstoffenbarung steht nicht mehr in einem kategorischen Widerspruch zur Professionalität, Methodentreue fördert nicht automatisch den analytischen Prozess! In meinen Fallvignetten wurden gerade in den Momenten der »Brüche« und in den Enactments die beiden oben diskutierten Fragen verhandelt: Im ersten Fall ging es eindeutig um die Thematik der Macht und um meine Freiheit, das eigene Sagen haben zu können. Im zweiten und dritten Fall ging es um das Thema Lieben und Geliebtwerden. Für den Sarkasten empfand ich genügend Sympathie, um mit ihm und

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Hanna Marx

um ihn zu kämpfen. Im letzten Fall musste der Patient die wohl harte Erfahrung machen, dass ich ihm alles an Liebesgefühlen entzog. Die Behandlung der beiden Grundfragen ist nicht mehr exklusiv auf die Betrachtung in der Übertragung beschränkt, sie kann auch jenseits davon gesehen werden. Dies ist aus meiner Sicht eine der bedeutendsten Errungenschaften der Intersubjektivitätswende. Wir sind nicht nur Projektionsflächen, und je wahrhaftiger wir uns selbst mit dem menschlichen Begehren, geliebt zu werden und zu bestimmen beschäftigen und uns selbst einbeziehen, desto mehr haben wir die Chance, analytisch zu handeln und zu verstehen. Für diese Erweiterung des Spielraums – sowohl real in meinem Behandlungszimmer, als auch imaginär in meinem Inneren – bin ich den Intersubjektivisten zu Dank verpflichtet.

Literatur Benjamin, J. (1993). Die Fesseln der Liebe. Frankfurt a. M.: Fischer. Benjamin, J. (2007). Unser Treffen in Theben. Anerkennung und Angst, den Patienten zu verletzen. In M. Müller, F. Wellendorf (Hrsg.), Zumutungen. Die unheimliche Wirklichkeit der Übertragung (S. 86–102). Tübingen: edition diskord. Gilbert, E. (2006). Eat, pray, love. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag. Hübner, W. (2009). Notwendige Regelverletzungen. Psyche, 63, 22–47. Jaenicke, C. (2006). Das Risiko der Verbundenheit – Intersubjektivitätstheorie in der Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Kernberg, O. (1988). Probleme mit der Übertragung bei schweren Charakterpathologien. Ich-psychologische und objektbeziehungs-theorethische Aspekte. In P. Kutter (Hrsg.), Die psychoanalytische Haltung (S. 305–330). München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Kernberg, O. (1999). Plädoyer für eine »Drei-Personen-Psychologie«. Psyche, 53, 878–893. Klüwer, R. (2008). Agieren. In W. Mertens, B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (S. 44–47). Stuttgart: Kohlhammer. Salber, L. (2006). Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen. Reinbek: Rowohlt. Stolorow, R. D., Atwood, G. E., Orange, D. M. (1999). Kohut and contextualism: toward a post-cartesian psychoanalytic process. Psychoanalytic Psychology, 16, 380–388. Torberg, F. (1981). Die Erben der Tante Jolesch. München: dtv. Zaretsky, E. (2009). Freud im 21. Jahrhundert. Zeitschrift für Individualpsychologie, 34, 66–81.

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Gerd Lehmkuhl

Autistische Syndrome und ihre Bedeutung

The meaning of autistic syndroms Autistic symptoms, autistic withdrawal and autistic barriers (F. Tustin) can be unsurmountable obstacles in the psychotherapeutic relationship and communication. Anzieu speaks of a »– Panzer – (tank) Ego« with the purpose of setting boundaries against anxieties and insecurities as well as the outside world that is perceived as threatening. From an individual psychological point of view this syndrome can be understood psychodynamically as withdrawal and isolation. Case examples are used to show how these problems can be discussed and worked through in the therapeutic process. The great ambivalence and irritability that can be seen in these patients complicate the development of a working alliance, and ask for a special level of communication in order to facilitate a more flexible handling of autistic barriers.

Zusammenfassung Autistische Symptome, autistischer Rückzug und autistische Barrieren (F. Tustin) können unüberwindliche Hürden in der psychotherapeutischen Beziehung und Kommunikation darstellen. Anzieu spricht von einem »Panzer-Ich«, mit der Funktion, sich gegen Ängste und Unsicherheiten sowie einer als bedrohlich wahrgenommenen Außenwelt abzugrenzen. Aus individualpsychologischer Sicht lässt sich die Symptomatik psychodynamisch als Rückzug und Isolation verstehen. Wie es im therapeutischen Prozess gelingen kann, diese Problematik aufzugreifen und durchzuarbeiten, wird an kasuistischen Beispielen dargestellt. Die dabei zu beobachtende hohe Ambivalenz und Irritierbarkeit erschweren den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses, verlangen eine spezielle Kommunikationsebene, um einen flexibleren Umgang mit den autistischen Barrieren zu ermöglichen.

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Einleitung Vor 350 Jahren wurde Robinson Crusoe an den Strand einer heute chilenischen Insel gespült. Es ist die Geschichte eines Auf-sich-Geworfenseins, die Chronik einer 28-jährigen Gefangenschaft mit der Notwendigkeit, für die Aufgaben des Alltages eigene Lösungen zu finden. Kaube (2009) sieht das Dilemma darin, in der Gesellschaft so zu leben, als lebte man nicht in ihr: »Die Geschichte von Robinson wäre, so verstanden, eine Übung in methodologischer Einsamkeit, der die Frage zugrunde liegt: »Was würde ich machen, wenn ich niemandem als mir selbst vertrauen könnte?« Das Buch sei das hervorstechende Beispiel, so Kaube, für eine Tradition des modernen Individualismus, »die nicht in Selbstentfaltung, der Suche nach Intimität und dem ästhetischen Empfinden, sondern im Erwerb gegründet ist« (2009, S. 3). Man könnte postulieren, dass Robinson Crusoe in eine autistische Situation hineingeworfen wurde, die sich erst dann änderte, als er mit dem geflüchteten Freitag versuchte, die Inselwelt zu teilen, sich mit ihm austauschte und versuchte, ihn zu bilden. Doch entspricht diese Situation der des Autismus? Autistische Menschen sind nach Meinung der Betroffenen Nicole Schuster (2007) »anders«, sie haben ihre besonderen Fähigkeiten, sie verfügen über außergewöhnliche Blickwinkel auf neue Lösungsmöglichkeiten, zumindest wenn sie dem Asperger-Spektrum angehören, und sie sind durch »eine besondere Art zu leben, zu denken, zu fühlen und zu handeln« geprägt. Sie entwickeln hierdurch eine eigene Weltsicht, verweigern sich radikal äußeren Einflüssen und begegnen Erziehungsbemühungen mit erheblichem Widerstand. Ihre Selbstentfaltung ist weniger durch Beziehungen und Rückmeldungen mit der Umwelt als durch innere Motive, Affekte und Ziele gesteuert. Kein Freitag würde von ihnen zu sinnvollem Tun angeleitet, sondern in ihr Handlungsschema integriert und als Objekt genutzt. Autistischen Menschen erscheint das Geflecht des Lebens, so Hermelin (2002), als ein undurchschaubares Chaos, das sich ihrer Kontrolle entzieht und wenig Sinn ergibt: »Die Folge ist oft, dass sie Rituale entwickeln, die beruhigend auf sie wirken. Auch bei vielen normalen Kindern kann man gelegentlich ähnliche, aber weit weniger ausgeprägte Verhaltensweisen beobachten« (S. 53). Und

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Autistische Syndrome und ihre Bedeutung

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daher würde sich ein autistisches Kind, das sehr wenige Dinge gut kann, zu Beschäftigungen hingezogen fühlen, die mit dem isolierten Bereich seiner Begabung zu tun haben. Wenn Hermelin (2002) von einem »facettenreichen Phänomen des autistischen Spektrums« ausgeht, dann drückt dies Axel Brauns (2002) als Betroffener in seinem Buch »Buntschatten und Fledermäuse. Mein Leben in einer anderen Welt« folgendermaßen aus: »Manche Autisten verleben still, in sich gekehrt, ihre Tage, andere toben herum, weil ihnen die Welt durch den Kopf rennt. Manche Autisten lernen es nie, sich richtig zu bedanken, anderen kommen diese Floskeln so trefflich über die Lippen, dass der Eindruck entsteht, sie verstünden, was ihnen da herausrutscht. Manche Autisten lachen gerne und plappern viel, andere sind eher sachlich und einsilbig. Manche Autisten verzweifeln an trübsinnigen Gedanken, andere haben ihre Zelte auf der heiteren Seite des Lebens aufgeschlagen. Das Leben im Autismus ist eine miserable Vorbereitung für das Leben in einer Welt ohne Autismus« (S. 9). Brauns schildert sehr plastisch die Erinnerung an seine frühe Kindheit: Im Alter von zwei Jahren verloren die Menschen um ihn herum ihr Aussehen, ihre Augen lösten sich in Luft auf. »Nebel verschleierte ihre Gesichter. Die Stimmen verdunsteten. Mit der Zeit verwandelten sich die Menschen um mich herum in flatterhafte Schatten, die auf mich wirkten, als wären sie aus dem All in meine Welt herabgeschneit.« Und weiter heißt es: »Meine Sprache verarmte. Dieser Verlust wurde sichtbar. Ich war mir selbst genug.« Und er stellt die Frage, »wie lernt man es, Menschen wahrzunehmen, wenn man sie nicht wahrnimmt?« (S. 11). Ganz ähnlich beurteilt Daniel Tammet (2007) seine Situation: »Mein Autismus macht es mitunter schwierig für mich zu verstehen, wie andere Menschen in bestimmten Situationen denken oder fühlen. Aus diesem Grund basieren meine moralischen Wertvorstellungen eher auf Ideen, die mir logisch erscheinen und Sinn für mich ergeben und über die ich gründlich nachgedacht habe, und weniger auf der Fähigkeit, mich in die Lage anderer zu versetzen« (2007, S. 282). Die nähere Beschäftigung mit dem Thema Autismus verdeutlicht, dass es sich um ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Schwereund Ausprägungsgrade handelt. Allen Formen gemeinsam ist jedoch, dass sie in den ersten Lebensjahren zu mehr oder weniger deutlichen

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Entwicklungsdefiziten führen. Im Vordergrund steht eine Kontakt-, Interaktions- und Kommunikationsstörung mit situativ unangepasstem Verhalten, das wenig empathisch auf die Reaktionen der Mitmenschen eingehen kann. Während sich in der Gruppe des frühkindlichen Autismus nach Kanner häufig eine geistige Behinderung findet, sind Betroffene mit dem Asperger-Typ meistens normal bis überdurchschnittlich begabt. Übergeordnet sind Wahrnehmungsbesonderheiten in fast allen Qualitäten, soziale Interaktions- und Kommunikationsstörungen, meistens mit Sprachbesonderheiten, repetitive Verhaltensmuster in Form von speziellen Alltagsroutinen, stereotypen Interessen und Fixierungen sowie eine motorische Ungeschicklichkeit. Doch was ist das »typisch Autistische«? Schuster (2007) sieht es im repetitiven stereotypen Tun, das auf kein Ziel ausgerichtet ist und dazu beiträgt, dass die Betroffenen wie in einer eigenen Welt versponnen erscheinen und sich zeitweise in parallelen Wirklichkeiten befinden. Hinzu treten thematische Fixierungen und Interessen, eine nicht selten panische Angst vor Veränderungen sowie Besonderheiten in ihren komplexen Informationsverarbeitungsprozessen. Hiervon sind verschiedene Qualitäten der Verarbeitung von Umwelteindrücken und Reizen betroffen und erschweren Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, sprachliche und motorische Leistungen, also basale Funktionen, die für Interaktion und Kommunikation unerlässlich sind. Darüber hinaus gelingt es ihnen nur bedingt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, das heißt, deren Wünsche, Intentionen, Überzeugungen und Haltungen zu erfassen und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen (Frith, 1991, 1992; Poustka et al., 2004; Bölte, 2009). Einen Zusammenhang zwischen dem eigenen psychischen Zustand, ihrem Verhalten und Reaktionen der Umwelt herzustellen, gelingt nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass bei den Betroffenen eine mangelnde zentrale Kohärenz vorliegt, das heißt, dass ein mehrteiliger Handlungsablauf nicht als Ganzes, sondern nur zerlegt in seine Einzelelemente erlebt werden kann. Dadurch sind ihre Handlungsfähigkeit und auch Handlungsplanung eingeschränkt und es misslingt, Ereignisse in ihrer zeitlichen Dimension zu erkennen und zu strukturieren. Diese Eigenschaft bedingt auch die mangelnde Fähigkeit, die Wahrnehmungswelt zu vereinheitlichen (Ratey u. Johnson, 1999, S. 298). Aber mit diesen stückhaften Wahrnehmungen und bestimmten Themen können sich

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Autisten lebenslang beschäftigen und sie intensiv verfolgen. Hierin sehen Ratey und Johnson den Zusammenhang zwischen erschreckenden Defiziten des Autismus und seinem erschreckenden Glanz – seinen »Fähigkeitsinseln«. Auch wenn in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion tiefenpsychologischen Therapieansätzen kein relevanter Stellenwert eingeräumt wird, da hierzu keine evidenzbasierten Ergebnisse vorliegen, und überwiegend auf zum Teil gut evaluierte verhaltensbasierte Interventionen zurückgegriffen wird, die das Ziel verfolgen, die soziale Interaktionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Selbständigkeit zu verbessern, Rituale, Zwänge, Auto- und Fremdaggressionen, Unruhe/Hyperaktivität, grob- und feinmotorische Defizite sowie Isolation zu reduzieren (Poustka et al., 2004; Bölte, 2009), existiert eine umfangreiche psychoanalytische Literatur sowohl zu ätiologischen Konzepten als auch zu behandlungstechnischen Überlegungen beim frühkindlichen Autismus, die in einer Vielzahl von Kasuistiken und klinischem Material einen tiefenpsychologischen Zugang belegt (Alvarez, 1992, 1996; Frost, 2006; Tustin, 1972, 1988, 2008). Worin liegt nun die Herausforderung, sich als Psychoanalytiker und speziell als Individualpsychologe mit der besonderen psychosexuellen, kognitiven und emotionalen Entwicklung und Individuation sowie der Behandlung von autistischen Menschen zu beschäftigen? – Die Thematik berührt eine der zentralen theoretischen Prämissen der Individualpsychologie: Adler (1908) ging von einem angeborenen Zärtlichkeitsbedürfnis aus und betrachtete das zwischenmenschliche Kontaktbedürfnis und Zusammenleben als soziale Anlage (1928). Beim Autismus müssen wir konstatieren, dass von einem Wunsch nach Gemeinschaft, dem Bedürfnis, in Beziehung zu treten, sowie von Einfühlungs- und Kooperationsbereitschaft nicht auszugehen ist. Wie entwickeln sich Personen, die aufgrund ihrer besonderen kognitiven und emotionalen Struktur über diese wichtigen Fähigkeiten nicht verfügen? Ihre Selbstbezogenheit und Ichhaftigkeit (Künkel, 1928, 1975) lässt sich mit dem Begriff des Narzissmus nicht kennzeichnen. Ihr spezielles Weltbild und Apperzeptionsschema bauen nicht auf Gemeinsinn und Common Sense auf, auch wenn es nach Wiegand (1995b, S. 78) darum geht, den »Eigen-Sinn der Kulturen und Lebensformen zu respektieren und

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die aus der Verschiedenheit sich ergebenden Irritationen zu ertragen« (s. a. Dubiel, 1987). – Das autistische Spektrum stellt eine Herausforderung für die psychoanalytischen Entwicklungs- und Bindungstheorien dar. Wie lässt sich die frühe Mutter-Kind-Beziehung unter diesen Bedingungen verstehen und vor allem: Gibt es einen Zugang, sie zu modifizieren? – Während für Bettelheim (1977) noch das Problem »Organizität versus psychogener Ursprung« (S. 528) im Vordergrund stand, gehen wir heute von komplexen Anlage-Gen-Umwelt-Interaktionen aus. Neurobiologische Prozesse und frühe soziale Erfahrungen stehen in einem engen Zusammenhang, so dass Kandel (2006, S. 64) fordert: »Anstatt anhand biologischer und nicht-biologischer Gesichtspunkte zwischen geistigen Störungen zu unterscheiden, könnte es angemessener sein, bei jeder Art von Geisteskrankheit die Frage zu stellen, bis zu welchem Grad dieser biologische Prozess durch genetische und Entwicklungsfaktoren determiniert ist, inwieweit er auf infektiöse oder toxische Agenzien zurückgeht und inwieweit er sozial determiniert ist.« So könnten biologische Erkenntnisse und neuropsychologische Methoden einen Ansporn darstellen, spezifischen Ideen über die Funktionsweise des Geistes nachzugehen und diese auch zu überprüfen (Olds u. Cooper, 1997). Allerdings berge, so Roth (2001), der neurobiologische Wissenszuwachs über die Grundlagen von Fühlen, Denken und Handeln in sich die Gefahr einer »Hirnmythologie« bzw. von neuen allumfassenden »Welterklärungsmodellen«. Gerade beim Autismus könnte jedoch die Integration verschiedener Untersuchungs- und Betrachtungsebenen zu einem besseren Verständnis beitragen, um insbesondere den individuellen Entwicklungsverlauf nachzuvollziehen.

Fallvignette Der 20-jährige Sven stellte sich ambulant vor, nachdem er über Recherchen und Austausch in Internetforen bei sich die Diagnose eines Asperger-Autismus gestellt hatte. In den letzten Jahren war ein zunehmender Leidensdruck für ihn deutlich geworden, da er sich isoliert

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fühlte und es ihm nicht gelang, sowohl privat als auch im Studium Kontakte herzustellen. Die Erinnerungen und Berichte der Eltern aus seiner frühen Kindheit belegten eindrucksvoll, dass bei ihm von Beginn an besondere Interessen, Fähigkeiten und Eigenarten vorlagen. Sein Verhalten war sehr ritualisiert und eingeschränkt, andere Kinder interessierten ihn kaum, auch die Beziehung zu den Eltern wird von beiden Seiten als kühl, distanziert, mit wenig gegenseitigem Austausch beschrieben. Von früh auf sei es ihm schwergefallen, sich in die Gefühle und Wünsche anderer Menschen hineinzuversetzen. Seine jüngere Schwester habe er gehasst, ihre Stimme kaum ertragen und bei den gemeinsamen Mahlzeiten habe er geschwiegen und zeitweise auch mit aggressiven Durchbrüchen reagiert, da er sich in seiner eigenen Welt gestört gefühlt hätte. Rückblickend betrachtet er die ersten acht bis zehn Lebensjahre als ein »schwarzes Loch«, in das er sich verkrochen hätte, nicht unglücklich, mit sich beschäftigt und empfindlich gegen Störungen jeder Art. Eine erste Entdeckung sei seine Musikalität gewesen. Er verfügt über das absolute Gehör, lernte schnell Gitarre, Bass und Schlagzeugspielen und übte diese Instrumente exzessiv, zum Teil bis zu zwölf Stunden am Tag. Hierunter litt auch die Schule, an Kontakten war er ohnehin nicht interessiert. Er zog sich lieber in sein Zimmer zum zwanghaften Musiküben zurück. Problematisch wurde es, als er sich mit anderen Jugendlichen in einer Band organisieren wollte. Es war ihm unerträglich, wenn die Mitspieler nicht gut vorbereitet waren, schlecht spielten oder spontan Stücke änderten. Aufgrund mangelnder Gruppenfähigkeit musste er auch ein Musikstudium abbrechen, er geriet in Konflikte mit seinen Kommilitonen, insbesondere bei geforderten gemeinsamen Auftritten. Dass er sich spontan um therapeutische Hilfe bemühte, war dadurch begründet, dass er sich zunehmend von seinen Gefühlen und Wünschen irritiert und überrollt wahrnahm. Er berichtete sehr differenziert von inneren Spannungszuständen, die daher rührten, dass er einerseits gern näheren Kontakt herstellen und Freunde finden wollte, andererseits sich rasch gestört, kritisiert und isoliert fühlte. Er hoffte, sich in eine Gemeinschaft integrieren zu können, andererseits fand er die Gespräche oberflächlich, nichtssagend und für ihn wenig ergiebig. Allerdings war es ihm zunehmend möglich, diese Ambivalenz zu erkennen und an seiner Wahrnehmung und seinen affektiven Zuständen

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zu arbeiten. Darüber hinaus war es ihm wichtig, etwas über sich und seine Persönlichkeitsentwicklung zu erfahren und Perspektiven für die Zukunft zu finden.

Ätiologische Konzepte: Eine Synthese psychoanalytischer, individualpsychologischer und neurobiologischer Modelle Die Beschäftigung mit der autistischen Symptomatik zeigt ihre große Bandbreite und legt deshalb ganz unterschiedliche ursächliche Modelle nahe. Ätiologisch betrachtet ist der Autismus eine komplexe Krankheit, wobei im Einzelfall abzuwägen ist, ob mehr angeborene oder erworbene Ursachen eine Rolle spielen. So kann nach Tustin Autismus in sehr unterschiedlichen Situationen entstehen, »zum Beispiel als Reaktion auf eine cerebrale Schädigung oder einen sensorischen Defekt, ebenso wie auf eine traumatische Situation, die Leben und Körper zu gefährden droht« (1993, S. 1173). Da die von Melanie Klein (1952) postulierte paranoid-schizoide Position keine ausreichende Erklärung für das Phänomen Autismus darstellt, entwickelten Frances Tustin, Esther Bick, Isca Wittenberg und Donald Meltzer Vorstellungen, nach denen autistische Kinder keine Innenräume entwickeln können, in die sie hineinprojizieren, sondern sie bleiben zweidimensional am Objekt hängen. Diese nach Bick (1968) und Meltzer et al. (1975) adhäsive Identifikation führt zum Fehlen eines bewahrenden inneren Raumes, so dass intensiv perzeptiven und anderen körperlichen Sensationen nachgesucht wird, die als Mechanismus dienen, sich selbst zusammenzuhalten. Dieser Vorgang lässt sich neuropsychologisch dahingehend interpretieren, dass dem Kind wichtige sensorische Komponenten fehlen, die es benötigt, um eine innere Kohärenz und damit einen notwendigen Innenraum auszubilden. In diesem Kontext postulieren Alvarez und Mitarbeiter (1992, 1997) Übergänge zwischen genetischer Prädisposition und posttraumatischen Syndromen mit autistischen Zügen. Ergebnisse der Neurobiologie und Kognitionsforschung weisen darauf hin, dass bereits vor der Geburt die Gehirnentwicklung in Bereichen gestört ist, die für die emotionale Kommunikation und das Lernen besonders wichtig sind. Ein Defekt in diesem Regulationssystem beeinträchtigt die pränatale Entwicklung des Neo-

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kortex sowie der subkortikalen sensorischen und motorischen Systeme (Frost, 2006). Hierdurch ist von Beginn an die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesdaten gestört und damit der Dialog zwischen Umwelt und dem betroffenen Individuum. Nach Trevarthen (1996) ist dies der Ausgangspunkt für eine Einschränkung des interaktiven Lernens und der interpersonellen Reaktion, insbesondere zu Beginn des Spracherwerbs. Dabei lassen sich psychoanalytische Theorien durchaus mit neueren neuropsychologischen und biologischen Befunden verbinden und in sie integrieren. Ob ein frühes umweltbedingtes Risiko seinen Einfluss primär durch die Prädisponiertheit für widrige Umwelten geltend macht, durch fehlangepasste Affektregulierung, durch neuroendokrine Anomalien oder durch eine Kombination dieser drei Faktoren, ist bislang ungeklärt. Jedes dieser Modelle sei aber mit psychoanalytischen Konzepten vereinbar, so Fonagy und Target (2006) und Kandel (1999). Denn die beteiligten psychischen Mechanismen könnten ungeachtet der Betrachtungsebene – sozial oder biologisch – dieselben sein: »Zu ihnen zählen unbewusste Verzerrungen in der Situationsverarbeitung, das Fehlen einer Planungsfähigkeit (Quinton et al., 1993) oder verzerrte Modelle von Beziehungsrepräsentationen.« (Fonagy et al., 1996, S. 415). Ein zentraler Aspekt des psychoanalytischen Modells der Seele ist nach Fonagy und Target (2006) die Erfassung und Betonung mentaler Beziehungsrepräsentationen als Mediatoren der Organisation des Selbst und als Determinanten des Einflusses, den die Umwelt auf das Individuum ausübt. Diese repräsentationalen Strukturen würden die anormalen Entwicklungserfahrungen festhalten und vermitteln. Eine wichtige Herausforderung an die Autismusforschung besteht methodenübergreifend darin, wie es Kindern unter diesen abweichenden Entwicklungsbedingungen gelingt, die frühen Interaktionen mit ihren primären Bezugspersonen in kognitiv-affektive Schemata des Selbst und des Anderen umzuwandeln und in der Folge ihr späteres Verhalten zu regulieren und zu steuern (Bretherton u. Munholland, 1999). Uns sollten daher die inneren Arbeitsmodelle und die sich hieraus ergebende Konstruktion der Realität besonders interessieren, um einen besseren Zugang zu den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu erreichen. So sehen auch Ansermet und Magistretti (2005) das zentrale Ziel der analytischen Arbeit darin, dem Patienten zu ermöglichen, die Wirklichkeit unter

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einem neuen Blickwinkel zu betrachten und vom Zwang einer unbewussten inneren Wirklichkeit hin zu einem besseren Zugang zu den Möglichkeiten, die in jeder Situation ruhen, zu gelangen. Die Chance neuronaler Plastizität liegen vor allem darin, dass sie »dem Subjekt mit Hilfe einer Psychoanalyse erlaubt, sich vom Zwang eines erstarrten Szenarios von Phantasievorstellungen zu befreien oder dessen Lösungsfunktionen anders zu gebrauchen, anstatt sich von ihnen in Dienst nehmen zu lassen« (S. 265). Aufgrund der besonderen kognitiven und emotionalen Struktur ist beim Autismus davon auszugehen, dass wichtige Funktionsabläufe des psychischen Apparates repetitiv begrenzt und sowohl qualitativ wie quantitativ verändert sind. Dies gilt insbesondere für das frühe Apperzeptionsschema und den sich hieraus entwickelnden Lebensstil. Unter tendenziöser Apperzeption verstand Adler den Versuch, »sich und die Welt so wahrzunehmen, wie es den lebensstiltypischen Sicherheitswünschen einer Person entspricht« (Datler, 1995, S. 41). Der Prozess der Apperzeption lässt sich interpretieren »als jene komplexen und vielschichtigen Akte, die in umfassender Weise zur Ausbildung und zum bewussten sowie unbewussten Gewahrwerden des »innerpsychischen Erlebnisraumes« von Menschen führen« (Datler, 1995, S. 39). Es wurde darauf hingewiesen, dass gerade diese Fähigkeit beim Autismus entscheidend eingeschränkt ist, da sie über die sprachliche Vermittlung bewusster und unbewusster Zustände sowie spezielle Wahrnehmungsleistungen aufgebaut wird. Gelingt dies nicht, verändert sich die soziale Konstruktion der Wirklichkeit (Roth, 2001, S. 375). Orientierung in der Welt mit Hilfe fiktiver Begriffsnetze kennzeichnen Adlers Sicht allen menschlichen Verhaltens (Wiegand, 1995a, S. 154). Und Adler formuliert entsprechend: »Das Schema, dessen sich das Kind bedient, um handeln zu können, um sich zurechtzufinden, ist allgemein und entspricht dem Drängen des menschlichen Verstandes durch unreale Annahmen, Fiktionen, das Chaotische, Fließende, nie zu Erfassende, in feste Formen zu bannen, um es zu berechnen« (Adler, 1912, 1972, S. 58). Für autistische Kinder kann postuliert werden, dass diese Schemata auch durch neue Erfahrungen und Erlebnisse unverrückbar bleiben, um innere Spannungs- und Angstzustände sowie eine innere Leere in Schach zu halten. Da nach Roth (2003) jeder Wahrnehmungsprozess eine Hypothesenbildung über Gestalt, Zusammenhänge und Bedeutung der

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Welt auslöst, gibt es keinen abbildhaften Zusammenhang zwischen den Vorgängen in der Welt und den Inhalten unserer Wahrnehmung: »Anders ausgedrückt: Die Art und Weise, wie im Prozess der Wahrnehmung unsere Umgebung in bedeutungsvolle Gestalten und Geschehnisse gegliedert wird, ist eine Folge von Versuch und Irrtum, von Konstruktions- und Interpretationsversuchen, von Bestätigung und Korrektur« (Roth, 2003, S. 84). Was für den Beobachter wie die Wahrnehmung externer Geschehnisse aussieht, ist in Wirklichkeit ein Prozess der internen Hypothesenbildung über die möglichen Bedeutungen der intern erfahrenen Veränderungen. »Das System versucht dabei, bestimmte interne Mängel-, Bedürfnis- oder Ungleichgewichtszustände auszugleichen. Die Umwelt existiert aber für das System nicht real, sondern ebenfalls nur als Konstrukt« (Roth, 2003, S. 82). Mit Adler kann man die Stellungnahme des Menschen als Verarbeitung von Umweltreizen und Affekten verstehen, »die mit Hilfe unterschiedlichster Mechanismen und auf unterschiedlichsten Ebenen des Nervensystems und Gehirns miteinander verglichen und verrechnet und zunehmend mit Gedächtnisinhalten vernetzt werden« (Roth, 2003, S. 85). Der Sinn solcher kognitiven Verarbeitungsprozesse liegt darin, eine Passung zwischen den Gegebenheiten der Umwelt und den Reaktionen und Verhaltensweisen des Individuums herzustellen um das psychische Wohlbefinden und die soziale Orientierung zu sichern. Da bei Menschen mit autistischen Störungen die innere Hypothesenbildung äußere Reize entweder ausschließt, einengt oder abweichend registriert und verarbeitet, gelingt die notwendige Passung, wenn überhaupt, nur begrenzt und vorhandene Spannungs- und Ungleichgewichtszustände können nur passager kontrolliert werden. Wie schwer es autistischen Kindern dabei fallen kann, auf die emotionalen Angebote ihrer Umgebung zu reagieren, beschreibt Gunilla Gerland (1998) in der Beziehung zu ihrer Mutter wie folgt: »Als ich älter wurde, konnte es vorkommen, dass ich ihr Bedürfnis, mich zu trösten, spürte. Dann verstand ich, dass diese Stimme etwas damit zu tun hatte. Bei solchen Gelegenheiten konnte ich dem Bedürfnis meiner Mutter den Vorrang lassen vor meinen eigenen Bedürfnissen nach Ruhe, konnte mich von ihr zum Schein trösten lassen, weil sie das brauchte, weil es so am einfachsten war – erst musste ich dies ertragen, danach wurde ich dann in Ruhe gelassen« (1998, S. 20). Und über das

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bedrückende Gefühl der inneren Leere führt sie aus: »Ich verbrachte viel Zeit in mir selbst, als befände ich mich von allem anderen abgeschirmt in meiner eigenen Welt. Aber in meinem Inneren existierte keine Welt. Da herrschte eher eine Art Nullpunkt, ein Weder-Noch. Ein Zustand, in dem ich entleert war, ohne leer zu sein, oder gefüllt, ohne voll zu sein. Dort in meinem eigenen Selbst gab es mich einfach« (1998, S. 21). Und wie wenig soziale Angebote dazu beitragen können, die innere Welt zu entwickeln, veranschaulicht ein Beispiel von Liane Willey: »Wenn ich an meine ersten Jahre zurückdenke, erinnere ich mich an das überwältigende Gefühl, mich von meinen Altersgenossen fernzuhalten. Ich beschäftigte mich viel lieber mit den Freunden, die es in meiner Phantasie gab. Penny und ihr Bruder Johnna waren meine besten Freunde, die außer mir niemand sehen konnte« (2003, S. 20). Schuster (2007) führt aus, dass sich einige autistische Kinder eine Ersatzwelt schaffen, wobei die imaginären Freunde strengen Regeln unterliegen, kontrollierbar und auf Abruf da und wieder weg sind. Ihrer Erfahrung nach besteht bei autistischen Kindern ein eher wesensfremdes Bedürfnis nach Freunden und die äußere Welt der anderen Kinder kann als bedrohlich wahrgenommen werden: »Je mehr die Welt um mich herum bewusst wurde, desto ängstlicher wurde ich. Andere Menschen waren meine Feinde, und nach mir zu langen, war ihre Waffe, es gab nur wenige Ausnahmen – meine Großeltern, mein Vater und meine Tante Linda« (Williams, 2002, zit. nach Schuster, 2007, S. 134).

Psychotherapeutische Ansätze Tustin (2008) postuliert, dass es zunächst um eine Modifizierung der autistischen Barrieren geht, um zwischenmenschliche Beziehungen in Gang setzen zu können. Am Anfang sollte der Gebrauch von autistischen Objekten und autistischen Formen und Ritualen als wichtige Funktionen respektiert werden. Aber da sie die heilenden Einflüsse verhinderten, käme es darauf an, realistischere und effektivere Schutzmechanismen zu finden. Weil autistische Kinder nicht über die Fähigkeit zur Einfühlung und Phantasie verfügen, müssen diese vom Therapeuten angeregt und sozusagen induziert werden. Anzieu (1991)

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geht von psychischen Hüllen beim Autismus aus, die eine Panzerung und damit einen Sicherheitsbereich für das Kind schaffen, jedoch auch eine unüberwindliche Barriere darstellen. Da diese Kinder weder über eine »Berührungs- noch eine Lauthülle« (S. 292) verfügen, suchten sie ihren Reizschutz im Alleinsein und Rückzug. Das rhythmische Schaukeln diene ihnen möglicherweise als autoerotische Hülle und tiefe Verzweiflung fände ihren Ausdruck in Wut und autoaggressiven Handlungen. Zärtlichkeit und Nähe würden tabuisiert, doch wenn die autistische Kapsel durch konstante Beziehungsangebote aufzubrechen begänne, würde die Überempfindlichkeit, gegen die sie ein Schutz gewesen sei, deutlich. Tustin (2008) rät, sich mit dem gesunden Teil des Patienten zu verbünden und über die Verwendung von autistischen Objekten und Formen zu sprechen, um beispielhaft eine Alternative anzubieten und ein konsequentes, aber einfühlendes Verstehen der belastenden Schwierigkeiten zu signalisieren. Das Hauptproblem bestünde unter anderem darin, dass bei autistischen Kindern der Austausch mit der Außenwelt eingeschränkt ist, gefangen in einer nicht mitteilbaren Welt selbst generierter taktiler Empfindungen. Nur das, was berührt und gehandhabt werden kann, erscheint als wirklich. Psychische Erfahrungen können weder initiiert, verarbeitet, noch gestaltet werden und liegen deshalb außerhalb des Blickfelds dieser Kinder. Die Interventionen des Therapeuten sollten einen schutzgebenden Rahmen und entsprechende Korrekturen vermitteln. Nach Tustin (2008) sollte die Haltung eine aktivere und konsequentere sein als in einer psychoanalytisch ausgerichteten Therapie allgemein üblich. Da sich autistisches Verhalten auf einer beinahe reflexhaften, das heißt automatisierten Ebene abspiele, sei es unabdingbar, diesen habituierten Ablauf durch etwas Einschneidendes zu kommentieren, um eine korrigierende Erfahrung zu ermöglichen. Die besondere Fähigkeit und Kunst in der Psychotherapie mit autistischen Kindern und Jugendlichen bestünde darin, zu wissen, wie und wann entschlossene Führung zu geben ist. Entsprechend ist ein wichtiges Element der ersten Therapiephase, die Patienten zu ermutigen, von ihren versteckten und offenen autistischen Praktiken abzulassen, um eine realistischere Beziehung mit ihrer Umgebung, Vertrauen sowie ein Gefühl für Zwecke zu entwickeln. In der Übertragung wird die Außenwelt an den eigenen perfektionistischen und einseitigen Erwartungen gemessen, die dahingehend

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zu modifizieren sind, dass sie einer realistischen Wahrnehmung Platz machen. Ein weiterer wichtiger Schritt in der Therapie besteht nach Tustin (1988) darin, den Patienten ein besseres Bewusstsein ihrer Körpervorstellungen zu vermitteln. Da es ihnen schwerfällt, zwischen Innen- und Außenseiten zu differenzieren, mangelt es am Bewusstsein für den eigenen inneren Kern. Es ist deshalb wichtig, ihre »dünnen und flachen Gefühle« (Tustin, 1988, S. 292) zu erweitern und ihnen Alternativen in der emotionalen Wahrnehmung anzubieten. Hierzu gehört auch die Erarbeitung von Verknüpfungen zwischen der Außenwelt und inneren Wahrnehmungsspuren und Begriffen. Heilung kann dann entstehen, wenn Prozesse der empathischen Interaktion mit Hilfe projektiver Identifikationen möglich werden. Der Therapeut hat jetzt – so Tustin (1988, 2008) – ein Inneres, und die geschädigten Patienten glauben, dass sich ihre geschädigten Teile im Therapeuten erholen können und sie Ängste dort praktisch deponieren, bis sie selbst in der Lage sind, sie »aufzubewahren«. Dieser empathischen Aufbewahrung kommt eine zentrale Rolle im Heilungsprozess zu und entspricht einem Containment. »Die Wellenlänge finden: Werkzeuge zur Kommunikation mit autistischen Kindern« nennt Alvarez ihren Beitrag über Technikfragen in der Behandlung autistischer Kinder und Jugendlicher: Wie können wir ein Kind, das nur wenig oder gar nicht spricht, erreichen? Wie können wir mit einem solchen Kind sprechen? Sie glaubt, dass es viele verschiedene Motive für ein repetitives Sprechen gibt. Sie beschreibt den Therapieverlauf mit einem Patienten wie folgt: »Manchmal schien er völlig in sich vertieft zu sein, aber wie ich schon sagte, bekam ich das Gefühl, dass er meine Reaktion darauf manchmal definitiv beobachtete. Und er wurde weniger autistisch, wenn ich diesem ausgeschlossenen Dritten eine nachdrückliche Stimme gab. Dies lässt vermuten, dass es in solchen Momenten ein kommunikatives Element in der Projektion gab. Oder sollten wir es eine Proto-Kommunikation nennen? Er mag vielleicht keine Antwort erwartet haben, aber er kannte sie und schien erfreut, wenn er sie bekam« (Alvarez, 2006, S. 67). Diese rezeptiven oder mütterlichen Funktionen ermöglichen nach Bion (1962) in der Psyche, dass Gedanken denkbar werden und Erfahrungen Bedeutung erhalten. Entsprechend formulieren auch Fonagy und Target (2006), dass mit dem Erwerb der Mentalisierungs-

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fähigkeit somatische Erfahrungen, die mit psychischer Panik oder automatisierter Angst verbunden sind, weichen, solange die Affektregulierungsfähigkeit des Ichs nicht hinreichend ausgebildet ist. »Das Kind schreit und wirkt verwirrt und hilflos, weil es das, was mit ihm vorgeht, weder verstehen noch in Worte fassen kann« (S. 118). Alvarez (2006) weist unter Bezug auf die Entwicklungs- und Säuglingsforschung darauf hin, dass Babys das Bedürfnis besitzen, »zu beeindrucken, zu erfreuen, ein Leuchten in die Augen der Eltern zu bringen, sie zu überraschen und zu erstaunen, sie zum Lachen zu bringen. Aber genauso brauchen sie Raum und Zeit, wo sie all dies tun können. Wir müssen vielleicht alle lernen, Distanz zu wahren, unseren Platz zu kennen, zu warten, bis wir an der Reihe sind, unsere Zeit abzuwarten – und, das ist besonders wichtig, den Raum des Kindes und seine Zeiteinteilung zu respektieren« (S. 68). Ausgehend von ihren Therapieerfahrungen glaubt sie, dass es für ihre Patienten wichtig war, dass sie die Erfahrung, ausgeschlossen, ungewollt, hilflos und vor allem machtlos zu sein, aushalten und dass ihnen der Raum und die Zeit gegeben wurde zu fühlen, dass »sie die Macht hatten, die Therapeutin warten zu lassen«. Kritisch merkt sie an, dass eine solche Technik das Risiko in sich berge, auf masochistische Weise in die Omnipotenz des Kindes verstrickt wahrgenommen zu werden. Auch Barrows (2006) sieht eine therapeutische Hauptaufgabe darin, die autistische Blockade der Realität und die Barriere durch autistische Objekte im therapeutischen Dialog zu verändern. Dies gelänge jedoch nur dann, wenn primitive Ängste, Furcht vor Hilflosigkeit und Ohnmacht überwunden werden könnten. In Fallbeispielen arbeitet er ihre Abwehrfunktionen heraus, um die Wahrnehmung der inneren und der äußeren Realität zu blockieren. Der so erreichte psychische Rückzug verschafft dem Patienten einen Raum relativer Ruhe und Schutz angesichts innerer Spannungen, sobald ein tiefer gehender Kontakt mit dem Therapeuten als bedrohlich erlebt wird (Steiner, 1993, S. 17). Wie kann es nun gelingen, autistische Objekte allmählich zu Übergangsobjekten zu transformieren, um eine bessere Anerkennung der Realität und der Getrenntheit zu erreichen? Nach Barrows (2006) und De Astis (1997) sollte man versuchen, dem Kind einen »potenziellen Raum« zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen sich ein eher symbolisches Spielen entwickeln kann. Das symbolische Spielen hängt

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von der zu entwickelnden Fähigkeit ab, die äußeren Objekte mit emotionaler Bedeutung auszustatten, die aus der inneren Welt erwachsen. Hierbei kommt den Als-ob-Spielen eine besondere Funktion zu, da sie die Balance zwischen innerer und äußerer Realität austesten und dem Kind Gelegenheit zur Unterscheidung der Grenzen anbieten. In einem der wichtigsten Therapieschritte sollten die autistischen Kinder lernen, die Interaktion mit einem lebenden Objekt der Beschäftigung mit einem total kontrollierbaren toten Objekt vorzuziehen (Alvarez, 1992). Wenn wir in der Behandlung autistischer Patienten erfolgreich sein wollen, dann bedeutet dies nach Günter (2006), »dass wir ihnen mit unserer Hilfe ermöglichen, mit ihrem autistischen Abwehren flexibler umzugehen, sie im Sinne eines Rückzugsraumes selbstbestimmter zu benutzen und, wenn die Behandlung optimale Erfolge zeigt, ihnen sogar ermöglichen, diese autistischen Phänomene stärker in einen kulturell allgemeingeteilten Kontext einzubinden« (S. 321). Für Tustin (1991, 1994, 2008) setzt die Arbeit mit autistischen Kindern eine strukturierte und einfache Umwelt und klar denkende Therapeuten voraus, die vernünftig und pragmatisch sind und sich diszipliniert und berechenbar verhalten: »Solche Therapeuten müssen bereit sein, von den Kindern zu lernen; sie müssen überdies fähig sein, sich in sie einzufühlen, ohne dass ihre eigene Objektivität und Getrenntheit dadurch relativiert wird« (2008, S. 77). Tustin legt das Schwergewicht ihrer Arbeit auf das Verständnis und die Veränderung der gestörten Reaktionen, die autistische Kinder zum Schutz ihrer Hypersensibilität und Vulnerabilität entwickelt haben. Gleichzeitig bietet sie alternative Schutzmöglichkeiten an, die ihre Weiterentwicklung fördern können und unterstützten – und insbesondere auch die Mütter bei der Bewältigung ihrer emotionalen Probleme. In der Arbeit mit den Eltern autistischer Kinder habe die Wiederherstellung ihres Vertrauens in sich selbst als Eltern höchste Priorität, denn gerade dieses Vertrauen sei durch die Symptomatik ihrer Kinder untergraben.

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Therapeutische Haltung und Ziele Während Robinson Crusoe versucht, sich die Welt anzueignen, bringen autistische Menschen hierfür häufig wenig Interesse auf. Entsprechend gering sind gerade bei jungen Kindern Motivation und Behandlungsbereitschaft. Sie zeigen häufig kaum Interesse, sich für das Leben in der Gesellschaft zu rüsten, die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erlernen. Erziehung bzw. therapeutische Interventionen stellen Maßnahmen dar, um eine Änderung von Personen durch darauf spezialisierte Kommunikation zu erreichen – wie Luhmann (2004) formuliert. Und er führt weiter aus: »All diese Modifikationen des Alltagsverständnisses von Erziehung ändern jedoch nichts daran, dass der Begriff psychische Auswirkungen von Kommunikation bezeichnen soll; und zwar, im Unterschied zu Sozialisation, absichtsvoll herbeigeführte, als Verbesserung gemeinte Veränderungen psychischer Systeme« (S. 7). Da Kinder und Jugendliche mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen einem solchen Bemühen erhebliche Widerstände entgegensetzen, sollten sowohl edukative wie psychotherapeutische Ansätze weiterentwickelt werden, was eine Vielzahl von Betroffenenratgebern und Behandlungsmanualen umzusetzen versuchen. Nicole Schuster (2007) fragt, ob ein Leben ohne Autismus wünschenswert sei, und gibt gleich die Antwort: »Diese Frage kann ich für mich mit einem eindeutigen ›Nein‹ beantworten. Für mich ist mein Autismus keine Krankheit, die es zu heilen gilt. Mein Autismus ist für mich eine besondere Weise zu leben, zu denken, zu fühlen und zu handeln« (S. 327). Und ihr Wunsch für die Zukunft lautet, dass nicht Heilung vom Autismus, sondern ein erhöhtes Bewusstsein für andersartige Menschen notwendig sei: »Denn nur, weil einige von uns verschieden sind, kann unsere Gesellschaft funktionieren. Ein Leben ohne Autismus kann ich mir nicht vorstellen« (S. 329). Der eingangs beschriebene Patient sieht seine Lage hingegen deutlich anders. Er möchte etwas verändern und hat das Bestreben, mit sich und den Mitmenschen besser umgehen zu können, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er erwartet in der Therapie neue Anregungen und Sichtweisen, aber er erlebt auch seine quälenden Defizite. Die für ihn unergründliche Angst, warum er mit seiner Familie kaum sprechen kann, die Hilflosigkeit in sozialen Kontexten und seine

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Fixierung auf bestimmte Interessen und Themen belasten ihn weiterhin. Doch er erlebt die therapeutischen Gespräche als Möglichkeit, die eigene starre Haltung zu hinterfragen und zu erweitern. Es gelingt ihm, Vertrauen zu entwickeln, er ist bereit, Neues auszuprobieren. Ihm sind korrigierende Erfahrungen möglich und neue Sichtweisen auf die Welt mit dem Bedürfnis, sich auszutauschen. Diese Veränderungen überraschen ihn, führen auch zu Verunsicherungen, Irritationen und Rückschlägen, erweitern jedoch seinen Spielraum. Den Therapeuten erlebt er dabei als Wegbegleiter, Vermittler und als Modell für eigene Schritte. Entsprechend ist die Haltung des Therapeuten eine präsentere, er ermutigt sein Gegenüber, Neues auszuprobieren. Doch ist diese Haltung analytisch? Sie ist es in dem Maße, wie es zunehmend gelingt, innere Repräsentanzen mit affektiven Zuständen besser zu verknüpfen, autistische Barrieren zu verringern und die erhöhte Kränkbarkeit und Verletzbarkeit in der Übertragung zu bearbeiten. Es ist also ein schrittweiser Prozess, durchaus nicht immer linear, aber mit dem Bemühen, Einfühlung, Empathie und Verknüpfung zwischen innerer Wahrnehmung und Außenwelt zu vertiefen. Für Resch und Westhoff (2008) geht es in der Psychotherapie nicht nur um das Aufklären kausaler Zusammenhänge. Das biopsychosoziale Modell zur Erklärung psychischer Störungen sei reduktionistisch und würde der Vielfalt psychischer Phänomene und ihrer therapeutischen Beeinflussbarkeit nicht gerecht. Es ginge vielmehr um das Verstehen von Interaktion: »Am Ort der Kommunikation siedelt sich die Therapie an. Im Erkennen und Handeln bezieht sich jeder Mensch auf die Welt und er lebt damit in einem Raum von Bedeutungen als einem Raum von Möglichkeiten seines Daseins. Diese Bedeutungen sind Interpretationen der Welt, das heißt, Wertungen von Dingen und Tatsachen, die die Person als Erlebnisbausteine und Erkenntnisbausteine gesammelt hat. Aus solchen gerichteten Erfahrungsbausteinen, die Wertungen enthalten, entsteht ein Möglichkeitsraum des Handelns. Dieser Raum ist aber nicht bloß nach Naturgesetzen geordnet, sondern in diesem Raum besitzen die Erfahrungsobjekte subjektive Wertungen, Gerichtetheiten und sinnvermittelnde Bezüge. In diesem Raum gibt es also nicht bloß die dingliche Welt als Bild, Abbild oder Erklärung. In diesem Raum ist auch das Subjekt zugegen und bleibt in das Netzwerk gerichteter Verständnisbezüge integriert. Eigene Ge-

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schichte, mögliche Zukunft und Handlungsentscheidungen der Gegenwart finden in diesem Lebensraum statt« (S. 146). In diesem Sinn kann Psychotherapie vergleichbar mit Erziehung Hinweise zum »richtigen Leben« geben, wenn dies als Behandlungsziel notwendig ist. Tauglichkeiten im Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst, nennt es von Hentig (2009). Unabhängig von der Gesellschaft strebe der Mensch nach persönlicher Bildung: »Selbst Robinson gibt sich Rechenschaft über die vergehende Zeit, er pflegt seine Erinnerungen, er macht sich Gesetze/Regeln, er beobachtet und erklärt die Natur, er liest, dichtet, singt – und vervollkommnet sich darin; er bildet Vorstellungen aus – Hoffnung auf Rettung und einen ›Sinn‹ für den Fall, dass diese Rettung ausbleibt« (von Hentig, 2008, S. 19). Sandler und Dreher (1999) arbeiten eindrucksvoll heraus, wie schwierig es ist, verbindliche psychoanalytische Therapieziele zu definieren. Vielleicht geht es bei Patienten mit autistischen Störungen in der Behandlung darum, sie an die Intensität des Lebens heranzuführen und Funktionsweisen zu entwickeln, mit denen sie ihre Entwicklungsdefizite ausgleichen und ihre Beziehungsfähigkeit verbessern können.

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Klaus-Jürgen Bruder

»Ehe der Hahn kräht …« – Zur Intersubjektivität der Verleugnung

Before the rooster crows – To the »intersubjectivity« of disownment In this article it is shown that »intersubjectivity« is not sufficiently characterized as dyadic. Rather, the structure of the social life and work sphere, of power relations in which the dyad is embedded, is to be considered in the overall conceptualization of intersubjectivity. Starting from there we obtain a view of »denial«, as well as all other psychic processes and structures, as a survival strategy (under the conditions of domination and power) influenced by these social (power) structures. What is denied, are those things which impede this life (under conditions of dominance) (defense from/protection against injury). Denial can thus be understood as a form of defense, which is directed against the claims of authority (also: denial of domination itself, denial of power and impotence). However, at the same time the following is also true: this strategy (an attempt) to survive under conditions of domination (= to deny domination and power) contributes to the reproduction of these conditions and thus to suffering under these conditions. Work on the removal of denial would therefore be a legitimate aim of psychoanalysis/therapy today.

Zusammenfassung Intersubjektivität ist als dyadische nicht ausreichend bestimmt, sondern die Struktur des Sozialen, der Lebens- und Arbeitswelt, der Machtverhältnisse, in die die Dyade eingebettet ist, muss auch in die umfassende Konzeptualisierung von Intersubjektivität eingehen. Von da ausgehend bekommen wir »Verleugnung«, ebenso wie alle anderen psychischen Prozesse und Strukturen, als durch diese gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen beeinflusste Strategie des Überlebens (unter Herrschafts- und Machtbedingungen) in den Blick. Verleugnet wird, was dieses Leben (unter Herrschaftsbedingungen) erschwert (Abwehr von Verletzung, Schutz vor Verletzung). Verleugnung kann also als eine Form der Abwehr, die sich gegen die Ansprüche von Herrschaft richtet, verstanden werden (auch: Verleugnung von Herrschaft selbst, Verleugnung von Macht und Ohnmacht). Gleichzeitig gilt aber auch: Diese Strategie (Ver-

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such) des Überlebens unter Herrschaftsbedingungen (= Herrschaft und Macht zu verleugnen) trägt zur Reproduktion dieser Bedingungen bei und hält damit das Leiden an diesen Bedingungen aufrecht. Die Arbeit an der Aufhebung der Verleugnung der Macht wäre von daher ein legitimes Ziel der Psychoanalyse/ Therapie heute.

Vorbemerkungen Ich möchte etwas zum Begriff (und Phänomen) der »Verleugnung« sagen – innerhalb des Rahmens der Diskussion über die »intersubjektive« Perspektive in der Psychoanalyse und damit etwas zum Thema »Intersubjektivität« selber (am Beispiel der »Verleugnung«). Dabei wären mögliche Fragen: Ist Verleugnung »intersubjektiv«, ist sie nicht intersubjektiv? Was kann zum weiteren Verständnis von Verleugnung durch die intersubjektive Perspektive beigetragen werden? Wenn die intersubjektive eine neue Perspektive für die Psychoanalyse generell ist, dann müssten die Begriffe der Psychoanalyse neu gefasst werden. Was kann umgekehrt eine Analyse der »Verleugnung« zur Diskussion der intersubjektiven Perspektive beitragen? Unter dem Label der »intersubjektiven Perspektive« fasse ich jene Konzeptualisierungen psychologischer Phänomene, die die Begrenzung der Perspektive der Psychologie auf eine Person oder die »intrapsychische« Betrachtungsweise zu überschreiten versuchen. Die Begriffe, mit denen diese Versuche bezeichnet werden, sind neben »intersubjektiv«: inter-personal, interaktiv, interaktionell, sozial und andere. Das Phänomen der Verleugnung beschäftigt mich seit längerer Zeit, zuerst in meiner Arbeit mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen und deren Eltern und Bezugspersonen. Sodann in meiner Arbeit über die Lüge (Bruder, 2009). Die beiden Begriffe »Lüge« und »Verleugnung« sind schwer voneinander abzugrenzen. Wir verwenden »leugnen« (»Verleugnen, Verleugnung«) im umgangssprachlichen Verständnis des Alltags im Sinne von: leugnen, etwas getan zu haben, »es« gewesen zu sein; oder: sich weigern, die Verantwortung für etwas zu übernehmen; oder: sich verleugnen lassen (am Telefon zum Beispiel). Verleugnung und Lüge treffen sich in der Absicht, den anderen

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über die eigenen Absichten zu täuschen. In diesem Sinne ist (im Alltagsgebrauch) Intersubjektivität im Spiel. Aber die Intersubjektivität der Verleugnung hat noch eine andere Dimension: die des »(Sich-selbst-)Verratens« – in der Zurückweisung einer Behauptung, einer Unterstellung, eines Vorwurfs eines anderen.

Petrus und die Magd Das Beispiel, die Fallvignette (wie man in unseren Kreisen sagt), das ich mit dem Titel meines Beitrags vom krähenden Hahn und der Verleugnung Christi durch Petrus zitiert habe, zeigt diese Dimension von Intersubjektivität: »Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen« (Matthäus 26,34).1 Das hatte Jesus zu Petrus gesagt auf dem Weg zum Ölberg, wo er, nachdem er von Judas verraten worden war, von den Knechten des Hohenpriesters Kaiphas gefangen genommen werden sollte. Sie alle kennen die Geschichte. Petrus war den Knechten, die Jesus abgeführt hatten, bis in den Hof des Palastes des Hohenpriesters gefolgt. Während Jesus dort von Kaiphas verhört wurde, wartete Petrus unten im Hof des Palastes beim Gesinde. Eine Magd, die ihn erkannte, konfrontierte ihn damit, dass er »auch mit dem Jesus aus Galiläa« zusammen gewesen sei (Mt 26,69). Als Petrus aber dies leugnete (Mt 26,70), bestätigte eine zweite Magd die Behauptung der ersten (Mt 26,71). Wieder leugnete Petrus (Mt 26,72) und noch einmal, nachdem alle aus der Gruppe der Umstehenden diese Behauptung wiederholten (Mt 26,73–74). Dreimal also hatte Petrus verleugnet – »ehe der Hahn krähte«. Und: Die dreifache Verleugnung wird bereits durch Christus vorhergesagt: »Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen« (Mt 26,34; s. a. Mk 14,30). Also ist die Zahl Drei nicht ohne symbolische Bedeutung. Es ist sicher nicht einfach die iterative Bedeutung des »dreimal ver1 Die Szene der Verleugnung Jesu durch Petrus findet sich bei Mt 26,69–75; Mk 14,66–72; Lk 22,54–62; Joh 18,12–27.

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dammt« oder »aller guten Dinge sind drei«. Eher ist es die christliche Symbolik der Drei der Dreifaltigkeit, die hier evoziert wird. Aber die Drei als Heilige Zahl ist älter als die christliche Symbolik. Denken Sie an den Dreifuß der Pythia, der Priesterin von Delphi, auf dem sie über der Erdspalte saß, aus der die Dämpfe stiegen, die sie in einen Trancezustand versetzten und sie ihre Weissagungen machen ließen. Drei Füße muss ein Tisch oder Stuhl mindestens haben, um selbständig stehen zu können. Nach dem Christentum hat Freud der Zahl Drei die Bedeutung einer säkularisierten Heiligen Zahl gegeben: »Triangulierung« – das Aufsprengen der Dyade (von Mutter und Kind). Aber: Die Drei ist nicht der Weisheit letzte Zahl – im Leben des Menschen. Der Mensch ist nicht nur durch die Drei bestimmt. Die Drei ist nicht ohne die Zwei und vor allem nicht ohne die Vier zu haben, zwischen die die Drei eingebettet ist – wie bereits das Rätsel zeigt, das die Sphinx dem Ödipus aufgegeben hatte.2 Das Rätsel der Sphinx, das erst Ödipus zu lösen vermochte, lautete: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig […] « Ödipus’ Antwort: »Du meinst den Menschen […]«.3 Wie die Geschichte weitergeht, ist bekannt: Nachdem Ödipus das Rätsel gelöst hatte, stürzte sich die Sphinx selbst in den Tod. Damit hat Ödipus Theben von dem Ungeheuer befreit. Er wurde mit der Königswürde belohnt. Das ging über die Heirat der Witwe des Königs Laios. Dass sie seine Mutter war, wusste Ödipus das nicht, oder doch? Dass er es war, der sie zur Witwe gemacht hatte, indem er seinen

2 Auch die Dionysos-Festspiele im antiken Athen um 500 v. Chr. selbst, denen wir die Dramen der griechischen Klassik verdanken, waren gemäß einer Vier organisiert: Sie hatten immer drei Tragödien, und als viertes Stück wurde eine Komödie zur Aufführung gebracht. Drei Tragödien, gefolgt von einem erheiternden, befreienden Satyrspiel, bildeten eine »Tetralogie«. 3 »[…] der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe« (zit. n. Schwab, 1986, S. 259).

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Vater getötet hatte, wusste Ödipus das nicht oder hat er es (nur) verleugnet? Der Seher Teiresias wirft Ödipus vor, er habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz: »Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen, Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst – Weißt du, von wem du bist?« (Sophokles: König Ödipus, V. 416–418, zit. n. Sophokles, 1963, S. 155). Er hätte es wissen können: das Orakel hatte es ihm vorhergesagt. Er hat dieses »Wissen« »verdrängt« – Das Verdrängte (Wissen) setzt sich trotzdem in sein Recht, »kehrt wieder«, schafft sich seinen Ausdruck und Wirkung. Das ist (auch) eine Botschaft des Sophokleischen Dramas. Freud hat daraus das Unbewusste gemacht (Bruder, 2005) – bei Sophokles: das Schicksal oder der Spruch der Götter, das, was »jenseits« der Dyade und des Imaginären angesiedelt ist: die vierte Dimension, die wir »verdrängen«? Ödipus hat ihr den – zu überwindenden, und damit vorübergehenden – Zustand der Kindheit zugeschrieben, dem er glaubte, entwachsen zu sein. Aber der Vorsehung, dem Spruch der Götter, der Macht des Schicksals entwachsen wir nicht so einfach, wie der Kindheit. Ödipus habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz, der menschlichen Existenz, der Conditio humana. Ödipus’ »Lösung« verblieb ganz im Rahmen der verrätselten und verrätselnden4 Metaphorik – der Naturalisierung (oder Biologisierung) menschlicher, und das heißt sozialer Verhältnisse (Bruder, 2006) – und die Naturalisierung eignet sich vorzugsweise dazu, auch heute wieder. Nun: Petrus hat Jesus dreimal verleugnet – wir werden also immer auf die (verborgene Vier) gefasst sein müssen.5 Zunächst kann man

4 Ein Rätsel soll es ja auch für die Zuhörer der Tragödie von Ödipus bleiben. 5 Eine Dreiteilung erkennt man allerdings nur, wenn man den 4. (!) Vers, V 75, der die Perikope abschließt, nicht mitzählt (warum sollte man ihn nicht mitzählen?). Bach hat in der Matthäus-Passion die Perikope ganz anders strukturiert, nämlich in nur zwei Teile (die Rezitative 45 & 46), wodurch der 4. Vers deutlich herausgehoben erscheint.

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die Dreizahl auch in der Gliederung der Perikope6 der Verleugnung selbst wiederholt sehen: Bei Matthäus (26) sind es die Abschnitte V 69–70, V 71–72, V 73–74.7 J. S. Bach: Matthäus-Passion, Nr. 45 (Rezitativ) (Mt 26,69–73) 69 Evangelist. Petrus aber saß draußen im Palast, und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Erste Magd. Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa. 70 Evangelist. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Petrus. Ich weiß nicht, was du sagst. ------------------------71 Evangelist. Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Zweite Magd. Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth. 72 Evangelist. Und er leugnete abermal und schwor dazu: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht. ------------------------73 Evangelist. Und über eine kleine Weile traten hinzu, die da standen, und sprachen zu Petro: Chor. Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich. Nr. 46 (Rezitativ) (Mt 26, 74–75) 74 Evangelist. Da hub er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht! Evangelist. Und alsbald krähete der Hahn. ---------------------------6 Perikopen (lat. Capitulae genannt) sind für die Lesung im Gottesdienst bestimmte Abschnitte des Bibeltextes – also mit Bedeutung versehene kanonisierte, jedenfalls für eine bestimmte Zeit. 7 Bei Mk (14,66–72); bei Lk (22,54–62) als auch bei Joh (18,12–27)). Durch die deutlichen Parallelen der Szenen sind sie eindeutig auf das Markusevangelium als Quelle zurückzuführen (Matthäus 80–90 n. Chr.; Markus ca. 65 n. Chr.). Obwohl der Autor des Matthäusevangeliums einige narrative Ausgestaltungen vorgenommen hat, übernimmt er die Struktur, die bei Markus vorzufinden ist, und gliedert die Perikope in drei Teile.

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75 Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging heraus und weinete bitterlich.

Während Petrus im ersten Abschnitt »leugnet«, mit Jesus zusammen gewesen zu sein (V 70), »schwört« er nach der zweiten Anschuldigung, ihn nicht zu kennen (V 72), und beginnt im dritten Abschnitt, »sich zu verfluchen« (V 73). Willibald Bösen (1999, S. 192) sieht in dieser Dreiteilung der Szene die Bedeutung einer Verstärkung durch Iteration. Ebenso werde durch die Personen, die ihn beschuldigen, eine Intensivierung ausgedrückt. So wird er im ersten Fall nur von einer Magd direkt angesprochen, während die Anschuldigung im zweiten Abschnitt nicht mehr nur individuell an ihn gerichtet wird, sondern von einer zweiten Magd zu den umherstehenden Personen gesprochen wird. Im Anschluss auf seine darauf folgende Verleugnung wird er bereits von allen Leuten, die in der Nähe stehen, auf seine Bekanntschaft mit Jesus angesprochen. So sind in jedem Abschnitt mehr Personen an den Beschuldigungen beteiligt, zugleich aber ändert sich auch die Struktur der Interaktion. Der Zweck der Dreiteilung kann nicht in der bloßen Intensivierung bestehen, denn es handelt sich nicht um eine bloße Iteration. Eine Magd, eine zweite Magd, die Gruppe der Umstehenden ist ja auch eine Variation, die uns den Blick dafür öffnet, dass etwas gleichbleibt, jenseits der Veränderung: egal ob eine Magd, zwei Mägde (zweite Magd) oder eine Gruppe von Leuten, es geht immer um dasselbe: um eine Person außerhalb der Dyade, der Beziehung, oder besser außerhalb der Interaktion P–M, um eine »dritte« Person: Christus (also um »Triangulierung«).

Abbildung 1

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Zugleich hat jeder der drei Abschnitte eine duale Struktur, die der Interaktion: T

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sEs wird hier also etwas gezeigt, was mit der Struktur der »Intersubjektivität« zu tun hat: was es mit der Struktur der »Intersubjektivität« auf sich hat: Während der erste Vers eines Abschnittes die Behauptungen, Verdächtigungen, Petrus sei mit Jesus zusammen gewesen, beinhaltet, haben die jeweils zweiten Verse die Reaktion des Petrus auf diese Behauptungen zum Inhalt. Petrus also (ver)leugnet – »mit dem Jesus aus Galiläa« zusammen gewesen zu sein –, nachdem eine andere Person, die Magd, dann eine zweite Magd, dann andere Umstehende, behauptet hatten bzw. ihn mit der Behauptung konfrontiert hatte(n), dass er »einer von denen« sei, die mit Jesus zusammen waren. Die Verleugnung geschah in Anwesenheit einer (oder mehrerer) anderer Personen. Die Anwesenheit der anderen erscheint hier (geradezu) konstitutiv für die Verleugnung: Petrus antwortet auf die Behauptung der – anwesenden – Magd. Und: Er antwortet verneinend. Die Verleugnung ist also: eine Antwort auf eine vorausgegangene Behauptung (einer anwesenden Person), eine Interaktion auf der Ebene des Sprechens, und zwar eine verneinende Antwort: die Verneinung einer vorausgegangenen Behauptung, die Zurückweisung einer vorher geäußerten Unterstellung, Verdächtigung, eines Vorwurfs usw. Dass Petrus diese Behauptung, Verdächtigung «zu Unrecht« zurückweist, dass er also lügt, nicht die Wahrheit sagt, also die Wahrheit verleugnet, wissen wir aus der Geschichte (Erzählung). Wüssten wir das nicht, kennten wir die Geschichte nicht, könnten wir nicht sagen, »er lügt« – wohl aber, dass er (ver)leugnet. Denn dass er »nein« sagt, die Behauptung verneint, das zu wissen, brauchen wir die weitere Geschichte nicht zu kennen. Das erfahren wir in der rezitierten Episode selbst. Das ist der Unterschied zur Lüge und darin ist die Verleugnung (im Unterschied zur Lüge) »intersubjektiv«, in ihrem Status einer »Antwort auf …«. Die Verleugnung Petri ist in einem zweiten Sinne »intersubjektiv«, als es sich bei ihr um die Verleugnung einer Beziehung handelte bzw.

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die Verleugnung der Person, mit der Petrus eine Beziehung (die des Jüngers) verband. Man könnte sagen: Die Beziehung »Petrus --- Christus« wird durchgestrichen, verneint, geleugnet – vor den Augen der anwesenden Magd, angesichts ihrer inquisitorischen Behauptung gegenüber Petrus, unter der Wirkung des intersubjektiven Feldes »P–M«.

Abbildung 2

Man könnte (sollte man nicht?) von »Triangulierung« sprechen. Nicht Christus ist der Dritte (in der Beziehung/Interaktion zwischen Petrus und der Magd), sondern er wird zum »Dritten« durch die Intervention der eigentlichen Dritten: der Magd (sowie der anderen). Er wird aus der Beziehung »Petrus --- Christus« hinausgedrängt, die Beziehung »Petrus --- Christus« wird zerstört. Frage: Warum tut das Petrus? Warum lässt er das zu? Wir haben vorläufig genügend aus dieser Geschichte von Petrus und der Magd geholt, um uns Freud zuwenden zu können.

Freud und seine Patientin Freud verwendet den Ausdruck »Verleugnung« bereits 1895 in den »Studien über Hysterie«. In dem Kapitel »Zur Psychotherapie der Hysterie«, wo Freud über den »Widerstand« der »Kranken« gegen die »(Grund-)Regel« schreibt, »alles zu sagen, was ihnen […] einfällt, gleichgültig, ob es ihnen […] angenehm zu sagen ist oder nicht«, äußerst er auch: »Es gibt auch Fälle, wo der Kranke sie [die »pathogene« Erinnerung] noch bei ihrer Wiederkehr zu verleugnen versucht« (1895, S. 282). Zu verleugnen versucht der Patient die »pathogene« Erinnerung,

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die beim Reden des Patienten8 auftaucht – also auch etwas, was nicht anwesend ist – in der Situation der analytischen Stunde (des Redens vor Freud), etwas im Imaginären.

Abbildung 3

Sehr wahrscheinlich war die »pathogene« Erinnerung eine Erinnerung an etwas innerhalb einer Beziehung, an ein Ereignis, an das die Patientin nicht mehr erinnert werden wollte. Denn, wie Freud 1905 sagt: »pathogen« geworden sei dasjenige »psychische Material«, […] welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewusstsein abgesperrt, verdrängt [worden ist]« (S. 172 f.). Gegen sein Wiederauftauchen richtet sich die Verleugnung, von der Freud spricht. Verleugnung (innerhalb der Analyse) sei eine der »Formen und Vorwände des Widerstandes [in der Therapie] gegen die Reproduktion der einen Erinnerung, die sie [die Patienten] nicht gerne sagen wollen« (Freud, 1895, S. 281), »die wir trotzdem anerkennen müssten« (1895, S. 282), die »nur mit Widerstand ausgesprochen wird«. Auch wenn Freud die analytische Situation nicht ausdrücklich als »intersubjektive« bezeichnet9, so können wir davon ausgehen, dass ihm selbst klar war, dass diese Verleugnung zugleich nicht unabhängig von seiner Anwesenheit stattfand, also an die Anwesenheit des anderen – hier: des Analytikers – gebunden erscheint. Denn in der Geschichte, die Freud von dem Patienten erzählt, berichtet er zugleich

8 Freud: des »Kranken«. 9 Sagen wir hier nicht ausdrücklich, später allerdings doch: Psychoanalyse sei »nichts anderes, als daß zwei miteinander reden« (Freud 1926 = 1968, S. 213).

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beispielhaft von dessen Äußerung: »Jetzt ist mir etwas eingefallen, aber das haben Sie mir offenbar eingeredet« (1895, S. 282). Freud war tatsächlich insofern im Spiel (gewesen), als er nämlich den Patienten aufgefordert hatte, alles zu sagen, was diesem eingefallen sei. Und dann fällt diesem etwas ein, was er nicht sagen will, und schiebt den Einfall Freuds »Einreden« zu. Verleugnet er diesen damit (als seinen eigenen)? Freud behauptet: Der Patient verleugnet, »weil es ihm peinlich ist«, und zwar peinlich vor den Ohren Freuds – nicht unabhängig von diesem Zuhörer. Genau das bestätigt allerdings nur die »intersubjektive« Struktur der Verleugnung. Also nimmt Freud die Stelle der Magd ein? Jener, die Petrus dermaßen in Bedrängnis gebracht hatte, dass er (seine Beziehung zu) Christus verleugnete?

Abbildung 4

Diese Position – des Bedrängers – will allerdings nicht zum Selbstbild oder Selbstverständnis des Therapeuten passen. Schon eher mag er sich in einer Rolle sehen, die Rudolf Ekstein mit der Rolle des »Kellners« vergleicht. »Der Psychoanalytiker könnte mit einem Kellner verglichen werden, der wartet. In der englischen Sprache heißt Kellner ja auch ›waiter‹. Damit ist eine Person gemeint, die wie eine Art Diener wartet, um herauszufinden, was der, der bedient werden soll, braucht und wünscht. Er nimmt an jenem Prozess teil, aber er manipuliert ihn nicht. Er wartet und erlaubt damit dem Prozeß, sich zu entwickeln« (Ekstein, 1988, S. 34). Jedoch dürfte Freuds Verständnis von Verleugnung und dem Umgang mit dieser durchaus dieser inquisitorischen Haltung (der Magd) entsprechen. Jedenfalls empfiehlt Freud seine Psychoanalyse dem Untersuchungsrichter, der Aussagen aus dem Delinquenten heraus-

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locken möchte (oder muss) und der ebenso mit dem »Widerstand« zu kämpfen hat wie Freud (1906): »Die Aufgabe des Therapeuten ist […] die nämliche wie die des Untersuchungsrichters: […] wir sollen das verborgene Psychische aufdecken« (S. 9).10 Für die Aufdeckung des verborgenen Geheimnisses »haben wir […] eine Reihe von Detektivkünsten erfunden« – die Freud hier dem Untersuchungsrichter andient. »Wir fordern [den Kranken] auf, sich ganz seinen Einfällen zu überlassen […]. Hält der [er] einen Einfall zurück [und] bedient sich dabei verschiedener Motivierungen: es sei ganz unwichtig, gehört nicht dazu […], so verlangen wir, dass er den Einfall trotz dieser Einwendungen mitteile« (S. 9). »Ein sorgfältig gehütetes Geheimnis verrät sich [bereits] durch feine, höchstens zweideutige Andeutungen.« Des Weiteren sind »Stockung, Zögern, Pausen machen […] Zeichen für die Zugehörigkeit zum [verborgenen] Komplex«, »selbst leise Abweichungen von der gebräuchlichen Ausdrucksweise« (S. 10) oder die »Abänderung bei der Reproduktion« eines bereits dargestellten Inhalts (der »Irrtum«) (S. 11). »In dieser ›indirekten Darstellung‹ gibt uns der Kranke, was wir benötigen« (S. 10). Der Unterschied zwischen Hysteriker und Verbrecher bestehe lediglich darin, »dass der Hysteriker sein verborgenes Geheimnis selbst (auch) nicht kennt, während es der Verbrecher nur [vor dem anderen] verbirgt« (S. 8), dass also sein »›Widerstand‹ ganz aus dem Bewusstsein herrührt« (S. 13). Wenn Freud hier diesen Unterschied (zwischen Kranken und Beschuldigten) – erstaunlicherweise11 – klein hält, so weil er den Unterschied zwischen der Aufgabe von Therapeut und Untersuchungsrichter nicht zu groß erscheinen lassen will. Dieser Unterschied sei nur ein gradueller: »In der Psychoanalyse liegt ein einfacherer, ein Spezialfall

10 Dieser Artikel Freuds ist insofern delikat, als er in der Zeitschrift von Hans Gross veröffentlich wurde, Kriminologe und Professor für Strafrecht, dem Vater von Otto Gross, einem glühenden Anhänger Freuds, den Freud aber seinem Vater ausgeliefert hatte. Er hatte ein »Gutachten« geschrieben, das dazu beigetragen hat, ihn gegen seinen Willen in die Psychiatrie zu bringen (s. Rohrwasser, 2008, S. 255–269). 11 Erstaunlich, weil dieser Unterschied (zwischen »bewusst« und nicht bewusst, »unbewusst«) ja gerade der für Psychoanalyse zentrale ist.

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der Aufgabe vor«, die dem Untersuchungsrichter in »umfassenderer« Weise vorliege: »Verborgenes im Seelenleben aufzudecken« (S. 12). Mit dem Widerstand – ob des Kranken oder des Beschuldigten, ob bewusst oder nicht – haben beide zu kämpfen.12 Aber Freud schreibt: Im Unterschied zum »Kranken«, der »mit seiner bewussten Bemühung gegen seinen Widerstand« mithelfe, denn er hat ja Nutzen von dem Examen zu erwarten, die Heilung, arbeite der Verbrecher nicht mit.13 Im Gegenteil: Er arbeite eher dagegen – das sei seine »bewusste Bemühung«. Diese richtet sich also nicht »gegen seinen Widerstand« (wie beim »Kranken«), sie ist vielmehr der Widerstand. Der Beschuldigte richtet seinen Widerstand also gegen eine Bedrohung, die »von Außen« kommt. – So hat Anna Freud »Verleugnung« von Verdrängung unterschieden als »Verteidigung des Ich« – gegen »Unlust, die aus der Außenwelt stammt« – im Unterschied zur »Verdrängung« (und anderen Abwehrmechanismen), mit denen sich das Ich gegen die »Triebansprüche« zu schützen versuche, also gegen »Unlust, die von innen kommt« (1936, S. 35). Mit dieser – erst von ihr eingeführten – Unterscheidung hat Anna Freud zugleich »Verleugnung« definiert (S. 55) als »Verleugnung der [äußeren] Realität mit Hilfe [der] Phantasie« (1984, S. 58). Freud hatte die Unterscheidung nicht in dieser Weise gemacht. Er hatte die Trennungslinie zwischen »Verleugnung« und »Verdrängung« entlang der Unterscheidung zwischen Vorstellung und Affekt gezogen: Verleugnet werde die Vorstellung, während die Verdrängung für die Affekte zuständig sei (1927): »Will man in ihm [dem Vorgang der Verdrängung] das Schicksal der Vorstellung von dem des Affekts schärfer trennen, den Ausdruck ›Verdrängung‹ für den Affekt reservieren, so wäre für das Schicksal der Vorstellung ›Verleugnung‹ die richtige deutsche Bezeichnung« (S. 313). 1925 führt Freud einen weiteren Begriff ein, den man in Beziehung zu Verleugnung stellen muss: den der »Verneinung«. Er wird von 12 Werner Morbach (2007) schreibt in seinem Beitrag »Zur interaktionellen Dynamik von Abwehrmechanismen« in der Zeitschrift für Individualpsychologie: Etwas als Widerstand, als Abwehrmechanismus zu diagnostizieren bedeute, den Patienten nicht verstanden zu haben und damit dessen »Beziehungsangebot« (an den Therapeuten) zurückzuweisen. 13 »Er würde gegen sein ganzes Ich arbeiten« (Freud, 1906, S. 12).

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Freud genau so eingeführt wie ursprünglich Verleugnung14: »Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen interessanten Beobachtungen. ›Sie werden jetzt denken, ich will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht.‹ – sagt der Patient. Wir verstehen, das ist die Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles durch Projektion« (S. 11). Zugleich betont Freud bei der Darstellung des Begriffs der Verneinung die der Verdrängung entgegenlaufende Tendenz: »Die Verneinung: eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung« (S. 12): »ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewusstsein durchdringen, unter der Bedingung, dass er sich verneinen lässt«.15 Allerdings werde durch die Verneinung »nur eine der Folgen des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht«, und zwar »dass dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewusstsein gelangt«: »eine Art intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung« (S. 12). Ich fasse das bisher Dargestellte zusammen: In den Studien (von 1895) war es die »pathogene« – Erinnerung, die verleugnet wurde. Wir können davon ausgehen, dass Freud diese (»pathogene Erinnerung«) nun der Vorstellung als dem Oberbegriff subsumierte. Der Zusammenhang zu einer – »äußeren« – Realität, der im Begriff der (pathogenen) Erinnerung noch lebendig war, ist im Begriff der Vorstellung gelockert, wenn nicht unter den Tisch geschoben. Wenn sich nun (bei Freud) die Verleugnung gegen das Auftauchen der pathogenen Erinnerung richtet – kann man dann zu Recht von einer (Abwehr einer) »Bedrohung von Innen« sprechen oder gar von einem Widerstand gegen die Bedrohung durch die Triebansprüche? Sicher: Auch die »Bedrohung von außen« ist durch das »Innen« vermittelt (die »Repräsentanz«, die »Geschichte des Subjekts«), aber als solche Geschichte des Subjekts ist diese wiederum nicht unabhängig von den Vorgängen »außerhalb«, in den Beziehungen und Interaktionen mit anderen, den Orten und Zeiten, den Verhältnissen, in die 14 Weshalb Laplanche und Pontalis (1967, S. 599) den Begriff bereits in den Studien ansetzen, obwohl Freud damals von »verleugnen« sprach. 15 Vielleicht: die von Intellektuellen bevorzugte Form der Verleugnung.

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diese eingebettet – Paul Parin: »In der erwachsenen Struktur ist zwar in Kindheit und Pubertät eine Abwehrorganisation und anderes etabliert worden und sind für das spätere Verhalten einige Weichen gestellt worden; aber der Einwirkung sozialer Kräfte bleibt der Erwachsene weiterhin in hohem Maße unterworfen« (1981/1988, S. 150). Das »vergisst« die Psychoanalyse, wenn sie das »Innen« mit dem »Trieb« besetzt – ihre Verleugnung. Diese Verleugnung drückt sich aus in der »Hypostasierung der frühen Kindheit zu dem Ort der Vermittlung von »Kultur und Natur«. Wenn aber die familiale Sozialisation allein es ist, in der Triebstrukturen, psychische Apparate usw. des Erwachsenen produziert werden, so gerät konsequenterweise die Wirkung des Arbeits- und Produktionsverhältnisses auf die Konstituierung des Menschen aus dem Blick der psychoanalytischen Theorie (Brückner, 1972, S. 76). Und, wie Parin festhält: »psychologische Deutungen, die das Gewicht gesellschaftlicher Verhältnisse verleugnen, [tragen] zur Verschleierung der Wirklichkeit bei« (S. 152).16 Parin weiter: »Die Ethnopsychoanalyse betreibt eine Aufklärung, die den Wirkungen der Machtverhältnisse nachgeht. Sie lehnt es ab, einer Ideologie zu dienen, die die Macht freispricht, indem sie ihre Opfer psychologisch anklagt« (S. 152). Die Frage muss also gestellt werden17: Was macht die genannten »pathogenen« Erinnerungen zu pathogenen, dass sie verleugnet werden müssen? Ist es die pathogene Erinnerung, die Angst macht, oder

16 Ein Meilenstein ist die Erklärung der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War): »Therapie ohne kritische Hinterfragung des politisch-militärischen Kontextes ist mit unserem Verständnis psychotherapeutischer Arbeit nicht vereinbar.« Mit dieser Begründung widersprach die Ärzteorganisation der Forderung der Bundeswehr, sich an der Behandlung von Soldaten aus Afghanistan-Einsätzen zu beteiligen. In ihrem offenen Brief an Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung vom 31.08.2009 schrieben sie: »Damit der Krieg führbar bleibt, werden […] zusätzlich Psychotherapeuten angeworben« (aus: »Wir lassen uns nicht für den Krieg instrumentalisieren«; www.ippnw.de 31.08.2009; s. a. Deutsches Ärzteblatt, PP, Heft 9, September 2009, S. 390; s. a. Neue Gesellschaft für Psychologie: www.ngfp.de). 17 Und zwar nicht zirkulär, wie bei Freud (1905): »pathogen« geworden sei, was verdrängt [worden ist]«.

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machte nicht etwas anderes Angst – und machte dadurch die Erinnerung zur »pathogenen«? Oder geht es, wie Mentzos (1976) vermutet, um narzisstische Befriedigungen, um den Kampf um Anerkennung bzw. wie Parin formuliert, um die Abwehr oder Vermeidung ihrer Frustration. Narzisstische Befriedigungen, schreibt Parin, die sich auf »Sicherheit, Macht, Geld« beziehen, regulieren das »automatische Funktionieren des Ichs, das sich mit seiner Berufs-, Klassen-, Familien-Rolle identifiziert hat«. Parin nimmt an, »dass sich in solchen Fällen im Ich eine Repräsentanz etabliert hat, eine mit Emotionen besetzte, zumeist unbewusste Vorstellung, die das richtige Verhalten, die zugehörigen Werte, die der Rolle zukommenden Prämien und Frustrationen zusammenfasst, kurz das, was wir die Ideologie einer Rolle nennen« (S. 151).

Kaiphas Bei Petrus jedenfalls war es keine – »pathogene« – Erinnerung, gegen deren Auftauchen er sich gewehrt hatte. Nicht die Erinnerung (an Christus) war es, die Angst gemacht hat, sondern eher eine (nicht pathogene, sondern ganz realistische) Befürchtung, dass es ihm ebenso ergehen werde wie diesem, wenn er sich als einer seiner Anhänger outen würde. Also eine Bedrohung »von außen« durchaus. Ich zeige Ihnen jetzt eine ganz außergewöhnliche Darstellung: »Christus vor dem Hohenpriester und Verleugnung Christi durch Petrus« von Duccio di Buoninsegna, Tempera auf Holz, entstanden 1308–1311. Es handelt sich um ein 99 × 53,5 cm großes Teil des Hauptregisters auf der Rückseite einer Altarretabel des Sieneser Doms (der »Maestà«) mit Szenen zu Christi Passion, heute im Museo dell‘Opera del Duomo. Duccio di Buoninsegna (um 1255–1319), Zeitgenosse des florentinischen Malers Giotto di Bondone (1266–1337), prägte die Sienesische Schule der Malerei, deren Begründer Simone Martini und die Brüder Lorenzetti waren, für zwei Jahrhunderte. Siena stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht. 1260 hatte es über seine Rivalin Florenz triumphiert und seine Gegnerschaft durch ein freundschaftliches Bündnis abgelöst. Im Inneren gewannen

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Abbildung 5: Christus vor dem Hohenpriester und Verleugnung Christi durch Petrus, Duccio di Buoninsegna

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demokratische Bestrebungen an Stärke. Der Tyrannei der (ghibellinischen) Patrizierfamilien konnte mit ihrem Ausschluss aus dem obersten Magistrat 1277 ein Ende bereitet werden. Der 1285 eingesetzte Neunerrat, der ausschließlich aus Vertretern der (guelfischen) Mittelklasse bestand, führte die Regierung für rund siebzig Jahre. Die Territorien des Staats wurden vergrößert; der Handel blühte. Zeugen dieser »guten« Regierung sind der 1297 begonnene Palazzo Pubblico, Sitz der republikanischen Regierung mit Werken von Simone Martini, Pietro Lorenzetti und der berühmten Darstellung der Guten und der Schlechten Regierung im Saal der Neun (Sala della Pace) von Ambrogio Lorenzetti. 1321 wurde die Universität gegründet bzw. durch Gelehrte aus Bologna wiederbelebt. Mit der 1339 begonnenen, aber dann doch nicht zu Ende geführten Erweiterung des Domes sollte sogar der damalige Petersdom in Rom übertroffen werden. Die Außergewöhnlichkeit des Bildes von Duccio liegt für unsere Zusammenhänge darin, dass wir mit ihm das bisher über die Verleugnung (Petri) Gesagte in einem Bild zusammengefasst finden können und zugleich dieses dadurch (darin) zu überschreiten gestattet, dass die bisher vermisste (oder: vermiedene) 4. Dimension (der vierte »Fuß«) mit enthalten ist.18 Sie erinnern sich: das Schema der »Triangulierung«, den »Dreifuß«:

Abbildung 6

18 Zur besseren Demonstration des Gemeinten wurden die beiden Teile des Bildes gegeneinander gedreht. Die Aussage des Bildes bleibt davon unberührt.

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Die Magd interveniert in die Beziehung »Petrus–Christus« (die Magd »bedroht« diese Beziehung), Petrus verleugnet (diese Beziehung) unter dem Druck der inquisitorischen Frage/Behauptung der Magd. Bereits das ist: eine Bedrohung »von außen«, die Petrus mit Verleugnung abzuwehren versucht. Aber es ist mehr in dem Bild dieser Situation zu sehen: Petrus wird Zeuge des Verhörs, der Folter, der Demütigung von Christus – durch Kaiphas. Die Magd, die Petrus konfrontiert, ist aus dem Gesinde von Kaiphas, in dessen Hof Petrus dem gefangen genommenen Jesus gefolgt ist. Die Frage der Magd »Bist Du nicht einer von diesem da?« ist erschreckend klar. Die Verleugnung durch Petrus ist die nächstliegende Reaktion, ein Sicherungsversuch (Sicherungstendenz). Aber: Die Magd ist (lediglich) die Vermittlerin, das Medium der Macht des Kaiphas. Seine Macht ist es, die durch sie hindurch wirkt. Die Angst des Petrus ist also: Angst vor Kaiphas (nicht Angst vor der Magd/dem Psychoanalytiker). Diese Macht, die Macht, die Kaiphas hier repräsentiert, ist die (eigentliche) »triangulierende« Macht – nicht die (der) Magd. Sie ist die Macht, die die Beziehung (Petrus–Christus) zu sprengen vermag, den Verrat der Beziehung zu erzwingen, die Verleugnung durch Petrus.

Abbildung 7

Damit haben wir die vier Positionen, zwischen denen die Intersubjektivität sich entfaltet, die »condition humaine« (besser »condition caesaro«)19 – die Vier-Füßigkeit, die das Wesen des Menschen ausmacht, 19 Der geneigte Leser erkennt das »Schema L« von Lacan (1954/54, S. 142), um 180° gedreht, das dort das Sprechen bzw. die vier Positionen darstellt,

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– die Beziehung, in die jeder Einzelne eingebettet ist; – die Macht, in die die Beziehung eingespannt ist, die die Beziehung durchkreuzt; – den Vermittler, das Medium zwischen den Subjekten und der Macht.

Abbildung 8

P–M: die Ebene der alltäglichen konkreten Interaktion, die Ebene, auf der die Individuen etwas miteinander aushandeln können. Von dieser Ebene gehen die Therapeuten aus, diese haben sie im Blick, wenn sie von Beziehung sprechen. Sie nehmen zwar zur Kenntnis, dass P nicht allein auftritt – in der Therapie, sondern C immer mit dabei ist (das »Selbst-Objekt«).

Abbildung 9

zwischen denen das Sprechen sich bewegt. Dies kann nicht weiter erstaunen, denn das Sprechen ist tatsächlich die »condition humaine«. Durch die Drehung, die hier in der vorliegenden Darstellung vorgenommen wird, wird nichts an der Bedeutung der vier Positionen im Schema L verändert. Wird etwas verändert, wenn K (die Macht) an der Stelle erscheint, wo im Schema von Lacan A, der Große Andere, steht? Es wird etwas geklärt: Der große Andere, dessen Diskurs nach Lacan das »Unbewusste« ist, wird als die Macht sichtbar, die im Verständnis der Psychoanalyse unser Denken und Verhalten bestimmt. War dieser Diskurs der Macht für Freud (noch) durch die Eltern und ihre Erziehung vermittelt, so erreicht er mittels der »Medien« die Subjekte zunehmend direkt (»Außengeleitete«).

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Aber sie reflektieren nicht die vierte Position, die das Ganze rahmt (»framed«) – damit auch die Möglichkeiten des Therapeuten.

Abbildung 10

Mit K, der »Macht«, kommt man (P) nicht direkt in Kontakt, sondern über M, den Vermittler, das Medium (die Medien): »two-step-flow of Communication« (Lazarsfeld, Berelson u. Gaudet, 1944). Hier ist nichts auszuhandeln, hier fließt die Kommunikation als Einbahnstraße. Innerhalb dieses vierfüßigen Schemas sehen wir, dass die Kommunikation »von oben nach unten« verläuft: Die »Parole« geht von K aus und läuft über M zu P. Zum Teil erscheinen uns die Medien (M) selbst als Parolengeber, aber das liegt daran, dass wir nur sie zu Gesicht bekommen, nicht »die Macht«: Foucault (1982): Die Macht kann man nur von ihren Wirkungen her erfassen.

Abbildung 11

Was in der umgekehrten Richtung von unten nach oben entgegenkommt: die Verleugnung – sie ist nicht die »Umkehrung der Laufrichtung«, die Thomas Bernhard meint,20 sondern ihre Verstärkung durch das Entgegenkommen. 20 »Ich wollte in die entgegengesetzte Richtung«, sagt Thomas Bernhard über seine Jugend (in »Der Keller. Eine Entziehung«, 1976).

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Adler (1919) hatte diese Richtung im Blick, als er in seiner Studie über die »Kriegsfreiwilligen« des Ersten Weltkrieges »Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes« die Verleugnung der (Wirkung) der Macht darstellte. Die Verleugnung, dem Druck der Macht gefolgt zu sein – wenn man ihm gefolgt ist, zum Beispiel, indem man die Parole als eigene ausgegeben, als eigene Überzeugung, Meinung und auf diese Weise sich in der Fiktion wiegt, Herr des eigenen Handelns zu sein – wie Adler (1919) beschrieben hat, ist der Mechanismus (der wichtigste der Mechanismen), die Herrschaft (die Herrschaft der Macht) durch die Beherrschten selbst abzusichern. Die »Kriegsfreiwilligen« waren der Parole zum Krieg gefolgt, die die – kaiserliche – Macht ausgegeben hatte. »Nicht aus Sympathie, oder aus kriegerischen Gelüsten« seien sie (die Kriegsfreiwilligen) in den Krieg gezogen, sondern als »Opfer einer falschen Scham« (S. 13). Das Opfer schämt sich für das, was ihm angetan worden war – wir kennen diesen Zusammenhang (inzwischen) aus der Arbeit über Missbrauch und Traumatisierung. »Zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen, getrieben sah es [das Volk] sich in tiefster Schande aller Freiheit und Menschenrechte beraubt« (S. 15). Und wie das Missbrauchsopfer Rettung von seinem Peiniger erhofft, »versuchte [das Volk] aus der Schande seiner Entehrung sich unter die Fahne seines Bedrückers zu retten« (S. 16) »und tat so, als ob es die Parole zum Krieg ausgegeben hätte« (S. 15). Die Psychoanalyse erklärt dies mit der »Identifikation mit dem Aggressor«: das Opfer übernimmt die Verantwortung, die der Täter nicht übernommen hatte, macht sich selbst zum Verursacher der Tat des anderen. Adler: Mit der Übernahme der Parole ihrer Peiniger (Bedrücker) »waren sie nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre!« So wie das missbrauchte Kind die Ehre der Familie und des Vaters verteidigt, um so seinen eigenen Wert zu verteidigen, um »sich selbst wieder zu finden«. Das ist aber nur möglich um den Preis der Verleugnung: »In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie

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scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein und träumten lieber von selbst gewollten und selbst gesuchten Heldentaten « (S. 14) – wie die missbrauchten Kinder: Auch sie »träumen«, sie »spalten« »Realität« und »Traum«. Aber: Mit der Übernahme der Parole zum Krieg träumten sie nicht von eigenen Heldentaten, statt sie zu vollbringen, sie träumten, es seien Heldentaten, was sie zu vollbringen gezwungen wurden. »Traum« und »Wirklichkeit« stimmten überein. Was sie vollbrachten, wurde – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – »Heldentat« genannt. Der Traum, das Denken der Subjekte hat den »Gott des Generalstabs« »geschluckt«. Und der »spricht nun aus ihm« (S. 14). »Nun hatte er [der Träumer] wenigstens einen Halt und war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig« (S. 15). Adlers Analyse der Beziehung zwischen Macht und Subjekt ist keineswegs auf das von ihm gewählte Beispiel der Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs zu beschränken. Der Ausdruck, »so zu tun, als habe man die Parole des Bedrückers selbst ausgegeben«, stellt vielmehr prägnant dar, was unsere Beziehung zur Macht reguliert – auch außerhalb des Krieges. Wir folgen der Parole des Bedrückers. Das klingt wie die Formulierung von Deleuze und Guattari: Die Sprache sei »dazu da um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen«, der Befehl (die »Parole«, das Kennwort) sei die »Grundeinheit der Sprache« (1980, S. 106 f.). Aber das ist es nicht, was Adler sagt. Das Entscheidende an Adlers Analyse ist jedoch nicht, dass sie das Befehlsverhältnis verallgemeinert (ontologisiert) wie Deleuze und Guattari, sondern dass sie den entscheidenden Punkt darin festhält, dass die Parole erst als eigene ausgegeben werden muss, um gehorchen zu können, dass wir das Gehorchen verleugnen, indem wir so tun, als folgten wir dem eigenen Befehl. Darin realisiert sich der Subjekt-Charakter, den die Macht berücksichtigen muss: Die Macht ist: »Eine Weise des Einwirkens auf ein/ mehrere Subjekte«, sie wirkt, indem sie »anstachelt«, »eingibt«, »ablenkt«. »[Nur] im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets sofern die Subjekte handeln oder zum Handeln fähig sind. Stets bleiben die Subjekte ihrer Einwirkung als solche anerkannt« (Foucault, 1982/1987, S. 255).

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Darin ist die Grenze der Macht gesetzt: Erst indem wir ihr Folge leisten, kann die Parole der Macht ihre Wirkung ausüben. Diese Grenze der Macht bezeichnet zugleich den Bereich der Psychologie (Psychoanalyse): die Möglichkeit des Subjekts, (der Parole der Macht) nicht Folge zu leisten, sich ihr zu verweigern – wie ihr zur folgen eine Möglichkeit des Subjekts darstellt. Adlers Analyse galt dem umgekehrten Fall der Möglichkeiten des Subjekts: so zu tun, als folge man nicht der Parole der Macht, sondern der eigenen. Die Verleugnung unseres tatsächlichen Tuns ist (auch) eine Verleugnung der Macht, der wir nachgegeben haben, uns unterworfen haben; Verleugnung unserer Ohnmacht, Abhängigkeit, »Minderwertigkeit«.

Abbildung 12

Den frühen Christen war das (noch) klar. Die Macht war damals klar als feindliche zu erkennen, dem Christentum feindlich gegenüberstehend. Nicht zufällig hat die Geschichte der Verleugnung Christi in der Zeit der Christenverfolgung eine große Rolle gespielt. Nicht wenige der Christen konnten damals dem Druck der Verfolger nicht standhalten und haben ihren Glauben verleugnet (Bösen, 1999, S. 193). Deshalb war für die Evangelisten klar, dass Verleugnung (der eignen Überzeugung) etwas mit der Situation der Macht zu tun haben müsse, mit Druck von außen und mit der Angst, sei es vor Bestrafung, Demütigung oder Tod wie im Fall des Petrus, aber auch vor den Reaktionen der anderen, die uns den Mut nehmen, entschlossen für unsere Meinungen einzustehen. Die Geschichte der Verleugnung Christi durch Petrus konnte in diesem Zusammenhang von den frühen Christen als Ermahnungsschrift (Paränese) benutzt werden, die sich an diejenigen richtete, die

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in ihrem Glauben gefährdet sind und sie ermuntern will, standhaft zu bleiben und ihren Glauben zu vertreten. Diejenigen, die vom Weg ihres Glaubens abgekommen sind, will sie zur Umkehr ermutigen. Dafür gibt es den vierten Vers der Perikope: die Umkehr (Einkehr, Besinnung) bei Petrus (die Bewusstmachung der Verleugnung). Nachdem der Hahn gekräht hatte, »da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich (Mt 26,75; Mk 14,72).21

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21 »Und der Hahn krähete zum andernmal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm sagte: Ehe der Hahn zweimal krähet, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er hub an zu weinen« (Mk 14,72).

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Ronald Wiegand

Einsamkeitsbedürfnis

The Desire for Solitude To be part of a community or to be a Robinson Crusoe. The latter, a mythical character of world literature, is a metaphor for solitude suffered as one‘s fate. Yet there are people who voluntarily avoid the jumble of voices and seek contemplation within themselves. At least, they seek to alternate between intersubjectivity and solitude in order to be creative or to reflect in seclusion.

Zusammenfassung In Gemeinschaft sein oder Robinson Crusoe. Dieser ist als mythische Figur der Weltliteratur eine Metapher schicksalhaft erlittener Einsamkeit. Doch es gibt auch Menschen, die das Durcheinander der Stimmen freiwillig meiden und Einkehr bei sich selbst suchen. Zumindest suchen sie den Wechsel zwischen Intersubjektivität und Einsamkeit, um in dieser kreativ zu sein oder nachzudenken.

Ein hohes Lob für Zeitgenossen Ist heute, dass sie aufgeschlossen. Wir aber wüßten manchmal gern: Wie wärn sie wieder zuzusperrn? Eugen Roth Das Oberthema der Jahrestagung lautet »Intersubjektivität oder Robinson Crusoe«. Als ich es zum ersten Mal las, begann ich leise den Kopf zu schütteln. Denn offenbar wurde hier kein Einerseits-Andererseits vorgegeben, keine Gegenüberstellung, die eine Wahl zwischen zwei Polen offen ließe oder zwischen denen ein Gleichgewicht zu suchen wäre. Das Thema mutete mich vielmehr an als eine Dichotomie

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von Gut und Böse, in der das Werturteil schon gefällt und eine Wahl überflüssig ist, fast sogar unmöglich. Denn bei der Romanfigur Robinson Crusoe ebenso wie bei ihrem realen Vorbild Alexander Selkirk handelt es sich ja um eine Person, die ihre Einsamkeit nicht selbst wählte, sondern in sie hineingeworfen wird, sei es vom Schicksal oder von bestimmten Tätern. Auf der anderen Seite ist Intersubjektivität ein wissenschaftliches Allerweltswort. Manche verstehen darunter die Fähigkeit des Einzelnen, allgemeingültige Sätze zu verstehen, mitzuteilen und nachprüfen zu können. Manche sprechen von der Fähigkeit, Zugang zum anderen durch Ausdrucksverstehen zu gewinnen, und zwar auf Grundlage der gleichen Strukturiertheit des Bewusstseins. Erleidet Robinson also unfreiwillig ein Schicksal, das ihn vereinsamt, so ist gleiche Strukturiertheit des Bewusstseins wohl ein Ziel des deutschen Psychotherapiegesetzes, aber eigentlich kein Schicksal. Denn die menschliche Unzulänglichkeit ebenso wie ein Art Schweikschen Freiheitsdurstes lassen erwarten, dass zwar immer weitere Einzelfallstudien immer weitere »Wirkungen« nachweisen werden, nicht aber die gleiche Strukturiertheit des Bewusstseins als Therapieresultat. Wir müssen also mit dem Fortdauern menschlicher Ungleichheit rechnen, wie sie sich zum Beispiel bei Gesellschaften als das bunte Durcheinander von Geschmacksrichtungen, Weltanschauungen und Körpergrößen darbietet. Berufsmäßige Partygänger erleben das keineswegs als Reizüberflutung, sondern wissen Ausdrucksverhalten zu verstehen und auch signalgebend zu erwidern. Allerdings gibt es auch Nörgler, die die Intersubjektivität zwischen Vielen eher als belastend empfinden. Eine Art Vaterfigur dieser Defätistensorte war bekanntlich Schopenhauer. Als Rettung vor dem, was er Gesellschaft nannte, sang er das Lob der Einsamkeit.

Schopi schimpft Sich selbst zu genügen, nannte Schopenhauer das höchste Glück, und er berief sich dabei auf Cicero, Seneca, Aristoteles und andere mehr. Denn jede Gesellschaft erfordere zunächst einmal, dass die Teilnehmer sich miteinander arrangieren, wozu auch gehört, einander gegenseitig zu belügen. Und je größer sie wird, desto fader wird solche

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Versammlung, denn umso weniger darf ein Jeder noch er selbst sein. Zwang ist deshalb der Gefährte jedweder Gesellschaft, und das Opfer der Freiheit wird umso größer sein, je bedeutender die eigene Individualität ist. Weil um der Fiktion willen, alle ihre Mitglieder seien gleich, alle Verschiedenheiten im Geistigen und im Moralischen ausgeblendet werden müssen, entziehen sich diejenigen der Gesellschaft, die dadurch verlieren. In der Folge davon wird, je zahlreicher eine Gesellschaft ist, umso mehr das Gemeine vorherrschen. Mögen andere Unterschiede geduldet bleiben, übt man gegen die geistige Überlegenheit Strenge, denn sie verletzt ohne jegliches Zutun durch ihre bloße Existenz. Geistreiche Reden sind in der gewöhnlichen Gesellschaft geradezu verhasst. In vollkommenem Einklang mit sich selbst kann ein Jeder freilich nicht einmal mit dem Freunde oder mit seiner Geliebten stehen. So eng Freundschaft, Liebe und Ehe die Menschen auch verbinden mögen, bleibt doch immer ein Rest an Dissonanz. Ganz ehrlich ist der Mensch eben nur mit sich selbst und höchstens noch mit seinem Kinde. Infolgedessen ist derjenige besser dran, dessen Lebensumstände es ihm erlauben, möglichst wenig mit den Menschen in Berührung zu kommen. Denn jede Gesellschaft ist heimtückisch, so sehr sie das hinter dem Schein der Kurzweil, der vertraulichen Mitteilung, des gemeinsamen Genießens auch verbirgt. Man sollte deswegen der Jugend beizeiten nahelegen, die Einsamkeit ertragen zu lernen. Denn was die Menschen gesellig macht, ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit und in dieser sich selbst zu ertragen. Innere Leere und Überdruss an sich selbst treibt sie sowohl in Gesellschaft als auch in die Fremde und auf Reisen. Viele suchen die Erhöhung auch im Wein und werden zu Trunkenbolden. Oder sie suchen Ergänzung in Form eines Beisammenseins, die jener russischen Hornmusik ähnelt, bei welcher jedes Horn nur einen Ton hat und erst durch das Zusammenspiel eine Musik herauskommt. Treten indessen irgendwo einmal bessere Menschen zu einem Verein zusammen, um einen edlen, einen idealen Zweck zu verfolgen, so ist der Ausgang meistens ein unglücklicher. Denn aus jenem großen Haufen der Menschheit, der in zahlloser Menge alles erfüllt und ergreift, um damit seiner Langenweile abzuhelfen, gelingt es meistens einigen, sich auch hier einzuschleichen oder einzudrängen. Bald ist dann die ganze Sache zerstört oder so verändert, dass das Gegenteil

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der Gründungsabsicht herauskommt. Die Geselligkeit eines jeden steht ungefähr im umgekehrten Verhältnis zu seinem intellektuellen Wert. Wird also jemand »ungesellig« genannt, so besagt das für Schopenhauer schon beinahe, dass er ein Mann großer Eigenschaften sein dürfte. Geselligkeit gehört für ihn zu den verderblichen Neigungen, und zum Beleg zitiert er eine Sentenz des Bernardin de St. Pierre, welche übersetzt lautet: Die Enthaltsamkeit in der Ernährung sichert uns die körperliche Gesundheit, und die Enthaltsamkeit im Umgang mit Menschen die Seelenruhe. Saint-Pierre war ab 1797 Direktor des botanischen Gartens in Paris und durch Naturbeschreibungen bekannt geworden. Schopenhauer aber traut sich dann doch nicht, die Einsamkeit einen natürlichen Zustand des Menschen zu nennen. Denn er sieht, dass jedes Kind die Welt nicht allein betritt, sondern zwischen Eltern und Geschwister, also in Gemeinschaft hineingeboren wird. Demzufolge kann Einsamkeit kein ursprünglicher Hang sein, vielmehr entsteht er erst durch Erfahrung und Nachdenken. Dazu trägt sowohl die Entwicklung der eigenen geistigen Kraft bei als auch die Zunahme der Lebensjahre. Der Geselligkeitstrieb – diesen Ausdruck übernehme ich hier wörtlich – steht demnach in umgekehrtem Verhältnis zum Alter. Das kleine Kind stimmt ein Jammergeschrei an, sobald es auch nur Minuten allein gelassen wird. Dem Knaben ist die auferlegte Einsamkeit noch eine Strafe. Den meisten Jünglingen fällt es noch schwer, einen ganzen Tag allein zuzubringen. Erst dem Manne ist dies ein Leichtes, und der Greis endlich findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element. Immer jedoch wird diese Zunahme nach Maßgabe des intellektuellen Wertes der Person erfolgen. »Alle Lumpe sind gesellig«, zitiert Schopenhauer, und nennt Einsamkeit das Los der edleren Geister, weil es in der Welt nur die Wahl gibt zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Zur triebartigen Gewohnheit ist Einsamkeit dann in den sechziger Jahren des Lebens geworden, meint er. Was sonst am stärksten zur Geselligkeit zieht, nämlich Weiberliebe und Geschlechtstrieb, wirkt nicht mehr. Tausend Täuschungen und Torheiten liegen hinter einem, die eigene Generation stirbt hinweg. Die Zeit vergeht immer schneller, aber geistig möchte man sie noch benutzen. Der Kopf ist jetzt reich an Kenntnissen und Erfahrungen, das Studium jeder Art fällt leichter

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als jemals. Weil man Dinge klarer sieht, die früher noch im Nebel lagen, empfindet man Überlegenheit, ist den gewöhnlichen Täuschungen nicht mehr ausgesetzt, weiß auch, dass die meisten Menschen bei näherer Bekanntschaft nicht eben gewinnen. Freilich steht diesen Vorteilen auch eine Kostenseite gegenüber. So macht das fortgesetzte Zuhausebleiben den Leib empfindlicher gegen Abkühlung, und durch die Zurückgezogenheit antwortet das Gemüt auf Worte und gar bloße Mienen anderer ängstlicher. Wer die Öde des ständigen Alleinseins nicht aushält, dem rät Schopenhauer, einen Teil seiner Einsamkeit in die Gesellschaft mitzunehmen, den anderen das innerliche Erleben weniger mitzuteilen und deren Worte nicht so genau zu nehmen.

Casanova kombiniert Solches reservierte Dabeisein besitzt zudem den Vorteil der Toleranz. Der Tolerante verhält sich objektiver und ist durch den zu den anderen gewahrten Abstand weniger verletzbar. Vergleicht man die Gesellschaft mit einem Feuer, so wird er sich an ihm in gehöriger Entfernung wärmen, nicht aber hineingreifen wie der Tor, welcher sich mit verbrannten Fingern in die Kälte der Einsamkeit flüchtet und darüber jammert, dass das Feuer brennt. – Ich lasse es hier gut sein und verlasse Schopenhauers Einsamkeitsmonolog. Bei allen Übertreibungen, die diesem Miesepeter und Menschenverächter vorzuwerfen wären, liefern seine Tiraden doch auch manch wertvolle Erkenntnis. Sein Vorschlag etwa, einen Teil der eigenen Einsamkeit in die Gesellschaft mitzunehmen, zeigt in einem ganz anderen Zusammenhang, welche Konsequenz daraus fließen kann. Das Beispiel betrifft den jungen Casanova, und ich entnehme es Hans Blumenbergs dickem Buch über »Die Vollzähligkeit der Sterne«. Der junge Giacomo wurde an seinem neunten Geburtstag im Jahr 1734, so berichtet Blumenberg, von seiner Mutter und dem Abt Grimaldi von Venedig nach Padua gebracht, um ihn eine Weile der ungesunden Luft Venedigs zu entziehen. Die kleine Gruppe reiste mit einem auf der Brenta täglich verkehrenden Wasserfahrzeug, einer hausartigen Gondel, die den Reisenden des Nachts unter einem Segeltuchdach das Schlafen ermöglichte. Casanova hat später sein Erwachen auf dem fahrenden Schiff geschildert.

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Die Mutter hatte ein Fenster geöffnet, die Frühsonne schien herein und er sah die am Ufer des Flusses vorbeiziehenden Wipfel der Bäume. Das Schiff glitt so sanft dahin, dass er von seiner Bewegung nichts spürte und glauben konnte, es seien in Wahrheit die Bäume, die sich vorbeibewegten. Als die Mutter ihn über seinen Irrtum aufklärte, setzte sie bei ihrem jungen Sohn eine Denkoperation in Gang. Wenn es so sei, erwiderte er seiner Mutter, dann wäre es durchaus auch möglich, dass die Sonne sich gar nicht bewegt, sondern dass wir uns mit der Erde von Osten nach Westen bewegen. Diese kecke Bemerkung des Neunjährigen spaltete sogleich die Anwesenden in Anti-Kopernikaner und Kopernikaner. Während die Mutter und der Abt den Unverstand des Kindes beklagten, weil sie ihrerseits naiv dem Augenschein vertrauten, gab ein mitreisender Herr namens Baffo dem kleinen Selbstdenker einen begeisterten Kuss. Blumenberg erkennt in Casanovas Schilderung die philosophische Grundsituation: Unangefochten vom Unverständnis seiner Umwelt, erwacht in dem Knaben ein Vertrauen in die eigene Vernunft. Das geschieht allerdings unter der glücklichen Voraussetzung, dass er mit seiner Überlegung nicht allein bleibt. Sonst hätte Feigheit wohl das eigene Urteilsvermögen gleich wieder abgestumpft. Weil Signor Baffo ihm aber sogleich die Grundzüge der kopernikanischen Theorie erläutert, kann Casanova in Padua auch seinem Quartiergeber standhalten. Dieser Magister Gozzi war nämlich ein Anhänger des Ptolemäus. Er zwang den Knaben, das Planetensystem des Ptolemäus zu erlernen, und geriet in Hitze, wenn der Knabe darauf mit Spott antwortete. Für Gozzi schwebte die Erde unverrückbar im Mittelpunkt des Weltalls, das Gott aus dem Nichts erschaffen hatte. In seinen Erinnerungen sah Casanova später das Erlebnis auf der Brenta als die Geburtsstunde seines persönlichen Leitbildes an. Denken hieß für ihn, sich vom natürlichen Weltbild abzusetzen, in dem die Sonne weiterhin auf- und untergeht. Es bewog ihn übrigens auch dazu, sich abzusetzen von den literarischen Überzeugungsgemeinschaften seiner Zeit. Sich gegen die geistigen Moden reserviert zu verhalten, ist jedoch ein Unterfangen, das verschiedene Gestalt annehmen kann. Rund eineinhalb Jahrhunderte vor Casanovas Zeit, nämlich um 1580, hatte Michel de Montaigne Zeugnis abgelegt von seiner gewollten Einsamkeit. Er lebte zurückgezogen auf seinem ländlichen Besitztum und schrieb

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für die Nachwelt auf, dass es nicht genüge, sich von der großen Herde räumlich zurückzuziehen. Man müsse sich auch von dem Herdentrieb in sich selbst befreien. Zwar ließe sich das auch inmitten der Städte und der Königshöfe versuchen, doch ungestörter sei das Vorhaben im Stillen zu betreiben. Fast mönchisch sei das tägliche Gespräch mit sich selbst zu führen, und weder die Beziehung zu Frau und Kindern, noch die zu Besitztum und Dienerschaft dürfe hier Zutritt finden. Es klingt hart, war aber wohl den unsicheren Zeiten geschuldet, wenn er zur Begründung des Verzichts auf innere Bindung sagt, »damit, wenn das Ereignis ihres Verlustes eintritt, es uns nichts Neues sei, ihrer zu entbehren«. Auch war es der fast Fünfzigjährige und zeitweilige Bürgermeister von Bordeaux, der hier meinte, es sei nun genug für andere gelebt und das letzte Endchen des Lebens sei für uns.

Rousseau klagt Montaigne gilt durch seine Essays als Begründer der modernen Skepsis. Ein anderer Skeptiker, nämlich der Philosoph Odo Marquard, hat das Thema Einsamkeit 1983, mithin 400 Jahre nach Montaigne, erneut behandelt. Marquard, damals 55 Jahre alt, gilt unter den deutschen Nachkriegsphilosophen als der witzigste. Seinem eigenen Fach, der Universitätsphilosophie, hatte er 1973 angeraten, sie solle ihrem eigenen Bedeutungsverlust durch mehr Inkompetenzkompensationskompetenz entgegenwirken. Hier nun, beim Thema Einsamkeit, beginnt er mit einem Rousseau-Zitat, weil Rousseau nach Nietzsches Meinung der erste moderne Mensch war, und zwar deshalb, weil er nicht mehr wusste, wo er eigentlich hingehört. Auf stillen Waldspaziergängen hat er das begrübelt, hat sich dabei besonders einsam gefühlt und hat nachher immer alles aufgeschrieben. So konnte die Nachwelt seit ungefähr 1782 alles nachlesen und ihm das Klagen abschauen. Zweihundert Jahre Einsamkeitsklage sind also zu betrachten. Marquard sieht vor allem in der zunehmenden Verstädterung ihren Grund. Darauf hatte um 1900 bereits der Philosoph und Soziologe Georg Simmel hingewiesen, allerdings ohne in das modische Klagen einzustimmen. Simmel zeigte auf, dass die Menschen in den Städten eben des-

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halb eine seelische Distanz gegeneinander entwickeln, weil sie dort räumlich immer enger zusammengedrückt leben. So schützen sie sich vor allzu großer Reizüberflutung, oder, wie Marquard sagt: Nur wenn man die anderen Städter nicht zur Kenntnis nimmt, kann man mit ihnen leben. Das wurde auch als sogenanntes Hochhaussyndrom diskutiert, weil besonders hier immer wieder mal ein toter Nachbar wochenlang unentdeckt bleiben kann. Wer sich nun aber aus Gründen seelischen Selbstschutzes gegen allzu viele und allzu beliebige Intersubjektivität abschirmt, erlebt dies innerlich als Einsamkeit. Zu ihr trägt auch die gestiegene Mobilität bei. Man nimmt lange Anfahrtswege zum Arbeitsplatz in Kauf, um »im Grünen« zu wohnen, und kehrt dann abends in die ausufernde Vorstadtsiedlung zurück, um dort seine private Sinnwelt zu gestalten. Vielen fällt das freilich schwer und so flüchten sie lieber in die Fernsehunterhaltung. Die Medien wiederum produzieren unter dem Diktat hoher Einschaltquoten das, was Vielen gefällt. Die Gleichheit dieser Vielen aber macht sie nur umso austauschbarer und dadurch nochmals einsamer. Auf diese Lage wird dann wiederum mit Gegengeselligkeiten reagiert. Marquard bezeichnet sie als suchthafte Anti-Einsamkeitskommunikationen. Die eine Variante davon ist das Streben in die Ferne. Man reist in fernste Länder, um dort sogenannt unverbildeten Menschen zu begegnen; oder man reist ins Utopische und sucht die Menschen der Zukunft; oder endlich: Man sucht Übermenschen. Zu ihnen, den Pop-Ikonen, den Primadonnen des Sports, den großen Künstlern, den politischen Führergestalten lebt man in Bewunderungsabstand. Eben dieser aber bewirkt, dass auch die Flucht ins Fernste die Einsamkeit nicht heilt. – Die andere Variante der Abwehr von Einsamkeitsgefühlen sieht Marquard in der Konjunktur der Gruppe. Wir merken hieran, dass seine Betrachtung in die hohe Zeit der Achtundsechziger fiel. Deren permanente Forderung nach »Öffentlichkeit« und ihre Kritik alles Privaten als »privatistisch« war Teil ihrer Flucht ins Kollektiv. Gemeinsam lernen, gemeinsam wohnen, gemeinsam Sex haben – alles diente der Einsamkeitsbesiegung. Es gab kein Heil außerhalb der Gruppe. Selbst allein sein durfte man nicht mehr allein. An den Universitäten duzten sich fast alle und kannten sich doch nicht. Aus dem Massenbetrieb wurde auch hier suchthaft in die Gruppe geflohen. Als Anti-Einsamkeitssymbol war sie die heilige Kuh, egal

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ob als Fahrgemeinschaft oder Fühlgemeinschaft betrieben. Gemeinsam zu arbeiten, obwohl doch in der Wissenschaft eher unproduktiv, wurde Programm. Selbsthilfegruppen kamen überall auf, die man, wie Marquard spottet, nur durch Selbsthilfe überstand. Besonders schlecht ging es denen, die durch die Gruppe abgehängt wurden. Doch war auch ihre verstärkte Einsamkeit nur Ergebnis dessen, was dem Fluchtgeschehen insgesamt zugrunde liegt. Es ist dies nach Marquards Ansicht der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit. Rousseaus Klagen und die seiner Epigonen sind Zeichen der fehlenden Kraft, Vereinzelung zu ertragen und Einsamkeit positiv zu erleben. So gehört die Einsamkeitsklage zwar zur Moderne, sie ist aber keine unumstößliche Malaise. Man erinnere sich, dass das Wort Einsamkeit für die mittelalterlichen Mystiker, etwa um 1300 bei Meister Eckhart, keineswegs negativ klang. Als deutsche Übersetzung von unio verwies es vielmehr auf die unio mystica, die mystische Vereinigung des Menschen mit Gott. Einsamkeit, verstanden als Vereinigung, war auch gemeint, wo die Bibel von Mann und Frau sagt, dass sie »ein Fleisch« seien oder es sein sollen. Die intensivste Form der Kommunikation also ist hier angesprochen. Und in der pietistischen Tradition klang das bis ins 18. Jahrhundert nach. Einsamkeit war in ihr diejenige Abgeschiedenheit von den anderen, die zum mystischen Gotteserlebnis gehörte. Einsamkeit im heutigen negativen Wortsinne wurde daraus erst, als Gott sozusagen aus der Mode kam. Diese Entwicklung unterlag aber offenbar keinem historischen Gesetz, denn als Nietzsche 1882 den bekannten Satz »Gott ist tot!« niederschrieb, war dies gar keine neue Erkenntnis. Jedenfalls wies Manès Sperber darauf hin, dass der Satz bereits in der Antike kursierte und auch später immer mal wieder zitiert wurde. Der Glaubensschwund ist mithin ein schwieriges Thema, wissenschaftlich als Prozess der Säkularisierung breit diskutiert, hier und heute aber nicht unsere Fragestellung. Vielmehr ist die Frage nach der Einsamkeitsfähigkeit gestellt, und dazu bringt Odo Marquard drei Antworten ein. Er spricht vom Skeptiker, vom Universitätswissenschaftler und vom einsamkeitsbedürftigen Menschen überhaupt.

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Marquard streunt Das hat allerdings auch mit seiner eigenen Person zu tun, und seine drei Hinweise mögen deshalb nicht für alle Mitbürger gelten. Der Skeptiker zuerst: Er mag die Einsamkeit und sucht sie. Montaigne als einer der frühesten zog sich in seinen Turm zurück, um dort ungestört lesen und schreiben zu können. Skeptiker mögen sich keiner der herrschenden Lehren anschließen, vielmehr lieben sie es, den Zwist zwischen den Lehrmeinungen noch zu schüren. Der Streit hilft ihnen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich ohne die Scheuklappen der einen oder der anderen Schule umzublicken. Wie Machtmenschen das Prinzip Teile und herrsche! handhaben, so betreiben sie ein Teile und denke!, und ziehen daraus Erkenntnisgewinn. – Zum Zweiten: der Wissenschaftler. In den Naturwissenschaften mögen die Dinge etwas anders liegen, aber der Geisteswissenschaftler kommt ohne Einsamkeit nicht recht voran, wenngleich diese Feststellung bei Anhängern des Gruppenglaubens verpönt ist. Seine Studierstube ist eine Art Isolierstation für gesellschaftlich brisante Denkoperationen. Marquard erwähnt das vielgeschmähte Bild des Elfenbeinturms, in dessen Elfenbein er aber gerade eine Art Berstschutz für Gedanken sieht. Wilhelm von Humboldt erhob mit gutem Grund für die deutsche Universität die Forderung nach Einsamkeit und Freiheit. Die Einsamkeit sichert die Denkfreiheit. Wo den Professoren in der Gruppenuniversität solche Freiheit versagt wird, da stillen sie ihren Einsamkeitsbedarf durch fortgesetzte Kongressreisen. Nicht die Kongresse sind dabei wichtig, sondern das Fernsein von beiden, dem Kongress und der Geselligkeitsuniversität. In der Einsamkeit des Reisens lässt sich dann wieder denken. Indem ich Marquard hier wiedergebe, wird noch einmal deutlich, dass er in den achtziger Jahren schrieb, also vor dem Terror durch Mobiltelefone in den Großraumwagen oder Abteilen der deutschen Bahn. Selbst unter dieser Erschwerung jedoch mag der Wissenschaftstourismus schützen vor dem, was Marquard mit dem spöttischen Wort Wissenschaftsverwaltungsgeselligkeit belegt. Und er nennt noch eine weitere Bewegungsart, deren Ausübung ihn vor den Tribunalen der Geselligkeit schützt. Er liebt das Quartalswandern, welches ihn wie den Quartalssäufer in Abständen als Sucht über-

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kommt. Landschaftserlebnis oder städtisches Pflastertreten machen dabei keinen Unterschied. Denn die Streunsucht hat ihren wesentlichen Sinn daran, der modernen Geselligkeitspflicht auszuweichen, indem man unauffindbar und unbelangbar in rettende Einsamkeiten eintaucht. All das aber zeigt, dass es nicht nur die Last der Einsamkeit gibt, sondern auch eine Lust an ihr. Die Frage ist demnach, ob und wie sich die Einsamkeit als Last umarbeiten lässt in eine Einsamkeit als Lust, wie also eine Kultur der Einsamkeitsfähigkeit zu entwickeln wäre. Denkt man darüber grundlegend nach, so ist der Umstand in Betracht zu ziehen, dass es eine allgemeinmenschliche und nicht vermeidbare Einsamkeit gibt, weil wir alle irgendwann sterben müssen. Wenn wir abtreten, lassen wir nicht nur unsere Mitwelt allein, sondern auch die Mitwelt muss sich von uns lösen. Und weil wir dies im Voraus wissen, durchzieht diese elementare Einsamkeit lebenslang unser bewusstes Leben. Wie aber sollen wir leben, ohne dies durch Einsamkeitsfähigkeit zu ertragen? Wenn wir uns permanent in die Beziehung zu anderen flüchten in der Hoffnung, unsere Lebensaufgaben durch solche Intersubjektivität irgendwie gelöst zu bekommen, dann sind wir für die anderen irgendwann unerträglich, am Ende gar ein Fürsorgefall. Worin aber hätte demnach eine Kultur der Einsamkeitsfähigkeit zu bestehen? Marquard gesteht, dass eine Antwort hierauf schwerfällt. Er macht aber immerhin drei Momente geltend, die ihm für eine Kultur der Einsamkeitsfähigkeit wichtig scheinen. Es sind dies Humor, Bildung und Religion. Humor ermöglicht uns eine gewisse Distanz zu unserer eigenen Einsamkeit, und er wird möglich, wenn und wo wir übersteigerte Erwartungshaltungen vermeiden. Paradoxerweise gelingt nämlich Kommunikation umso besser, je weniger Kommunikation jemand braucht. Diesen Zusammenhang fand ich 1988 einmal von György Konrad so formuliert: »Einsamkeit ertragen die Menschen nur schwer, und das macht sie noch einsamer. Würden sie die Einsamkeit leichter ertragen, hätten sie auch mehr Menschen um sich. Die anderen scharen sich immer um denjenigen, der auch allein einigermaßen zurechtkommt.« Leider weiß ich nicht mehr zu sagen, wo ich diese Weisheit aufgefischt habe. – Ich entwinde mich der Verlegenheit, indem ich rasch auf Marquards zweites Moment einer Kultur der Einsamkeitsfähigkeit zu sprechen komme, auf die Bildung.

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Therapeuten streiten Bildung besteht nicht in einer aufdringlichen Alleswisserei und Besserwisserei. Sondern Bildung ermöglicht uns einen Ausstieg aus bedrängender Gegenwart, indem wir sie mit Vergangenheiten und mit anderen Wirklichkeitsbereichen in Beziehung setzen und sie dadurch relativieren können. Herbeirufen lassen sich diese Hilfen durch Bücher, Bilder oder Musik, durch die Verknüpfung von Phantasie und Erinnerung. Solche Lebenskunst vermag Einsamkeit zu kompensieren, weil wir im Rückgriff auf solche Hilfen auch allein nicht allein sind. Ganz ähnlich hat Goethe in einem seiner Aphorismen gesagt: »Den einzelnen Verkehrtheiten des Tags sollte man immer nur große weltgeschichtliche Massen entgegensetzen.« – Marquard ergänzt schließlich Humor und Bildung als Momente der Einsamkeitsfähigkeit auch noch durch die Religion. Für den religiösen Menschen sei Gott derjenige, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Und zweifellos, so fügt er an, gibt es Einsamkeitssituationen, in denen allein die Zwiesprache mit Gott übrigbleibt. Dem Nichtreligiösen freilich sei diese Anwesenheit fraglich oder nicht ausreichend. Unversehens sind wir hier ins Gebirge hoch aufgetürmter Problemfragen geraten. Der katholische Theologe Thomas Lackmann sprach kürzlich vom zerquasselten Heiligen und meinte dabei die Not der Kirchen, ihren Glauben in Zeiten lang anhaltender Kirchenaustritte besser zu ›verkaufen‹ und im Zeitalter des Medienlärms und der Quotenkonkurrenz mitzuhalten; andererseits aber doch einen Begriff göttlicher Wahrheit zu verteidigen, den sie nicht beliebiger Manipulation freigeben möchten. Die Psychotherapien andererseits müssen das eigene Berufsfeld gegen Körpermedizin, Kirchenglauben und Kommunismus abgrenzen. Ich erinnere hier an Freuds programmatische Äußerung aus dem Jahr 1927. In seinem Nachwort zur »Frage der Laienanalyse« setzte er dort der Psychoanalyse zum Ziel, den Patienten »nicht durch Aufnahme in die katholische, protestantische oder sozialistische Gemeinschaft zu entlasten, sondern ihn aus seinem eigenen Inneren zu bereichern«. Durch Adlers Fiktionsbegriff wiederum wären die Psychotherapien zwar offen für individuelle Lebensstilvariationen. Sie beanspruchen aber wissenschaftliche Allgemeingültigkeit ihrer Verfahren.

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Sah Marquard nun in der Zwiesprache mit Gott eines der Momente, das die religiöse Person einsamkeitsfähig macht, so wäre also für Nichtreligiöse die Bereicherung aus dem eigenen Innern das Moment, welches sie einsamkeitsfähig macht. Ob allerdings die Erforschung und Bereicherung der eigenen Person psychotherapeutisch begleitet sein sollte oder aber als Selbstanalyse betrieben werden kann, das ist innerhalb der Profession strittig, soweit ich sehe. Denkbar wären Weisen der Selbsterprobung indessen auch außerhalb des analytischen Formenkreises; Weisen, durch die die Person genügend Vertrauen in die eigene Kraft und Kreativität gewinnt, um einsamkeitsfähig zu sein oder zu werden. Hier nun lässt sich der Kreis schließen, indem wir auf Robinson zurückkommen und fragen, inwiefern diese mythische Romanfigur für einen solchen Prozess der Selbsterprobung in Einsamkeit steht. Vor kurzem wurde des 350. Jahrestags gedacht, an dem der berühmteste Schiffbrüchige der Weltliteratur auf der Insel Más a Tierra strandete. In der FAZ hat der Soziologe Jürgen Kaube aus diesem Anlass die Interpretationen Revue passieren lassen, welche der Roman über die Jahrhunderte erfuhr.

Robinson schuftet Eine dieser Thesen besagt, »Robinson Crusoe« sei eigentlich eine Predigt und ihre Vorbilder deshalb nicht in der Reiseliteratur zu finden, sondern in der Literatur religiöser Unterweisungen. Sie trat häufig auf in Form schriftlicher Ermahnungen, die Väter ihren abenteuerlustigen Söhnen auf den Lebensweg mitzugeben suchten. So hatte auch zu Beginn des Buches, von den meisten Lesern wenig beachtet, Crusoes Vater den Sohn gewarnt, es seien Abenteuer nur etwas für Ober- und Unterschichten, nicht jedoch für den Mittelstand. Diesen Rat schlägt der Sohn in den Wind, und so lässt sich »Robinson Crusoe« auch als Bußerzählung lesen – was aber die Leser nicht taten, so dass dieser Aspekt nicht in den Mythos eingegangen ist. Weniger Robinson als Stellvertreter für Jedermann beschäftigte die Phantasie, als vielmehr die Situation eines Jedermann auf einsamer Insel. Auch Rousseau reagierte auf den Roman mit dem Vorschlag, die Rahmenhandlung wegzulassen und nur die Jahre auf der Insel zu drucken. Diese Lek-

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türe aber sollte der Jugend zur Lehre dienen, weil Crusoe alle Dinge auf ihre Nützlichkeit prüfe und diese Geschicklichkeit außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs einübe. Eine andere Interpretation wollte den Roman als methodische Übung in Einsamkeit sehen. Wo Schopenhauer empfahl, einen Teil seiner Einsamkeit in die Gesellschaft mitzunehmen, da wäre die Robinson-Lektüre eine Übung, in Gesellschaft zu leben, als lebte man nicht in ihr: Was würde ich machen, wenn ich nur der eigenen Kraft und Geschicklichkeit vertrauen könnte? Scharfsichtig merkte der schottische Moralphilosoph James Beattie schon 1782 an, dass offenbar nicht nur Liebesgeschichten einen Roman interessant machen können. Tatsächlich sieht Kaube im 1719 erschienenen »Robinson Crusoe« ein hervorragendes Beispiel für den modernen Individualismus, und zwar für jenen Traditionsstrang in ihm, der nicht auf Selbstentfaltung, ästhetisches Empfinden und die Suche nach Intimität den Akzent legt, sondern auf den Erwerb. Freilich ist es im Falle Robinson kein auf Handel beruhender Erwerb, sondern ein handanlegend arbeitsamer. Insofern taugt die Figur gut für Anhänger der Arbeitswertlehre, die Tausch und Markt als sekundäre Erscheinungen deuten. Aber indem Robinson es alleine schafft, sich selbst zu erhalten, bietet er dem Jedermann in uns den mitlesenden Genuss des Selfmademan. Kaube gelangt zu dem Schluss, dass gerade in der Vielzahl der Deutungen, die das Buch erfahren hat, ein Hinweis liegt auf die Eigenschaft, welche es zu einem Weltbuch gemacht hat. Sie ergibt sich daraus, dass der Hauptfigur das Exzentrische fehlt und dass Defoe darauf verzichtet, dem Geschehen eine tiefere Bedeutung zu geben. Ein solcher Verzicht ist keine unwesentliche Bedingung für eine Kultur der Einsamkeitsfähigkeit, wie ja auch Marquard es in seinen drei Momenten vorführt. Denn erinnern wir uns: Humor bedeutet ihm, sich vor übertriebenen Erwartungen zu hüten und dadurch enttäuschungsfester zu sein. Bildung zum zweiten kühlt die Einmaligkeit des andrängenden Geschehens herunter, indem sie Ähnlichkeiten aus vergangener Zeit herbeidenken kann. Und Religion macht einsamkeitsfähig durch das Zwiegespräch mit Gott, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Die Situation aber, dass niemand mehr da ist, ist genau diejenige, in der Robinson sich zu behaupten hat, wenigstens zunächst und über eine erhebliche Zeit seines Inseldaseins. Ob nun

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der Verzicht Defoes auf jede tiefere Bedeutung auch ein Verzicht ist auf das Zwiegespräch mit einem persönlichen Gott, lasse ich dahingestellt sein. Indem Robinson jedenfalls als ein Muster einsamer Selbstwerdung und Selbstbehauptung gelesen werden kann, ist er ein zwar zugespitztes Beispiel und auch ein karges, aber doch ein Modell. Blicken wir von hier aus auf die andere Seite hinüber, zur Intersubjektivität also, dann geht es hier gerade um die Ausschaltung des Selbst, insoweit es nämlich im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als subjektiver Faktor ein Störfaktor ist. Intersubjektivität ist dem Prinzip wissenschaftlicher Objektivität verpflichtet. Objektivität soll erreicht oder gesichert werden durch die Nachprüfbarkeit aller Aussagen durch andere, durch die Wiederholbarkeit von Experimenten. Das hat in den Naturwissenschaften praktischen Nutzen, der wiederholbare Erfolg ist der Wahrheitsbeweis. Leider nur lässt sich das Prinzip nicht umstandslos auf die Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen. Denn wo es in diesen um weltanschaulich gebundene Sachverhalte geht, ist die Übereinstimmung von Vielen nicht gleichzusetzen mit einer Objektivität, die für alle gilt. Ich erinnere hier an LeBons »Psychologie der Massen« von 1895, diesen polemischen Weckruf, der die mögliche Vernunftferne gleichgesinnter Meinungskohorten vor Augen führte. Nehmen wir das ernst, dann sind diejenigen, welche mit der Mehrheit nicht übereinstimmen, eben nicht gleich als psychiatrische Fälle zu betrachten, sondern leider nur zu oft der Humanität näher gewesen als die herrschende Meinung. Wo indessen unter Intersubjektivität der Konsens der Vernünftigen verstanden werden soll, da taucht unvermeidlich das Rousseau’sche Problem auf, wie denn zwischen volonté de tous und volonté générale zu unterscheiden sei. Rousseau hat nicht gezögert, die volonté générale, also den von ihm konzipierten überindividuellen Allgemeinwillen, zum Scharfrichter über hartnäckige Dissidenten zu machen. So gesehen, ist Intersubjektivität dann aber ebenfalls ein zugespitztes Muster und ein arges noch dazu. Deshalb sollten wir Einsamkeit und Gemeinsamkeit nicht behandeln, als sei hier zwischen einem Bösen und Guten als einem Entweder-oder zu unterscheiden. Eine demokratische Gesellschaft braucht den Konsens ebenso wie den Einspruch Andersdenkender. Diese Andersdenkenden

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aber, sie fallen leicht und leider immer wieder dem Terror der Mehrheit oder dem eines Systems zum Opfer. Einsam schon als Querdenker, ist ihre Einsamkeit furchtbar in den Verliesen der Glaubensmacht.

Horkheimer glaubt Die Glaubensmacht erwächst in den meisten Fällen aus der Überzeugtheit, das Gute zu wissen und um es durchzusetzen, auch Gewalt üben zu müssen. Den Eingekerkerten wird ihr Unglaube vorgehalten als eine heidnische Verstocktheit gegenüber der frohen Botschaft. Ihre eigene Meinung gilt als Weigerung, am Fortschritt der Geschichte mitzuarbeiten. Man wirft ihnen Unsolidarität mit den Menschheitsinteressen vor. Rudolf Burger, ein Philosoph in Wien, hat dieses Muster 1992 problematisiert, indem er die Kritik Max Horkheimers an Montaignes Skeptizismus aufgriff. Horkheimer übte sie zu einer Zeit, als in Europa der Faschismus wütete. In der Überzeugung, dem Versinken der Menschheit in Barbarei entgegenwirken zu müssen, warf er denjenigen, die in dieser historischen Stunde weiter skeptische Zurückhaltung wahrten, Opportunismus vor und sogar praktisches Einverständnis mit dem verbrecherischen Geschehen. Dagegen setzte er den Aufruf, an die konkreten Handlungsmöglichkeiten des Menschen zu glauben. Welche das waren, deutet Burger durch den Hinweis an, dass Ernst Bloch zeitgleich mit Horkheimer noch sein »Ubi Lenin, ibi Jerusalem« verkündete, während in Moskau schon Schauprozesse liefen. Nach der späteren Enttäuschung wandte sich Horkheimer von seiner linken Fortschrittszuversicht ab und dem Pessimismus Schopenhauers zu. Womit er aber nun wieder jenes kleine und momentane Glück der Menschen negierte, das nur einer skeptisch reduzierten Erwartung sichtbar wird. Sie glaubt nicht an den großen Fortschritt, dafür aber auch nicht den Prophezeiungen des großen Niedergangs. Wo Hegel in theologischer Manier die Vernunftwerdung des geschichtlichen Ganzen herbei philosophiert, da deutet Skepsis solchen Trost bloß als Verdrängung des eigenen Todes. Jede Glaubensmacht begründet ihr todbringendes Geschäft in theologischer Manier. Deshalb sind Skeptiker moralisch interessiert daran zu zeigen, dass die Wahrheit oder das

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Ronald Wiegand

Gute oder das Glück nicht erkennbar ist. Denn das vermeintlich gefundene absolute Richtmaß führt immer wieder ins absolute Verbrechen. Der Skeptiker verneint nicht das Gute, wohl aber den Glauben an das Gute, soll heißen, er sabotiert die Überzeugung zu wissen, was den Menschen gut tut. Solche Gewissheitskritik mag dem Dekonstruktivismus geistesverwandt erscheinen, doch teilt der Skeptiker nicht den metaphysischen Ernst seiner Metaphysikverneinung. Der Skeptiker geht nicht aufs Ganze, er spielt nicht den lieben Gott und auch nicht den Rächer der Enterbten. Er mag mit diesem oder jenem Bemühen sympathisieren, sich wohl auch solidarisieren, aber im Wettlauf um die Opferrolle läuft er nicht mit. Persönliche Empörung ist ihm nicht fremd, aber er schlüpft ihretwegen nicht in die Rolle des Propheten einer besseren Welt. Er schätzt das Sowohl-als-auch, oder um mit Odo Marquard zu sprechen: Er ist ein Freund auch der inneren Gewaltenteilung und fördert die Konkurrenz zwischen seinen Gefühlen. So viel lobende Beschreibung verlangt am Ende just im Sinne der Ausgewogenheit ein kritisches Gegenargument. Burger räumt denn auch ein, dass Enthaltung und Einsamkeitsbedürfnis ebenso dem Spießer bequem sein können, der sein privates Glück gefunden hat und die Rolle des aktiven Mitbürgers zu anstrengend findet. Und er kommt auf Horkheimer zurück, der den Skeptiker einen Sancho Pansa schimpfte, welcher sich als Don Quichotte verkleide. Horkheimers Vergleich jedenfalls wollte eine Figur moralisch verurteilen, die sich zum Glauben an einen möglichen Menschheitsfortschritt nicht aufschwingt, dabei aber betrügerisch den großen Strategen gibt. Aus Burgers Sicht jedoch könnte der Skeptiker hier schmunzeln. Er würde nämlich die Rolle Sanchos durchaus akzeptieren und nur den Vorwurf der Verkleidung verleumderisch finden. Denn es ist ja eben der Knecht, der seinen Herrn immer wieder vor seinen großen Dummheiten warnt, weil der zu viel Geschichte und Theorie im Kopf hat – und der ihm nachher wieder aufhilft. Und wie steht es Horkheimer eigentlich zu Gesicht, sich vergleichsweise auf die Seite des Herrn zu schlagen und den Knecht zu verspotten, da er doch Hegels fabelhafte Dialektik von Herr und Knecht gewiss kannte? Burger wählt hier einen versöhnlichen Schluss und räumt ein, dass Sancho sein Leben vermutlich in seinem spanischen Dorfnest verdöst hätte, wäre er nicht dem verspäteten Ritter begegnet, der ihn die Schönheit

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Einsamkeitsbedürfnis

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der Träume lehrte und ihm neue Horizonte eröffnete. Sein Herr aber, der von der Verbesserung der Welt träumte, wäre ohne seinen skeptischen Knecht schnell unter die Räder gekommen. Die Versöhnlichkeit dieses Schlusses mag bei der Deutung eines Romans hingehen. Auf die Dichotomie unseres Tagungsthemas übertragen, könnte sie vielleicht lauten, dass Robinsons Schicksal eigentlich furchtbar war und der gute Ausgang höchst ungewiss. Und dass es von daher nur zu verständlich wäre, die Rückkehr in die Intersubjektivität als Erlösung herbeizusehnen. Schopenhauer hingegen empfindet die Gesellschaft der anderen als Strafe und liefert für sein Einsamkeitsbedürfnis hundert Gründe. Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft hinwieder sind Einsamkeit und Freiheit als Bedingung kreativer Welterkenntnis nützliche Umwege zu verbesserter Intersubjektivität. Lassen wir es dabei für heute bewenden.

Literatur Blumenberg, H. (1997). Kindesrecht, Ptolemäer zu sein – Kindespflicht, Kopernikaner zu werden. In H. Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne (S. 311–319). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Burger, R. (1992). Zur Kritik der Skepsis. Verspätete Replik auf Max Horkheimers Montaigne-Essay. Leviathan, 20, 291–300. Freud, S. (1927). Nachwort zur »Frage der Laienanalyse«. G. W. XIV (S. 287– 296). Frankfurt a. M.: Fischer. Kaube, J. (2009). Die Piraten kamen nie. Vor dreihundertfünfzig Jahren wurde Robinson Crusoe an den Strand einer heute chilenischen Insel gespült. FAZ., 26.09.2009, Nr. 224, S. Z3. Lackmann, T. (2009). Oh Wort, du Wort, das mir fehlt. Die säkularisierte Welt kann mit der Predigt nichts mehr anfangen: Warum man über Glaubensgeheimnisse öffentlich schweigen sollte. Der Tagesspiegel, Nr. 20345, 09.08.2009, S. 8. Marquard, O. (1983). Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit. In O. Marquard, Skepsis und Zustimmung. (S. 110–122). Stuttgart: Reclam. Montaigne, M. de (1580/1991). Von der Einsamkeit. In M. Montaigne, Essais. Übersetzt von Herbert Lüthy (7. Aufl., S. 261–270). Zürich: Manesse. Schopenhauer, A. (1851). Parerga und Paralimpomena I. (Aphorismen zur Lebensweisheit). dtb 140/VIII 1977. 2. Teilbd. (S. 457–470). Zürich: Diogenes. Sperber, M. (1985). Friedrich Nietzsche. In M. Sperber, Geteilte Einsamkeit (S. 75–112). Wien u. München: Europa-Verlag.

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Michael Kavšek

»Ich sehe was, was da nicht stimmt.« Vom frühen Blick für Andere(s) – Aspekte der sozial-kognitiven Entwicklung in der frühen Kindheit

»I can see that there’s something wrong here.« Children have an eye for others – Aspects of social-cognitive development in early childhood The current contribution deals with childrens’ theory of mind, that is, with childrens’ understanding of mental states. Several classical studies found that from about 4 to 5 years of age on, children can predict another person’s behavior on the basis of that person’s true or false belief about an event. In contrast, younger children tend to generalize their own beliefs. More recent research using nonverbal tasks, however, provides evidence that even infants are able to predict another person’s behavior from what they think this person beliefs. These findings are complemented by other research that has shown that infants understand desires and emotions of other persons. Moreover, they are capable of interpreting both human and non-human entities’ actions as intentional. Apparently, infants’ theory of mind has its roots in early experiences. Furthermore, from the newborn period on, infants’ attention is biased towards the social signals of their caregivers.

Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Theorie des Geistes von Kindern, das heißt mit der kindlichen Fähigkeit, mentale Zustände zu verstehen. Aus mehreren klassischen Studien geht hervor, dass Kinder ab dem Alter von vier bis fünf Lebensjahren in der Lage sind, das Verhalten einer anderen Person auf der Grundlage der wahren oder falschen Überzeugung dieser Person über einen Sachverhalt vorherzusagen. Jüngere Kinder hingegen tendieren dazu, ihre eigenen Überzeugungen zu verallgemeinern. Neuere Forschungsarbeiten, in denen mit nonverbalen Untersuchungstechniken gearbeitet wird, weisen jedoch nach, dass sogar schon Säuglinge über die Fähigkeit verfügen, das Verhalten einer anderen Person aus dem vorherzusagen, was sie über die Überzeugungen dieser Person wissen. Diese Befunde werden durch Forschungsarbeiten ergänzt, nach denen Säuglinge auch Wünsche und Emotionen anderer Personen verstehen. Zudem können sie die Handlungen menschlicher

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»Ich sehe was, was da nicht stimmt.«

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und nichtmenschlicher Entitäten als intentional interpretieren. Die Theorie des Geistes von Säuglingen hat ihre Wurzeln anscheinend in frühen Erfahrungen. Außerdem ist die Aufmerksamkeit von Babys schon ab der Neugeborenenzeit auf die sozialen Signale ihrer Bezugspersonen hin ausgerichtet.

Phantasie ist etwas, das sich viele gar nicht vorstellen können. Helmut Qualtinger

Gegenstandsbestimmung: Die »Theorie des Geistes« Eine der grundlegendsten menschlichen Fähigkeiten ist die, sich selbst und anderen geistige Zustände zuschreiben zu können. Der Mensch ist in der Lage, sein eigenes und das Verhalten anderer auf Wünsche, Absichten und Überzeugungen zurückzuführen. Diese Fähigkeit der mentalistischen Alltagspsychologie oder Theorie des Geistes (»theory of mind«) ist längst zum Gegenstand entwicklungspsychologischer Forschung geworden. Im Vordergrund steht hierbei die Untersuchung von Jugendlichen, Kindern und, seit einiger Zeit, auch von Säuglingen. Die Fähigkeit, Interaktionspartnern Bewusstseinsvorgänge zuzuschreiben, wird auch in der kognitiven Entwicklungstheorie Jean Piagets thematisiert. Piaget betont, dass Kinder zunächst große Schwierigkeiten damit haben, die Welt aus einer anderen als aus ihrer eigenen Perspektive wahrzunehmen. Dazu gehört auch, dass es ihnen schwer fällt, die den Handlungen anderer Personen zugrunde liegenden psychologischen Ursachen zu erkennen. Ein Paradigma, innerhalb dessen Piaget den Entwicklungsschritt hin zum Verständnis mentaler Zustände untersucht hat, ist der kindliche Lügenbegriff. Ein empirischer Ansatz, mit dem Piaget den Veränderungen des kindlichen Lügenbegriffs nachgegangen ist, ist der, Kindern zwei Geschichten vorzulegen, von denen die eine einen absichtlichen Betrug ohne gleichzeitigen großen materiellen Schaden umschreibt, während die andere einen einfachen Irrtum mit gravierenden Folgen enthält. Beispielsweise werden Kinder mit zwei Geschichten konfrontiert, in denen beschrieben wird, wie ein Junge von einem Erwachsenen nach dem Weg zu einer bestimmten Straße gefragt wird (Piaget, 1954/1932). In der einen Geschichte gibt der Jungen dem Erwachsenen mit voller Absicht eine falsche Route

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Michael Kavšek

an. Dennoch findet der Erwachsene den richtigen Weg. In der anderen Geschichte hingegen weist der Junge dem Erwachsenen aus Unkenntnis, also unabsichtlich, den falschen Weg, und der Erwachsene verirrt sich. Prototypische Antworten auf anschließend vom Versuchsleiter zu den Geschichten gestellte Fragen sind die folgenden: The (6 Jahre): »Welcher ist der Schlimmere von beiden?« »Der, der nicht wußte, wo die Straße […] ist« (Piaget, 1954/1932, S. 181). Kei (10 Jahre): »Der Schlimmere ist derjenige, der es absichtlich getan hatte. Der erste hat jemanden betrogen, wußte es aber nicht« (Piaget, 1954/1932, S. 182).

Die erste Antwort leitet sich aus einer reinen Beurteilung der materiellen Folgen her und ist nach Piaget noch im mittleren Alter von sieben Jahren zu beobachten. Die zweite Antwort, die im Mittel ab neun Jahren gegeben wird, zeigt eine klare Berücksichtigung der Täuschungsabsicht bei der Bewertung des Verhaltens des Jungen an. Die neuere Forschung belegt, dass Piagets Altersangaben eine Unterschätzung der kindlichen Fähigkeiten darstellt. Wenn man die Absichten der Akteure klarer hervorhebt, dann geben bereits Kindergarten- und junge Grundschulkinder zu erkennen, dass sie bei der Bewertung eines Schadens eine dahinterstehende Absicht berücksichtigen können (z. B. Yuill u. Perner, 1988).

Die Entwicklung der Theorie des Geistes im Kindesalter Das Verständnis falscher Überzeugungen Die Forschung hat sich mittlerweile eingehend mit dem kindlichen Verständnis von Absichten, Wünschen und Überzeugungen beschäftigt. Ein Hauptergebnis dieser Forschung besteht darin, dass Wünsche und Absichten zu einem früheren Alterszeitpunkt verstanden werden als Überzeugungen (z. B. Sodian, 2008; Wellman, 2002; Wellman u. Liu, 2004). Die am eingehendsten untersuchte Fragestellung betrifft die kindliche Fähigkeit, das Verhalten anderer Personen aus dem vorherzusagen, was diese über einen Sachverhalt glauben. Die Aufgaben, die man in den einschlägigen Untersuchungen verwendet, testen, ob Kinder ver-

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stehen, dass eine andere Person im Einklang mit ihrer Überzeugung handelt, auch wenn die Kinder wissen, dass diese Überzeugung falsch ist. Ein grundlegendes Experiment hierzu, die Maxi-Geschichte, stammt von Wimmer und Perner (1983). Die Geschichte schildert, wie Maxi, ein Junge, seiner Mutter beim Einräumen von Einkäufen hilft. Maxi legt die eingekaufte Schokolade in einen bestimmten Schrank und verlässt die Wohnung. Während seiner Abwesenheit legt die Mutter die Schokolade, von der sie sich ein Stück abbricht, in einen anderen Schrank. Die Mutter verlässt das Zimmer und Maxi kehrt zurück, um sich etwas Schokolade zu holen. Die Kinder werden nun danach gefragt, wo Maxi die Schokolade suchen wird. Nach den Ergebnissen von Wimmer und Perner (1983), die von einer Vielzahl weiterer Studien bestätigt werden, verstehen Kinder mit vier bis fünf Jahren, dass Maxi eine Überzeugung besitzt, von der sie selbst wissen, dass sie nicht stimmt. Entsprechend geben Kinder dieser Altersstufe in dem Experiment von Wimmer und Perner (1983) an, dass Maxi die Süßigkeit in dem Schrank suchen wird, in den er die Schokolade ursprünglich gelegt hat. Mit drei Jahren aber liegen die Kinder in der Beantwortung der Frage nach dem Ort, an dem Maxi die Schokolade suchen wird, konsistent falsch und sagen aus, Maxi werde die Schokolade dort suchen, wo die Mutter sie hingelegt hat. Die Frage nach den Überzeugungen anderer Personen beantworten jüngere Kinder also rein aus der Perspektive ihres eigenen Wissensstandes heraus. Ein zweites klassische Experiment, das diesen Entwicklungstrend ebenfalls belegt, ist das Smarties-Experiment von Perner, Leekam und Wimmer (1987; siehe auch Gopnik u. Astington, 2000; Hogrefe, Wimmer u. Perner, 1986). Hier wird Kindern eingangs eine Smartiesdose, also ein Objekt gezeigt, das ihnen gut bekannt ist. Werden die Kinder nach dem Inhalt der Dose gefragt, geben sie entsprechend konsistent »Smarties« an. Dann wird die Dose geöffnet und die Kinder sehen den tatsächlichen Inhalt, einen Stift. Die Dose wird wieder geschlossen und die Kinder werden danach gefragt, was sie ursprünglich über den Inhalt der Dose vermutet haben und was eines der anderen Kinder, die noch vor dem Untersuchungsraum auf die Testung warten, über den Inhalt der Dose glaubt. Im Ergebnis zeigt sich auch hier ein eindeutiger Entwicklungstrend. Kinder, die älter sind als vier Jahre, machen korrekte Angaben darüber, welche Überzeugung andere über

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Michael Kavšek

den Inhalt der Schachtel haben. Mit drei Jahren hingegen behaupten Kinder, dass ein Kind, das die Schachtel und ihren Inhalt noch nicht kennt, davon ausgeht, dass ein Stift in der Dose ist. Überraschenderweise haben diese jüngeren Probanden aber nicht nur Schwierigkeiten zu verstehen, dass eine andere Person eine falsche Überzeugung haben kann, sondern auch, dass sie selbst zu Anfang des Versuchs eine falsche Überzeugung hatten. Denn die Frage danach, was sie vor dem Öffnen der Dose über deren Inhalt vermutet hatten, beantworten sie mit der Aussage, sie hätten geglaubt, die Dose enthalte einen Stift. Die metaanalytischen Befunde von Wellman, Cross und Watson (2001) bestätigen diesen Entwicklungstrend. Dieser ist zudem ein in unterschiedlichen Kulturen anzutreffendes Phänomen (Callaghan et al., 2005; Liu, Wellman, Tardif u. Sabbagh, 2008; Matsui, Rakoczy, Miura u. Tomasello, 2009). In ihrer Studie mit vier, fünf und sechs Jahre alten Kindern haben Liu, Sabbagh, Gehring und Wellman (2009) die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP) erfasst, die bei der Beurteilung von falschen Überzeugungen bezüglich des Standortes eines kritischen Objektes sowie bei der Beurteilung der tatsächlichen Lokation des Objektes entstehen. Diejenigen Kinder, die falsche Überzeugungen korrekt einschätzen konnten, wiesen – ähnlich wie Erwachsene (vgl. auch Liu, Meltzoff u. Wellman, 2009; Liu, Sabbagh, Gehring u. Wellman, 2004) – eine Differenz in den EKP auf die beiden Urteilsarten hin auf. Diese Differenz war links-frontal lokalisiert. Die Kinder, die mit falschen Überzeugungen noch nicht umgehen konnten, zeigten diese Differenzierung in ihren EKP nicht. Liu et al. (2009) interpretieren den gefundenen Effekt dahingehend, dass die Bewertung falscher Überzeugungen im präfrontalen Cortex in Form von konzeptuellen Operationen des verbalen Arbeitsgedächtnisses stattfindet, die der Lösung mentalistischer Probleme dienen. Dieser Mechanismus ist nach den Ergebnissen der Studie nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Vorschulkindern operational. Man kann allerdings auch schon bei drei und sogar bei zwei Jahre alten Kindern korrekte Antworten bei Aufgaben zum Verständnis falscher Überzeugungen beobachten, wenn man die Aufgaben so gestaltet, dass sie von den Kindern leichter durchschaut werden können. Wenn man dreijährige Kinder bei der Smarties-Aufgabe mit dem

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Versuchsleiter kooperieren lässt, indem dieser das Kind bittet, Stifte in der Süßigkeitenschachtel zu verstecken, um damit ein anderes Kind irrezuführen, dann sagen schon diese Kinder oft voraus, dass das andere Kind davon ausgehen werde, dass die Schachtel Smarties enthalte (Sullivan u. Winner, 1993). Die vom Versuchsleiter im Rahmen der Aufgabenstellung initiierte Übernahme der Perspektive einer täuschenden Person wirkt hier anscheinend als die Aufgabe erleichternder Faktor. Die Kinder werden von dem eigenen Wissen über den wahren Inhalt der Schachtel abgelenkt und auf den mentalen Zustand einer falschen Überzeugung bei einer andere Person hingelenkt (siehe auch z. B. Hala, Chandler u. Fritz, 1991). Eine nonverbale Aufgabe haben Southgate, Senju und Csibra (2007; siehe auch Clements u. Perner, 1994) verwendet. Die Autorengruppe zeigte 25 Monate alten Kindern einen Akteur, der beobachten konnte, wie ein Spielzeug in einer von zwei zur Verfügung stehenden Dosen versteckt wurde, und der dann durch eine direkt hinter dieser Dose liegenden Öffnung griff und das Spielzeug aus der Dose hervorholte. In dem anschließenden Testereignis sah der Akteur wieder, wie das Spielzeug in eine der beiden Dosen gelegt wurde. Bevor er sich das Spielzeug nehmen konnte, wurde er abgelenkt und blickte von der Szenerie weg. Daraufhin wurde das Spielzeug vor den Augen der Probanden aus der Dose geholt und aus der Szene entfernt. Die Frage war, welche Annahme die Kinder darüber hatten, in welche Dose der Akteur nun hineingreifen würde. Dies wurde festgestellt, indem aufgezeichnet wurde, auf welche der beiden hinter den Dosen angebrachten Öffnungen das Kind blickte. Tatsächlich sahen die Kinder die Öffnung an, vor der die Dose stand, in der sich das Spielzeug befunden hatte. Die Kinder sprachen dem Akteur also eine falsche Überzeugung zu und gingen davon aus, dass er dieser falschen Überzeugung gemäß handeln würde. Ungleich der klassischen Aufgabe zum Abtesten der Wahrnehmung falscher Überzeugungen vermeidet diese Studie verbale Äußerungen und damit zu hohe linguistische Anforderungen an das Kind. Sobald Kinder mit dem Konzept der falschen Überzeugung zurechtkommen, hat sich ihr Bewusstsein über mentale Aktivitäten auch in anderer Hinsicht erweitert. So kennen sie den Unterschied zwischen realen und mentalen Entitäten und wissen etwa, dass man

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zwar ein reales Spielzeug sehen und berühren kann, nicht aber ein rein vorgestelltes (Wellman u. Estes, 1986), und dass Gedankenblasen in Zeichnungen den Inhalt dessen wiedergeben, was eine Person gerade denkt (Wellman, Hollander u. Schult, 1996).

Das Verständnis von Wünschen Bevor Kinder Handlungen mit Hilfe von Überzeugungen deuten können, stellen sie eine Verbindung zwischen Handlungen und Wünschen, Absichten und Emotionen her. Nach Wellman und Woolley (1990; Gopnik u. Slaughter, 1991) kommt dieser Entwicklungsunterschied deswegen zustande, weil die Zuschreibung von Überzeugungen auf dem Verständnis dessen basiert, dass es repräsentationale mentale Zustände wie Gedanken, Wissen oder eben Überzeugungen gibt. Erst wenn die Einsicht in die Existenz dieser mentalen Repräsentationen gegeben ist, begreifen Kinder, dass etwa Überzeugungen keine direkten Widerspiegelungen der Realität sind, sondern als reine mentale Gegebenheiten von der Wirklichkeit abweichen können. Hinsichtlich der Zuschreibung von Wünschen ist das Wissen um die Existenz repräsentationaler mentaler Zustände nicht erforderlich – es reicht aus, sich zu vergegenwärtigen, dass eine andere Person ein inneres Bedürfnis nach einem Objekt hat. Eine Reihe von Studien zeigt, dass zwei- bis dreijährige Kinder verstehen, dass andere Personen in Einklang mit den eigenen Wünschen handeln bzw. handeln werden, auch wenn diese Wünsche verschieden sind von den Wünschen, die die Kinder selbst haben (z. B. Lillard u. Flavell, 1992; Wellman u. Woolley, 1990). Die Studie von Wellman und Woolley (1990) demonstriert, dass junge Kinder die Handlungen anderer Personen auf der Grundlage einfacher Wünsche vorhersagen können. In der Studie wurden ältere Zweijährige gebeten, Urteile über die Handlungen des Protagonisten einer Geschichte in unterschiedlichen Situationen abzugeben. Der Protagonist hatte ein bestimmtes Ziel, zum Beispiel mit seinem Fahrrad zu fahren. Hierfür musste er das Fahrrad jedoch erst finden. Der Protagonist wusste, dass das Fahrrad an einem von zwei Orten stand. Je nach experimenteller Bedingung fand der Protagonist das Fahrrad, weil er an dem richtigen

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Ort suchte, blieb erfolglos, da er sich zu dem falschen Ort begab, oder fand an dem Ort, zu dem er hinging, ein anderes attraktives Objekt. Das Kind sollte nun vorhersagen, was der Protagonist als Nächstes machen würde: Würde er zu dem alternativen Ort gehen oder würde er seine Suche abbrechen? Die meisten Kinder gingen davon aus, dass der Protagonist die Suche fortsetzen würde, wenn er sein Fahrrad nicht gefunden hatte, dass er die Suche aber abbrechen würde, wenn er sein Fahrrad oder aber den alternativen attraktiven Gegenstand gefunden hatte. Die Fertigkeit, die Wünsche und Emotionen anderer zu verstehen, ist jedoch auch schon in der Mitte des zweiten Lebensjahres feststellbar. In dem Experiment von Repacholi und Gopnik (1997) konnten Kinder mit einem Alter von 14 und 18 Monaten einen Erwachsenen beobachten, der zwei Arten von Essen vor sich auf dem Tisch stehen hatte, Cracker und Brokkoli. Wie zu erwarten, besaß das Gros der Kinder eine Präferenz für die Cracker. Der Erwachsene probierte nun die beiden Essen und reagierte bei dem einen Essen verbal und mimisch erfreut, bei dem anderen Essen aber angeekelt. Anschließend wurden die Kinder von dem Erwachsenen aufgefordert, ihm etwas zu essen zu geben. Die 14 Monate alten Kinder gaben dem Erwachsenen auf diese Aufforderung hin Cracker bzw. das Lebensmittel, das sie selbst lieber mochten, unabhängig davon, ob der Erwachsene zuvor auf die Cracker oder auf den Brokkoli erfreut reagiert hatte. Sie verhielten sich also egozentrisch in dem Sinne, dass sie die eigene Vorliebe verallgemeinerten. Die 18 Monate alten Kinder hingegen gaben dem Erwachsenen das Essen, für das dieser vorher eine Präferenz gezeigt hatte. Ungleich den jüngeren Kindern wussten die 18 Monate alten Kinder also, dass der Erwachsene einen spezifischen Wunsch hatte, der von den eigenen Vorlieben verschieden sein konnte. Diesen Wunsch leiteten sie aus den emotionalen Reaktionen des Erwachsenen auf die beiden Essen ab.

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Zur weiteren Entwicklung der Theorie des Geistes im Kindesalter Die Entwicklung des Verständnisses für mentale Phänomene schreitet jenseits des Alters von drei bis fünf Jahren rapide fort. Drei- und vierjährige Kinder wissen zwar, dass Denkprozesse innere, von physischen Gegebenheiten verschiedene Vorgänge sind, gehen jedoch noch nicht davon aus, dass sich Gedanken normalerweise in einem konstanten Fluss befinden. Mit sechs bis sieben Jahren indes ist dies den meisten Kindern bewusst (z. B. Flavell, Green u. Flavell, 1993). Der menschliche Geist ist für Vorschulkinder anscheinend ein passiver Behälter für Informationen. Und der Prozesscharakter des Denkens ist ihnen noch nicht klar. In der mittleren Kindheit entsteht ein Bewusstsein dafür, dass der Geist ein aktiver Konstrukteur von Wissen ist (z. B. Wellman, 1990). Ab sieben bis acht Lebensjahren gehen Kinder davon aus, dass ein und dasselbe Ereignis unterschiedlich interpretiert werden kann (z. B. Carpendale u. Chandler, 1996). Und Kinder verstehen mit zehn Jahren, nicht aber in einem jüngeren Alter die Beziehungen zwischen Verstehen und Erinnern, das heißt sie begreifen, dass Erinnern wesentlichen Anteil an Verstehensprozessen hat und dass Verstehen das Gedächtnis stärkt (Schwanenflugel, Henderson u. Fabricius, 1998). Auch das Wissen über falsche Überzeugungen erweitert sich im Verlaufe der kindlichen Entwicklung. Einige Studien haben sich mit Überzeugungen zweiter Ordnung beschäftigt, das heißt mit der Frage, ob Kinder verstehen, dass Personen eine Überzeugung über die Überzeugungen anderer haben können (z. B. Astington, Pelletier u. Homer, 2002; Perner u. Wimmer, 1985). In der Studie von Astington et al. (2002) wurden Kinder im Altersbereich zwischen fünf und sieben Jahren mit Geschichten konfrontiert, die so aufgebaut waren, dass die Kinder danach befragt werden konnten, welche Vorstellungen ein Akteur A darüber hat, was ein anderer Akteur B tun oder sagen wird, wenn der Akteur A einen falschen Glauben über die Überzeugung des Akteurs B besitzt. In einer der Geschichten hat der Akteur Jason einen Brief erhalten, den Lisa, mit der zusammen er gerade spielt, auch gerne lesen würde. Da wird Jason in ein anderes Zimmer gerufen. Bevor er den Raum verlässt, legt er den Brief unter ein Kissen.

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In der Abwesenheit Jasons liest Lisa den Brief und legt ihn dann in Jasons Pult. Dabei wird sie von Jason beobachtet, bemerkt diesen aber nicht. Auf die kritische Frage hin, was Lisa darüber denkt, wo Jason den Brief suchen wird, antworteten nur die älteren Kinder konsistent, dass Lisa davon ausgehen wird, dass Jason unter dem Kissen nachschaut.

Antezedente Bedingungen der Theorie des Geistes im Kindesalter Für die Entwicklung der kindlichen Theorie des Geistes ist eine Reihe von antezedenten Bedingungen bekannt. Eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis geistiger Prozesse ist die Sprache (siehe Milligan, Astington u. Dack, 2007). Jenkins und Astington (1996; vgl. auch Olineck u. Poulin-Dubois, 2007) stellten in ihrer Studie mit drei bis fünf Jahre alten Kindern fest, dass die sprachlichen Fähigkeiten das Verständnis falscher Überzeugungen signifikant prädizierten und dass das sprachliche Niveau, das normalerweise mit vier Jahren und älter erreicht wird, die Voraussetzung für das Lösen von Aufgaben zu falschen Überzeugungen ist. Vor allem die Fähigkeit, komplexe Sätze zu verwenden, führt zu einer größeren Kompetenz im Umgang mit falschen Überzeugungen (z. B. de Villiers u. de Villiers, 2000; Hale u. Tager-Flusberg, 2003). Um die Sequenz der Ereignisse in Aufgaben zu falschen Überzeugungen adäquat zu verarbeiten, müssen Kinder in der Lage sein, unangemessene Reaktionen zu inhibieren. Speziell die Tendenz, davon auszugehen, dass das eigene Wissen verallgemeinert werden kann und von anderen geteilt wird, muss unterdrückt werden. Tatsächlich belegen mehrere Studien, dass die Exekutivfunktion die Leistung in Aufgaben zu falschen Überzeugungen vorhersagt (z. B. Carlson, Moses u. Claxton, 2004; Sabbagh, Xu, Carlson, Moses u. Lee, 2006). Auch das kindliche Spielverhalten, sofern es die Fantasie involviert, scheint auf das Verständnis falscher Überzeugungen einzuwirken, vermutlich, weil hier das Bewusstsein der Kinder dafür geschult wird, dass Überzeugungen das Verhalten beeinflussen können (z. B. Astington u. Jenkins, 1995; Taylor u. Carlson, 1997). So fanden Taylor

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und Carlson (1997) bei den von ihnen untersuchten drei und vier Jahre alten Kindern eine signifikante Korrelation zwischen dem Verständnis falscher Überzeugungen und dem Fantasieerleben, zu dem beispielsweise imaginäre Gefährten und Rollenspiele gezählt wurden. Der vielleicht wesentlichste Faktor aber sind soziale Erfahrungen. Gespräche mit den Eltern, mit den Geschwistern und mit Freunden über mentale Zustände, Gefühle und die Ursachen von Verhaltensweisen fördern die Entwicklung der Theorie des Geistes (z. B. Hughes u. Dunn, 1998; Ruffman, Slade u. Crowe, 2002). Elizabeth Meins und ihre Kollegen haben in einer längsschnittlichen Studie herausgearbeitet, dass Kinder, die im Säuglingsalter als bindungssicher klassifiziert worden sind, im Vorschulalter höhere Mentalisierungsleistungen an den Tag legen als Kinder, die als bindungsunsicher eingestuft worden sind. Die Mütter der Kinder der bindungssicheren Gruppe zeichnen sich durch sensitivere Erziehungsstrategien aus und gehen bei der Charakterisierung ihrer Kinder mehr auf deren mentale Eigenschaften ein. Die Autorengruppe spekuliert, dass die Mütter der bindungssicheren Kinder diese als mentale Individuen behandeln und so deren Theorie des Geistes fördern (Meins, Fernyhough, Russell u. Clark-Carter, 1998). Diese Bemühung der Mutter bzw. der primären Bezugspersonen, die internen Zustände des Kindes angemessen zu interpretieren, wird »mind-mindedness« genannt. Konkret äußert sich »mind-mindedness« beispielsweise in der Responsivität auf objektbezogene Handlungen des Kindes und in interaktiven Kommentaren, die mentale Begrifflichkeiten enthalten. Tatsächlich ist die mütterliche »mind-mindedness« auf die Bindungssicherheit im Säuglingsalter bezogen (Laranjo, Bernier u. Meins, 2008). »Mind-mindedness« besitzt eine hohe Kontinuität in den ersten vier Lebensjahren und sagt aus dem Säuglingsalter heraus die spätere kindliche Theorie des Geistes voraus (Arnott u. Meins, 2008; Meins et al., 2003). Diese Kontinuität in der mentalistischen sozialen Kognition wird auch durch andere Studien belegt (z. B. Aschersleben, Hofer u. Jovanovic, 2008; Wellman, Lopez-Duran, LaBounty u. Hamilton, 2008; Wellman, Phillips, Dunphy-Lelii u. Lalonde, 2004; Yamaguchi, Kuhlmeier, Wynn u. vanMarle, 2009). Wellman et al. (2008) zum Beispiel haben zehn Monate alte Säuglinge eine Situation beobachten lassen, in der eine Person ein Objekt mit dem Ausdruck von Interesse und

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Freude anschaut. Die Geschwindigkeit, mit der die Säuglinge dieses Ereignis verarbeiteten, war signifikant auf ihr Verständnis falscher Überzeugungen mit vier Jahren bezogen.

Die Entwicklung der Theorie des Geistes im Säuglingsalter Grundlagen der Mentalisierung Mittlerweile konzentriert sich eine Vielzahl von Arbeitsgruppen auf die Erforschung der Entstehung der Theorie des Geistes in den ersten beiden Lebensjahren. Die Grundlagen der Theorie des Geistes sind bereits ab der Geburt vorhanden. So ist mittlerweile gut belegt, dass Neugeborene ein schematisches Muster, in welchem die Bestandteile des menschlichen Gesichts natürlich angeordnet sind, vor einem Muster bevorzugen, in welchem diese Bestandteile in eine anormale Anordnung gebracht sind (z. B. Easterbrook, Kisilevsky, Muir u. Laplante, 1999, Goren, Sarty u. Wu, 1975; Macchi Cassia, Simion u. Umiltà, 2001). Und Neugeborene zeigen eine natürliche Präferenz für das Gesicht der eigenen Mutter vor dem Gesicht einer fremden Frau (z. B. Bushnell, 2001; Field, Cohen, Garcia u. Greenberg, 1985; Pascalis, de Schonen, Morton, Deruelle und Fabre-Grenet, 1995) und können sogar fremde Gesichter auseinanderhalten (z. B. Pascalis u. de Schonen, 1994; Turati, Macchi Cassia, Simion, Leo u. Cassia, 2006). Gesichter bilden also schon für Neugeborene einen speziellen Wahrnehmungsreiz. Innerhalb des Gesichts kommt den Augen eine besondere Rolle zu. Schon Neugeborene interessieren sich mehr für Photos von Gesichtern mit geöffneten Augen als für Photos von Gesichtern mit geschlossenen Augen (Batki, Baron-Cohen, Wheelwright, Connellan u. Ahluwalia, 2000). Eine weitere Leistung von Neugeborenen besteht darin, Gesichter mit direktem Blick vor solchen mit abgewendetem Blick zu bevorzugen (Farroni, Csibra, Simion u. Johnson, 2002). Eine weitere erstaunliche Leistung, die sich bereits im Neugeborenenalter erkennen lässt, ist die Fähigkeit, emotionale Gesichtsausdrücke zu verarbeiten (Farroni, Menon, Rigato u. Johnson, 2007; Field, Woodson, Greenberg u. Cohen, 1982). So fanden Field et al.

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(1982) bei Säuglingen mit einem mittleren Alter von 36 Stunden die Fähigkeit, ein glückliches, ein trauriges und ein überraschtes Gesicht voneinander zu unterscheiden. Die Fähigkeit zur Diskrimination emotionaler Gesichtsausdrücke bedeutet jedoch nicht, dass die Babys zugleich die Bedeutung der emotionalen Mimiken erkennen. Eine eindrucksvolle Herangehensweise an diese Fragestellung ist das sogenannte Paradigma des starren Gesichts (»still-face paradigm«). Im einfachsten Fall dieser Prozedur blickt die Mutter ihr Kind mit einem starren, neutralen Gesichtsausdruck an. Als typische Reaktion beobachtet man beim Baby ab ungefähr dem zweiten Lebensmonat ein Absinken des Anblickens der Mutter sowie eine Abnahme des Lächelns (z. B. Bertin u. Striano, 2006; Rochat, Striano u. Blatt, 2002). Babys haben anscheinend schon früh soziale Erwartungen darüber ausgebildet, welches Verhalten ihr Interaktionspartner an den Tag legen wird. Jenseits des Neugeborenenalters fangen Säuglinge an, triadische Interaktionen einzugehen. Konkret folgen Kinder ab dem zweiten bis vierten Lebensmonat – und vielleicht sogar schon in der Neugeborenenzeit (Farroni, Massaccesi, Pividori u. Johnson, 2004) – der Blickrichtung ihres Interaktionspartner (»gaze following«) (Farroni, Johnson, Brockbank u. Simion, 2000; Hood, Willen u. Driver, 1998). Gegen eine mentalistische Interpretation der Studien zum frühen »gaze following« wird eingewendet, dass das Baby möglicherweise gar nicht wahrnimmt, dass der beobachtete Interaktionspartner eine visuelle Erfahrung macht, sondern dem Blick des Interaktionspartners einfach nur deswegen folgt, weil beispielsweise gerichtete Bewegungen des Kopfes oder der Augen ein auslösendes Signal für »gaze following« sind (z. B. Baldwin u. Moses, 1996; Woodward, 2003). Ein Beleg dafür, dass Säuglinge den referenziellen Charakter von Blicken verstehen, das heißt davon ausgehen, dass der Interaktionspartner gezielt auf etwas hinblickt, bilden zum Beispiel Studien, in denen der Interaktionspartner in Richtung auf ein Objekt schaut, obgleich das Objekt durch eine Barriere von ihm getrennt ist, oder in denen der Interaktionspartner ein Objekt ansieht, das vor dem Baby durch ein Hindernis verdeckt ist. Tatsächlich zeigt sich »gaze following« bei 14 Monate alten Säuglingen nur dann, wenn der Interaktionspartner das Zielobjekt selbst auch tatsächlich sehen kann (Dunphy-Lelii u. Well-

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man, 2004). Und wenn das von dem Interaktionspartner angeblickte Objekt vor dem Kind durch eine Barriere verdeckt ist, dann bemühen sich zwölf Monate alte Kinder, hinter die Barriere zu blicken (Moll u. Tomasello, 2004). Ein anderer Ansatz ist von Senju, Csibra und Johnson (2008) verfolgt worden. In ihrer Studie beobachteten neun Monate alte Säuglinge ein Gesicht, das seine Augen mehrmals auf ein unvorhersagbar erscheinendes Objekt richtete, länger als ein Gesicht, das seine Augen von diesem Objekt weglenkte. Dieser Effekt trat jedoch nur dann auf, wenn das kritische Gesicht zuvor in Augenkontakt mit dem Baby getreten war (vgl. auch Farroni, Mansfield, Lai u. Johnson, 2003). Ingesamt gesehen spricht die Befundlage dafür, dass die Fähigkeit, die referenzielle Natur von Blicken zu erfassen, erst spät im ersten Lebensjahr entsteht. Wenn eine Person durch Gesten, Kopfbewegungen, Blicke und verbale Aufforderungen den Aufmerksamkeitsfokus des Säuglings auf ein Objekt hinlenkt, stellt sie eine gemeinsame Aufmerksamkeit (»joint attention«) her (z. B. Tremblay u. Rovira, 2007). Auch die gegen Ende des ersten Lebensjahres einsetzende Zeigegeste sowie das Verstehen dieser Geste sind Erscheinungsformen gemeinsamer Aufmerksamkeit (z. B. Liszkowski, Carpenter u. Tomasello, 2007; Woodward u. Guajardo, 2002). Nach Tomasello, Carpenter und Liszkowski (2007) zielt das Zeigen auf eine Veränderung des mentalen Zustandes der Person ab, der die Zeigegeste gilt. Mit circa acht bis zehn Monaten taucht die soziale Bezugnahme (»social referencing«) auf, bei der das Kind die emotionalen Reaktionen anderer beobachtet, um die eigenen Reaktionen in einer Situation der Unsicherheit daran auszurichten (z. B. Mumme, Fernald u. Herrera, 1996; Sorce, Emde, Campos u. Klinnert, 1985; vgl. auch Repacholi u. Gopnik, 1997; Striano u. Vaish, 2006). So beobachteten Sorce et al. (1985) zwölf Monate alte Säuglinge in der Situation der visuellen Klippe, einer Apparatur, bei der das Kind an einen vermeintlichen Abgrund gesetzt wird und die Mutter nur erreichen kann, wenn es die Klippe überquert. Wenn die Mutter in ihrer Mimik Freude oder Interesse zum Ausdruck brachte, überquerten die meisten Kinder die tiefe Seite der Apparatur, um zu ihr zu gelangen. Wenn sie aber Furcht oder Ärger zeigte, wollten die meisten Säuglinge die tiefe Seite nicht betreten. Dieser Befund belegt zum einen, dass die Säuglinge zwischen

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positiven und negativen Gesichtsausdrücken differenzierten, und zum anderen, dass sie in einer Situation, in der sie nicht genau wussten, wie sie sich verhalten sollten, die mütterliche Mimik als Informationsquelle heranzogen.

Die Wahrnehmung psychologischer Kausalität Schon mit sieben Monaten nehmen Säuglinge mechanische Kausalität wahr. Sie wissen, dass ein statisches Objekt, wenn es von einem sich ihm nähernden Objekt berührt wird, unverzüglich in Bewegung versetzt wird (z. B. Cohen, Amsel, Redford u. Casasola, 1998). Aber wissen Säuglinge auch, dass ungleich nichtanimierten Objekten, die für gewöhnlich nur durch Kontakt miteinander interagieren, Menschen und Tiere zusätzlich über Entfernungen miteinander interagieren können? Für Menschen und Tiere nämlich gelten nicht nur die Prinzipien der mechanischen Kausalität, sondern zusätzlich noch solche der psychologischen Kausalität, das heißt Handlungen und Interaktionen können rein auf der Basis von Intentionen geschehen. Schlottmann und Surian (1999) haben in ihrer Studie neun Monate alte Säuglinge auf die Fähigkeit hin untersucht, Kausalität über Distanz hinweg wahrzunehmen. In der Studie wurden Formen benutzt, die durch ihre Bewegung den Eindruck von Animiertheit hervorriefen. Konkret sahen die Babys Filme, in denen sich ein Quadrat mit einer raupenförmigen Bewegung auf ein anderes Quadrat zubewegte und plötzlich in der Nähe dieses anderen Quadrates anhielt. Ein Kontakt war also nicht gegeben. Dennoch begann das zweite Quadrat in der Reaktionsbedingung, noch bevor das erste Objekt anhielt, eine Bewegung. In der Pausebedingung hingegen setzte die Bewegung des zweiten Quadrates mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung nach dem Zeitpunkt ein, zu dem das erste Quadrat zum Stehen gekommen war. Im Anschluss hieran wurde in jeder Bedingung die Umkehrung dieser Ereignisse gezeigt. Nach Schlottmann und Surian (1999) beinhalten zwar beide Ereignisumkehrungen vergleichbare räumliche und zeitliche Wechsel, die Reaktionsbedingung aber enthält zusätzlich noch einen Wechsel der kausalen Rollen der Quadrate. Wenn den Babys diese Besonderheit auffällt, so die Hypothese, dann sollten sie in der

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Reaktionsbedingung erstaunter über die Ereignisumkehrung sein als in der Pausebedingung, wobei der Grad des Erstaunens über die Länge der Blickzuwendung gemessen wurde. Genau dieses Ergebnis trat ein. Es indiziert, dass neun Monate alte Probanden Kausalität über Distanz hinweg wahrnehmen. Eine für die Untersuchung der kognitiven und sozial-emotionalen Leistungen von vorsprachlichen Kindern beliebte Methode ist das Erwartungsverletzungsparadigma, das aus der Habituations-Dishabituationsmethode abgeleitet ist. Die Probanden werden bei der Habituations-Dishabituationsmethode zunächst an ein Ereignis gewöhnt (Habituation), wobei sich der Gewöhnungseffekt in einer Abnahme der Anblickzeiten dem Ereignis gegenüber äußert. Anschließend werden die Probanden mit einem neuen Ereignis konfrontiert. Wenn sie wahrnehmen, dass eine Abweichung zwischen dem neuen und dem Habituationsereignis vorliegt, dann reagieren sie mit einer Reaktivierung ihres Interesses, indiziert über eine Erhöhung der Blickzuwendungsdauer (Dishabituation). Auch in der Erwartungsverletzungsmethode wird den Probanden zunächst ein Habituationsereignis vorgeführt. Es wird davon ausgegangen, dass die Probanden spezifische Erwartungen bezüglich der Vorgänge in dem Ereignis aufbauen. Anschließend werden in der Regel zwei Testereignisse gezeigt, von denen eines aus dem Habituationsereignis abgeleitet werden kann, das heißt, es ist erwartungskonform, während das andere nicht mit dem Geschehen in der Habituationsphase vereinbar ist, das heißt, es verletzt die aus dem Habituationsereignis ableitbaren Erwartungen. Bemerken die Probanden diese Verletzung, dann reagieren sie überrascht und blicken das entsprechende Testereignis länger an als das erwartungskonforme Testereignis. Das Experiment von Spelke, Phillips und Woodward (1995) demonstriert, dass sieben Monate alte Säuglinge zwischen mechanischen Kräften und belebten Bewegungsquellen unterscheiden. Während der Habituationsphase sahen die Probanden, wie entweder eine Person oder ein unbelebtes Objekt auftauchte, um dann hinter einem Wandschirm zu verschwinden. Nach einer kurzen zeitlichen Verzögerung tauchte auf der anderen Seite dieses Wandschirms eine zweite Person bzw. ein zweites Objekt auf. Im Dishabituationstest wurde der Wandschirm entfernt und die Probanden sahen entweder ein Kontakt- oder

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ein Nicht-Kontakt-Ereignis, das heißt entweder ein Ereignis, in dem die erste Person bzw. das erste Objekt die zweite Person bzw. das zweite Objekt berührte und dann stehen blieb, oder ein Ereignis, in dem die erste Person/das erste Objekt in einiger Distanz von der zweiten Person bzw. dem zweiten Objekt stehen blieb. In beiden Fällen bewegte sich die zweite Person/das zweite Objekt von der ersten Person/dem ersten Objekt weg, sobald diese/dieses zum Stillstand gekommen war. Falls die Probanden mechanische Kräfte von belebten Bewegungsursachen unterscheiden, so die Autorinnen, dann sollten sie das NichtKontakt-Ereignis bei den unbelebten Objekten im Dishabituationstest präferieren, da hier die Abwesenheit von Kontakt Bewegung nicht verursachen kann. Für die belebten Objekte, die Menschen, sollten beide Testereignisse gleich interessant sein, da Menschen Entitäten sind, für die nicht nur mechanische Kausalität gilt, sondern die sich auch selbst zur Bewegung bringen können. Die sieben Monate alten Säuglinge zeigten genau dieses erwartete Verhaltensmuster.

Die Wahrnehmung anschaulich gegebener Intentionalität Nach dem Experiment von Schlottmann und Surian (1999) sind Säuglinge im ersten Lebensjahr nicht nur sensitiv für die anschaulich vorgeführte intentionale Struktur von Handlungen, wenn sie von Menschen durchgeführt werden (Spelke et al., 1995), sondern – unter bestimmten Umständen – auch, wenn sie von künstlichen, abstrakten Entitäten vollzogen werden. Dies wird von mehreren anderen Studien bestätigt (z. B. Csibra, Gergely, Bíró, Koós u. Brockbank, 1999; Phillips u. Wellman, 2005; Sodian, Schoeppner u. Metz, 2004). In der Untersuchung von Csibra et al. (1999; siehe auch Gergely, Nádasdy, Csibra u. Bíró, 1995) sahen sechs und neun Monate alte Probanden eine Szene, in der ein großer und ein kleiner Ball durch ein Hindernis, eine Wand, voneinander getrennt waren. Während der Habituationsphase expandierten und kontrahierten die beiden Bälle zunächst zweimal. Anschließend bewegte sich der kleine Ball auf den großen Ball zu. Der kleine Ball erreichte das Hindernis, hielt an und kehrte dann in seine Ausgangsposition zurück. Von dort aus bewegte er sich erneut auf den großen Ball zu, diesmal, indem er

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über das Hindernis hinwegsprang, wodurch er den großen Ball kontaktieren konnte. Nun expandierten und kontrahierten beide Kreise erneut zweimal. Erwachsene Probanden berichten in Bezug auf dieses Ereignis, den Eindruck zu haben, dass der große Ball den kleinen »herbeirufe«. In der Dishabituationsphase sahen die Probanden zwei Testereignisse. In dem Alte-Handlung-Ereignis führten die beiden Bälle dieselbe Bewegungssequenz durch, das heißt, der kleine Ball bewegte sich vermittels eines bogenförmigen Fluges auf den großen Ball zu, wobei diesmal aber das Hindernis fehlte. In dem Neue-Handlung-Ereignis – auch hier war das Hindernis weggelassen – durchlief der kleine Ball einfach den kürzesten geraden Pfad, um den großen Kreis zu erreichen. Die Autoren beobachteten eine Präferenz für das Alte-Handlung-Ereignis bei den neun, nicht aber bei den sechs Monate alten Babys. Das Verhalten der älteren Babys entsprach ihrer Erwartung, dass das Alte-Handlung-Ereignis länger angeblickt werden sollte als das alternative Neue-Handlung-Ereignis, falls das Verhalten der Bälle im Habituationsereignis von den Babys als rational bzw. zielgerichtet interpretiert wird. Denn nehmen die Babys eine solche intentionale Haltung ein, dann ist es für sie sinnvoll, wenn der kleine Ball in dem Neue-Handlung-Ereignis den kürzesten Pfad nimmt, um den großen Ball zu erreichen, während es für sie irrational ist, wenn der kleine Ball trotz Fehlens der Barriere, wie in dem Alte-HandlungEreignis zu sehen, eine bogenförmige Kurve fliegt. Aufgrund dieser Irrationalität wird dieses Ereignis von den neun Monate alten Babys als überraschend und interessant angesehen und daher länger fixiert, während das Neue-Handlung-Ereignis erwartungskonform und daher wenig überraschend ist und folglich weniger lange inspiziert wird. Csibra et al. (1999) argumentieren, dass neun Monate alte Babys Verhalten dann als rational ansehen, wenn es situationsangepasst ist. Säuglinge leiten Anpassungen an die jeweilige Situation und damit Intentionalität ab, wenn Verhaltensweisen kontingent auf die Gegebenheiten der Umwelt abgestimmt werden, um ein spezifisches Ergebnis zu produzieren. Als wesentlicher Faktor für die Herleitung von Zielgerichtetheit gilt auch Eigenbewegung: Immer dann, wenn ein Körper sich selbst bewegt, unabhängig davon, ob er menschlich oder nichtmenschlich ist, schreiben ihm Säuglinge die Fähigkeit zu, Ziele zu verfolgen (z. B. Luo u. Baillargeon, 2005).

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Erklärungsansätze Wie aber entsteht die Fähigkeit, Handlungen als auf intentionalen mentalen Zuständen basierend zu interpretieren? Hier lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, der hinweisbasierte und der erfahrungsbasierte Ansatz (z. B. Bíró u. Leslie, 2007). Hinweisbasierte Theorien postulieren die Existenz von spezifischen Systemen, die immer dann aktiviert werden, wenn bestimmte behaviorale Hinweise, zum Beispiel eben Eigenbewegung oder kontingente Reaktionen, entdeckt werden (z. B. Baron-Cohen, 1994; Gergely u. Csibra, 2003; Leslie, 1994; Premack, 1990). Sobald derartige Hinweise wahrgenommen werden, wird der zugehörigen Entität Zielgerichtetheit zugeschrieben, unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen oder um ein nichtmenschliches Objekt handelt. Im erfahrungsbasierten Ansatz (z. B. Meltzoff, 2002; Woodward, 1998) ist die Fähigkeit, Handlungen als zielgerichtet zu erkennen, das Resultat der kindlichen sozialen Erfahrung. Diese Fähigkeit ist zunächst auf Menschen eingeschränkt. Woodward (2009) ergänzt, dass selbstproduzierte Handlungen und die damit verbundenen Erfahrungen das Verständnis von Intentionen bei anderen Personen antreiben (z. B. Sommerville, Woodward u. Needham, 2005). In der Studie von Sommerville et al. (2005) sahen drei Monate alte Babys während der Habituationsphase, wie ein Akteur eines von zwei Spielzeugen anfasste. Der Akteur trug dabei einen Fausthandschuh. In der darauffolgenden Testphase wurde die Position der Spielzeuge ausgetauscht und es wurden zwei Testereignisse präsentiert. In dem Neues-ZielEreignis vollzog der Akteur dieselbe Greifbewegung wie zuvor und langte entsprechend nicht mehr nach demselben Spielzeug wie in der Habituationsphase, sondern nach dem anderen Spielzeug. In dem Neuer-Pfad-Ereignis veränderte der Akteur seine Greifbewegung und berührte dasselbe Spielzeug wie in der Habituationsphase. Ein Teil der Säuglinge erhielt vor dieser Prozedur die Möglichkeit, die beiden Spielzeuge sowohl mit als auch ohne Fäustlinge zu manipulieren. Diese Säuglinge präferierten visuell das Neue-Ziel-Ereignis, während diejenigen Babys, die vorher nicht mit den Spielzeugen gespielt hatten, die beiden Testereignisse gleich lange anblickten. Offensichtlich hatten die Säuglinge mit der anfänglichen Manipulationsmöglich-

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keit Erfahrungen gesammelt, die ihnen halfen, die Zielgerichtetheit der Greifbewegungen des anschließend auftretenden Akteurs zu entdecken. Für sie war es entsprechend überraschend, wenn der Akteur in der Dishabituationsphase nicht mehr nach dem vorher von ihm bevorzugten, sondern nach dem alternativen Spielzeug griff, nicht aber, wenn er nach dem Spielzeug langte, das er auch schon zuvor berührt hatte. Aus mehreren Studien geht hervor, dass eine vergleichbare Leistung bei untrainierten Babys erst später im ersten Lebensjahr auftritt (z. B. Todd u. Smith, 2008; Woodward, 1998). In der anderen von Sommerville et al. (2005) getesteten Gruppe, das heißt in der untrainierten Gruppe, fand keine mentalistische Interpretation der Handlungen des Akteurs statt und es wurde entsprechend nicht die Erwartung aufgebaut, dass der Akteur seine in der Habituationsphase demonstrierte Präferenz für ein Spielzeug auch bei einer Veränderung des Standortes dieses Spielzeugs beibehalten sollte. Da beide Testereignisse ein ähnlich valentes neues Element enthielten, bei dem es sich entweder um ein neues Zielobjekt oder aber um eine neue Greifbewegung handelte, zogen sie die kindliche Aufmerksamkeit gleichermaßen auf sich. Aktive Erfahrungen bzw. aktives Handeln fördert also die Entwicklung der Theorie des Geistes bzw. die Wahrnehmung von Intentionalität. Woodward (2009) spekuliert, dass dieser Zusammenhang über das Spiegelneuronensystem vermittelt wird, das heißt über Neuronen, die sowohl an der Wahrnehmung als auch an der Ausführung von Handlungen beteiligt sind (siehe auch Falck-Ytter, Gredebäck u. von Hofsten, 2006; Lepage u. Théoret, 2007). Wenn drei Monate alte Babys also mit Spielzeug hantieren, bauen sie eine motorische Repräsentation dieses Hantierens auf, die sie später nutzen, um bei anderen Personen beobachtete Handlungen, die auf das Spielzeug gerichtet sind, als intentional zu interpretieren. Eine Reihe von Studien spricht allerdings gegen den erfahrungsund für den hinweisbasierten Ansatz, indem in diesen Studien gezeigt wird, dass Säuglinge auch nichtmenschlichen Objekten Intentionalität zuschreiben (z. B. Csibra, 2008; Csibra et al., 1999; Luo u. Baillargeon, 2005) und dass sie auch dann Zielgerichtetheit wahrnehmen, wenn ein menschlicher Körper biomechanisch unmögliche Handlungen vollzieht (Southgate, Johnson u. Csibra, 2008).

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Die Wahrnehmung von Intentionalität in komplexeren Situationen Die Theorie des Geistes bei Säuglingen macht im weiteren kindlichen Entwicklungsverlauf rapide Fortschritte. Ein derartiger Fortschritt besteht darin, dass Säuglinge im Alter von einem Jahr nicht nur Verhaltensweisen erkennen, die auf ein Ziel hin ausgerichtet sind, sondern eine Handlung auch auf der Grundlage von Verhaltensweisen bewerten, die sie vorher beobachtet haben. In der Studie von Kuhlmeier, Wynn und Bloom (2003) sahen zwölf Monate alte Babys zunächst einen filmischen Vorgang, in dem abwechselnd ein grünes Dreieck einem roten Kreis half, einen Berg zu erklimmen, und ein gelbes Quadrat denselben roten Kreis daran hinderte, den Berg erfolgreich zu ersteigen. Anschließend sahen die Babys zwei filmische Testereignisse. In dem einen Testereignis näherte sich der rote Kreis dem gelben Quadrat, in dem anderen Testereignis näherte er sich dem grünen Dreieck. Von den beiden Testereignissen blickten die Babys dasjenige länger an, in dem sich der rote Kreis dem Dreieck näherte. Die Kinder bevorzugten also das Testereignis, in welchem sich der rote Kreis demjenigen Objekt näherte, das ihm vorher geholfen hatte, den Gipfel des Berges zu erreichen (das Dreieck). Ihr Experiment wird von Kuhlmeier et al. (2003) dahingehend interpretiert, dass Säuglinge die Fähigkeit besitzen, das Verhalten eines Akteurs in einer neuen Situation auf der Basis früherer Erfahrungen dieses Akteurs zu deuten. Die zwölf Monate alten Probanden gingen davon aus, dass das Dreieck dem Ball geholfen hatte, sein Ziel, nämlich die Ersteigung des Berges, zu erreichen. Später präferierten die Babys das Ereignis, in dem sich der Ball dem zuvor hilfreichen und somit sympathischen Dreieck näherte. Das nicht hilfreiche, unfreundliche Quadrat hingegen war weniger interessant. Zusätzlich getestete fünf Monate alte Probanden zeigten diese Leistung nicht. Mit 15 Lebensmonaten entdecken Babys Inkonsistenzen in einer Handlungsabfolge, die deren Zielgerichtetheit zuwider laufen. So reagieren sie in der Studie von Onishi, Baillargeon und Leslie (2007) mit Überraschung, wenn ein Erwachsener so tut, als ob er eine Flüssigkeit in ein Glas A schüttet, anschließend aber ein neben diesem Glas stehendes zweites Glas B aufnimmt, um daraus zu trinken.

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Zugleich sind Kinder in der Lage, die Intention hinter einer erfolglos bleibenden Handlung eines Erwachsenen zu erkennen (z. B. Johnson, Booth u. O’Hearn, 2001; Meltzoff, 1995; Nielsen, 2009; Sanefuji, Hashiya, Itakura u. Ohgami, 2004). In der Studie von Meltzoff (1995) beobachteten 18 Monate alte Kinder, wie ein Erwachsener versuchte, eine kleine Spielzeughantel auseinanderzunehmen. Der Erwachsene zog an den beiden Enden der Hantel, rutschte aber mit einer Hand aus und die Hantel blieb unverändert, das heißt, die Handlung des Erwachsenen blieb erfolglos. Später wurde den Kindern das Spielzeug gegeben. Die Kinder zogen die Enden der Hantel erfolgreich auseinander und imitierten damit nicht die tatsächliche Handlung des Erwachsenen, sondern die Handlung, die dieser offensichtlich beabsichtigt hatte, dabei aber erfolglos geblieben war. Johnson, Booth und O’Hearn (2001) replizierten später dieses Experiment mit 15 Monate alten Probanden unter Verwendung eines nichtmenschlichen Akteurs. Nielsen (2009) konnte nachweisen, dass sogar schon zwölf Monate alte Babys zielgerichtete, aber erfolglos gebliebene Handlungen einer anderen Person produzieren. Und nach der Studie von Hamlin, Hallinan und Woodward (2008) imitieren Babys schon mit sieben Monaten eine Handlung auf der Basis einer Analyse der vermeintlichen Ziele des Akteurs, selbst wenn die beobachtete Handlung nicht vollständig ausgeführt wird. In der Studie sah eine Gruppe von sieben Monate alten Kindern, wie ein Erwachsener versuchte, nach einem von zwei Spielzeugen zu greifen, das Spielzeug aber nicht erreichte. Eine zweite Gruppe von Babys sah, wie der Erwachsene auf eines der beiden Spielzeuge zeigte. Dann wurde festgehalten, für welches der beiden Spielzeuge sich die Babys interessierten, das heißt, welches Spielzeug sie anschließend auswählten. Das Ergebnis war, dass nur die Babys, die das unerfüllte Greifen beobachtet hatten, dasjenige Spielzeug wählten, für das sich auch der Erwachsene vermeintlich interessiert hatte. Erfordert die Aufgabe keine Handlungen des Säuglings, sondern wird rein das Blickverhalten gemessen, kommt man zu noch früheren Altersangaben. In der Studie von Daum, Prinz und Aschersleben (2008) wurden sechs und neun Monate alte Säuglinge auf ihr Verständnis einer zielgerichteten, aber nicht vollständig durchgeführten Handlung hin getestet. Die Probanden sahen ein Video, in dem ein Akteur eines

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von zwei Objekten zu erreichen versuchte. Die vorgeführte Greifbewegung wurde allerdings nur bis zu dem Moment gezeigt, an dem die Hand den Mittelpunkt zwischen Startposition und Position des Zielobjektes erreicht hatte. Dann wurden zwei Ausgänge der Greifhandlung gezeigt: In dem plausiblen Ereignis ergriff die Hand das Objekt, auf das hin die Handlung auch vorher ausgerichtet war, in dem nicht plausiblen Ereignis ergriff die Hand das andere Objekt. Sowohl die neun als auch die sechs Monate alten Kinder präferierten visuell den nicht plausiblen Ausgang. Schon mit sechs Monaten leiten Säuglinge also das Ziel einer unvollständigen Handlung ab und reagieren überrascht, das heißt, mit einer verlängerten Blickzuwendung, wenn ihnen ein Ereignis vorgeführt wird, das mit dieser Wahrnehmung nicht konform ist (vgl. auch Brandone u. Wellman, 2009).

Und noch einmal: Das Verständnis falscher Überzeugungen Zwar hat eine Reihe von Arbeiten demonstriert, dass Kinder erst ab zwei Lebensjahren mit falschen Überzeugungen umgehen können, doch wird diese Aussage durch eine Studie von Onishi und Baillargeon (2005) in Frage gestellt. Die Autorinnen führten ein Experiment durch, in welchem sie zeigten, dass bereits 15 Monate alte Säuglinge falsche Überzeugungen verstehen, wenn man statt einer verbalen Aufgabe eine komplett nonverbale Aufgabe heranzieht (siehe auch Southgate et al., 2007). Die Probanden sahen zuerst, wie ein Akteur ein Spielzeug in eines von zwei Verstecke (Versteck A) legte. Dann sahen sie, dass der Akteur beobachten konnte, wie das Spielzeug in das andere, daneben liegende Versteck B wanderte. Im nächsten Schritt wurde die gesamte Szene vor dem Akteur verdeckt und das Spielzeug wanderte in das ursprüngliche Versteck (A) zurück. Nun erfolgte die Testphase mit zwei Testereignissen. In dem einen Testereignis griff der Akteur in das Versteck, in das er ursprünglich das Spielzeug gelegt hatte (Versteck A). In dem anderen Testereignis langte er in das alternative Versteck B. Als Ergebnis schauten die Probanden dasjenige Testereignis länger an, in dem der Akteur seine Hand in das Versteck A steckte. Die Babys interpretierten die Abläufe also offenbar dahingehend, dass der Akteur davon ausging, dass das Spielzeug in Versteck B lag und

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entsprechend dort zu suchen war. Sie reagierten daher überrascht, das heißt, mit einer verstärkten Blickzuwendung, als der Akteur dennoch in dem Versteck A suchte, also in dem Versteck, in das das Spielzeug gewandert war, ohne dass er davon Kenntnis nehmen konnte. Schon 15 Monate alte Babys gehen also davon aus, dass andere Personen auf der Basis ihres Glaubens handeln und dass dieser Glauben eine Repräsentation darstellt, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss. Die Studie von Onishi und Baillargeon (2005) ist heftiger Kritik unterworfen worden. Ihr ist vorgeworfen worden, dass die 15 Monate alten Probanden gar keine psychologische Deutung der experimentellen Vorgänge vorgenommen hatten, sondern vielmehr simple Heuristiken zur Anwendung gebracht und zum Beispiel nur eine einfache Assoziation zwischen dem Akteur und dem Ort, an dem dieser das Objekt zuletzt gesehen hatte, gebildet hatten (Perner u. Ruffman, 2005). Jedoch ist die Wahrnehmung falscher Überzeugungen von Säuglingen im zweiten Lebensjahr mittlerweile auch in anderen Studien, das heißt, in unterschiedlichen Kontexten, erfolgreich demonstriert worden, was für eine mentalistische Interpretation spricht (z. B. Scott u. Baillargeon, 2009; Song u. Baillargeon, 2008; Song, Onishi, Baillargeon u. Fisher, 2008; Surian, Caldi u. Sperber, 2007).

Schlussbemerkung Die Forschung zur Entwicklung der Theorie des Geistes ist bemüht, die Anfänge einzelner Leistungen, zum Beispiel der Wahrnehmung des Vorliegens falscher Überzeugungen bei anderen Personen, aufzuspüren und die weitere Entwicklung dieser Leistungen festzuhalten. In Bezug auf das Säuglingsalter steht die Forschung vor dem Problem, mit nichtverbalen Methoden arbeiten zu müssen. Da die so erlangten Ergebnisse mit Unsicherheit befrachtet sind, weil sie oft auch nichtmentalistische Interpretationen zulassen, ist es wichtig, vorhandene Befunde unter Variation des Reizmaterials und der Aufgabenstellung zu replizieren. Eine weitere Forschungsstrategie ist die Kombination mit anderen Entwicklungssträngen. Ein Beispiel hierfür bildet die Arbeit von Johnson, Dweck und Chen (2007), in der Erkenntnisse aus

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der Bindungsforschung mit Befunden aus der Forschung zur Theorie des Geistes zusammengebracht werden. Susan Johnson, Carol Dweck und Frances Chen (2007) haben sich gefragt, ob 12 bis 16 Monate alte Babys bereits interne Arbeitsmodelle der Bindung besitzen, das heißt, über Repräsentationen sozialer Beziehungen verfügen, die ihre Bindungserfahrungen widerspiegeln. Die Stichprobe wurde zunächst mit Hilfe des Fremde-Situations-Tests von Ainsworth in sicher und in unsicher gebundene Babys unterteilt. In dem eigentlichen Experiment wurden die Babys in den Habituationsdurchgängen mit einem Film konfrontiert, in dem zwei animierte Ellipsen eine Trennung erfuhren: Die größere Mutter und das kleinere Kind erschienen zusammen am Fuße einer Steigung. Dann wanderte die Mutter die Steigung bis zur Hälfte hinauf. Nachdem die Mutter in der Mitte der Steigung zum Stehen gekommen war, fing das Kind an, leicht zu pulsieren und zu hüpfen. Zudem war das leise Weinen eines Kindes zu hören. In dem nun folgenden Test sahen die Babys zwei Ereignisse. In dem responsiven Ereignis kehrte die Mutter zum Kind zurück, in dem nichtresponsiven Ereignis kletterte die Mutter den Berg weiter hoch und entfernte sich so noch weiter vom Kind. Die Autorinnen stellten fest, dass sich die unsicher gebundenen Kinder von den sicher gebundenen Kindern im Blickverhalten den beiden Testereignissen gegenüber unterschieden. Konkret blickten die sicher gebundenen Kinder länger auf das nichtresponsive Ereignis als auf das responsive Ereignis, wohingegen die unsicher gebundenen Kinder länger das responsive Ereignis anblickten. Dieses Verhaltensmuster lässt die Schlussfolgerung zu, dass beide Versuchsgruppen abstrakte mentale Repräsentationen über soziale Interaktionen besaßen, die auf ihre Bindungserfahrungen zurückgingen. Sie reagierten überrascht bzw. mit erhöhtem Interesse, wenn sie eine Verhaltensweise sahen, die unerwartet war, weil sie mit diesen Repräsentationen nicht im Einklang stand. Die Studie zeigt also, dass ein internes Arbeitsmodell der Bindung schon in einem sehr frühen Alter nachgewiesen werden kann.

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Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Pit Wahl

Das Ende der Isolation

The end of isolation The two case studies described in this report show different types of isolation – an extremely individual type and a collective type. The individual case refers to the French journalist Jean-Dominique Bauby suffering a locked-in syndrome. The collective case takes as example the Berlin wall destroyed in 1989.

Zusammenfassung Anhand von zwei Fallbeispielen wird aufgezeigt, wie eine extreme individuelle und eine kollektive Isolation aufgelöst werden. Bei dem Einzelschicksal handelt es sich um den Locked-in-Patienten Jean-Dominique Bauby, einen französischen Journalisten. Das kollektive Beispiel befasst sich mit dem Mauerfall in Berlin im November 1989.

Fallbeispiel1: Jean-Dominque Bauby – Locked-in-Patient Jean-Dominque Bauby erleidet im Alter von 42 Jahren am 8. Dezember 1995 einen Hirnschlag und wird in eine Spezialklinik in Bercksur-mer eingeliefert. In Folge des Infarkts ist sein Körper fast vollständig gelähmt – die einzige noch intakte motorische Funktion ist die Fähigkeit, die Augen zu öffnen und zu schließen. Dagegen sind seine Sehkraft und seine geistigen Fähigkeiten vollständig erhalten 1 Die Ausführungen basieren auf dem von Jean-Dominique Bauby verfassten Buch »Le scaphandre et le papillon« (Deutsch: »Schmetterling und Taucherglocke«) und dem gleichnamigen Film.

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geblieben. Nach 20 Tagen erwacht der Patient aus dem Koma und nimmt die Welt nun, selbst körperlich starr und bewegungslos, nur noch aus einer äußerst eingeschränkten Perspektive wahr. Er versteht alles, was um ihn herum geschieht, kann aber nicht sprechen. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, muss er nun zunächst alles über sich ergehen lassen, was Andere für ihn entscheiden, für ihn tun. Die Diagnose wird ihm von einem Neurologen der Klinik mitgeteilt und erläutert: »Das, was Sie hatten, nennt man einen zerebrovaskulären Insult, der den Hirnstamm geschädigt hat, so dass er nicht mehr arbeitet. […] Die Reanimationstechniken haben einen solchen Fortschritt gemacht, […] jetzt können wir das Leben verlängern« (Filmszene). Bauby, der keine Rückfragen stellen kann, bleibt mit dieser Diagnose allein. Er kann sie nur innerlich, für sich selbst kommentieren. »Bis dahin hatte ich noch nie etwas vom Hirnstamm gehört. An jenem Tag habe ich mit voller Wucht dieses Hauptteil unseres Bordcomputers entdeckt, die wesentliche Verbindung zwischen dem Gehirn und den Nervenenden, als ein Herz-Kreislauf-Zusammenbruch den besagten Stamm abschaltete. Früher wurde das ›Hirnschlag‹ genannt, und man starb ganz einfach daran. Der Fortschritt der Reanimationstechnik hat die Strafe verfeinert. Man übersteht es, aber in einem Zustand, den die angelsächsische Medizin so treffend locked-in-syndrome getauft hat« (Bauby, 1997/2008, S. 6). Das Locked-in-Syndrom ist vielleicht die extremste Form unfreiwilliger, individueller innerer Isolation, die man sich denken kann. Eingeschlossen zu sein wie in einer Taucherglocke, ohne die Möglichkeit, sich von sich aus mitzuteilen und aktiv zu kommunizieren, stellt diese Krankheit für jemanden, für den es bislang selbstverständlich war, sich aus sich selbst heraus zu bewegen, Kontakt aufzunehmen und zu sprechen, vielleicht die weitreichendste und traumatischste Erfahrung dar, die einem Menschen widerfahren kann. Jean-Dominique Bauby hat dieses Schicksal erlitten. Er ist in einem Maße abhängig geworden von der Zuwendung, dem Einfühlungsvermögen, dem intuitiven Verständnis, der Fürsorge, der Geduld und der Kreativität der ihn umsorgenden Bezugspersonen, wie dies sonst nur bei einem Säugling der Fall ist. Der Säugling hat in der Regel eine Mutter, einen Vater, enge Be-

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zugspersonen. Bauby hat in dieser Situation zunächst nur die Personen, die sich von Berufs wegen um ihn kümmern – Krankenschwestern und -pfleger, Ärzte, Therapeuten unterschiedlichster Spezialisierung. Er findet in der Spezialeinrichtung, in die man ihn – vielleicht auch wegen seines sozialen Status – nach der Akutversorgung verlegt hat, günstige Rehabilitationsbedingungen vor. Um seine geistig-seelische Wiederbelebung kümmern sich in den ersten Wochen und Monaten nach dem Wiedererwachen aus dem Koma neben dem Pflegepersonal und den Ärzten vor allem zwei junge Frauen, eine Logopädin und eine Physiotherapeutin. Zu Beginn der gemeinsamen Arbeit stellt ihm die Logopädin einige Fragen, auf die er mit einem Augenblinzeln – einmal für ja, zweimal für nein – antworten soll. Mit diesen Fragen will sie sicherstellen, dass der Patient sie auch wirklich versteht. So fragt sie ihn: »Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Stört Sie vielleicht das Sonnenlicht? Ist es Mitternacht? Sind wir in Paris? Sind wir in Berck? Schwimmt Holz auf dem Wasser? Wissen Sie, dass Sie einen Schlaganfall hatten? Waren Sie Chefredakteur bei der Zeitschrift Elle?« (Filmszene). Bauby war tatsächlich Chefredakteur bei der Zeitschrift Elle, einer international bekannten französischen Modezeitschrift. Er hatte Familie, drei Kinder – von denen er getrennt lebte –, eine feste Freundin und viele Frauenbekanntschaften. Er war »wer« – bekannt, berühmt, erfolgreich. Nun aber scheint er nur noch ein Bruchteil dessen zu sein, was er bis dahin war – vom Schlag getroffen, aus sich selbst heraus nicht mehr überlebensfähig, hilfloser als ein kleines Kind. Doch so isoliert er auch ist, mit Hilfe seiner Therapeutinnen kann er sich – trotz der gegebenen Reduktion auf das simple Ja-Nein-Kommunikationsschema – nach und nach mitteilen in dem, was er denkt und fühlt. Vor allem seine Logopädin Sandrine macht dies möglich. Sie tut das, was wir, wenn wir die Geduld dafür aufbringen und unsere Arbeitsbedingungen es erlauben, in der Beratungs- und in der therapeutischen Arbeit auch tun: Sie fühlt sich ein, sie respektiert seine Grenzen, glaubt an seine Möglichkeiten, fordert ihn heraus und hilft ihm in kleinen, in allerkleinsten Schritten, aus seinem inneren Gefängnis. Sandrine beginnt mit der Erklärung der Methode, die sie sich für ihn ausgedacht hat, erläutert das Setting und beschreitet mit ihm zu-

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sammen neue Wege: Sie hat eine Buchstabentafel mit dem Alphabet erstellt, auf dem die Buchstaben allerdings nicht in alphabetischer Reihenfolge stehen, sondern nach der Häufigkeit ihrer Verwendung. Sie erläutert Bauby, wie sie sich die Arbeit mit ihm vorstellt: »Sie überlegen sich, was Sie sagen wollen. Wenn Sie so weit sind, dann blinzeln Sie einfach. Ich lese das Alphabet ganz langsam, einen Buchstaben nach dem anderen – tja, und Sie blinzeln, sobald ich den ersten Buchstaben Ihres Wortes nenne. Ich notiere ihn, dann kommt der nächste dran usw.« (Filmszene). Diese Vorgehensweise ist sehr mühsam, doch sie ermutigt JeanDominique, es zu versuchen. So sehr sie seine Einschränkung akzeptiert, sie als gegeben hinnimmt, so deutlich verbündet sie sich von Beginn an mit seinem Wunsch nach Linderung und Heilung, nach der Wiederherstellung seiner Kommunikationsfähigkeit, seinem Wunsch nach Verbundenheit und Bezogenheit. So lernt Bauby, seine ersten Worte zu übermitteln. Wie oft mögen Patienten, auch, wenn sie körperlich nicht gelähmt sind, dieses Gefühl haben: »Das schaffe ich nie!« »Das ist ein Alptraum hier!« »Ich kann nicht sprechen, kann nicht sagen, nicht ausdrücken, was ich denke, was ich empfinde …«. Schließlich beginnt Bauby mit einem Wort – man könnte sagen mit einem Wort der Wiedergeburt: »Ich«. Im Folgenden wird er dieses Wort zu einem Satz vollenden. Dabei kommt die andere Seite seiner seelischen Verfassung zum Vorschein. Er sagt: »Ich will sterben.« – Dieser Satz löst bei seiner Logopädin Bestürzung, Betroffenheit und Schmerz aus. Ihre Reaktion zeigt dem Patienten, dass er lebt, dass er in einem anderen Menschen, so eingeschränkt und lädiert sein Zustand auch sein mag, Gefühle hervorrufen kann, dass er einer anderen Person noch etwas bedeutet. Die mühsame Kommunikationsart hilft dem Eingeschlossenen, mental ins Leben zurückkehren, die Mutter seiner Kinder wiederzusehen, den Vatertag am Strand mit ihr und den gemeinsamen Kindern zu verbringen – er wird seine Liebe zu diesen vertrauten Personen spüren und erleben, wie sie ihn lieben – so behindert, eingeschränkt und absonderlich er auch sein mag. In der Verarbeitung dieser Erlebnisse empfindet Bauby seiner Logopädin gegenüber tiefe Dankbarkeit. Er schreibt über sie: »Auf dem

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Namensschild an Sandrines weißem Kittel steht: Logopädin, aber es müßte heißen: Schutzengel. Sie war es, die den Kommunikationscode eingeführt hat, ohne den ich von der Welt abgeschnitten wäre« (Bauby, 1998, S. 41). Und er tut etwas, was man in seiner Situation wahrscheinlich als Letztes erwartet hätte: Er schreibt ein Buch. Genauer gesagt, er diktiert es Buchstabe für Buchstabe per Wimpernschlag einer Verlagsmitarbeiterin: ein Buch, in dem er den Leser an seinen Erlebnissen, an seinen Leiden und Freuden, an der Kraft seines Willens, seinen Gedanken und seinen Phantasien teilhaben lässt. Jean-Dominique verstirbt wenige Tage nach der Veröffentlichung seines Buches in Frankreich, am 07. März 1997. Seine Texte zu verfilmen war sein persönlicher Wunsch.

Soziale Isolation Soziale Isolation bedeutet Getrenntsein von anderen Menschen – leben wie auf einer Insel. Es gibt Menschen, die sich freiwillig isolieren und sich von der Gemeinschaft zurückziehen. Um sie geht es hier nicht, sondern um Formen der Isolation, die einen einzelnen Menschen oder Menschengruppen ungewollt treffen. Isolation kann durch ein besonderes Ereignis, eine traumatische Erfahrung oder durch eine Krankheit ausgelöst werden. Sie kann aber auch von der Gemeinschaft als Strafe eingesetzt werden, indem jemand oder eine Gruppe bewusst ausgegrenzt und somit isoliert wird (z. B. durch Inhaftierung eines Einzelnen oder durch Isolation eines Staates durch die internationale Staatengemeinschaft). Insofern kann die Isolation sowohl als individuelles und auch als kollektives Phänomen betrachtet werden. 1. Individuelle Isolation wird am deutlichsten bei schweren organischen Störungen wie zum Beispiel dem Locked-in-Syndrom, bei autistischen Zuständen, aber auch bei schweren Depressionen und in Situationen, in denen Einzelne aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. 2. Kollektive Isolation tritt ein, wenn eine Gruppe von Menschen aus einer Gemeinschaft herausgelöst, von ihr getrennt oder aus-

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geschlossen wird: etwa eine Untergruppe aus einem Klassenverband, Flüchtlinge, Angehörige einer Rasse, einer Minderheit oder Migranten. Stellt die Isolation einen leidvollen Zustand dar, so kann ihre Beendigung einhergehen mit Erleichterung und Glückserleben. Aus aktuellem Anlass – 20 Jahre Mauerfall – soll hier ein solcher Prozess der Isolation und die Beendigung eines Inseldaseins auf einer kollektiven und gesellschaftlichen Ebene untersucht werden: die Teilung und die Wiedervereinigung Deutschlands.

Fallbeispiel2: Der Fall der Mauer – Ausbruch aus der kollektiven Isolation Es sei daran erinnert, dass Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 von den Allierten Siegermächten in vier Sektoren bzw. Zonen aufgeteilt wurde, aus denen sich innerhalb weniger Jahre zwei deutsche Staaten entwickelten. Am 24. Mai 1949 trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft, am 7. Oktober 1949 erfolgte die Gründung eines zweiten deutschen Staates: der Deutschen Demokratischen Republik. Somit existierten nebeneinander zwei deutsche Staaten, die politisch und wirtschaftlich unterschiedliche Wege gingen. Von Seiten der DDR wurde die Staatsgrenze zur BRD zunehmend befestigt, so dass sie nahezu unüberwindbar war. Die einzig verbleibende Öffnung blieb bis 1961 Berlin. Am 13. August 1961 wurde auch dieses »Schlupfloch« durch Stacheldraht und in den folgenden Tagen durch den Bau der Berliner Mauer geschlossen. Die Teilung Deutschlands markierte zugleich die Teilung der beiden großen, zu diesem Zeitpunkt existierenden, sich feindlich gegenüber stehenden Machtblöcke: die Separierung der kapitalistischen und der kommunistisch orientierten Staaten wurde vollzogen. Schon bald sprach man vom »eisernen Vorhang«. 2 Diese Ausführungen nehmen unter anderem Bezug auf umfangreiches Dokumentationsmaterial von Spiegel TV.

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Von diesem Zeitpunkt an lebten die Deutschen auf beiden Seiten der Mauer weitgehend voneinander getrennt. Dies führte zu einem eklatanten Beziehungsverlust, zu einer tiefgreifenden Spaltung und einem Leben in zwei Welten. »Mit der Mauer kommt die Sehnsucht, und die dauert drei Jahrzehnte, und die hört nicht auf. Überliefert sind Bilder der Trennung, Mütter und Kinder, Brüder und Schwestern, Männer und Frauen – fassungslos stehen sie neben Grenzpolizisten am Straßenrand, ohnmächtige Objekte der Geschichte« (Voigt, 2009, S. 48). Dabei sahen keineswegs alle im Osten Deutschlands lebende Bürger die Abgrenzung der DDR vom kapitalistischen Westen negativ. Voigt schreibt in ihrem Buch: »Ich hatte den Mauerbau an jenem sonnigen Augusttag mit Hoffnung gesehen, meine Begeisterung für die Utopie war stärker als der Schrecken vor dem Bau des Monstrums, dessen fatale Folgen ich nicht absehen konnte. Jetzt würde es endlich losgehen mit dem Aufbau des Sozialismus, unberührt von den Störungen und Versuchungen des kapitalistischen Nachbarn« (Voigt, 2009, S. 57). Der Enthusiasmus war allerdings nur von kurzer Dauer. Die Einschränkung der persönlichen Freiheiten, besonders auch die Frustration über die eingeschränkte Reisefreiheit staute sich nun über Jahre hinweg an. Friedrich Engels hatte prophezeit, dass sich mit dem Sozialismus die Menschheit »aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« (zit. nach Voigt, S. 15) bewegen werde. Im Fall der DDR hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Die Menschen erwehren sich im Laufe von vier Jahrzehnten immer mehr der Zwänge, die ihnen auferlegt wurden. Am 40. Jahrestag der DDR, am 07. Oktober 1989, demonstrierte die Berliner Bevölkerung ihr Selbstbewusstsein gegenüber dem Staat. Eine zunehmend größer werdende Gruppe von Protestierenden zog vom Alexanderplatz zum Platz der Republik, wo zu diesem Zeitpunkt die offiziellen Feierlichkeit zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR stattfanden. Die Menschen skandierten immer wieder: »Wir bleiben hier!« »Dies klingt wie eine Bedrohung und ist es auch«, so die Kommentatorin von Spiegel TV (2004, Filmszene). Während die Menschen draußen skandierten, las Erich Honecker

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im Festsaal eine Rede von einem Manuskript ab, in der er unter anderem sagte: »Unsere Freunde in aller Welt seien versichert, dass der Sozialismus auf deutschem Boden, in der Heimat von Marx und Engels auf unerschütterlichen Grundlagen steht« (Filmszene). Wenn man sich die Gleichzeitigkeit dieser beiden Ereignisse vor Augen führt und sich dann noch bewusst macht, dass Erich Honecker, der zu diesem Zeitpunkt ja wahrscheinlich noch der mächtigste Mann in der DDR war, nach all den vielen Jahren die Worte, die er in Varianten über Jahrzehnte hinweg immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt hat, wie unter Zwang vom Blatt ablesen muss, kann man leicht die Frage stellen: Glaubt dieser Mann nicht, glaubt er nicht mehr an das, was er da sagt? Ist er im Innern längst beschädigt und verunsichert? Hält er sich nur noch an alt vertrauten Ritualen fest, an früheren Überzeugungen, die nach und nach zu Phrasen verkommen und zu reinen Beschwörungsformeln geworden sind, an die er unter Ausblendung und Verleugnung der Realität selbst im Innern kaum mehr glauben kann? Wenn man sich angesichts der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 vergegenwärtigt, dass sich der oberste Chef der DDRStaatsicherheit, Erich Mielke, montags morgens immer den bundesdeutschen »Kicker« als Oberstes auf den Stapel der zu lesenden Zeitungen legen ließ (vgl. Clauß, 2010, S. 14), dann verstärkt sich der Eindruck, dass sich die Staatsführung der DDR von den verkündeten Überzeugungen selbst stark entfernt hatte. Am 09. November 1989 nachmittags geschah etwas für viele Überraschendes: Bei einer Pressekonferenz gab Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, bekannt: »Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem DDR-Bürger möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.« Auf die Nachfrage, ab wann denn diese Regelung in Kraft trete, antwortet er: »Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich!« (Filmszene, Spiegel TV, 2004). Auch hier geschah Erstaunliches: Ein hoher Funktionär des Staates, Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros der SED, verkündete fast verschämt und wie nebenbei einen Entschluss weltpolitischen Ausmaßes, den viele schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatten: die von vielen lang ersehnte und geforderte

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Reisefreiheit der DDR-Bürger auch in den Westen. Mit einem Mal erschien die Selbstherrlichkeit der Macht erschüttert, verunsichert, ins Wanken geraten. Die Nachricht verbreitete sich im Eiltempo. Noch am gleichen Abend fanden sich tausende DDR-Bürger an den Grenzübergängen ein und forderten die Einlösung des Versprechens. Die Menge forderte die Öffnung der Grenze. Immer wieder wurde gerufen: »Aufmachen! Aufmachen! Tor auf! Tor auf! Tor auf!« und »Wir kommen zurück!« (Filmszene, Spiegel TV, 2004). Zu diesem Zeitpunkt waren weder die Grenztruppen noch die für die eigentliche Abfertigung zuständigen »Passkontrolleinheiten« über den Beschluss des Politbüros informiert. Wie konnte es in einem so zwanghaften und scheinbar perfekt organisierten System zu einer solchen Fehlleistung kommen? Vom tiefenpsychologischen Standpunkt aus betrachtet gibt es auf diese Frage sicherlich viele Antworten. Ein Großteil der Taten, die im Laufe von vier Jahrzehnten die Freiheit der Menschen im Namen der Freiheit immer mehr eingeschränkt hatten, waren von Personen begangen worden, die tatsächlich an die Ideale von Freiheit, Solidarität, Wohlstand und Lebensglück für die bis dahin Unterpriviligierten, für die »breite Masse«, geglaubt hatten. Je mehr die gesellschaftliche Realität im Laufe der Zeit mit diesen Wünschen und Fiktionen in Widerspruch geriet, umso größer wurde die Zahl derer, die das bestehende System zu hinterfragen und zu kritisieren begannen. Bei den Verantwortlichen aber, die sich sicher auch oft aus persönlichen und aus Gründen des Machterhalts an ihre vertrauten Überzeugungen klammerten, musste die Verleugnung der Realität immer massiver werden. Auch bei ihnen bildeten sich – lange Zeit erfolgreich abgewehrte – Zweifel, Unsicherheiten und möglicherweise Schuldgefühle. Die Schere zwischen offizieller Beschwörung und heimlicher Identifikation mit den Opponenten und Dissidenten ging auch bei vielen Staatsdienern zunehmend auseinander. Als schließlich die oberste Identifikationsfigur des Ostblocks, der Vorsitzende des Zentralkomitees und des Politbüros der KPDSU, Michael Gorbatschow, selbst zur Perestroika aufrief und ermutigte, wurden die Risse in der scheinbar so wasserdichten und perfekt organisierten Abwehr größer. Kaum war dieser Spielraum entstanden, öffnete sich ein Pro-

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testraum bei vielen, die die Chance witterten, gegen das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit anzugehen und zu rebellieren. Was nun geschah, ist eine bemerkenswertes intersubjektives und gruppendynamisches Geschehen. Zum einen wurde der emotionale Druck, aufgeladen durch lange angestaute Gefühle, mit einem Mal »unüberspürbar«, zum anderen öffnete sich plötzlich der Raum für die Identifikation mit dem Anderen, mit den Protestlern, die spürbar von dem Wunsch nach mehr Freiheit und individueller Selbstbestimmung getragen war. Dieser Prozess vollzog sich sicherlich in aller Widersprüchlichkeit – bei vielen Vertretern der Staatsmacht werden wohl vor allem Verwirrung, Unsicherheit, Angst und auch viel Wut im Spiel gewesen sein, bei einigen aber auch eigene Wünsche nach Veränderung. Die alten Kommunikationsstrukturen funktionierten jedenfalls jetzt nicht mehr. Im Staatsapparat wusste die rechte Hand nicht mehr, was die linke tat. Die Agenturmeldung von der verkündeten Reisefreiheit hatte Zehntausende mobilisiert. Sie drängten sich an den Grenzübergängen und verlangten Durchlass. Die Beamten und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die für die Grenzkontrollen verantwortlich waren, versuchten, von ihren Vorgesetzten klare Verhaltensanweisungen zu bekommen. Dies gelang nicht. Am Grenzübergang Bornholmer Straße geschah schließlich das nicht für möglich Gehaltene: »Und dann entscheiden die Grenzer – allesamt MfS-Mitarbeiter – eigenmächtig. Sie öffnen den Schlagbaum, sie öffnen ein Schleusentor. So zerbrach die am stärksten gesicherte Grenze der Welt – am Ende, weil eine Handvoll ihrer Bewacher sie nicht mehr gegen das Volk schützen konnte und sie auch nicht mehr schützen wollte« (Kommentar zur entsprechenden Filmszene, Spiegel TV, 2004). Dass ausgerechnet untergeordnete Staatsdiener – vielleicht verzweifelt und sicher auch unter dem Eindruck der geballten Emotionen der andrängenden Massen – diese folgenschwere Entscheidung trafen, ist sicher bemerkenswert. Am Abend des 9. November 1989 überquerten zwischen 22:30 Uhr und 0:15 Uhr schätzungsweise 20.000 Menschen allein den Grenzübergang Bornholmer Straße. Noch in der gleichen Nacht wurden alle Grenzübergänge in Berlin und an der innerdeutschen Grenze geöffnet.

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Am symbolträchtigen Brandenburger Tor – zu diesem Zeitpunkt kein offizieller Grenzübergang – versammelten sich West- und Ostdeutsche. Sie kletterten auf die Mauer. Die letzte Bastion der deutschen Teilung wurde unter den Augen der Grenztruppen genommen. Diese griffen nicht ein. Die Rücknahme des Schießbefehls und der Verzicht der herrschenden Gruppe auf die Anwendung von Gewalt waren ein wichtiger Faktor bei diesen Ereignissen. In der Vergangenheit waren Abgrenzungsbewegungen, Dissidententum und oft auch nur Kritik mit Repressionen beantwortet worden. Statt Reisefreiheit in den Westen ging es um Republikflucht, um Leben und Tod. Dies ist ein Teil der Geschichte vom Ende der Isolation und der deutschen Teilung. In den folgenden Monaten wurde die Mauer demontiert, die Währungsunion (am 01.07.1990) vollzogen und zeitgleich wurden sämtliche innerdeutsche Grenzkontrollen abgeschafft. Aber trotz der offiziell besiegelten Wiedervereinigung Deutschlands am 3.10.1990 wurde die Trennung und Spaltung des Landes für die Menschen bis heute nicht vollständig überwunden und verarbeitet.

»Im Anderssein Zusammenwachsen«3 oder: Eine Trennung hinterlässt Spuren So beeindruckend die Geschichte vom Ende der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auch sein mag, so diffizil ist der Prozess des Zusammenwachsens der Menschen. Die vierzigjährige Trennung hat Spuren hinterlassen. »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« – Dieser berühmte Satz von Willy Brandt, den er angeblich am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus gesagt haben soll, der allerdings nie gesagt wurde (vgl. Schneider, 2009, S.1) ist quasi »zum großen und bis heute beinahe einzigen Motto der deutschen Einheit geworden« (Hensel, 2009, S. 12). Der Satz entspricht sicherlich dem Wunsch der Generation, die 1949 getrennt worden ist. Er entspricht aber nicht mehr der Realität von 1989. »[…] am Anfang muss kaum mehr als Fremdheit

3 Jana Hensel, Videoblog zur Frankfurter Buchmesse am 17.10.2009.

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zwischen Ost und West gewesen sein. Verlegenheit, Unsicherheit und vielleicht auch Misstrauen« (Hensel, 2009, S. 16). Wie lässt sich diese Fremdheit erklären? Zum einen haben die Menschen in Folge des Isoliertseins Phantasien über die jeweils andere Seite entwickelt und Vermutungen angestellt. Diese waren teilweise »irrational, verrückt, absurd« (Voigt, 2009, S. 12). Logischerweise führt dann das Ende der Isolation zu Ent-Täuschungen (dem Aufdecken vorheriger Täuschungen), was sehr schmerzhaft sein kann und nicht unbedingt verbindenden Charakter haben muss. Selbst Familien hat das Ende der Teilung nicht per se wieder zusammengebracht. »Der Mauerfall hat Mutter und Kind nicht so zueinander gebracht, wie beide sich das in den langen Jahren gewünscht haben mögen, die Fremdheit wollte nicht weichen« (Voigt, 2009, S. 50). Zum anderen sollte man sich bewusst machen, dass die Menschen beiderseits der deutschen Grenze sich schlicht und ergreifend unterschiedlich entwickelt haben. Jana Hensel formuliert das so: »Man hat ein anderes Verhältnis zur Geschichte. Man bezieht sich auf völlig andere historische Ereignisse. Man erinnert andere Dinge, andere Filme, andere Schlager, andere Bücher, andere Autoren. Man hat einen anderen Wissenskanon, auf den man zurückgreift« (Hensel, Videoblog, 2009). Dieses Anderssein gilt es zu realisieren und zu akzeptieren. »Der Bezug zur eigenen Stabilität und Siegessicherheit ist so stark, daß es schwer fällt, den Blick für Anderes, ›Fremdes‹ zu haben und entsprechend zu leben. Es scheint für die Westseite keine Notwendigkeit zu bestehen, sich der eigenen Abspaltungen zu widmen, hat sich doch ihr System als das ökonomisch Stabilere erwiesen und dies reicht aus, um sich besser zu fühlen. Wir sind nicht gleichermaßen existenziell betroffen. Ostdeutsche sind […] prädestiniert, mehr die Ängste, Unsicherheiten, Zurückhaltungen, passives Verhalten, Hilflosigkeit zu zeigen und haben auch einen inzwischen zu beobachtenden eigenen Stolz und Verweigerung, sich erneut in totaler Weise anzupassen, entwickelt« (Hempel, 1999, S. 60). Die Unterschiede sind da. Sie sollten zunächst wechselseitig wahrgenommen und akzeptiert und dann, wenn möglich, verstanden werden. Denn: »Verstandene Unterschiede schaffen Gemeinsamkeit« (Busse, 2009, S. 37).

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Hierzu bedarf es sicherlich noch eines achtsamen Hinschauens auf die eigenen »bewährten« Muster sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben, des gegenseitigen Erzählens, des jeweiligen Gewordenseins und des häufigen Erinnerns und Durcharbeitens, denn ein Integrationsprozess und die Herausbildung einer neuen Identität – individuell und kollektiv – ist, wie wir aus der pädagogischen und therapeutischen Arbeit wissen, stets ein langer Weg, der nur mit viel Geduld, Phantasie und Durchhaltevermögen gelingen kann.

Literatur Bauby, J.-D. (1997/2008). Schmetterling und Taucherglocke (7. Aufl. der Sonderausgabe). München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Busse, S. (2009). Verstandene Unterschiede schaffen Gemeinsamkeit … Interview mit Katharina Stahlmann und Michael Funke. Supervision. Mensch Arbeit Organisation, 3, 37–42. Clauß, U. (2010). Die Birthler-Behörde: ein deutscher Glücksfall. Welt am Sonntag vom 17. Januar 2010, 3, S. 14. Hempel, G. (1999). Grenzgängerin. Ost-West-Deutsche Gruppen- und Kulturerfahrungen. Supervision. Zeitschrift für berufsbezogene Beratung, 35, 52 – 67. Hensel, J. (2009). Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten. München: Piper. Höschele, T. (2009). Jana Hensel. Videoblog zur Frankfurter Buchmesse, 17.Oktober 2009, 17:35, Zugriff unter http://php2.arte.tv/buchmesse_2009/ blog/17/pladoyer-fur-das-anders-sein/. Schneider, G. (2009). Willy Brandt. Ein berühmter Satz, der niemals gesagt wurde. Zugriff unter http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?= 38239. Voigt, J. (2009). Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht. Berlin: Aufbau.

Filme Schmetterling und Taucherglocke (2008). Ein Film von Julian Schnabel. DVD: Prokino. Spiegel TV (2004). Der Fall der Mauer. Eine deutsche Geschichte. Hamburg.

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Die Autorinnen und Autoren

Josef Brockmann, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Frankfurt tätig. Er ist Mitglied des Alfred Adler Instituts Mainz, der Fachgruppe Wissenschaft der DGIP, SPR und SFPRG. Klaus-Jürgen Bruder, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe (Freie Universität Berlin), ist als Psychoanalytiker (DGIP) in eigener Praxis in Berlin tätig. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff ist als Individualpsychologische Beraterin und Lehrberaterin (DGIP) in freier Praxis im Bereich Beratung, Coaching und Fortbildung tätig. Günter Heine, Individualpsychologischer Berater und Lehrberater (DGIP) sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist als Lehrer tätig. Petra Heisterkamp, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Ratingen tätig. Chris Jaenicke, Diplom-Psychologe, hat seine psychoanalytische Ausbildung in New York (N.P.A.P.) gemacht, ist in eigener Praxis in Berlin tätig und zudem Lehranalytiker (DGPT), Supervisor und Dozent bei der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. (A.P.B.) sowie am Institut für Psychotherapie e. V. Berlin (PaIP).

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Die Autorinnen und Autoren

Holger Kirsch, Prof. Dr. med. (Evangelische Fachhochschule Darmstadt), ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DGIP), Dozent am Alfred Adler Institut Mainz, Vorsitzender der Fachgruppe Wissenschaft der DGIP, Mitglied der DGPT, SPR, im Expertenrat des Muko e. V./Ecorn CF und des Bundesverbandes der Organtransplantierten und in eigener Praxis tätig. Hans-Jürgen Lang, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker (DGIP, DGPT) und Dozent am Alfred Adler Institut München sowie in eigener Praxis in Ingolstadt tätig. Gerd Lehmkuhl, Univ.-Prof. Dr. med., Diplom-Psychologe, ist als Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln, als Lehranalytiker (DGIP, DGPT, DAGG) am Alfred Adler Institut Aachen-Köln tätig und verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie. Rainer Lemm-Hackenberg, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) – im Bereich Kinder- und Jugendlichen- wie auch Erwachsenenpsychotherapie –, als Leiter des Ausbildungsausschusses Psychoanalyse am Alfred Adler Institut Köln sowie in eigener Praxis tätig. Hanna Marx, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, ist als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DGIP), Supervisorin und Dozentin am Alfred Adler Institut AachenKöln sowie in eigener Praxis tätig. Werner Morbach, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT), Supervisor und Dozent am Alfred Adler Institut Delmenhorst sowie in eigener Praxis tätig. Hanna Reinhardt-Bork, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin (DGIP) in eigener Praxis in Berlin tätig.

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Die Autorinnen und Autoren

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Birgit Schmitt, Diplom-Psychologin, hat ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin (DGIP) am Alfred Adler Institut Düsseldorf Anfang 2009 abgeschlossen und ist in Leverkusen tätig. Pit Wahl, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT), Supervisor und Dozent am Alfred Adler Institut Düsseldorf sowie in eigener Praxis in Bonn tätig. Ronald Wiegand, Univ.-Prof. für Soziologie a. D. (Freie Universität Berlin), Dr. rer. pol., Diplom-Soziologe, Fachmitglied der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie, ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Individualpsychologie und Dozent am Alfred Adler Institut Berlin.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525450178 — ISBN E-Book: 9783647450179

Personenverzeichnis

Adam, C. E. 69 Adelson, E. 72, 95 Adler, A. 8, 21 f., 32, 71, 74, 80, 83, 93 f., 98, 100–103, 109, 120 ff., 125, 127 ff., 133–142, 146–149, 176, 199, 208, 213, 236 ff., 253, 258, 267, 292–295, 309 Ahluwalia, J. 327, 341 Ahrens, T. 122, 172 Ainsworth, M. 340 Allen, J. G. 53 f., 62, 68, 70, 82, 93 Altmeyer, M. 21 f., 32, 121, 123, 190 f., 197, 199, 213 Alvarez, A. 253, 256, 262 ff., 267 Amsel, G. 330, 341 Ansbacher, H. L. 93, 135, 138 ff., 147 Ansbacher, R. 135, 138 ff., 147 Ansermet, F. 257, 268 Antoch, R. F. 93, 103, 121, 147 Anzieu, D. 118, 121, 249, 260, 268 Arendt, H. 295 Aristoteles 299 Arnott, B. 326, 341 Arnsten, A. F .T. 60, 68 Aron, L. 100, 121 Aschersleben, G. 326, 337, 341 f. Asch, S. E. 204, 213 Astington, J. W. 319, 324 f., 341, 343 f. Atwood, G. 35, 51, 100, 104, 123 f., 240, 248

Baillargeon, R. 333, 335 f., 338 f., 344 ff. Baldwin, D. A. 328, 341 Balint, M. 75 Banks, S. L. 205, 213 Barash, D. 206, 213 Baron-Cohen, S. 54, 68, 327, 334, 341 Barrows, J. P. 263, 268 Bateman, A. W. 53, 59, 61, 65, 68 ff., 82, 93, 104, 108, 121, 196, 208, 213 Batki, A. 327, 341 Bauby, J. D. 348–352, 360 Bauer, J. 206, 213 Baumert, I. 295 Beardsley, M. C. 190 Beattie, J. 311 Beck, A. T. 67 Beebe, B. 71, 80 f., 93, 108, 121 Benjamin, J. 100, 104, 121, 240 f., 245, 248 Benkmann, K.-H. 172 Berelson, B. 291, 297 Bergmann, R. 191 Bergner, S. 69 f. Berne, E. 19 Bernfeld, S. 161 Bernhard, T. 291 Bernier, A. 326, 343 Bertin, E. 328, 341 Bettelheim, B. 254, 268

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Personenverzeichnis Bick, E. 75, 77 f., 81 f., 89, 94, 256, 268 Binks, C. A. 61, 69 Bion, W. R. 47, 51 f., 71, 93 f., 135, 262, 268 Bíró, S. 332, 334, 341 f. Bittner, G. 172 Blatt, L. 328, 345 Bloch, E. 313 Bloom, P. 336, 343 Blumenberg, H. 302 f., 315 Bogyi, G. 126, 148 Böhler, C. 75 Boltanski, L. 295 Bölte, S. 252 f., 269 Booth, A. 337, 343 Bösen, W. 277, 294 f. Bowlby, J. 75, 81, 195, 201, 213 Brandchaft, B. 35, 51, 100, 124 Brandone, A. C. 338, 341 Brandt, W. 358 Brauns, A. 251, 268 Bremner, J. 269 Bretherton, K. 257, 268 Breuer 296 Breyer, F. 214 Briggs, A. 75, 94 Brockbank, M. 328, 332, 342 Brockmann, J. 70 Browning, C. R. 213 Brückner, P. 285, 295 Bruder-Bezzel, A. 80, 94, 120, 267, 296 Bruder, K.-J. 80, 94, 272, 275, 295 f. Brünner, G. 148 Brunner, R. 94, 148, 172, 268, 270 Buchholz, M. B. 102, 121, 127, 131 f., 138, 141 ff., 146 f., 177, 180, 186 ff., 191, 295 Burger, R. 313 ff. Burlingham, D. 74 Busch, W. 210 Bushnell, I. W. R. 327, 341 Busse, S. 359 Caldi, S. 339, 346

365 Callaghan, T. 320, 341 Campos, J. J. 329, 346 Canestri, J. 214 Cantle, A. 89 Carlson, S. M. 325, 341, 345 f. Carpendale, J. I. 324, 341 Carpenter, M. 329, 344, 346 Casanova, J. 302 f. Casasola, M. 330, 341 Casement, P. 100, 121 Cassia, V. M. 327, 346 Cassidy, J. 213, 268 Celan, P. 178 Chandler, M. J. 321, 324, 341, 343 Chen, F. S. 339 f. Chiapello, E. 295 Christakis, N. A. 204, 213 Cicero 299 Ciompi, L. 191 Clark-Carter, D. 326, 344 Clauß, U. 355, 360 Claux, M. L. 341 Claxton, L. J. 325, 341 Clements, W. A. 321, 341 Coan, J. A. 204, 213 Cohen, D. 327, 342 Cohen, L. B. 330, 341 Connellan, J. 327, 341 Cook, E. 18 Cooper, A. M. 254, 269 Crick, P. 89, 94 Cross, D. 320, 347 Crowe, E. 326, 345 Crusoe, R. 7 ff., 11, 15, 18, 20, 125, 128, 132, 250, 265, 267, 298, 310 f., 315 Csibra, G. 321, 327, 329, 332 f., 335, 342, 346 Dack, L. A. 325, 344 Dampier, W. 13 f., 16 Darwin, C. 74, 94 Datler, W. 78 ff., 93 f., 258, 268 Daum, M. M. 337, 342 Davidson, D. 144 Davids, Z. 89, 94

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Personenverzeichnis

De Astis, G. 263, 268 Defoe, D. 7, 9, 11, 18 f., 32, 125, 127, 129, 147, 311 f. Dehmlow, R. 297 Deleuze, G. 293, 296 Deruelle, C. 327, 345 de Schonen, S. 327, 345 de Villiers, J. G. 325, 342 de Villiers, P. A. 325, 342 Diamond, D. 67, 69 Diem-Wille, A. 79 Diem-Wille, G. 75, 87, 94 Donne, J. 21 Don Quichotte 314 Dornes, M. 56, 69, 106, 108, 121 Dreher, A. U. 267, 270 Dreikurs, R. 236 Drewermann, E. 296 Dreyfus, H. L. 296 Driver, J. 328, 343 Dubiel, H. 254, 268 Duggan, C. 69 Dunbar, R. I. M. 214 Dunn, J. 326, 343 Dunphy-Lelii, S. 326, 328, 342, 347 Dweck, C. S. 339 f., 343 Dylan, B. 51 Easterbrook, M. A. 327, 342 Eife, G. 80, 85, 89, 93 f., 140, 145, 147 Ekstein, R. 281, 296 Ellis, F. H. 19, 32 Emde, R. N. 329, 346 Engels, F. 354 f. Ereky, K. 78, 94 Ermann, G. 77, 79, 95 Ermann, M. 96 Eroms, H.-W. 191 Ertle, C. 172 Estes, D. 322, 347 Fabregat, M. 184, 191 Fabre-Grenet, M. 327, 345 Fabricius, W. V. 324, 345 Fairbairn, W. R. D. 98, 101, 105, 121

Falck-Ytter, T. 335, 342 Farroni, T. 327 ff., 342 Feineis-Matthews, S. 269 Fenton, M. 69 Fernald, A. 329, 344 Fernàndez, J. 10 Fernyhough, C. 326, 344 Field, T. M. 327, 342 Fischer, H. R. 127, 144, 147 Fisher, C. 339, 346 Flavell, E. R. 324, 342 Flavell, J. H. 322, 324, 342 f. Fonagy, P. 52 ff., 56 f., 59, 61, 65, 67–70, 80–83, 90, 93, 95, 100, 102, 104 f., 108 f., 121, 196, 213, 257, 262, 268 Fooken, I. 27, 32 Fosshage, J. L. 41, 51, 80, 96 Foucault, M. 291, 294, 296 Foulkes, S. H. 210, 213 Fowler, J. H. 204, 213 Fradley, E. 344 Fraiberg, S. H. 72, 95 Freud, A. 74, 76, 95, 237, 283, 296 Freud, E. 74 Freud, S. 22, 41, 65, 67, 74, 94, 100, 134–137, 139, 142, 146, 176, 178, 186, 237, 279, 281ff., 309 Freud, W. E. 75, 95 Frith, U. 252, 268 Fritz, A. S. 321 Frost, E. 253, 257, 269 Fuchs-Brüninghoff, E. 172 Fuchs, T. 200, 213 Funke, D. 135, 147 Furgiuele, P. 268 Fürnrohr, M. 149 Garcia, R. 327, 342 Gaudet, H. 291, 297 Gehring, W. J. 320, 344 Geißler, P. 103, 122 ff. Gelman, S. A. 343 Gerber, A. 268 Gergely, G. 67, 69, 100, 121, 332, 334, 342

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Personenverzeichnis Gerland, G. 259, 269 Gilbert, E. 246, 248 Giotto di Bondone 286 Gödde, G. 177, 191, 295 Goethe, J. W. von 309 Goldhagen, D. J. 198, 213 Gopnik, A. 319, 322 f., 329, 343, 345 Gorbatschow, M. 356 Goren, C. 327, 343 Goswami, U. 344, 347 Gozzi 303 Grabhorn, R. 70 Gredebäck, G. 335, 342 Green, A. 200, 213 Greenberg, R. 327, 342 Greene, J. D. 203, 213 Green, F. L. 324, 342 Grimaldi 302 Gröner, H. 130, 134 Groß, H. 297 Groß, O. 297 Grüttner, T. 172 Gstach, J. 94 Guajardo, J. J. 329, 347 Guattari, F. 293, 296 Guderian, C. 135, 147 Guetzkow, H. 213 Gülich, E. 148 Günter, M. 264, 269 Gupta, M. D. 344 Hala, S. 321, 343 Hale, C. M. 325, 343 Hallinan, E. V. 337, 343 Hamilton, B. 326, 347 Hamlin, J. K. 337, 343 Haney, D. 205, 213 Hanks, T. 23, 25 Harris, A. 46 f., 49, 51, 100, 121 Harris, M. 88, 94 f. Harris Williams, M. 95 Hashiya, K. 337, 345 Haubl, R. 138, 148 Häußinger, G. 75, 96 Häußler, G. 83, 95 Hauser, K. 28

367 Haverkamp, A. 190 f. Heer, H. 198, 213 Hegel, G. W. F. 313 f. Heigl-Evers, A. 208, 214 Heigl, F. 208 Heimannsberg, B. 122 Heinemann, E. 157, 172 Heinzel, R. 195 f., 214 Heisterkamp, G. 103–106, 122 ff., 134, 138, 142, 147, 172 Heisterkamp, P. 100 ff., 122 Hempel, G. 359 f. Henderson, R. L. 324, 345 Henle, P. 180, 191 Hensel, J. 358 ff. Hermelin, B. 250, 269 Herrera, C. 329, 344 Hill, J. 68 Hillman, J. 134, 147 Hirschfeld, L. A. 343 Hofer, T. 326, 341 Hogrefe, G. -J. 319, 343 Hollander, M. 322, 347 Holmes, J. 8, 22, 32 Homer, B. 324, 341 Honecker, E. 354 f. Hood, B. M. 328, 343 Horkheimer, M. 313 ff. Höschele, T. 360 Hoxter, S. 269 Hübner, W. 248 Hughes, C. 326, 343 Hüther, G. 145, 147 Iben, G. 172 Israel, A. 87, 95 Itakura, S. 337, 341, 345 Jackson, E. 74 Jacobs, T. J. 94 Jaenicke, C. 32, 51, 99, 122, 239 f., 248 Jain, A. K. 132, 146 f. Jannella, C. 296 Jenkins, J. M. 325, 341, 343 Johnson, C. 252, 269 Johnson, M. 125, 130, 133, 148

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Personenverzeichnis

Johnson, M. H. 327 ff., 335, 342, 346 Johnson, S. C. 337, 339 f., 343 Jovanovic, B. 326, 341 Jung, C. G. 139 Jurist, E. L. 69 f., 100, 121 Kächele, H. 158, 172 Kahl-Popp, J. 75, 77, 95 Kandel, E. R. 254, 257, 269 Kanner, L. 252 Kaube, J. 250, 269, 310 f., 315 Kaufhold, J. 70 Kausen, R. 94, 133, 148 Kehrer, A. 126, 148 Keller-Bauer, F. 190 Kennedy, R. 268 Kernberg, O. F. 67, 69, 172, 242 f., 247 f. Kesselring, T. 343 Khan, M. M. R. 104, 122 Kirsch, H. 70 Kisilevsky, B. S. 327, 342 Klee, P. 72 f. Klein, M. 74 f., 256, 269 Klein, T. 214 Klinnert, M. D. 329, 346 Klosko, J. S. 214 Klüwer, R. 240, 248 Knoblauch, S. 72 Köhler, L. 229, 234 Köhler-Weisker, A. 74–77, 95 Kohl, K. 175, 177, 191 Köhn, R. 267 Kohut, H. 42 f., 45, 51, 199, 217, 234, 248 Kolb, S. 296 Konrad, G. 308 Körner, J. 143, 148 Koós, O. 332, 342 Krause, B. 149 Krause, R. 54, 69, 184, 191 Kris, E. 74 Küchenhoff, J. 103, 122 Kuhlmeier, V. A. 326, 336, 343, 347 Künkel, F. 106, 122, 149, 253, 269 Kurz, G. 126, 148

Kütemeyer, M. 144, 148 Kutter, P. 248, 296 LaBounty, J. 326, 347 Lacan, J. 132, 176 f., 191, 289, 297 Lachmann, F. M. 40 ff., 46, 51, 80 f., 93, 96, 108, 121 Lackmann, T. 309, 315 Lai, C. 329, 342 Lakoff, G. 125, 130, 133, 148 Lalonde, N. 326, 347 Lang, H.-J. 80, 82, 95 Laplanche, J. 297 Laplante, D. P. 327, 342 Laranjo, J. 326, 343 Larue, L. 46 Lazar, R. A. 75, 79, 83, 85, 87, 95 f. Lazarsfeld, P. F. 291, 297 Leber, A. 157 f., 161f., 167, 172 LeBon, G. 312 Lee, K. 325, 343, 345 Leekam, S. R. 319, 345 Lee, T. 69 Lehmann, N. 75, 96 Lehmkuhl, G. 101, 122, 201, 214 Lehmkuhl, U. 8, 32, 95, 101, 122, 172 Leigh, T. 268 Leikert, S. 103, 107 Lenin, W. I. 313 Leo, I. 327, 346 Lepage, J.-F. 335, 343 Leslie, A. M. 334, 336, 341, 343, 345 Leuzinger-Bohleber, M. 214 Li, B. M. 68 Lichtenberg, J. D. 41, 51, 80 ff., 96 Liebscher, C. 138, 148 Lillard, A. S. 322, 341, 343 Linehan, M. M. 61, 69 Liszkowski, U. 329, 344, 346 Liu, D. 318, 320, 344, 347 Loewald, H. W. 98, 100 f., 103, 105f., 123 Lohmann, R. 27, 32 Lopez-Duran, S. 326, 347 Lorenzetti, A. 286, 288

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Personenverzeichnis Lorenzetti, P. 286, 288 Losurdo, D. 297 Luhmann, N. 265, 269 Luo, Y. 333, 335, 344 Lyotard, J.-F. 297 Macchi Cassia, V. M. 327, 344, 346 Magistretti, P. 257, 268 Maiello, S. 85, 88 Mansfield, E. M. 329, 342 Marcuse, H. 297 Marquard, O. 304–311, 314 f. Martelli, M. P. 89, 96 Martini, S. 288 Marty, P. 67, 69 Marx, K. 19, 355 Massaccesi, S. 328, 342 Mathew, R. 68 Matsui, T. 320, 344 Mattoon, G. 268 Mayes, L. C. 59 f., 70 McCarthy, L. 69 Meins, E. 326, 341, 343 f. Meister Eckhart 306 Meltzer, D. 256, 269 Meltzoff, A. N. 320, 334, 337, 344 Menon, E. 327, 342 Mentzos, S. 222 f., 286 Merleau-Ponty, M. 297 Mertens, W. 99, 123, 138, 148, 248 Metzger, W. 133 Metz, U. 332, 346 Mielke, E. 355 Milch, W. 99, 123 Miles, G. 89, 94 Milgram, S. 205 Miller, L. 76, 96 Milligan, K. 325, 344 Mitchell, P. 342 Mitchell, S. A. 42, 44, 98, 100 ff., 103 ff., 108, 119, 121, 123 Miura, Y. 320, 344 Möhling, T. 195, 214 Mohr, F.-J. 172 Möller, C. 61, 70 Möller, M. 248 Möller-Pozzi, H. 197, 214

369 Moll, H. 329, 344 Montada, L. 346 Montaigne, M. de 303 f., 307, 313, 315 Morbach, W. 297 Morton, J. 327, 345 Moses, L. J. 325, 328, 341, 345 Muir, D. W. 327, 342 Mumme, D. L. 329, 344 Munholland, K. A. 257, 268 Nàdasdy, Z. 332, 342 Nedelmann, C. 297 Needham, A. 334, 346 Nielsen, M. 337, 344 Nietzsche, F. 94, 304, 306 Nissen, B. 268 f. Nitzschke, B. 28, 32 Noland, C. 23–31 Nowak, M. A. 201, 214 Odden, H. 341 Oerter, R. 346 Ogden, T. H. 104, 123 Ohgami, H. 337, 345 OíHearn, K. 337, 343 Olds, D. 254, 269 Olineck, K. M. 325, 344 Onishi, K. H. 336, 338 f., 345 f. Orange, D. M. 104, 123, 240, 248 Orlinsky, D. 195, 214 Ornstein, A. 45 f., 51 Orwell, G. 297 Ott, J. 208, 214 Overbeck, G. 70 Pally, R. 94 Parin-Matthèy, G. 297 Parin, P. 285 f., 297 Pascalis, O. 327, 345 Pastior, O. 179 Paton, A. 89, 94 Pelletier, J. 324, 341 Perez-Sanchez, M. 78, 96 Perner, J. 318 f., 321, 324, 339, 341, 343, 345, 347 Pflichthofer, D. 103, 123 Phillips, A. T. 326, 331 f., 345 ff. Piaget, J. 317, 343, 345

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Personenverzeichnis

Pickering, K. 13 Pickles, A. 269 Pilo di Boyl, E. 89, 96 Pividori, D. 328, 342 Poettgen-Havekost, G. 103, 123 Pontalis, J.-B. 297 Poulin-Dubois, D. 325, 344 Poustka, F. 252 f., 269 Páramo-Ortega, R. 296 Premack, A. J. 346 Premack, D. 334, 345 f. Presslich-Titscher, E. 101, 123, 137, 148 Prinz, W. 337, 342 Ptolemäus 303 Quinodoz, D. 191 Quinton, D. 257, 269 Rabinow, R. 296 Rakoczy, H. 320, 344 Ramge, T. 202, 214 Raphling, D. L. 42, 51 Ratey, J. J. 252, 269 Rattner, J. 140, 148 Rauchfleisch, U. 172 Redford, M. A. 330, 341 Reemtsma, J. P. 198, 205, 214 Reid, S. 76, 86, 97, 268 Reimer, G. 172 Reinert, T. 103 f., 123 Repacholi, B. M. 323, 329, 345 Resch, F. 266, 269 Rieniets, E. 149 Rigato, S. 327, 342 Riggs, K. 342 Robinson, R. 87 f., 96 Rochat, P. 328, 341, 345 Rogner, J. 136, 148 Rohrwasser, M. 297 Rost, H. 195, 214 Rother, R. 297 Roth, G. 254, 258 f., 269 Rothstein, A. 42, 51 Rousseau, J. J. 304, 306, 310, 312 Rovira, K. 329, 346 Rudolf, G. 145 Ruffman, T. 326, 339, 345

Ruh, M. 140, 149 Runciman, W. G. 214 Russell, J. 326, 344 Rustin, M. E. 71, 76, 88, 90, 96 Rutter, M. 269 Sabbagh, M. A. 320, 325, 344 f. Salber, L. 237, 248 Salber, W. 134 Sammet, I. 62, 70 Sancho Pansa 314 Sandelson, J. 87, 96 Sandler, J. 172, 267, 270 Sanefuji, W. 337, 345 Sarty, M. 327, 343 Sasse, H. 8, 32 Schabowski, G. 355 Schadewaldt, W. 297 Scharff, J. M. 103, 123 Scheer, P. 126, 148 Schlottmann, A. 330, 332, 345 Schmidt-Lellek, C. J. 122 Schmidt, R. 132, 144, 148 Schmitt, R. 130, 132 f., 137, 143, 148 f. Schmitz-Emans, M. 126, 149 Schmützer, G. 269 Schnabel, J. 360 Schneider, G. 358, 360 Schoeppner, B. 332, 346 Schopenhauer, A. 200, 299, 301 f., 311, 313, 315 Schult, C. A. 322, 347 Schuster, N. 250, 252, 260, 265, 270 Schwab, G. 297 Schwanenflugel, P. J. 324, 345 Scott, R. M. 339, 345 Seiffge-Krenke, I. 25, 32 Selkirk, A. 7, 9, 11 f., 14–18, 20, 23 f., 26, 28, 299 Selkirk, E. 11 Selkirk, J. 11 Seneca 299 Senju, A. 321, 329, 346 Shapiro, V. 73, 95 Shaver, P. R. 213, 268

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Personenverzeichnis Shuttleworth, J. 76, 96 Siegel, A. M. 222, 234 Simion, F. 327 f., 342, 344, 346 Simmel, G. 304 Slade, A. 69 f. Slade, L. 326, 345 Slaughter, V. 322, 343 Smith, J. M. 214 Smith, P. H. 335, 346 Sodian, B. 318, 332, 346 Soff, M. 140, 149 Sommerville, J. A. 334 f., 346 Song, H.-J. 339, 246 Sophokles 297 Sorce, J. F. 329, 346 Sorter, D. 71, 93 Souhami, D. 11 f., 14, 17 f., 32 Southgate, V. 321, 335, 338, 346 Spelke, E. S. 331 f., 346 Sperber, D. 339, 346 Sperber, M. 129, 149, 306, 315 Springer, A. 297 Steele, M. 268 Steele, R. 18 Steinbring, B. 185, 191 Steiner, J. 263, 270 Stein, H. 62, 70 Steinhardt, K. 78, 94 Sterba, R. 74 Sternberg, J. 79 f., 83, 85 ff., 89–93, 97 Stern, D. B. 68 Stern, D. N. 80 f. , 84, 97, 99, 108, 123 f. Stolorow, R. D. 35, 46, 50 f., 100, 104, 123 f., 240, 248 Stork, J. 96 St. Pierre, B. 301 Stradling, T. 13–17 Streeck, U. 103, 124, 209, 214 Striano, T. 328 f., 341, 345 f. Sullivan, H. S. 98, 101, 104 Sullivan, K. 321, 346 Sulzer, K. 149 Surian, L. 330, 332, 339, 345 f.

371 Sutherland, J. 19 Tager-Flusberg, H. 325, 343 Tammet, D. 251, 270 Tapanya, S. 341 Tardif, T. 320, 344 Target, M. 56 f., 69, 100, 121, 214, 257, 262, 268 Taylor, J. R. 68 Taylor, M. 325, 346 Théoret, H. 335, 343 Thomä, H. 21 f., 32, 121, 123, 158, 172, 190 f., 197, 199, 213 Tiffany Burlingham, D. 237 Titze, M. 94, 148, 172, 268, 270 Todd, J. 335, 346 Tomasello, M. 204, 214, 320, 329, 344, 346 Torberg, F. 237 f., 248 Trautmann-Voigt, S. 123 Tremblay, H. 329, 346 Trevarthen, C. 257, 270 Trowell, J. 89, 94 Trunkenpolz, K. 80, 94 Tschuschke, V. 212, 214 Tuckey, M. 344 Turati, C. 327, 346 Turner, A. 75, 79, 87, 94 Tustin, F. 249, 253, 256, 260 ff., 264, 270 Ubriani, R. 68 Ueding, G. 185, 191 Umiltà, C. 327, 344 Unoka, Z. 67, 69 Vaihinger, H. 140, 148 Vaish, A. 329, 346 van der Kolk, B. A. 65, 70 van Marle, K. 326, 347 van Schaik, C. P. 203 f., 214 Vennemann, T. 191 Verploegh-Chassé, I. 149 Voigt, B. 123 Voigt, J. 354, 359 f. Voland, E. 202 f., 214 Volz-Boers, U. 103, 124 von Hentig, H. 267, 269 von Hofsten, C. 335, 342

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Personenverzeichnis

von Humboldt, W. 307 Voßköhler, F. 296 Waddell, M. 74, 97 Wahl, P. 8, 32 Wainwright, R. 344 Waldvogel, B. 123, 248 Watson, J. 320, 347 Weber, A. 297 Weddell, D. 269 Weifl, H. 270 Weigl, E. 149 Weinrich, H. 178, 190 f. Weishaar, M. E. 214 Wellendorf, F. 248 Wellman, H. M. 318, 320, 322, 324, 326, 329, 332, 338, 341 f., 344 f., 347 Welzer, H. 214 Westhoff, K. 269 Wexberg, E. 149 Wheelwright, S. 68, 327, 341 Wiegand, R. 253, 258, 270 Willen, J. D. 328, 343 Willey, L. H. 260, 270 Will, H. 146, 149 Williams, D. 260 Wilson 24–27, 29 ff.

Wimmer, H. 319, 324, 343, 345, 347 Winner, E. 321, 346 Winnicott, D. W. 25, 32, 109, 118, 124, 175, 200, 210, 214, 228 Witte, K. H. 136, 149, 267 Wittenberg, I. 88, 90, 92, 97, 256, 269 Woodson, R. 327, 342 Woodward, A. L. 328 f., 331, 334 f., 337, 343, 346 f. Woolf, V. 19 Woolley, J. D. 322, 347 Worm, G. 103, 124 Wu, P. 327, 343 Wurmser, L. 134, 143, 149 Wynn, K. 326, 336, 343, 347 Xiao-an Zhu 174, 190 f. Xu, F. 325, 345 Yamaguchi, M. 326, 347 Young, J. E. 199, 214 Yudofsky, S. C. 53, 70 Yuill, N. 318, 347 Zagermann, P. 296 Zaretsky, E. 236, 248 Zemeckis, R. 23, 25, 30, 32 Zimbardo, P. 205, 213

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Stichwortverzeichnis

A Abstinenz 245 in der Familienbeobachtung 77 Affektkontrolle, mangelnde 16 Affektregulierung 257 Affektspiegelung 57 Affekttoleranz 185 Aggressionstheorie 33 Aggressionstrieb 41, 136 Aggressionsverständnis 35 aggressives Schutzschild 36 Allmacht 200 Alltagspsychologie mentalistische 317 Als-ob-Modus 57 Als-ob-Spiel 27, 264 Altruismus 201 Ambivalenz 175 Ambivalenztoleranz 211 Angstneurose 182 Angststörung 215 Apperzeptionsschema 253, 258 Äquivalenzmodus 64 Arbeitsbündnis 249 Arbeitsgedächtnis 320 Asperger-Autismus 254 Ausbildungsfall 230 Ausblendung der Realität 355 Autismus 251, 253 f., 256, 258, 265 frühkindlicher 253 Autismusforschung 257

autistische Barriere 249, 266 autistisches Objekt 260 f., 263 autistisches Spektrum 251, 254 autoerotische Hülle 261 Autonomieentwicklung 163 Autonomiegewinnung 102 Autonomiewahrung 102

B Babyambulanz 82 Babybeobachtung 71 ff., 75 f., 78–93 Berührungshülle 261 Berliner Mauer 353 Bewegungsgesetz 139 Bewegungslogik 132, 135 Bewegungsmetapher 130, 135, 138 f. Bewegungsmetaphorik 125 Beziehungsatmosphäre 109 Beziehungsdynamik 22, 117 Beziehungserfahrung 79, 108, 162, 197 Beziehungserleben 99 Beziehungserwartung 106 Beziehungsfeld 100 f. Beziehungsgestalt 105, 107 Beziehungsmatrix 106 Beziehungsmodus 104 Beziehungsmuster 102, 104 prototypisches 106 Beziehungsrepräsentation 257 Beziehungsschicksal 104

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Stichwortverzeichnis

Beziehungsstruktur 108 Beziehungsverlust 354 Beziehungswissen 209 Bezogenheit 21 Bedürfnis nach 27 Wunsch nach 351 Bezogensein 105 ff. Bindungserfahrung 340 Bindungsfähigkeit 67 Bindungsforschung 52, 80, 102, 192, 199 f., 207, 340 Bindungshormone 206 Bindungsmuster 54, 56, 102 Bindungssicherheit 326 Bindungstheorie 71, 81 f., 91, 254 Blending 178 Blickverhalten 337, 340 Borderline-Persönlichkeitsstörung 52, 104

C Chatroom 194 Common Sense 253 conductor 210 Conflation 178 Containermetapher 135 Containing 64, 78, 234 Containment 262 cooperative breeders 203 Cyberbulling 194

D Dekonstruktivismus 314 Denkfreiheit 307 Destruktivität 42 Dishabituationsphase 333, 335 Dishabituationstest 331 f. disruption 241, 245 dritte Position 242

E Eigen-Sinn 253 Einfühlungsstörung 108 Einsamkeit 19, 28 Einsamkeitsbedürfnis 314 f. Einsamkeitsfähigkeit 306, 308 f., 311 Einsamkeitsklage 306 eiserner Vorhang 353 Empathie 239 Empathiebegriff 43 Empathietraining 85 Empathieversagen 199 Enactment 50, 103, 235, 239 ff., 245, 247 Entmutigung 181 Entwicklung interpersonale 52 Entwicklungsbedürfnis 158, 162 Entwicklungsdefizit 252 Entwicklungstheorie kognitive 317 erfahrungsbasiert 334 Erlebnisdichte 104 Erwartungsverletzungsparadigma 331 Ethnopsychoanalyse 285 Evolution 201

F Facebook 194 facilitator 210 Fähigkeitsinsel 253 falsches Selbst 109, 189 falsche Überzeugung 316, 320 f., 324 ff., 338 f. Falsche-Überzeugungen-Test 58 Fehlleistung 356 Feinfühligkeit 56 Fiktion 139 f., 180, 292, 356 Fiktionalismus 140 fiktiver Lebensplan 139 Finalität 138 Flashmob 194 Formenwandel 139

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Stichwortverzeichnis

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Fragmentierung Gefahr der 46 Freibeuter 12, 14 Fremde-Situations-Test 340

Hirnforschung 192, 205, 207 Hirnmythologie 254 Holding 234 Hypersensibilität 264

G

I

gaze following 328 Gefäßmetapher 134 f., 143 Gegenwartspsychoanalyse 21 Gehirn als Beziehungsorgan 200 Gemeinschaft Wunsch nach 253 Gemeinschaftsgefühl 101, 105, 180, 193 Geschlechterkonstellation 209 Geschlechtsidentität 195 Geschwister(n) Bedeutung von 195 Geselligkeitspflicht 308 gestaltende Bewegung 139 Gier 19 Glücksforschung 202 grandioses Selbst 45 Grandiosität 46, 200 verleugnete 215 f. Größenselbst 12, 217 Gruppenbewegung 193 Gruppendynamik 205 Gruppenfähigkeit 255 Gruppenpsychodynamik 211 Gruppenpsychotherapie 192, 196 f. Gruppentaten 205 Gruppenuniversität 307 Gruppenzusammensetzung 212

Ichhaftigkeit 253 Ich-Spaltung selbsttherapeutische 27 Idealselbst 211 Identifikation 357 adhäsive 256 projektive 262 Identifikationsfigur 356 Identität psychoanalytische 89 imaginärer Freund 260 imaginärer Gefährte 25, 326 Imagination 180 Individualismus 250 Individualpsychologie 7, 98, 100, 126, 136–139, 193, 199, 236, 253 Individuationsprozess 8 innere Kohärenz 256 inneres Arbeitsmodell 257 Inseldasein 353 Inszenierung 50 Integritätsgefühl 39 Intention 337 Intentionalität 332 f., 335 f. Interaktionsfähigkeit 253 Interaktionsraum heilsamer 210 interpersonale Psychoanalyse 8, 22 interpersonaler Ansatz 76 intersubjektive Beziehungskonstellation 13 intersubjektive Dynamik 13 intersubjektives Feld 239 intersubjektive Perspektive 100, 272 intersubjektiver Ansatz 76 intersubjektiver Austauschprozess 28

H Habituations-Dishabituationsmethode 331 Habituationsereignis 333 Habituationsphase 332, 334 f. Handycap-Altruismus 202 Hedonismus 194 hinweisbasiert 334

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Stichwortverzeichnis

intersubjektiver Prozess 72 intersubjektiver Raum 135 intersubjektiver Standpunkt 33, 197 intersubjektives Feld 33, 35, 40, 45, 47, 238 f., 245 intersubjektives Geschehen 357 intersubjektive Sichtweise 22 intersubjektives System 50 intersubjektive Wende 21 f., 197, 199 intersubjektivistischer Blickwinkel 40, 45 Intersubjektivität 7 f., 13, 20 f., 71, 100, 105 f., 108, 173, 197, 199, 207, 243, 271, 273, 278, 289, 298 f., 305, 308, 312, 315 konflikthafte 16 Intersubjektivitätstheorie 21 ff., 35, 39, 238, 240 Intersubjektivitätswende 235, 248 Introspektionsfähigkeit 87 Isla Robinson Crusoe 10 Isolation 20, 28, 253, 358 individuelle 352 kollektive 352 soziale 352

Koma 349 f. Kommunikationsstörung 252 Kompetenz psychoanalytische 77, 90, 146 Kontaktbedürfnis 253 kontextuelles Verständnis 41 Kooperation natürliche 201 korrigierende Erfahrung 261 Kränkung narzisstische 42 f. Kriegskosten 129, 140

L

joint attention 329

Lauthülle 261 Lebensbewegung 131, 140 dynamische 80 Lebenskunst 309 Lebensstil 8, 102, 134, 139 f., 182 f., 186, 239, 258 Lebensstilanalyse 199 Lebensstilvariationen 309 Lebenstrieb 41 leitende Fiktion 139 Leitlinie 80, 139 Libido 137 Locked-in-Syndrom 349 Lügenbegriff kindlicher 317 Lustprinzip 41

K

M

Kaperfahrt 12 ff. Kausalität psychologische 330 Kinderbeobachtung 74 Kindesmissbrauch 42 Kindheitserinnerung 61, 145, 183 Kognitionsforschung 256 kognitive Theorie 67 Kohärenz zentrale 252 kollektiv-private Logik 13

Macht 16, 185, 263, 271, 285, 289, 291 ff. der Metaphern 146 Machtausübung 246 Machtbedingung 271 Machterhalt 356 Machtfrage 246 Machtgefühl 206 Machtkampf 16, 21, 163, 165 Machtlosigkeit 357 Machtmensch 307 Machtphantasien 205

J

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Stichwortverzeichnis Machtverhältnis 271, 285 Mangelerfahrung 85, 207 Mangelzustand, seelischer 26 Mapping 178 Markierung 109, 229 emotionale 108 Markierungshypothese 108 masochistische Identifizierung 46 Mauerbau 354 Mauerfall 359 Menschenkenntnis 139 mentalisieren 52, 54 f., 64 Mentalisierung 52 f., 59, 65, 67, 327 mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) 52, 61, 67, 196 Mentalisierungsfähigkeit 54, 60, 67 f., 108, 263 Mentalisierungskonzept 52 f., 55 Mentalisierungsleistung 326 Mentalisierungsprozess 90, 108 Mentalisierungsstörung 68 Mentalisierungstheorie 196 Mental States 54 Metapher 7, 20, 125–128, 130 ff., 134, 136–142, 144 ff., 173–181, 183–190, 298 ontologische 137 Metaphernanalyse 146 Metaphernfeld 137 Metaphernkontext 190 Metaphernproduktion 142 Metapherntheorie 125, 131 Metaphernwelt 141 Metaphorik 125, 140 f., 143, 146, 275 individualpsychologische 130 Minderwertigkeitsgefühl 12, 113, 199, 239 Mind-mindedness 326 Missbrauch 47 Mitagieren 226 Mitbewegung 103, 134, 138 innere 27 Mobbing 206 Möglichkeitsraum 104

377 Monade 21 Montagsdemonstrationen 355 Mutation 201 Mutterübertragung 44

N Narzissmus 253 Neid 19, 49, 198 Neidproblematik 85 Nepotismus 201 Neurobiologie 52, 55, 59, 256 Neuroimaging 203 neuronale Plastizität 258 Neurosenmetaphorik 141 Neutralität 245 Fiktion der 101

O Objektbeziehung 26 Objektbeziehungstheorie 67 Objekterfahrung Stimme als erste 107 Objektmetapher 133 Objektverwendung 109 Objektzerstörung 109 Ödipus 137, 274 f. Ohnmacht 132, 163 f., 263, 271, 294 Ohnmachtsgefühl 38, 163, 165, 216 Omnipotenz 263 Omnipotenzphantasien 46 Orientierungsmetapher 133 originäre Lebensbewegung 102, 138 originäre Selbstbewegung 117

P Panzer-Ich 249 Paradigmenwechsel 22, 199 Perestroika 356 Perspektive interpersonale 91

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378

Stichwortverzeichnis

intersubjektive 91 Phantasie 26, 360 Phantasiegefährte 26 Piraten 18 Planungsfähigkeit 257 präsentisches Verstehen 103, 105 Primärprozess 178 private Logik 8 privatlogisch 184, 186 Progression 138 Projektion 178 Projektionsfeld 209 Projektionsfläche 7, 31 Projektionsobjekt 27 projektive Identifikation 158 psychischer Äquivalenzmodus 57, 65 psychoanalytische Haltung 235 Psychotherapieforschung 52, 65, 67, 196 empirische 55

R Rachebedürfnis 45 Raummetapher 130, 135, 138 Raummetaphorik 139 Realselbst 211 Reenactment 63 reflektierender Modus 57 reflexive Position 242 Regression 138 Regulierung wechselseitige 35 Reisefreiheit 354, 356, 358 relationale Psychoanalyse 98, 100 f., 103 Republikflucht 358 Responsivität 46, 326 Retraumatisierung 99 Ritual 253, 260 Rivalitätsverhalten 34 Robinsonade 7, 9

S Sadismus 198 Säuglingsbeobachtung 83 Säuglingsforschung 56, 58, 71, 73, 80 ff., 91, 102, 104, 192, 199, 207, 263 Schematherapie 199 Schießbefehl 358 Schiffbruch 132 schöpferische Bewältigung 129 schöpferische Kraft 106, 136, 140, 184 Schuldbewusstsein 34 Schuldgefühl 356 seelische Melodie 102 Selbstanteil 135 Selbstauslöschung 37 Selbstbehauptung 19, 119, 312 Selbstbeschränkung 19 Selbstbesinnung 19 Selbstbestimmung 193 Selbstbestimmungstendenz 165 Selbstbewegung 103, 106 f. Selbstbewusstsein 16 Selbstbezogenheit 253 Selbstbezug 9, 20, 200 Selbstdialog 119 Selbstentfaltung 250 Selbstentwertung 215 Selbstentwicklung 42 Selbsterhöhung 43, 202 Selbsterleben 99, 105 Selbsterprobung 310 Selbstfindung 119 Selbstfürsorglichkeit 113 Selbstfürsorge 19 Selbstgefühl 39 inkohärentes 49 kollabierendes 49 Selbstgenügsamkeit 19 f. Selbstheilungsversuch 131 Selbstherrlichkeit der Macht 356 Selbstintegration 217 Selbstkohärenz 42 Selbstkorrektur 34

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Stichwortverzeichnis Selbstmuster 119 Selbst-Objekt 45, 290 Selbstoffenbarung 247 Selbstpsychologie 39 f., 42, 67, 82, 199, 238 f. Selbstregulation 44 Selbstrepräsentanz 32 Selbststruktur 46 f., 110, 229 Selbstsucht tyrannische 44 Selbstüberschätzung 16 Selbstvergewisserung 207 Selbstverlust 37, 113 Selbstverwirklichung 193 Selbstwerdung 312 Selbstwertgefühl 45 Selbstwirksamkeit 210 Selbstzustand 58, 109 Selektion 201 Sexualtrieb 136 shared intensionality 204 Sicherungstendenz 289 social referencing 329 soziale Bezogenheit 9, 22 soziale Orientierung 22 Sozialphobie 215 Soziobiologie 201, 207 Soziophobie 200 Spiegelfunktion 30 Spiegelneurone 205 f., 335 Spiegelungskonzept 109 Sprachfähigkeit 28 still-face paradigm 328 Strukturbildung 188 Strukturmetapher 137 f. Subjektivität 13, 35, 39, 41, 43 f., 47, 49 f. des Analytikers 43, 45 Entwicklung von 107 isolierte 20 rücksichtslose 20 therapeutische 33 Subjektivitäten multiple 44 Subjektwerdung 109 Substanzmetapher 135 ff., 143

379 Suizidphantasien 37 Symbolisierungsfähigkeit 28, 185

T therapeutische Neutralität 21 Todestrieb 41 transgenerationale Weitergabe 73 Traummaterial 183 Trennungsangst 44 Triangulierung 277, 279, 288 Triebdynamik 197 Triebpsychologie 197 Triebstruktur 22 Triebtheorie 43 Triumph moralisch-masochistischer 49

U Übergangsobjekt 25 f., 210, 263 Übergangsraum 145 Überkompensation 239 Überlebenskampf 19 Überlegenheitsgefühl 16 Übertragung komplementäre 158 konkordante 158 Übertragungsdynamik 142 Übertragungswiderstand 240 Unterlegenheitsgefühl 16

V Verleugnung 271 f., 279 f., 289, 294 der Realität 355 f. Versagensängste 215 Verschmelzung symbiotische 200 visuelle Klippe 329 Volontourism 202 Vulnerabilität 216, 264

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Stichwortverzeichnis

W

Z

Wegmetapher 138 Weltbild 303 Werterleben 221 Wiederholungszwang 110 Wiedervereinigung 358 Wille zur Macht 136 Wirkfaktor 53 Wirkungseinheit 161 Wissenschaftstourismus 307 Wut narzisstische 45

Zärtlichkeitsbedürfnis 101 f., 106, 253 Zeigegeste 329 Zielgerichtetheit 334 ff.

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Beiträge zur Individualpsychologie Band 35: Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Macht – Lust

Band 32: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Instanzen im Schatten

2009. 320 Seiten mit 20 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45016-1

2006. 175 Seiten mit 21 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45013-0

100 Jahre nach dem Bruch zwischen Adler und Freud wird die alte Kontroverse über diese unterschiedlich bewerteten zentralen psychoanalytischen Konzepte noch einmal aufgerollt.

Band 34: Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Der phantastische Raum Phantasie, Realität, Kreativität 2008. 272 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45015-4 Was haben so phantastische Sachen wie »Seife im Sauerkraut«, »tanzende Rosen«, »virtuelle Teddybären« und »Schweine im Weltall« mit Alfred Adler zu tun? Das verrät dieser Band.

Band 33: Ulrike Lehmkuhl / Heiner Sasse / Pit Wahl (Hg.) Wozu leben wir? Sinnfragen und Werte heute 2007. 226 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45014-7 »Der Anspruch, einen Einstieg in eine weitere vertiefte Diskussion und Reflexion des Wertethemas zu bieten, wird eingelöst.« report psychologie

Väter, Geschwister, bedeutsame Andere

Neben der Mutter haben auch andere »Instanzen« maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes – dieser Band befreit sie aus dem Schatten.

Band 31: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Gesellschaft und die Krankheit Perspektiven und Ansichten der Individualpsychologie 2005. 336 Seiten mit 16 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45012-3

Band 30: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Bedeutung der Zeit Zeiterleben und Zeiterfahrung aus der Sicht der Individualpsychologie 2005. 262 Seiten mit 22 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45011-6

Band 29: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Wie arbeiten Individualpsychologen heute? 2003. 324 Seiten mit 4 Abb. und 9 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45010-9

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Alfred Adler Studienausgabe herausgegeben von Karl Heinz Witte Diese Studienausgabe veröffentlicht in sieben Bänden Alfred Adlers wichtigste deutschsprachige Werke. Sie dokumentiert Adlers Theorieentwicklung in den verschiedenen Feldern. Die einzelnen Bände werden von namhaften Autoren der Individualpsychologie herausgegeben und kommentiert.

Band 4: Alfred Adler Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung (1913–1937)

Band 1: Alfred Adler Persönlichkeit und neurotische Entwicklung

Band 5: Alfred Adler Menschenkenntnis (1927)

Frühe Schriften (1904–1912) Herausgegeben von Almuth Bruder-Bezzel. 2007. 291 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46051-1

Band 2: Alfred Adler Über den nervösen Charakter (1912) Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie Herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn. Unter Mitarbeit von Michael Hubenstorf. 2., korrigierte Auflage 2008. 438 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-525-46053-5

Band 3: Alfred Adler Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937) Herausgegeben von Gisela Eife. 2010. 672 Seiten mit 3 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-46054-2

Herausgegeben von Wilfried Datler, Johannes Gstach, Michael Wininger. 2009. 432 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-40106-4

Herausgegeben von Jürg Rüedi. 2007. 235 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46052-8 »Diese verdienstvolle Studienausgabe ist ein bereicherndes Buch, das man mit Gewinn liest.« Susanne Till, Psychologie heute

Band 6: Alfred Adler Der Sinn des Lebens (1933). Religion und Individualpsychologie (1933) Herausgegeben von Reinhard Brunner, Ronald Wiegand. 2008. 252 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-40554-3

Band 7: Alfred Adler Gesellschaft und Kultur (1897–1937) Herausgegeben von Almuth BruderBezzel. 2009. 239 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46055-9 Mehr Informationen unter www.v-r.de

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525450178 — ISBN E-Book: 9783647450179

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