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German Pages 324 [326] Year 2010
Internationale Gerechtigkeit
Gerald Hartung / Stephan Schaede (Hrsg.)
Internationale Gerechtigkeit Theorie und Praxis
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Einbandabbildung: Photographie von Pygmäen (Twa) in Burundi; © picture-alliance / Philipp Ziser
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ISBN 978-3-534-23028-0
Inhaltsverzeichnis
Gerald Hartung und Stephan Schaede Internationale Gerechtigkeit – Worum es gehen soll .........................................
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Gerald Hartung und Stephan Schaede Internationale Gerechtigkeit – Philosophische und theologische Perspektiven ........ 15 Burkhard Liebsch Sinn für Ungerechtigkeit und das (gebrochene) Versprechen der Gerechtigkeit in der globalen Krise der Ökonomie .............................................................. 47 Eberhard Schmidt-Aßmann Was kann das Recht zur praktischen Förderung internationaler Gerechtigkeit leisten? .................................................................................................... 73 Hans Diefenbacher und Volker Teichert Kirchliche Aussagen zur internationalen Gerechtigkeit ...................................... 93 Volker Teichert Globalisierung und internationale Gerechtigkeit ............................................... 115 Hans Diefenbacher Die internationale Verschuldung und die Suche nach einer gerechten Welt ............ 139 Ulrich Ratsch Ressourcen – Entwicklung – Internationale Gerechtigkeit .................................. 161 Johannes B. Opschoor Globale Erwärmung und globale Gerechtigkeit ................................................ 179 Hans-Michael Empell Das Ziel der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts ...... 189 Katarina Weilert Transnationale Unternehmen zwischen Völkerrecht und soft law ......................... 207
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Inhaltsverzeichnis
Timo Rademacher Aufgaben, Grenzen, Dysfunktionen des Patentrechts zur Förderung Internationaler Gerechtigkeit ....................................................................... 239 Matthias Valta Doppelbesteuerungsabkommen als Instrument zur Förderung internationaler Steuergerechtigkeit ..................................................................................... 261 Markus Weingardt Religionsbasierte Akteure auf dem Feld internationaler Gerechtigkeit .................. 279 Fabiana de Oliveira Godinho Kulturelle Vielfalt im Völkerrecht im Horizont internationaler Gerechtigkeit ........ 307 Autorenverzeichnis .................................................................................... 323
Internationale Gerechtigkeit Worum es gehen soll GERALD HARTUNG UND STEPHAN SCHAEDE
Es gibt die United Nations, die World Health Organisation, den Internationalen Gerichtshof, den Internationalen Strafgerichtshof, die UNESCO, den Ökumenischen Rat der Kirchen, Greenpeace, Amnesty International, SOS-Kinderdorf, Brot für die Welt, die Kommission Justitita et Pax, den Evangelischen Entwicklungsdienst … – die Liste dieser weltweit agierenden Organisationen ließe sich erheblich verlängern. Sie zeigt etwas an: Die Einsicht in die Unteilbarkeit einer gemeinsamen Welt ist geradezu institutionell verkörpert. Aus dieser globalen Unteilbarkeit ergibt sich ein Gestaltungsauftrag, nämlich der, für Internationale Gerechtigkeitt im höchstmöglichen Maße Sorge zu tragen. Dieser Auftrag steht und fällt mit der Überzeugung, dass die Menschheit unter den Endlichkeitsbedingungen dieser Welt zumindest jeweils gerechtere Verhältnisse entwickeln kann. In dieser Überzeugung sind die folgenden Ausführungen geschrieben. Und sie gehen darüber hinaus davon aus, dass das Konzept Internationale Gerechtigkeit im Prozess globalisierter Handlungszusammenhänge ökonomischer, politischer und juristischer Natur nur in interdisziplinärer Arbeit präzisiert werden kann. Entsprechend stehen am Anfang grundsätzliche philosophische, theologische und juristische Erörterungen, denen mit gleichem Gewicht Einzelstudien zu klassischen internationalen Handlungsfeldern aus rechtlicher, ökonomischer, ökologischer und politologischer Perspektive folgen. Sie informieren über Konstellationen in den einzelnen internationalen Handlungsfeldern. Und sie unterbreiten mit der nötigen Vorsicht Vorschläge, wie Lebensverhältnisse und Strukturen in Zukunft für mehr Gerechtigkeit sorgen könnten. Dabei versuchen alle Beiträge methodisch zu beherzigen, dass sich auf dem Gebiet Internationaler Gerechtigkeit Begriffsbildung und Analyse von Handlungsfeldern wechselseitig kontinuierlich zu korrigieren und zu präzisieren haben. Das Vorgehen ist also nichts anderes als ein Plädoyer für eine begrifflich reflektierte Beurteilung von internationalen Gestaltungsoptionen. 1 Um nicht mehr, aber auch nicht um weniger muss es gehen.
1 Vgl. auch das pointierte Schlusszitat des Beitrages von F. OLIVIERA GODINHO in diesem Band, S. 319–320: „To discuss international justice meaningfully, we mustt always ask who is involved in it, as well as why, where and when, rather than envisaging what it is and does in the abstract …“ (T. KELLY, M.-B. DEMBOUR, Paths to International Justice, Cambridge 2007, S. 12).
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Im Verlauf der Erarbeitung der vorliegenden Texte zeigte sich etwas, das für unsere Standortbestimmung entscheidend ist: Das Konzept Internationale Gerechtigkeit vermag am Beginn des 21. Jahrhundert im Denken und Handeln zu orientieren. Es ist viel mehr als eine rhetorische Verzierung multilateraler Verlautbarungen im hohen Ton. Als politisch naive Chimäre lässt es sich nicht mehr abtun. Das hat vor allem historische Gründe. Mit dem Ende des Kalten Krieges eröffneten sich internationale Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten neuer Qualität. Auf internationalen Konferenzen wurde der Weltarmut und den mit ihr zusammenhängenden Ungerechtigkeiten im Blick auf Ernährung, Bildung und Klima der Kampf angesagt. Völkerrechtliche Vereinbarungen haben einen spürbar höheren Verbindlichkeitsgrad erreicht. Die Gerechtigkeitspostulate, wie sie Aufklärung2 und soziale Revolutionen pointierter denn je formuliert hatten, wurden in überraschender Beschleunigung Gegenstand internationaler politischer Praxis. Diese Entwicklungen hatten ihre Voraussetzung zumindest auch in einer bemerkenswerten Vorgeschichte. Seit Ende des 2. Weltkrieges kam es mit der UN zu Neugründungen internationaler Institutionen. Dass diese Institutionen allein durch ihre bloße Existenz niemals schon Gerechtigkeitsgaranten sind, ist unbestritten. Sie selbst müssen konstruktiv kritisiert werden und sind immer wieder reformbedürftig. Es gibt aber zu diesem internationalen institutionellen Reform- und Gestaltungswillen keine überzeugende Alternative. Denn die weltweiten Abhängigkeiten sind unumkehrbar. Der Weg zurück von der Globalisierung in strikt lokale Lebensgestaltung menschlicher Kleinverbände ist ausgeschlossen. Damit wird nicht bestritten, dass eine stärkere Konzentration auf die Konsolidierung lokaler ökonomischer und klimapolitischer Konzepte global von erheblichem Nutzen sein dürfte. Dass die Globalisierung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, ist nicht unbedingt zu bedauern, wenn sie denn entsprechend humane Formen annimmt. Aus evangelisch-theologischer Perspektive kann zugespitzt auf die Bestimmung der Gerechtigkeit formuliert werden: „Wer über Gerechtigkeit nachdenkt, hat sie als internationale Gerechtigkeit zu reflektieren, oder er hat noch nicht vollständig über sie nachgedacht.“ Diese Behauptung erhebt Geltungsanspruch auch jenseits von Glaubenseinsichten.3 Jedenfalls sei hier schon gesagt: Einer solchen Behauptung kann etwa mit Berufung auf die Menschenrechte ganz jenseits theologischer Erwägungen zugestimmt werden. Allerdings muss eingeräumt werden: Die mit dem Konzept der Internationalen Gerechtigkeit geweckten Erwartungen sind voluminös. Sie haben sich mindestens drei grundsätzlichen Herausforderungen zu stellen. Die erste Herausforderung besteht darin, die Orientierungsleistung des Konzeptes Internationaler Gerechtigkeit auszuweisen. Armut und Hunger, die im Herbst 2008 ausgebrochene Finanzkrise zudem bilden einen 2 Vgl. I. KANT, Metaphysik der Sitten, AA 6, hg. von G. WOBBERMIN, P. NATORP, Berlin 1907, S. 305f. mit ders., Kritik der reinen Vernunft, AA 4, hg. Von B. ERDMANN, P. MENZER, A. HÖFLER, Berlin 1903, S. 738f. 3 Sie spiegelt dabei aus theologischer Perspektive die von Leibniz in frühaufklärerischer Zeit aufgestellte Forderung, dass die Gerechtigkeit nicht allein im göttlichen Willen, sondern auch im Intellekt, bzw. nicht nur in der Macht Gottes, sondern in der Weisheit begründet sein müsse. Vgl. G. W. LEIBNIZ, Opera omnia nunc primum collecta, hg. von L. DUTENS, Genf 1768, Bd. IV/3, S. 272.
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harten Belastungstest für die behauptete Orientierungsleistung des Konzeptes. Es zählt zu den Aufgaben von Philosophie und Theologie, in Zeiten solcher ökonomischer Krisen darauf aufmerksam machen, dass Verzicht heilsam sein kann. Es wäre eine schlechte „Utopie, den westlichen Lebensstandard ins Globale verlängern zu wollen“.4 Es muss dabei jedoch um klugen Verzicht gehen. Kluger Verzicht ist etwas anderes als Verlust. Das ist ein entscheidender Unterschied. Es geht präziser formuliert um einen gerechten Verzicht, der das Leben vieler rettet, nicht jedoch um das Leben gefährdende Verluste. Mit Verlusten ist niemandem gedient. Deshalb ist bei aller berechtigten Warnung vor internationaler Kapitalgier mit gleichem Gewicht daran zu erinnern, dass bereits Calvin in Zeiten ökonomischer Not vorgeschlagen hat, zwischen klugem Zins für produktiv angelegtes Kapital und einem, fremde Not ausbeutenden, parasitären Wucher zu unterscheiden.5 Geldwirtschaft muss sein. Sie hat aber allen im Wirtschaftskreislauf Beteiligten zu nutzen und alle vor Übervorteilung zu schützen. Das ist die Pointe. Ohne wirtschaftliche Ressourcen lässt sich ungerechtes Elend nicht in menschenwürdige Lebensbedingungen umgestalten. International gerechte Verhältnisse kosten Geld, und das Konzept Internationaler Gerechtigkeit vermag da über ethische und rechtliche Bedingungen einer intelligenten Geldwirtschaft zu orientieren. Die zweite Herausforderung, der sich das Konzept Internationale Gerechtigkeit stellen muss, liegt in der begrifflichen Herkunft des Ausdrucks Gerechtigkeit selbst begründet. Die klassischen aristotelischen Gerechtigkeitsmodelle einer ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit waren nicht für globale Kontexte ausgelegt. Sie gingen von überschaubaren Verhältnissen aus. Und sie rechneten mit einem eindeutig identifizierbaren Subjekt der Gerechtigkeitsausübung. Innerhalb der Polis ließen sich einigermaßen klar Verantwortungsträger identifizieren. Sie sorgten mehr oder weniger überzeugend für Gerechtigkeit in ihrem Gemeinwesen. Oderr sie versagten im Blick auf diese Aufgabe, konnten dafür aber eindeutig verantwortlich gemacht werden. Das christliche Gerechtigkeitskonzept ist demgegenüber zwar von seinem Ursprung her universal angelegt, hat jedoch seine universale Option nur unter Voraussetzung eines universal handelnden Gottes plausibel gemacht (vgl. Mt 6,33). Rein theologisch jedoch kann ein auf universale Geltung Anspruch erhebendes Gerechtigkeitskonzept spätestens seit der Moderne nicht ohne weiteres argumentieren. Die theologischen Grundüberzeugungen und Argumentationen müssen in die gesellschaftlichen Diskussionen in kluger Weise so eingeführt werden, dass deren Rationalität und positive Gestaltungswirkung für das Zusammenleben von Menschen überzeugen. Das bedeutet also, dass es mit einer Applikation klassischer Gerechtigkeitsvorstellungen auf neue globale Herausforderungen nicht getan ist. Klassische Modelle der Gerechtigkeit müssen in einem ersten Schritt auf ihre prinzipielle Aufklärungskraft im 4 Vgl. H. WELZER, Apo statt Kalypse. Handeln in der Krise, faz.net vom 4. Januar 2009. (http://www.faz.net). 5 Vgl. J. CALVIN, Ioannis Calvini Opera exegetica et homiletica, Sermons sur le Deuteronome, XXIII. V. 18–20, Corpus Reformatorum r LVI, Brunsvigae 1885, Sp. 118f.
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Blick auf internationale Belange befragt undd in einem zweiten Schritt für diese Belange entsprechend modifiziert werden. Die dritte Herausforderung liegt in dem Adjektiv „international“. Hier muss gefragt werden: Sind weltweite Gerechtigkeitskonzepte überhaupt an Beziehungen zwischen Nationen gebunden? Ökonomische Institutionen in Gestalt von Banken, Versicherungen und transnationalen Unternehmen scheinen im Wesentlichen das Geschehen zu bestimmen. Deren Interessenten trugen es so vor. Politiker nahmen es so hin. Die Nationalstaaten als geborene Völkerrechtssubjekte und entscheidende internationale Handlungsinstanzen schienen global ins zweite Glied gedrängt. Eigentümlicherweise korrigierte ausgerechnet die Finanzkrise vom Herbst 2008 dieses falsche Bild. Es waren demokratisch legitimierte nationale Gemeinwesen, die Bürgschaften in dreistelliger Milliardenhöhe gaben – in Konsultation mit anderen Staaten und internationalen Organisationen. Sie wurden so zu Gestaltungssouveränen dieser Situation. Dieser Vorgang bestätigt die Beobachtung der Einzelstudien und damit den guten Sinn, über Gerechtigkeit weltweit als Internationale Gerechtigkeit nachzudenken. Darin liegt zugleich aber auch die Notwendigkeit, dass staatliche Institutionen angesichts fundamental neuer Problemlagen ihre Aufgaben neu definieren und sich auf Lösungsversuche innovativer Art einlassen. Eine internationale Politik aus nationaler Perspektive, die allein auf „Wirtschaft, Wachstum, Arbeitsplätze“ setzt, dafür aber „ihre Spitzenposition im Klimaschutz bedenkenlos“ abgibt, hat das noch nicht realisiert.6 Die Deutung der Reaktion nationaler Institutionen auf die Finanzkrise kann also zu einem ambivalenten Ergebnis kommen. Einerseits wird die Bedeutung staatlicher Institutionen für die Ermöglichung international gerechter Verhältnisse deutlich. Andererseits zeigt sich, dass sich diese Institutionen mit realpolitisch dringend geforderten Innovationen schwer tun. Ob deshalb gleich einer neuartigen außerparlamentarischen Opposition der Eliten das Wort geredet werden muss, die für die nötigen Veränderungen sorgt7, darf in Zweifel gezogen werden. Denn für global agierende zivilgesellschaftliche Akteure, und seien es Eliten, stellt sich nicht weniger als für manche internationale Institution die Frage nach deren demokratischer Legitimität. Eher sollte von einer Beratungspflichtt gegenüber politischen und ökonomischen nationalen und internationalen Institutionen die Rede sein, die so intensiv wahrgenommen wird, dass Beratungsresistenzen spürbar abnehmen. Es geht um eine möglichst intelligente Gestaltung der Verhandlungen. Was ist nun aber präzise der Beratungsgegenstand und also zu gestalten, wenn von Gerechtigkeit die Rede ist? Die Antwort auf diese Frage darf nicht leichtfertig gegeben werden, denn das Konzept der Internationalen Gerechtigkeit ist von erheblicher Komplexität. Es integriert mehrere voneinander zu unterscheidenden Momente globaler Lebenszusammenhänge und umfasst dabei notwendig zugleich aufeinander nicht zu reduzierende Modelle der Gerechtigkeit. 6
Vgl. WELZER, Apo statt Kalypse, ebd. So WELZER, Apo statt Kalypse, ebd. Entsprechend spielt Welzer mit der sprachlichen Assoziation des griechischen Präfixes „apo“ in Apokalypse auf die Kampflosung „a.p.O.“ der 68er Bewegung an. 7
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Was ist damit gemeint? Einige zentrale Momente seien hier genannt, nämlich erstens das gerechte Verhalten von Individuen oder Gruppen, zweitens die gerechte Behandlung von Individuen und Gruppen, drittens das gerechte Agieren von Institutionen, viertens gerechte Verhältnisse, fünftens die, unsere bisher genannten Momente regulierenden, gerechten Prinzipien und sechstens gerechte Verfahren. Die Vielzahl der genannten Momente macht deutlich, weshalb eine schlichte Definitionsformel für Internationale Gerechtigkeit in der Sache kaum weiterführen dürfte. Ein Konzept Internationaler Gerechtigkeit muss alle diese Momente im Blick haben. Wieso auf keines der Momente verzichtet werden darf, lässt sich schnell vor Augen führen. Internationale Gerechtigkeit setzt voraus, dass sich Individuen gerecht verhalten. Das ist insbesondere im Blick auf Ämter von hohem Einfluss nahezu trivial. Bestechlichkeit und Korrumpierbarkeit etwa unterlaufen Bemühungen um Internationale Gerechtigkeit. Menschenrechte wiederum artikulieren den Anspruch von Individuen weltweit auf gerechte Behandlung. Individuen haben einen Anspruch darauf, sich in dem, was sie vermögen und sie ausmacht, gerecht werden zu können. Diese Ansprüche haben, wie der uralte Gerechtigkeitsgrundsatz der goldenen Regel anzeigt, ihre Grenze an den Ansprüchen der jeweils anderen.8 Analoges ist von Gruppen zu behaupten. Zum Beispiel können ethnische oder religiöse Gruppen sich gegenüber anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften gerecht verhalten bzw. von ihnen gerecht behandelt werden oder aber unterdrückt werden. Gerechtigkeit ist hier wie schon auf der individuellen Ebene mit der Wahrung von Interessen in einem elementaren Sinne befasst. Gerechte Lebensverhältnisse wahren in aller Regel die gewachsene Identität von Gruppen mit deren entsprechenden Prägungen. Bedingung ist allerdings, dass das damit einhergehende Identitätsbewusstsein nicht die Identität anderer Gruppen lädiert oder gefährdet.9 Gerechte Institutionen müssen zum einen jenseits rechtlicher und ethischer Gerechtigkeitsvorstellung ihren Funktionen gerecht werden. Eine Bank, die keine Gewinne durch Geldgeschäfte erwirtschaftet, wird nicht lange überleben. Zum anderen stehen sie wie andere Wirtschaftsinstitutionen aber auch im Kontext einer sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit in der Pflicht, wenn es um die Verteilung materieller Güter, Arbeitsstellen und Ressourcen geht. Handelt es sich um international engagierte Unternehmen, liegen Gerechtigkeitsforderungen internationaler Dimension auf der Hand. An dieser Stelle ist mit allem Nachdruck zu sagen, dass die Alternative zwischen institutioneller und individueller Verantwortung im m Blick auf Internationale Gerechtigkeit eine schräge Alternative ist. Verantwortlichkeiten können international weder Individuen auf Institutionen noch Institutionen auf Individuen abwälzen. Die Verantwortungsverhältnisse sind vielmehr genau zu analysieren. Dass gerade das zu den besonders anspruchsvollen Aufgaben der Sachanalysen in den verschiedenen Handlungsfeldern
8 Bezeichnenderweise gehen die Bemühungen einer moderaten evolutionären also an der Natur des Menschen orientierten Ethik dahin, Strukturen der goldenen Regel als fundamentale Bestimmung menschlicher Moralität auszuweisen. Vgl. die Beiträge in: U. KÖRTNER, M. POPP, Schöpfung und Evolution – Zwischen Sein und Design: Neuer Streit um die Evolutionstheorie, Wien 2007. 9 Dass (religiöse) Gruppen freiwillig ihre Identität verändern oder aufgeben, ist allerdings prinzipiell denkbar. Das wäre dann kein ungerechter Umwandlungsprozess.
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gehört, liegt daran, dass auf internationalem Parkett eindeutige Subjekte gerechten Handelns bisweilen nicht einfach benannt werden können.10 Im Blick auf die soziale und ökonomische Gerechtigkeit kommen sofort auch hoheitliche Staatsaufgaben ins Spiel. Ein Staat hat Rechte, Freiheiten, Ämter und Chancen seiner Staatsbürger angemessen zu regulieren und muss für die gerechte Ordnung on Infrastrukturen wie Bildung, Verkehr, die medizinische Versorgung und für Gerechtigkeit gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten und Rechtsordnungen sorgen. Er pflegt Außenbeziehungen zu anderen Staaten und übernimmt so international für ganz ähnliche Sachkontexte Verantwortung. Hier hat darüber hinaus an die Stelle des alten Diskurses über den gerechten Krieg der Diskurs über die internationale Verantwortung für einen gerechten Frieden zu treten.11 Und hier ist einer der klassischen Orte, wo religiöse Institutionen und Akteure für Internationale Gerechtigkeit einzutreten haben und eintreten können. Die Bedeutung von Kirchen ist in diesem Kontext zu entfalten. Mit welchen gut begründeten Überzeugungen können sie fruchtbare Zumutungen für ökonomische, rechtliche und politische Gestaltungsaufgaben anderer Institutionen formulieren? Wie handeln sie selber international sinnvoll, zum Beispiel mit ihren eigenen diakonischen Institutionen? Gerechtere Verhältnisse, so zeichnet sich ab, lassen sich eher durchsetzen, wenn zivilgesellschaftliche Kräfte und mit ihnen die Kirchen mit wirtschaftlichen und politischen Kräften – durchaus sachkritisch – kooperieren. Das ist etwas mehr und in der Sache anspruchsvoller als die Ambition, allein in Form eines institutionalisierten schlechten Gewissens der Welt gegen „die“ Wirtschaft und „die“ Politik globalen Lärm zu erzeugen. Die hier ausdrücklich erwähnten ganz unterschiedlichen Sachkontexte Internationaler Gerechtigkeit lassen einmal mehr erahnen, dass es keinen Sinn hat, alle Handlungsfelder Internationaler Gerechtigkeit mit Gewalt über den Leisten eines einzigen Gerechtigkeitsbegriffs mit nur wenigen Definitionsmerkmalen zu schlagen. Das Konzept Internationaler Gerechtigkeit umfasst vielmehr, wie oben notiert, ein ganzes Set von Gerechtigkeitsmodellen. Um nur an einigen Beispielen zu illustrieren, dass von mehreren Modellen auszugehen ist: Soll es international in der Perspektive von Gerechtigkeit um die Einhaltung von Menschenrechten gehen, so ist das Moment der Gleichheitt aller Menschen im Sinne der Menschenwürde zentral. Für Bildungsfragen bietet sich hingegen eher das Konzept der Chancengerechtigkeitt an. Soll von der weltweiten Zugänglichkeit von Ressourcen die Rede sein, kommt zwingend das Moment der Verteilungsgerechtigkeitt ins Spiel. Eine ausgleichende Gerechtigkeitt wird etwa maßgeblich, wenn verletzte Interessen kompensiert werden müssen. Im Blick auf internationale Handelsbeziehungen trägt ein an materialen Prinzipien orientierter Gerechtigkeitsbegriff allein schon in pragmatischer Hinsicht nicht weit genug. Hier gewinnt das Konzept der Ver10
Das belegt das unter dem Aspekt rechtlicher Verantwortungsverhältnisse notierte Organigramm eines so genannten transnationalen Unternehmens bei Richard Meeran. Vgl. R. MEERAN, Liability of Multinational Corporations. A Critical Stage in the UK, in: M. KAMMINGA / S. ZIAZARIFI (Hgg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, Boston 2000, S. 251–264 , hier: S. 253. 11 Vgl. EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND, Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007.
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fahrensgerechtigkeitt Bedeutung, übrigens so, dass die Orientierung an gerechten Verfahren niemals die Orientierung an gerechten Strukturen ersetzen kann (und umgekehrt). Wenn gefragt wird, wie die so genannten zivilgesellschaftlichen Akteure auf internationalem Parkett agieren sollten, ist, wie bei ökonomischen Kräften auch, nach den demokratischen Legitimationsstrukturen dieser Institutionen zu fragen. Es geht also um den Nachweis, in wessen, ihre Handlungsbefugnisse rechtfertigenden, Namen sie eigentlich für welche gerechte Sache handeln. Diese Modelle lassen sich allerdings in Form von Leitlinien bündeln. Die Leitlinien präzisieren Gerechtigkeit ebenso als Entwicklungsbestimmung wie sie vor einer ideologischen Realisierungswut gerechter, durchaus guter Utopien warnen. Letzteres wäre unrealistisch. Denn lebensweltlich betrachtet nehmen Gerechtigkeitsdiskurse und so auch der über Internationale Gerechtigkeit ihren Ausgang regelmäßig von der Wahrnehmung und dem Empfinden grober Ungerechtigkeiten. In diesem Zusammenhang wird deutlich: für die Durchsetzung international gerechterer Lebensbedingungen ist ein entsprechendes (Un)Gerechtigkeitsempfinden von zentraler Bedeutung. Entsprechende Informationen gepaart mit rationaler Analyse, was geändert werden muss und kann, dürften sensibilisieren. Dabei gehen rationale Analyse und Sensibilität für Gerechtigkeit Hand in Hand. Vor diesem Hintergrund ist eine Praxis zu fordern, die mit ökonomischem Sachverstand, juristischem Mut zu neuen völkerrechtlichen und transnationalen verwaltungsrechtlichen Modellen und mit politischer Phantasie der Komplexität globaler Handlungszusammenhänge Rechnung trägt. Dieser Überzeugung geben die Fallstudien Ausdruck, die sicher nicht auf Vollständigkeit angelegt sein können, jedoch anhand von Einzelanalysen exemplarisch Entscheidendes herausarbeiten: von der Darstellung des Zieles der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts, Fragen der internationalen Verschuldung, des Welthandels, der Entwicklungspolitik und Ressourcenverteilung sowie der Folgen patent- und steuerrechtlicher Bestimmungen über die Stellung transnationaler Unternehmen zwischen Völkerrecht und soft law, die völkerrechtliche Artikulation ethnischer Gruppeninteressen in Minderheitensituationen und die internationale Gerechtigkeitsherausforderung des Klimawandels hin zur Bedeutung religionsbasierter Akteure für die Internationale Gerechtigkeit. Am Anfang aber stehen als Grundorientierung philosophisch- theologische Leitlinien. Die Brücke zwischen theoretischer Reflexion und Praxis schlägt ein juristischer Beitrag, der fragt, was das Recht zur praktischen Förderung Internationaler Gerechtigkeit leisten kann. Wenn die Leitlinien dezidiert nicht nur philosophisch, sondern auch theologisch argumentieren, dann hat das folgende Gründe: Erstens haben diejenigen, die christliche Glaubensüberzeugungen teilen oder ihnen nahe stehen, einen Anspruch auf eine explizite theologische Information zur Frage. Zweitens ist es Aufgabe evangelischer Theologie und Ethik, dem evangelischen Ethos in der gesellschaftlichen Diskussion zentraler Sachprobleme öffentlich Ausdruck zu geben. Dieses Ethos will in der Welt wirken.12 Und drittens mögen zwar die im christlichen Glauben artikulierten Behauptungen und 12
Vgl. J. FISCHER, Theologische Ethik – Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, S. 10, 47. – Vgl. ferner W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008, bes. Teil III, (Kommunikation ethischer Fragen in n der pluralistischen Gesellschaft), S. 204ff.
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Verheißungen einem säkularisierten Menschen des 21. Jahrhunderts nicht einleuchten, wenn er sie auch mit Interesse zur Kenntnis nehmen mag. Jedoch können die in diesen Glaubensüberzeugungen artikulierten ethischen Forderungen vor dem Forum einer nichtchristlichen Rationalität plausibel gemacht werden. Hier hat sich zu bewähren, dass sich die Sätze evangelischer Ethik in Sätze allgemeiner Ethik überführen lassen. Dabei werden sie dann nicht mehr unter den Bedingungen des Evangeliums, sondern allein des Gesetzes formuliert. In dieser Weise ausgewiesen dürften Reflexionen über Internationale Gerechtigkeit den internationalen Diskurs über die Gerechtigkeitsfrage zwischen unterschiedlichen kulturellen Prägungen effizient anregen. An diesem Anspruch will sich die Lektüre dieses Bandes messen lassen.
Bibliographie J. CALVIN, Ioannis Calvini Opera exegetica et homiletica, Sermons sur le Deuteronome, XXIII. V. Corpus Reformatorum LVI, Brunsvigae 1885. EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND, Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007. J. FISCHER, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002. T. KELLY, M.-B. DEMBOUR, Paths to International Justice, Cambridge 2007. I. KANT, Metaphysik der Sitten, hg. von G. Wobbermin, P. Natorp, Berlin 1907. DERS.,
Kritik der reinen Vernunft, hg. Von B. Erdmann, P. Menzer, A. Höfler, Berlin 1903.
U. KÖRTNER, M. Popp, Schöpfung und Evolution – Zwischen Sein und Design. Neuer Streit um die Evolutionstheorie, Wien 2007. G. W. LEIBNIZ, Opera omnia nunc primum collecta, hg. von L. Dutens, Genf 1768. W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008. R. MEERAN, Liability of Multinational Corporations. A Critical Stage in the UK, in: M. KAMMINGA A/ S. ZIA-ZARIFI (Hgg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, Boston 2000, S. 251–264. H. WELZER, Apo statt Kalypse. Handeln in der Krise, faz.net vom 4. Januar 2009, (http://www.faz.net).
Internationale Gerechtigkeit Philosophische und theologische Perspektiven GERALD HARTUNG UND STEPHAN SCHAEDE
Inhalt I. II. III. IV.
Die Herausforderung Internationaler Gerechtigkeit Eine Skizze theologischer Gerechtigkeitsperspektiven Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit Die Aufgabe einer Bestimmung Internationaler Gerechtigkeit im Übergang zu den Praxisfeldern
In philosophischer und theologischer Perspektive die Frage nach der Internationalen Gerechtigkeit anzupacken und im unübersichtlichen Gewölbe der Bibliotheken zum Thema ein weiteres Licht zu entfachen, ist ohne Zweifel abenteuerlich. Gleichwohl liegt ein großer Reiz in der Herausforderung, in ein aktuelles Gespräch über Internationale Gerechtigkeit Resultate eines philosophisch und theologisch geleiteten Nachdenkens über Gerechtigkeit behutsam, aber mit Nachdruck einzubringen. Die Auseinandersetzung mit der Tradition und ihren überlieferten Argumentationsmustern zum Thema Gerechtigkeit erfüllt einen vielfältigen Zweck, Anregung zum Nachdenken, Abstand vom alltäglichen „Geschwätz“ (Kierkegaard) und Herausforderung zu einer komprimierten Darstellung sein.
I. Die Herausforderung Internationaler Gerechtigkeit Gerechtigkeit gehört zu den ältesten Rätselfragen der Menschheitsgeschichte. Schon Aristoteles urteilte über die Gerechtigkeit „nicht Abendsonne noch Frührot [sei] so staunenswürdig wie sie“1. Bei Platon war sie die Sonne am Ideenhimmel. Mit gleichem Bild bezeichnet ein evangelisches Kirchenlied Jesus Christus als „Sonne der Gerechtigkeit“2. Gerechtigkeit, das ist, über die Jahrhunderte hinweg, jenseits aller säkularen und religiösen Schwärmerei „die zentrale Leitidee der politischen Philosophie“.3 Darüber 1
Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik V.3. Vgl. Evangelisches Gesangbuch 263, Evangelische Verlagsanstalt 2000. 3 Vgl. S. GOSEPATH, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M. 2004, S. 29. 2
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hinaus ist sie in vielen Kulturen höchstes ethisches Prinzip für gesellschaftliches und religiöses Verhalten. Weltreligionen und klassische Philosophien führen sie als zentrales Konzept: Maat in Ägypten4, Zedakah im Alten Israel5, Gottes versöhnende Gerechtigkeit bei Paulus6, Dharma im Hinduismus7. Gerecht soll das Leben sein und einem jeden sein Lebensmaß gönnen. Gerecht solle sich Zusammenleben gestalten, so lautet eine Forderung, die in vergleichender religionsgeschichtlicher Perspektive standhält. Was muss also in diesem ausgreifenden kulturgeschichtlichen Kontext angesichts der aktuellen sich globalisierenden Welt- und Lebensverhältnisse gesagt werden? Eine Antwort wird nicht nur von der Theologie oder Philosophie gefordert. Erweisen muss sie sich auch in der Perspektive wechselseitig aufklärender Arbeit von Ökonomie, Recht, Politikwissenschaft, Theologie und Philosophie. Die Kooperation dieser Disziplinen im Blick auf das Gerechtigkeitskonzept scheint angesichts der Komplexität menschlicher Lebensverhältnisse zu einer interdisziplinären Verpflichtung zu werden. Denn jede Generation ist neu aufgefordert, sich angesichts ständig verändernder kultureller und natürlicher Bedingungen auf die Suche zu begeben, wie für gerechtere Lebensverhältnisse gesorgt werden kann. Jede der genannten Disziplin wäre dabei, wie sollte es angesichts der Komplexität ihres Gegenstandes auch anders sein, auf sich gestellt hoffnungslos überfordert. Es ist deshalb eine der großen konzeptionellen Herausforderungen an Institutionen und wissenschaftliche Disziplinen, die praktische Bedeutung und Durchsetzbarkeit von Gerechtigkeit angesichts der Entgrenzung sozialer Ungleichheit im globalen Horizont überzeugend zu beschreiben. Diese Herausforderung steigert sich folgerichtig im Blick auf das Konzept Internationalerr Gerechtigkeit. Soll es nämlich gerechte Lebensverhältnisse geben, dann müssen sie mit guten Gründen und mit Macht8 durchgesetzt werden können. Welche Gründe aber kann es geben und welche Macht will und wird Gerechtigkeit durchsetzen – gar international? Die Globalisierung vollzieht sich ja ohne ein, eindeutig dafür zur Verantwortung zu ziehendes, spezifisches Subjekt.9 Die Verantwortung diversifiziert sich in eine schwer zu durchschauende und zu übersehende Vielzahl höchst unterschiedlicher Institutionen. Hier muss durch anspruchsvolle ökonomische, politische und juristische Analysen Klarheit gewonnen werden. Noch bevor überhaupt diese Arbeit aufgenommen wird, könnte eine, die Tatsachen analysierende, ökonomische, rechtliche und philosophische Diagnose, die beansprucht, nüchtern und emotionslos zu sein, zu folgendem defätistischen Urteil kommen: Wir leben in einer Welt, in der es ungerecht zugeht. Politische und soziale Menschenrechte werden zwar manchenorts realisiert, gerechte Lebensverhältnisse sind jedoch im weltweiten Vergleich eher die Ausnahme von einer Regel und bestehen lokal begrenzt. Es 4 Vgl. J. ASSMANN, Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, Neukirchen 2006. 5 Vgl. B. JANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen 1999. 6 Vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1965. 7 Vgl. A. VOHRA (Hg.), Dharma. The categorical imperative, New Delhi 2005. 8 Vgl. zum Machtphänomen K. WEILERT, in diesem Band, S. 207. 9 Ein klassischer Fall einer internationalen Institution, die sich als Subjekt entzieht, ist das transnationale Unternehmen. Vgl. hierzu WEILERT, aaO., S. 217.
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ist also völlig ausreichend, die menschliche Lebenswirklichkeit zu begreifen und von allem Wünschenswerten und Illusionärem abzusehen.10 Für diesen nüchternen Befund gibt es eine Fülle von Hinweisen, von denen hier nur einige zu erwähnen sind. Zweifelsohne leben sehr viel mehr Menschen in Armut11 als unter prosperierenden Verhältnissen, sie kennen physisches Wohlergehen kaum, psychisches ebenso wenig. Bildungsressourcen fehlen ihnen, informiert werden sie gar nicht, schlecht oder irreführend. Die Situation einer eskalierenden Ressourcen- und Nahrungsmittelknappheit wird durch viele Studien vor Augen geführt. Im Blick auf Klimaveränderungen wird deutlich, dass die soziale Ungleichheit noch verschärft wird durch eine Entkoppelung von Risikoerzeugung und Risikobetroffenheit.12 Dieses Faktum wird auch zu einem Problem der Generationengerechtigkeit.13 Höchst ungleiche Rechts- und Strafordnungen bestimmen das Leben innerhalb staatlicher Ordnungen. In jeder Hinsicht wird im nationalen und internationalen Bereich – und das hängt nicht nur, aber auch im religiöser Motivation zusammen – mit unterschiedlichem Maß gemessen. Das hat – zumindest aus kulturellen und kulturgeschichtlich aufklärbaren Gründen, weshalb eine Zentralperspektive auf Rechts- und Staatsordnungen weltweit unangemessen erscheint. Deshalb wird ein „Rechtskonzept für mehr internationale Gerechtigkeit … polyzentrisch und diskursiv angelegt sein müssen“14. Da scheint das Unterfangen, in internationaler Perspektive von Fortschritt und sich entwickelnder Gerechtigkeit zu sprechen, ein Wagnis zu sein. Welche verlässlichen Daten können dieses Wagnis absichern? Wo verlässliche Daten zur Verteilung von Armut und Wohlstand, von Bildungschancen und materiellen Ressourcen vorliegen, ist nur ein verhaltener Optimismus gerechtfertigt. Die Finanzkrise des Herbstes 2008 scheint jedoch diese keimende Hoffnung sogleich zu ersticken. Lässt sich überhaupt noch von einem allgemeinen Trend zu einem Mehr an Wohlstand weltweit sprechen? Die Daten stimmen skeptisch, wenn nicht gar pessimistisch. Daher kann eine Philosophie des skeptischen Minimalismus im Blick auf gerechte Verhältnisse mit einiger Plausibilität behaupten: Die Welt wird immer nur anders, nicht besser.15 Solch einem skeptischen Minimalismus kann eine an der Rechtfertigungslehre orientierte evangelische Beschreibung des christlichen Glaubens nicht beipflichten. Die Welt wird zwar nicht schon durch ein Minimum an gutem Willen und aufrechter Gesinnung gleich besser. Vielmehr sind Individuen und gesellschaftliche Institutionen nach christlicher Auffassung dazu verpflichtet, für das Beste, für das sie sorgen können, auch wirklich Sorge zu tragen. Das jedoch wäre mit einem universalisierten „pecca fortiter“16 10
Diese Haltung charakterisiert für die Schuldenproblematik näher DIEFENBACHER, aaO., S. 145f. 11 Vgl. TEICHERT, in diesem Band, S. 125f. 12 Vgl. OPSCHOOR, in diesem Band. 13 Vgl. in diesem Band E. SCHMIDT-AßMANN, Was kann das Recht zur praktischen Förderung internationaler Gerechtigkeit leisten?, S. 78. 14 SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 91. 15 Vgl. I. BERLIN, John Stuart Mill and the Ends of Life, in: DERS., Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 173–206. 16 Vgl. M. LUTHER, WA 2, Briefe, S. 372, 84f: „Pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo“.
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nicht vereinbar, denn die Rechtfertigungslehre beschreibt kein religiöses Privatissimum. Christlicher Glaube staunt über Gerechtigkeit nicht weniger als Aristoteles und er hat dafür ganz andere Gründe als die Philosophie. Er setzt auf Gottes Gerechtigkeit. In seiner Schöpfung sollte es entsprechend gerecht zugehen und zwar nicht nur im Ausnahmefall. Gerechte Ordnungen, gerechte Ideen, gerechtes Verhalten sollten durchgängig die Schöpfung bestimmen. Gottes Gerechtigkeit ist keine Richtertugend wie auch menschliche Gerechtigkeit ebenso wenig als eine bloß wünschenswerte Zukunftsperspektive und Utopie im schlechten Sinne, d. h. eine niemals zu erreichende, an der Eigenart der Schöpfung vorbei gedachte Vorstellung Sinn haben würde. Sie ist eine reale lebensgestaltende Kraft, mit der Menschen immer wieder rechnen können und unter den Endlichkeitsbedingungen dieser Welt auch rechnen müssen. Sie ist ein Phänomen essentieller Macht wie umgekehrt Ungerechtigkeit ein Phänomen instrumentalisierten Machtmissbrauchs ist.17 Diese Welt ist im Horizont des christlichen Glaubens eine Welt in der Wende, weder eine völlig korrupte, noch eine bereits erlöste Welt. Wie ist das im Horizont einer verantwortlich interpretierten, theologischen Rechtfertigungskonzeption zu verstehen? Und was bedeutet das aktuell für menschliches Tun und Lassen? Das ist im ersten Teil dieser Studie im Umriss zu skizzieren. Um kompakt zu bleiben und evangelischer Überzeugung zu folgen, geschieht dies in einer Konzentration auf biblische Texte, deren Relevanz für aktuelle Probleme immer zugleich pointiert herausgestellt wird. Dieser Skizze folgt dann eine Analyse aktueller philosophischer Gerechtigkeitskonzepte, mit denen theologisch ins Gespräch zu kommen ist. Denn es lassen sich bemerkenswerte Strukturanalogien zwischen einer philosophischen, nicht schon gleich christlich ambitionierten, Beschreibung der Herausforderungen Internationaler Gerechtigkeit einerseits und einer christlich-theologischen Beschreibung dieser Herausforderung andererseits identifizieren. Die theologische und philosophische Arbeit am „Begriff“ kann sich hier wechselseitig anregen und erhellen. So können die folgenden Ausführungen zu einer Leitlinie werden, die Orientierungsmarken für die Sachanalyse verschiedener Handlungsfelder Internationaler Gerechtigkeit formulieren hilft. Denn diese Studie ist in der Überzeugung geschrieben, dass eine Sorge um Gerechtigkeit in dem eingangs angesprochenen Sinn auch jenseits nationaler Ebenen möglich und gefordert ist. Für diese These werden die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einen belastbaren Beitrag liefern. Grundsätzlich hat sich auch die Kirche in diesem Zusammenhang mit der Macht der Bitte und des Appells zu Wort zu melden. Das umfasst vor allem eine theologische Aufklärung über Lebensperspektiven, die in Verantwortung vor Gott zu gestalten sind. Vorausgeschickt werden soll eine präzise Ausarbeitung der aktuellen Rahmenbedingungen unseres Nachdenkens über Gerechtigkeit, die anschließend in einer extensiven Analyse der einzelnen Handlungsfelder aufgefächert wird. Denn Gerechtigkeitskonzepte fallen ebenso wenig vom Himmel, wie sie einfach durch die Systematisierung empirischen Materials ermittelt werden können. Letzteres ist nicht möglich, weil das Bestehende 17
Vgl. hierzu DIEFENBACHER, in diesem Band, S. 150 zu Mechanismen von struktureller Gewalt ungerechter Verhältnisse. Ferner WEINGARDT, in diesem Band, S. 282 zum Verhältnis der Menschenrechtserklärung und dem Gewaltphänomen.
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allein nicht Auskunft darüber zu geben vermag, wie es besser und anders gehen kann. Mit Recht hat Immanuel Kant darauf bestanden, „nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige (…) Praxis“ zu nennen, die „als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird“.18 Gerechtigkeit lässt sich nicht einfach heuristisch erheben. Wie es jedoch aus ökonomischen, rechtlichen und politischen Gründen dazu kommt, dass in bestimmten Konstellationen die Lebensverhältnisse das, sich ja offensichtlich schon jenseits von empirischer Einübung und kultureller Prägung sich meldende, Gerechtigkeitsempfinden weniger kränken als in anderen – dies zu wissen ist Bedingung, um eben jene Gerechtigkeitskonzepte zu entwickeln, die der Dynamik in sich vielfältiger – und d. h. eben auch biblischer – Gerechtigkeitskonzepte entsprechen. Wenn philosophische und theologische Überlegungen diese Studie eröffnen, so bedeutet das in keinem Fall, dass Spekulation und eine sich gegen die Empirie abschottende religiöse Apodiktik sich den Entwurf einer gerechten Welt erdichtet, um ihn anschließend ökonomisch, juristisch und politisch passend zu machen. Gegen diesen Verdacht spricht schon die Tatsache, dass die Gründungsurkunden des christlichen Glaubens selbst erfahrungsgesättigte Dokumente sind, in denen Geschichten erzählt und Lebenskonstellationen beschrieben werden, die von ökonomischen, politischen und juristischen Gestaltungsbemühungen mitbestimmt sind. Die Kritik eines Propheten Amos an den Lebensverhältnissen Altisraels ist immer auch ökonomisch orientiert.19 Die Kritik eines Jesaja geht auf Fehler in der internationalen Politik ein20. Quer durch die Schriften des Alten Testamentes ziehen sich Erwägungen zur Dimension Recht und Gerechtigkeit mit ihrem lebensgestaltenden Potential, deren Spuren sich auch in den neutestamentlichen Texten wieder finden. Sie „speichern“ also Lebenserfahrungen, die Menschen über Jahrhunderte hinweg mit gerechteren und ungerechteren Lebenskonstellationen gemacht haben. Diese Erfahrungen werden in der Überzeugung dokumentiert und gedeutet, dass Gott mit ihnen auf bisweilen schwer durchschaubare Weise Geschichte macht. Sie sind dadurch spezifisch religiöse Urkunden der Entwicklung eines Gerechtigkeitsverständnisses eigener Art. Nicht zuletzt deshalb haben die hier dokumentierten Gerechtigkeitsbestimmungen Deutungskraft auch für ein gegenwärtiges Fragen nach Gerechtigkeit im Horizont entgrenzter Ungleichheit in einer globalen Welt und den Erwägungen zum Thema Internationaler Gerechtigkeit. Auch die Philosophie bezieht sich, wie unschwer zu erkennen sein wird, auf ökonomische, rechtliche und politische Diskurse. Sie rezipiert diese und prägt sie systematisierend und orientierend. 18
Vgl. I. KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 201, in: I. KANT, Werke in 10 Bänden, hg. von W. WEISCHEDEL, Bd. 9, Darmstadt 51983, S. 127. 19 Vgl. Am 8,4: „Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet und sprecht: Wann will denn der Neumond ein Ende haben, dass wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dass wir Korn feilhalten können und das Maß verringern und den Preis steigern und die Waage fälschen ...“ Vgl. auch Jes 10,1f.: „Weh denen, die unrechte Gesetze machen, und den Schreibern, die unrechtes Urteil schreiben, um die Sache der Armen zu beugen und Gewalt zu üben am Recht der Elenden in meinem Volk, dass die Witwen ihr Raub und die Waisen ihre Beute werden!“ 20 Vgl. z. B. Jes. 31,1-3, wo der Pakt a Israels mit Ägypten kritisiert wird.
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Die interdisziplinäre Aufklärung über das, was Gerechtigkeit ausmachen könnte, muss also spiralförmig die Disziplinen durchlaufen und zu ihrer vorangehenden Problemstellung zurückkehren. Ein praxistaugliches Gerechtigkeitskonzept im globalen Horizont rechnet außerdem damit, dass in anderen Kulturen andere Konzepte von Gerechtigkeit bestimmend sein könnten. Ein kulturübergreifender Gerechtigkeitsbegriff dürfte nicht nur unrealistisch, sondern prinzipiell auch unmöglich sein.21 Solch ein Begriff könnte nur aus einer geschichtsphilosophisch begründeten Zentralperspektive heraus formuliert werden, deren letztgültige Form in der Philosophie Hegels gegeben ist, deren Prämisse – der enge Zusammenschluss von Logik und geschichtlicher Entwicklung – heute allerdings ihre Überzeugungskraft verloren hat. Statt dessen ist es möglich und gefordert, eigene kulturbedingte Gerechtigkeitskonzepte mit ihrem Wahrheitsanspruch so präzise und vernünftig wie möglich im Hinblick auf die Problemstellung Internationaler Gerechtigkeit zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen.22 Dieses Verfahren schließt als angestrebte Möglichkeit ein, gemeinsam Gerechtigkeitsmerkmale auszumachen, die möglichst viele, in bestimmten Fällen sogar alle Kulturen teilen.23 Eine solche Verständigung über Gerechtigkeitsmerkmale ist unter Beibehaltung kulturbedingter Perspektiven denkbar. Sie liegt in der Möglichkeit sprachlicher Dialoge überhaupt begründet. Es ist eine Forderung unserer Zeit, eine bestimmte immer auch kulturbedingte Perspektive gesprächsfähig für andere Perspektiven und praktisch belastbar zu entfalten. Sie ist daher auch eine der zentralen Absichten dieser Studie. Zunächst werden theologische Gerechtigkeitsperspektiven skizziert. Sie sind, wie ein Blick in offizielle Verlautbarungen der evangelischen Kirche in Deutschland zeigt, durchgängig Reflexionsbasis für kirchliches Handeln in nationalem und internationalem Kontext, die bei Übereinstimmung in einigen grundlegenden Charakteristika der Gerechtigkeitsbestimmung stark durch die jeweiligen gesellschaftlichen Provokationen mitgeprägt sind.24
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Vgl. zu den Schwierigkeiten schon im Blick auf bilaterale Verständigungen etwa: A. PINZAInteresse und Identität. Zur Grundlegung einer nicht-realistischen Theorie internationaler Verhandlungen am Beispiel des israelisch-palästinensischen Konflikts, in: J.-C. MERLE (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Global Justice, Stuttgart-Bad t Cannstatt 2005, S. 173–192, mit L. BACCELLI, Translating Human Rights. Universalism versus Inter-cultural Dialogue, in: J.-C. MERLE (Hg.), Globale Gerechtigkeit, aaO., S. 206–224. 22 Vgl. SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 81, der darauf besteht, „kulturbedingte Perspektiven füreinander gesprächsfähig zu entfalten“. 23 Vgl. hierzu etwa in diesem Band M. WEINGARDT, Religionsbasierte Akteure internationaler Gerechtigkeit, S. 282 und 285 mit Verweis auf philosophische Erwägungen von Otfried Höffe und Mitteilungen von HANS KÜNG, „Das Parlament der Weltreligionen. Erklärung zum Weltethos“ verweist. 24 Eine kritische Aufarbeitung der Gerechtigkeitsbestimmung ist in der Denkschriftenliteratur der evangelischen Kirche immer wieder unternommen worden. NI,
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II. Eine Skizze theologischer Gerechtigkeitsperspektiven
II.1 Gottes schöpferische Gerechtigkeit Gott wird schon im Alten Testament als eine Instanz begriffen, deren Gerechtigkeit eine richtende Gerechtigkeit ist, indem sie Leben aufrichtende Gerechtigkeit ist.25 Gott richtet, indem er unterscheidet und eindeutig urteilt, was Zukunft hat und was zerstört. Gottes Gerechtigkeit richtet Lebensverhältnisse neu aus und rettet. Jahwe ist derjenige, der den unschuldigen Gerechten aufrichtet (Ps. 7,12), das ist erklärtes Ziel seiner Gerechtigkeit. Gottes zurechtrückendes Handeln ist kreatives schöpferisches Handeln. Dieser Sachverhalt ist sofort für eine rechtliche, ökonomische und politische Beschäftigung mit Gerechtigkeit lehrreich. Gerechtigkeit ist eine Kraft, die nicht technokratisch umordnet. Gerechtigkeit erfindet neue Ordnungen. Ohne Gottes Phantasie ist Gerechtigkeit nicht denkbar. Gott, so beschreibt das Ps. 89,15-17, lässt seine Gerechtigkeit vom Himmel auf die Erde wie eine göttliche Vorgabe herabregnen. Ein entsprechendes menschliches Verhalten sei die fruchtbare Folge, denn Gerechtigkeit sprosst zugleich auf, wie es heißt.26 Damit wird folgender Überzeugung Ausdruck gegeben: Gott reagiert nicht auf gerechteres Verhalten mit Frieden und Gerechtigkeit. Vielmehr gehen sein Frieden und seine Gerechtigkeit voraus. Sie sind die fundamentalen Lebensbedingungen, mit denen er die Natur im doppelten Sinne gestaltet und erhält. Menschliches, zurechtgerücktes, gerechtes Verhalten – in Worten der alttestamentlichen Prophetie und des Predigers in der Wüste Johannes „Umkehr“27 und „Buße“28 – sind Folge der vorgängigen Gerechtigkeit Gottes.29 Menschen leben nicht nur im Blick auf Verfassungen von Voraussetzungen, die sie nicht selbst erzeugt haben.
II.2 Gerechtigkeit als Gefolgschafts- und Gemeinschaftstreue Es ist, um ein weiteres Moment theologischer Gerechtigkeitstheorie zu nennen, nicht die Gerechtigkeit integrer Individuen beeindruckend, die Gerechtigkeit landes- und dann weltweit durchzusetzen vermag. Es ist ein fatales Selbstmissverständnis der Moralphilosophen unseres Kulturkreises, wenn Individualität und Autonomie als Folgen eines eurozentrischen Weltbildes oder gar als Folgen der Aufklärung ins Feld geführt werden. 25
Vgl. hierzu die die Gerechtigkeit entfaltende Lebenskonzeption des Paulus in Röm 5-8. Dazu C. LANDMESSER, Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluss an Röm 5f., in: Leben I. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, hg. von P. BAHR u . S. SCHAEDE, Tübingen, erscheint 2009. 26 Vgl. hierzu K. KOCH, Sädaq und Ma’at, Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?, in: Gerechtigkeit, hg. von J. ASSMANN, B. JANOWSKI u. M. WELKER, München 1998, S. 59. 27 Vgl. zunächst negativ konstatierend Am 4,6-11 („dennoch bekehrt ihr euch nicht zu mir“) und Hos 11,1-11 mit Jer 3,1ff. 8,4-7, 14,2ff., 15,15ff., der zur Umkehr aufruft: bes. Jer. 3,14f. 28 Vgl. Mk 1,4. Das wird dann bei Mk. Programmatisch für die Quintessenz der Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus aufgenommen: Mk 1,15: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ 29 Vgl. etwa Jes. 1, 27f.: „Danach wird man dich nennen: Stadt der Gerechtigkeit, getreue Siedlung. Zion wird dann durch Rechtswahrung erlöst, und wer dort umkehrt, durch Gerechtigkeit.“ Vgl. KOCH, aaO., S. 59.
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Zwar ist wahr, dass Immanuel Kant Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“30 bestimmt hat. Die Ursachen der Unmündigkeit entdeckte Kant jedoch nicht in einer sozialen Vergemeinschaftung oder Vermassung, sondern allein in „Faulheit und Feigheit“ und der Bequemlichkeit, ein Buch statt meiner selbst für mich Verstand haben zu lassen.31 Autonomie jedoch war für ihn die Fähigkeit, in Freiheit sich seines Verstandes zu bedienen, um gemeinsam mit (allen) anderen Individuen – Kant redet hier immer wieder von der Menschheit – neue Anfänge zu setzen. Gerechtigkeit setzt neue Anfänge und sie setzt diese in gemeinsamem und gemeinsam abgestimmtem Handeln. Faszinierenderweise bestimmt diese Einsicht eben alttestamentliches Nachdenken über Gerechtigkeit. Zedakah, die hebräische Entsprechung für den Ausdruck Gerechtigkeit, ist mit Recht auf die beiden Ausdrücke der „Gefolgschaftstreue“ gegenüber verantwortlich Handelnden und Gott und der „Gemeinschaftstreue“ gebracht worden32. Personen handeln im Kontext mit anderen Personen so, dass sie sich den gegenwärtigen und zu erwartenden zukünftigen Lebensbedingungen und der Lebenssituation entsprechend verhalten. Das ist mühsam. Und es ist, unter jeweils immer neuen Lebensbedingungen, eine Herausforderung herauszufinden, wie das gehen kann. Ein solches Gerechtigkeitskonzept erschöpft sich nicht allein in der Verteilung und im Ausgleich von materiell bestimmbaren Gütern. Das bedeutet auch, dass das Verhalten des Einzelnen und der interaktive Handlungszusammenhang der Gesellschaft wechselseitig ineinander greifen. Man hat das auf den Begriff der „konnektiven Gerechtigkeit“33 gebracht. Sie hat zur Folge, dass der „Fluch der bösen Tat“ den Täter einholt. Die so genannte „Krise der alttestamentlichen Weisheit“, die einsehen muss, dass es ungerechten mitunter sehr viel besser geht als gerechten Menschen – und das nicht nur vorübergehend, hat allerdings schon offen gelegt, dass dies bereits in überschaubaren Lebenszusammenhängen nicht mehr zutrifft. Die natürliche Regulierung durch freie Handlungszusammenhänge sorgt als solche nicht bereits für gerechte Verhältnisse. Entsprechend groß ist immer schon die Flut prophetischer Klagen gewesen. Anklagen und Drohworte im Namen Gottes werden um das 8. Jahrhundert vor Christus laut und verstummen seither nicht mehr. Sie werden, nach den schroff vernichtenden Urteilen eines Amos, der für das Volk Gottes angesichts der ungerechten Lebensverhältnisse als politischer Größe keine Zukunft mehr sieht, alsbald mit Verheißungen verknüpft. Die Lebensverhältnisse sind unangemessen, aberr die Möglichkeit zu einem „gemeinschaftstreuen Verhalten und damit gelingenden Leben“ wird den Menschen „für die Zukunft geweissagt“.34 Ihr könnt gerecht sein, also seid es auch! Diese sich entwickelnden gerechten Lebensverhältnisse stehen in der Verheißung, erneut durch Gottes gerechtes stabilisierendes Verhalten verstärkt zu werden. Es ist ein positiver Lebenskreislauf der Gerechtigkeit. 30 Vgl. I. KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, A 481, in: I. KANT, Werke in 10 Bänden, hg. von W. WEISCHEDEL, Bd. 9, Darmstadt 51983, S. 53. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. KOCH, aaO., S. 51 mit S. 53. 33 Vgl. B. JANOWSKI, Die Tat kehrt zum Täter zurück, ZThK 91 (1994), S. 247–271. 34 Vgl. KOCH, aaO., S. 59.
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II.3 Die Entwicklungsdynamik der Gerechtigkeit Entscheidend ist, dass dabei Gerechtigkeit Lebensgewinn für alle bedeutet, und zwar keinen optimierten allein den Durchschnitt betrachtenden Lebensgewinn. Das Alte Testament kennt keinen durchschnittlichen Menschen und das Neue Testament denkt darüber nicht anders. Es gibt ihn nicht und man sollte es tunlichst lassen, die gerechten Verhältnisse an jemandem zu orientieren, den es nicht gibt. Das ist das eine. Das andere und entscheidende ist, dass Gerechtigkeit einen Entwicklungsprozess35 und nicht abgeschlossene, mit dem Bild etwa der Gerechtigkeitswaage nahe gelegte, austarierte Verhältnisse beschreiben kann. Gerechtigkeit ist kein durch Ausgewogenheit stabilisierter Zustand, sondern eine Bewegung. Wo Lebensverhältnisse Veränderungen und Entwicklung entbehren, wo sie sich ohne eine dynamische Ordnung gestalten, fehlt Gerechtigkeit im Sinne des Alten Testamentes. Damit ist nicht schon einem ökonomischen System das Wort geredet, das auf die ununterbrochene Steigerung von Bruttosozialprodukten angewiesen ist. Entwicklung ist in dieser Perspektive vor allem ein Qualitätsbegriff, denn er steht und fällt nicht allein mit der Steigerung von Quantitäten. Über den Zusammenhang der Dynamik quantifizierender und qualitativer Analyse und Deutung von Störungen und Prozessen Internationaler Gerechtigkeit wird im Kontext der ökonomischen Handlungsfelder zu reflektieren sein.36
II.4 Sechs zentrale Momente alttestamentlicher Gerechtigkeitsvorstellungen Sechs zentrale Momente also prägen die alttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung. Sie ist erstens keine Strafgerechtigkeit und sie ist zweitens mehr als eine simple Verteilungsgerechtigkeit. Drittens ist sie eine komplexe Abstimmung eines Tuns und Lassens von Einzelnen und Gruppen innerhalb eines Gesamtgefüges und sie regelt sich viertens nicht durch natürlichen, freiheitlichen Austausch, sondern muss durch Appelle und gesellschaftlich kommunizierte Korrekturen37 gemeinsam gestaltet werden. Fünftens ist sie dynamische Entwicklung und setzt sechstens voraus, dass Gott gehandelt hat, handelt und handeln wird. Nun haben sich im Horizont des Alten Testamentes hier und jetzt die immer gerechteren Verhältnisse zunächst und wesentlich im Volk Israel zu realisieren. Das ist ein überschaubarer Handlungshorizont. Gerechte Lebensverhältnisse weltweit durchzusetzen zu wollen, gar von Menschenhand, ist hingegen ein Unternehmen, zu dem Menschen der Überblick fehlt. Entsprechend kühn ist die Universalisierung der Gerechtigkeit im Neuen Testament. Kühn ist sie nicht deshalb, weil von allen Menschen gegenüber allen Menschen Gerechtigkeit gefordert würde. Gerechtigkeit und Recht zu üben, dazu sind nach Auffassung der Proverbien alle Menschen gegenüber allen Mitmenschen verpflichtet.38 Die Kühnheit besteht darin, universale Gerechtigkeit in ganz spezifischer Weise als eine realistische und realisierbare Bestimmung zu behaupten. 35
Vgl. zum Entwicklungskonzept WEINGARDT, aaO., S. 285, 295 sowie in diesem Band U. RATSCH, Ressourcen – Entwicklung – Internationale Gerechtigkeit. 36 Vgl. die Beiträge von DIEFENBACHER, RATSCH und TEICHERT in diesem Band. 37 Darin besteht nach alttestamentlicher Auffassung einer der entscheidenden Funktionen des Rechts, ohne zugleich vom Recht die Durchsetzung gerechter Verhältnisse erwarten zu können. Vgl. g zu Leistung und Grenzen des Rechts überhaupt auch SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 73f. 38 Vgl. Prov. 1,2; 2,9; 8,20; 21,3.
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II.5 Gottes weltumfassende versöhnende Gerechtigkeit Im Horizont neutestamentlicher Texte gilt: Wer Gerechtigkeit denkt, hat sie auch global zu denken, oder er hat noch nicht über Gerechtigkeit nachgedacht. Dieser Anspruch kumuliert in der Taufszene Jesu. Der Täuferr meint, eher von ihm getauft werden zu müssen als Jesus zu taufen. Jesus entgegnet ihm: „Laß es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (Mt. 3,15). Begreift man die Taufe als Bestätigung eines Einsetzungsaktes, so ist sie genauer die Einsetzung zur Realisierung allerr Gerechtigkeit durch die und in der Person des Jesus von Nazareth. Er wird als „der Gerechte“ verstanden (Lk 1,6). Im Tun, Lassen und Erleiden des Jesus von Nazareth, in dem, was er sagt, wie er sich verhält, wie er für andere eintritt und wie er zur Nachfolge aufruft, sind alle Möglichkeiten von Gott zur Verfügung gestellt, gerecht zu werden. 39 Es wird hier eine entscheidende Zeitstruktur für die Gerechtigkeitsbestimmung offen gelegt. Gott hat Menschen in der Vergangenheit mit sich und sie selbst untereinander versöhnt (2. Kor 5,18-22). Er erwartet von ihnen, dass sie dieser Versöhnung entsprechend ihr Leben gestalten (2. Kor 6,1f.). Und er stellt ihnen ein von der Unvollkommenheit dieser Welt befreites, erlöstes, durchweg von Gerechtigkeit bestimmtes Leben in Aussicht.
II.6 Die Zeitstruktur von Gerechtigkeit im Kontext einer Güterordnung Diese Zeitstruktur der Gerechtigkeit ist von hoher Bedeutung. Sie ist eingebunden in ein komplexes Beziehungsgefüge von „Gütern“. Was gerecht ist, kann nicht begriffen werden, wenn Menschen rein gegenwartsbezogen handeln und argumentieren. Es kann auch nicht begriffen werden, wenn es ausschließlich von den Parametern einer mitunter sehr ungerechten Vergangenheit bestimmt ist. Und es kann schließlich nicht begriffen werden, wenn es sich geschichtsvergessen allein an Zukunftsaussichten orientiert, in denen die Herkunft der bestehenden Lebensverhältnisse verdrängt wird.40 Gerechtigkeitskonzeptionen müssen alle drei Zeitmodi in nachvollziehbarer, intelligenter Weise miteinander verschränken. Das ist für die Bearbeitung aktueller Gerechtigkeitsfragen auf internationalem Parkett keine Nebensächlichkeit. Weder allein die Parameter einer ungerechten Vergangenheit, noch die Gepflogenheiten des status quo, noch Zukunftsutopien sind je für sich genommen Orientierungsmarken für ein Gerechtigkeitskonzept. Die neutestamentlichen Texte raten, den vergangenen Lebenskonstellationen ohne jedes Wenn und Aber ins Auge zu blicken. Denn Gerechtigkeit ist eine Freundin der Wahrheitt (vgl. Röm 1,18). Sie ist auf ein Verhalten aus, das den Nächsten, den Nachbarn nicht schädigt und wahr ist.41 Präzise ist es die sich im Leben und Sterben der Person des Jesus von Nazareth zeigende Wahrheit, die frei macht (vgl. Joh 8,32). 39
Allein schon aufgrund dieser Setzung ist es völlig unmöglich, wie Strecker, den „Gabecharakter“ der Gerechtigkeit zu bestreiten und in ihr allein eine „ethische Haltung der Jünger“ zu entdecken. Vgl. G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit, Göttingen 31971. 40 Vgl. zur Zukunftsausrichtung der Gerechtigkeit: W. HUBER, Recht und Gerechtigkeit, Gütersloh 1996, S. 167–171. 41 So wurde Gerechtigkeit schon in Ägypten gefasst. Vgl. M. LICHTHEIM, Maat in Egyptian Autobiographies and Related Studies, Freiburg/Schw. 1992, S. 90.
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Wie ist das im Horizont der Gerechtigkeit zu verstehen? Vergangene Lebensverhältnisse legen Personen und Gesellschaften nicht in der Weise eines, individuell und plural, schlechten Gewissens so fest, dass diese Vergangenheit zukünftige Relationen zwischen Menschen zu bestimmen hat. Es geht um eine Gewissensbildung, die für Unrecht sensibilisiert – eine Schulung mit dem Ziel, nicht ein chronisch schlechtes Gewissen, sondern ein zu gerechterem Handeln befreites Gewissen zu bilden. Der christliche Glaube zehrt hier von der Wahrheit, dass Menschen bei Gott sich von ihrer Vergangenheit unterscheiden dürfen, insofern sie in der Vergangenheit scheiterten, schuldig wurden, sich selbst also verfehlten und so weder Gott, der eigenen Person noch anderen und anderem gerecht wurden. Deshalb fordert die Gerechtigkeit als versöhnende Gerechtigkeit dazu auf, die Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Vergebung zu lesen. Dadurch ist die Gegenwart im Horizont der Gerechtigkeit als eine solche bestimmt, in der Menschen Frieden jetzt bei Gott haben (Röm 5,1).42 Und dieser Friede eröffnet ihnen die Möglichkeit, für eine neue Zukunft zu leben, in der „Frieden und Gerechtigkeit sich küssen“ (Ps. 85,11). Verabsolutierte Anklagen und verleugnete Schuld werden Gerechtigkeitsprozesse zerstören. Umgekehrt werden ideale, als pure Zukunftsvisionen der Politik unterbreitete Gerechtigkeitsmodelle ohne Einbindung in Geschichtsprozesse zu nichts führen. Sie müssen sich an der Tugend der Klugheitt messen lassen, die als „Gebärerin“ realer Gerechtigkeit43 danach fragt, auf welchem Weg ein angestrebtes Ziel denn erreicht werden soll. Sozusagen kopfüber, ohne historischen Sinn und Verstand in das Beschließen und Tun des Gerechten hineinzuspringen – ein solches Verhalten hat die Theologie immer wieder als Unbesonnenheit kritisiert.44 Der Weg selbst hat gerecht zu sein, niemals darf der Zweck fragwürdige Mittel heiligen.45 Die teleologische Struktur der christlichen Gerechtigkeitsbestimmung muss daher unablässig mit utilitaristischen Gerechtigkeitskonzepten streiten.46 Dabei geht Geduldd als langer Atem gerechter Leidenschaft nicht nur beim Apostel Paulus (Röm 5,347), sondern auch bei der Geschichte in die Schule. Geschichtliche Konstellationen sind allein schon aus dem Grund zur Kenntnis zu nehmen, um das Scheitern bestimmter Gerechtigkeitsmodelle beziehungsweise das Schei42
Vgl. hierzu WEINGARDT, aaO., S. 280 und 286, wo auf die politische Wirksamkeit der Befreiungstheologie aufmerksam gemacht wird, sowie den Beitrag in diesem Band von M. EMPELL, Das Ziel der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts, S. 189–205. 43 Vgl. THOMAS VON AQUIN, Sentenzenkommentar 3, d.33, 2, 5. 44 Vgl. THOMAS VON AQUIN, De veritate, 14, 5, ad. 2. 45 Vielleicht liegt auch darin einer der tieferen Sinnmomente einer immer auch auf die prozedurale Komponente des Rechts setzenden Gerechtigkeitskonzeption. Vgl. SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 79. 46 Vgl. hierzu J. NIDA-RÜMELIN, Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart 22005. 47 Die von Paulus aufgestellte Reihung von Haltungen in Röm 5 ist als „Verhaltensstrategie“ hochaktuell. „Bedrängnis“, eine ungerechte Situation, Geduld, die weiß, dass sich Richtiges und Gerechteres in der Regel nicht sofort und auf der Stelle durchsetzen lässt. Geduld provoziert „Bewährung“, also eine ebenso leidenschaftlich wie besonnene Härtung innerer Überzeugungen und dem zivilcouragierten Eintreten dafür. Bewährung provoziert Hoffnung, also die Überzeugung, dass Menschen nicht das Recht haben, von ihren Zukunftsperspektiven zu behaupten, es sei endgültig aller Tage Abend. Hoffnung lässt nicht zuschanden werden!
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tern einer naiven Applikation unterkomplexer Gerechtigkeitsbegriffe besser zu verstehen. Das verhindert, die Fehler der Vorfahren geradewegs noch einmal zu machen. Eine schlichte Applikation vergangener Konzepte auf die Zukunft hat in theologischer Hinsicht keine Zukunft. Für die Zukunft im Sinne einer Generationengerechtigkeitt48 Verantwortung zu übernehmen ist die der christlichen Gerechtigkeitsvorstellung fest eingeschriebene Struktur nachhaltigen Handelns.49 Zu dieser Verantwortung gehört die Bereitschaft zum Verzicht. Verzicht ist etwas anderes als Verlust. Verluste tun weh. Verzicht dagegen kann heilsam sein. Verzichtt durchzusetzen ist allerdings ein hartes politisches Geschäft. Internationale Abkommen, die für gerechtere Lebensverhältnisse eintreten werden gerne unterzeichnet. Bei der Umsetzung entstehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Das ist in theologischer Perspektive noch lange kein Grund, nicht auf solche Abkommen zu setzen.50 Theologie hat immer wieder auf die Kraft des Wortes gesetzt.51
II.7 Gerechtigkeit und neues Leben Gerecht wird niemand durch menschliches Tun und Lassen. Gerecht werden, das ist, wie schon im Alten Testament behauptet, zugleich ein Schöpfungsakt Gottes (das Neue Testament redet hier ausdrücklich von Neuschöpfung, 2. Kor 5,17), und ein Gestaltungsauftrag an Menschen, ihr Leben immer wieder neu zu regeln. Man muss hier dreierlei unterscheiden: Zum ersten ist Gerechtigkeit durch Gott in Jesus Christus realisiert und insofern kein utopisches Konzept. Sie hat ihren Ort in dieser Person und ist zur Stelle. Zweitens wird im Kontext dieser Gerechtigkeitsbestimmung das Moment der Lebensdynamik des alttestamentlichen Gerechtigkeitsverständnisses aufgenommen. Gerechtigkeit ist nicht als gefügte Ordnung zu begreifen, sondern als Entwicklung. Sie ist dabei Entwicklung auf ein Ziel hin, das unter den Bedingungen dieser endlichen Welt noch nicht möglich ist, zu dem aber die endlichen Lebensverhältnisse eine immer überzeugendere Entsprechung bilden können. Dieses Ziel selbst ist eine dritte Gerechtigkeitsbestimmung, die in der Rede vom „Reich Gottes“ zu greifen ist. Das Reich Gottes ist die Realisierung einer durchweg gerechten Welt. Von ihr kann nur in Gleichnissen die Rede sein, aber genau hier kommt sie zum Ausdruck. Sie ist insofern, und nur insofern noch eine Utopie, als sie noch nicht realisiert ist. Sie wird jedoch – unter allerdings anderen von Gott in Aussicht gestellten Lebensbedingungen realisiert werden. Im Blick auf diese drei Bestimmungsmomente der Gerechtigkeit gibt es vor allem im Blick auf das zweite und dritte Moment fatale Missverständnisse. Eine Institution oder ein Volk oder eine Welt, die meint, Gerechtigkeit im Sinne des dritten Momentes selbst durchsetzen zu können, verwechselt sich mit Gott. Dies zählt nach christlicher und jüdischer Auffassung zu den verheerenden Selbstmissverständnissen. Eine Welt, die das Reich Gottes Reich Gottes sein lässt und nicht mit dem Kommen dieser Weltverhältnis48
Vgl. zur Generationengerechtigkeit SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 78. Vgl. die im Blick auf die Verschuldungskrise im Geiste des Nachhaltigkeitskonzeptes entwickelten Lösungsvorschläge von DIEFENBACHER, aaO., S. 152–157. 50 Vgl. EMPELL, in diesem Band, S. 204f. 51 Vgl. zur Wirksamkeit theologischer bzw. politischer Stellungnahmen religiöser Akteure WEINGARDT, aaO., S. 279f., 285 und 295f. 49
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se allein durch Gott rechnet und sich von diesen ganz anderen Weltverhältnissen produktiv für eine gerechtere Gestaltung einer unvollkommenen Welt herausfordern lässt, verweigert den von Gott in die Welt gesetzten Möglichkeiten zum Neuanfang ihr Recht und ignoriert Gerechtigkeit im Sinne des oben genannten zweiten Momentes. Dies zählt zu den verheerenden Missverständnissen der Welt über sich selbst, die sie in freier Kontingenz ins Elend taumeln lässt. Anders formuliert: Menschen leben unter den Bedingungen der Endlichkeit dieser Welt in einer versöhnten aber noch nicht erlösten Welt. Jede Gerechtigkeitsvorstellung, die behauptet, die Lösung eines globalen Ungerechtigkeitproblems bereitstellen zu können, gerät in dieser Perspektive unter den Verdacht, nicht bloß von der Versöhnung leben zu wollen, sondern selbst erlösen zu können. Jede Gerechtigkeitsvorstellung hingegen, in der die Sorge für gerechtere Verhältnisse bestritten wird, ignoriert die Kraft versöhnter und versöhnender Gerechtigkeit. Menschen können zwar immer nur für ein „mehr“ an Gerechtigkeit eintreten. Dafür aber müssen und dürfen sie eintreten (Mt 5,20), dazu sind sie befreit. Im Neuen Testament hat die versöhnende Gerechtigkeit ihr Maß nicht allein im Vergleich und nicht in der Verteilung52, auch wenn unbestritten bleibt, das unter Geschöpfen immer auch verteilt und ausgeglichen werden muss. Sie hat ihren Grund in der Liebe zum „Nächsten“ und in der Liebe zu Gott. Der Nächste wurde bereits in der deuteronomischen Gesetzgebung als „Bruder“ bestimmt, d. h. ein familiäres Ethos wurde auf die Nachbarn ausgeweitet (vgl. Dtn 15,2). Jesus universalisiert dieses Ethos, denn nach seiner Lehre kann prinzipiell jeder Mensch zum Nächsten werden, der einem, egal wo, begegnet (Lk 10,25-37). Die Liebe, als Gerechtigkeit bewirkende Lebenskraft, wird dabei als Achtung vor dem Nächsten verstanden. Sie gewinnt ihre Kraft dadurch, dass Menschen begreifen, dass sie von Gott geliebt sind (vgl. Joh 13,34f.). Gottesliebe provoziert Nächstenliebe. Der Ruf nach mehr Gerechtigkeit resultiert hier nicht aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Vielmehr gewinnt ein Mensch aus der Einsicht, von Gott längst gerecht behandelt worden zu sein, die Energie, auch andere gerechter zu behandeln.
II.8 Biblische Gerechtigkeitskonzepte und disziplinärer Sachverstand Am Ende dieser Skizze christlicher Gerechtigkeitsbestimmungen muss eine Warnung stehen. Wie sich das in den biblischen Texten beschriebene neue Leben im Blick auf Gerechtigkeit jeweils realisieren lässt, dazu schweigen die neutestamentlichen Quellen. Es wäre eine unsachgemäße Fehldeutung dieser Texte, ihnen unmittelbar ökonomische, politische oder rechtliche Handlungsanweisungen entnehmen zu wollen. Die Situation in den urchristlichen Gemeinden war nicht eben dazu angetan, sich über soziale, ökonomische und rechtliche Fragen internationaler Reichweite den Kopf zu zerbrechen. Man erwartete das Kommen des Herrn allzu bald und sorgte sich nicht um die Strukturen dieser Welt. Zudem gab es angesichts der gesellschaftlichen Randstellung der Gemeinden auch keine Perspektiven einer wirkungsvollen politischen Einflussnahme. 52 Vgl. zu den Problemen und Notwendigkeit von Verteilungsgerechtigkeit SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 86f.
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Allerdings sind die Gerechtigkeitsbestimmungen der neutestamentlichen Texte auch nicht bloß religiöse Lyrik, die für ethische, rechtliche und ökonomische Gerechtigkeitskonzeptionen ohne Belang wäre. Vielmehr entlassen die neutestamentlichen Texte ihre Leser und somit gerade Christen mit einer klar strukturierten Agenda, in der die Gerechtigkeit im Kontext von Zeitbezügen und Grundbestimmungen (z. B. Friede, Freiheit, Wahrheit, Liebe) sowie den Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten ihren Platz zugewiesen bekommt. Eine Antwort auf die Frage, wie sich aus ethischen Gerechtigkeitsüberzeugungen präzise Recht und Ökonomie gestalten lassen, ist Aufgabe eines weiteren Reflexionsganges. Das ist kein Mangel, sondern eine Aufforderung an christlich ambitionierte Bürgerinnen und Bürger, mit ihren ökonomischen, rechtlichen und politischen Talenten zu wuchern. Diese Talente sind die von Gott den Menschen in ihrem Zusammenleben anvertrauten Charismen; sie sind nicht nur im Gemeindeleben (1. Kor 12,1-11), sondern zum Wohl von Lebenszusammenhängen einzusetzen. Überhaupt ist Gerechtigkeit in den Zusammenhang anderer Bestimmungen – Freiheit, Friede, Geduld, Klugheit, Augenmaß – und im christlichen Horizont in den Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Liebe einzustellen und mit systematischer Stringenz zu integrieren. Das hatten mittelalterliche Sitten- und Rechtslehren bereits realisiert und entsprechend komplexe Theorien vorgeführt. Auch wenn diese, angesichts divergierender politischer, rechtlicher und ökonomischer Konstellationen, heute nicht zu übernehmen sind, so kann doch eine aktuelle Gerechtigkeitskonzeption hinter die in ihnen formulierten grundlegenden Einsichten nicht zurückfallen. Die christliche Theologie hat von ihren Ursprüngen an Gerechtigkeitsvorstellungen adaptiert und integriert und um Rechtsentwicklungen und ökonomische Neuerungen hat sie dabei keinen Bogen gemacht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch wer mit Gott rechnet, muss mitunter dennoch selber rechnen können, zum Wohle seines Nächsten. Doppelte Buchführung ist nicht vom Teufel. Kapital wächst, auch wenn das Zinsverbot in den biblischen Texten ausgesprochen wurde. Die Frage ist dann nur: cui bono. Johannes Calvin hat nicht zuletzt deswegen die biblische These des strikten Zinsverbotes zurückgewiesen. Die aristotelische Behauptung, dass Geld seiner Natur nach unfruchtbar sei, hat er eine frivole und infantile Argumentation genannt.53 Calvin sah deutlich, dass eine gerechte Verteilung vorhandener Güter nicht ausgereicht hätte, um den Bewohnern von Genf deren Dasein zu sichern. Kredite, die Kreditgeber Gewinn in Aussicht stellen gehen also in einem Gewinnstreben auf Erden aus theologischer Perspektive durchaus in Ordnung. Sie müssen allerdings auch dem Kreditnehmer zum Besten dienen, also etwa im Sinne eines „positiven Schuldenzyklus“54 konzipiert sein. Wirtschafts- und Rechtsverfahren sind leistungsfähig, aber sie sind oft wertethisch ambivalent.55 Die theologische Reflexion kann dazu beitragen, sie intelligent und nicht wertevergessen zu gestalten. Sie kann das seriös nur tun, wenn sie den Kontext der Debatte um Internationale Gerechtigkeit zur Kenntnis nimmt und sich in diese ebenso kritisch wie konstruktiv einmischt. 53 Vgl. J. CALVIN, Sermons sur le Deuteronome, XXIII, V. 18-20, Corpus Reformatorum LVI, Sp. p 118f. 54 Vgl. DIEFENBACHER, aaO., S. 149. 55 Vgl. TEICHERT, aaO. zur wertethischen Ambivalenz der Globalisierung.
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III. Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit ist – ob eher von der juristischen oder ethischen Erwägungen geleitet56 – von dem Bemühen gekennzeichnet, einem für viele Menschen unerträglichen Zustand ein wirkungsvolles Modell des gerechten Lebens entgegenzusetzen. Hier geht es um das Bild einer Welt, nicht wie sie ist, sondern wie sie unseren Vorstellungen nach sein sollte. Inter-national ist das Denken einer gerechten Welt, insofern es an den bestehenden Machtstrukturen souveräner Staaten und ihrer Verknüpfung zu einer Völkergemeinschaft festhält, die sich im Völkerrecht rechtliche Regeln des Handelns gibt. Diese haben gegenüber nationalem Recht einen Verbindlichkeitsstatus anderer Art: da es an einem Souverän fehlt, können keine Sanktionen vergleichbarer Art bei Rechtsbruch verhängt werden. Zugleich unternimmt internationales Rechtsdenken den Versuch, den Bereich der Fernwirkung ökonomischen, politischen und sozialen Handelns denselben moralischen Standards anzupassen, die Beziehungen zu einem „Nächsten“ innerhalb von Staatsgebieten angelegt werden. Daher dominiert in den Debatten über Internationale Gerechtigkeit die Frage, wie ein gerechtes Leben zwischen Völkern und Staaten, zwischen Individuen weltweit in einer Weise möglich ist, wie es sich vergleichsweise innerhalb moderner, kulturell abendländisch geprägter Gesellschaften bereits etabliert hat. Zwei Merkmale kennzeichnen diese Diskussion. Zum einen soll ein internationaler Gerechtigkeitsstandard geprägt werden, der sich am Modell der Menschenrechte und damit an einem bestimmten kulturellen Werthorizont orientiert; zum anderen sollen ökonomische, politische und soziale Wirkungsverhältnisse nicht nur mit moralischen Handlungsregeln überformt, sondern im internationalen Zusammenhang rechtsförmig gestaltet werden. Die zunehmende Verrechtlichung des internationalen Handlungsfeldes soll eine Gerechtigkeitslücke schließen, und zwar entweder auf dem Wege der Moralisierung und der rechtlichen Normierung der Handlungsregeln oder, wie die abendländische Geschichte der Frühen Neuzeit zeigt, auf dem Umweg über eine Monopolisierung der Gewalt und eine Disziplinierung der handelnden Akteure.
III.1 Der Kontext der philosophischen Debatte Der klassischen Gerechtigkeitsdebatte war der Begriff der Internationalen Gerechtigkeit fremd. Sie sprach von natürlicher und ziviler Gerechtigkeit. In aristotelischer Tradition gilt die Vorstellung, dass jede natürliche Lebensgemeinschaft und politische Gemeinschaft, von der Familie bis zur Polis, ihre eigenen Gerechtigkeitsstandards haben, Standards, die auseinander entstehen und aufeinander abzustimmen sind. Als Richtlinie dieser Abstimmung gilt zumeist ein Hinweis auf die „Natur der Sache“. Da jedes Ding 56
Vgl. K.G. BALLESTREM (Hg.), Internationale Gerechtigkeit, Opladen 2001. J.-C. MERLE (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Global Justice, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005 . Die Differenz zwischen der Verwendung der Konzepte internationaler und globaler Gerechtigkeit hängt an der Frage, ob man die völkerrechtlichen Instrumentarien internationaler Politik als Wegmarken einer gerechten Weltordnung oder bloße Mittel zum Zweck einer anderen Ordnung der Weltpolitik betrachtet. In der folgenden Darstellung wird, wie auch zuvor, aus systematischen wie auch strategischen Gründen am Begriff der Internationalen Gerechtigkeit festgehalten.
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in einer natürlichen Ordnung der Dinge und auch jeder Mensch innerhalb einer sozialen Ordnung gemäß Natur und Herkunft seinen Ort hat, üben Menschen Gerechtigkeit, insofern sie den Dingen einen gerechten Preis im Tausch beimessen und den Menschen ihren Wert in der sozialen Interaktion zusprechen. Jenseits der Sozialgemeinschaft endet dieser Bereich natürlicher Beziehungen, hier grenzt das Fremde, Außermenschliche, auch Feindliche an.57 Diese Abgrenzung einer Gemeinschaftsethik von einer anethischen Sphäre jenseits der jeweiligen Gemeinschaft, d. h. einer Sphäre, in der das Handeln nicht normiert ist, konnte über Jahrhunderte aufrechterhalten werden, solange die Gemeinschaften, Kulturen, Lebensformen ohne große Berührungspunkte nebeneinander – in friedlicher Koexistenz oder offener Feindschaft – unter maximaler Ausschöpfung der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen leben konnten.58 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die antike Sklavenwirtschaft kaum von den frühneuzeitlichen Kolonialmächten und von modernen imperialen Gewalten, die im Kampf um die natürlichen Ressourcen – menschliche Arbeitskraft, Rohstoffe, Wasser usw. – durchgehend eine Ordnung moralischer Handlungsregeln vermissen lassen. Dem steht seit den Anfängen politischer Gemeinschaftsbildung als ein hörbares Korrektiv, das aber politisch und rechtlich nicht eine entsprechende Ausformung erfuhr, die artikulierte Sehnsucht nach einer Überwindung der Feindschaft oder gar einer Aufhebung der sozialen, religiösen, politischen und kulturellen Grenzen gegenüber – für das Christentum wurde das bereits in Abschnitt 2 herausgestellt. Aber auch die Stoa, und der aus griechischer Philosophie und christlichen Quellen schöpfende Humanismus des 16. Jahrhunderts wie auch der Sozialismus des 19. Jahrhunderts sind hier zu nennen. Das Gegenbild zur natürlichen, auf ihren partikularen Grenzen beharrenden Gerechtigkeit ist das einer universalen Gerechtigkeit, die alle Begrenzungen aufhebt und die Verheißung einer gerechten Welt erfüllt. Philosophen haben sich immer schon, wenn auch nicht ausschließlich, der Frage zugewendet, wie die Durchsetzbarkeit dieser Gerechtigkeitsvorstellung zu denken ist und welche Mittel vom Zweck ihrer Durchsetzung gerechtfertigt werden können.59 Man kann die politische Geschichte des Abendlandes bis ins letzte Jahrhundert hinein geradezu als eine Auseinandersetzung zwischen den partikularen Kräften eines politischen Aristotelismus und denjenigen eines universalistischen politischen Chiliasmus lesen, der nicht mit entsprechenden eschatologischen Konzepten der Theologien verwechselt werden darf. Insbesondere die letzte Phase unserer Geschichte zeigt, dass die Menschheit sich auf dem Weg von der Verheißung zur erzwungenen Erfüllung ihrer Idealbilder ihre eigenen Gespenster produziert hat. Diese Dialektik und mit ihr die Dis57
Vgl. J. RITTER, ›Naturrecht‹ bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, in: DERS., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1977, S. 133– 179. 58 Vgl. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von J.WINCKELMANN, Tübingen 51985, 2. Halbbd. Kap. VIII. Politische Gemeinschaften, S. 514– 540. 59 Vgl. neuerdings: O. HÖFFE, Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. In: H. KÖNIG, E. RICHTER, S. SCHIELKE (Hg.): Gerechtigkeit in Europa. Transnationale Dimensionen einer normativen Grundlage. Bielefeld 2008, S. 103–118.
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kreditierung sozialer, ökonomischer und politischer Ideale durch den Versuch ihrer gewaltsamen Verwirklichung ist eine bleibende Signatur der Moderne.60 Auf den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in den Arbeits- und Vernichtungslagern totalitärer Regime und angesichts der ethnisch motivierten Völkermorde am Rande Europas und auf anderen Kontinenten, auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist eine Fortschrittsgläubigkeit massiv in Frage gestellt worden, die seit dem 18. Jahrhundert ein Motor sozialer und kultureller Entwicklungen in Europa gewesen war. Im Innersten dieser Katastrophe öffnet sich eine erschreckende Diskrepanz zwischen den Idealen, an denen Menschen ihr Handeln orientieren, und den Realitäten, die sie durch ihr Handeln hervorbringen. Die Rede vom „age of extremes“ (Hobsbawm) bringt diesen Sachverhalt prägnant auf eine Formel.
III.2 Die Wiederentdeckung der „Mitte“ zwischen den Extremen Die Dialektik der Entzauberung solcher Ideale und geschichtlichen Zielperspektiven kann zwar in die zeitweilige Resignation führen. Sie kann aber auch eine Wiederentdeckung der Mitte provozieren, das heißt der vorletzten Ziele, des mittleren Maßes und der angemessenen Mittel-Ziel-Relation. Eine solche Entwicklung könnte Hannah Arendts Behauptung bestätigen, dass auch die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte lehrreich sind.61 Für das Thema der Internationalen Gerechtigkeit heißt das: Es stehen sich die Positionen einer natürlichen, aristotelisch geprägten und einer künstlichen, more geometrico entworfenen Gerechtigkeitskonzeption gegenüber. Erstere basiert auf partikularen und beharrenden Kräften, letztere leitet über zu den universalen und dynamischen Kräften der Aufklärungs- und Revolutionszeit. Im 20. Jahrhundert bietet sich, im Angesicht der extremen Erfahrungen, nicht mehr ein schlichter Rückgriff auf die eine oder andere Konzeption an, sondern vielmehr und mit guten Gründen die Entdeckung einer Zwischenposition, deren pragmatische Dimension auszubauen und zu stärken ist. Diese kommt den oben skizzierten Bestimmungen einer christlichen, versöhnenden Gerechtigkeit entgegen, die einem Komparativ, aber nicht Superlativ menschlicher Gerechtigkeit das Wort redet. Am Ausgang des gewaltsamen 20. Jahrhunderts und im Angesicht sich ankündigender neuer ethnischer und sozialer Konflikte um enge Lebensräume und knappe Ressourcen sowie wegen inakzeptabler Bedingungen der Lebensfristung wird dieser Aspekt eine zentrale Bedeutung für das Thema Internationale Gerechtigkeit erlangen.
III.3 Der Horizont der Globalisierung Die Debatte über Internationale Gerechtigkeit resultiert nicht einfach aus den Lehren der sozialen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie hat zusätzlich ein normatives Gerüst in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. De60
Vgl. I. BERLIN, The Decline of Utopian Ideas in the West, in: DERS., The crooked timber of Humanity. Chapters in the History of Ideas; Princeton 1990, S. 20–48. 61 Vgl. H. ARENDT, Men in Dark Times, New York 1968. Produktiv wird diese Wiederentdeckung der Mitte als Bestimmung des kulturellen Menschseins von ihr entwickelt in der Studie The Human Condition. Chicago 1958.
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zember 1948 erhalten.62 Auch diese Erklärung rechtfertigt sich zwar rückblickend aus den „Akten der Barbarei“, die infolge einer Verachtung der Menschenrechte ausgelöst wurden; vorausblickend erhebt sie jedoch den Anspruch, auf eine universale Anerkennung der Würde und der unveräußerlichen Rechte hinzuwirken, die für jeden Menschen die Grundlage seiner Freiheit, aber auch der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden. Auf diesem Weg ist die Herrschaft des Rechts, ausgeübt von den Völkern und Nationen, das notwendige Mittel zu einem höheren Zweck. Die Instrumente souveräner staatlicher Gewalt bleiben gerechtfertigt, da sich der Zweck einer Entwicklung der Menschheit nicht aus eigener Kraft erfüllt. Es bedarf „fortschreitender nationaler und internationaler Maßnahmen“, um die Achtung der Menschen füreinander, die Entstehung gerechter Lebensverhältnisse und damit zuletzt den Weltfrieden zu befördern. So weit die Präambel der Menschenrechtserklärung von 1948, in der die Grundsätze Internationaler Gerechtigkeit verbrieft sind. Skeptische Einwände heben hervor, dass das Völkerrecht als „ein Recht der Staaten“ den Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg auch nach 1945 nicht konsequent vollzogen hat. Zwar impliziert die Erklärung von 1948 das Versprechen, „das Völkerrecht werde sich von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Menschheit wandeln“,63 es bleibt dabei jedoch faktisch auf halbem Weg stehen. So ist es keineswegs zu einem Recht aller Menschen als Rechtsindividuen, unabhängig von staatlicher Zugehörigkeit geworden. Dadurch ist bis heute ein effektiver durchgängig wirksamer internationaler Menschenrechtsschutz nicht möglich.64 Im Vergleich zum Jahr 1948 hat sich heute die Problemlage noch einmal radikal verändert. Während die Verfasser der Menschenrechtserklärung auf die Situation der Weltkriege reagierten und vorausblickend d das Bild einer Welt skizzierten, die sich im Geist universaler Leitbilder in einem unendlichen Prozess der Annäherung an ihren höchsten Zweck, die Weltfriedensordnung, befindet und sich immer von Neuem der Gefahr des Konflikts, des Zerfalls in partikulare Einheiten und der Barbarei stellen muss, geht es heute unter dem Stichwort der „Globalisierung“ um ein anderes Szenario. Heute stehen Menschen vor der Herausforderung, die Welt als bereits bestehende Verflechtung naher und ferner, bekannter und fremder Menschen durch außenpolitische, wirtschaftliche, technologische und ökologische Faktoren nachträglich als Einheit zu begreifen. Die Veränderung der Problemlage resultiert daraus, dass die Welt de facto in eine EinheitsPerspektive gerückt ist und zwar auf eine Weise, die keinem zuvor entworfenen Fahrplan folgt. Es ist geradezu umgekehrt: Statt einer idealiterr konzipierten Vereinheitlichung aller Wertvorstellungen und Lebensstandards, wie es die Menschenrechtserklärung vorsieht, findet eine vorrangig durch ökonomische, politische und ökologische Faktoren provozierte Einigung realiterr statt. Statt Universalisierung also Globalisierung, statt der erwünschten Einheit der Menschheit im Zustand ewigen Friedens (Kant) eine Einheit der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft, die weitgehend ohne Zustim62
Vgl. UN-Resolution 217 A (III). Vgl. O. KIMMINICH, Probleme der internationalen Gerechtigkeit. Eine völkerrechtliche Perspektive, in: K. GRAF BALLESTREM u. B. SUTOR (Hg.): Probleme der internationalen Gerechtigkeit, München 1993, S. 69–86; hier: S. 72. 64 Vgl. aber zur relativen Wirksamkeit der Menschenrechte und internationaler Institutionen wie des Internationalen Gerichtshofes EMPELL, aaO., S. 200; 205. Sowie WEILERT, aaO., S. 217. 63
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mung der beteiligten „Akteure“ entsteht. Kulturell spiegelt sich das darin wider, dass eine kulturelle Vielfalt innerhalb von Staaten bei gleichzeitiger Abnahme globaler Vielfalt zu verzeichnen ist. Migranten und McDonalds gibt es überall.65 Der Prozess voranschreitender Globalisierung in Verbindung mit der Einsicht, dass die tradierten Denkkonzepte der einen Welt sich entweder als glückselige Träumereien oder totalitäre Alpträume erwiesen haben, verweist auf eine philosophische Leerstelle. An die Stelle chiliastischer und utopischer Fehlbuchungen muss ein Konzept treten, das sowohl einer Überdehnung der Erlösungserwartungen als auch einem Rückfall in einen simplen Revisionismus prämoderner Denkansätze entgegenstehen kann. Das Konzept Internationaler Gerechtigkeit im Horizont der oben skizzierten Strukturmomente einer christlichen Gerechtigkeitsbestimmung, die weder prä- noch postmodern sind, besetzte diese Leerstelle. Es wird sich zeigen müssen, ob es der genannten Anforderung gerecht wird. Auf die Frage Internationaler Gerechtigkeit zugeschnitten geht es um eine doppelte Aufgabenstellung: Einerseits ist eine Antwort auf die unerwünschte Einheit der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft zu geben, und andererseits sind partikularistische und revisionistische Tendenzen abzuwehren, um solchermaßen „fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen“ zur Gestaltung des Weltfriedens ergreifen zu können. Es geht also unter dem Stichwort Internationale Gerechtigkeit um eine Gestaltungsmacht im Prozess der Globalisierung. Bevor diese Überlegungen fortgesetzt werden können, bedarf es einer vorläufigen Klärung des Begriffs „Globalisierung“. Globalisierung ist zunächst einmal nichts anderes als ein Trend zur weltweiten Verknüpfung des Wirtschaftshandelns und zur Entstehung einer weltweiten Öffentlichkeit. Naturkatastrophen, politische Krisen und soziale Schieflagen sind lokale Ereignisse, sie stehen jedoch in globalen Wirkungszusammenhängen und werden weltweit wahrgenommen. Selbst wenn ihre Wirkung noch lokal begrenzt sein mag, ihr Bedeutungshorizont ist davon jedoch abgelöst. Globalisierung meint eben beides: die weltweite Verflechtung sozialer, ökonomischer und politischer Ereignisse und die Öffnung eines globalen Horizonts der Aufmerksamkeit und Deutung ebendieser Ereignisse. Alle Beispiele für Globalisierungsszenarien stehen in dieser Doppeldeutigkeit. Eine Entlassungswelle in der Automobilindustrie Nordamerikas bestimmt die soziale Realität der Beteiligten, kann jedoch aufgrund der Verflechtung internationaler Wirtschaftsunternehmen und Finanzmärkte in anderen Ländern erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage haben. Die Finanzkrise des Herbstes 2008 hat dieser Einsicht noch einmal eine besondere Wucht gegeben. Auch eine Flutwelle im Indischen Ozean ist nicht nur für die Anwohner und Reisenden eine physische Realität, sondern sie erreicht die übrige Welt erstaunlich wirkmächtig als eine mediale Realität und löst der Effekt „episodischer Solidarität“ (Boris Holzer) aus. Auch unser Konsumverhalten wirkt nicht nur auf unsere Lebensverhältnisse ein und erzeugt oder vernichtet in unserem Land Arbeitsplätze, sondern es wirkt auch in die Herkunfts- und Erzeugerländer der von uns konsumierten Produkte zurück. Des Weiteren ist es nicht ohne Einfluss auf das Weltklima, ob Europäer Lebensmittel aus europäischen Regionen konsumieren oder solche, 65
Vgl. TEICHERT, aaO., S. 130.
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die einen Weg von mehreren tausend Kilometern zurückgelegt haben. Empfindliche Irritationen globalen Handelns entstehen, wenn etwa aufgrund von Schuldendiensten die Ökonomie eines Landes an den Bedürfnissen des Auslandes und nicht an den Bedürfnissen des Landes selbst orientiert wird.66 Die Beispiele für eine globale Verflechtung des Handelns und des Deutens von Handlungskontexten ließen sich mühelos fortsetzen. Globalisierung heißt hier, dass ganz unterschiedliche Wirklichkeiten in der einen, medialen Welt um Aufmerksamkeit ringen und in der Wahrnehmung des Einzelnen zusammenrücken können. Es dokumentiert sich hier die „vermittelte Unmittelbarkeit“ unserer kulturellen Existenz (Helmuth Plessner) in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit: Zwar ist jede Wahrnehmung für uns Menschen durch unsere Sinneswahrnehmung, unser Erkenntnisvermögen und durch die sprachliche Form vermittelt, aber sie kann uns ungeachtet dessen dennoch mit der ganzen Wucht eines unmittelbaren Sinneseindrucks treffen. Dieser Sachverhalt korrespondiert dem Faktum institutioneller Entgrenzung67, das auf den Ebenen des ökonomischen, sozialen und politischen Handelns zu beobachten ist. Diese Aspekte zusammengerechnet meint Globalisierung aus der Sicht der handelnden Individuen und Institutionen die bemerkenswerte Unfähigkeit, die Komplexität der realen Verflechtungen unserer Handlungszusammenhänge und der ihnen zugehörigen Bedeutungsebenen in ein stimmiges Gesamtbild zu bringen. Im Zusammenhang von Globalisierung dennoch von Internationaler Gerechtigkeit zu sprechen, heißt dieser Inkommensurabilität sehenden Auges zu begegnen.68 Dafür ist es notwendig, in einem nächsten Schritt Landmarken oder normative Orientierungspunkte auf der Karte der globalisierten Welt einzutragen.
III.4 Philosophische Perspektiven und politische Modelle Aus den vorangehenden Überlegungen wird deutlich, dass eine ernstzunehmende philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit nur auf dem Boden einer rückhaltlosen Analyse der ökonomischen Situation der Weltwirtschaft69 und der ökologischen Situation unseres Planeten geführt werden kann. Ohne einen solchen Bezug zu den Praxisfeldern würde philosophische Reflexion bloße Fabulierkunst sein. Nietzsche hat diesen Irrweg nicht erfahrungsgebundener Spekulation in der kurzen Geschichte „Wie die Welt zur Fabel wurde“ parodiert und damit eine Kurzgeschichte des Platonismus geschrieben. Unsere Zeit setzt eindeutig materialistische Erklärungsmuster, wobei auch hier der Spielraum der Argumentation immens ist. Der materialistische Einschlag in die Debatte über Internationale Gerechtigkeit meint folgendes: Diesseits des Fabulösen stehen die Erfahrungsdaten über die frappierender Ungerechtigkeit in der weltweiten Wohlstandsverteilung, die stichhaltigen Prognosen zur Ressourcenverknappung angesichts ihrer Aufzehrung und damit einhergehend Vermutungen und Berechnungen über die Überlebenschancen der Menschengattung, in die auch die ansteigende Umweltbelastung als wichtiger Faktor einzubeziehen ist. 66
Vgl. DIEFENBACHER, aaO., S. 149f. Vgl. die Analysen von WEILERT, aaO. 68 Vgl. Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts. ARSP Beiheft 79. Hg. v. M. ANDERHEIDEN, S. HUSTER, S. KIRSTE, Stuttgart 2001. 69 Vgl. die Beiträge von DIEFENBACHER, TEICHERT und RATSCH in diesem Band. 67
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In diesen Problemfeldern gibt es unterschiedliche Gerechtigkeitsprobleme. Einerseits wirft das Wohlstandsgefälle zwischen industriell entwickelten und noch nicht entwickelten Ländern gegenwärtig ein ökonomisches und moralisches Gerechtigkeitsproblem auf. Hierfür werden von internationalen Organisationen und der Weltbank bis zu staatlichen und nicht-staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen Programme zur Entwicklungshilfe aufgestellt, welche die Angleichung der Lebensverhältnisse weltweit zum Ziel haben. Andererseits gibt es eine Diskussion über eine womöglich katastrophische Entwicklung des Weltklimas, der zufolge das Leben der Menschheit insgesamt auf dem Spiel steht. In diesem Zusammenhang muss es darum gehen, möglicherweise „gerechte“ Ansprüche noch nicht entwickelter Länder auf wirtschaftlichen Fortschritt, expandierendes Konsumverhalten und eine Angleichung der Lebensverhältnisse im Zeichen eines Überlebens zukünftiger Generationen zu begrenzen. Die genannten Problemfelder stehen nicht im Einklang miteinander. Die Angleichung oder gar der Ausgleich der Lebensverhältnisse weltweit kann zu unkalkulierbaren Konsequenzen (z. B. bei den CO2-Emissionen) für das Weltklima führen. Maßnahmen zur Abwendung der ökologischen Katastrophe könnten implizieren, dass die noch nicht entwickelten Länder der Welt niemals das Entwicklungsniveau der Länder Europas und Nordamerikas erreichen werden. Hier einen Ausgleich anzustreben, würde bedeuten, dass Ungleichheiten der Lebensverhältnisse in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft in ein Berechnungsmodell übertragen werden müssen. Auf dem Weg zu Handlungsregeln Internationaler Gerechtigkeit müssten dann auf allen Zeitebenen die Fragen des Rechtsanspruchs- und Interessenausgleichs miteinander verrechnet werden – getragen von der Hoffnung, dass am Abschluss der Verhandlungen ein Konsens aller beteiligten Akteure gefunden wird. Wie dieser Konsens material ausgefüllt sein könnte, das muss für die Praxisfelder im Einzelnen herausgearbeitet werden. In philosophischer und theologischer Perspektive kann nur über die Form des Konsenses zu Internationaler Gerechtigkeit, der den Interessen aller Beteiligten wie auch der Garantie des Weltfriedens und des Überlebens der Menschheit zugrunde liegt, nachgedacht werden. Abzugrenzen ist diese Fragestellung von einer existentiellen Zuspitzung des Problems, die den Gedanken radikaler Befristung der verbleibenden Zeit zur Lösung der Gerechtigkeitsfragen derart verabsolutiert, dass ein dezisionistisches Politikmodell alternativlos übrig bleibt. Dieses Modell präferiert im Zeichen der ökologischen Krise eine radikale politische Einigung, um die Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können, die zur Abwendung der Krise notwendig sind. Das Resultat dieses Einigungsprozesses könnte ein Weltstaat sein, der wie der Leviathan alle souveräne Gewalt auf sich vereint, um den notwendigen Konsens zu ökonomischen und ökologischen Maßnahmen notfalls auch von den beteiligten Akteuren zu erzwingen. Nur wenige betrachten den Weltstaat als Ideal, der sich auf eine Legitimation durch alle Individuen der Welt stützt (z. B. Kai Nielsen, Emmerich Fritsche).70 70 Vgl. U. STEINVORTH, Zum Begriff des Staats unter Bedingungen der Globalisierung. In: Internationale Gerechtigkeit. Rechtsphilosophische Hefte, Bd. VII, hg. v. G. ORSI u. a. Frankfurt/M.-Berlin usw. 1997, S. 91–96. Vgl. E. FRITSCHE, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. Berlin 2007.
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Ein universaler Weltstaat würde jedoch die Grundsätze internationaler Gerechtigkeit per definitionem aufheben. Eine an den Prämissen der Aristotelischen wie der Kantischen Gerechtigkeitstheorien geschulte Philosophie sieht die Gefahrenmomente eines dezisionistischen Politikmodells, aber auch von theologischer Seite kann, wie der vorausgehende Abschnitt nahe legt, vor diesem Konzept nur dringend gewarnt werden. Ob ein Weltstaat die Grundsätze Internationaler Gerechtigkeit in positives Recht übertragen oder sich durch sie gebunden sehen würde, muss eine offene Frage. Der Präzedenzfall im kleineren Modell, die Schaffung des frühneuzeitlichen souveränen Staates, der Gerechtigkeitsansprüche in Recht transformiert hat, stimmt eher skeptisch. Von seinen Voraussetzungen her, vor allem angesichts einer Präferenz für unbegründbare Entscheidungen bei gleichzeitiger Ächtung des Konsensverfahrens, widerspricht ein dezisionistisches Politikmodell den Grundgedanken Internationaler Gerechtigkeit.71 Alle ernstzunehmenden Denkansätze zur Internationalen Gerechtigkeit auf der Basis der Menschenrechtserklärungen, die ja auch der Zähmung der frühneuzeitlichen Souveränität dienten, halten am Konsensmodell fest. Das hängt mit der festen Überzeugung zusammen, dass in Zeiten der Globalisierung die Alternative zu einer ungesteuerten Einheit der Wirtschaftsgesellschaft nicht deren erzwungene Vereinigung in einem Weltstaat sein kann. Erzwungene Vereinigung huldigt fehlgeleiteten Entmündigungs- und Herstellbarkeitsphantasien für Internationale Gerechtigkeit. Ihr widerspricht auch die christliche Theologie, die eine enge Anbindung des Gutes der Gerechtigkeit an das der Freiheit72 behauptet. Gerechte Verhältnisse sind durch sittliches Handeln bestimmte Verhältnisse. Sittliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass ich will, was ich soll. Und dass ich soll, was ich will. Handle ich nur so, wie ich will, ohne dass diesem Handeln ein Moment sittlicher Pflicht zugrunde liegen würde, handle ich nicht sittlich. Handle ich nur so, wie ich soll, ohne dass ich es eingesehen habe und will, ist das Handeln auch nicht sittlich. Die Einheit von Wollen und Sollen konstituiert sittliche Freiheit und Gerechtigkeit.73 Das ist eine gravierende Herausforderung bei der gemeinsamen Bemühung um gerechtere Lebensverhältnisse weltweit. Der Denkansatz Internationaler Gerechtigkeit setzt auf die Überzeugungskraft guter Argumente, um eine Krisensituation zu bewältigen und dabei nicht die Standards der Menschenrechte – die Achtung der Menschenwürde und der unveräußerlichen Individualrechte – aufzugeben. Das konsensuale Modell Internationaler Gerechtigkeit baut auf die sittliche Kompetenz einzelner Individuen und ihrer Vereinigung zu Kollektiven (Volk bis Völkergemeinschaft). Diesen wird die Fähigkeit zugesprochen, durch rationale Verfahren und die Artikulation ihrer moralischen Überzeugungen Institutionen zu bilden, die als Formen eines Gesamtwillens aus der Kraft gemeinsamer Überzeugungen die Lösungsmodelle für die anstehenden sozialen und ökologischen Probleme gewinnen können. 71
Vgl. STEINVORTH, aaO. Es geht um eine qualifizierte ethisch klar orientierte Freiheit, die nicht einfach mit den ökonomischen Auffassungen eines Liberalismus gleichgesetzt werden kann. Vgl. TEICHERT, aaO., S. 126f. 73 Vgl. J. FISCHER, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, S. 199– 208. 72
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Die normativen Voraussetzungen dieses Politikmodells sind durchaus anspruchsvoll, und sie lassen sich, wie Onora O’Neill es prägnant formulierte, auf drei Setzungen zurückführen: Einerseits muss die irreduzible Pluralität der Akteure als Bedingung einer Vielheit von Weltansichten und ihrer wechselseitigen Anerkennung vorausgesetzt sein. Hierzu muss das Bewusstsein der Akteure hinzu treten, dass sie Bewohner ein und derselben, unteilbaren Welt sind. Das zusammen ergibt aber erst einen guten Sinn, wenn bei den Akteuren die Einsicht in ihre gegenseitige Verletzbarkeit gegeben ist.74 Die Debatte über Internationale Gerechtigkeit lebt wesentlich davon, dass die entscheidende Wechselwirkung dieser Faktoren ernst genommen wird. Eine Einsicht in die Unteilbarkeit der Welt ohne die Sorge um die Verletzbarkeit Anderer und seiner selbst durch Andere bliebe nahezu wirkungslos. Nur wenn ich den Anderen als solchen anerkenne und ich mich durch ihn anerkannt weiß, wird mir seine Verletzbarkeit nicht gleichgültig sein. Dieser Einsicht korrespondieren Strukturmerkmale der Konzeption christlicher Nächstenliebe als Ausdrucksform von Gerechtigkeit. Dabei müssen Selbstsein und Anderssein als Aspekte eines gemeinsamen In-derWelt-Seins und aufeinander Angewiesenseins verstanden werden. So schließt sich ein Kreis der Argumentation und es bedarf keines apokalyptischen Gestus’, um die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf das Wohlergehen der gegenwärtig und zukünftig Anderen zu begründen.
III.5 Philosophisch-politische Theorien im Vergleich Internationale Gerechtigkeit, so zeichnete sich ab, fordert ein konsensuales Modell politischen Handelns. Die Achtung der Menschenwürde und der unveräußerlichen Individualrechte ist nur plausibel zu vertreten, wenn zugleich auf die sittliche Kompetenz einzelner Individuen und ihrer Vereinigung zu Kollektiven gesetzt wird. Darüber hinaus bleibt allerdings weitgehend unklar, wie es von den Grundvoraussetzungen des Konsenses und dem Verfahren der Konsensfindung zu einer bindenden Verpflichtung im Völkerrecht kommt, von der eine wirksame Garantie der vereinbarten Handlungsziele ausgehen kann. Während innerhalb der jeweiligen Gesellschaften die moralischen und rechtlichen Normen durch die politische Ordnung und den Gesetzgeber reglementiert und garantiert werden, fehlt diese Sicherheit auf internationaler Ebene fast vollständig.75 Die lakonische Bemerkung Kants in seiner Schrift zum Ewigen Frieden, „noch ungewisser“ als internationale Regierungsmodelle aller Art sei „ein auf Statute nach Ministerplanen vorgeblich errichtetes Völkerrecht, welches in der Tat nur ein Wort ohne Sache“ sei, „und auf Verträgen“ beruhe, „die in demselben Akt ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten“76, ist nur ein Indiz dieses Problems. Diese Geltungslücke besteht überall dort, wo die Destruktion des klassischen Naturrechts im ausgehenden 18. Jahrhundert für irreversibel gehalten wurde. Sie hat seit 74 Vgl. O. O’NEILL, Grenzen der Gerechtigkeit?, in: K. GRAF BALLESTREM u. B. SUTOR (Hg.): Probleme der internationalen Gerechtigkeit. München 1993, S. 9–19. 75 Vgl. die Gegenüberstellung von innerstaatlichem Recht und Völkerrecht in SCHMIDTAßMANN, aaO., S. 75–81 mit S. 81–86. 76 Vgl. I. KANT, Zum ewigen Frieden, Anhang, B 89f.: in I. KANT, Werke in 10 Bänden, hg. von W. WEISCHEDEL, Bd. 9, Darmstadt 51983, S. 240.
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dieser Zeit eine ganze Reihe von Versuchen motiviert, diesen Mangel zu kompensieren.77 Dabei ist unbestritten, wie die vorangehende Darstellung zu belegen sucht, dass innerhalb der Tradition des Naturrechtsdenkens und des ihr nachfolgenden Menschenrechtsdiskurses das Problem von Begründung und Geltung moralischer Normen als Rechtsregeln unterhalb der Ebene des hypothetischen Weltstaates zu verhandeln ist.78 Auf dieser Zwischenebene – zwischen nationalstaatlicher und weltstaatlicher Lösung der Begründungs- und Geltungsfragen – liegt das Wirkungsfeld Internationaler Gerechtigkeit. Es ist ein Feld der Unwägbarkeiten, der Verhandlungen, des Ringens um Transparenz in ökonomischen, sozialen, politischen und sozialen Fragen und ist ein stetes Bemühen um Gestaltungsspielräume in einer globalisierten Welt. Gelingt es einzelnen Akteuren, Individuen oder Institutionen, Transparenz zu schaffen und Aufmerksamkeit in einer globalen Öffentlichkeit zu erregen, dann üben sie im besten Fall eine Korrektivfunktion aus, aber keinesfalls eine Steuerungsfunktion, noch gar verfügen sie über eine Ordnungsmacht. In einer verfassungsrechtlichen und philosophisch-politischen Perspektive, die vom Ordnungsdenken ausgeht, wird die aktuelle Situation der Weltpolitik mit ihren heterogenen Rechtssystemen, kulturellen Lebensformen, divergierenden Wertsystemen und Religionen bei gleichzeitiger Verflechtung zu einer globalen Wirtschaftsund Informationsgesellschaft, in ein verzerrtes Bild eingerückt – vor allem dann, wenn die Nähe zu Samuel Pufendorfs Bild vom „monstro simile“, das dieser zur Beschreibung der verfassungsrechtlichen Lage des deutschen Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg geprägt hat, gesucht und dieses nahezu mühelos auf die gegenwärtige Lage übertragen wird. Die sich selbst als „realistisch“ apostrophierende Position von Morgenthau trennt die Partikularität von Wertüberzeugungen und -bindungen strikt vom Prozess wirtschaftlicher Globalisierung ab.79 Ihrer Auffassung nach wäre es eine gefährliche Illusion, die Möglichkeit globaler ethischer Standards einzukalkulieren, da hier eine Verlässlichkeit im politischen Handeln konstruiert wird, die es nicht gibt. In Anlehnung an Thomas Hobbes, den Urvater aller modernen politischen Philosophie, die sich das Wünschen versagt, halten sie am souveränen Nationalstaat als Hauptakteur interessegeleiteter Weltpolitik fest. Sie rechnen – mythologisch-philosophisch gesprochen – mit niemand anderem als dem alten Adam und der alten Eva80. Allein der Nationalstaat geht ethische Verpflichtungen ein und bindet sich durch sie, solange diese seinen eigenen Interessen nicht widersprechen. Jenseits der Sphäre staatlicher Souveränität scheint jedes Vertrauen in den Anderen eine Chimäre zu sein. Diesen Verdacht bekräftigt auch eine „partikularistische“ Position, die in der Nachfolge von Isaiah Berlin durch Michael Walzer und James Tully vertreten wird. Sie gehen von ethischen Standards in den jeweiligen sozialen Gemeinschaftsformen von der Familie bis zur Nation aus, koppeln diese zwar nicht an Staatlichkeit, leugnen aber auch 77 Vgl. G. HARTUNG, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg/Br. 1998. 78 Vgl. S. GOSEPATH, G. LOHMANN (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998. 79 Vgl. H. MORGENTHAU, Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York 1948. 80 Vgl. Röm. 6,6.
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die Existenz gemeinsamer Werte jenseits solcher Gemeinschaften. Dabei weisen sie staatlichen und auch internationalen Organisationen die Aufgabe zu, die weltweite Angleichung der Lebensverhältnisse zu befördern, um auf diese Weise ein Zusammenleben in friedlicher Ko-Existenz dauerhaft zu realisieren.81 Eine „nationalistische“ Option, der Will Kymlicka und Yael Tamir anhängen, verbindet den realistischen und partikularistischen Denkansatz und leugnet die Wirksamkeit moralischer und rechtlicher Handlungsregeln im internationalen Bereich vollständig.82 Ihrer Ansicht nach liegt der Ursprung moralischer Überzeugungen strikt innerhalb der jeweiligen Nationen, die sich dadurch fundamental voneinander unterscheiden. Was „internationale Politik“ genannt wird, das ist eine Politik des Misstrauens und führt im besten Fall, wie die reale Wirksamkeit internationaler Organisationen wie der UN zeigt, zur Hegung und Kontrolle unaufhebbarer kultureller Differenzen. Die vorgestellten drei politiktheoretischen Denkmodelle begreifen die Konzeption Internationaler Gerechtigkeit als ein hölzernes Eisen.
III.6 Der Horizont realistischer ethischer Standards Der politische Liberalismus von John Rawls dagegen entwirft das positive Szenario einer internationalen Politik, die mit moralischen Konnotationen verknüpft ist. Nach Rawls gibt es keine universalen ethischen Standards, die durch Tradition entstanden oder naturgegeben sind. Diese Standards werden erst durch Übereinkunft zwischen Völkern und souveränen Staaten entwickelt. Das Ziel der Übereinkunft ist die Angleichung divergierender Wertevorstellungen und die Ausgleichung bestehender Ungleichheit zwischen Staaten respektive Völkern. Da Rawls Wertüberzeugungen und -bindung nicht als gegeben ansehen kann, muss er nachvollziehbar machen, dass dennoch wirksame Kriterien in einer bestehenden Gesellschaft und zwischen Gesellschaften durch Übereinkunft entstehen können, die es erlauben, eindeutig zwischen gerechten oder ungerechten Strukturen zu unterscheiden.83 Die Eindeutigkeit liegt auf der formalen Verfahrensseite einer vernünftigen und angemessenen Übereinkunft. Dies zeigt sich bei ihrer Entstehung und zwar gleichermaßen, ob es sich um eine Übereinkunft zwischen einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften selbst handelt: Gerecht ist nämlich eine Übereinkunft für die beteiligten Akteure dann, wenn sie einen gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten ermöglicht, in dem allen Akteuren die gleichen Grundrechte – Rawls nennt vorrangig die politische Freiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, den Schutz des physischen Lebens, den Eigentumsschutz – zugesprochen werden. Gerechtigkeit ist hier nicht mehr als die formale Bedingung von Chancengleichheit, sie bleibt eine „kalte Tugend“. Rawls erklärtes Ziel ist es jedoch, gegen die faktische Ungleichheit in einer Gesellschaft – durch Natur, Zufall, Wettbewerb – einen Katalog von Maßnahmen zur Erreichung von Chancengleichheit durchzusetzen. Wie jeder Einzelne seine Chance nutzt, und ob ihm 81 Vgl. M. WALZER, Liberalism and the Art of Separation, in: Political Theory, Vol. 12. No. 3 (1984), S. 315–330. 82 Vgl. W. KYMLICKA, Liberalism, Community, and Culture, Oxford 1989; Y. TAMIR, Liberal Nationalism, Princeton 1995. 83 Vgl. J. RAWLS, Theory of Justice. Revised Edition, Harvard University Press 1999; The Law of the Peoples, Cambridge/Mass. 1999.
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dafür überhaupt die materialen Bedingungen zur Verfügung stehen, darauf gibt seine Theorie der Gerechtigkeitt allerdings keine Antwort. In seiner letzten Veröffentlichung zum Thema über das Gesetz der Völkerr geht Rawls explizit auf die Fragen der internationalen Politik ein. Tatsächlich gibt es hier eine analoge Struktur, denn auch auf der Ebene der Staatengemeinschaft kehren die gleichen Probleme faktischerr Ungleichheit und fehlender Chancengleichheit wieder. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Binnensphäre entstehen für die beteiligten Akteure aus einer Übereinkunft jedoch keine Rechtsansprüche, sondern lediglich – bei Rawls müsste man sagen: immerhin – Pflichten der internationalen Staatengemeinschaft, benachteiligte Gesellschaften im Aufbau gerechterer Verhältnisse zu unterstützen. Gemeint ist damit ein prozessuales Konzept Internationaler Gerechtigkeit, das zwar nicht von der Gegebenheit universaler Wertvorstellungen ausgeht, aber deren verfahrensmäßige Erzeugung durch wechselseitige Absichtserklärungen für denkbar hält. Hierdurch unterscheidet sich die Rawlsche Position deutlich von den partikularistischen Theorieansätzen seiner Kollegen, die einen politischen oder nationalen Liberalismus vertreten. Ziel einer Politik der Internationalen Gerechtigkeit im Sinne von Rawls ist es, den Standard der Menschenrechte im globalen Maßstab, vor allem aber in den am meisten benachteiligten Ländern, anzuheben. Das alles geschieht gleichwohl auf einem Weg der Konsensfindung und -anreicherung innerhalb der Rahmenbedingungen einer Völkergemeinschaft, die sich aus souveränen Staaten zusammensetzt und sich in internationalen Organisationen auf der Grundlage des Völkerrechts zusammenschließt. Weil Rawls diesen Rahmen nicht überschreitet, findet bei ihm auch keine Entwicklung des Völkerrechts „von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Menschheit“ statt.84 Das ist ein zentraler Punkt, der von einer „kosmopolitischen“ Option zum Thema Internationale Gerechtigkeit aufgegriffen wird. Diese Position wird von Peter Singer und Thomas Pogge vertreten, die in einer Hinsicht über Rawls, dessen liberalistische Wertgesichtspunkte sie weitgehend teilen, hinausgehen.85 Ihrer Auffassung nach können universale ethische Standards nicht erst ein Produkt von Übereinkunft sein, und sie können auch keinen bloß kulturellen und geschichtlichen Index haben. Der kosmopolitische Denkansatz vertritt die Ansicht, dass unsere Wertüberzeugungen universal sind, weil sie von jedem Menschen als denkendem und fühlendem Wesen geteilt werden. Es gibt ihrer Auffassung nach anthropologische Konstanten mit universalem Geltungsanspruch – so z. B. der Respekt vor der Würde des Mitmenschen, die Achtung seiner Rechtsansprüche, die Pflicht zur Hilfe für Notleidende – und diesen Konstanten gegenüber sind die kulturellen, sozialen und politischen Unterschiede nachgeordnet.86 Die kosmopolische Position formuliert die These, dass die fundamentalen menschlichen Rechte und Pflichten tatsächlich universal sind und nicht, wie bei Rawls, abhängig von geschichtlich bedingten, institutionellen n Rahmenbedingungen. Behauptet wird damit ein Minimum an menschlicher Moralität, das als vorgegebene conditio humana Bezie84
Vgl. KIMMINICH, aaO., S. 86. Vgl. T. POGGE (Hg.), Freedom from Poverty as a Human Right. Who owes what to the very poor?, Oxford 2007. 86 Vgl. R. KREIDE, Soziale Menschenrechte und Verpflichtungen. In: Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts, aaO., S. 121–144. 85
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hungen zu anderen Menschen bestimmt. Menschen folgen ihren Zielen, die nicht nur der Selbsterhaltung unterworfen sind, sondern die auch das eigene Wohlergehen und das eigene Streben nach Vervollkommnung in der Beziehung zum Mitmenschen umfassen. Menschen gestehen – wie Thomas Scanlon es formuliert – anderen Menschen zu, das zu tun, was ihnen selbst gut tut. Dieses nicht von ungefähr an die „Goldene Regel“ erinnernde moralische Minimum ist nicht von der Existenz bestimmter Institutionen abhängig, „it governs our relations with everyone in the world” – so Thomas Nagel.87 Eine zweite, ebenfalls konstruktive Kritik an der Rawlschen Konzeption wird von dem Ökonomen Amartya Sen vorgebracht. Nach Sen kann es in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit nicht nur um Ansprüche gehen, sondern es müssen auch die Verwirklichungschancen mitbedacht werden. Neben den elementaren Grundrechten muss jedem beteiligten Akteur auch ein notwendiges Minimum an Befähigungen, „capabilities“ – der Zugang zu Ressourcen und Kapital, zu medizinischer Versorgung, zu Ausbildung und zu beruflicher Stellung usw. – zugestanden werden, damit die Menschenrechte überhaupt genutzt und ihr Geltungsbereich entwickelt werden kann.88 Die Kritik an Rawls Konzeption zeigt, dass es in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit keine Alternative zu einer liberalistischen, am konsensualen Verfahren orientierten Theorie gibt. Aber sie zeigt auch, dass die liberalistische Theorie auf Fundamenten basiert, die sie selbst weder theoretisch einholen noch praktisch garantieren kann. So bedarf es erstens der Vision einer globalisierten Welt als einer Einheit, um den Prozess der Verständigung und Annäherung gestalten zu können. Diese Vision hat die christliche Theologie immer wieder in aller Behutsamkeit, manchen apokalyptischen Aberrationen zum Trotz, formuliert. Zweitens muss es, damit diese Vision mehr als eine bloße Illusion ist, ein Minimum an moralischen Überzeugungen geben, wie den Respekt menschlicher Würde, die Achtung individueller Rechtsansprüche und die Akzeptanz von Regeln der Vertragstreue (pacta sunt servanda), die universal auf Anerkennung treffen können. Wenn dies nicht so wäre, dann verdampften alle theoretischen Überlegungen zum Thema Internationale Gerechtigkeit und wären praktisch wirkungslos. Und es müssen drittens auch die ökonomischen Bedingungen geschaffen und die ökologischen Bedingungen erhalten werden, die ein menschenwürdiges Leben weltweit ermögm alle weiteren Überlegungen nicht ins lichen.89 Auch diese Bedingung ist notwendig, um Reich der Fabulierkunst verbannen zu müssen.
III.7 Zur Rehabilitierung utopischen Denkens Die angeführten Prämissen korrelieren mit den O’Neillschen Bestimmungen Internationaler Gerechtigkeit. Tatsächlich bliebe das prozedurale und konsensuale Modell Internationaler Gerechtigkeit ein hölzernes Eisen, wenn nicht in ökonomischer und ökologischer Hinsicht die Voraussetzungen geschaffen werden, um die Pluralität der handeln87
Vgl. T. NAGEL, The Problem of Global Justice, in: Philosophy & Public Affairs. 33. no. 2, S. 113–147; hier: S. 145. 88 Vgl. A. SEN, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 1999. 89 Vgl. OPSCHOOR, aaO., S. 184.
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den Akteure zu schützen. Dies ist unabtrennbar von einer wechselseitigen Anerkennung, die wiederum ohne das Streben nach einer Ermöglichung menschenwürdiger Lebensumstände wenig überzeugend wäre. Ebenso fundamental ist die Einsicht in die Unteilbarkeit einer gemeinsamen Welt und die – angesichts der weltweiten Verflechtungen sozialen und wirtschaftlichen Handelns – nie auszuschließende Verletzbarkeit jedes Einzelnen. Über diese Klüfte hinweg hilft den handelnden Akteuren, den einzelnen Individuen und den Institutionen internationaler Politik die Vision der einen Welt. Diese Vision setzt voraus, dass die Menschheit grundsätzlich zur Einigung befähigt ist (Minimum an universalen moralischen Überzeugungen), und dass der Prozess der Einigung zu einer Ausfaltung menschheitlicher Potentiale führen kann (Telos des Weltfriedens). Gewissheit gibt es hier für eine Philosophie nicht. Sie muss von einem utopischen Kern in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit sprechen. Christliche Theologie wird demgegenüber geltend zu machen haben, dass dieser utopische Kern in der Glaubenseinsicht in die Bestimmung geschichtlicher Weltläufte einen Ort hat, einen Ort allerdings bei Gott, der zur Nachfolge und entsprechenden Gestaltung herausfordert. Gewissheit über den positiven Ausgang von Handlungsbemühungen in Sachen Internationaler Gerechtigkeit kann es – weder für Theologen noch für Philosophen, aber auch nicht für die Vertreter anderer Wissensdisziplinen – schon deshalb nicht geben, weil zusätzlich zu den internen Faktoren, zu denen die Annahme einer universal verbreiteten moralischen Kompetenz gehört, auch eine kaum überschaubare Fülle von externen Faktoren zu zählen ist. Mit dieser immer nur partiell zu durchschauenden Komplexität (die nie restlose Durchschaubarkeit a gilt ja übrigens auch schon für ein Staatswesen mittlerer Größe) ist jedoch nicht zu legitimieren, dass man darauf verzichtet, über ein möglichst rational begründetes, gerechteres Handeln und Gestalten weltweit nachzudenken. Nachdenken über solche Handlungsbemühungen führt in verschiedene Praxisfelder, in denen sich zeigen muss, ob das konsensuale und prozedurale Modell Internationaler Gerechtigkeit praxistauglich ist. Unbenommen von der notwendigen Überführung des Modells in das Feld internationaler Verflechtungen, von der Klimapolitik bis zur Bildungspolitik, ist die Notwendigkeit der Freilegung des utopischen – oder vorsichtiger gesprochen – des teleologisch regulativen Gehalts der hier skizzierten Debatte. Die Diskussion über Rawls Theorie der Gerechtigkeit und die Kritik an ihr hat gezeigt, dass trotz der Diskreditierung utopischen Denkens im zurückliegenden Jahrhundert die Gestaltung der Handlungsfelder internationaler Politik leitender Visionen bedarf. Wie auch schon bei Aristoteles die Gerechtigkeit keine kalte Tugend ist, weil sie die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben liefert, so steht auch die Internationale Gerechtigkeit sowohl im Zeichen einer weltweiten Angleichung der Lebensbedingungen als auch einer umfassenden Eröffnung von Chancengleichheit, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört heute neben der politischen Vision des Weltfriedens und der ökonomischen Vision weltweiten Wohlstandes auch die, in Anbetracht einer reflektierten Schöpfungslehre, auszuformulierende ökologische Vision einer globalen Lebenseinheit von Menschheit und Natur. Internationale Gerechtigkeit wäre ohne diese Entwürfe größtmöglicher menschlicher Gestaltungsspielräume nur ein blutleeres Konstrukt. Sie ist aber im Horizont philosophischer Reflexion mit dieser Vision nicht identisch, sondern markiert ganz aristotelisch
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nur den Weg zum Ziel. In der Theologie hingegen ist der Weg zum Ziel eine die Gerechtigkeit ermöglichende Klugheit, wenn Klugheit im Sinne von Thomas von Aquin als Gebärerin aller anderen Kardinaltugenden begriffen wird.90 Dieser Weg führt durch die Mitte, zwischen Resignation angesichts weltweiter Krisenszenarien einerseits und Verblendung genährt durch illusionäre Träume andererseits. Wer von Internationaler Gerechtigkeit handelt, der führt die theoretische Diskussion in die Praxisfelder, analysiert die dort zu erkennenden ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Problemlagen und begreift sie gleichwohl als Chancen für die Gestaltung eines guten Lebens für alle beteiligten Akteure. Das heißt, auch in der letzten Zuspitzung, im Gedanken einer radikalen Befristung menschlichen Gattungslebens im Hinblick auf eine drohende ökologische Krise, darf nicht die Einsicht verloren gehen oder verspielt werden, dass ein menschenwürdiges Leben immer auch ein gerechtes und gutes Leben bleiben muss. Keine Gefahr, wie groß sie auch erscheinen mag, rechtfertigt die Aufhebung des Respekts vor der Würde des Menschen und der Schutzgarantie für die unveräußerlichen Individualrechte.
IV. Die Aufgabe einer Bestimmung Internationaler Gerechtigkeit im Übergang zu den Praxisfeldern Sollte die Debatte über Internationale Gerechtigkeit keinen utopischen Kern haben, dann ist sie in philosophischer Hinsicht nicht der Rede wert. Was der Philosoph einfordert, das ist dem Theologen allerdings noch zu wenig. Aber diese Spannung zwischen einem „noch nicht“ und „nicht genug“ ist produktiv, denn sie zeigt an, dass der theoretische Entwurf ohne eine entsprechende Praxis nicht das Papier wert ist, auf dem er geschrieben ist. Die eingeforderte Praxis ist dann diesseits aller Utopien – das ist die weltumstürzende Forderung christlicher Theologie – ein Aufruf zur menschlichen Gestaltung unserer Lebensverhältnisse, die mit der von Gott bereits realisierten, d. h. versöhnenden Gerechtigkeit im Rücken antreten darf. Das muss geschehen mit allem nur zu Verfügung stehenden ökonomischen Sachverstand, mit politischem Mut zu neuen völkerrechtlichen und transnationalen verwaltungsrechtlichen Modellen und eben auch politischer Phantasie. Es geht darum, gemeinsam an einer kommenden Welt zu arbeiten, so dass sich mehr und mehr zeigt, was doch eigentlich schon der Fall sein könnte. Diese weltumstürzende Praxis darf die philosophische Skepsis und die Lehren aus einem falsch verstandenen „hic et nunc“ nicht aus den Augen verlieren. Nur in der wieder entdeckten Mitte, die den Rahmenbedingungen einer komplexen Güterordnung angemessen ist, und in der Bestimmungen wie Friede, Gerechtigkeit, Freiheit und Wahrheit zugleich prägend sind, können die Mittel des Politischen gerechtfertigt sein. Es gibt keine Rechtfertigung ungerechter Handlungen und Institutionen im Ausblick auf einen höheren Zweck. Keine schreiende Ungerechtigkeit kann im Ausblick auf eine kommende Gerechtigkeit im Hierr und Jetzt gerechtfertigt werden; kein Umweg über „patently unjust and illegitimate global structures t of power“ (Thomas Nagel) ist tole90 Vgl. THOMAS virtutum.
VON
AQUIN, Sentenzenkommentar III, d. 33, 2, 5: Prudentia dicitur genitrix
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rierbar. Soll die evangelische Einsicht in die zentrale Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als Vermittlungsformen f der christlichen Gerechtigkeitsbestimmung ernst genommen werden, kann auch eine Politik der Internationalen Gerechtigkeit niemals ohne eine Rechtsordnung, zugleich aber auch niemals durch eine das Gesetz verabsolutierende Rechtsordnung gestaltet werden. Gerade die unter dem Terminus „soft law“91 subsumierten Formen internationaler Rechtsgestaltung bilden strukturell eine bemerkenswerte säkulare Entsprechung zur Pointe der theologischen Unterscheidung von Evangelium und Gesetz. Sie haben zu zeigen, dass die Verbindlichkeitsformen der Bitte und der Selbstverpflichtung auf dem Parkett der Gerechtigkeit auch international auszutragen vermögen. Kräfte wie Öffentlichkeit, zivilgesellschaftliche f Institutionen, Kirchen und zivilcouragierte Individuen, die Gehör finden, sind Machtfaktoren, die neben Wirtschaftsinstitutionen und -organisationen und den Staaten zu nennen wären. Die so genannte dritte Kraft kann Einsichten formulieren, die verändern – evangelisch mit der Kraft der Geduld, der vehementen Bitte, des Appells, des Protestes, mit dem Hinweis, dass die guten Möglichkeiten, das Leben fairer und damit erträglicher gestalten, angeboten sind. Appell und Protest haben konstruktiv zu sein. Sie zielen auf den Konsens, ohne den es keine Internationale Gerechtigkeit gibt. Es ist immer relativ leicht, den Prozess der Globalisierung zu kritisieren, allerorts Unrecht zu identifizieren und so das Ungerechtigkeitsgefühl mit Recht Alarm schlagen zu lassen. Anspruchsvoller ist es jedoch, Wege und Möglichkeiten im komplexen internationalen Beziehungsgefüge zu eruieren, die Aussicht darauf haben, wirksam Lebensbedingungen so zu verbessern, dass es am Ende nicht auf ein internationales Gerechtigkeitsnullsummenspiel hinausläuft. Konkret geht es darum, in einzelnen Problemfeldern – von der Globalisierung wirtschaftlichen Handelns und des Handels mit natürlichen Ressourcen über die Verflechtung der internationalen Finanzmärkte und der transnationalen Wirtschaftsunternehmen so wie der universalen Organisationsformen des Rechts und der Politik bis zu den weltweiten Verflechtungen der Akteure in Politik, Religion und Kultur – die Voraussetzungen zu heben, um die zumeist akademisch verkürzte Debatte über die Prinzipien gerechten Handelns praxistauglich zu machen. Die große Schwierigkeit liegt nicht im kohärenten Aufbau eines Theoriegebäudes, sondern vielmehr in der überzeugenden Verflechtung von Gedankenexperiment und Gegenstandsbeschreibung. Hier zeigt sich, ob ein prononciertes Verlangen nach Gerechtigkeit sich erfolgreich am Widerstand einer nur partiell gerechten sozialen Wirklichkeit brechen kann, ob es sich als bloßes Wolkenkuckucksheim oder belastbares, die menschliche Lebenswirklichkeit erschließendes und gestaltendes Konzept erweist. Wie für jede Theorie, so gilt auch für die Theorieansätze Internationaler Gerechtigkeit eine Forderung des Praxisbezugs, die sicherlich für alle Zeiten am prägnantesten in einer Phrase zum Ausdruck kommt, die auf den britischen Historiker William Camden zurückgehen soll: „All the proofe of a pudding, is in the eating“. 91 Vgl. zur juristischen Pointe des soft law SCHMIDT-AßMANN, aaO., S. 91 sowie WEILERT, aaO., S. 212, 227–232.
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Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn das Urteil hängt ganz entscheidend von der Rezeptur ab. Gelingende Praxis ist auch vom theoretischen Design abhängig. Gedankenlose Taten können nicht die Antwort auf eine Praxisschwäche der bekannten Theorien sein. Das gilt insbesondere deshalb, weil das Nachdenken über Internationale Gerechtigkeit sich, wie zu zeigen versucht wurde, aus dem Gerechtigkeitskonzept des christlichen Glaubens und der philosophischen Tradition geradezu zwingend ergibt. Es ist, das darf hinzugefügt werden, angesichts der neueren weltpolitischen Entwicklungen eine gleichsam wichtige und reizvolle Aufgabe. Mit dem Ende des Zeitalters der Ideologien ist das weltweite Zusammenleben zwar nicht konfliktärmer geworden, es ergeben sich jedoch neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die höhere Freizügigkeit im Austausch – eben nicht nur auf ökonomischem Terrain, sondern im freien Spiel ganz anderer Kräfte, etwa dem des kulturellen Austauschs, der Verfahren des Völkerrechts, der Strukturen einer globalen Öffentlichkeit – hat Gewicht. Ein Tor, der diese Möglichkeit ausschlägt, klein redet und nicht überdenkt. Ein Schwärmer, der in ihr das Heil der Welt erblickt.
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Sinn für Ungerechtigkeit und das (gebrochene) Versprechen der Gerechtigkeit in der globalen Krise der Ökonomie Kritisches zum Vertrauen in transnationale Gerechtigkeit im Anschluss an Jeffrey D. Sachs und Margaret U. Walker BURKHARD LIEBSCH La justice doit garder la conscience aiguë et lucide de sa propre faiblesse: tout en combattant ses ennemis, il faut qu’elle se combatte elle-même […]. Vladimir Jankélévitch1
Inhalt I. II. III. IV. V. VI.
Im Lichte der Ungerechtigkeit: zur Glaubwürdigkeit von Theorien der Gerechtigkeit im transnationalen Horizont Vertrauen in der politischen Gegenwart: Jeffrey D. Sachs Exkurs zum Vertrauen Verletztes Vertrauen: Margaret U. Walker Versprechen und Vertrauen in Zukunft Resümee
I. Im Lichte der Ungerechtigkeit: zur Glaubwürdigkeit von Theorien der Gerechtigkeit im transnationalen Horizont Aus der Geschichte politischer Lebensformen lässt sich das Verlangen nach Gerechtigkeit nicht wegdenken. Insofern ist es nichts Neues. Platon und Aristoteles stellen es so dar, als ob die Menschen diesem Verlangen schon immer Rechnung hätten tragen müssen, sobald sie sich unerbittlichen Zwängen schieren Überlebens zu entziehen vermochten, um womöglich gut zu leben. Und bis heute wird oft der Eindruck erweckt, als bewege sich das Gerechtigkeitsdenken nach wie vor (grundsätzlich unverändert) auf der Spur dieser Vorgabe.2 1
V. JANKELEVITCH, B. BERLOWITZ, Quelque part dans l’inachevé, Paris 1978, S. 151. Vgl. O. HÖFFE, Einführung, in: DERS. (Hg.), Der Mensch – ein politisches Tier?, Stuttgart 1992, S. 5015013. 2
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Burkhard Liebsch
Doch erzwingen Prozesse der Globalisierung wie sie sich u. a. aus einem weitgehend deregulierten und gewaltträchtigen Wirtschaften, aus internationalen ökonomischen Transfers, zunehmender Migration und grenzüberschreitender Kommunikation ergeben, Transformationen der Gerechtigkeit, auf die das Gerechtigkeitsdenken denkbar schlecht vorbereitet war. Die Gerechtigkeit begegnet uns bei Platon und Aristoteles ursprünglich als auf abgegrenzte politische Lebensformen zugeschnitten. Fremden, die diesen Lebensformen nicht zugehörten, konnte sie nicht zustehen.3 Heute sehen wir uns dagegen mit der Ausformung einer neuartigen Gerechtigkeit in statu nascendi konfrontiert, die gewissermaßen vor unseren Augen zu entstehen beginnt, insofern sie ausdrücklich alle Menschen einbeziehen soll, ob sie anderen fremd sind oder nicht. Möglicherweise ist es freilich irreführend, diese Einbeziehung als eine bloße Ausweitung der Gerechtigkeit zu verstehen. Denn es ist durchaus fraglich, ob eine im globalen Horizont differenzierte Gerechtigkeit überhaupt noch aus einem einheitlichen Begriff entspringen kann oder ob die Idee der Gerechtigkeit nicht eine irreversible Pluralisierung erfahren wird, die geradewegs in ihre regelrechte Zersplitterung münden könnte. Und wird in den gegenwärtig verschärften Prozessen der Globalisierung die Gerechtigkeit überhaupt nachträglich „globalisiert“, oder verhält es sich genau umgekehrt, nämlich so, dass diese Prozesse nunmehr dazu führen, dass eine im Grunde schon immer im Verlangen nach Gerechtigkeit angelegte Globalität nachzuvollziehen sein wird? Wird die Gerechtigkeit einer sekundären Globalisierung unterworfen, durch die sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder transformiert werden könnte, oder vollzieht die Globalisierung eine in sich bereits auf Globalität angelegte Gerechtigkeit nur nach? Letzteres liegt nahe, wenn es denn stimmt, dass jedem Menschen – und zwar nicht als uns politisch Zugehörigem, sondern gerade als Fremdem – ein unbedingter Gerechtigkeitsanspruch zusteht, wie uns Levinas und Derrida in Anlehnung an jüdisches Erbe unermüdlich eingeschärft haben, das der griechischen Herkunft eines auf bestimmte Lebensformen beschränkten Gerechtigkeitsdenkens widerstreitet.4 Für beide Philosophen stellt sich dieser Anspruch freilich nicht als zwingend beweisbar dar; vielmehr sehen sie ihn einer anfechtbaren Bezeugung überantwortet, deren politisch überzeugende Wirklichkeit außerordentlich fragwürdig erscheint. Darüber hinaus kann keine Rede davon sein, das Denken dieses unbedingten Gerechtigkeitsanspruchs sei darauf vorbereitet, ihn transnational oder gar global zu denken. Wenn auch im globalen Horizont einer neuartigen Gerechtigkeit in statu nascendi alle Menschen „eingeschlossen“ bzw. niemand von ihm ausgeschlossen sein soll (selbst radikale Feinde nicht), so ist doch unbestritten, dass wir es hier keinesfalls mit einer unmittelbaren Gerechtigkeit von Angesicht zu Angesicht zu tun haben (wie sie Levinas immer wieder vorschwebte). Vielmehr geht es um hochkomplexe, von niemandem mehr in Gänze übersehbare Prozesse institutioneller Vermittlung und Sicherstellung der Gerechtig3
Im Hinblick auf Platon bemühe ich mich um eine nuanciertere Einschätzung in dem Beitrag „Platon – Um Leben und Tod: Gewalt in Sprache und Gerechtigkeit?“, in: H. KUCH, S. K. HERRMANN (Hg.), Philosophien sprachlicher Gewalt, (i. V.). 4 Verwiesen sei nur exemplarisch auf markante Texte: J. DERRIDA, Marx’ Gespenster, Frankfurt am Main 1995; E. LEVINAS, Verletzlichkeit und Frieden, Berlin 2007.
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keit(en).5 Zwar kann ein außerordentlicher Gerechtigkeitsanspruch, der von einem einzigen Anderen und von jedem in seiner Anderheitt ausgeht, diese Prozesse möglicherweise durchqueren. Und inter- oder transnationale politische Ordnungsgefüge heben ihn weder einfach auf noch lassen sie ihn gewissermaßen unter sich. Aber darin liegt zugleich die Gefahr einer anarchischen Destabilisierung, wenn eine nach bewährtem Schema Gleiches ungleich und Ungleiches gleich behandelnde, sei es distributive, sei es kompensatorische Gerechtigkeit von der nach singularer Gerechtigkeit verlangenden Anderheit jedes Anderen unterwandert und so geradezu „verrückt“ werden kann (wovon sich Levinas und Derrida überzeugt zeigen).6 Demnach läge die Globalisierung ursprünglich gewissermaßen im Gerechtigkeitsverlangen beschlossen; sie wäre eine zwingende Implikation der Gerechtigkeitsforderung selbst, insofern uns jeder Andere als ein Verlangen nach Gerechtigkeit begegnet. Ganz fremd ist dieser Gedanke auch dem „griechischen“ Gerechtigkeitsdenken nicht. Selbst bei Platon, der die Gerechtigkeit als den Sinn politischen Zusammenlebens denkt, steht zu lesen, dass man auch dem Feind Gerechtigkeit schulde (Politeia 335 d, e).7 Zu beweisen ist das freilich nicht, nur zu bezeugen.8 Im Übrigen bleibt unklar, nach welcherr Gerechtigkeit der Andere verlangt.9 Der Begriff erschien schon Platon und Aristoteles als notorisch vieldeutig. Und die inzwischen unübersehbare empirische Erforschung der Gerechtigkeit bzw. des Verlangens nach ihr zeichnet ein eher noch verwirrenderes Bild. Während ä sie sich in ihren v. a. von Piaget und Kohlberg geprägten Anfängen an normativen Vorgaben der philosophischen Tradition orientierte, um zu untersuchen, auf welchen ontogenetischen Wegen der Einzelne sich ein philosophisch bereits ausformuliertes Gerechtigkeitsverständnis von Kant bis Rawls erschließt10, weist sie heute, ausgehend von einer primären Sensibilität für Unge5
Mit guten Gründen ist eine gewisse Institutionenvergessenheit von Gerechtigkeitstheorien kritisiert worden, die ausschließlich oder primär von der Alterität des Anderen ausgehen; doch besteht auch die Gefahr, dass Theorien institutioneller Gerechtigkeit die Alterität in einer geradezu ethisch gesichtslosen Pluralität nivellieren. 6 Vgl. ausführlich dazu v. Verf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Kap. III, IV. 7 Platon hält den Gedanken einer auch Feinden zustehenden Gerechtigkeit allerdings keineswegs g konsistent durch (vgl. Kleitophon, 410 a, b; Philebos 49 d). 8 Ebenso übrigens wie die ultimative Perspektive einer Gerechtigkeit, die Platon, etwa im Gorgias-Dialog, von jenseits des Grabes her denkt. 9 Das oft in diesem Zusammenhang zitierte suum cuique (Ulpian) genügt als Antwort keineswegs. Verlangt denn wirklich primär jeder nur nach dem, was ihm selbst zukommt – und nicht nach Gerechtigkeit für den Anderen, dessen „Gut“ sie nach Aristoteles doch ist? Diese Frage würde ich J. Rawls stellen, der immer von Ansprüchen spricht, die Andere selbst erheben (Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt am Main 1992, S. 369) Im Übrigen ist bekanntlich die Interpretation des „Zustehenden“ außerordentlich strittig. Geht es um Bedürfnisse oder um das „Andere der Gerechtigkeit“, um Liebe? Die Beschränkung der Gerechtigkeit auf spezifische Umstände wie die Knappheit von Gütern, um die Menschen konkurrieren, kann keineswegs unter Rekurs auf ein entsprechend eindeutiges Verlangen nach Gerechtigkeit legitimiert werden. Es handelt sich vielmehr um eine Beschränkung und Normalisierung der Gerechtigkeit, g die nicht von sich aus diesen realistisch beschränkten Zuschnitt aufweist. 10 Vgl. L. KOHLBERG, Essays on Moral Development, Vol. 1, The Philosophy of Moral Development. Moral Stages and The Idea of Justice, San Francisco 1981.
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rechtigkeit auf außerordentlich disparate Artikulationsformen von Gerechtigkeitsansprüchen hin, die der wahrgenommenen Ungerechtigkeit mehr oder weniger abzuhelfen versprechen, manchmal aber auch in die Irre führen.11 Was sich subjektiv als Ungerechtigkeit darstellt und mit moralischer Empörung einhergeht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen u. U. als bloße Selbstgerechtigkeit oder als Ausdruck eigenen Unglücks, das streng genommen kein Gerechtigkeitsproblem darstellt.12 Offenkundig stellt das, was man Sinn für Ungerechtigkeit genannt hat, keine Berufungsinstanz dar.13 Schon auf der Ebene der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, die das Verlangen nach Gerechtigkeit allererst auf den Plan ruft, ist Irrtum möglich. Es kann sich also herausstellen, dass es sich gar nicht um eine Frage der Gerechtigkeit handelt. Weiterhin kann das artikulierte Gerechtigkeitsverlangen in seiner Selbstgerechtigkeit die Idee der Gerechtigkeit geradezu konterkarieren. Und aus dem erfahrenen Mangel an Gerechtigkeit ist nicht direkt zu entnehmen, wie eine Gerechtigkeit positiv zu denken wäre, die diesen Mangel zu beseitigen verspräche.14 11
Vgl. L. MONTADA, „Gerechtigkeitsforschung, empirische“, in: S. GOSEPATH, W. HINSCH, B. RÖSSLER (Hg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 1, Berlin 2008, S. 411–416; M. SCHMITT, „Sensibilität für Ungerechtigkeit“, in: Psychologische Rundschau 60.1. Besser sollte man von einer primären Sensibilisierbarkeit sprechen. Mitnichten ist nämlich gemeint, einen fertig ausgebildeten Sinn für Ungerechtigkeit bringe man von Natur aus mit. In dieser Hinsicht können wir nicht mehr einen moral sense (Shaftesbury) im Sinne der britischen Moralisten einfach voraussetzen. (Vgl. F. HUTCHESON, Erläuterungen zum moralischen Sinn, Stuttgart 1984.) Die Moralpsychologie bis hin zu Rawls’ Konzeption des „Gerechtigkeitssinns“ fußt denn auch auf einer epigenetischen Vorstellung seiner Entfaltung, die sich nach und nach erst einmal die Probleme der Gerechtigkeit in ihrer Vielfalt erarbeiten und den Gebrauch moralischer Sprache mit Bezug auf Personen, Situationen, Verfahren, Resultate, Strukturen und die Welt erlernen muss, um sich operative Möglichkeitsspielräume des Denkens in Gerechtigkeitsbegriffen zu erschließen. Vgl. J. RAWLS, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 443 f. Wer sich zutraut, die festzustellende deskriptive Vielfalt der Artikulationen von (Un-)Gerechtigkeitsfragen normativistisch zu beschneiden, Sphären und Begriffe der Gerechtigkeit voneinander zu trennen, muss sich fragen lassen, ob das ohne Gewaltsamkeiten abgeht. Das betrifft besonders die Trennung jener dem einzelnen Anderen verpflichteten von einer nur unter Gleichen (Dritten) definierbaren Gerechtigkeit. Dass die eine mit der anderen schlicht „nichts zu tun“ hätte, wie manche Gerechtigkeitstheoretiker behaupten, die mit „begrifflichen Schnitten“ rasch bei der Hand sind, erscheint in der Perspektive von Derrida und Levinas als gewaltsame Willkür, geht es ihnen doch gerade um einen unvermeidlichen inneren Widerstreit in der Gerechtigkeit, die wir jedem Anderen (unter Dritten) schulden. 12 J. SHKLAR, Über Ungerechtigkeit, Frankfurt am Main 1997, diskutiertt solche Fälle. 13 Es ist ein notorisches Missverständnis, jeglichen Ausgang von der Erfahrung von Ungerechtigkeit sogleich als einen Versuch der Berufung auf sie zu verstehen. Dass ersterer gleichwohl die wichtigste Quelle des Verlangens nach Gerechtigkeit darstellt, ist ausführlich gezeigt worden in: I. KAPLOW, C. LIENKAMP (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext, Baden-Baden 2005. 14 Gleichwohl möchte ich mit Ricœur – und gegen Rawls’ Begriff des Gerechtigkeitssinns – behaupten: „wir sind zunächst für die Ungerechtigkeit sensibel: ‚Ungerecht! Welche Ungerechtigkeit!’ schreien wir. In der Tat betreten wir den Bereich des Ungerechten und des Gerechten auf dem Wege der Klage. Und selbst auf der Ebene institutionalisierter Gerechtigkeit, vor dem Gerichtshof, verhalten wir uns noch als ‚Kläger‘ und ‚klagen wir ein‘. Nun ist aber der Ungerechtigkeitssinn nicht nur stechender, sondern auch scharfsinniger als der Gerechtigkeitssinn; denn die Gerechtigkeit ist öfter das, was fehlt, und die Ungerechtigkeit das, was herrscht. Und die Men-
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Das Empfinden von Ungerechtigkeit muss also über sich selbst aufgeklärt werden und bedarf der Rechtfertigung.15 Das gilt umso mehr, wenn wir vor der Frage stehen, wie es in eine Pluralität verschiedener Gerechtigkeitsbegriffe zu übersetzen ist. So unterscheiden wir Leistungs-, Bedürfnis- oder Bedarfsgerechtigkeit, Besitzstandsgerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit, Chancen- und Teilhabegerechtigkeit; und all das wird noch mit Blick auf überlebte und künftige Generationen bedacht, die gegen uns gerechte Ansprüche haben sollen, obgleich es sich um Ungeborene handelt. Auf diese Weise erfährt die Idee der Gerechtigkeit eine geradezu maßlose Ausweitung, die synchron und diachron – idealiterr – alle (tote, lebende und noch ungeborene) Menschen einschließt. Dabei geraten freilich verschiedene Konzeptionen der Gerechtigkeit miteinander in Widerstreit. Wenn wir es nicht mit fein säuberlich voneinander getrennten „Sphären“ der Gerechtigkeit (M. Walzer), sondern realistischerweise mit einer Vielzahl einander überlagernder sozialer, politischer und transnationaler Ordnungen zu tun haben, die uns nicht gleichsam von sich aus lehren, welche Konzeption der Gerechtigkeit jeweils auf sie passt, so ist Widerstreit vorprogrammiert. Das aber hat zur Folge, dass eine Form der Gerechtigkeit zu realisieren bereits bedeuten kann, a eine andere zu veerraten. Die Gerechtigkeit, die wir jedem Anderem unbedingt schulden, wenn es nach Levinas und Derrida geht, bleibt scheinbar unvermeidlich auf der Strecke, wenn die singulare Anderheit eines jeden nivelliert wird in einer alle Anderen gleich-machenden bzw. gleich behandelnden Gerechtigkeit, die bereits auf staatlicher Ebene, erst recht aber im globalen Horizont transnationaler Formen von Gerechtigkeit nur noch mit einer Vielzahl von Menschen rechnen kann und sie auf diese Weise gleichsam ethisch ihr Gesicht verlieren lässt. Doch wird gerade das als (seit langem verlangter) „kosmopolitischer“ Fortschritt verkauft. Endlich sollen Nähe oder Ferne, Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in einer geteilten politischen Lebensform keinen moralischen Unterschied mehr machen. Endlich soll auch der Fernste unbedingt derselben Gerechtigkeit teilhaftig werden wie der Nächste, d. h. aber: als Gleicher. Lässt sich dagegen eine Form der Gleichheit denken, die nicht um den Preis einer ethischen Gesichtslosigkeit erkauft werden müsste, in der das Antlitz jedes Anderen verschwindet im Grau-in-Grau einer indifferenten Gleichheit? Oder bedürfen wir unabdingbar eben dieser Gleichheit, um die global ausgeweitete Gerechtigkeit vor maßloser Überforderung durch eine angeblich „unbedingt“ jedem Anderen zustehende Gerechtigkeit zu bewahren? Vorläufig ist keine befriedigende Antwort auf diese eindringlichen Fragen in Sicht; aber dass sie uns nicht loslassen zeigt immerschen haben eine deutlichere Vorstellung von dem, was den menschlichen Beziehungen fehlt, als von der rechten Art, sie zu organisieren. Aus diesem Grunde setzt die Ungerechtigkeit auch bei den Philosophen als erste das Denken in Bewegung.“ P. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 240 f.; vgl. J. RAWLS, Gerechtigkeit als Fairneß, Freiburg i. Br./ München 1977, S. 133 ff. 15 Als Minimum ist anzunehmen, dass Sinn für Ungerechtigkeit eine spezifisch moralische, nicht-gleichgültige (und ev. abzustellende oderr zu kompensierende) Verletzung zur Sprache bringt. Vom Anspruch, sie abzuwenden oder ihr künftig vorzubeugen, zum Anrecht führt indessen nur der Weg einer normativen Explikation und Transformation von Erfahrungsansprüchen in Geltungsansprüche, die nicht einfach moralische Probleme aufliest, sondern sie als solche (originär) sichtbar macht und moralisiert.
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hin, wie sich das Verlangen nach einer – vielleicht un-möglichen – Gerechtigkeit im besten Sinne selbst im Wege steht, indem es sich schierer Selbst-Gerechtigkeit widersetzt, die auf dem Weg zu einer universalen Gerechtigkeit gerade diejenige Ungerechtigkeit vergessen könnte, welche der Gerechtigkeit selbst innewohnt, wenn sie niemals zugleich allen und jedem Anderen als Anderem gerecht zu werden versprechen kann.16 Davon lässt indessen eine inzwischen regelrecht „industriell“ (T. Pogge) produktive Gerechtigkeitsdiskussion nur wenig ahnen. Immer raffiniertere Theorien werden lanciert, so dass ein Beschäftigungsprogramm für Gerechtigkeitstheoretiker auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht auf unabsehbare Zeit gesichert scheint, ohne dass die Aussicht besteht, man werde herausfinden, wie es möglich ist, im globalen Horizont gerecht zu sein (und nicht nur subtil von der Gerechtigkeit zu reden). Häufig hat es den Anschein, als suche man vor allem nach einem zwingenden Beweis dafür, dass wir im globalen Horizont anderen überhaupt Gerechtigkeit (und nicht bloß mehr oder weniger herablassende Großzügigkeit) schulden.17 Darüber hinaus wird nicht selten auch bezweifelt, ob die üblicherweise als Gerechtigkeitsfragen aufgeworfenen Probleme der weltweiten Armut überhaupt eine moralische Herausforderung oder primär eine politische Aufgabe (im Sinne unabdingbarer Nothilfe etwa, die kaum beanspruchen kann, gerecht zu erfolgen) darstellen. So werden auch Grundbegriffe wie Moral und Politik zweifelhaft oder geraten ins Wanken im Zuge einer Globalisierung, die, weit entfernt, nur einen weiteren Umfang der Anwendung bisheriger Konzepte zu erfordern, deren radikale Revision nach sich ziehen könnte. Das gilt nun auch für die Quelle des Verlangens nach Gerechtigkeit selbst: für den Sinn für Ungerechtigkeit, ohne den wir nicht einmal wahrnehmen würden, wo und in welcher Hinsicht es an Gerechtigkeit fehlt, und zwar womöglich so, dass unbedingt und ultimativ die Forderung nach Abhilfe zu stellen ist. Im Sinn für Ungerechtigkeit muss das zuerst zu erschließen sein, sonst hat das Verlangen nach Gerechtigkeit überhaupt keinen Ansatzpunkt. Sinn für Ungerechtigkeit bringt also die Probleme der Gerechtigkeit originär zum Vorschein und führt dem Verlangen nach Gerechtigkeit wie auch deren theoretischer Artikulation überhaupt erst die Gegenstände zu. Letztere kann und 16 Ist die Forderung nach einer, umfassenden Ordnung der Gerechtigkeit, die einem global sich artikulierenden Sinn für Ungerechtigkeit Rechnung tragen würde, überhaupt sinnvoll geltend zu machen? Rawls schien das im Sinn zu haben, als er sein Modell der Gerechtigkeit analog vom Urzustand, in dem über die Fairness der institutionellen Grund-Ordnung einer Gesellschaft geurteilt werden soll, auf einen zwischen-staatlichen Urzustand übertrug. Gewiss führt die allgemein beobachtete Entbindung ökonomischer Globalisierungsprozesse r v. a. von national-staatlichen Ordnungen nicht zu einer generellen Deregulierung, Ent-Ordnung und Ent-Ortung der entsprechenden Gerechtigkeitsprobleme. Gilt es aber, eine kosmo-politische, gerechte Ordnung zu etablieren? Oder eine Art moralischen Föderalismus, durch Subsidiarität ergänzt, sowie auf die realen politischen Verhältnisse einer Vielzahl heterogener Lebensformen zugeschnitten? Die Forderung nach einem gerechten Nomos der Erde als Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung ist kaum sinnvoll zu erheben, wenn man die Vielzahl der ins Spiel gebrachten Gerechtigkeitsbegriffe (s. o.) bedenkt, die sich gewiss nicht als bloße Begriffsverwirrung abtun lässt, sondern zur Revision einer in sich pluralen Gerechtigkeit zwingt. 17 Vgl. U. STEINVORTH, „Globalisierung – Arm und Reich“, in: F. J. WETZ (HG.), Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 4, Recht auf Rechte, Stuttgart 2008, S. 170–206.
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muss sich allerdings sekundär ev. auch gegen einen Sinn für Ungerechtigkeit richten, der sich im (wie auch immer i. E. motivierten) Beklagen von Mängeln erschöpft und nicht zeigt, wie sie abzustellen wären. ä Dennoch ist dieser Sinn nicht als bloße Vorstufe der Gerechtigkeit zu verstehen; er bleibt im Gerechtigkeitsdenken selbstt virulent, etwa wenn deutlich wird, dass eine Gerechtigkeit auf Kosten einer anderen geht, so dass Ungerechtigkeit in der Gerechtigkeit selbst zum Vorschein kommt (wie es im skizzierten Missverhältnis von Gleichheit und singularer Gerechtigkeit deutlich wird).18 Nur ein entsprechend präzisierter, gerade nicht auf bloßen Zorn oder Empörung reduzierter Sinn für Ungerechtigkeit wird deshalb einer globalisierten Gerechtigkeit bzw. einer im Zeichen der Gerechtigkeit neu zu denkenden Globalisierung zugute kommen können, die mit einer schweren Glaubwürdigkeitshypothekk belastet scheint. Handelt es sich bei dem Versuch, die Gerechtigkeit nunmehr in globaler oder wenigstens in interund transnationaler Hinsicht zu formulieren, nicht immer auch darum, sie als möglich, als einlösbar und insofern realistisch zu beschreiben? Arbeitet man so gesehen nicht an einem Versprechen wirklicher Gerechtigkeit, die all denen zugute kommen soll, die bislang vielfach nicht einmal ihre elementarsten Ansprüche und Rechte artikulieren können, so dass dies andere für sie advokatorisch versuchen müssen?19 Gibt aber nicht gerade dies, aufgrund massivster wirklicher Ungerechtigkeit, zu einer Verachtung der Rede von Gerechtigkeit Anlass, die man nicht als bloßen Defätismus abtun kann? Muss sich demzufolge nicht jedes Versprechen künftig doch einzulösender Gerechtigkeit an der wirklichen Ungerechtigkeit messen lassen und in Rechnung stellen, inwieweit es überhaupt etwas gegen die wirkliche Ungerechtigkeit auszurichten versprechen kann? Wer Gerechtigkeit im Prozess der Globalisierung zu artikulieren unternimmt, kann Glaubwürdigkeit im Sinne dieses Versprechens nur sehr schwer für sich in Anspruch nehmen. Wo Gerechtigkeit global bedacht wird (und zwar so, dass die Theorie der Gerechtigkeit in Aussicht stellt, ihrerseits praktisch bedeutsam zu werden), nimmt man 18 Ich habe die hier nur anzudeutenden Gedanken einer inneren Un-Möglichkeit in der Gerechtigkeit und eines ihr immanenten Widerstreits an anderer Stelle ausführlich entwickelt. Entscheidend ist hier v. a., wie Sinn für Ungerechtigkeit in der Gerechtigkeit deren Selbstgerechtigkeit entgegenwirken kann, die immer dann droht, wenn das Gerechtigkeitsdenken von unaufhebbarer Ungerechtigkeit (die ihr selbst innewohnen könnte) keine Spur mehr verrät. Zweifellos verschärfen diese Gedanken die Frage, wie sich heute ein „Versprechen wirklicher Gerechtigkeit“ glaubwürdig begründen ließe; vgl. v. Verf., Kritische Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie? Anmerkungen zur aktuellen kultur- und geschichtsphilosophischen Diskussion mit Blick auf Kant und Derrida, in: Kantstudien 98 (2007), Heft 2, S. 183–217. 19 Wenigstens indirekt müssen Andere, von denen das Verlangen nach Gerechtigkeit ausgeht, überhaupt in Erscheinung treten können. U. u. erfordert das eine Politik des Sichtbarmachens, des Gehörverschaffens stellvertretend für Andere, die sich nicht artikulieren können, aber zu „zählen“ begehren. So unterwandert die offene Frage, wer zählt (Rancière), bzw. was uns Fremde im Sinne der Gerechtigkeit angehen, eingespielte politische Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften. LUC BOLTANSKI geht so weit, zu sagen, im öffentlichen Erscheinungsraum (H. Arendt) sei nach Maßgabe einer politisch-medialen Ökonomie der Aufmerksamkeit „presence [...] the only guarantee of truth“; Distant Suffering, Cambridge 1999, S. 183. Ein advokatorisch vorgetragenes Verlangen nach Gerechtigkeit für Andere muss sich allerdings fragen lassen, ob es sie in gewisser Weise ebenfalls zum Schweigen bringt, wenn es nicht bedenkt, inwieweit die freie Rede Anderer überhaupt substituierbar und vertretbar sein kann.
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vielfach ohne Rücksicht darauf ungefragt Vertrauen in die Gerechtigkeit in Anspruch, das aber vielerorts ganz und gar abhanden gekommen ist. Jede Theorie, die dessen ungeachtet erneut übermäßige Gerechtigkeitsansprüche legitimiert und als einlösbar darstellt, steht deshalb im Verdacht mangelnder Glaubwürdigkeit. In praktischer Hinsicht sieht sich jede Gerechtigkeitstheorie, die nicht nur Theorie bleiben will, mit einem eminenten Mangel an Vertrauen in die Gerechtigkeit und in jegliche Rhetorik der Gerechtigkeit konfrontiert, die nicht in dem (an sich ehrenwerten) Versuch, die Gerechtigkeit im transnationalen Horizont neu zu denken, zugleich einem wachen Sinn für fortbestehende Ungerechtigkeit zur Sprache verhilft. Je mehr man also theoretisch von Gerechtigkeit in globaler Perspektive spricht, ohne zugleich dies zu tun, desto weniger glaubwürdig wird die Theorie erscheinen; und je weniger diese beschönigt, inwiefern sie wirkliche Ungerechtigkeit nicht „aufzuheben“ versprechen kann, desto überzeugender wird sie wirken.20 Ich nehme das zum Anlass, das Verlangen nach Gerechtigkeit im globalen bzw. transnationalen Horizont im Lichte der skizzierten Vertrauens- und Glaubwürdigkeitshypothek verständlich zu machen.
II. Vertrauen in der politischen Gegenwart: Jeffrey D. Sachs Schon vor einem Vierteljahrhundert stellte ein soziologischer Beobachter fest, das Vertrauen sei zu einem allgegenwärtigen Thema aufgerückt.21 Tatsächlich reflektiert die Diskussionslage in den Sozial- und Kulturwissenschaften besonders seit dem Erscheinen von Luhmanns einflussreicher Monografie über das Vertrauen als „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“ (1973) ein nachhaltiges Interesse an diesem Begriff. Längst befassen sich auch Historiker umfassend mit dem Thema; Soziologen meinen in ihm „die Grundlage des sozialen Zusammenhalts“ entdeckt zu haben; und selbst hart gesottene Ökonomen sind sich inzwischen darüber klar geworden, wie sehr auch weltweit funktionierende Märkte auf generalisiertes Vertrauen angewiesen sind. Unter Berufung auf Adam Smith betont man, effektives Wirtschaften erfordere im ökonomischen Wettbewerb und Kampf auch vertrauensvolle Zusammenarbeit.22 Inzwischen sind wir freilich auch Zeugen regelrechter rhetorischer Orgien des Vertrauens und seiner geradezu beschwörenden Inanspruchnahme – unter dem desaströsen Eindruck exzessiver Finanzspekulationen, die den Verdacht wecken, fortgesetzter Missbrauch kollektiven Vertrauens gehöre geradezu zu ihrem System. Ob dieses System nur in eine vorübergehende Krise oder bereits ins finale Stadium seines Zusammenbruchs geraten ist, wird sich zeigen. Schon jetzt aber wirkt die im Rekurs auf Adam Smith behauptete produktive Komplementarität von ökonomischem Kampf und Vertrauen wie 20 In diesem Sinne ist es ein Alarmzeichen, dass sich in nicht wenigen Theorien der Gerechtigkeit kaum auch nur das Wort Ungerechtigkeit findett oder letztere nur als Vorstufe der Gerechtigkeit in Betracht kommt, deren Würdigung philosophisch allenfalls als eine Art moralisches Propädeutikum gilt. 21 Vgl. A. BAIER, Vertrauen und seine Grenzen, in: M. HARTMANN, C. OFFE (Hg.), Vertrauen, Frankfurt am Main 2001, S. 37–84, hier: S. 53. 22 J. D. SACHS, The End of Poverty. Economic Possibilities for Our Time, New York 2006, S. 327 (=EP).
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eine dringend revisionsbedürftige Naivität. Pauschal lässt sie sich jedenfalls nicht aufrechterhalten, wenn ökonomisches Handeln so geschieht, dass es nicht nur das in ihm vielfach funktionale Vertrauen aufs Spiel setzt, sondern auch das in die derzeit weltweit dominante, kapitalistische Art des Wirtschaftens selbst gesetzte Vertrauen zu zerstören droht. Möglicherweise liegt freilich gerade darin ein nicht mehr für möglich gehaltenes Potenzial der Befreiung von einer Herrschaft des Ökonomischen, die vielfach asoziale Züge angenommen hat. Der Ökonom Jeffrey Sachs, an dessen Buch The End of Poverty ich hier anknüpfe, macht in diesem Sinne auf massive Gründe für weltweit gestörtes, wenn nicht zerstörtes Vertrauen aufmerksam. Dabei geht es ihm weniger um Vertrauen als funktionales Element weltweiten ökonomischen Handelns, sondern um Vertrauen, das man unter Berufung auf das Erbe der Aufklärung in das ökonomische Handeln selbst gesetzt hat. Dieses Vertrauen habe sich auf das „Versprechen“ gestützt, effektives Wirtschaften werde zur Respektierung unveräußerlicher Rechte, menschlicher Freiheit und zu allgemeinem Wohlstand bzw. kollektivem m pursuit of happiness beitragen (EP, S. 363). Aber gerade diejenigen Wirtschaftssysteme (allen voran dasjenige der USA), die dieses Erbe angetreten haben, hätten es verraten. Deshalb vertraue man vor allem in denjenigen Staaten, die im Prozess der Globalisierung immer weiter zurückzufallen scheinen, kaum mehr einer kapitalistischen Rhetorik ökonomischer Freiheit und Prosperität, die immer wieder die Einlösung jenes Versprechens in Aussicht gestellt hat.23 Werr je ein solches Versprechen gegeben haben soll, ob es sich wirklich um ein Versprechen gehandelt hat, für das, als gebrochenes, nun sogar ganze ökonomische Systeme haftbar zu machen wären, deren Reputation im Lichte der Aufklärung rückhaltlos auf dem Spiel stehen soll, kann hier dahin gestellt bleiben. Wenn Sachs programmatisch fordert, im Sinne der Abschaffung schlimmster Armut nun endlich zu handeln, weil man es versprochen habe24 und nur dadurch Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könne, so kann er sich ungeachtet dieser ungeklärten Fragen immerhin auf einige sehr konkrete, quasi als Versprechen zu verstehende Verbindlichkeiten berufen, die die Staaten des Westens explizit eingegangen sind. So z. B., als sie die Programmatik Health for All by the Year 2000 unterschrieben, der Gewährleistung universalen Zugangs zu elementarer schulischer Bildung (ebenfalls um die Jahrtausendwende) beipflichteten und eine Steigerung ihrer Entwicklungshilfe auf 0,7 % des BSP zusagten (ein Wert, der tatsächlich auf etwa ein Drittel seitdem gefallen ist; EP, S. 213). Die Folge überwiegenden Versagens angesichts dieser selbst gesetzten Ziele und verbindlichen Zusagen ist nicht nur ein weit verbreiteter Zynismus (EP, S. 266) auf Seiten derer, denen das Versprochene hätte zugute kommen sollen, sondern auch radikaler Zweifel am zentralsten Anspruch ökonomischen Denkens überhaupt, wenigstens den elementarsten menschlichen Grundbedürfnissen angemessen Rechnung zu tragen. Haben sich nicht speziell die kapitalistischen Systeme des Westens als „incapable of responding to the needs of others“ erwiesen (EP, S. 360, 348)? Haben die Versprechungen, die man auf vielen teuren internationalen Konferenzen gemacht hat, nicht jegliche 23 24
Vgl. ebd., S. 337, 363, 210. Vgl. den Acting because we promised d übertitelten Abschnitt ebd., S. 334 f.
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Glaubwürdigkeit dieser Systeme (d. h. das Vertrauen Anderer in sie) und ihres zentralsten Anspruchs ruiniert? Wie dem auch sei: jeder Versuch, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzugewinnen, wird zwei Voraussetzungen erfüllen müssen: „the rich countries will need to move beyond the platitudes of helping the poor, and follow through on their repeated promises to deliver more help“ (EP, S. 216, 266). Wenn sich Versprechen dagegen weiterhin in leeren Versprechungen erschöpfen, die kein konsequentes Handeln erwarten lassen, zieht das auf internationaler Ebene eine zynische Verachtung jeglicher „verbindlichen“ Rhetorik nach sich, die ihre Glaubwürdigkeit umso mehr beschwören muss, wie sie in Frage steht. Hier handelt es sich aber nicht allein um die prekäre Vertrauenswürdigkeit eines rhetorischen moralischen Sprachgebrauchs, sondern auch um die Frage, ob er überhaupt noch Bezug nimmt bzw. Antwort gibt auf das Verlangen danach, äußerster ökonomischer Not entgegenzuwirken. Sind jene Versprechungen nur rhetorischer Ausdruck der moralischen Defensive, in die die reichen Staaten der Welt angesichts der Tatsache geraten sind, dass fast zweieinhalb Milliarden Menschen unter Armut bzw. unter extremer Armut leiden (EP, S. 18 f.)? Oder sind sie als ernst zu nehmende Antworten auf die Stimme der Armen zu verstehen? Sachs bezweifelt letzteres offenbar. Sonst müsste er nicht eigens fordern, diese Stimme zu artikulieren und ihr Geltung zu verschaffen (EP, S. 365). Der von ihm diagnostizierte Vertrauensverlust betrifft im internationalen Maßstab nicht nur die geringe Glaubwürdigkeit der praktischen Verbindlichkeit zahlloser Versprechen; er betrifft mehr noch den Verlust des Vertrauens in die Möglichkeit, sich wenigstens mit elementarsten Forderungen an Andere wenden und bei ihnen Gehör finden zu können. Wo das nicht gelingt, kann auch kein Versprechen als Antwort auf die anhaltende Erfahrung der Verletzung grundlegender Rechte als glaubwürdig erscheinen bzw. Vertrauen erwecken. Das fragliche Vertrauen betrifft hier die Responsivität des Versprechens, d. h. seines Antwortcharakters mit Bezug auf vorgängige kollektive Erfahrungen, die nach dem Versprechen verlangen, für die Abschaffung der schlimmsten Armut ultimativ zu sorgen. Erst wenn das Versprechen in diesem responsiven Sinne als glaubwürdig erscheint, wird man auf seine Gültigkeit ernsthaft setzen und auf die Verbindlichkeit des Versprochenen vertrauen. Zuerst setzt das Vertrauen auf die Responsivität des Versprechens, dann erst auf dessen Gültigkeit und auf die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes. Mehr noch als an der zweifelhaften Glaubwürdigkeit zahlloser Versprechen, die man im Zeichen des Erbes der Aufklärung seitens der reichen Staaten des Westens gegeben hat, lässt der von Sachs hervorgehobene, nicht unberechtigte Zynismus an dieser Responsivität zweifeln. Aber wo hat sie überhaupt ihren Ort? Wer oder was soll für diese Responsivität einstehen? Können wirklich politisch-ökonomische Systeme in dem, was sie angeblich „versprechen“, als mehr oder weniger „responsiv“ verstanden werden? Am Schluss seines Buches The End of Poverty schlägt Sachs eine Antwort im Sinne des methodologischen Individualismus vor: Solche Systeme und ihre Versprechen beruhen letztlich auf den Individuen, die den ökonomischen und moralischen Sinn dieser Systeme als für sich verbindlich erachten. Es geht also um „commitments of individuals“ so wie um „mere accumulations of individual actions“ (EP, S. 367). So gesehen hätten wir auf die Ebene
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individuellen Selbstseins zurückzugehen, wenn wir den inneren, weitgehend ungeklärten Zusammenhang von Responsivität, Vertrauen und jenem Versprechen der Gerechtigkeit verstehen wollen.25 Wenn man Versprechen keinen Glauben mehr schenkt, die einst mit der Geschichte des Westens verknüpft waren, so bedeutet das letztlich, dass man Anderen nicht mehr vertraut, die für diese Versprechen einstehen müssten. Und wenn Sachs in weltweiter Perspektive Erinnerung an diese Versprechen anmahnt, so appelliert er an Andere, diese Versprechen als für sich verbindlich zu betrachten und sich in diesem m Sinne für diejenigen, die unter schlimmster Armut leiden, als glaubwürdig zu erweisen. Das heißt, Sachs baut darauf, dass diese Glaubwürdigkeit letztlich auf individuellem Selbstsein beruht, dem man im Sinne des Versprechens zu vertrauen hätte.26 Ich nehme das zum Anlass, in einem Exkurs zuerst auf das von Sachs nicht weiter befragte Vertrauen einzugehen (3.), den ich im zweiten Schritt mit Margaret U. Walker auf das Verständnis politisch ruinierten Vertrauens (4.) und auf die Frage seiner Wiedergewinnung im Sinne der Versprechen beziehe, an die Sachs mit Nachdruck erinnert hat (5.).
III. Exkurs zum Vertrauen Der verbreitete rhetorische Missbrauch herbei geredeten Vertrauens als einer Art moralischen Kompensation für politisch-ökonomisches Versagen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich wirkliches Vertrauen, das sich auf die Erfahrung praktischer Verbindlichkeit Anderer stützt, sehr weitgehend jedem direkten Zugriff entzieht. Zwar kann man Anderen ausdrücklich Vertrauen schenken; und sie können sich in einem konkreten Fall als vertrauenswürdig erweisen. Doch solange man mehr oder weniger im Vertrauen auf Andere lebt, fällt es als solches gar nicht auf. Kommt es dagegen eigens zur Sprache, so gerät es sofort ins Zwielicht von Zweifeln, Verdacht oder Verrat. Man verlangt Vertrauen gerade in Fällen, in denen es nicht mehr als schlicht gegeben vorauszusetzen ist. Ungetrübtes bzw. ungestörtes Vertrauen bedarf überhaupt keiner Thematisierung 25
Möglicherweise liegt in Sachs’ offenkundiger Moralisierung der Responsivität Einzelner freilich eine moralische Überlastung, die (wie auch die Rede von einer bloßen Akkumulation einzelner Handlungen) die Bedeutung der institutionellen Verlässlichkeit (reliability) systemischer Ebenen unterschätzen lässt, ohne die es keine transnationale Gerechtigkeit geben kann. Mit Recht verweist Sachs auf jene Responsivität als wichtigste Antriebsquelle des Verlangens nach Gerechtigkeit. Aber als alleiniger Garant dauerhafter Verlässlichkeit ihrer institutionell vermittelten Gewährleistung wäre es hoffnungslos überfordert. 26 „Letztlich“ ist eine betont vorsichtige Formulierung. Von einer Reduzierbarkeit jener auf den Westen oder auf die Aufklärung bezogenen Versprechen, die Sachs im Blick hat, auf die Ebene individueller Verbindlichkeit etwa kann gar keine Rede sein. Dennoch halte ich die Verbindung zwischen einer durchaus nicht bloß „rhetorischen“ Rede von solchen Versprechen einerseits und der Ebene verbindlichen Selbstseins andererseits für unaufgebbar. f Gibt man sie auf, so folgte aus jenen Versprechen überhaupt nichts Verbindliches für diejenigen, die Teil der politischökonomischen Systeme des Westens sind. Und umgekehrt wäre am Ende nicht mehr verständlich, wie Individuen bspw. moralische Ziele, die sie als für sich verbindlich erachten, auch als Maßstäbe verstehen können, die sie an diese Systeme selbst anlegen. Zu einer moderaten Fassung des methodologischen Individualismus vgl. P. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, München 1988, S. 295ff.
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und gestattet vielleicht nicht einmal, dass es zur Sprache kommt. Deshalb sagt die amerikanische Philosophin Annette Baier nicht zu unrecht: „Die meisten von uns erkennen eine gegebene Form des Vertrauens am leichtesten, nachdem sie plötzlich zerstört oder zumindest erheblich verletzt worden ist. Wir bewohnen ein Klima des Vertrauens, so wie wir in der Atmosphäre leben; wir nehmen es wahr wie die Luft, nämlich erst dann, wenn es knapp wird oder verschmutzt ist.“27 Auch nachträglich noch kann es schwer sein, zu entscheiden, ob wir zuvor Anderen vertraut haben oder ob wir uns nur auf etwas verlassen haben. Als verlässlich erweist sich im Sinne einer als normal zu erwartenden Regelmäßigkeit vieles – vom Auf- und Untergang der Sonne oder des Mondes und dem Rhythmus der Jahreszeiten bis hin zum regelmäßig mehr oder weniger eingehaltenen täglichen Fahrplan öffentlicher Verkehrsmittel –, ohne dass wir darauf vertrauen würden. Um diese Art normaler Verlässlichkeit vom Vertrauen im engeren Sinne zu unterscheiden, spricht Luhmann im ersten Fall von Zuversicht; andere verwenden die Begriffe reliability und confidence im Gegensatz zu trust.28 Als Bestandsstück eines normalisierten lebensweltlichen Wissensvorrats, der sich auf Erwartungssicherheit stützt, hat Alfred Schütz das von ihm sog. Et-cetera-Prinzip beschrieben und anhand verlässlicher Gewohnheiten plausibel gemacht. Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich auf An- und Eingewöhntes verlässt, kaschiert allerdings vielfach, ob man sich nur auf etwas oder (auch) auf jemanden verlässt, dem man vertraut.29 Auch diese Unterscheidung selbst wird erst dann „relevant“, wie Schütz sagen würde, wenn die Verlässlichkeit als Verlässlichkeitt in Frage steht, so dass zweifelhaft wird, worauf sie sich eigentlich gründet.30 Phänomenologen, die an Schütz anknüpfen, sprechen in diesem Zusammenhang von einer fungierenden, impliziten Verlässlichkeit, die uns im Vertrauen auf sie handeln lässt. So wird sprachlich kontaminiert, was in einer Krise des Vertrauens nachträglich deutlich auseinander tritt: die Frage, 27
A. BAIER, „Vertrauen und seine Grenzen“, S. 42; O. LAGERSPETZ, „Vertrauen als geistiges Phänomen“, in: M. HARTMANN, C. OFFE (Hg.), Vertrauen, S. 85–133, hier: S. 92, 113. 28 Luhmann spricht zwar auch von „Systemvertrauen“ (im Gegensatz zu persönlichem Vertrauen in Andere), meint aber im ersten Fall nur eine Art Zuversicht praktischer Bewährung von Regelmäßigkeiten. In sozialen Systemen bewährt sich aber auch diese Zuversicht letztlich nur aufgrund des Vertrauens, das man in Andere als „Träger“ dieserr Systeme setzen kann. Luhmann stellt schließlich selbst fest, „Grundlage allen Vertrauens t ist die Darstellung des eigenen Selbst als einer sozialen, sich in Interaktionen aufbauenden, mit der Umwelt korrespondierenden Identität“. Bemerkenswert scheint mir, dass Luhmann als Mindestbedingung eines Selbst, dem man vertrauen kann, dessen Ansprechbarkeit versteht. „Wer sich von vornherein als unansprechbar darstellt [...], erwirbt kein Vertrauen.“ N. LUHMANN, Vertrauen, Stuttgart 31989, S. 68. Ich komme darauf in meiner Auseinandersetzung mit M. U. Walker zurück. 29 Vgl. M. U. WALKER, Moral Repair. Reconstructing Moral Relations after Wrongdoing, Cambridge 2006, S. 73 (=MR). Die Autorin unterscheidet trustworthiness von predictability (S. 75) und behauptet, im Sinne des Vertrauens verlasse man sich auf Andere, weil man ihnen unterstellen könne, guten Willens zu sein. Das widerspricht wiederholter Erfahrung von Unzuverlässigkeit nicht notwendig (ebd., S. 89). Umgekehrt nährt sich aber Vertrauenswürdigkeit von Verlässlichkeit. Vgl. ebd., S. 85 zum sog. default trustt als habituellem Hintergrund lebensweltlicher Erfahrung. 30 A. SCHÜTZ, T. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1979, S. 180–192.
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worauf wir uns verlassen und wem wir vertrauen können. Der unterschiedliche Sinn beider Fragen bleibt auch dann bestehen, wenn man dem Befund Rechnung trägt, dass das Sichverlassenkönnen auf etwas vielfach gerade vom Vertrauen in Andere getragen wird und dass letzteres sich umgekehrt in praktischer Verlässlichkeit bewährt.31 Während Autoren wie Luhmann davon ausgehen, soziale Verlässlichkeit funktionaler Zusammenhänge habe ein im Grunde vormodernes, heute weitgehend ins Private abgedrängtes Vertrauen längst ersetzt, halten andere (wie etwa Annette Baier) nach wie vor, oft gestützt auf ontogenetische Überlegungen, daran fest, auf Vertrauen in Andere beruhe nach wie vor jegliche Verlässlichkeit (auch wenn letztere nicht auf Phänomene des Vertrauens zu reduzieren ist). Das Vertrauen müsse als die wichtigste „verbindliche“ Infrastruktur des Sozialen gelten. Es bezeuge und begründe die Erfahrung, in einer gemeinsamen sozialen Welt zu leben. „Sozial“ sei diese Welt demnach nur insoweit, wie man mit Anderen vertrauensvolle Beziehungen etablieren und aufrechterhalten könne.32 Aber wann je hat man „volles“ Vertrauen oder (alternativ) gar keines mehr? Vertraut man je Anderen im Ganzen und in jeder Hinsicht – uneingeschränkt, vorbehaltlos, bedingungslos, absolut? Oder reicht das Vertrauen im Einzelfall nur jeweils in dieser oder jener Hinsicht so und so (begrenzt) weit? Gilt es Anderen tatsächlich selbst? Und was bedeutet das überhaupt: ihnen selbstt zu vertrauen – statt sich auf sie in der einen oder anderen Hinsicht zu verlassen? Auch für diese spezielleren Fragen gilt, dass sie erst nachträglich zum Vorschein kommen. Die Affirmation vollen Vertrauens wird gegen Zweifel an ihm gesetzt. Nachdem sie zur Geltung gekommen sind, lässt sich nur behaupten, dass man zuvor keinerlei Grund zu ihnen hatte bzw. dass sie nicht einmal als mögliche Zweifel überhaupt bewusst geworden sind. Paradox: solange man im Vertrauen lebt, weiß man es nicht. Sobald man nach Vertrauen fragt, kann es nicht mehr ungestört gegeben sein und zieht sich als solches in die Vergangenheit zurück, der gegenüber jede Frage nach ihm bereits zu spät kommt. Eigentümlich gegenwärtig scheint nur das „geschenkte“ Vertrauen zu sein.33 Doch stiftet es eigentlich nur den Beginn (oder die Wiederaufnahme) einer vertrauensvollen Beziehung, die gleichfalls nur im Nachhinein auf das Vertrauen hin befragt werden kann, das sie trägt bzw. getragen hat. Auch in diesem Falle zeigt sich: es ist allemal das zweifelhafte, verletzte oder zerstörte Vertrauen, was uns von ihm reden lässt. Ich gehe daher im Folgenden auf eine 31
Diesen Zusammenhang betont mit Recht J. DUNN, Trust and Political Agency, in: D. GAM(Hg.), Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford 1988, S. 73-93, hier: S.
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Folgte man Annette Baier, so wäre demnach soziales Leben im Zeichen vielfachen Verrats gar nicht denkbar (als ob nicht die Erfahrung von Verrat aufgrund etwa eines gebrochenen Versprechens der Gerechtigkeit gerade dieses in Erinnerung behalten und auf diese Weise an einer negativen g Sozialität festhalten würde). 33 Näher wäre zu untersuchen, worum es sich hierbei wirklich handelt. Die Sprache, in der wir davon reden, Vertrauen zu schenken, sollte nicht zu dem Fehlschluss verleiten, es stehe in Folge eines ausdrücklichen Aktes (unter Rückgriff auf Vertrauen als mehr oder weniger frei verfügbare „Ressource“) tatsächlich in unserer Macht, Anderen daraufhin uneingeschränkt zu vertrauen. Wer „Vertrauen schenkt“ überantwortet sich eher der nicht vorweg zu nehmenden Zukunft möglichen Misstrauens. Nichts bewahrt im Vorhinein davor, sich wieder mit Anlässen zu Misstrauen auseinandersetzen zu müssen.
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Analyse des Vertrauens näher ein, die genau hier ihren Ausgangspunkt hat: in den damages to trustt (Walker). Diese Analyse scheint mir besonders deswegen bemerkenswert, weil sie im Gegensatz zu risiko- und sicherheitstheoretischen Ansätzen, die sich eher im Bereich prekärer Verlässlichkeit bewegen34, erstens deutlich den Zusammenhang von Vertrauen in Andere und Verletzbarkeit durch dieses Vertrauen herstellt; zweitens bringt sie das Vertrauen differenziell zur Sprache, nicht bloß als entweder „volles“ oder zerstörtes; drittens untersucht sie Verfahren der Wiederherstellung von Vertrauen, das wie aus dem Nichts neue Vertrauenswürdigkeit originär stiftet und so in seiner grundlegenden sozialen Bedeutung erkennbar wird – ohne dem Vertrauen aber die Bedeutung eines unanfechtbaren Fundaments des Sozialen zuzuschreiben; und viertens schließlich eröffnet Walkers Ansatz die Möglichkeit, das bei Sachs aufgeworfene Problem des Vertrauens in seiner weit über persönliche, zwischenmenschliche Verhältnisse hinaus reichenden Brisanz zu erkennen. Speziell darauf werde ich mit Bezug auf das Verlangen nach Gerechtigkeit näher eingehen. Diesem Verlangen eine begründete transnationale Perspektive eröffnen zu wollen bedeutet, dass man explizit oder implizit eine entsprechende Vertrauenswürdigkeit derer in Anspruch nimmt, die sich einer erst im Entstehen begriffenen welt-weiten Gerechtigkeit verpflichtet wissen und deren wacher Sinn für Ungerechtigkeit jenseits der jeweils eigenen politischen Lebensformen dieses Verlangen inspiriert. Für sich selbst aber kann man, wie einschlägige Analysen zeigen, überhaupt keine Vertrauenswürdigkeit in Anspruch nehmen; erst recht nicht, wenn das fragliche Vertrauen durch wiederholten Bruch eines Versprechens (wie des Versprechens der Gerechtigkeit) erschüttert worden ist. Worauf kann sich dann aber überhaupt die Glaubwürdigkeit einer in „westlicher“ Perspektive gedachten transnationalen Gerechtigkeit stützen?
IV. Verletztes Vertrauen: Margaret U. Walker Statt das Vertrauen generell hochzuschätzen oder zynisch zu verwerfen35, präferiert Walker einen negativistischen Zugang: Sie setzt mit Erfahrungen verletzten Vertrauens ein, um nach Möglichkeiten der Rehabilitierung zu fragen. Dabei werden minimale nächste Anknüpfungspunkte solcher Möglichkeiten ebenso sichtbar wie ferne Fluchtpunkte eines versöhnten Vertrauens, dessen Wirklichkeitsferne die Philosophin nicht beschönigt. Es geht ihr nicht (wie Sachs) darum, etwa eine fortschrittliche Geschichte zu hypostasieren36, die ungeachtet aller Versprechen, die bislang verraten wurden, wei34 Das gilt etwa für W. Stegmaier, der weitgehend im Anschluss an Luhmann das Vertrauen als Orientierungsproblem begreift. Das Ziel jeglicher Orientierung bzw. Auseinandersetzung mit Desorientierung sei die Wiedergewinnung von Vertrautheit, Beruhigung durch orientierenden „Halt“; vgl. W. STEGMAIER, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, S. 164, 226 ff., 414 ff. 35 Vgl. A. BAIER, Trust, Tanner Lectures on Human Values, Princeton, 6.–8. 3. 1991. 36 Während sich Sachs an einer Stelle über lineare Entwicklungsvorstellungen mokiert (EP, S. 319), geht er doch selbst davon aus, dass sich bei bestimmten Ausgangsbedingungen ein QuasiAutomatismus in Richtung auf allgemeinen Fortschritt einstellen muss, der auf Sprossen einer „Leiter“ nur dorthin führen kann, wo die reichen Staaten schon stehen. Buchstäblich soll alles Gute dabei im Sinne des Fortschritts zusammenwirken (ebd., S. 24, 73), wenn man einen freien
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terhin unser Vertrauen verdiente. Vielmehr stellt sie sich dezidiert der Erfahrung vielfachen Verrats an diesen Versprechen und der Konsequenz, dass man auf eine künftig fortschrittliche Geschichte nicht im Geringsten mehr bauen möchte. Auch Sachs weiß, dass die Versprechen der Aufklärung, deren Einlösung er mit Blick auf die seiner Meinung nach längst mögliche Abschaffung wenigstens schlimmster Armut verlangt, nur noch im Vertrauen auf diejenigen überzeugen können, die sich ihnen verpflichtet wissen. Insofern ist er weit entfernt davon, zu glauben, ein „capitalism with a human face“ (EP, S. 357) werde wie von selbst für das Notwendige sorgen. Jedoch streift er nur die Überlegung, ob dieses Vertrauen – das diejenigen für sich in Anspruch nehmen, die Gerechtigkeit zu üben versprechen – auch diejenigen wird überzeugen können, denen es im Sinne der projektierten Abschaffung der Armut eigentlich zugute kommen soll. Wenn er von den reichen Staaten, speziell von den USA verlangt, endlich ihren Verpflichtungen nachzukommen („to live up to their longstanding commitment“; EP, S. 284) und sich an ihre gebrochenen Versprechen zu erinnern (EP, S. 363 f.), so muss er doch auf die Glaubwürdigkeit erneuerter Versprechen setzen – aber in den Augen derer, die erst wieder von ihr zu überzeugen wären, sofern sie nicht der Tragödie eines millionenfachen „voiceless dying“ ohnehin zum Opfer fallen (vgl. EP, Kap. 10). Nur allzu leicht degeneriert auch das heiligste Versprechen doch wieder nur zur leeren Versprechung, wenn es sich nicht dem weitgehenden Ruin des Vertrauens auf Seiten derer stellt, denen es als verbindlich erscheinen soll. So gesehen antwortet das Buch von Margaret U. Walker genau auf dieses Kernproblem von Sachs und allen, die sein politisches Anliegen teilen. Denn sie stellt die Aufgabe der Wiederherstellung von Vertrauen ins Zentrum ihrer Konzeption, die in negativistischer Perspektive auf die nachhaltige Störung oder Zerstörung des Vertrauens Antwort geben muss, wenn es im Geringsten als glaubwürdig gelten soll. Ich werde diese Konzeption im Folgenden nur im Hinblick auf die von Sachs aufgeworfenen Probleme wiederherzustellenden Vertrauens in inter- bzw. transnationaler Perspektive zur Sprache bringen. Was das Verhältnis zwischen der sog. Ersten und der Dritten Welt, den nach wie vor reichsten und den ärmsten Staaten der Welt angeht, so stehen wir heute vor einer weit zurückreichenden Geschichte erschütterten oder zerstörten Vertrauens, die sich aus einer Jahrhunderte überspannenden Erfahrung einschneidendster Ungerechtigkeit erklärt (MR, S. 192). Bis heute hat sie eine extreme Ungleichheit der Lebensverhältnisse mit massiver Benachteiligung der Ärmsten zur Folge, die, wie Sachs zeigt, nicht unter Verweis auf schiere Unfähigkeit, effektiv zu wirtschaften, oder auf korrupte politische Verhältnisse wegzuerklären ist. Zwar macht Sachs immer wieder glauben, man müsse nur die Startbedingungen für eine gesunde ökonomische Entwicklung (notfalls von außen) garantieren, damit diese wie von selbst allgemeinen Fortschritt zu menschlichen Lebensverhältnissen hervorbringen kann. Und er wehrt sich ausdrücklich dagegen, weiterhin anhaltender Ausbeutung der ärmsten Staaten durch die reichsten alle Schuld an der Armut fast eines Viertels der Menschheit zuzuschreiben. Gleichwohl erklärt er: „little Markt nur machen lässt. Zwar verurteilt Sachs die neo-liberalen Ideologen des Marktes (ebd., S. 81, 326), doch scheint er sehr zu bedauern, wie Märkte „cruelly bypass large parts of the world“, um rückständige Regionen ihrem Schicksal zu überlassen (ebd., S. 3).
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surpasses the western world in the cruelty and depredations that it has long imposed on Africa” (EP, S. 188). Was immer man über den eigenen Anteil speziell afrikanischer Staaten an ihrer vielfach ökonomisch desolaten Lage sagen mag, den Anteil „historischer Schuld“ des Westens an ihrer derzeitigen Verarmung kann man nicht in Abrede stellen. Doch ist die Geschichte dieser Verarmung37 derart verwickelt, dass man sich immer aus ihr herausreden kann. Allzu viele Menschen sind involviert; viele, ganz unterschiedliche Ursachen reichen allzu weit, bis in die Geschichte des europäischen Kolonialismus zurück, an der nun nichts mehr zu ändern ist; der angerichtete Schaden erweist sich vielfach als irreparabel. Darüber hinaus lässt sich die reklamierte Verantwortlichkeit des Westens für Wiedergutmachung kaum präzisieren. So oder ähnlich lauten Abwehrargumente, mit denen man sich pauschal auf die Position einer moralischen Indifferenz zurückzuziehen versucht. Durch dieses „thicket of excuses“ versucht Sachs einen Weg für praktische Handlungsperspektiven zu bahnen, wohl wissend, dass die Gründe für weitgehend verlorenes Vertrauen in den Westen nicht auf singuläre Ereignisse zurückzuführen sind, sondern in einer langen, destruktiven Geschichte liegen, die es in der Tat als abwegig erscheinen lässt, einen „morally acceptable status quo ante“ (Walker) wiederherstellen zu wollen.38 Was Walker „moral repair“ nennt, ist in diesem Falle streng genommen unmöglich. In den kollektiven Gedächtnissen der Armen bleibt gewiss eine weit zurückreichende Gewalt-Geschichte noch lange lebendig, die von (bis heute anhaltend) unterlassener Hilfeleistung (wie zuletzt angesichts der AIDS-Epidemie oder in Darfur und Ruanda und Umgebung) über rassische Diskriminierung und Ausbeutung (wie in Südafrika) bis hin zu genozidalen Praktiken (wie sie sich gegen die Hereros oder die Bewohner des Kongo richteten) alles beinhaltet, was Menschen einander antun können. Die weitaus meisten Opfer dieser Gewalt-Geschichte haben sie nicht überlebt oder werden sie nicht überleben. Ihnen gegenüber gibt es gar nichts wieder gut zu machen.39 Nur denjenigen, die der Fortsetzung dieser Geschichte in der Gegenwart zusätzlich zum Opfer zu fallen drohen, kann man noch gerecht zu werden versuchen. Es kann dabei nicht darum gehen, sich oder Andere mit dieser Geschichte nachträglich aussöhnen oder sie in eine auf den Spuren Hegels versöhnte Zukunft überführen zu wollen. Ganz im Gegenteil gehört die ungeschminkte Anerkennung all der Erfahrungen, die keiner Aussöhnung oder Versöhnung mehr offen stehen, unbedingt zu den Voraussetzungen jeder wahrhaftigen Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. Nur eine solche Anerkennung, die realisiert, wie diese Geschichte im Gedächtnis der Armen lebendig bleiben wird (und ihnen jegliches Vertrauen zu rauben droht40), erfüllt das Erforder37
Bis hin zur gegenwärtigen, ganze Völker dezimierenden AIDS-Epidemie. Vgl. MR, S. 198, 206, 209 f., 223, 226 f. 39 Die Ausweglosigkeit eines moral repair diskutiert Walker mit Blick auf die Toten auf S. 159. Generell scheint ohnehin für sie festzustehen: „no wrong is ever undone“. Auf die von Walker sehr differenziert diskutierten Probleme der Vergebung, des Verzeihens und der Versöhnung g ist hier nicht i. E. einzugehen (vgl. bes. MR, S. 151, 154 ff.). 40 Hier besteht eine „responsibility t for the past in the present” bzw. für Vergangenes als „living present” bzw. „shared fate” (MR, S. 220). 38
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nis, auf der Basis der Wahrheit des Gewesenen einer besseren Zukunft zuzuarbeiten. Wird diese Herausforderung nicht realisiert, steht jedes erneuerte Versprechen einer weniger gewaltsamen Zukunft im Verdachtt unannehmbarer geschichtlicher Ignoranz. Angesichts einer schonungslos als „irreparabel“ anerkannten Geschichte kann ein solches Versprechen dennoch als glaubwürdig erscheinen, insofern es die eingestandene Unmöglichkeit, den Opfern dieser Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, in den unbedingten Vorsatz ummünzt, wenigstens ihren Nachkommen die Wiederholung der gleichen Ungerechtigkeit ersparen zu wollen. Ein derart in die Zukunft hinein gleichsam verschobener Gerechtigkeitsanspruch gleicht keine vorherige Ungerechtigkeit aus, kompensiert nichts und entschädigt niemanden für irgendetwas. Aber ihn zu affirmieren bedeutet, auch die in keiner Weise wieder gut zu machende Ungerechtigkeit grundsätzlich der Vergleichgültigung zu entreißen. Für die Zukunft zieht das den unbedingten Willen nach sich, sich wenigstens der Gewalt solcher Ungerechtigkeit und ihrer Naturalisierung zu einem gleichgültigen „Lauf der Dinge“ zu widersetzen, gegen den man scheinbar nichts ausrichten kann. Die Nicht-Indifferenz angesichts nicht wieder gut zu machender Gewalt kann sich, soll sie glaubwürdig sein, allerdings nicht in einem bloßen Vorsatz erschöpfen, sondern muss in konkretisierbare Handlungsanweisungen münden, wie sie Sachs und andere entwerfen. Tragen solche Anweisungen zu einem „repairing the moral fabric of the world” (MR, S. 210) bei, wie mit Walker anzunehmen wäre? Lässt nicht die Metapher der Reparatur allzu sehr an eine Wiederherstellung denken, obgleich sich die Anerkennung der vorausgegangenen Ungerechtigkeit nicht mehr an unversöhnte Opfer, sondern fast nur noch an Überlebende richten kann?41 So gesehen wäre es angemessener, von einerr originären Neustiftung einer moralischen Verbundenheit zu sprechen, die sich zu allererst im erneuerten Vertrauen in deren Verbindlichkeitt manifestieren müsste. Freilich muss sich die Verbundenheit praktisch erweisen durch eine effektiv verbindliche Sorge für die jetzt und künftig Lebenden. Andernfalls kommt sie womöglich über eine in „weltweiter“ Perspektive rhetorisch beschworene Gerechtigkeit und Verantwortung für alle Menschen im Allgemeinen (aber für niemanden im Besonderen) nicht hinaus und schlägt dann unversehens in Misanthropie, Zynismus und Verachtung jeglichen Vertrauens um, das man in zahllose Versprechen künftig einzulösender Gerechtigkeit gesetzt hat. Wenn sich eine solche originäre Neustiftung moralischer Verbundenheit nicht in deren Beschwörung erschöpfen soll, so muss sie sich als Antwort auf ein vorgängiges Verlangen verstehen lassen, erlittener Ungerechtigkeit Rechnung zu tragen (aber nicht: „irreparable“ Ungerechtigkeit auszugleichen). Und als eine solche Antwort muss sie einen Sinn für diejenige Ungerechtigkeit aktivieren, die tatsächlich erlitten worden ist. Maßgeblich ist zunächst allemal die Erfahrung derer, die unter der fraglichen Ungerechtigkeit zu leiden hatten – nicht etwa ein vorfabrizierter Maßstab der Gerechtigkeit, der ohne weiteres dazu herhalten könnte, eben diese Erfahrung zu bevormunden.42 Worauf 41
Vgl. MR, S. 22, 37. Zur Wiederherstellung (als zuvor gegeben unterstellter) moralischer Gemeinschaft vgl. ebd., S. 222. 42 Ausdrücklich geht es um einen „new sense of injustices” (MR, S. 174).
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es auch im Verständnis Walkers vorrangig ankommt, ist, dass wenigstens die Tatsache der erlittenen Ungerechtigkeit als eine schwerwiegende Verletzung Anderer anerkannt wird – auch wenn nichtt ohne weiteres klar ist, ob sie und in welcher Art und Weise sie normative Ansprüche nach sich ziehen kann. Die Anerkennung muss stets damit beginnen, dass man diese Verletzung überhaupt zur Sprache kommen lässt; und zwar in einem sie bezeugenden Hören auf das, was die Opfer zu sagen haben. „Being willing to hear victims is already validating” (MR, S. 19). Das bloße Hin- und Zuhören gibt ihnen keineswegs pauschal Recht, wohl aber anerkennt es die Tatsache der erfahrenen Verletzung, ohne deren erste Würdigung kein Versuch überzeugen kann, ihr Rechnung zu tragen. Mit Recht insistiert Walker auf dem moralischen Sinn des Hin- und Zuhörens. Wer sich ihm verschließt, verschärft die Erfahrung der Ungerechtigkeit, die insofern keineswegs bloß der Vergangenheit angehört. Der in der Ungerechtigkeit erfahrene Bruch in derr sozialen Welt (oder ihr Zerbrechen) setzt sich, wenn die Erfahrung nicht Gehör findet und bezeugt wird, in Gegenwart und Zukunft hinein fort (MR, S. 18, 20, 57). Der beklagten Ungerechtigkeit Gehör zu schenken, bedeutet umgekehrt, eine zu rehabilitierende moralische Verbundenheit zu bezeugen und in Szene zu setzen. Unabhängig von der Frage, ob man der Ungerechtigkeit „gerecht werden“ und entsprechende normative Erwartungen verantwortlich auf sie gründen kann, ist die Bezeugung der moralischen Verbundenheit für Walker in erster Linie eine Angelegenheit derr Responsivität des Hörens auf die Anderen, die Ungerechtigkeit erlitten haben. Jedes Vertrauen, das man aufgrund artikulierter Ungerechtigkeit in solche Erwartungen setzt, ruht auf dem vorgängigen Vertrauen in die Responsivität Anderer, die der Ungerechtigkeit allererst zur Artikulation und insofern zur Geltung verhelfen können. In dem Maße, wie man sich zu diesem Vertrauen durchringt, akzeptiert man es allerdings auch, durch mangelnde Responsivität verletzt zu werden (MR, S. 76). Und genau das ist es, was man all jenen ernsthaft – zusätzlich zu ihrer fortbestehenden Armut – zumutet, die man auf dem von Sachs skizzierten Weg davon überzeugen möchte, dass es Sinn hat, wieder den Versprechen der Aufklärung (bzw. denen, die sie zu erneuern behaupten) Glauben zu schenken. Emphatisch befindet Walker: „Any morality (including the streamlined normative ethical systems that philosophers elaborate) must be embedded in the responses of human beings” (MR, S. 23). In die Verantwortung und normativ zu formulierende Gerechtigkeit vertrauen wir erst sekundär – auf der Basis primärer Responsivität derer, die zuerst einmal hören müssen auf Ansprüche Anderer, denen zu entnehmen ist, was nach Verantwortung und Gerechtigkeit verlangt. Wenn letzteres geltungskritisch geklärt ist, sind wir weiterhin auf „trust in responsiveness“ im Sinne eines etablierten normativen Verständnisses von Verantwortung und Gerechtigkeit angewiesen. Diese sekundäre Responsivität bezieht sich nach Walker auf das, was „shared understandings“ von Verantwortung und Gerechtigkeit erfordern. „We need to trust ourselves and each other to be responsive to moral standards that are presumably shared. It is this trust that grounds our normative expectations of each other, our expectations that we and others will do what we ought to do because of our presumed d responsiveness to shared and authoritative standards” (MR, S. 44, 66, 191).
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Während sich die fragliche Responsivität im ersten Fall in der Beachtung und Würdigung originärer Artikulation der Ansprüche Anderer zeigt, ohne ihnen dabei bereits ein normatives Recht einzuräumen, bezieht sie sich im zweiten Fall auf bereits normativ gesicherte Ansprüche und deren Beachtung. In beiden, deutlich zu unterscheidenden Fällen soll gelten: „we see those capable of responsiveness as responsible” (MR, S. 70). Wem zuzutrauen ist, auf das Verlangen, bei Anderen Gehör zu finden, Antwort zu geben, der kann genau dafür auch verantwortlich gemacht werden.43 Und wer zur „responsiven“ Beachtung normativer Ansprüche (bzw. Anrechte) Anderer in der Lage ist, wird dafür als verantwortlich betrachtet. Jede Moral setzt im Verständnis Walkers eine gelebte Responsivität voraus und erfordert Vertrauen in sie. Mit anderen Worten: Würden wir kein Vertrauen in die primäre Responsivität haben, die zur Beachtung und Würdigung fremder Ansprüche veranlasst, so würden wir auch kaum Grund zu der Annahme haben, dass diese Ansprüche Eingang finden in eine normative Moral. Und würden wir kein Vertrauen in die sekundäre Responsivität derer haben, die sich um die angemessene und sensible Berücksichtigung und Wahrung der als Anrechte normativ gefassten Ansprüche haben, so würden wir uns auf die praktische Verbindlichkeit einer normativen Moral kaum verlassen wollen.44 Was Walker nun als moralische Reparation (moral repair) bezeichnet, was aber besser als originäre Neustiftung moralischer Verbundenheit zu verstehen wäre, bezieht sich in dieser Perspektive also keineswegs etwa nur darauf, an die Geltung moralischer Normen wieder zu erinnern und deren Beachtung einzufordern. Zwar können Versuche der Wiedergutmachung diesen Sinn haben. Aber die von Sachs mit Recht betonte kollektive Erfahrung absoluter Hoffnungslosigkeit im Zeichen vielfach extremster Armut bedeutet, dass die Armen und die Reichen in den Augen ersterer überhaupt keine Geltung unangefochtener moralischer Normen mehrr verbindet. Vielmehr erscheint jegliche derartige Geltung durch nachhaltige ökonomische Gewalt und bloße Lippenbekenntnisse zu den Versprechen der Aufklärung als grundsätzlich derart desavouiert, dass in moralische Sprache seitens der Armen ohne weiteres überhaupt kein Vertrauen mehr zu setzen ist. Das muss man jedenfalls vermuten. In einer solchen Lage ist nicht allein mit der Berufung auf geltende, aber chronisch verletzte Normen weiterzukommen, wenn die Moral ihrerseits in dem skizzierten mehrfachen Sinn auf Vertrauen angewiesen ist. Vielmehr geht es um Wiedergewinnung des Vertrauens auf der Basis jener primären Responsivität, die sich in der Beachtung und Würdigung der originären Artikulation fremder Ansprüche bewähren und bewahrheiten muss. Nur wenn diese Responsivität glaubhaft gelebt wird, wird man auch auf die Einlösung der viel weiter gehenden Erwartung hoffen dürfen, dass artikulierte und gewürdigte Ansprüche erneut Eingang finden in Normen, die Ansprüche als Anrechte affirmieren. Erst wenn das erreicht ist, kann Vertrauen in die sekundäre Responsivität Platz greifen, die sich an normativ gefassten Ansprüchen orientiert.
43
Wie wenig trivial das ist, zeigt Sachs, der bekennt, erst spät das Offensichtliche „realisiert“ zu haben... 44 Vgl. MR, S. 33, 44, 66, 103, 191.
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V. Versprechen und Vertrauen in Zukunft Wer wie Sachs den Westen an die Aufklärung als Erbschaft des Versprechens erinnert, nach und nach wenigstens die ärgste Not und die eklatanteste Ungerechtigkeit nicht nur innerhalb der eigenen Staaten, sondern weltweit abzuwenden, muss wissen, dass streng genommen „der Westen“ überhaupt nichts verspricht oder versprechen kann. Man verspricht sich etwas von ihm – oder verachtet ihn als Quelle moralischer Hypokrisie; oder aber man baut auf die Identifikation der dort Lebenden mit dem Sinn jener Erbschaft, so dass eigentlich sie als Träger jenes Versprechens zu betrachten wären. Das tut offenbar auch Sachs, wenn er darauf insistiert, diese Erbschaft sei nur durch das praktische Leben ungezählter Einzelner verbindlich einzulösen. Insofern setzt sein Versuch, die Abschaffung wenigstens schlimmster Armut zu einem für die nächsten eineinhalb Jahrzehnte vordringlichen Ziel der reichen Staaten zu machen, eine theoretische Vorstellung davon voraus, wie man dem Selbst des Einzelnen überhaupt vertrauen kann. Dafür, dass Andere anderswo auf die Menschen des Westens setzen, kann Sachs keinerlei Vertrauen in Anspruch nehmen. Er kann das Vertrauen nur vor dem Hintergrund einer weit zurück reichenden, komplexen Geschichte des Westens ins Spiel bringen, die uns vor allem eines lehrt: wie sie eine abgründige, vielfach zynische und weitgehend als berechtigt erscheinende Verachtung westlicher Fortschrittsversprechen hervorgebracht hat. Auch hier bestätigt sich, was die soziologische Erforschung des Versprechens betont hat: dass das Vertrauen nur im Lichte seiner Verletzung oder Zerstörung zur Sprache kommt. Sachs kann gewissermaßen nur dafür werben bzw. darum bitten, dass man jene Versprechen wieder Ernst nimmt – aller empirischen Evidenz zum Trotz, die massiv dagegen spricht. In internationaler Perspektive, zwischen Armen und Reichen, ist das Vertrauen keine „Ressource“, kein Vorrat, aus dem man sich ohne weiteres bedienen könnte. Im Gegenteil erscheint es erschöpft und wird jeden Tag durch die Fortdauer tödlicher Ungerechtigkeit, die ultimativ aufzuheben wäre, bloßgestellt. Der Forderung, sie bedingungslos und sofort abzustellen, kommt man nicht nach (und kann man vielleicht nicht einmal nachkommen). Insofern erscheint auch die moralische Responsivität zweifelhaft, mit der jegliches Vertrauen in Andere steht und fällt, wenn wir Walker folgen (MR, S. 66, 166). Auf dem von Sachs beschriebenen Weg wird man bestenfalls im Laufe von vielen Jahren dafür sorgen können, dass diese Responsivität als sensibles Achten auf fremde Ansprüche (und die Schwierigkeiten ihrer originären Artikulation) sowie als sensible Beachtung der normativen Anrechte Anderer mehr und mehr zur Geltung kommt und zur Neustiftung moralischer Verbundenheit insofern beiträgt – wohl wissend, dass denen, die ohnehin jegliches Vertrauen verloren haben, weiteres Warten auf die Einlösung des Versprochenen schlechterdings nicht zuzumuten ist. Deshalb wird der von Sachs unter Berufung auf die Aufklärung beschworene „fortschrittliche“ Weg unvermeidlich neue Verletzungen des Vertrauens nach sich ziehen, die die Glaubwürdigkeit jener Versprechen wiederum erschüttern müssen.45 45 Auch hier zeigt sich ein unverzichtbarer selbst-kritischer Sinn für Ungerechtigkeit, der die Entwürfe einer praktisch herbeizuführenden Gerechtigkeit nicht etwa gänzlich desavouieren, son-
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Für diesen Fall stellt Walker eine düstere Konsequenz in Aussicht: eine Welt, in der alle Menschen durch elementare Gerechtigkeitsansprüche einander verbunden wären, ist so nicht aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Wenn ein „reweaving a moral fabric for the future” (MR, S. 29, 229) nicht gelingt, verkümmert nicht nur das Vertrauen in den Westen. Am Ende wird man nicht einmal mehr von ihm enttäuscht sein, da man den von ihm geweckten bzw. erneuerten Erwartungen ohnehin keinen Glauben mehr schenkt.46 Die von Sachs in Erinnerung gerufenen Versprechen entschärfen diese bedrohliche Aussicht nicht; im Gegenteil beschwören sie das endgültige Zerreißen einer gemeinsamen moralischen Kultur herauf für den Fall, dass man nicht einmal ihrem minimalistischen Anspruch nachkommt, wenigstens die schlimmste Armut unbedingt und schnellstens abwenden zu wollen.47 In dieser Erfahrung schlägt auch ein Terror Wurzeln, gegen den gewiss kein klassischer Krieg zu führen ist, sondern vor allem unnachsichtige Auseinandersetzung mit der Unglaubwürdigkeit der eigenen politischen Kultur hilft.48 Man sieht, dass uns das Vertrauen weder einfach als Ressource zur Verfügung steht noch ohne weiteres eine sichere Grundlage menschlichen Zusammenhalts darstellt. Wer es in Anspruch nimmt und verrät, riskiert, extreme Gewalt auf sich zu ziehen. Diese Gefahr wird nicht geringer, sondern um so größer, je mehr man erneut Vertrauen in bereits vielfach gebrochene Versprechen der Gerechtigkeit weckt, von deren erhoffter Einlösung die Tragfähigkeit der „menschlichen“ Kultur einer gemeinsamen Welt abhängen sollte.
VI. Resümee Welche Rolle kann, soll oder muss nun der Sinn für Ungerechtigkeit in einer solchen Welt spielen? Diese verdient, wenn überhaupt, ihr so oft schon missbrauchtes und rhetorisch abgenutztes Prädikat „menschlich“ in der hier dargelegten Perspektive durch eine Kultur moralischer Sensibilität, die die Anderen widerfahrende Ungerechtigkeit nicht indifferent hinnimmt, sondern als politische Gestaltungsaufgabe begreift. Wenn dabei der „Sinn“ dieser Welt mit auf dem Spiel steht und strittig erscheint, so geht es nicht primär um einen teleologischen Sinn, wie man ihn einem Zweck oder Ziel der Gattungsgeschichte zugeschrieben hat; vielmehr geht es zuerst um einen „pathologischen“ dern sie vor Selbst-Gerechtigkeit bewahren soll. Und auch hier sind wir weit davon entfernt, diesen „Sinn“ als eine unproblematische anthropologische Gegebenheit schlichter moralischer Gefühle zu verstehen, die ihrerseits keiner kognitiven Aufklärung bedürften. 46 Für Walker ist das Leben in einer gemeinsamen moralischen Welt dagegen von der Geltung normativer Erwartungen abhängig (MR, S. 28–32, 79). 47 Dass dieses „Minimum“ alles andere als leicht zu bestimmen ist, zeigte die Diskussion um sog. basic capabilities; vgl. A. SEN, The Standard of Living, The Tanner Lectures on Human Values, Cambridge, 11./12.3.1985. 48 Diese Konsequenz reflektiert ersichtlich die „westliche“ Perspektive der hier entwickelten Überlegungen. Doch kann keine Rede davon sein, die erst im Entstehen begriffene Gerechtigkeit in transnationaler Perspektive allein auf Versprechen gründen zu wollen, die etwa aus der europäischen Geschichte ethisch-politischen Denkens abzuleiten wären – so als ob sich anderswo erst gar nicht das Verlangen erheben würde, jedem Anderen gerecht zu werden.
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Sinn in der Sensibilität, die sich für die von Anderen erlittene Ungerechtigkeit aufgeschlossen erweist. Im besten Falle kann Sinn für Ungerechtigkeit einer erst im Entstehen begriffenen transnationalen Gerechtigkeit in statu nascendi als „leidenschaftliche“ Antriebsquelle und zugleich als selbst-kritisches Potenzial dienen, das sie vor fataler Selbstgerechtigkeit bewahrt. Nur ein wacher, außerordentlicher Sinn für Ungerechtigkeit weiß um die Unmöglichkeit, jedem (oder auch nur einem Anderen absolut) gerecht zu werden, und widersetzt sich einer leichtfertig gleich machenden Gerechtigkeit, die das als unvermeidliche Misslichkeit einfach in Kauf nimmt. D. h. nicht, dass er es nahe legen muss, den Anspruch als von vornherein überzogen zu desavouieren, eine transnationale Gerechtigkeit oder eine Pluralität von einander ergänzenden oder auch in Widerstreit tretenden Ausformungen der Gerechtigkeit zu entwerfen. Er wird nur darauf bestehen müssen, dass es sich allemal um eine Gerechtigkeit (bzw. um Gerechtigkeiten) in fortbestehender Ungerechtigkeitt wird handeln können und dass die Ungerechtigkeit in der Gerechtigkeit selbstt heimisch ist. Ohne das Wissen darum schlägt Gerechtigkeit unweigerlich in Selbst-Gerechtigkeit, in die schlimmste Karikatur der Gerechtigkeit um. Doch sollte ein außerordentlicher, in keiner Ordnung der Gerechtigkeit je aufzuhebender Sinn für Ungerechtigkeit nicht dem möglichen Aufbau gerechter Institutionen im Wege stehen, sondern, im Gegenteil, deren „Leben“ inspirieren, das sich niemals in einem regelmäßigen Funktionieren erschöpfen kann, wenn es sich um Gerechtigkeit handelt. Denn die Gerechtigkeit selbst, auf die jeder Andere Anspruch hat, ist eine außerordentliche Forderung, ein radikales Verlangen, das womöglich niemals gestattet, zu befinden, jetzt bin ich, sind wir… diesem oder jenem absolut gerecht geworden. Zwar kann man das Funktionieren transnationaler Institutionen konzipieren und beschreiben, ohne dass Einzelne namentlich Erwähnung finden müssen. Doch werden es immer nur Einzelne sein, die faktisch Gerechtigkeit üben können. Ohne deren Sinn für Ungerechtigkeit ist jede Institution gleichsam auf moralischen Sand gebaut und würde in einer geschäftsmäßigen moralischen Normalisierung verkümmern. Das aber bedeutet: für die wirklich praktizierte Gerechtigkeit kommt es auf das Selbst derer an, denen sie anvertraut ist. Sie müssen das Vertrauen in die Gerechtigkeit letztlich rechtfertigen, das heute jede neuartige Konzeption einer transnationalen Gerechtigkeit (vielfach unbedacht) für sich in Anspruch nimmt, wenn sie jene überzeugen möchte, die die Gerechtigkeit bislang nur als notorisch gebrochenes Versprechen kennen gelernt haben. Und sie sind es, die Probleme der Gerechtigkeit als solche wahrnehmen, artikulieren und danach verlangen müssen, dass man etwas gegen sie tut. In der Wahrnehmung Einzelner entzünden sich bzw. stellen sich originär Gerechtigkeitsfragen als solche, die erst im zweiten Schrittt geltungskritisch zu prüfen sind. D. h. die Sensibilität eines außerordentlichen Sinns für Ungerechtigkeit löst keineswegs von sich aus das Problem, wie etwa Ansprüche Anderer in Anrechte zu übersetzen sind. Umgekehrt darf aber auch eine normativistische Theorie die Anknüpfung an Sinn für Ungerechtigkeit nicht gering schätzen; andernfalls verliert sie den Erfahrungsboden unter den Füßen und das Verlangen nach Gerechtigkeit selbst, wie es aus der erfahrenen Ungerechtigkeit entsteht, aus den Augen. So wird schließlich die Gerechtigkeit mitsamt dem theoretischen Reden von ihr zum Selbstläufer. In diesem Falle wäre es nur noch
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von akademischem Interesse, wann man endlich die beste Theorie ermittelt hätte. Doch solange eine Theorie (transnationaler) Gerechtigkeit ihrerseits praktisch werden soll, kann sie sich nicht gleichgültig verhalten zu der Zeit, die unterdessen vergeht, während man auf sie hinarbeitet. Nicht nur die Probleme humanitärer Hilfe (die kaum Gerechtigkeitsansprüchen genügen kann) sind absolut dringlich. Auch die Gerechtigkeit duldet im Grunde keinen Aufschub, schon gar keine Verzögerung, die Andere das Leben kostet. Jede aufgeschobene Zeit, die man sich nimmt, um einer transnationalen Gerechtigkeit zuzuarbeiten, wird neue Ungerechtigkeit heraufbeschwören. Auch hier ist ohne einen wachen Sinn für Ungerechtigkeit schlechterdings nicht auszukommen; es sei denn, ein so genanntes politisches Realitätsprinzip macht es sich einfach damit, eklatante Ungerechtigkeiten als schlicht unvermeidlich einzustufen. Allerdings hat das mit Gerechtigkeit gar nichts mehr zu tun. Wenn man dagegen einen unbedingten, jedem Anderem zustehenden Gerechtigkeitsanspruch nicht einfach politisch vergleichgültigt, verbietet sich jegliche Mediatisierung irgend eines Menschen zum Zweck einer in Zukunft fortgeschrittenen Gerechtigkeit. Es mag sein, dass in diesem Anspruch eine Hyperbolik liegt, die unmöglich zu realisieren ist. Das besagt aber nicht, dass dieser Anspruch gewaltsam zu verwerfen wäre, sondern nur, dass (fortbestehende) Ungerechtigkeit das Medium der Gerechtigkeitt (Adorno) ist, die wir dennoch zu üben versprechen müssen. Ohne dieses „Versprechen“ würde die notorisch überforderte oder auch mit „real-politischen“ Gründen einfach preisgegebene Gerechtigkeit letztlich in eine Art Naturgeschichte zurücksinken. Dagegen ist effektiver Widerstand nur aufzubieten mit einem außerordentlichen Sinn für Ungerechtigkeit, der die Gerechtigkeit trotz ihrer Schwächen, trotz ihres Versagens vorantreibt, t ohne ihr im Geringsten zu gestatten, die Ungerechtigkeit zu vergessen oder zu beschönigen, die in ihr selbst liegt. Im Sinn für diese, der Gerechtigkeit selbst immanente Pathologie liegt wohl das einzige Palliativ gegen ihre Pervertierung zur Selbstgerechtigkeit. So gesehen kommt Sinn für Ungerechtigkeit nicht bloß wie auf einer „Einbahnstraße“ als Zugang zur Gerechtigkeit in Betracht; vielmehr muss letztere sich ständig der Ungerechtigkeit versichern, die sie nicht aufzuheben versprechen kann, um nicht in Selbstgerechtigkeit zu erstarren. Die Gerechtigkeit selbst bedarf des Sinns für Ungerechtigkeit. Sie muss sich dieses „Sinns“ immer neu versichern, um sich nicht selbst zu verraten. Umgekehrt bedarf aber auch ein wacher, außerordentlicher Sinn für Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit, denn er liegt nicht ohne weiteres in differenzierter Form vor und kann insofern nicht als anthropologische Gegebenheit eingestuft werden. Vielmehr schärft sich der Sinn für Ungerechtigkeit im gleichen Maße, wie er einer epigenetisch erarbeiteten, kognitiv immer weiter differenzierten Gerechtigkeit sich zu widersetzen gezwungen ist. Indem er sich an dieser gleichsam reibt, muss er sich seinerseits von jeglichem naiven Moralismus lösen, der in schlichter Empörung oder im Zorn über „schreiende Ungerechtigkeit“ bereits eine zureichende Grundlage für ein annehmbares und zu rechtfertigendes Verlangen nach Gerechtigkeit gefunden zu haben meint. Nur unter dieser Voraussetzung kann Sinn für Ungerechtigkeit seinerseits versprechen, die ihm hier zugeschrieben Funktion in der inneren Sinnkonstitution der Gerechtigkeit selber zu
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übernehmen, statt bloß als psychologische Vorstufe einer normativen Theorie in Betracht zu kommen. Die Gerechtigkeit liegt nach dem hier entwickelten Verständnis mit sich selbst im Streit – nicht zuletzt auch im Widerstreit ihrer unterschiedlichen Deutungen und Anwendungen, der in neuen Entwürfen einer transnationalen, überkomplexen Gerechtigkeit sich gewiss noch verschärft bemerkbar machen wird. Nur wenn das bewusst bleibt, wird zu vermeiden sein, dass ein äußerst fragwürdiger Optimismus eine Apologie der Gerechtigkeit betreibt, der die allerschlichteste implizite Geschichtsphilosophie49 zu beerben sich anschickt, der zufolge wir den kosmopolitischen Fortschritt einer universalen Gerechtigkeit auf ganzer Breite zu erwarten haben. Wie ausgelöscht wäre dann die Erfahrung der Ungerechtigkeit, an der sich jede Theorie, die etwa deren Überwindung in Aussicht stellt, messen lassen muss: die Erfahrung, dass sie transnational vor allem als notorisch gebrochenes Versprechen erscheint, das keinerlei Vertrauen (wenn nicht gar Verachtung) verdient.
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Was kann das Recht zur praktischen Förderung internationaler Gerechtigkeit leisten? EBERHARD SCHMIDT-AßMANN
Inhalt I. II. III. IV.
Gegen überzogene Erwartungen: begrenzte Leistungsfähigkeit des Rechts Das innerstaatliche Recht und seine Schwierigkeiten im Umgang mit Gerechtigkeitsargumenten Schwierigkeiten speziell des Völkerrechts Trotzdem: Der Völkerrechtsentwicklung etwas zutrauen
I. Gegen überzogene Erwartungen: begrenzte Leistungsfähigkeit des Rechts „Das Recht ist aber nach der Gerechtigkeit benannt“. Mit diesem nahezu 2000 Jahre alten Satz des römischen Juristen Ulpian (170–228 n. Chr.) ist der enge Bezug des Rechts auf die Gerechtigkeit treffend herausgestellt.1 Recht soll Maße, Mittel und Wege bieten, damit Gerechtigkeit in der Welt wachsen kann. Ohne diesen Gerechtigkeitsbezug ist Recht kein Recht. Recht ist an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zu einer „globalen Wirklichkeit“ geworden2. Rechtsnormen und gerichtsförmige Verfahren haben im nationalen und internationalen Verkehr deutlich zugenommen. Integration soll durch Recht geleitet, Frieden durch Recht gesichert werden3. „Nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts“ will Art. 1 der UN-Charta von 1946 Streitigkeiten bereinigt sehen. Art. 3 der Satzung des Europarates von 1949 geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Mitglieder „den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts“ anerkennen. „Menschenrechte“, „Rechtsstaatlichkeit“ und „Rule of law“ sind heute vielgenutzte Formeln auf allen Ebenen der Politik. Trotzdem kann das Verhältnis des Rechts zur Gerechtigkeit keinesfalls als spannungsfrei und ausgeglichen gelten. Während die einen vor einer zu starken Verrechtli1 Corpus Juris Civilis, I 1: Jus est autem a justitia t appellatum. Zur Vielschichtigkeit dieses Verhältnisses im Einzelnen vgl. nur jüngst V.D. PFORDTEN, Was ist das Recht? Ziele und Mittel, Juristenzeitung (JZ) 2008, S. 641 ff. 2 W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht, 1996, S. 21. NUßBERGER, Sozialstandards im Völkerrecht, 2005, S. 463 ff.: „Verrechtlichung als Charakteristikum der Moderne“. Vgl. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 29. 3 So die Friedensdenkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden eintreten“, Gütersloh 22007, S. 57 ff.
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chung, einem „Übermaß an Recht“, warnen, sehen andere das Recht längst durch die viel stärkeren Mechanismen der „Ökonomisierung“, durch internationale Finanzverflechtungen und Effizienzdenken, an den Rand gedrängt. Vorwürfe, man habe Gerechtigkeit gesucht und (nur) Recht erhalten, sind ebenfalls altbekannt – von Michael Kohlhaas bis Bärbel Bohley.4 Überschätzung und Unterschätzung dessen, was das Recht leisten kann, liegen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit dicht beieinander. Insbesondere dort, wo das Recht als Ausdruck, Träger oder Garant ausgreifender Gerechtigkeitserwartungen angesehen wird, sind Enttäuschungen unvermeidlich. Dabei wird verkannt, dass das menschliche Recht die Kontingenz des menschlichen Daseins notwendig teilt. Ewige Werte kann es nicht bieten; und alle menschlichen Unzulänglichkeiten kann es nicht ausgleichen. Aber zu einem vernünftigen, mindestens einem erträglichen Umgang der Menschen miteinander und mit ihrer Umwelt kann es Einiges beitragen. Der Gerechtigkeitsbezug setzt Recht und Gerechtigkeit nicht gleich.5 „Die grundlegende Differenz zwischen Gerechtigkeit und Recht zeigt sich darin, dass nicht jede Ungerechtigkeit gleichzeitig ein Rechtsverstoß und nicht jeder Rechtsverstoß gleichzeitig eine Ungerechtigkeit ist“.6 Folglich muss auch zwischen den Begriffen „ungerecht“ und „rechtswidrig“ unterschieden werden: Ein rechtswidriger Zustand verlangt nach einer Reaktion des Rechtssystems (z. B. Beseitigung, Unterlassung, Schadensersatz, Strafe). Für einen ungerechten Zustand, der nicht zugleich ein rechtswidriger Zustand ist, gilt das nicht. Diese Differenzierung ist schon deshalb wichtig zu beachten, weil Gerechtigkeitsaussagen im politischen Diskurs oder in Situationen persönlicher Betroffenheit oft ein stark emotionales Element besitzen, das mit dem Verbindlichkeitsanspruch von Rechtsentscheidungen nicht ohne weiteres kompatibel ist. Die folgenden Überlegungen wenden sich zunächst dem innerstaatlichen Recht zu (II), um die für die Fragen der internationalen Gerechtigkeit besonders wichtige Rolle des internationalen Rechts, des Völkerrechts, erst im Anschluss daran zu behandeln. Staaten gelten im Inneren als Solidargemeinschaften mit einer relativ geschlossenen Rechtsordnung. Im Lichte der Erfahrungen, die hier im Umgang mit Gerechtigkeitsargumenten gewonnen worden sind, lassen sich dann die andersartigen Wirkungsbedingungen des Völkerrechts, seine Wirkungsschwächen (III) und seine Wirkungschancen (IV), besser beurteilen.
II. Das innerstaatliche Recht und seine Schwierigkeiten im Umgang mit Gerechtigkeitsargumenten Um die Beziehungen des Rechts zur Gerechtigkeit noch klarer zu erfassen, sollten die folgenden drei Bedeutungsvarianten von Recht auseinander gehalten werden: Recht als 4 Zu diesem Diktum im Zusammenhang mit der Wiedergewinnung der deutschen Einheit vgl. ISENSEE, in: ISENSEE/KIRCHHOF, Handbuch des Staatsrechts IX, 1997, § 202 Rn. 13. 5 Vgl. HUBER, Gerechtigkeit und Recht, S. 176 ff.; zum Verhältnis von Recht und Moral und zur Positivität des Rechts jüngst M. MAHLMANN, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, 2008. 6 TSCHENTSCHER, Art.: Gerechtigkeit (J), in: Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 730.
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Rechtsidee (1), Recht als positives Recht (2) sowie Recht als Rechtsordnung, d.h. als ein Gefüge von Rechtssätzen und Rechtsinstituten (3).
II.1 Recht als Rechtsidee Wenn von Recht im Sinne der Rechtsidee gesprochen wird, geht es regelmäßig um die Frage, was Recht in seinem Kern inhaltlich ausmacht, um die im Recht verkörperten und durch Recht zu verwirklichenden Werte. Die Rechtsidee ist bezeichnet, wenn es heißt, der „zentrale Wert“ (H. Coing) oder gar der „Höchstwert“ (A. Kaufmann) des Rechts sei die Gerechtigkeit. Auf dieser ersten, der ideellen Ebene, sind die Verbindungen zwischen Recht und Gerechtigkeit besonders eng. Doch wird auch hier schon deutlich, dass die Rechtsidee neben der Einzelfallgerechtigkeit auch andere Werte berücksichtigen muss, vor allem solche der Rechtssicherheit. Beide, Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit, sind für die Rechtsidee gleichermaßen wichtig7; keine genießt einen automatischen oder absoluten Vorrang. Schon die Rechtsidee ist kein monolithischer Block, sondern besitzt unterschiedliche Erscheinungsformen, die sich ergänzen, die aber auch untereinander in Spannungen stehen können. Der Rechtsstaat, vor allem in seiner Form des sozialen Rechtsstaats, will beiden Anforderungen der Gerechtigkeit dienen: der austeilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Überlegungen zur internationalen Gerechtigkeit dürfen daher nicht zu schnell auf Verteilungsfragen (Armut, Schuldenkrise, Entwicklungshilfe) beschränkt werden – so wichtig diese Probleme sind. Auch Fragen ausgleichender Gerechtigkeit wie die Verfolgung und Wiedergutmachung erlittenen Unrechts und der Gedanke der Verfahrensgerechtigkeit gehören in den Themenbereich.8
II.2 Recht als positives Recht In anderen Zusammenhängen wird der Begriff f des Rechts zur Bezeichnung des positiven Rechts verwendet, das heißt des „gesetzten“ Rechts, wie es uns vor allem in Gesetzen, Regierungsverordnungen und Gerichtsentscheidungen entgegentritt. Sein Kennzeichen ist ein spezifischer Verbindlichkeitsanspruch, der juristisch in der Legitimation der rechtsetzenden Instanzen wurzelt und notfalls mit Mitteln staatlichen Zwangs durchsetzbar ist. (a) Unter den Quellen des positiven Rechts hat das parlamentarische Gesetz die zentrale Position inne: Gesetze geben den Beziehungen der Bürger untereinander einen rechtlichen Rahmen (Kaufrecht, Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, Familienrecht). Gesetze regeln das Verhältnis der Bürger zum Staat (Strafrecht, Polizeirecht, Steuerrecht). Gesetze können sehr unterschiedliche Zielrichtungen haben: Sie können abwehrend dem Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff des Staates dienen (aktuelle Beispiele: Datenschutzge7
Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 24.10.1996, BVerfGE 95, 96 (133 f.). Überblick dieser Erscheinungsformen bei COING, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 215 ff.: „Bei der Erörterung der einzelnen Grundsätze der Gerechtigkeit wird man zweckmäßiger Weise von der Unterscheidung zwischen iustitiacommutativaa und iustitia distributiva ausgehen, wie sie Aristoteles entwickelt und die scholastische Philosophie weiter ausgebildet hat“. Vgl. auch RÖHLL/RÖHL, Allgemeine Rechtslehre, §§ 34 ff.; 3. Aufl. 2008, S. 399 ff. 8
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setze und Online-Durchsuchungen); sie können aber auch leistungsbegründend Ansprüche der Bürger an den Staat festlegen (Ausbildungsförderungs-, Renten-, Subventionsgesetze). Das Gesetz ist das Ergebnis demokratischer Willensbildung und Instrument der Politik – bald als Ausdruck weicher Kompromisse, bald als Resultat harter Mehrheitsentscheidungen. Dass im politischen Prozess Interessen auf der Strecke bleiben, sich nicht so durchsetzen lassen, wie die Betroffenen sich das vorgestellt haben, oder dass „Gerechtigkeitslücken“ zu beklagen sind, macht das entsprechende Gesetz noch nicht zu Unrecht und nimmt ihm nicht seine Verbindlichkeit. Der demokratische Gesetzgeber besitzt einen breiten Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er seine Vorstellungen von einer „gerechten“ Ordnung verwirklichen kann; auf die Zustimmung aller Betroffenen ist er nicht angewiesen. (b) Es gibt allerdings Grenzen dieses gesetzgeberischen Spielraums: Im Verfassungsstaat folgen diese vor allem aus der Verfassung als der gegenüber Gesetzen höherrangigen Norm. Die modernen Verfassungen haben wichtige Gerechtigkeitswerte in sich aufgenommen und in Recht transformiert. Bei dieser Aussage ist allerdings besondere Vorsicht geboten: „Transformation“ meint nicht, dass die Erkenntnisse und Forderungen philosophischer, sozialwissenschaftlicher oder theologischer Gerechtigkeitsdiskurse vom Recht einfach rezipiert werden.9 Auch die Nutzung derselben Begrifflichkeit indiziert regelmäßig noch keine bloße Rezeption. Am Beispiel: Wenn das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde spricht, so werden damit – was in manchen bioethischen Diskussionen verkannt worden ist – keineswegs notwendig die Würdevorstellungen der Kirchen oder ganz bestimmter philosophischer Denktraditionen in den Rang von Verfassungsrecht erhoben.10 Das Recht und insbesondere das Verfassungsrecht muss, schon weil es das Recht einer pluralistischen Gesellschaft ist, gegenüber solchen Vereinnahmungen Distanz wahren und auf der Eigenständigkeit seiner Wertungen beharren. Der rechtliche Diskurs ist ein herausgehobener Diskurs, insofern seine Ergebnisse mit dem besonderen Verbindlichkeitsanspruch des Rechts ausgestattet werden sollen. Das ist gemeint, wenn von „Transformation“ in Recht gesprochen wird. Die Transformation verlangt ein besonderes Maß an Einsehbarkeit, Dringlichkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit der zugrundegelegten Annahmen. Bei dieser „Verdichtung“ des Argumentationshaushalts spielen gerichtliche Entscheidungen, aber auch die Rechtsgeschichte und (neuerdings) die Rechtsvergleichung eine wichtige Rolle. (c) Im Einzelnen kommt es auf den Text der jeweiligen Verfassung und die von ihm verbrieften Gewährleistungen an. Nicht allgemeine Erwägungen sondern der Text dieser Garantien ist der Ausgangspunkt der Rechtsdiskurse im positiven Recht. Als besonders wirkmächtig bei der Transformation f von Gerechtigkeitselementen in Recht haben sich nach den deutschen Erfahrungen die Freiheits- und Gleichheitsgrund9 Zur Transformationsfunktion des Verfassungsrechts grundlegend WAHL, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat, Band 20 (1981), S. 485 ff. 10 Zu unterschiedlichen Würdekonzepten vgl. nur MAHLMANN, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 9 7 ff., 179 ff. und 244 ff.
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rechte erwiesen, wie sie das Grundgesetz in Art. 2–16 verbürgt.11 Grundrechte sind zuallererst Abwehrrechte gegen den Staat, die unverhältnismäßige Freiheitsbeschränkungen und ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen verhindern sollen. Sie können aber auch Pflichten des Staates begründen, zu Gunsten bestimmter Personen oder Gruppen Gesetze zu erlassen. So haben die Gerichte aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) die Verpflichtung aller staatlichen Organe abgeleitet, „sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen“.12 Freilich sind bei der schutzrechtlichen Dimension eines Grundrechts immer auch die Grundrechte derer mit zu bedenken, die durch die Schutzmaßnahmen eingeschränkt werden sollen (sog. multipolare, „janusköpfige“ Grundrechtssituationen). Gerechtigkeit wird hier als Gebot der Verhältnismäßigkeit wirksam. Wenn man genau hinschaut, verbietet es sich oft, in Interessenkonflikten nur einerr Position das Prädikat einer „gerechten“ Forderung zuzuerkennen. Die Grundrechte nehmen wichtige, aber keineswegs alle Argumente der allgemeinen Gerechtigkeitsdiskurse in sich auf. Ähnliches gilt für die Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes, das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG), die den Gesetzgeber dazu anhalten sollen, die Rechtsordnung an sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit auszurichten. Besonders schwierig zu beantworten ist die Frage, ob Grundrechte auch Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen begründen. Je weiter eine Verfassung den Kreis solcher ressourcenabhängiger Grundrechte zieht, desto mehr schränkt sie die Entscheidungsfreiheit der parlamentarischen Instanzen ein. Das Grundgesetz ist in diesem Punkt sehr zurückhaltend: Eine äußerste Grenze bildet die in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG enthaltene Gewährleistung des Existenzminimums. Sie ist auf das zum Leben unbedingt Notwendige (Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Versorgung, schulische Bildung) begrenzt – in dieser elementaren Fassung aber als Individualanspruch verfassungsunmittelbar garantiert und gerichtlich einklagbar. Im Übrigen lässt sich den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip eine Pflicht des Staates entnehmen, entsprechende Versorgungssysteme zu schaffen, an deren Leistungen die Bürger teilhaben, ohne eine allein nach ihren individuellen Wünschen bestimmte Leistung beanspruchen zu können. Schutz des Existenzminimums und Systemschutz bilden so die beiden komplementären Bestandteile der grundgesetzlichen Solidaritätsvorstellung. Beide Komponenten haben, zumal in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands, eine natürliche Wachstumstendenz.13 11
Dazu MAHLMANN, Grundrechtstheorie S. 365 ff. und 412 ff. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 20.12.1979, BVerfGE 53, 30 (57): Atomkraft; Entscheidung vom 28.5.1993, BVerfGE 88, 203 (251 ff.): Schwangerschaftsabbruch. 13 Diese Ansätze verbindend, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Aufsehen erregenden Entscheidung vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25 [41 ff.]) aus der Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie aus dem Sozialstaatsprinzip einem lebensbedrohlich Erkrankten einen verfassungsrechtlichen Anspruch gegen die Gesetzliche Krankenversicherung auch auf ungewöhnliche bisher nicht allgemein anerkannte Leistungen zugesprochen, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare posi12
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Grundrechte und Staatszielbestimmungen gewährleisten grundsätzlich auch keinen status quo einmal erlangter Sozialansprüche. Der Gesetzgeber darf, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, z. B. aus Gründen der Haushaltskonsolidierung oder weil er andere politische Akzente, z. B. in der Bildungspolitik, setzen möchte, sozialrechtliche Leistungen kürzen. Ein solcher „Sozialabbau“ mag als Gerechtigkeitsverstoß beklagt werden, eine Verletzung des Verfassungsrechts ist er damit noch nicht. Die verfassungsrechtliche Analyse verweist vielmehr auf die Berechtigung auch anderer als sozialer Interessen. Sie macht deutlich, dass Verteilungskonflikte nicht selten Konflikte innerhalb der Sphäre des Sozialen sind, z. B. Begünstigungen einer Generation zu Lasten der voraufgehenden oder der nachfolgenden Generation. Darüber ist in der Demokratie primär politisch auf der Ebene des einfachen positiven Rechts zu entscheiden. Das Verfassungsrecht verpflichtet den Gesetzgeber, der bisher gewährte Leistungen einschränken will, nur dazu, die gegensätzlichen Positionen sorgfältig abzuwägen; u.U. sind dazu von verfassungswegen Härte- und Übergangsregelungen notwendig. Die verbindliche Feststellung, dass ein Gesetz gegen verfassungsrechtlich rezipierte Gerechtigkeitsforderungen verstößt, ist in der deutschen Rechtsordnung bei den Verfassungsgerichten, insbesondere beim Bundesverfassungsgericht, monopolisiert. Nur diese Gerichte sind befugt, Verfassungsverstöße festzustellen und das entsprechende Gesetz für nichtig zu erklären. Wenn andere Gerichte die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bezweifeln, müssen sie dieses verfassungsgerichtlich in einem besonderen Normenkontrollverfahren klären lassen (Art. 100 GG). Dem Einzelnen eröffnet die Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit, nach Erschöpfung des Rechtsweges eine ebensolche Klärung herbeizuführen, wenn er sich in seinen Grundrechten verletzt glaubt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).
II.3 Recht als Rechtsordnung Vielfach wird, wenn von „Recht“ gesprochen wird, das Gefüge aller Vorschriften des Zivilrechts, des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts bezeichnet, die zusammen die Rechtsordnung eines Staates ausmachen. Zu einem solchen Gefüge gehören die Vorschriften des positiven Rechts, aber auch ungeschriebene Rechtsprinzipien (z. B. Billigkeit, Verhältnismäßigkeit, Nachhaltigkeit) und eingeführte Rechtsinstitute wie z. B. Verträge. Alle diese Elemente interessieren, wenn von Recht in dieser dritten Bedeutung gesprochen wird, vor allem in ihrem Zusammenwirken. Hier wird der instrumentelle Charakter des Rechts deutlich. Deshalb gehören auch Vorschriften des Prozessrechts, der Gerichtsorganisation und der Zwangsvollstreckung hierher. Als einzelne haben viele dieser Bestimmungen keinen eigenen Gerechtigkeitswert; aber sie sind notwendig, um Recht durchsetzen zu können und ihm damit Effektivität zu verleihen. Die Beurteilung, ob eine Rechtsordnung insgesamt die Gerechtigkeitserwartungen erfüllt, ist eine komplizierte Bewertungs- und Abwägungsfrage, die die Zusammenschau der repräsentativen Gebiete, u. a. des Strafrechts, des Familienrechts, des Steuerund Sozialrechts, verlangt. Dabei ist es hilfreich, sich an den diese Rechtsgebiete durchtive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ermögliche. SCHMIDT-AßMANN, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff.
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ziehenden Rechtsprinzipien zu orientieren. Die bilanzierende Beurteilung ist natürlich auch durch die Präferenzen des Beurteilers geprägt: Der eine wird stärker auf die soziale Komponente der austeilenden Gerechtigkeit abheben wollen, während ein anderer mit der Bedeutung der Vertragsgerechtigkeit und der Wiedergutmachung die ausgleichende Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt. Nicht unwichtig ist in jedem Falle, inwieweit ein als ungerecht empfundener Zustand als dauerhaft fixiert oder als veränderbar erscheint. Die Gerechtigkeit hat eine starke prozedurale Komponente, sie ist „als Entwicklung“ zu begreifen.14 Ein erster Schritt zu mehr Gerechtigkeit ist die faire Gestaltung entsprechender Verfahren für Rechtsänderungen, z. B. eine bessere Repräsentanz schwacher Interessen bei völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen t (dazu unter III 1). Auch für eine Rechtsordnung insgesamt gilt das, was im Verhältnis einer Vorschrift des positiven Rechts zur Gerechtigkeit festgestellt wurde (vgl. oben 2): Der Vorwurf der Ungerechtigkeit nimmt ihr nicht ihre rechtliche Verbindlichkeit. Abweichungen von dieser Aussage sind nach nicht unbestrittener Auffassung nur für extreme Ausnahmefälle anerkannt, in denen Normen in einem „unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit“ stehen.15
II.4 Unterschiede der Gerechtigkeitsdiskurse Löst man das Verhältnis des Rechts zur Gerechtigkeit in eine Abfolge von Diskursen auf, so wird – bildlich gesprochen – das Modell einer „trichterförmigen Verdichtung“ des Bestandes zugelassener Argumente erkennbar: Die allgemeinen Gerechtigkeitsdiskurse in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft f werden zunächst durch die Ausrichtung auf das, was das Verfassungsrecht transformiert, und sodann noch einmal auf das konzentriert, was die Verfassungsgerichtsbarkeitt von ihnen anerkennt. Das mag mancher als eine „Verengung“ oder als „Formalismus“ beklagen. Es ist der notwendige Preis dafür, dass das Recht Rechtssicherheit bieten soll, zu der seine Verbindlichkeit und seine Durchsetzbarkeit gehören. Zwischen Verbindlichkeitsanspruch und Verdichtung besteht ein Junktim. Eine „Verödung“ des Gerechtigkeitsdiskurses auf positiv-rechtlicher Ebene ist gleichwohl nicht zu befürchten: Die weiten Rechtsbegriffe, die gerade das Verfassungsrecht kennzeichnen, sind regelmäßig geeignet, ein breites Spektrum von Argumentationsansätzen nicht-juristischer Diskussionen in sich aufzunehmen. Der Rechtsdiskurs, d.h. die Auslegung der Rechtsbegriffe, ist nicht hermetisch gegen die Umwelt abgeschirmt.16 Selbst wenn es nicht zur verbindlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm durch die Verfassungsgerichtsbarkeit kommt, sind die voraufgegangenen verfassungsrechtlichen Diskussionen hilfreich, weil sie das Bewusstsein von der Bezogenheit allen Rechts auf die Gerechtigkeit wach halten und Gerechtigkeitspostulate zu artikulieren und in ihrer Bedeutung auch im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu bestimmen gestatten.
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So HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 26. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 24.10.1996, BVerfGE 95, 96 (134 f.). HUBER, Gerechtigkeit und Recht, S. 180 ff.
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III. Schwierigkeiten speziell des Völkerrechts Wenn von „Recht“ die Rede ist, steht regelmäßig das innerstaatliche Recht im Vordergrund (vorstehend II). Seine Erscheinungsformen und Wirkungsbedingungen prägen traditionell unsere Vorstellungen vom Recht. Mit einer gewissen Zuspitzung lässt sich sagen: Das Rechtsdenken ist – im Guten wie im Schlechten – nach wie vor „staatszentriert“. Für das Problem der internationalen Gerechtigkeit ist das innerstaatliche Recht zwar zweifellos wichtig, vorrangig aber muss auf das internationale Recht, das Völkerrecht, zugegriffen werden.17 Damit ist allerdings eine Rechtsordnung aufgerufen, der, verglichen mit dem innerstaatlichen Recht, so viele Schwächen nachgesagt werden, dass man gelegentlich an ihrer Qualität als Recht überhaupt gezweifelt hat.18 Das gilt insbesondere dann, wenn man ein flächendeckendes System zwangsweiser Rechtsdurchsetzung als Wesensmerkmal des Rechts ansieht. Nun ist es im Ergebnis sicher verfehlt und ein Zeichen übertriebener Staatsfixiertheit des überkommenen Rechtsdenkens, dem Völkerrecht den Rechtscharakter generell abzusprechen. Aber deutliche Wirksamkeitsschwächen des Völkerrechts sind nicht zu übersehen. Man muss sich also ein Stück vom Bilde des staatlichen Rechts lösen, um nicht Pessimismus zu predigen, sondern den Beitrag des Völkerrechts zur Förderung internationaler Gerechtigkeit realistisch – unter Einschluss seiner Entwicklungsmöglichkeiten – einzuschätzen.19 Mehr noch: ein Teil seiner Schwäche könnte sich als Stärke erweisen! Als Schwächen des Völkerrechts lassen sich näherhin Entstehungsschwächen (1) und Durchsetzungsschwächen (2) unterscheiden.20
III.1 Entstehungsbedingungen Was die rechtsförmige Entstehung von Völkerrecht angeht,21 so ist daran zu erinnern, dass seine wichtigste Quelle der völkerrechtliche Vertrag ist. Das gilt gerade im Themenbereich der internationalen Gerechtigkeit: Handelsabkommen, Entschuldungsabkommen, Doppelbesteuerungsabkommen, Patentabkommen, Klima- und Diversitätskonventionen, Menschenrechtspakte. Der Vertragsschluss setzt die Willenseinigung der Parteien voraus. Die nach wie vor eindeutig dominierenden Akteure der internationalen Politik sind heute und in absehbarer Zukunft die Staaten. Sie sind die geborenen Völkerrechtssubjekte. Kein Staat kann gegen seinen Willen zu einem Vertragsschluss oder zur Übernahme von vertraglichen Verpflichtungen gezwungen werden. Das folgt aus
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Dazu aus ausgewählten Politikfeldern die Beiträge von EMPELL und WEILERT. Ausführliche Auseinandersetzungen dazu bei CREMER, Alles nur Rhetorik?, ZaöRV 2007, S. 267 ff. 19 Vgl. CZARNECKI, Verteilungsgerechtigkeit im Umweltvölkerrecht, 2008. 20 Vgl. zum Folgenden nur VÖNEKY, Die Durchsetzung des Volkerrechts, Jura 2007, S. 488 ff. 21 Die Aussage betrifft allein die Basis rechtlicher Verbindlichkeit. Die Bedeutung ideeller, sozialer oder politischer Einflussfaktoren als realer Entstehungsbedingungen wird dadurch nicht gemindert. Sie zu unterstreichen besteht gerade dann Veranlassung, wenn wie hier der diskursiven Komponente der Völkerrechtsentwicklung etwas zugetraut wird. 18
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dem Prinzip souveräner Gleichheit der Staaten.22 Die innerstaatlichen Möglichkeiten, durch parlamentarische Mehrheitsentscheidungen eine bestimmte Politik auch gegen den Willen des Einzelnen durchzusetzen, fehlt im Völkerrecht. Hier muss auch der hartnäckigste Opponent erst für eine Zustimmung gewonnen werden, bevor ihn vertragliche Pflichten binden. Fälle, in denen sinnvolle und von einer Mehrheit als gerecht empfundene Regelungen nicht Vertrag werden, sondern am Staatenegoismus scheitern, sind vielfach nachzuweisen. Es ist trotzdem wenig sinnvoll, über diese Entstehungsschwäche des Völkerrechts zu jammern. Wer etwas anderes will, muss klar sagen, dass er in Richtung auf einen „Weltstaat“ denkt, in dem ein „Weltparlament“ mit Mehrheit Entscheidungen trifft – eine Option, die freilich weder realistisch ist, noch wünschenswert wäre. Ein Konzept internationaler Gerechtigkeit kann nicht „aus der Zentralperspektive einer internationalen Supertheorie heraus formuliert werden“.23 Das gegenwärtige Völkerrecht bietet jedenfalls dafür keinen Ansatz. Die UNO selbst kann zwar als Repräsentant der Staaten und Völker angesehen werden. Aber ihre Organe bilden keine Weltregierung: Die Beschlüsse ihrer Vollversammlung haben nur empfehlenden Charakter (Art. 10 UN-Charta), und über die bindende Wirkung der Beschlüsse des Sicherheitsrates ist noch nicht das letzte Wort gesprochen (vgl. Art. 25 UN-Charta).24 Wenn nach alledem von einem dominierenden Einfluss der Nationalstaaten auf die Entwicklung des Völkerrechts auszugehen ist, wenn die Nationalstaaten es sind, die die Ausformung völkervertraglicher Verpflichtungen bestimmen, dann kommt es wesentlich darauf an, das Zustandekommen solcher Verträge, die Vertragsverhandlungen, in ihrem institutionellen Design so auszugestalten,dass ein fairer Ausgleich möglich und das Ausreizen der eigenen Interessendurchsetzung deutlich eingeschränkt wird. Auch hier hat der Gedanke internationaler Gerechtigkeit einen deutlichen Verfahrensbezug: Auch bei der praktischen Rechtsgestaltung geht es darum, kulturbedingte Perspektiven füreinander gesprächsfähig zu entfalten.25 Multilaterale Vertragsverhandlungen bieten dabei bessere Möglichkeiten als bilaterale. Die internationale Politik kann schwachen Ländern durch Repräsentationshilfen, z. B. durch Gruppenbildungen, und bei der Formulierung gemeinsamer Ziele helfen. Zu denken ist auch an die Einbeziehung von Nicht-Regierungsorganisationen. Die entsprechenden Verhandlungen können, indem sie in den Rahmen großer internationaler Konferenzen f eingebettet werden, der kritischen Beobachtung der Öffentlichkeit ausgesetzt werden. U.U. ist die Verhandlungspraxis der „Paketlösungen“ hilfreich. Dass trotz allem erhebliche Schwächen völkerrechtlicher Rechtsbildung bleiben, ist unübersehbar. Es sollte jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden, dass das be22 Vgl. Art. 2 § 1 der Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945: „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“. Vgl. EMPELL, in diesem Band, S. 191. 23 HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 20 und 36 f.: gegen ein zentralistisches Politikmodell. 24 Vgl. nur das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3.9.2008 in den Rechtssachen „Kadi“ und „Al Barakaat International Foundation“, EuGRZ 2008, S. 480 ff.,Tz. 293 ff. 25 HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 20.
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stehende völkerrechtliche Vertragsrecht in den Menschenrechtspakten und in der Umweltpolitik durchaus Staatenverpflichtungen vorweisen kann, die sich aus einseitiger Verfolgung staatlicher Eigeninteressen nicht erklären lassen. Welche Gründe haben die Staaten veranlasst, sich in solche Bindungen zu begeben? Das muss in politikwissenschaftlicher Analyse aufgeklärt werden. Die Schaffung entsprechender Anreizstrukturen ist gefragt.
III.2 Durchsetzungsmöglichkeiten Die Durchsetzung des Völkerrechts ist, verglichen mit derjenigen des innerstaatlichen Rechts, ebenfalls bisher eher schwach entwickelt.26 Insbesondere fehlt ein mit umfassenden Zuständigkeiten ausgestattetes Gerichtssystem. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist zwar als Hauptrechtsprechungsorgan der UNO eingesetzt (Art. 7 UNCharta, Art. 1 IGH-Statut). Aber er ist alles andere als ein Universalgericht – schon deshalb nicht, weil nur Staaten, nicht aber Individuen vor ihm als Partei auftreten können (Art. 34 IGH-Statut). Die Beschwerdemöglichkeiten, die das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) für den Einzelnen einräumt, gleichen diese Schwäche nicht aus; sie führen nur zu einem Ausschuss, nicht aber zu einem unabhängigen Gericht.27 Richtig ist aber auch, dass die Möglichkeiten gerichtlicher oder gerichtsähnlicher Streitlösung in jüngerer Zeit zugenommen haben. Das bekannteste Beispiel ist die Einrichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Schon älter sind die Menschenrechtsgerichtshöfe der regionalen Menschenrechtspakte in Amerika und Europa. Beide haben den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz nachhaltig verbessert. Ihre Rechtsprechung ist heute ein respektierter Bestand und in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ein wichtiger Orientierungspunkt.28 Allerdings können die Menschenrechtsgerichtshöfe nur Verletzungen der entsprechenden (regionalen) Menschenrechtskonventionen behandeln; andere Rechtsverletzungen festzustellen ist nicht ihre Aufgabe. Hier macht sich die starke Fragmentierung des Völkerrechts schwächend bemerkbar. So könnte etwa eine Verletzung der Europäischen Sozialcharta als solche vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nicht geltend gemacht werden, es sei denn, ihre Verletzung stellte zugleich einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar.
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VÖNEKY, a.a.O. S. 489 ff.; WEILERT, in diesem Band, S. 212. Zur Frage der Wirksamkeit vgl. TOMUSCHAT, Internationaler Menschenrechtsschutz – Anspruch und Wirklichkeit, in: Vereinte Nationen 2008, S. 195. 28 Zur Situation im Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention die Feststellung von LANDAU, Die Entwicklung der Menschenrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2008, S. 1269 (1271): „Der bereits im Jahre 1959 errichtete EGMR ist mittlerweile für über 800 Mio. Menschen in 47 Vertragsstaaten die letzte gerichtliche Instanz des Grundrechtsschutzes“. 27
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Insgesamt lässt sich aber eine Tendenz erkennen, die Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlich gewährter Rechte auch für Individuen zu verbessern.29 Einmal eingerichtete Gerichte pflegen ihre Aufgaben eher extensiv als restriktiv aufzufassen. Sie müssen freilich im Rahmen ihrer Gründungsstatuten bleiben. Ein Staat, der diesem Statut nicht zugestimmt hat, ist ihrer Jurisdiktion nicht unterworfen. Auch hier beruht die Schwäche des Völkerrechts also letztlich auf dem Dogma nationalstaatlicher Souveränität. Nicht nur mächtige Industriestaaten, sondern auch Schwellenländer und Entwicklungsländer pflegen auf zugemutete Einschränkungen ihrer Souveränität außerordentlich sensibel zu reagieren.30 Das muss bei allen Vorschlägen, die Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts auszubauen, in Rechnung gestellt werden. Die Nationalstaaten sind, weil bisher eine regionale oder gar globale Öffentlichkeit fehlt, nach wie vor die wichtigsten Bezugsgrößen, wenn Demokratie und Verantwortung eingefordert werden.
IV. Trotzdem: Der Völkerrechtsentwicklung etwas zutrauen Wir dürfen – das zeigen die bisherigen Ausführungen – vom Recht und insbesondere vom Völkerrecht nicht zu viel erwarten. Recht und Gerechtigkeit sind nicht identisch. Wir dürfen aber auch nicht zu wenig erwarten. Für eine Politik, die zu mehr internationaler Gerechtigkeit führen soll, ist das Völkerrecht ein unverzichtbares Gestaltungsmittel. Resignation gegenüber seinen Wirkungsschwächen wäre die falsche Einstellung. In den Diskussionen um die Bedeutung des UN-Sozialpaktes wird von einer „progressive realization“ gesprochen. Der Gedanke gilt für den gesamten Themenbereich: Man muss der Entwicklung etwas zutrauen! Gerade das Völkerrecht befindet sich heute in einem tiefgreifenden Wandel, zu dem der Gerechtigkeitsgedanke beitragen kann.31 Dabei sind keine Patentlösungen zu erwarten. Aber schon eine gewisse Verschiebung innerhalb der überkommenen Machtstrukturen kann ein Fortschritt sein. In ihrer Analyse der UNMenschenrechtspolitik gelangt Ulrike Davy jüngst zu folgender Feststellung: „Die Aktivitäten auf der internationalen Ebene haben eine Dynamik entfaltet, die mögliche Einwände gegen die Annahme einer inhaltlich bestimmten Rechtspflicht für die Industrienationen zur globalen Armutsbekämpfung mindestens abschwächen. Die fortdauernden Verhandlungen erzeugen einen beträchtlichen Druck, Zusagen zu machen und einzuhalten. Für Interessierte wird außerdem sichtbar, wer Einigungen blockiert“.32
29 Zur Forderung eines universal zuständigen Menschenrechtsgerichtshofs jüngst NOWAK, Ein Weltgerichtshof für Menschenrechte. Eine utopische Forderung?, in: Vereinte Nationen 2008, S. 205 ff. 30 Vgl. EMPELL, Der Internationale Strafgerichtshoff und die Verfolgung der Bürger von Drittstaaten, 2006. 31 Dazu anschaulich THÜRER, Modernes Völkerrecht: Ein System im Wandel und Wachstum – Gerechtigkeitsgedanke als Kraft der Veränderung?, ZaöRV 2000, S. 557 ff. Vgl. auch MAHLMANN, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 487 ff. 32 DAVY, Soziale Gerechtigkeit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Band 68, S. 122 ff., 170.
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Die folgenden Ausführungen skizzieren zunächst drei Handlungsfelder einer Politik für mehr internationale Gerechtigkeit (1). Sie stellen dann drei Regelungsansätze vor, die für eine solche Politik wichtig werden können (2). Mit Überlegungen zum Gedanken der Solidarität und zu den UN-Menschenrechtspakten schließen die Untersuchungen ab (3).
IV.1 Handlungsfelder (Überblick) Internationale Gerechtigkeit zu fördern ist nicht nurr eine Sache des Völkerrechts. Auch das innerstaatliche Recht kann einen nicht unerheblichen Beitrag leisten.33 Die nationalen Gesetzgeberr müssen mehr als bisher die Rückwirkungen ihrer Maßnahmen auf die Verhältnisse in anderen Weltgegenden bedenken, selbst wenn das bei der heimischen Wählerklientel wenig Anklang findet. Das gilt etwa für das Verhältnis einer protektionistischen Agrarpolitik zur Entwicklungspolitik. Nationale Gerichte können zur Durchsetzung des Völkerrechts dadurch beitragen, dass sie dessen Normen, soweit diese hinreichend bestimmt und unmittelbar anwendbar sind, in ihren Entscheidungen berücksichtigen.34 Schon dadurch kann einiges erreicht werden. Ungeachtet dieser Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechts liegt der Schwerpunkt einer Politik zu mehr internationaler Gerechtigkeit jedoch auf internationaler Ebene. Das Spektrum der Handlungsfelder ist, dem ubiquitären Charakter der Gerechtigkeitsfragen entsprechend, breit. Drei große Themenbereiche seien kurz vorgestellt: (a) Ein Kernbereich betrifft Verteilungsprobleme, vor allem solche wirtschaftlicher Art. Er kann durch die Begriffe „Armut“, „Verschuldung“ und „Entwicklungshilfe“ charakterisiert werden.35 Hier sind besonders krasse ökonomische Fehlentwicklungen zu beobachten, die den Ruf nach Transferzahlungen und Hilfsprogrammen in einem gerechtigkeitsorientierten Sinne plausibel erscheinen lassen. Allerdings zeigt die genauere Analyse, dass die Notsituationen in der Regel nicht nur durch konkrete und kurzfristig behebbare Ursachen, sondern vor allem durch ungünstige Rahmenbedingungen hervorgerufen sind, die durch direkte Aktionen wie Transferleistungen nicht verändert werden: in den notleidenden Ländern selbst bestehen Mängel des politischen Systems und des Bildungssystems, dazu von außen kommend eine benachteiligende und oft rücksichtslose Behandlung durch Industrieländer und mächtige Schwellenländer in der Handelsund Finanzpolitik, in der Agrarpolitik und bei der Ausbeutung von Rohstoffvorkommen. Selbst in diesem Kernbereich sind Situationen, die Forderungen nach mehr internationaler Gerechtigkeit auf den Plan rufen, nicht monokausal erklärbar; viele Faktoren wirken zusammen. Das Völkerrecht r muss über seinen ererbten fragmentarischen Charakter, mit dem es die Probleme zu oft in unterschiedlichen Arenen verhandelt, hinaus33
Für die EU-Staaten ist hierbei allerdings die Kompetenzverteilung des EU-Vertrages zu beachten, die für den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie das Migrationsrecht vorrangig g die Union zuständig sein lässt. 34 GÄRDITZ, Die Legitimation des Justiz zur Völkerrechtsfortbildung, in: Der Staat, Band 47 (2008), S. 381 ff. 35 Dazu die Beiträge von TEICHERT und DIEFENBACHER in diesem Band; ferner die Denkschrift der EKD „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“, 2008, S. 93 ff.
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gehen und künftig in Ziel- und Prinzipiendiskursen Vernetzungen und Querschnittaufgaben besser zu erfassen suchen. Die Probleme lassen sich am Verhältnis von WTORecht und Ressourcenschutz zeigen. Hier erweisen sich jüngere Forschungen zu einem Global Administrative Law als hilfreich.36 (b) Ein zweiter großer Themenkreis internationaler Gerechtigkeit bezieht sich auf Umweltfragen. „Umweltgerechtigkeit“ ist heute ein Schlüsselbegriff nicht nur im innerstaatlichen Rahmen. Sie beeinflusst auch die Verhältnisse zwischen Staaten, zwischen Nachbarstaaten z. B. bei der Nutzung begrenzter gemeinsamer Wasserressourcen, und zwischen Staaten unterschiedlicher Weltregionen z. B. als Frage nach einem Ausgleich für Folgeschäden fremdverursachter Klimaveränderungen. Auch diese Probleme haben eine ökonomische Seite.37 Vorrangig stellen sich hier aber Gerechtigkeitsfragen aus dem Gedanken eines Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen. Demselben Gedanken verpflichtet sind die Bemühungen um den Erhalt der kulturellen Identität von Völkern und Gruppen. Auch hier geht es, jedenfalls soweit Eigenständigkeit und Vielfalt durch äußere Einflüsse, z. B. unlautere Praxen im Welthandel, gefährdet werden, um Fragen internationaler Gerechtigkeit.38 (c) Zu einem dritten großen Themenbereich lassen sich alle Aktivitäten zusammenfassen, die auf die Verfolgung und Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen gerichtet sind. Die heute unverzichtbare und selbstverständliche menschenrechtliche Aufgabenstellung des Völkerrechts39 muss sich zunächst einmal als „Basisschutz von Leib und Leben“ zur Geltung bringen: präventiv z. B. bei der Frage nach der Legitimität sog. humanitärer Interventionen,40 repressiv bei der Einrichtung einer internationalen Strafrechtspflege.41 Die völkerrechtliche Durchbildung dieses dritten großen Themenbereiches internationaler Gerechtigkeit ist, selbst wenn viele Rechtsfragen bisher letztverbindlich nicht geklärt sind, wesentlich weiter fortgeschritten als diejenige der ersten beiden Themenkreise. Angesichts dieser Fülle und Vielgestaltigkeit der Problemlagen kann das Völkerrecht keine fertigen Lösungsmodelle anbieten, die nur eingesetzt werden müssten, um mehr Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Die dominierende Rolle der Staaten und ihres Souveränitätsdenkens ist hier nur ein Grund für Wirksamkeitsschwächen – aber ein wichtiger. Deshalb ist nach zusätzlichen Regelungsansätzen zu fragen. 36 Vgl. KINGSBURY Y/KRISCH H/STEWART T/WIENER, The Emergence of Global Administrative Law, in: Law and Contemporary Problems, School of Law, Duke University, Vol. 68, 2005. 37 Zur Umweltgerechtigkeit allgemein vgl. KLOEPFER, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 52 (2008), S. 1 ff. 38 Dazu die Friedensdenkschrift der EKD (oben Fn. 3), S. 54 und 64 f. mit Hinweis auf die 2005 im Rahmen der UNESCO abgeschlossene Konvention zum Schutz kultureller Ausdrucksformen. 39 Vgl. IPSEN, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 48, dort Rn. 2 auch der Begriff des völkerrechtlichen Basisschutzes für Leib und Leben. 40 Vgl. die Friedensdenkschrift der EKD (oben Fn. 3), S. 74 ff. sowie EMPELL, in diesem Band, S. 192. 41 DAHM M/DELBRÜCK K/WOLFRUM, Völkerrecht Band I/3, 2. Aufl. 2002, §§ 189–199.
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IV.2 Erweiterte und neuere Regelungsansätze Um ein umfassendes Bild völkerrechtlicher Wirkungsmöglichkeiten zu bieten, müssen drei Phänomene in die Betrachtung mit einbezogen werden: das Völkergewohnheitsrecht (a), die Rolle Internationaler Organisationen (b) und das sog. soft law (c). Behutsam genutzt, ermöglichen es diese drei Erscheinungsformen, das Völkerrecht ein Stück weit von seiner Staatszentriertheit zu lösen, sich stärker am Weltgemeinschaftsinteresse auszurichten und entwicklungsoffener zu werden. Ihre Entwicklung mag prekär und ambivalent bleiben, aber sie bietet auch Chancen. (a) Völkergewohnheitsrecht Völkerrecht ist nicht nurr Völkervertragsrecht. Zu seinen Rechtsquellen gehört auch das Völkergewohnheitsrecht (vgl. Art. 30 lit. b IGH-Statut). Die Entstehung dieses Rechts setzt eine gemeinsame Rechtsüberzeugung der Staaten, nicht aber die Zustimmung jedes einzelnen Staates voraus. „Die gewohnheitsrechtliche Übereinstimmung ist kein Vertragskonsens. Kein Staat ist ohne seine Zustimmung an Verträge gebunden, aber das Gewohnheitsrecht gilt auch gegen den Willen der Staaten für alle unter Einfluß namentlich auch der neu entstandenen und entstehenden Staaten“42. Der Kreis der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Normen hat sich in jüngerer Zeit erheblich erweitert, insbesondere im Gebiet eines elementaren Menschenrechtsschutzes.43 Hier gibt es heute einen Kernbestand an Absicherungen, die weltweit gelten und den Rang von ius cogens Normen besitzen: Neben dem Verbot der rassischen Diskriminierung, der Folter und der willkürlichen Tötung muss heute auch das Recht auf ein Existenzminimum als Völkergewohnheitsrecht anerkannt werden. Hinzu treten anerkannte Regeln für einzelne Politikbereiche. So gelten im Umweltvölkerrecht ein Verbot grenzüberschreitender Schädigungen44 und ein Rücksichtnahmegebot bei der Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen gewohnheitsrechtlich.45 Auch im internationalen Strafrecht, z. B. für die Bestrafung von Völkermord, hat das Völkergewohnheitsrecht Bedeutung.46 (b) Internationale Organisationen Praktisches völkerrechtliches Handeln wird heute vielfach von Internationalen Organisationen bestimmt (IAO, WHO, FAO, UNESCO, Weltbank, IWF). Internationale Organisationen sind zwar in ihrer Gründung und Finanzierung von den Staaten abhängig. Sie haben keine weiterreichenden Aufgaben, als ihnen die Staaten in dem entsprechenden Gründungsstatut anvertrauen. In ihrem konkreten Handeln sind sie jedoch nicht auf die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedstaats angewiesen. In Einzelfällen können sie sogar (sekundäres) Völkerrecht durch Mehrheitsentscheidung schaffen. Internationale 42
DAHM M/DELBRÜCK K/WOLFRUM, Völkerrecht, Band I/1, 2. Aufl. 1989, § 4 unte r II S. 55. Vgl. die Darstellung bei EMPELL, in diesem Band, S. 197. 44 CZARNECKI, Verteilungsgerechtigkeit im Umweltvölkerrecht, S. 134 ff. unter Hinweis auf die Schwierigkeiten der Anwendung auf sog. globale Summationsschäden. Ausführlich WOLFRUM, in: MORRISON/WOLFRUM (ed.), International, Regional and National Environmental Law, 2000, S. 28 ff.; ferner FRAUENKRON, Das Solidaritätsprinzip im Umweltvölkerrecht, 2008. 45 GRAF VITZTHUM in: ders. (Hg.), Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, 5. Abschnitt Rn. 155. 46 DAHM M/DELBRÜCK K/WOLFRUM, Völkerrecht Band I/3, § 189 IV 1 und § 193. 43
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Organisationen sind damit noch nicht notwendig Repräsentanten der Interessen der Weltgemeinschaft. Neben positiven Erfahrungen mit ihnen, z. B. bei der Erarbeitung internationaler Sozialstandards47, finden sich zweifelhafte Aktionen, die Krisenlagen u.U. eher verschlimmert als verbessert haben, so der Vorwurf gegen die Entschuldungspolitik des IWF und der Weltbank im Blick auf Entwicklungsländer.48 Es kommt darauf an, welche politischen Gruppierungen sich in den Gremien dieser Organisationen Geltung verschaffen. Auch das Problem demokratischer Kontrolle ist bei ihnen noch keineswegs gelöst. Diese Erkenntnis rät daher zur Zurückhaltung, in Internationalen Organisationen geborene Akteure einer Politik zu mehr internationaler Gerechtigkeit zu sehen. Aber sie eröffnen Möglichkeiten, globale Probleme mit einem eigenen Apparat gezielt anzugehen und Staaten dazu einzubinden. Wichtig ist es daher, die Entscheidungsmechanismen dieser Organisationen so zu gestalten, dass eine breite Interessenrepräsentanz gewährleistet ist und einseitige Politiken vermieden werden. (c) Aufgaben des völkerrechtlichen soft law Unter dem noch wenig prägnanten Begriff des soft law werden im Völkerrecht Verlautbarungen, Erklärungen und andere Akte zusammengefasst, denen rechtliche Verbindlichkeit im strengen Sinne nicht zukommt:49 Resolutionen Internationaler Organisationen, Selbstverpflichtungen von Regierungen (u. U. auch von Verbänden und Unternehmen), Entschließungen internationaler Konferenzen. f Seine Erscheinungsformen sind vielfältig; seine Einordnung ist auch deshalb besonders schwierig, weil mangels eines geschlossenen Durchsetzungs- und Sanktionssystems im Völkerrecht ohnehin zwischen Verpflichtungen mit einklagbarer Verbindlichkeit und solchen mit nur verminderter Durchsetzungschance gleitende Übergänge bestehen. Zu den Rechtsquellen des Völkerrechts wird das soft law deshalb nicht gerechnet. Trotzdem kann der Begriff gerade für Diskussionen über internationale Gerechtigkeit hilfreich sein, weil er eine spezifische Entwicklungsdimension besitzt. „Der Grund für die zunehmende Berufung auf ein internationales ‚soft law‘ besteht darin, daß die Vorphase vor der Entstehung einer bestimmten, einer der Völkerrechtsquellen zuzuordnenden Norm häufig bereits durch normgeprägtes Verhalten der an der Entstehung Beteiligten gekennzeichnet ist. Über den Inhalt bestimmter Verhaltensweisen lässt sich in der Regel eher ein Konsens erzielen, wenn diese zunächst rechtlich unverbindlich sind und sich im internationalen Verkehr bewähren sollen, bevor sie zu Normen des ‚hard law‘ werden.“50 Soft law lässt einer Vielfalt von Umsetzungsmöglichkeiten Raum und hat, wie sich am Beispiel völkerrechtlicher Sozialstandards nachweisen lässt, „experimentellen Charakter“.51 Es stellt damit ein flexibles Instrument der Rechtsbildung in einem System dar, das – anders als das staatliche Rechtsetzungssystem – nicht hierarchisch, sondern 47
NUßBERGER, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 44 ff. Vgl. DIEFENBACHER, in diesem Band, S. 140. 49 IPSEN, Völkerrecht, § 20 Rn. 20 ff.; WEILERT in diesem Band, S. 215. 50 So die zutreffende Funktionsbeschreibung bei IPSEN, Völkerrecht, § 20 Rn. 21. 51 NUSSBERGER, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 427 ff. Zu unterschiedlichen Arten von soft law zur Bindung transnationaler Unternehmen vgl. WEILERT, in diesem Band, S. 227. 48
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polyzentrisch verfasst ist. Der Schaffung verbindlichen Völkerrechts gehen üblicherweise lange Phasen praktischer Verhandlungen, zwischenstaatlicher Abstimmungen und öffentlicher Diskurse voraus, in denen politisch argumentiert wird. In diesen Rechtsbildungsprozessen bezeichnet das soft law ein herausgehobenes Stadium, von dem ab die Vielfalt der Argumente zu einem engerem Bestand als „law“ kondensiert worden ist, ohne schon die Dichte verbindlichen Rechts erreicht zu haben. Insofern lässt sich sagen, dass der Gedanke des soft law in den die internationalen Beziehungen bestimmenden öffentlichen Diskursen eine durchaus sinnvolle Konzentrationsleistung erbringt. Das gilt gerade im Blick auf Gerechtigkeitsdiskurse. Die klare Zäsur zwischen Rechtsidee und verbindlichem positivem Recht, die das nationale Recht prägt, die es aber in gewisser Weise auch abschottet, ist hier überbrückt durch ein Institut, das den einsetzbaren Argumenten zwar schon einen festen Stellenwert zuweist und für die weitere Konkretisierung gewisse Strukturen vorgibt, das aber auf dem weiteren Weg zur Schaffung verbindlichen Rechts sehr viel leichter nach dem trial and error Prinzip vorgehen kann. Wer ganz auf die Vorstellung staatlichen Rechtszwangs fixiert ist, wird das für ungenügend halten. Für ein auf konsensuale Verfahren angelegtes Modell internationaler Gerechtigkeit52 ist das soft law dagegen ein sinnvolles Mittel, um eine strukturierte Interessendarstellung zu ermöglichen, Beobachtungsebenen einzubeziehen und Argumentationslasten zu verteilen. 53
IV.3 Normative Orientierungen: Solidarität und UN-Menschenrechtspakte Für die internationale Dimension der Gerechtigkeit ist das Völkerrecht nicht deshalb nur in einzelnen seiner verbindlichen Regelungen (z. B. zum Umfang der Jurisdiktionsgewalt des IStGH oder zur Zulässigkeit humanitärer Interventionen), sondern gerade auch in der Vielfalt seiner anderen Erscheinungsformen interessant, weil es philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen eigene normative Orientierungen geben kann. In der Vielfalt seiner Rechtstexte sind Fixpunkte und Leitgedanken erkennbar, die den erreichten Stand, die künftig erreichbaren Verbesserungen oder mindestens die politisch intensiv behandelten Perspektiven verdeutlichen.54 (a) Vorsichtiger Universalismus Als Grundlinie ist ein vorsichtiger Universalismus erkennbar, der Fragen der Gerechtigkeit nicht allein im partikularen Rahmen behandelt wissen will, sondern in ihrer Förderung auch eine gemeinsame Aufgabe der Staaten und Völker sieht. Solidarität erschöpft sich nicht (mehr) im nationalstaatlichen Rahmen; sie lässt sich als Rechtsprinzip auch auf europäischer und in Ansätzen auch auf globaler Ebene erkennen.55 Diese Grundlinie ist etwa durch folgende Punkte bestimmt: 52
HARTUNG G/SCHAEDE, in diesem Band, S. 39. Zu einem stärker diskurstheoretisch ausgerichteten Völkerrecht vgl. CREMER, ZaöRV 2007, S. 267 (298 ff.). 54 Ähnliche Überlegungen bei KOTZUR, Soziales Völkerrecht für eine solidarische Völkergemeinschaft, Juristenzeitung (JZ) 2008, S. 265 (271 ff.). 55 Dazu HILPOLD, Solidarität als Rechtsprinzip – völkerrechtliche, europarechtliche und staatsrechtliche Betrachtung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 55 (2007), S. 195 ff. Zu unter53
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– Die Staaten bleiben zwar die zentralen Akteure, aber sie werden verstärkt für gemeinsame Ziele in die Verantwortung genommen und zu intensiver Kooperation gezwungen56 – eine Grundlinie, die sich rein faktisch in den Reaktionen auf die gegenwärtige Finanzkrise bestätigen dürfte. – Die Vereinten Nationen spielen bei der Entwicklung gemeinsamer Ziele eine wichtige Rolle, sie verdrängen Staaten aber nicht. – Die administrativen Aufgaben Internationaler Organisationen werden zunehmen, aber auf speziell definierte Felder beschränkt bleiben. – Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Einrichtungen erlangen auch auf internationaler Ebene weitere Bedeutung. Sie sind aber nicht als mit den Staaten konkurrierende Akteure anzusehen (dazu fehlen ihnen Finanzmittel ebenso wie Rechtsstatus), sondern als kontrollierende und ggf. impulsgebende Kräfte in einem neuen Machtverteilungsmodell. (b) Soziale Rechte Zu den wichtigsten Rechtstexten des Völkerrechts r zählen die UN-Menschenrechtspakte, im Blick auf Fragen der internationalen Gerechtigkeit vor allem der UN-Sozialpaktt von 1966. Mehr als 150 Staaten haben ihn seither ratifiziert, das ist praktisch die gesamte Völkerrechtsgemeinschaft. Die Entwicklung seiner juristischen Bedeutung sollte – auch im Vergleich zur langsamen und vorsichtigen Entwicklung sozialer Rechte im nationalen und im europäischen Recht – nicht resignativ aufgenommen werden. 57 „Die Texte des positiven Völkerrechts sind durchaus gerechtigkeitsbewusst“.58 Drei Punkte seien genannt: (a) Klargestellt ist, dass die Garantien der Pakte die Qualität von Rechtssätzen haben und nicht nur politische Programmatik sind. Die Rechtsgeschichte lehrt, dass auch die nationalen Verfassungen lange mit der Wirkungsschwäche zu ringen hatten, dass sie nur als politische Programme qualifiziert wurden. Das änderte sich erst unter dem Einfluss zunehmender Juridifizierung, für die die Einrichtung eigener Verfassungsgerichte eine wichtige, aber nicht die einzige Ursache war. Für die UN-Pakte steht ihre Verbindlichkeit von vornherein fest. Sie sind keine bloßen Deklarationen, sondern legen den Staaten verbindliche Pflichten auf.59 Damit haben sie ein Minimum auch an Justiziabilität erlangt, die bei nationalen Gerichten und bei dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) einzufordern ist.60
schiedlichen Begriffsvarianten vgl. MAU, Europäische Solidaritäten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2008, S. 9 ff. 56 Ähnlich KOTZUR, JZ 2008, S. 265 (271). 57 Zum Folgenden WIMALASENA, Die Durchsetzung sozialer Menschenrechte, Kritische Justiz 2008 , S. 2 ff. 58 So KOTZUR, JZ 2008, S. 265 (268). 59 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist demgegenüber nur eine Resolution der UN-Generalversammlung. 60 Diese Feststellung zur Rechtsqualität der Menschenrechte nimmt zu dem philosophischen Streit ihrer Begründung nicht Stellung (vgl. dazu nur LOHMANN, in: GOSEPATH/LOHMANN (Hg.),
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(b) Wer soziale Rechte als Menschen- bzw. Grundrechte normiert, muss sich Gedanken darüber machen, wie die erforderlichen Finanzmittel beschafft und dazu unumgängliche Umverteilungsentscheidungen im politischen System verarbeitet werden sollen. Diese Fragen stellen sich im nationalen und im europäischen Verfassungsrecht ebenso. Der UN-Sozialpakt steht insofern nicht allein; auch hier kann von den Erfahrungen der anderen Rechtsordnungen gelernt werden: Die Europäische Grundrechtecharta, die in Kapitel IV unter der Bezeichnung „Solidarität“ entsprechende Rechte ausweist (Art. 27–38), verzichtet in der Ressourcenfrage auf eine zentrale Regelung und verweist statt dessen auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Das deutsche Grundgesetz anerkennt – wie oben dargestellt (unter II.2) – nur ein Recht auf das Existenzminimum, im Übrigen formuliert es die Frage nach einem Individualanspruch unter Bezugnahme auf das Sozialstaatsprinzip in eine Systemfrage um: Der Staat ist danach verpflichtet, entsprechende Sozialsysteme zu schaffen, bei deren Ausgestaltung er aber einen breiten Gestaltungsspielraum besitzt. Die Erfahrungen mit diesen Rechtsordnungen legen es nahe, den rechtlichen Gehalt des UN-Sozialpaktes im Einzelnen ähnlich nachhaltig und vorsichtig zu bestimmen. Eben das ist auch die Linie des CESCR, der in den einzelnen Garantien Achtungspflichten, Schutzpflichten und Erfüllungspflichten unterscheidet61 und bei den Erfüllungspflichten der ressourcenabhängigen Garantien sehr breite Ermessenspielräume der verpflichteten Staaten anerkennt. (c) Bestätigt wird durch den UN-Sozialpakt die oben skizzierte Rollenverteilung zwischen den Staaten auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes: Verpflichtet wird primär jeder Vertragsstaat, selbst die erforderlichen Maßnahmen unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten zu treffen. Angeknüpft wird damit an die klassischen Menschenrechtsgarantien, den die Hoheitsgewalt ausübenden Staat in die Pflicht zu nehmen. Anders als die Garantien der nationalen Verfassungen bringt der UN-Sozialpakt aber zusätzlich eine transnationale Komponente ins Spiel, wenn er hinzufügt, dass die Vertragsstaaten die entsprechenden Aufgaben „einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit“ zu leisten haben (Art. 2). Damit werden nach neuerer Auslegung auch „extraterritoriale Staatenverpflichtungen“ begründet, die Achtungs- und Schutzpflichten gegenüber den Akten der anderen Staaten umfassen.62 Die Schutzpflicht kann etwa zu einer Verantwortlichkeit des Sitzlandes eines transnationalen Unternehmens für seine Tochterunternehmen in den Entwicklungsländern führen.63 Rechtspflichten zu aktiver Hilfeleistung soll Art. 2 des UN-Sozialpaktes dagegen bis heute selbst nach progressiver Auslegung nicht begründen. Bei der Regelung des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard und des Schutzes vor Hunger in Art. 11 des Paktes wird die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit aber nochmals gesondert herausgestellt. In diesem Kernbereich elementarer Hilfsbedürftigkeitt dürfte sich der Gedanke der Solidarität Philosophie der Menschenrechte, 1998 , S. 62 ff.); sie betrifft vielmehr nurr die juristische Bedeutung g der im Pakt letztlich verbrieften Rechte. 61 Im folgenden ENGBRUCH, Das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard, 2008, S. 105 ff. 62 Vgl. General Comment 12 Abs. 36. 63 Vgl. General Comment 15 Abs. 31.
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künftig am ehesten juristisch zu einer Hilfspflicht anderer Staaten verdichten. Im Rahmen dieses Rechtsbildungsprozesses gewinnt das völkerrechtliche soft law, gewinnen die entsprechenden Deklarationen der UNO und ihrer Unterorganisationen Gewicht – nicht als Audsruck eines einzelne Staaten isoliert erfassenden Pflichtentatbestandes, sondern als Pflicht zu entsprechender internationaler Zusammenarbeit.64 Auch hier führt also ein erster Zugang zu individuell zurechenbaren Rechtspflichten über die Systemebene. Das Recht kann internationale Gerechtigkeit nicht aus sich heraus schaffen. Es kann aber Prinzipien und Verfahren ausbilden, die es ermöglichen, auf manifeste Ungerechtigkeiten zu reagieren und Lernprozesse für eine bessere Verteilung von Entwicklungschancen im internationalen Rechtsverkehr zu institutionalisieren. Ein Rechtskonzept für mehr internationale Gerechtigkeit wird – bei Anerkennung der auch künftig zentral wichtigen Rolle der Staaten – polyzentrisch und diskursiv angelegt sein müssen.
Bibliographie H. J. CREMER, Alles nur Rhetorik?, ZaöRV 2007, S. 267–296. R. CZARNECKI, Verteilungsgerechtigkeit im m Umweltvölkerrecht, Berlin 2008. G. DAHM / J. DELBRÜCK / R. WOLFRUM, Völkerrecht, Band I/1, Berlin 21989; Band I/3, Berlin 2 2002. U. DAVY, Soziale Gerechtigkeit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Bd. 68, S. 122–176. Denkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden eintreten“, Hannover 2007. Denkschrift des Rates der EKD „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“, Hannover 2008. H.-M. EMPELL, Der Internationale Strafgerichtshof und die Verfolgung der Bürger von Drittstaaten, Heidelberg 2006. K. ENGBRUCH, Das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard, Frankfurt a. M. 2008. K. FRAUENKRON, Das Solidaritätsprinzip im Umweltvölkerrecht, 2008. K. F. GÄRDITZ, Die Legitimation der Justiz zur Völkerrechtsfortbildung, in: Der Staat, Bd. 47, 2008, S. 381–409. W. GRAF VITZTHUM (Hg.), Völkerrecht, Berlin 22001. P. HILPOLD, Solidarität als Rechtsprinzip – völkerrechtliche, europarechtliche und staatsrechtliche Betrachtung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 55 (2007), S. 195–214. W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht, Gütersloh 1996. 64 Dazu mit zahlreichen Materialien DAVY, in: Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Band 6 8, S. 122, 168 ff.
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Eberhard Schmidt-Aßmann
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Kirchliche Aussagen zur internationalen Gerechtigkeit HANS DIEFENBACHER UND VOLKER TEICHERT „Wir leben nicht länger in geschlossenen Häusern; Fenster und Türen stehen offen, und der Wind weht herein. Entscheidungen, die irgendwo an einem Ende der Welt getroffen werden, beeinflussen nachhaltig das Leben am anderen Ende. Die Globalisierung der Märkte erfordert eine Globalisierung der Solidarität ebenso wie eine Globalisierung der Verantwortung.“1 Bischof Wolfgang Huber zum G8-Gipfel des Jahres 2008 in Tokayo/Japan
Inhalt I. Ein möglicher Grundkonsens II. Entwicklungen in der internationalen Ökumene III. Entwicklungen in deutschen Kirchen: Einzelthemen IV. Entwicklungen in Deutschland: Landeskirchliche Stellungnahmen V. Konferenz Europäischer Kirchen VI. Katholische Kirche VII. Ein vorläufiges Fazit Anhang: AGAPE-Aufruf des World Council of Churches
I. Ein möglicher Grundkonsens Der nachfolgende Text enthält eine erste, jedoch nicht vollständige Übersicht über kirchliche Äußerungen zum Thema „internationale Gerechtigkeit“. Die Zusammenstellung ist allein schon deswegen schwierig, weil beide Begriffe abgrenzungsbedürftig sind: – Was sind kirchliche Äußerungen?2 Die Spannweite reicht von Denkschriften und Verlautbarungen von Synoden oder Kirchenleitungen über Äußerungen einzelner 1
W. HUBER, Gipfeltreffen, in: chrismon, Heft 7, 2008, S. 10. Zur Abgrenzung kirchlicher Äußerungen vgl. H. DIEFENBACHER / V. KRECH / H. R. REUTER, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit – Stellungnahmen zum gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland [Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland, 124. Jg., Lieferung 2, 175–372], Gütersloh 2000, S. 181 ff. 2
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Personen mit kirchlichen Ämtern bis hin zu Texten kirchlicher Kreise oder Gruppen mit christlichem Hintergrund, nicht zu vergessen kirchliche Dienste und Werke insbesondere mit Aufgabe der Mission und der Entwicklungszusammenarbeit. Hierzu zählen insbesondere der Evangelische Entwicklungsdienst, Brot für die Welt und Misereor. Betrachtet werden können die evangelischen Landeskirchen und die katholischen Diözesen, die Evangelische Kirche Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz ebenso wie die Freikirchen, christliche Kirchen in anderen Ländern und die Äußerungen aus dem Bereich der internationalen Ökumene, etwa des World Council of Churches oder der Conference of European Churches. – Wie soll das Thema „internationale Gerechtigkeit“ abgegrenzt werden? Untauglich wäre das Kriterium, nur solche Äußerungen zu betrachten, in denen dieser Begriff explizit vorkommt. Solidarität, weltweite Ungerechtigkeit, Globalisierung, fairer Handel, Reduzierung von Armut, Klimawandel: Dies sind nur einige Zusammenhänge, die in kirchlichen Äußerungen so angesprochen werden, dass darin auch verschiedene Facetten internationaler Gerechtigkeit thematisiert werden können. Es ist daher sinnvoll, Äußerungen auch zu diesen Themen zu berücksichtigen, sofern sie eben die Problematik der internationalen Gerechtigkeit explizit oder implizit mit in den Blick nehmen. Analysiert man kirchliche Stellungnahmen – insbesondere aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit – in der geschilderten Perspektive, dann zeigt es sich, dass der Bezugspunkt der „internationalen Gerechtigkeit“ oft als gemeinsamer Nenner erscheint, als cantus firmus, über dem die genannten Themengebiete abgehandelt werden. In vielen Stellungnahmen wird als Proprium christlich motivierten Engagements ein bestimmtes Verständnis von Teilhabe und Gerechtigkeit für die Menschen überall auf der Erde – aber auch für zukünftige Generationen und für die Natur – herausgearbeitet. Dabei steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass Rahmenbedingungen, die von der Politik der globalen Ökonomie gesetzt werden und die die armen Länder von der Mitgestaltung weltwirtschaftlicher Prozesse ausschließen, im Widerspruch zu einer christlichen Auffassung von Teilhabe und Gerechtigkeit stehen. Aus dieser Grundhaltung folgt dreierlei: – Erstens wird daraus die Notwendigkeit begründet, in einen offenen Dialog vor allem mit jenen Menschen zu treten, die Opfer der weltweiten Ungerechtigkeit sind. In der bereits zitierten Stellungnahme schreibt Bischof Huber weiter: „Zu Recht wollen sich die Länder des Südens an der Diskussion darüber beteiligen, welche Herausforderungen und Konsequenzen die Globalisierung mit sich bringt. Es reicht nicht mehr, über sie zu reden; man muss mit ihnen sprechen.“3 Eine verantwortungsvolle, sachliche und möglichst gerechte Verteilung der Lasten ist dabei schon Jahrzehnte im Fokus sozialethischer Stellungnahmen.4
3
Ibid, S. 10. Vgl. u.a. F. KARRENBERG, Versuchung und Verantwortung in der Wirtschaft [Kirche im Volk, Heft 11], Stuttgart 1954. 4
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– Zweitens wird häufig eine so genannte „vorrangige Option für die Armen“ formuliert. Im Sozialwort der Kirchen wird diese Perspektive wie folgt beschrieben:5 „In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.“ – Drittens schließlich wird aus der genannten Grundhaltung die Verpflichtung begründet, offen Bekenntnis abzulegen, um ungerechten Strukturen zu widerstehen. Von einem Teil der Stellungnahmen vor allem aus den Bereich der internationalen Ökumene wird hier bewusst eine Parallele zu Dietrich Bonhoeffer gezogen: Aus dem April 1933 stammt Bonhoeffers Satz, dass die Kirche sich darauf vorzubereiten habe, dass sie nicht nur „die Opfer verbinden“, sondern „dem Rad selbst in die Speichen fallen“ müsse, da die Gefahr bestünde, dass der Rechtsstaat zu einem Unrechtsstaat werden könne. In diesem Fall wäre Widerstand angezeigt. Aus dem Jahr 1935 stammt Bonhoeffer Ausspruch: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“6 Von Teilen der internationalen Ökumene wurde und wird der „status confessionis“ auch gegenüber einem todbringenden Weltwirtschaftssystem gefordert.7
II. Entwicklungen in der internationalen Ökumene Die Kirchen waren wohl mit die ersten der großen internationalen Institutionen, die den Begriff der nachhaltigen Entwicklung zur Beschreibung ihrer Aufgaben verwendet und in ihre Programmatik aufgenommen haben.8 Auf der Weltkonferenz des Ökumenischen 5
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland / Deutsche Bischofskonferenz f (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1996., Kapitel 3.3.2. 6 Dieser Satz ist nicht als Angriff auf die katholische Kirche zu interpretieren – Bonhoeffer liebte die Gregorianik und wollte die Gesänge auch im evangelischen Gottesdienst verwenden. 7 Vgl. z. B.K. FÜSSEL / F. HINKELAMMERT / M. MUGGLIN / R. VIDALES, …in euren Häusern liegt das geraubte Gut der Armen – Ökonomisch-theologische Beiträge zur Verschuldungskrise, Fribourg / Brigg 1989. Zur deutschen Diskussion vgl. H. DIEFENBACHER, Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft – Anmerkungen und Anfragen, in: Plädoyer für eine ökumenische Zukunft (Hg.): Unsere Rolle in der Weltwirtschaft – eine Herausforderung für Bekennende Kirche in der Bundesrepublik Deutschland?, Wethen 1987, S. 54–69. 8 Vgl. dazu ausführlich Fachstelle Umwelt und Entwicklung Wittenberg (Hg.), Nachhaltigkeit als Aufgabe der Kirchen – Wittenberger Memorandum. Wittenberg: Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt, Abdruck in: epd-dokumentation 30/2002, S. 7–22.
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Rats der Kirchen (ÖRK)9 im Jahre 1974 in Budapestt zum Thema „Wissenschaft und Technologie für eine menschliche Entwicklung“ wurde das Studienprogramm „Justice, Participatory and Sustainable Society“ (JPSS) entworfen. Die 5. ÖRK-Weltversammlung in Nairobi verabschiedete 1975 „JPSS“ als „Arbeitsschwerpunkt der Weltkirchengemeinschaft für das darauf folgende Jahrzehnt“. Maßgeblichen Einfluss bei dieser Versammlung hatte eine bewegende Rede des australischen Biologen Charles Birch, die bis heute häufig zitiert wird.10 Aus dem Studienprogramm des ÖRK entwickelte sich der internationale „konziliare Prozess“ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, förmlich ins Leben gerufen bei der 6. Vollversammlung des ÖRK im Jahre 1983 in Vancouver.11 Diese frühe Schwerpunktsetzung der Kirchen aus Nord und Süd hat gerade auch den internationalen politischen Diskurs über Nachhaltigkeit in dessen Anfangsjahren stark mitgeprägt. Vor allem haben die Kirchen in den ersten Jahren dieser dann internationalen Debatte deutlich gemacht, dass – die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit als „harte Grenze“ aufzufassen ist, dass sich – in der Sprache der Ökonomie ausgedrückt – Naturvermögen nicht beliebig durch von Menschen erzeugtes Kapital ersetzen lässt;12 – der Begriff der Nachhaltigkeit als gesellschaftspolitisches Leitbild nur in der Verbindung zwischen ökologischen Rahmensetzungen und sozialer Gerechtigkeit tauglich ist; zu einem bestimmten, beliebigen Zeitpunkt kann dieses Leitbild als Sicherstellung einer Grundversorgung für alle Menschen und Teilhabe aller an den Gütern der Erde verstanden werden,13 jedoch,
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englisch: World Council of Churches (WCC), im weiteren Verlauf des Beitrags wird der ÖRK mit englischen Publikationen auch unter der englischen Bezeichnung genannt. 10 C. BIRCH, Creation, Technology, and Human Survival, in: Proceedings off the World Council of Churches Assembly, Nairobi, Kenya 1975, Geneva. 11 Justice, Peace, and Integrity of Creation (JPIC); Ende der Siebziger Jahre gab es eine längere Debatte um den Begriffswechsel von „JPSS“ zu „JPIC“, von Sustainable Society to Integrity of Creation, der schließlich bei der 6. Vollversammlung des WCC im Jahre 1983 in Vancouver vollzogen wurde: In den Jahren, in denen für die internationale Staatengemeinschaft erstellte Studiendokumente begannen, den Begriff der Nachhaltigkeit hoffähig zu machen, ersetzte ihn die internationale Ökumene wieder durch „Integrity of Creation“ – vorrangig aus ökologischen Gründen, da man befürchtete, dass das Ziel der dauerhaft umweltgerechten Entwicklung im Begriff der Nachhaltigkeit zu sehr verwässert werden könnte. 12 Diese ethisch-normative Bestimmung des Begriffs der Nachhaltigkeit erscheint – wie das Leitbild der „vorrangigen Option für die Armen“ – in den letzten Jahren auch als Konsens in vielen kirchlichen Denkschriften; vgl. z. B. Evangelische Kirche in Deutschland, Kammer für Entwicklung und Umwelt (Hg.), Ernährungssicherung und nachhaltige Entwicklung [EKD Texte Nr. 67], Hannover 2000. 13 Von großer Bedeutung waren hier die Schriften von H. DE LANGE / B. GOUDZWAARD, Genoeg van te veel, genoeg van te weinig, Kampen 1987, deutsch unter dem Titel: Weder Armut noch Überfluß. Plädoyer für eine neue Ökonomie, München 1990; vgl. auch H. DIEFENBACHER, Just, Participatory, and Sustainable – Some Starting Points for a Discussion, in: D. MATTIJSEN (ed.), Churches, Society, and Change. Policies and Strategies Towards a Just, Participatory and Sustainable Society. Rotterdam 1987. Ecumenical Research Exchange, S. 12–21. Zu Harry de Langes
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– drittens, nur unter Beachtung einer intertemporalen m Gerechtigkeit, die wiederum mit der Begriffsdefinition der Brundtland-Kommission gut beschrieben ist: Nachhaltigkeit wird hier als Entwicklung verstanden, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.14 Diese Definition schließt die Überzeugung mit ein, dass jede Generation frei ist, ihre Bedürfnisse für sich selbst zu definieren. Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung kann rückblickend als theologisch fundierte Aufforderung an die im ÖRK zusammengeschlossenen Kirchen verstanden werden, auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren, wobei diese Herausforderungen zugleich als Herausforderungen an das Handeln und an das Kirche-Sein der Kirchen zu verstehen sind.15 Die ökonomische Globalisierung als „politisch-ideologisches Projekt“ hat in den 1980er Jahren das Auseinanderdriften von Arm und Reich dramatisch beschleunigt, die Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen in armen und reichen Ländern haben sich zunehmend weiter auseinander entwickelt. Damit sind zunehmend Diskussionsprozesse gerade auch zwischen Partnerkirchen in Nord und Süd entstanden, wie man sich im jeweiligen Kontext mit der „Herrschaft einer lebensfeindlichen Ökonomie“ auseinandersetzen sollte. Es sei daran erinnert, dass in diesen Jahren die Krise der internationalen Verschuldung mit Strukturanpassungsprogrammen, die die Verelendung der armen Bevölkerungsschichten in den betroffenen Ländern beschleunigten, auf ihrem Höhepunkt war, dass erstmals in weltweiten Kampagnen bestimmte Ausbeutungspraktiken transnationaler Konzerne sichtbar wurden, und dass in der letzten Phase des „Kalten Krieges“ das Thema der globalen Ressourcensicherung bereits sehr breit diskutiert wurde, wenn auch mit dem Schwerpunkt der Frage der Sicherung des Zugangs zu ökonomisch wichtigen Rohstoffen. Martin Robra und Rogate Mshana stellten zu Recht fest,16 dass der Konziliare Prozess einen Höhepunkt des kirchlichen Interesses 1989 bei der Ersten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel erreichte, ab 1990 aber das (amts-)kirchliche Interesse an den damit verbundenen Fragen stark zurück ging. Schon bei der Weltkonvokation 1990 in Seoul war eine Hinwendung zu „kontextuellen Theologien“ erkennbar, wenngleich auch hier unmissverständlich die vorrangige Option für die Armen eingefordert wurde: „Wir bekräftigen, dass Gott auf der Seite der Armen steht“, heißt es in der Erklärung zum Konziliaren Prozess in Seoul.17 Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion konzentrierte sich das Interesse der Kirchen dann deutlich auf die Erweiterungsprozesse der Europäischen Union und die Veränderungen der Beitrag zur internationalen Ökumene vgl. G. WITTE-RANG, Geen recht de moed te verliezen – leven en werken van dr. H.M. de Lange, Utrecht 2008. 14 Übersetzt bei V. HAUFF (HG.), Unsere gemeinsame Zukunft – der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. 46. 15 M. ROBRA / R. MSHANA, AGAPE-Prozess und Dekade zur Überwindung der Gewalt – zur Tagesordnung g nach der ÖKR-Vollversammlung 2006 in Porto Alegre, Genf 2006. 16 Ibid., S. 3. 17 World Council of Churches (Hg.), Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Schlussdokument der Weltkonvokation zum konziliaren Prozess in Seoul, abgedruckt in: epddokumentation Nr. 16/1990.
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Kirchen in Mittel- und Osteuropa. Es dauerte hier gut zehn Jahre, bis kritische Analysen der Ausdehnung neoliberaler Marktkonzepte in ehemals staatssozialistisch organisierte Länder auch von den dortigen Kirchen so rezipiert wurden, dass eine Anschlussfähigkeit zu Diskussionen des konziliaren Prozesses gegeben war. Große Bedeutung hatten hier die Konsultationen des „Work and Economy Network in the European Churches“18 und schließlich einer Konferenzserie des ÖRK in Osteuropa19. Die 7. Vollversammlung des ÖRK, die 1991 in Canberra stattfand, hat den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf Ebene des Weltkirchenrates in ein permanentes Arbeitsprogramm transformiert, für das aufgrund einer Finanzkrise des ÖRK jedoch nur wenig Mittel zur Verfügung standen. Die Kritik an der ökonomischen Globalisierung verschärfte sich in der Vorbereitung auf die 8. Weltkonferenz 1998 in Harare, was an den Hintergrunddokumenten zu dieser Konferenz erkennbar wird.20 Der Neoliberalismus wurde hier als „leitende Ideologie“ der ökonomischen Globalisierung überwiegend pauschal abgelehnt; im Dokument der Vollversammlung selbst wurde in einer generellen Gesellschaftskritik das Zusammenspiel verschiedener Formen von Macht – sozial, politisch, militärisch, kulturell und religiös – mit der neoliberalen Ideologie hervorgehoben. Aus den Empfehlungen der ÖRK-Vollversammlung von Harare entstand der so genannte „AGAPE-Prozess“21, in dem man sich in den nachfolgenden Jahren auf die Fragen der ökonomischen Globalisierung konzentrierte, jedoch weitgehend unverbunden mit der ebenfalls in Harare ausgerufenen Dekade zur Überwindung von Gewalt oder mit Programmen zum interreligiösen Dialog. Doch auch so war der AGAPE-Prozess schon spannungsreich genug: Konflikte gab es vor allem zwischen den Kirchen in Europa und den Kirchen in Ländern des Südens, die die ökonomische Globalisierung sehr unterschiedlich analysierten und demzufolge auch zu stark abweichenden Ergebnissen und Handlungsvorschlägen kamen.22 Grob vereinfacht: Auf der einen Seite findet man die Ansicht, dass Globalisierung verantwortlich gestaltet werden muss, wobei Konkretionen mit erkennbaren Folgen für das eigene Handeln nicht immer geäußert wurden, während auf der anderen Seite die Kritik an der globalen Ungerechtigkeit in prophetischen Äußerungen und im Aufruf zur Überwindung der Mächte des Bösen mündeten. Der Konflikt ist bis heute bei weitem nicht überwunden, obwohl in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts zahlreiche Versuche unternommen wurden, Plattformen für eine Fortsetzung des ökumenischen Dialogs zu 18
Vgl. z. B. Work and Economy Network in the European Churches (Hg.), Humanising the Market Economy in Europe – Alternatives to Neoliberalism, Manchester 1995. 19 Vgl. als Abschlussdokument World Council off Churches (Hg.), Dient Gott, nicht dem Mammon! Botschaft der Gemeinsamen Konsultation über die Globalisierung in Mittel- und Osteuropa – Reaktionen auf die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. 28. Juni 2001, Budapest 2001. 20 Vgl. R. DICKINSON (Hg.), Economic Globalization – Deepening Challenge for Christians, Geneva 1998. 21 AGAPE = Alternative Globalization Addressing People and Earth – A Call to Love and Action. 22 Diese Darstellung ist eine im Grunde unzulässige Vereinfachung, da weder die Kirchen Europas noch die Kirchen in Ländern des Südens einheitliche Meinungen vertreten – Meinungsverschiedenheiten, die sich vielfach auch innerhalb einzelner Kirchen fortsetzen.
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Fragen internationaler Gerechtigkeit zu schaffen. Einige Beispiele müssen an dieser Stelle genügen: – Einen eigenen Beratungsprozess zu Fragen wirtschaftlicher Globalisierung hat die 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Debrecen (Ungarn) im Jahre 1997 eingeleitet. Sie hatte die Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes „auf allen Ebenen zu einem verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung” aufgefordert. Nach intensiver Diskussion haben die Delegierten der 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra am 11 August 2004 dann eine Erklärung in Gestalt einer Glaubensverpflichtung (faith commitment) verabschiedet, die sich entschieden gegen die wirtschaftliche Globalisierung ausspricht. Neoliberale Globalisierung wird als Ideologie bezeichnet, die von sich behaupte, es gäbe zu ihr keine Alternative; sie verlange den Armen und der Schöpfung unendliche Opfer ab und verspreche fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie trete mit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherrschen zu wollen und verlange absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkomme.23 – Am 30. Juli 2003 hat die 10. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Winnipeg (Kanada) in einem mit großer Mehrheit angenommenen Entschluss eine Ökonomie gefordert, „die dem Leben dient“.24 Der Text des Aufrufs geht auf ein vorbereitendes Papier des Rates des LWB aus dem Jahre 2002 zurück; darin werden die Mitglieder des LWB unter anderem aufgefordert, „Fragen zu stellen und Widerstand zu leisten, wenn – Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft von dem, was sie zum Leben benötigen, ausgeschlossen oder wie wertlose Gegenstände behandelt werden, – das Leben mehr nach seinem Geldwert gemessen oder als Ware angesehen wird, als dass sein eigentlicher Wert und seine Vielfalt gewürdigt werden; – staatliche Unternehmen unter Bedingungen privatisiert werden, so dass lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen weniger zugänglich oder erschwinglich für alle werden; – wirtschaftliche Globalisierung die Tendenz zeigt, andere Werte beiseite zu schieben, und eine immer tiefer werdende geistliche Leere zurücklässt.“ – Von besonderer Bedeutung für die europäischen Kirchen war jedoch eine ökumenische Konsultation zur „Wirtschaft im Dienst des Lebens“, die vom 15. bis 19. Juni 2002 in Soesterberg (Niederlande) stattfand. Bei dieser Konsultation nahmen sich die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), des Lutherischen 23
Reformierter Weltbund (Hg.), Covenanting for Justice in the Economy and the Earth, Accra 2004, deutsch unter dem Titel Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit. Im Internet unter www.bb-evangelisch.de/extern/frz_reform_potsdam/Mitteilungen-Texte%20Links% 20Buecher%20Erklaerung%20Reformierter%20Weltbund.htm (22.02.2009). 24 Lutherischer Weltbund (Hg.), Aufruf zur Beteiligung an der Verwandlung der wirtschaftlichen Globalisierung, Winnipeg. Im Internet unter http://www.lutheranworld.org/ What_We_Do/ Dts/Call-Globalization_DE.pdf (22.02.2009).
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Weltbundes (LWB) und des Reformierten Weltbundes (RWB) gemeinsam vor, die durch die ökonomische Globalisierung gestellten Herausforderungen in ihren Auswirkungen auf das Leben von Menschen und Mitwelt zu beraten. Ein Ergebnis dieser Beratungen war der so genannte „Soesterberg-Brief“ an die Kirchen in Westeuropa, in dem diese gebeten werden zu analysieren, wie ökonomische Globalisierung und die Rolle, die das Geld dabei spielt, die Gesellschaften Westeuropas betrifft. Die westeuropäischen Kirchen werden ferner aufgefordert, Antworten auf Fragen, die zuvor von Kirchen in Zentral- und Osteuropa und im Süden gestellt wurden, zu entwickeln und mitzuteilen. Unter anderen werden in diesem Brief die folgenden Fragen gestellt:25 – Was bedeutet die Einheit der Kirchen als der eine Leib Christi, was bedeuten Taufe, Abendmahl und Amt im Kontext der ökonomischen Globalisierung? Wie sprechen in diesem Zusammenhang im Lauf des Kirchenjahres Bibellesungen und Liturgien zu uns? – Warum machen unsere Kirchen die Armut zum Thema, zögern jedoch, sich mit Reichtum und Wohlstand auseinanderzusetzen? – Wie gehen unsere Kirchen mit ihrem eigenen Geld um, mit ihren Pensionskassen, Investitionen und Immobilienbesitz? Sind Banken, mit denen unsere Kirchen verbunden sind, verwickelt in Steuerflucht, in ethisch nicht verantwortbare Investitionen, spekulative Praktiken sowie andere Aktivitäten, die die Fähigkeit von Staaten untergraben, für das Gemeinwohl zu sorgen? – Ist unsere Beobachtung korrekt, dass in vielen europäischen Ländern der Staat sich mehr und mehr dem Konzept des freien Marktes unterworfen hat, indem er seine historische Rolle als Wächter des Gemeinwohls und Verteidiger der Schwachen reduziert hat? – Insoweit wir als Kirchen mit unseren Sozial- und Gesundheitsdiensten in vom Wettbewerb bestimmten Märkten eingebunden n sind, realisieren wir unsere Fähigkeit, die Marktbedingungen im Interesse des öffentlichen Wohles wie im Interesse unserer Kirchen zu gestalten? Wie antworten wir auf die fortschreitende Privatisierung öffentlicher und sozialer Güter und Dienstleistungen, die für das Leben wesentlich sind wie Wasser, Gesundheitsdienste, Bildung etc.? – Welche Form des Konsums und welchen Lebensstil praktizieren und fördern wir? Wie können wir als Kirchen und individuelle Kirchenglieder das Bewusstsein für den Klimawandel verstärken und für Umweltschutz arbeiten, indem wir, z. B. sorgfältiger mit dem Energieverbrauch umgehen in unseren Kirchen, in Wohnhäusern, im Transport etc.? – Wie engagieren wir uns in der öffentlichen Debatte zur Wirtschaftspolitik und mit Institutionen, die neoliberale ökonomische Praktiken fördern und umsetzen? Wie bilden wir Bündnisse mit sozialen Bewegungen, die Regierungen aufrufen, für das Gemeinwohl und für die Wiederherstellung gerechter und nachhaltiger politischer und sozialer Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Aktivitäten zu sorgen?“
25
Im vollständigen Wortlaut im Internet unterr www.kairoseuropa.de/fix/Soesterberg-Brief.doc.
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Im Brief wurden die Kirchen weiter aufgerufen, r entschieden gegen eine „neoliberale Wirtschaftslehre und -praxis aufzutreten“, denn wachsende weltweite Ungerechtigkeit, Ausschluss und Zerstörung, die die Idee des Neoliberalismus geprägte wirtschaftliche Globalisierung hervorrufe, seien „unvereinbar (…) mit der Vision der oikumene, der Einheit der Kirche und der ganzen bewohnten Erde.“26 Hier stehe „die Qualität kirchlicher Gemeinschaft, die Zukunft des Gemeinwohls der Gesellschaft sowie die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses der Kirchen und ihrer Verkündigung Gottes, der mit den Armen und für die Armen da ist“, auf dem Spiel.27 Viele Äußerungen zu Fragen der Globalisierung und der internationalen Gerechtigkeit gerade der deutschen evangelischen Kirchen in den letzten fünf Jahren verstehen sich als Antwort auf diesen Soesterberg-Brief.28 – Wie bereits angesprochen, konnten die zum Teil tief greifenden Meinungsunterschiede in den letzten Jahren nicht beseitigt werden. Dies ist im Grunde auch bei der 9. Vollversammlung des ÖRK im Jahre 2006 in Porto Alegre (Brasilien) nicht erreicht worden, bei der sich die Konflikte zwischen den Kirchen und kirchlichen Gruppen aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen der Entwicklung der Globalisierung eher noch verschärften. Konflikte brachen vor allem auch am Stichwort des „Imperiums“ auf, das in die Diskussion zur Rolle der USA und ihrer Alliierten in Europa und Asien eingeführt wurde und das auch in Punkt 8 des bereits erwähnten „AGAPE-Aufrufs“ von Porto Alegre Eingang gefunden hat.29 Die aufbrechenden Konflikte blieben mehr oder weniger unbearbeitet, was der internationalen Rezeption des Aufrufs den Blick weitgehend darauf verstellt hat, dass dessen Punkte 1 bis 7 einen sehr beachtlichen Konsens zu einem internationalen Politikprogramm enthalten.
III. Entwicklungen in deutschen Kirchen: Themen zur internationalen Gerechtigkeit Die Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Welthandel und internationaler Gerechtigkeit wurden und werden kirchenweit traditionell in erster Linie von den gesamtkirchlichen Einrichtungen wie etwa „Brot für die Welt“ oder dem Evangelischen Entwicklungsdienst (eed) in speziellen Kampagnen aufgenommen. In jüngster Zeit konzentrieren sich beide Organisationen auf die Themenbereiche Ernährungssicherheit, HIV/Aids, Wasser, Klimawandel und fairen Handel. Zuvor widmeten sich Brot für die Welt und eed dem Thema der Globalisierung von Menschenrechten.
III.1 Globalisierung von Menschenrechten Zum Thema Menschenrechte wurde von Brot für die Welt eine Studie von sieben Fallbeispielen mit dem Titel „Für eine Globalisierung von wirtschaftlichen und sozialen 26 27 28 29
Ibid., S. 2. Ibid. Vgl. unten Abschnitt 4. Der Aufruf ist in voller Länge als Anhang zu diesem Text wiedergegeben.
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Menschenrechten durch die Stärkung extraterritorialer Staatenpflichten“ vorgelegt.30 Darin werden Beispiele aus Ecuador, Paraguay, Mexiko, Israel, Tschad/Kamerun, Brasilien und Indien vorgestellt, in die deutsche Unternehmen und Banken, aber auch die Weltbank involviert sind. „Exporte, Investitionen sowie Entwicklungsprojekte tragen immer das Risiko, sich negativ auf die Menschenrechte auszuwirken. (…) Die Verwirklichung der Menschenrechte in einer globalisierten Welt verlangt ein erweitertes Verständnis von menschenrechtlichen Staatenpflichten. Die Anerkennung von extraterritorialen Staatenpflichten ist ein notwendiger Schritt, um heute die Menschenrechte weltweit zu garantieren.“31
III.2 Klimawandel und Ernährungssicherung Neben der Globalisierung der Menschenrechte werden – wie oben angesprochen – auch die Themen Ernährungssicherheit und Klimawandel behandelt. „Brot für die Welt“ und eed sind durch ihre Arbeit vor Ort täglich mit den Nöten der ärmsten Bevölkerungsgruppen konfrontiert. Das Engagement für einen weltweiten Klimaschutz ist wichtig, damit Armut reduziert und mehr Gerechtigkeit möglich wird. Von den weltweit 854 Millionen Hungernden leben 80 Prozent auf dem Land. Die Mehrzahl davon sind Kleinbauern, Viehzüchter, Fischer und indigene Gruppen. Deren Existenz wird durch den Klimawandel zusätzlich beeinträchtigt: – – – –
Trockenheit und Überschwemmungen führen zu Ernteausfällen und Hungersnöten. In Afrika verschwinden Grasflächen an den Rändern der Wüste. Wasser wird immer knapper durch die Bewässerung für Agrarexportprodukte. Die Ernteerträge für Reis, einem der wichtigsten Grundnahrungsmittel, werden bei weniger Wasser und steigenden Temperaturen geringer.
Brot für die Welt stellt in seinen Publikationen überzeugend dar, dass der Klimawandel kein unabwendbares Schicksal ist; er ist Folge eines Mangels an Verantwortung, an Gerechtigkeit gegenüber den betroffenen Menschen in Entwicklungsländern, gegenüber nachfolgenden Generationen und gegenüber der Schöpfung. Die verantwortlichen Länder, Unternehmen und Konsumenten müssten für die Klimaschäden in den besonders betroffenen Entwicklungsländern aufkommen. Auch Deutschland gehöre zu den Hauptverursachern.
III.3 Fairer Handel Der Faire Handel wird von den internationalen Dachorganisationen definiert als „(…) eine Handelspartnerschaft, die auf Dialog, Transparenz und Respekt beruht und nach mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel strebt. Durch bessere Handelsbedingun30 Die Studie kann unter www.brot-fuer-die-welt.de/downloads/Extraterritoriale_Staatenpflichten.pdf herunter geladen werden. 31 Brot für die Welt / Food International Action Network / Evangelischer Entwicklungsdienst (Hg.), Für eine Globalisierung von wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten durch die Stärkung extraterritorialer Staatenpflichten. Sieben Fallstudien über die Auswirkungen deutscher Politik auf Menschenrechte in den Ländern des Südens, Stuttgart / Heidelberg / Bonn 2005, S. 4.
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gen und die Sicherung sozialer Rechte für benachteiligte Produzent/innen und Arbeiter/innen – insbesondere in den Ländern des Südens – leistet der Faire Handel einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Faire Handels-Organisationen engagieren sich – gemeinsam mit Verbraucher/innen – für die Unterstützung der Produzent/innen, die Bewusstseinsbildung sowie die Kampagnenarbeit zur Veränderung der Regeln und der Praxis des konventionellen Welthandels.“32 Bei der konkreten Ausgestaltung dieser Definition gibt es je nach Organisation leichte Unterschiede, insbesondere hinsichtlich der Festlegung des „fairen“ Preisaufschlags und seiner Verwendung. Seit über dreißig Jahren fördert „Brot für die Welt“ den Fairen Handel in Deutschland. Mit der Gründung der Siegelorganisation TransFair e.V. im Jahr 1992 haben sich die Gewichte zwischen den Zielen der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit und der Expansion des Handels zu Gunsten des ökonomischen Aspekts verschoben. TransFair handelt als Siegelorganisation nicht selbst mit Waren, sondern vergibt sein Siegel für fair gehandelte Produkte auf der Basis von Lizenzverträgen. Zu den Initiatoren und Gründungsmitgliedern von TransFair zählen unter anderem Brot für die Welt, der Evangelische Entwicklungsdienst, das Bischöfliche Hilfswerk Misereor und das Kolpingwerk Deutschland.
III.4 Weltweite Armut Brot für die Welt, der eed, die Evangelischen Akademien in Deutschland und das Bischöfliche Hilfswerk Misereor unterstützen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft im Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) die Aktion „Deine Stimme gegen Armut“, die die deutsche Plattform des internationalen „Global Call to Action Against Poverty“ (GCAP) darstellt. Hierbei handelt es sich um eine internationale Kampagne, die sich in 112 Ländern für ein Ende der Armut engagiert. Grundlage für die Aktion ist das so genannte Millenniumsentwicklungsziel zur Beseitigung von extremer Armut. Dieses erste und zentrale Ziel sieht vor, ausgehend vom Stand des Jahres 1990, den Anteil der Menschen an der Weltbevölkerung, deren Einkommen weniger als ein Dollar pro Tag beträgt und die daher in extremer Armut leben, bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Im Jahre 2005 hat Bischof Huber anlässlich des Aktionstages „Deine Stimme gegen Armut“ die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur Jahrtausendwende verabschiedete Millenniumserklärung begrüßt und unterstützt. Er berief sich in seiner Stellungnahme auf das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, dessen Bekenntnis zur „vorrangigen Option für die Armen“ bereits im ersten Abschnitt zitiert wurde.33 2005 erschien – als EKD-Text – eine Veröffentlichung der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung unter dem Titel „Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung.
32
Definition der internationalen Vereinigung der Dachorganisationen des Fairen Handels FINE, zitiert nach www.forum-fairer-handel.de (16.7.2008). 33 Siehe Fußnote 4.
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Die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen“.34 Dort wurde das Thema der Armut erneut aufgegriffen. Armut ist danach nicht nur durch fehlendes oder geringes Einkommen gekennzeichnet. Armut bedeutet auch, keine oder nur geringe Chancen zu haben, am sozialen, politischen und kulturellen Leben teilzuhaben, ausgeschlossen zu sein und nicht anerkannt zu werden. Frauen sind hiervon doppelt betroffen. Sie sind der Armut besonders ausgesetzt und leiden noch zusätzlich unter Diskriminierung. Die Chancen, dem durch eine bessere Bildung zu entkommen, sind in vielen Ländern gering. Mädchen leiden in besonderem Maße an Defiziten der schulischen Grundbildung. „Armutsbekämpfung, Bildungsförderung und Überwindung von Diskriminierung müssen folglich mit der Ausweitung der wirtschaftlichen und sozialen Gestaltungskompetenz des Staates einhergehen. Diese Kompetenz steht heute in den Industrieländern selbst zur Debatte. Zunehmend werden öffentlich-private Partnerschaften angestrebt, um solche öffentlichen Aufgaben zu bewältigen, die die Gestaltungskompetenz des Staates unter den gegebenen Umständen überfordern. Sollen öffentlich-private Partnerschaften funktionieren, bedarf es einer starken Zivilgesellschaft. Gerade diese fehlt in den bedürftigsten Entwicklungsländern.“35 Auch im Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich wird die Solidarität mit den Armen betont: „Ausgehend von der Weltzuwendung Gottes wissen sich die Kirchen in besonderer Weise an die Seite der Armen und Ausgestoßenen gestellt.“36 In ähnliche Richtung argumentiert eine ökumenische Stellungnahme der Kirchen der Schweiz, in der ein „Weltallgemeinwohl“ durch eine „Globalisierung der Werte“, vor allem des Wertes der Solidarität, eingefordert wird.37
III.5 Globalisierung Zur Globalisierung und den damit verbundenen Auswirkungen haben sich sowohl die EKD als auch die Landeskirchen in vielfältiger Form geäußert. Alle Positionen stimmen seit vielen Jahren darin überein, dass die Finanzmärkte nach ethischen und gerechten Kriterien reguliert werden müssten und Handelsschranken für Importe aus den armen Ländern abgebaut werden sollten. Protektionismus im Agrarhandel wird verurteilt; der Norden dürfe nicht durch subventionierte Billigexporte die Märkte für Nahrungsmittelproduzenten im Süden ruinieren. Außerdem müsse eine Debatte über alternative Formen der Ressourcennutzung, über Lebens- und Konsumstile und über die regionale Ausdifferenzierung der Weltwirtschaft durch die Stärkung lokaler und regionaler Wirtschaftskreisläufe beginnen. „Der Ruf danach, den Prozess der Globalisierung am Maßstab weltweiter Gerechtigkeit zu messen, darf nicht ungehört verhallen.“38
34
Evangelische Kirche in Deutschland, Kirchenamt (Hg.), Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen, Hannover 2005. 35 Ibid., S. 15. 36 Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hg.): Sozialwort. Wien 2003, S. 15. 37 Vgl. J. C. HUOT / J. KOSCH ET AL., Die Kirchen und die UNO, Bern 2001. Institut für Sozialethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes / Justitia et Pax, S. 9 ff. 38 Ibid., S. 5.
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IV. Entwicklungen in Deutschland – landeskirchliche Stellungnahmen Verschiedene Landeskirchen sind dem Aufruf von ÖRK, LWB und RWB aus dem Jahre 2002 gefolgt und haben eine eigene Stellungnahme zum oben beschriebenen Soesterberg-Brief erarbeitet, so etwa – unter anderen – die Evangelische Kirche von Westfalen39, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern40, die EvangelischLutherische Landeskirche Mecklenburgs41 und die Evangelische Kirche im Rheinland42. Die Fachgruppe „Konziliarer Prozess“ der Evangelischen Kirche in Baden hat eine Arbeitshilfe „Wirtschaft im Dienst des Lebens – Kirchen im Einsatz für eine Globalisierung der Gerechtigkeit“43 erstellt, in der verschiedene Dokumente, aber auch Artikel zum Thema abgedruckt wurden. Die Evangelische Kirche von Westfalen sieht es in ihrer Position zum SoesterbergBrief als Aufgabe von Kirche an, sich in eine vermeintlich „reine Fachdiskussion“ einzumischen. „Insbesondere wo die politisch Verantwortlichen betonen, dass die Globalisierung der Märkte keine Alternativen lassen, müssen die Kirchen auf Grundlage ihres Bekenntnisses zu Gott, der Recht und Gerechtigkeit schafft und sich in besonderer Weise den Armen und Schwachen zuwendet, kritisch Einspruch erheben. Wenn im Bereich wirtschaftlichen Handelns stets auf Sachzwänge verwiesen wird, besteht offenkundig die Gefahr einer Verabsolutierung bestimmter ökonomischer Strategien, die nicht mehr hinterfragt werden sollen. Demgegenüber müssen die Kirchen ihre Gesichtspunkte für soziales, wirtschaftliches und umweltgerechtes Handeln in zeitgemäßer Neuformulierung ins Gespräch bringen.“44 Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat in ihrer Stellungnahme die einzelnen Fragen, die im Soesterberg-Brief aufgeworfen werden, mit Hilfe der Kategorien Sehen, Urteilen und Handeln zu beantworten versucht. „Die sichtbaren Folgen der Globalisierung sind vor allem Ergebnis des zunehmend liberalisierten wirtschaftlichen Handelns. Diesem System einer globalisierten Wirtschaft fehlt gegenwärtig eine deutliche politische Einbindung. Dies verlangt nach einer neuen moralischen Grundlegung, die über den vagen Vorstellungen einer sozialen Gerechtigkeit als Herstellung von Gleichheit und der Kompensation von Ungleichheit hinausgeht. Diese neue moralische 39 Vgl. Evangelische Kirche von Westfalen, Landeskirchenamt (Hg.), Globalisierung. Wirtschaft im Dienst des Lebens. Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Soesterberg-Brief, Bielefeld 2005 40 Vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (Hg.), Stellungnahme zum SoesterbergBrief „Wirtschaft im Dienstt des Lebens“, München 2005. 41 Vgl. Erklärung der Synode der Evangelisch-Lutherischen t Landeskirche Mecklenburgs (Hg.), … damit die Globalisierung dem Leben dient. Plau am See 2007. 42 Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.), Wirtschaften für das Leben. Stellungnahme zur wirtschaftlichen Globalisierung und ihren Herausforderungen für die Kirchen, o.O. [Düsseldorf 2008]. 43 Vgl. Evangelischen Landeskirche in Baden, Abteilung Mission und Ökumene im Oberkirchenrat (Hg.), Arbeitshilfe „Wirtschaft im Dienst des Lebens – Kirchen im Einsatz für eine Globalisierung der Gerechtigkeit.“, Karlsruhe 2005. 44 Evangelische Kirche von Westfalen, Landeskirchenamt (Hg.), Globalisierung. Wirtschaft im Dienst des Lebens. Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum SoesterbergBrief, Bielefeld 2005, S. 19.
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Grundlegung verlangt einen Paradigmenwechsel, eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialethischen Grundkategorien der Freiheit, Gerechtigkeit und der politischen Solidarität. Diese ethischen Grundentscheidungen bestimmen das Verhältnis von Wirtschaft, Mensch und Gesellschaft.“45 In ihrer Erklärung fragt die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs nach den Auswirkungen der Globalisierung für das wirtschaftliche und soziale Leben in Mecklenburg, in Deutschland und in der Einen Welt. Im Einzelnen fordert die Synode unter anderem mehr Handlungsmöglichkeiten in der globalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, eine Stabilisierung der Finanzmärkte, eine Steigerung der a sowie eine Entwicklungshilfeleistungen und Förderung von Gemeindepartnerschaften Lösung der Schuldenkrise der Länder des Südens. Die Erklärung bezieht sich in weiten Teilen auf die Botschaft der 10. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) und wendet sich sowohl an politische Entscheidungsträger als auch an Kirchengemeinden und Christen in der Landeskirche. „Die wirtschaftliche Globalisierung führt bei zahllosen Menschen zu einem tiefen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Anstelle des verheißenen Wohlstands bringen viele Aspekte der wirtschaftlichen Globalisierung Millionen Menschen weiterhin Leid, Elend und Tod. Trotz der Steigerung der Nahrungsmittelproduktion leiden aufgrund der ungleichen Verteilung von Reichtum und Gütern über eine Milliarde Menschen Hunger.“46 Darüber hinaus ist in der mecklenburgischen Landeskirche geplant, als Mitgliedskirche des LWB eine gemeinsame Initiative für die 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 2010 vorzubereiten, mit der der konziliare Prozess weitergeführt werden soll. Von der Evangelischen Kirche im Rheinland wurde für die Landessynode 2008 eine Stellungnahme erarbeitet. Darin wurden Beispiele aus den einzelnen Kirchenkreisen zusammengestellt, die als best-practice-Beispiele verstanden werden können. Mit dieser Veröffentlichung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass „zur Veränderung und zur Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse“47 im Rahmen der Globalisierung auch entsprechend gehandelt werden muss. „Da es der Auftrag der Kirche ist, für die Lebensdienlichkeit aller Lebensbereiche einzutreten, muss sie ihre Aufgabe darin sehen, auch den Bereich der Wirtschaft gestaltend zu beeinflussen. (…) Wir wollen daran mitwirken, die Globalisierung so zu gestalten, dass das Wirtschaften dem Leben dient. Dies erfordert Handeln nach innen und nach außen. (…) Wir wollen uns dabei kritisch fragen, welche Konsequenzen und Einschränkungen wir selbst als Kirche und als Einzelne zu tragen bereit sind, um unseren Zielsetzungen näher zu kommen.“48 Für eine Gestaltung der Globalisierung, die die negativen Folgen mildert, wirbt auch das bereits erwähnte Papier „Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung“ der Kammer 45 Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (Hg.): Stellungnahme zum Soesterberg-Brief „Wirtschaft im Dienst des Lebens“. München 2005, S. 3f. 46 Vgl. Botschaft der 10. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, IX. Abschnitt, Winnipeg 2003, S. 20. 47 Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.), Wirtschaften für das Leben. Stellungnahme zur wirtschaftlichen Globalisierung und ihren Herausforderungen für die Kirchen, o.O. [Düsseldorf 2008]. S. 38. 48 Ibid., S. 38.
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für nachhaltige Entwicklung. Es fordert die Erhöhung der Haushaltsmittel für die Entwicklungszusammenarbeit, neue Finanzierungsinstrumente, den Schuldenerlass für alle 38 von der Verschuldung besonders betroffenen armen Länder und den Abbau handelsverzerrender Subventionen.
V. Konferenz Europäischer Kirchen Im Jahr 2005 hat die Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen ein Positionspapier unter dem Titel „Europäische Kirchen leben ihren Glauben im Kontext der Globalisierung“ vorgelegt. Die dort vertretenen Positionen können wie folgt zusammengefasst werden: (1) Die Globalisierung bedürfe einer ethischen Orientierung. Die Verantwortung der Kirchen bestehe darin, die Erneuerung eines globalen Wertesystems zu fordern und sich dafür zu engagieren. (2) Bei der Globalisierung seien auch die sozialen Kosten zu berücksichtigen. Der allgemeine Standard des Gemeinwohls in Europa erfordere, dass die Kirchen sich auch mit Wohlstand und Konsumdenken befassen. (3) Es bestehe eine Verpflichtung zu nachhaltiger Entwicklung. (4) Darüber hinaus seien die Auswirkungen der Globalisierung auch für andere Regionen ernst zu nehmen. „Auch wenn es Elemente gibt, die dazu führen könnten, die wirtschaftliche Globalisierung abzulehnen, so zeigt die europäische Erfahrung aber doch, dass weder die völlige Ablehnung noch eine unkritische Billigung ganz angemessen sind.“49
VI. Katholische Kirche Auf katholischer Seite dient das Bischofswort vom September 2000 zum „Gerechten Frieden“ auch als Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Thema Globalisierung und Gerechtigkeit. „Wederr die Gesellschaft noch der Staat noch internationale Institutionen dürfen sich der Pflicht entziehen, für Gerechtigkeit zu sorgen.“50 Deshalb votieren die Bischöfe für eine internationale Rechtsordnung, wobei sie sich auf Aussagen von Papst Benedikt XV. beziehen, der bereits 1917 dafür plädierte, die Gewalt der Waffen durch die Macht des Rechts zu ersetzen. Freilich muss da, wo das Recht endet, praktisch geübte Solidarität zum Tragen kommen. „Gerade deshalb reicht sie [die Solidarität] weiter und tiefer. Sie erst verleiht einer Gemeinschaft humane Qualität.“51 Die Chancen und Risiken, die die Globalisierung mit sich bringt, bewerten die Bischöfe zunächst sehr nüchtern. Insgesamt würden sich durch Investitionen, Kapitaltransfer, Produktion und Handel Wohlstandsgewinne ergeben. Die Verteilungswirkungen der 49 Konferenz Europäischer Kirchen, Kommission n Kirche und Gesellschaft (Hg.), Europäische Kirchen leben ihren Glauben im Kontext der Globalisierung, Brüssel 2005, S. 29. 50 Deutsche Bischofskonferenz, Sekretariat (Hg.), Gerechter Friede, Bonn 2000, S. 39. 51 Ibid, S. 40.
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Globalisierung seien jedoch bis heute wenig ermutigend. „Auch wenn sich die ökonomischen Daten eines Landes infolge der Teilnahme am internationalen Marktgeschehen positiv verändern, bedeutet dies noch längst nicht, dass auch die ärmeren Bevölkerungsschichten davon profitieren. Der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft kann vielmehr (noch weiter) beschädigt werden“52 – nämlich dann, wenn die Diskrepanz zwischen arm und reich immer größer wird, wenn also größere Bevölkerungsgruppen ohne Hoffnung und verzweifelt sind: In diesem Fall kann aus dem Gerechtigkeitsproblem schnell ein Friedensproblem werden. Ein weiteres Papier, das vom Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken veröffentlicht wurde, beschäftigt sich primär mit den Rahmenbedingungen der internationalen Finanzmärkte: „Wie können Regeln aussehen, die verhindern, dass immer wieder die ärmsten Menschen in den ärmsten Ländern der Welt Hauptleidtragende von Finanzmarktkrisen sind? Wie können Regeln durchgesetzt werden, die die Effizienz freier Kapitalströme nutzbar machen und Gerechtigkeit weltweit fördern?“53 Nach ihrer Analyse kommen die Autoren zu acht Vorschlägen für einen anderen Ordnungsrahmen der internationalen Finanzmärkte, der von einer sukzessiven Finanzmarktintegration über die Bekämpfung von Steuerparadiesen und die mögliche Einführung einer Tobin-Steuer bis hin zur Finanzaufsicht und zu einem verbesserten Kreditzugang für Arme reicht. Von diesen Maßnahmen erhofft sich das Zentralkomitee eine höhere Mitverantwortung von international agierenden (Finanz-)Unternehmen, um das Solidaritätsprinzip durchsetzen zu können. „Wer für Beteiligungsgerechtigkeit eintritt, muss den Mut haben, nach der Lebensdienlichkeit von Regeln und Mechanismen internationaler Märkte zu fragen.“54 In einer bereits vor knapp zehn Jahren vorgelegten Studie der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ und der kirchlichen Werke Adveniat, Caritas international, Misereor, missio Aachen, missio München und Renovabis behandeln die Autoren die „vielen Gesichter der Globalisierung“. Auch in dieser Schrift wird die These vertreten, dass internationale Gerechtigkeit nur dann realisiert werden kann, wenn eine möglichst breite zivilgesellschaftliche Unterstützung gegeben ist. Es sei wichtig, „Allianzen der Solidarität jenseits überkommener weltanschaulicher und politischer Grenzen zu bilden, auch wenn dabei manche Berührungsängste zu überwinden sind“55. Ebenso wie „Brot für die Welt“ und der Evangelische Entwicklungsdienst versucht Misereor die Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Welthandel und internationaler Gerechtigkeit in gezielten Kampagnen abzubilden. In Kampagnen des Jahres 2008 behandelte Misereor die Themen Kinderarbeit in der Teppichindustrie, Verstoß von Frauenrechten bei der Herstellung von Spielzeug in China, Schuldenerlass für die ärmsten Länder des Südens, Kinderprostitution und Verbot von Patenten auf Pflanzen und Tiere. 52
Ibid, S. 52. Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Generalsekretariatt (Hg.), Internationale Finanzmärkte – Gerechtigkeit braucht Regeln, Bonn 2003., S. 3. 54 Ibid, S. 23. 55 Deutsche Bischofskonferenz, Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben (Hg.): Die vielen Gesichter der Globalisierung. Perspektiven einer menschengerechten Weltordnung. Bonn 1999, S. 68. 53
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VII Ein vorläufiges Fazit Die Übersicht über die vielfältigen Stellungnahmen und Veröffentlichungen hat deutlich gemacht, dass von den internationalen Kirchenbünden wie auch von Kirchen und ihren Entwicklungsorganisationen in Deutschland das Thema der internationalen Gerechtigkeit häufig angesprochen wird. Jedoch wird das Thema nicht eigenständig, sondern stets bezogen auf einzelne wichtige Aspekte behandelt. Die Erörterung der internationalen Gerechtigkeit findet sich also in anderen Themen wieder, die in den einzelnen Stellungnahmen und Veröffentlichungen zunächst im Vordergrund stehen. Es ist aber durchaus möglich, in diesen Dokumenten Elemente eines gemeinsamen Nenners kirchlicher Äußerungen zur Frage der internationalen Gerechtigkeit zu finden, darunter die folgenden: – Eine „vorrangige Option für die Armen“ wird als das gemeinsame Fundament kirchlichen Handelns gesehen. – In aller Regel wird ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Handeln und Lebensstilen in Industrieländern und den Ländern des Südens hergestellt: – Forderungen nach internationaler Gerechtigkeit führen damit zur Infragestellung des wirtschaftlichen Handels in den reichen Ländern des Nordens. Die Kritik wird allerdings in sehr unterschiedlicher Weise vorgetragen. In ihrer radikalsten Variante findet sie ihren Ausdruck in einer grundsätzlichen Ablehnung der globalisierten Marktwirtschaft, Moderatere Varianten reklamieren einen Auftrag zur Gestaltung der Globalisierung – Internationale Gerechtigkeit hat mit dem Konsumverhalten, Produzieren und dem Finanzgebaren zu tun.
Anhang AGAPE-Aufruf des World Council of Churches; endgültige Fassung des Exekutiv-Ausschusses des ÖRK vom September 2005 (Auszug) Der AGAPE-Aufruf lädt uns ein, gemeinsam für die Umgestaltung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit einzutreten und uns auch weiterhin in Reflexion und Analyse mit den Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisierung und dem Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut auseinanderzusetzen. 1. Beseitigung der Armut Wir verpflichten uns erneut, durch die Entwicklung solidarischer Volkswirtschaften und überlebensfähiger Gemeinschaften für die Beseitigung von Armut und Ungerechtigkeit zu arbeiten. Wir werden von unseren Regierungen und den internationalen Institutionen verlangen, dass sie über die Umsetzung ihrer Verpflichtungen zur Armutsbeseitigung und zur Nachhaltigkeit Rechenschaft ablegen. 2. Handel Wir verpflichten uns erneut, uns durch kritisches Hinterfragen von Freihandel und einschlägigen Verhandlungen für gerechte internationale Handelsbeziehungen zu engagie-
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ren und in enger Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen für faire, gerechte und demokratische Handelsabkommen einzutreten. 3. Finanzen Wir verpflichten uns erneut, die Kampagne für den bedingungslosen Schuldenerlass sowie für die Kontrolle und Regulierung der globalen Finanzmärkte fortzusetzen. Investitionen sollten nur noch in Unternehmen getätigt werden, die soziale und ökologische Gerechtigkeit hochhalten, bzw. in Banken oder Institutionen, die weder an Spekulation beteiligt sind noch zur Steuerflucht ermutigen. 4. Nachhaltige Nutzung von Land und natürlichen Ressourcen Wir verpflichten uns erneut, uns an Aktionen zugunsten von nachhaltigen und gerechten Methoden der Nutzung und des Abbaus von Ressourcen zu beteiligen, in Solidarität mit indigenen Völkern, die versuchen, ihr Land, ihr Wasser und ihre Gemeinschaften zu schützen. Wir verpflichten uns erneut, den Konsumwahn in Wohlstandsgesellschaften zu hinterfragen, damit letztere sich zunehmend für Selbstbeschränkung und einen einfachen Lebensstil entscheiden. 5. Öffentliche Güter und Dienste Wir verpflichten uns erneut, uns dem weltweiten Kampf gegen die Zwangsprivatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen anzuschließen und aktiv für das Recht jedes Landes und jedes Volkes einzutreten, ihr Gemeingut selbst zu bestimmen und zu verwalten. 6. Leben spendende Landwirtschaft Wir verpflichten uns erneut, uns in Solidarität mit Kleinbauern und landlosen Bauern für Landreformen einzusetzen und mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln für die Selbstbestimmung in der Nahrungsmittelversorgung einzutreten. Wir verpflichten uns auch, die Erzeugung von genetisch veränderten Organismen (GVO) und die Liberalisierung des Handels als Pauschallösung abzulehnen. Wir verpflichten uns ferner, ökologische Anbaupraktiken zu fördern und uns solidarisch auf die Seite von Bauerngemeinschaften zu stellen. 7. Menschenwürdige Arbeitsplätze, selbstbestimmte Arbeit und ein angemessener Lebensunterhalt Wir verpflichten uns, mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, die sich für menschenwürdige Arbeit und gerechte Löhne einsetzen, Bündnisse zu schließen. Wir verpflichten uns, als Fürsprecher aller Arbeiter und Arbeiterinnen sowie aller in Schuldknechtschaft arbeitenden Menschen aufzutreten, die ausgebeutet werden und denen das Recht verweigert wird, sich gewerkschaftlich zu organisieren. 8. Kirchen und die Macht des Imperiums Wir verpflichten uns erneut, uns aus biblischer und theologischer Sicht über die Frage von Macht und Imperium Gedanken zu machen und aus unserem Glauben heraus gegen hegemoniale Mächte standhaft Stellung zu beziehen. Jede Macht ist Gott gegenüber rechenschaftspflichtig.
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Wir sind uns bewusst, dass der Prozess der Umgestaltung von uns als Kirchen verlangt, dass wir den Opfern der neoliberalen Globalisierung gegenüber Rechenschaft ablegen. Ihre Stimmen und Erfahrungen sind ausschlaggebend dafür, wie wir dieses Projekt im Einklang mit dem Evangelium prüfen und beurteilen. Das bedeutet, dass wir als Kirchen aus verschiedenen Regionen einander Rechenschaft ablegen und dass sich diejenigen unter uns, die den Machtzentren näher sind, in erster Linie ihren Brüdern und Schwestern verpflichtet fühlen, die täglich unter den negativen Auswirkungen der weltweiten wirtschaftlichen Ungerechtigkeit leiden. Mit diesem Aufruf zur Liebe und zum Handeln beten wir für die Kraft, ungerechte wirtschaftliche Strukturen zu verwandeln. Davon soll unser Denken und Handeln während der nächsten Etappe unserer ökumenischen Reise geleitet werden. Dabei helfen uns die Erkenntnisse, Vorschläge und Empfehlungen an die Kirchen, die aus dem AGAPEProzess hervorgegangen sind und im AGAPE-Hintergrunddokument beschrieben wurden.
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Globalisierung und internationale Gerechtigkeit VOLKER TEICHERT
Inhalt I. II. III.
Einführende Bemerkungen Was ist Globalisierung? Resümee: Globalisierung und internationale Gerechtigkeit
I. Einführende Bemerkungen „Hier in Berlin prangt auf einigen Stadtbussen die Werbung: ‚Incredible India – nur sieben Stunden entfernt‘. In Wahrheit liegt Indien natürlich viel näher, denn die sieben Stunden sind ja nur die Flugzeit für Reisende. In Wahrheit ist uns Indien längst so nah wie die meisten anderen Länder: bloß einen Mausklick entfernt, eine Tastenfolge auf dem Telefon, eine E-Mail von Kontinent zu Kontinent. Im 21. Jahrhundert sind fast alle Nationen füreinander Nachbarn geworden. Sie werden verbunden durch rasch wachsende Ströme von Menschen, Wissen, Bildern, Waren und Geld. Wir alle erfahren und erleben täglich, wie sich weltweit die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebensbereiche immer tiefer berühren und durchdringen. Dafür hat sich das Wort Globalisierung eingebürgert. Doch was genau die Ursachen und die Folgen der Globalisierung sind und wie sie zu bewerten ist, darüber gehen bei uns die Ansichten weit auseinander.“1 Wie die Rede des Bundespräsidenten deutlich macht, ist das Thema Globalisierung aktueller denn je. Doch an der Globalisierung scheiden sich auch die Geister. Für die einen ist sie die Wurzel allen Übels. Sie befürchten die Verarmung breiter Schichten in den Industrie- und Entwicklungsländern, die Erosion des Sozialstaats, die Opferung von Umweltqualität und ökologischen Ressourcen auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit und des Profits, die weltweite Dominanz weniger Großkonzerne und demokratisch nicht legitimierter internationaler Organisationen und somit letztlich die Unterordnung demokratischer Entscheidungsspielräume unter die Zwänge des Kapitalismus. Auf der anderen Seite stehen die Globalisierungsoptimisten, von ihren Kritikern häufig als Neoliberale bezeichnet, die an die Funktionsfähigkeit der Märkte und die Vorteile des internationalen Wettbewerbs – insbesondere für die Konsumenten – glauben. Diese sollen in 1 Auszug aus der Berliner Rede „Das Streben der Menschen nach Glück verändert die Welt“ des Bundespräsidenten Horst Köhler am 1. Oktober 2007 in Berlin, S. 1. Im Internet unter http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Berliner-Reden-,12183/Berliner-Rede2007.htm.
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den „glitzernden Konsumtempeln“ unter den billigsten Produkten auswählen können. Die Neoliberalen sehen die Globalisierung der Märkte nicht als eine Gefahr und Bedrohung, sondern umgekehrt als eine notwendige Bedingung – wenn nicht sogar als eine Garantie – für stetiges Wirtschaftswachstum m und künftige Prosperität. Nur der globale Markt kann das Wachstum schaffen, das für unseren Wohlstand vonnöten ist. Es gibt wenige Wirtschaftsthemen, die in der Öffentlichkeit so emotional diskutiert werden wie die Globalisierung der Weltwirtschaft. Jeder hat eine Meinung dazu, es gibt „Befürworter“ und „Gegner“, doch das notwendige Grundlagenwissen über internationale Wirtschaftsbeziehungen ist häufig sehr mager. Die verbreitete Unwissenheit über globale Wirtschaftsprozesse trägt dazu bei, dass Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung breiten Raum greifen können. Die zunehmende Internationalisierung der Weltwirtschaft hat ein verändertes Wirtschaften der Unternehmen sowie der privaten Haushalte zur Folge, sie verändert berufliche Qualifikationsprofile und führt zu veränderten Denkund Wahrnehmungsmustern. Gerade die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise dürfte das Vertrauen der Bürger in die Prozesse der Globalisierung nicht unbedingt gestärkt haben. Zumal sie für die meisten von ihnen undurchschaubar und unverständlich erscheinen. Über die internationale Verflechtung der Banken und Sparkassen untereinander haben sich die wenigsten ein Bild machen können; daher besteht bei einer Vielzahl der Bürger ein ausschließliches Interesse an der Sicherung ihrer Spareinlagen und Ersparnisse. „ ‚Sicherheit‘ ist ein unterschätztes Bedürfnis und Prinzip. Ihm fehlt das Herzerhebende und Idealistische, anders als für Freiheit oder Gerechtigkeit werden der Sicherheit keine Hymnen gesungen und für sie keine Fahnen geschwenkt. Der Mensch auf der Suche nach Schutz, für sein Sparkonto oder vor dem Raubüberfall in der nächtlichen Fußgängerzone. (…) Aber die Faszination der Sicherheit hat in den letzten Jahren im Westen dramatisch zugenommen.“2 Das Desaster der Finanzinstitutionen und der Weltwirtschaft ist die erste große Krise der Globalisierung, von der alle Industriestaaten gleichermaßen, aber auch China, Indien und Russland betroffen sind. Die eigentlichen Verlierer sind die Entwicklungsländer. Sie werden künftig noch weniger Entwicklungshilfe zu erwarten haben, und ihre Verschuldung wird noch weiter anwachsen (vgl. hierzu den Beitrag von Hans Diefenbacher in diesem Band). In der jetzigen Krise denken die Industrieländer zuerst an sich selbst. Immer mehr Geld wird vom Staat in die Wirtschaft „gepumpt“. So hat der neu berufene USFinanzminister, Timothy Geithner, Mitte Februar 2009 die gigantische Summe von fast zwei Billionen US-Dollar genannt, die zur Rettung und Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft aufgewandt werden sollen. Man kann sich vorstellen, dass dieses Geld für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung steht. Globalisierung erlebt gerade ein „Rollback“, indem das lange Jahre gepriesene freie Spiel der Kräfte durch eine immer mehr staatlich verantwortete Wirtschaft abgelöst wird. Aber nicht nur für die Entwicklungsländer hat diese Krise erhebliche Folgen, sondern auch in den Industriestaaten sind alle Hoffnungen, die Neuverschuldung in den kommenden Jahren auf Null zu senken, erst einmal in weite Ferne gerückt. Wie hoch 2
J. ROSS, Von wegen Gerechtigkeit, in: Die Zeit vom 16. Oktober 2008, S. 4f.
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die Belastung für die Staatshaushalte ausfallen wird, wird sich im Übrigen erst noch in den kommenden Jahren erweisen. Der erhoffte „Trickle-down“-Effekt könnte sich auf eigenwillige Weise vollziehen, nämlich dann, wenn der Misserfolg unaufhaltsam nach unten durchsickert und schließlich uns alle trifft. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass der Klimaschutz, der ja zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunft zählt, durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise in seiner Dringlichkeit hintangestellt werden wird. Denn: Im Gegensatz zu früheren Finanzund Wirtschaftskrisen geht es zunächst darum, die Verhältnisse in den Industrieländern zu stabilisieren. Angestrebt werden also ausschließlich nationale Lösungen, wobei die Krise doch aufgrund der Globalisierung eigentlich ein internationales Problem darstellt. Die verschiedenen „Rettungs- und Konjunkturpakete“, die in jüngster Zeit weltweit verabschiedet wurden, deuten jedenfalls darauf hin, dass sie in erster Linie zur Beruhigung und Sicherheit der eigenen Bevölkerung eingesetzt werden. Eigentlich kann zurzeit niemand erkennen, ob und inwieweit diese „Rettungspakete“ wirklich dazu dienen, das wirtschaftliche Wachstum zu fördern. Eher ist zu vermuten, dass als Folge der globalen Verflechtungen noch weitere dramatische Entwicklungen auf die nationalen und internationalen Volkswirtschaften zukommen werden. Erwähnt sei an dieser Stelle nur die noch nicht näher bezifferbare „Kreditkartenblase“. Zuvor waren bereits die gewaltigen Summen erwähnt worden, die von den USA zur Abfederung ihrer Finanz- und Wirtschaftskrise und zur Belebung ihrer Konjunktur aufgebracht werden. Aber nicht nur die USA „pumpen“ Geld in den Finanzmarkt, sondern in den meisten (Industrie-)Staaten werden zurzeit vom Staat Gelder „frei“ gemacht. Insgesamt stellen die Regierungen in Europa bisher fast 2,5 Billionen Euro zur Verfügung; 2 Billionen Euro, um die Finanzkrise zu überwinden und nochmals 500 Milliarden Euro zur Stärkung der Nachfrage. Dazu kommen noch 2 Billionen US-Dollar in den USA und 400 Milliarden Euro in China. Zwar wird das Geld – hoffentlich – nicht vollständig ausgegeben werden müssen, doch allein die grundsätzliche Bereitschaft der Regierungen, es im Notfall tun zu wollen, und die Schnelligkeit, mit der die Entscheidungen getroffen und verabschiedet wurden, ist erstaunlich, zumal in anderen Fällen wie etwa der Bekämpfung von Armut und Hunger Gelder nur sehr zögerlich oder gar nicht von der Weltgemeinschaft zur Verfügung gestellt wurden. Laut „Welthungerindex“3 werden im kommenden Jahr 970 Millionen Menschen von Hunger und Unterernährung betroffen sein – rund 70 Millionen mehr als in diesem Jahr. Und das trotz des Millennium-Ziels der Vereinten Nationen, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Dafür wären jährlich zusätzliche Mittel in Höhe von zehn Milliarden Euro notwendig – ein Bruchteil des Geldes, das für die Unterstützung des Bankensystems und der nationalen Wirtschaften bereitgestellt wird.
3 Vgl. Deutsche Welthungerhilfe / International Food Policy Research Institute / Concern Worldwide (Hg.), Welthungerindex: Herausforderung Hunger 2008, Bonn 2007.
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II. Was ist Globalisierung? Eine gerechtere, globale Wirtschaft scheint vor diesem Hintergrund immer unrealistischer zu werden. Was aber versteht die Fachwelt überhaupt unter dem Begriff Globalisierung? Für ihn gibt es keine einheitlich anerkannte Definition. Nach Ulrich Beck ist Globalisierung „sicher das am meisten gebrauchte – missbrauchte – und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre“.4 Üblicherweise wird unter Globalisierung die Zunahme der Verflechtung internationaler Märkte für Güter, Dienstleistungen, Arbeitskraft und Kapital verstanden. Hinzu kommt in aller Regel die globale Verfügbarkeit von Informationen über das Internet.5 Im Kern meint Globalisierung also die Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung. Diese ermöglicht es den einzelnen Ländern, ihre jeweiligen Stärken und Schwächen auszuspielen und dadurch so genannte Wohlfahrtsgewinne zu erzielen. Unter Wohlfahrt wird der Versorgungsgrad einer Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen verstanden. Ursachen der Globalisierung liegen zum einen in der Entwicklung moderner Informationsund Kommunikationstechnologien. Durch das Internet stehen Informationen und Wissen weltweit zur Verfügung. So steht Wissen über Produktionsmethoden, Managementtechniken, Exportmärkte und Wirtschaftspolitiken zu sehr niedrigen Kosten zur Verfügung und stellt eine sehr wertvolle Ressource für die Entwicklungsländer dar. Zum anderen liegen die Ursachen der Globalisierung in der enormen Zunahme des weltweiten Handels, da die Kosten für Transport rapide gesunken sind und Waren schneller transportiert werden können. Globalisierung ist allerdings kein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts. Grenzüberschreitenden Handel hat es schon seit Jahrtausenden gegeben. Waren es damals hauptsächlich Gewürze, Stoffe und Metalle, so ist das Spektrum heute kaum mehr überschaubar.
II.1 Zur Geschichte der Globalisierung Erste Anfänge von Globalisierung gehen bis ins 15. Jahrhundert zurück, als Kolumbus seine Entdeckungsreisen nach Amerika unternahm. Diese Phase wird vielfach als präglobale Epoche beschrieben, weil in dieser Zeit neue und weiträumige Märkte erschlossen wurden und damit erste Anzeichen einer Globalisierung zu erkennen sind. Danach folgte der Aufbau eines asiatischen Handelsnetzes, die Verknüpfung Europas, Afrikas und Amerikas zum atlantischen Regionalsystem und die Entdeckung Australiens. Die Erschließung des Erdballs kann als erster wichtiger Schritt einer Protoglo-
4 U. BECK, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf die Globalisierung, Frankfurt/M. 1997, S. 11. 5 „Globalisierung: Bezeichnung für die zunehmende Entstehung weltweiter Märkte für Waren, Kapital und Dienstleistungen sowie die damit verbundene r internationale Verflechtung der Volkswirtschaften. Der Globalisierungsprozess der Märkte wird vor allem durch neue Technologien im Kommunikations-, Informations- und Transportwesen sowie neu entwickelte Organisationsformen der betrieblichen Produktionsprozesse vorangetrieben“ (Brockhaus, Das Lexikon der Wirtschaft. Grundlegendes Wissen von A bis Z, Bonn 2004, S. 224).
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balisierung6 angesehen werden. Andere Autoren7 bezeichnen diese Phase als „archaische Globalisierung“8. Eine erste Globalisierungsphase, die die ersten Anfänge des Welthandels begründet, wird von Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ eindrücklich beschrieben: „Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schifffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung. (…) Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. (…) An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“9 Verantwortlich für die gewaltige Dynamik und Ausweitung der Globalisierung waren in erster Linie folgende Faktoren: – Massenproduktion von Industriegütern, Entstehung des Fabriksystems, Transport durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt und Ausbau der Kommunikation durch Telegraph, Telefon und Funk; – Existenz von Großbritannien als einer Hegemonialmacht; – Einführung internationaler Rechts-, Währungs- und Technologiestandards. Zwischen 1914 und 1945 kam es durch die Weltkriege zu einer gravierenden Beeinträchtigung der transnationalen Geschäftsbeziehungen und zu einem Niedergang des Welthandels. In der Literatur wird diese Zeit als Phase der Deglobalisierung bezeichnet.10 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre beschleunigte diesen Prozess; einzelne Staaten griffen vermehrt zu protektionistischen Maßnahmen (wie etwa der Verdoppelung der durchschnittlichen Importzölle, durch Importbeschränkungen oder inländische Preissubventionen) und äußerten große Zweifel am kapitalistischen Modell. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es dann eine neue Phase der Globalisierung: der Welthandel ging weiter zurück, Großbritannien verlor an Bedeutung und die USA stiegen zur wirtschaftlichen Großmacht auf. 6
Vgl. P. E. FÄßLER, Globalisierung. Ein historisches Kompendium. Köln / Weimar / Wien 2007, S. 60ff. 7 Vgl. CHR. A. BAYLY, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt/M. / New York 2008, S. 59ff. 8 „Ich verwende den Begriff ‚archaische Globalisierung’, um die älteren Netzwerke und Herrschaftsformen zu beschreiben, die durch die Ausbreitung von Vorstellungen und sozialen Kräften von der lokalen und regionalen auf die überregionale und interkontinentale Ebene entstanden sind.“ (Ibid, S. 59). 9 K. MARX / F. ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, in: Marx, Karl, Eine Auswahl aus seinem Werk, Gütersloh 1970, S. 213ff. 10 K. BORCHARDT, Globalisierung in historischer Perspektive, München 2001, S. 20f.
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Die zweite Globalisierungsphase, die mit dem Kriegsende begann und bis zum Niedergang der sozialistischen Staaten des Ostblocks andauerte, unterscheidet sich, was die Interaktionsmuster und die antreibenden Kräfte f angeht, nur unwesentlich von der ersten Globalisierungsphase. Beide Male erwiesen sich wirtschaftliche Interessen als entscheidend für den Globalisierungsprozess: Allein zwischen 1950 und 1990 hat sich der Welthandel fast um das Dreizehnfache erhöht. Des Weiteren übte auch in der zweiten Globalisierungsphase eine Hegemonialmacht den ordnenden Einfluss auf die Weltwirtschaft aus, nur waren an die Stelle von Großbritannien die USA getreten. Ferner wurden dieselben Transport- und Kommunikationsstrukturen genutzt, nur waren sie im 20. Jahrhundert noch effizienter geworden. Unterschiede bestanden allerdings darin, dass in dieser zweiten Phase wichtige Weltorganisationen wie die Vereinten Nationen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds das Akteursspektrum ergänzten. Für die dritte Globalisierungsphase seit 1990 macht Fäßler11 den Abbau von drei Interaktionsbarrieren verantwortlich, nämlich 1. Die Erosion der politisch-ideologischen Interaktionsbarrieren Sozialismus / Kapitalismus beruht auf dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten und der Öffnung dieser Staaten für die Globalisierungskräfte. Ebenso haben sich die weiterhin als sozialistisch verstehenden Staaten, wie die Volksrepubliken China und Vietnam, der Globalisierung geöffnet. 2. Vor allem der Washington Consensus hat zu einem Ausbau der Weltfinanzmärkte geführt, indem er die Öffnung heimischer Märkte für ausländische Investoren, die Privatisierung und den Abbau von Handelsschranken vorsah. Stiglitz12 kritisiert die Umsetzung des Washington Consensus. „Wenn man einem Papagei den Spruch ‚fiskalische Austerität, Privatisierung und Marktöffnung‘ beigebracht hätte, dann hätte man in den achtziger und neunziger Jahren auf den Rat des IWF verzichten können. (…) Bei näherer Betrachtungzeigte sich, dass Liberalisierung und Marktöffnung mit ernüchternden Problemen verbunden sind. Der IWF verfolgte blind diese Ziele, oft auf Kosten von Ländern, die schlecht für diese Maßnahmen gewappnet waren.“ Weiter schreibt er, der Washington Consensus beruhe auf Idealisierungen wie etwa dem vollständigen Wettbewerb und vollständigen Informationen – „die insbesondere für die Entwicklungsländer weit von der Wirklichkeit entfernt und daher kaum relevant“13 seien. 3. Die Erosion der Informations- und Kommunikationsbarrieren trägt dazu bei, dass heutzutage ein globaler Informationsaustausch jederzeit und an jedem Ort möglich ist. Diese Veränderung hat aber auch den globalen Geld- und Kapitalmarkt – wie sich gerade in erschreckender Form zeigt – revolutioniert. Erstmals kann Buchgeld nahezu unbegrenzt und zu geringen Kosten verschoben werden. Eine weitere vierte Globalisierungsphase könnte als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 angebrochen sein. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Globa11 12 13
P. E. FÄßLER, (2007), a.a.O., S. 155f. J. STIGLITZ, Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002, S. 71. J. STIGLITZ, Die Chancen der Globalisierung, Berlin 2006, S. 51.
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lisierung ist nachhaltig beeinträchtigt. Umfragen in Deutschland und den USA haben bereits 2007 eine wachsende Skepsis gegenüber der Globalisierung bei den Befragten gezeigt: Nach einer Umfrage des stern sagten im Mai 2007 40 Prozent der deutschen Bevölkerung – unter ihnen vor allem die Jüngeren –, dass die internationale Verflechtung der Volkswirtschaften und Märkte ihnen mehr Vor- als Nachteile bringen würde. Mehr als jeder dritte Bürger (34 Prozent) fürchtete, dass die Nachteile überwiegen. Die Zahl der Skeptiker hat sich deutlich erhöht: Im Januar 2000 sahen bei einer identischen stern-Umfrage nur 19 Prozent der Bürger Nachteile in der Globalisierung. Inzwischen sagen zwei von drei Bürgern (67 Prozent), Globalisierung bedeute in erster Linie, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen größer wird. Zwar freuen sich weiter viele über ein umfangreicheres Warenangebot (53 Prozent) und neue Berufs-Aussichten (46 Prozent), doch gleichzeitig hat die Angst zugenommen, dass durch die Globalisierung verstärkt Ausländer ins Land kommen (45 Prozent, sieben Jahre zuvor waren es 33 Prozent) oder Arbeitsplätze abgebaut werden (39 Prozent, sieben Jahre zuvor waren es 28 Prozent).14 Aber auch in den Vereinigten Staaten ist die Stimmungslage eher skeptisch: Bei einer repräsentativen Umfrage des Wall Street Journal stimmten 2007 nur noch 28 Prozent der Befragten (gegenüber 42 Prozent zehn Jahre zuvor) der These zu, die Globalisierung sei gut für die amerikanische Wirtschaft, weil sie neue Märkte für US-Produkte eröffne. Dagegen waren 58 Prozent (1997: 48 Prozent) der Auffassung, die Integration der US-Wirtschaft in die Globalisierungsprozesse sei schlecht, weil dies die einheimischen Unternehmen einem unfairen Wettbewerb und Billiglöhnen aussetze.15 Im Vordergrund steht die Sicherung der eigenen Wirtschaft und der eigenen Arbeitsplätze, aber auch in Folge der internationalen Finanzkrise die Sicherung der Staatsfinanzen. Dabei wird bewusst übersehen, die internationale Arbeits- und Finanzwelt ist so stark verflochten, dass eine nationale Regulierung nur bedingt zum Erfolg führen dürfte. Dessen ungeachtet könnte es sein, dass wieder eine Phase der Deglobalisierung ansteht, in der sich die Industriestaaten gegen die aufstrebenden Länder des Südens „abzuschotten“ versuchen, indem sie (vor allem bei Produkten) zu Handelsbarrieren und protektionistischen Maßnahmen greifen. Erste Anzeichen hierfür gab es bereits im amerikanischen Wahlkampf um das Präsidentenamt. „Stattdessen versprechen die Anwärter auf das Präsidentenamt, sie könnten die Arbeitsplätze ihrer Wähler durch Handelsbarrieren gegen die Konkurrenz aus Niedriglohnländern schützen. (…) Barack Obama brachte denselben Ansatz auf die noch simplere Formel, ‚die Leute wollen keine billigen T-Shirts, wenn der Preis dafür der Verlust ihres Arbeitsplatzes ist‘.“16 Nach seiner Wahl hat der neu gewählte US-Präsident Obama seine Ankündigung bereits in die Tat umgesetzt, indem er in seinem Konjunkturprogramm die Klausel eingebaut hat, dass für staatlich geförderte Infrastruktur-Projekte nur Stahl und Eisen aus US-Produktion eingesetzt werden darf. 14
Vgl. Gespaltene Ansicht über Globalisierung, in: Stern vom 30. Mai 2007. Vgl. G. HITT, Americans’ Anti-Global Turn may stir Race for President, in: Wall Street Journal, 20. December 2007, S. A13. Im Internet unter http://online.wsj.com/article/ SB119811393380041147.html, Stand: 16. Februar 2009. 16 H. SCHUMANN / CHR. GREFE, Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – die Zukunft der Globalisierung, Köln 2008, S. 153. 15
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II.2 Versuch einer Systematisierung von Globalisierung Im Folgenden wird versucht, die grundsätzlichen Einstellungen zur Globalisierung zu typologisieren, um die gegenwärtige Diskussion einordnen zu können, denn die Vertreter der verschiedenen, nachfolgend dargestellten Varianten tun sich ziemlich schwer damit, überhaupt untereinander in ein fruchtbares Gespräch zu kommen: 1. Die entschiedensten Befürworter der wirtschaftlichen Globalisierung glauben nicht nur an die „Funktionsfähigkeit der Märkte und die Vorteile des internationalen Wettbewerbs“, sie sind darüber hinaus der Ansicht, dass sich diese Vorteile auf der Grundlage der Axiome der neoklassischen Wirtschaftstheorie quasi naturgesetzlich beweisen lassen. Jede etwaige Befreiung der Märkte von politisch immer willkürlich gesetzten Rahmenbedingungen führe zwar zu Anpassungskosten, nach einer Übergangszeit aber zu einem neuen Marktgleichgewicht, das die Bedürfnisse aller Marktteilnehmer optimal reflektiere und daher „per se“ gerecht sei.17 2. Das „breite Mittelfeld“ an Positionen geht von der Prämisse der Unumkehrbarkeit bestimmter Globalisierungsprozesse aus und fordert deswegen deren verantwortliche Gestaltung. a) Es beginnt mit so genannten konkretionistischen Ansätzen, die sich in aller Regel in Katalogen von Reformvorschlägen bestimmter nationaler oder internationaler Rahmenbedingungen erschöpfen, ohne dass theoretisch abgesicherte Gesamtzusammenhänge formuliert werden; Ansätze dieser Art begleiten jede der internationalen Großkonferenzen im System der Vereinten Nationen. b) Eine weitere Position dieser Art besteht im Versuch, das Gestaltungsmodell einer Wirtschaftsordnung zu internationalisieren. So vertritt Friedhelm Hengsbach das Konzept einer „demokratischen Aneignung des Kapitalismus“18; in der Evangelischen Kirche von Westfalen wird an der Leitidee einer Übertragung der Prinzipien einer sozialökologischen Marktwirtschaft auf die internationale Ebene gearbeitet.19 c) Ein dritter Ansatz in dieser Kategorie geht davon aus, dass bestimmte Bereiche so wenig wie möglich globalisiert werden sollten. Auch in den Wirtschaftswissenschaften wird nicht wahrgenommen, dass sich John Maynard Keynes mehrfach dezidiert in diese Richtung geäußert hat, etwa in seinem Essay „National SelfSufficiency“20: „Ich sympathisiere daher mit jenen, die die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Nationen eher minimieren anstelle maximieren wollen. Ideen, 17
Vertreter dieser Richtung sind unter anderem M. FRIEDMAN, Capitalism and Freedom, Chicago 1962; F. A. HAYEK, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 31991, S. 114ff.; DERS., The Mirage of Social Justice, London 1975. 18 Vgl. u.a. F. HENGSBACH, Gerechtigkeit und Solidarität im Schatten der Globalisierung: Handlungsoptionen reifer Volkswirtschaften, Bonn 2007; DERS., Kapitalismus als Religion?, Frankfurt am Main 2007. 19 Vgl. z. B. Evangelische Kirche von Westfalen, Landeskirchenamt (Hg.), Globalisierung. Wirtschaft im Dienst des Lebens. Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Soesterberg-Brief, Bielefeld 2005. 20 J. M. KEYNES, National Self-Sufficiency, in: The Yale Review, Summer 1933; abgedruckt in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol 21, Cambridge 1982.
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Wissen, Kunst, Gastfreundschaft, Reisen – dies sind Bereiche, die aufgrund ihrer Natur international sein sollten. Aber lasst uns auf heimische Produkte zurückgreifen, wann immer dies vernünftig und in angemessener Weise möglich ist; und vor allem, lasst die Finanzen vorrangig im nationalen Rahmen.“ d) Schließlich gibt es einen vierten Ansatz in dieser Kategorie, nämlich die Auffassung, dass bestimmte Akteure der kapitalistischen Globalisierung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lernfähig sein werden. Eine verantwortliche Gestaltung globalisierter Wirtschaftsprozesse müsste nach den Vorstellungen dieser Autoren zum Ende der wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmter transnationaler Konzerne führen. Dieser Diskussionsstrang t reicht etwa mit Paul Streeten und Sanjaya Lall mindestens dreißig Jahre zurück21; heute wird er prominent unter anderem von Susan George oder Naomi Klein vertreten.22 3. Auf der anderen Seite der Skala stehen Positionen, die das globale kapitalistische Wirtschaftssystem prinzipiell für nicht reformierbar halten und deswegen die Verweigerung als einzig mögliche Option ansehen. Die theoretischen Grundlagen sind hier keineswegs nur in marxistischen Theorie-Stücken zu suchen; auch Max Webers Satz, dass der Kapitalismus in Zukunft zu nichts anderem als zu einem immer perfekteren stählernen Gehäuse der Unmündigkeit führe, kann hier genannt werden. Es ist eben der kapitalistische (Un-)Geist, der half, „jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-materieller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“23 Vor diesem Hintergrund wird der Kapitalismus als anethisch, das heißt, jegliche Ethik negierend, begriffen, nicht als unethisch. Der reine Mechanismus der kapitalistischen Märkte ist „herrenlose Sklaverei“. Insbesondere von lateinamerikanischen und afrikanischen Theologen wird die heutige globalisierte Wirtschaft nicht selten als Erscheinungsform eines „neuen Imperiums“ gedeutet, gegen dessen lebensfeindliche Macht nur noch ein „status confessionis“ ausgerufen werden könne.24
21 S. LALL / P. STREETEN, Foreign Investment, transnationals and developing Countries, London 1977. 22 S. GEORGE, Globalisierung oder Gerechtigkeit? Politische Gestaltung und soziale Grundwerte, Hamburg 2003; DIES., Change it! Anleitung zum politischen Ungehorsam,München 2006; N. KLEIN, No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlieren und wenigen Gewinnern, München 2005. 23 M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 91988 Tübingen, S. 203. 24 Z. B. F. HINKELAMMERT, Die ideologischen Waffen des Todes, Fribourg 1985; DERS., Der Schrei des Subjekts, Luzern 2001; K. FÜSSEL, In Euren Häusern liegt das geraubte Gut der Armen, Fribourg 1988; Zusammenfassend H. NOORDEGRAAF, De moderne economie als juggernaut: het debat over theologie en economie, Kampen 1997; R. MSHANA, In search of just Economy, Genf 2004; DERS., Passion for another World, Genf 2006.
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Zu der Verweigerung können auch jene vielfältigen Strategien zum Aufbau lokaler und regionaler Wirtschaftssysteme „jenseits der Globalisierung“25 gerechnet werden. Theoretische Grundlagen finden sich dazu schon in den Genossenschaftstheorien von Franz Oppenheimer bis Adolf Damaschke, politische Streitschriften mit dieser Programmatik zum Beispiel bei Gustav Landauer.26 Besonders spannend (und widersprüchlich!) ist die Diskussion um lokale Ökonomie heute vor allem, wenn sie zu einem integralen Bestandteil staatlicher Politik geworden ist – hauptsächlich in Brasilien, wo es nun ein „Nationales Sekretariat Solidarischer Ökonomie“ im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung gibt.27 Diese Variante der „Verweigerung“ versteht sich immer als Doppelstrategie – nämlich dem Aufbau lokaler Strukturen parallel zum Versuch einer „Einhegung“ des internationalen Kapitals.
II.3 Zum Stand der Globalisierung 2007 wurden Waren für rund dreizehn Billionen US-Dollar rund um den Globus gehandelt. Exportschlager waren dabei mit mehr als zwei Billionen US-Dollar Maschinen, Kraftwerke, Flugzeuge und Schiffe. An zweiter Stelle lagen Brennstoffe (2.038 Milliarden US-Dollar). Mit dem Export von Computern, Telefonen und Bürogeräten wurden weltweit 1.514 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Hinzu kommen die hoch flexiblen internationalen Finanzströme, die innerhalb von Sekunden weltweit an jeden beliebigen Ort transferiert werden können. Handelsgüterr und Kapital sind also weltweit mobil, und es gelten hierfür Weltmarktpreise. Für den Produktionsfaktor Arbeit gilt dies nur begrenzt. Bei der ökonomischen Diskussion von Globalisierung stehen die Auswirkungen auf den Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten im Zentrum, die im Folgenden etwas ausführlicher vorgestellt werden sollen, um einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der Globalisierung zu erhalten: 1. Von den Industrieländern wird immer wieder die Liberalisierung des Welthandels gefordert, doch zugleich schützen sie ihre eigenen Unternehmen vor einer möglichen Konkurrenz aus Entwicklungsländern. So verlangen sie für Waren aus Entwicklungsländern im Durchschnitt drei- bis viermal höhere Zölle als für Einfuhren aus Industrieländern. Hinzu kommen die hohen Agrarsubventionen in den USA, in der Europäischen Union und weiteren Industrieländern. Diese Agrarsubventionen wirken wie eine Handelsbarriere, sie ermöglichen es, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse der Industrieländer mit Agrarimporten aus Entwicklungsländern konkurrenzfähig bleiben. Insgesamt haben die Zollschranken und die Subventionen der Industrieländer für die Entwicklungsländer einen Verlust an Exportchancen zur Folge, der größer ist 25
Vgl. hierzu H. DIEFENBACHER / R. DOUTHWAITE, Jenseits der Globalisierung. Handbuch für lokales Wirtschaften, Mainz 1998. 26 F. OPPENHEIMER, Die soziale Bedeutung der Genossenschaft, Berlin 1899; A. DAMASCHKE, Vom Gemeinde-Sozialismus, Berlin 1897; G. LANDAUER, „Treten wir aus dem Kapitalismus aus!“ Artikelserie in der Zeitschrift „Der Sozialist“, 1. Oktober 1908 bis 1. Mai 1910. 27 Vgl. dessen Homepage www.mte.gov.br/tca_contas_anuais/2006/senaes.asp – ein kurzer Überblick bietet P. SINGER, Die solidarische Ökonomie in Brasilien, 2006. Im Internet unter http://www.soziale-oekonomie.de/anlagen/pdf/4_Solidarische_Oekonomie_Brasilien.pdf, Stand: 16. Februar 2009.
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als die gesamte Entwicklungshilfe. Allerdings bekämpft eine Handelsliberalisierung nicht von sich aus Armut. Dies gilt vor allem für die 50 ärmsten Länder, die mehrheitlich ihren Außenhandel im Verlauf der 1990er Jahre liberalisiert haben. Armut wuchs sowohl in Ländern, die ihren Handel überdurchschnittlich, als auch in Ländern, die ihn unterdurchschnittlich liberalisierten.
Abb. 1: Globale Armut. Personen mit weniger als 1 bzw. 2 US-Dollar pro Tag, abs. und in Prozent, 1981 bis 200228
2. Die Weltbank definiert, dass absolut arm ist, wer weniger als einen US-Dollar am Tag zur Verfügung hat. Allerdings ist strittig, ob die „Ein-Dollar-Grenze“ als Armutsgrenze taugt. Häufig wird mittlerweile die „Zwei-Dollar-Grenze“ bevorzugt. Zwischen 1981 und 2002 hat sich die absolute Zahl der Personen, die in Haushalten mit einem Einkommen unter einem US-Dollar pro Tag und Kopf leben, um knapp ein Drittel auf etwa eine Milliarde reduziert. Deshalb hat die Weltbank 2008 den Betrag auf 1,25 USDollar erhöht. Bei den Einkommen unter zwei US-Dollar pro Tag und Kopf schwankt die entsprechende Zahl der Personen um 2,6 Milliarden Menschen. Bis auf das subsaharische Afrika, die Staaten in Südasien, Europa und Zentralasien hat sich das Problem in allen Regionen leicht verbessert (siehe Abb. 1). Parallel zur Reduzierung der absoluten Armut hat sich seit Anfang der 1980er Jahre auch die durchschnittliche Lebenserwartung in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten um zwei Jahre erhöht. Gegenwärtig sterben jährlich zwei Millionen Kinder weniger vor ihrem fünften Lebensjahr als im Jahr 1990. Und auch bei „weicheren“ Armutsindikatoren ist eine Verbesserung festzustellen; so hat sich etwa die Analphabetisierungsrate 28 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Globalisierung. Zahlen und Fakten, Bonn 2007. Im Internet unter http://www.bpb.de/files/RDDZ9A.pdf, Stand: 16. Februar 2009.
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in den letzten 15 Jahren von 30 Prozent auf 24 Prozent reduziert. Allerdings bleiben viele Staaten von den ökonomischen Wohlfahrtsgewinnen vollständig ausgeschlossen. Noch immer sterben jährlich über zehn Millionen Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr. Die Zahl unterernährter Menschen ist zwar seit 1990 gesunken. Schätzungen gehen aber weiter von weit über 800 Millionen Hungernden aus. Das größte Problem besteht darin, dass sich die Annäherung zwischen arm und reich zunehmend verlangsamt und in einigen Bereichen stagniert. 3. Für die meisten der ärmsten Länder ist der Abstand zu den reichen Industrieländern größer geworden. Laut Forbes stieg das Nettovermögen aller Milliardäre von Anfang 2005 bis Anfang 2006 um 18 Prozent auf 2,6 Billionen US-Dollar. Die Zahl der Personen, die über ein Vermögen von über einer Milliarde verfügen, hat sich in nur 20 Jahren von 140 auf 793 erhöht. Die zehn Reichsten dieser Welt hatten 2007 zusammen ein Vermögen von etwa 426 Milliarden US-Dollar. Die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung beziehen nur fünf Prozent des weltweiten Einkommens, bei den ärmsten 20 Prozent schrumpft der Anteil auf weniger als 1,5 Prozent. Die reichsten 10 bzw. 20 Prozent verfügen hingegen über 54 bzw. 76 Prozent des weltweiten Einkommens. Eine Annäherung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern erfolgt auch bei hohen Wachstumsraten nur langsam. Unterstellt man zum Beispiel, dass die indische Volkswirtschaft in den kommenden Jahrzehnten so überdurchschnittlich wächst wie in den letzten fünf Jahren, würde Indien dennoch erst Anfang des 22. Jahrhunderts auf ein ähnlich hohes nominales Bruttoinlandsprodukt wie Deutschland kommen. Die Kluft zwischen den Einkommen der Großverdiener und denen der Normalverdiener hat sich parallel zur Globalisierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte vergrößert. Laut dem „Weltarbeitsbericht 2008“29 des International Institute for Labour Studies der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) haben zwischen 1990 und 2005 die Einkommensungleichheiten in zwei Drittel der 44 untersuchten Länder zugenommen. Dies betrifft insbesondere das Lohn- und Einkommensgefälle zwischen den beiden an den Extremen angesiedelten Gruppen, den 10 Prozent der am besten und den 10 Prozent am schlechtesten Verdienenden. Die größten Ungleichheiten bei den Einkommen findet das International Institute for Labour Studies in Brasilien, China, Indien und den USA. Die geringsten Lohnunterschiede verzeichnen dagegen Belgien und die skandinavischen Länder. Betrachtet man die Entwicklung der letzten 15 Jahre, so stellt man fest, dass sich die Lohnungleichheiten in Spanien stark, in Frankreich und der Schweiz kontinuierlich, wenn auch gemäßigt, zurückgebildet haben, wogegen die Differenzen in Polen oder Ungarn stark gestiegen sind. Um diesen allgemeinen Befund zu illustrieren, werden die Verhältnisse in den USA und in den Niederlanden anhand einer Stichprobe von jeweils 15 bedeutenden Großunternehmen dargestellt. In den USA verdiente 2007 ein Vorstandsmitglied 29
International Institute for Labour Studies, World of Work Report 2008. Income Inequalities in the Age of Financial Globalization, Geneva 2008, S. 9ff. Im Internet unter http://www.ilo.org/ public/english/bureau/inst/download/world08.pdf.
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521-mal mehr als ein durchschnittlicher Angestellter; vier Jahre vorher hatte der Multiplikator lediglich 370 betragen. In den Niederlanden sind die Werte bescheidener: Die Geschäftsleitung verdient dort 100-mal mehr als die Angestellten, 2003 war es erst 50-mal mehr gewesen.30 Die durchschnittliche jährliche Entlohnung der amerikanischen Vorstände stieg in den letzten vier Jahren von 16 Millionen US-Dollar auf 24,5 Millionen US-Dollar. In den Niederlanden verdreifachten sich im gleichen Zeitraum die Gehälter der TopManager von 2 Millionen auf 6 Millionen US-Dollar. Besonders herausgestrichen wird vom International Institute for Labourr Studies, dass nicht alle Beschäftigten in gleichem Maße von der Weltkonjunktur der letzten Jahre profitiert haben. Während sich die Vorstände in den USA Gehaltserhöhungen von jährlich knapp 10 Prozent zusprachen, musste sich der „normale“ Angestellte mit weniger als 1 Prozent begnügen. In den Niederlanden betrug die durchschnittliche jährliche Zunahme für die Vorstandsmitglieder mehr als 30 Prozent, für die Angestellten dagegen weniger als 1 Prozent.31 Die Studie belegt also, dass die Ungleichheiten exzessiv gewachsen sind und als Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise in nächster Zeit weiter wachsen dürften. Zur Lohnungleichheit trägt laut dieser Studie die Zunahme der prekären Arbeitsplätze im Verhältnis zu festen Anstellungen bei. Die eklatante Ungleichheit zeigt sich auch darin, dass die 20 bestverdienenden Finanzmanager im Jahre 2006 im Durchschnitt 650 Millionen US-Dollar, 2007 eine knappe Milliarde US-Dollar verdient haben.32 4. Nach Schätzungen der International Labour Organization (ILO) lag 2008 die globale Arbeitslosenquote bei 6 Prozent. Das entspricht etwa 190 Millionen Arbeitslosen weltweit; bei nahezu unveränderter Quote sind damit 2008 über 24 Millionen Arbeitslose mehr als 1998 arbeitslos. Erwartet wird von der ILO für Ende 2009 eine weltweite Arbeitslosigkeit von 210 Millionen bis 230 Millionen Menschen – eine deutliche Steigerung gegenüber den schätzungsweise 190 Millionen Ende 2008. Das schlimmste Szenario geht von einem raschen Einbruch des Wachstums und einer wirtschaftlichen Erholung erst im Jahre 2010 aus. Dann stiege die Arbeitslosenrate auf 7,1 Prozent. In den letzten zehn Jahren schwankte sie zwischen 5,7 Prozent und einem Höchststand von 6,3 in den Jahren 2003 und 2004. Rund zwei Fünftel der 190 Millionen waren 2008 Jugendliche.33 Die weit über dem Durchschnitt liegenden Arbeitslosenquoten von Jugendlichen finden sich in allen Regionen der Welt wieder. Nahezu überall ist die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen zwei- bis dreimal höher als die Arbeitslosenrate bei den Erwachsenen. Am dramatischsten ist die Situation im Nahen Osten, Nordafrika und subsaharischen Afrika. In der Arabischen Republik, in 30
Ibid, S. 18ff. Ibid, S. 18ff. 32 Vgl. Tagesspiegel vom 16. Oktober 2008. Im Internet unter http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Juergen-Thumann-BDI;art271,2637211. 33 Vgl. International Labour Office, Global Employment Trends. Geneva 2009, S. 28f. Im Internet unter http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/publication/wcms_101461.pdf. 31
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Ägypten, Indonesien, Katar und Syrien sind mehr als 60 Prozenz der Arbeitslosen Jugendliche.34 Aber auch in Südosteuropa und den GUS-Staaten (18,6 Prozent), Lateinamerika und der Karibik (16,6 Prozent) und in Südostasien (16,4 Prozent) hat die Arbeitslosenquote der Jugendlichen eine überdurchschnittliche Höhe. Arbeitslosigkeit ist ein globales Jugendproblem. „Erhebungsdaten aus 60 Entwicklungsländern lassen erkennen, dass Jugendliche im Durchschnitt 1,4 Jahre temporär oder mit Unterbrechungen arbeiten und längere Zeit ohne Beschäftigung sind, bevor sie einen festen, dauerhaften Arbeitsplatz finden. Diese geschätzte Zeitspanne fällt je nach Land und Schätzmethode sehr unterschiedlich aus, könnte in einigen Fällen aber durchaus vier Jahre überschreiten.“35 Schätzungen gehen überdies davon aus, dass mehr junge Frauen als junge Männer arbeitslos sind. Eine weitere Risikogruppe sind die niedrig qualifizierten Jugendlichen.
Abb. 2: Arbeitslosenquoten, in Prozent, weltweit 200336
5. Vor 1990 waren die Nettokapitalzuflüsse in ökonomisch sich entwickelnde Staaten sehr gering. Danach kam es zu größeren Schwankungen: Bis 1996 stiegen sie steil bis auf 225 Milliarden US-Dollar an, fielen dann bis 2000 auf 72 Milliarden US-Dollar, 34
Vgl. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2007. Entwicklung und die nächste Generation, Düsseldorf 2007, S. 122. 35 Ibid, S. 121. 36 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Globalisierung. Zahlen und Fakten, Bonn 2007. Im Internet unter http://www.bpb.de/files/H3KRWB.pdf, Stand: 16. Februar 2009.
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nahmen bis 2007 wieder gewaltig zu, und zwar bis auf 633 Milliarden US-Dollar. Nach vorläufigen Zahlen wird der Nettokapitalzufluss 2009 nur noch 287 Milliarden US-Dollar betragen.37 Für die einzelnen Regionen entwickelten sich die Zuflüsse sehr unterschiedlich. Mit Abstand am wenigsten Kapital floss nach Afrika, insgesamt 189 Milliarden US-Dollar in 25 Jahren (oder knapp 8 Milliarden US-Dollar pro Jahr). Mehr als dreimal soviel, nämlich über 700 Milliarden US-Dollar, flossen seit 1984 jeweils nach Asien und Lateinamerika. Allerdings verlief die Entwicklung in Asien am unregelmäßigsten, wo im Zuge des Booms der Zufluss 1996 auf rund 67 Milliarden US-Dollar stieg. 1997 und 1998 war jedoch als Folge der Asienkrise ein Nettokapitalabfluss von 44 Milliarden US-Dollar zu beobachten. Seitdem verlief der Zufluss von Nettokapital in Asien sehr unregelmäßig. Für das Jahr 2009 wird nur noch mit einem Zufluss von 22 Milliarden US-Dollar gerechnet. Bemerkenswert war der massive Kapitalabfluss aus dem Nahen Osten. Allein zwischen 2004 und 2006 waren aus dem Nahen Osten – vermutlich aufgrund der politischen Instabilitäten in der Region – 122 Milliarden US-Dollar abgezogen worden. Auch für 2008 und 2009 wird wieder von einem Kapitalabfluss in Höhe von 186 Milliarden US-Dollar ausgegangen. Die gesamte Auslandsschuld der ökonomisch sich entwickelnden Staaten lag 2007 bei 3,6 Billionen US-Dollar. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sie sich verdreifacht. Parallel dazu sind auch die Aufwendungen für den Schuldendienst (Zins und Tilgung) permanent angestiegen: Betrugen sie 1990 noch 145 Milliarden US-Dollar, so lagen sie 2007 bereits bei 564 Milliarden US-Dollar. Innerhalb von fast zwanzig Jahren haben sie sich also vervierfacht. Die größte Schuldenlast haben die Lateinamerika und die Karibik (151,4 Milliarden US-Dollar), die osteuropäischen Staaten (145,6 Milliarden US-Dollar) und die asiatischen Staaten (127 Milliarden US-Dollar) zu tragen. Die Höhe der Zins- und Tilgungszahlungen führt in sehr vielen Fällen zu einer wirtschaftlichen Überforderung der Schuldnerstaaten. Die Staaten, denen es aufgrund des Verschuldungsgrades nicht mehr gelingt, ihren Verbindlichkeiten fristgerecht bzw. überhaupt nachzukommen, schwächen oder verlieren ihre Kreditwürdigkeit, dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, neue Kredite aufzunehmen und Investitionen zu tätigen. Für stark verschuldete Staaten („heavily indebted poor countries“, HIPC) mit einem sehr niedrigen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt wurde deshalb 1996 auf Initiative der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IMF) ein Entschuldungsprogramm beschlossen. Hierbei ging es nicht um einen generellen Erlass von Schulden, sondern um eine Erleichterung, um die „Tragbarkeit“ von Schulden für die ärmsten höchstverschuldeten Länder. Die so genannte HIPCInitiative konnte zwar einen Teil-Schuldenerlass erreichen, das grundsätzliche Prob-
37 Vgl. International Monetary Fund, World Economic Outlook. October 2008. Financial, Downturns, and Recoveries, Washington D.C. 2008, S. 282. Im Internet unter http://www.imf.org/ external/pubs/ ft/weo/2008/02/pdf/text.pdf, Stand: 16. Februar 2009.; International Monetary Fund, World Economic Outlook. October 2000. Focus on Transition Economies, Washington D.C. 2000, S. 65. Im Internet unter http://www.imf.org/external/pubs / /ft/weo 2000/02/pdf/chapter2.pdf, Stand: 16. Februar 2009.
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lem der Schuldenkrise aber bisher nicht beheben, denn wie oben gesehen steigt die Schuldenlast von Jahr zu Jahr weiter an.38 6. Darüber hinaus lassen sich kulturelle Veränderungen beobachten, etwa in der Zunahme kultureller Vielfalt in der Lebensumwelt des Einzelnen bei gleichzeitiger Abnahme der globalen Vielfalt. Diese Entwicklung wird auch als „McDonaldisierung der Gesellschaft“39 bezeichnet. Aus Abb. 3 ist der „Siegeszug“ von McDonald’s rund um den Globus zu entnehmen. Aber nicht nur McDonald’s steht als Synonym für die Dominanz westlicher Kulturen und die damit verbundenen Konsummuster, sondern auch eine Vielzahl anderer Firmen wie Burger King, Runners Point, Coca Cola, Pepsi und Starbucks versuchen, ihre Marktmacht global durchzusetzen. Wenn sich das weltweite Konsumverhalten und andere Bereiche des Alltagslebens immer weiter angleichen, werden lokale Traditionen schrittweise durch eine Einheitskultur ersetzt. McDonald’s ist ein Beispiel für die These der kulturellen Konvergenz, da McDonald’s den Auftritt und die Produktpalette je nach Region den kulturellen Gegebenheiten anpasst. So wird etwa in israelischen Niederlassungen lediglich koscheres Essen angeboten. Alle Restaurants bleiben am Sabbat geschlossen. In Indien werden keine Rindfleischgerichte verkauft und auch in islamisch geprägten Ländern die jeweiligen Speisevorschriften eingehalten.
Abb. 3: Eröffnung von McDonald’s Restaurants in einzelnen Ländern40 38
Vgl. hierzu auch den Beitrag von H. DIEFENBACHER in diesem Band. Vgl. G. RITZER, Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997. 40 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Globalisierung. Zahlen und Fakten, Bonn 2007. Im Internet unter http://www.bpb.de/files/4SS427.pdf, Stand: 16. Februar 2009. 39
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III. Resümee: Globalisierung und internationale Gerechtigkeit Auf den vorhergehenden Seiten sind die teils widersprüchlichen „Gesichter der Globalisierung“ vorgestellt worden. Deutlich wurde, Globalisierung und internationale Gerechtigkeit sind zwei Gegensatzpaare, die nur bedingt miteinander in Einklang zu bringen sind. Für die Dritt-Welt-Länder hat die Liberalisierung des Welthandels nicht zu den erhofften Ergebnissen einer größeren wirtschaftlichen Teilhabe geführt. Die Botschaft, wonach die Liberalisierung der Weltmärkte Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand für alle mit sich bringe, trifft nur für wenige ausgewählte Länder zu. Bei einem offeneren Außenhandelsregime werden die Kosten des Anpassungsprozesses in aller Regel von den Armen getragen, und zwar unabhängig davon, wie lange der Prozess dauert. Vom Welthandel profitieren in erster Linie die Industrieländer und mit Abstand die Schwellenländer in Asien und Lateinamerika. Ebenso sind nach wie vor 2,6 Milliarden Menschen dauerhaft von Armut betroffen, auch wenn sich in einigen Regionen die absolute Armut verringert hat. Bei den Einkommen ist der Abstand zu den reichen Industrieländern für die meisten der ärmsten Länder größer geworden. Außerdem zeigt sich, dass die Nettokapitalzuflüsse, die zur wirtschaftlichen Stabilisierung führen sollen, in entscheidendem Maße von weltwirtschaftlichen, aber auch von regionalpolitischen Gegebenheiten abhängen. Deshalb kommt es in den meisten Regionen der Welt zu einem ständigen Auf und Ab oder sie werden gar nicht mit Kapital versorgt (siehe Afrika). Die Entschuldungsinitiative für die Gruppe der ärmsten Länder hat keine Wende gebracht. Die Entlastung ist zu gering, als dass sie mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein wäre. Solange die Phänomene wie Armut, Arbeitslosigkeit, Verschuldung und gerechter Welthandel nicht hinreichend gelöst sind, kann für die meisten Entwicklungsländer von keiner internationalen Gerechtigkeit gesprochen werden. Um Abhilfe zu schaffen, könnten Überlegungen für einen „Rat für Globale Entwicklung und Umwelt“ angestellt werden, der die Aufgaben verschiedener UN-Gremien zu bündeln hätte. Hierzu könnten unter anderem das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), das UN-Bevölkerungsprogramm (UNFPA), der UN-Kinderfonds (UNICEF), das UNUmweltprogramm (UNEP), das Welternährungsprogramm (WFP) und das UNProgramm für Siedlungswesen zählen.41 Dem „Rat für Globale Entwicklung und Umwelt“ sollten auch finanzielle Mittel zur Umsetzung von Investitionen in den Klimaschutz, die Armutsreduzierung und die Katastrophenhilfe zur Verfügung stehen. Zu diesem Zweck erscheint es notwendig, einen Weltklimafonds einzurichten, in den die Industrieländer und Schwellenländer einmalig einen Beitrag von 0,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts einzahlen. Für das Europa der 15 wären das 2005 gut 50 Milliarden Euro gewesen. Eine ähnliche Summe wäre von den USA zu zahlen. Insgesamt sollte das Finanzvolumen dieses Fonds bei mehr als 100 Milliarden Euro liegen. Mit diesem Betrag sollten Maßnahmen – vor allem in den Entwicklungsländern – finanziert werden, mit denen die schlimmsten Folgen des unvermeidlichen Klimawandels, des Hungers und der Armut gemildert werden können. 41 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel, Sicherheitsrisiko r Klimawandel, Berlin / Heidelberg 2008, S. 214.
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Wer für internationale Gerechtigkeit plädiert, darf zudem die nationale Gerechtigkeit nicht aus dem Blick verlieren. Die Angst vor sozialer Deklassierung breitet sich – angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise – in zunehmendem Maße aus und wird unter Umständen alle Versuche, Gerechtigkeit auf internationaler Ebene zu erreichen, torpedieren. Was ist also zu tun? Heute fordern sowohl Politiker als auch Wirtschaftsvertreter und Bürger in der jetzigen Finanzkrise, dass sich das wirtschaftliche Handeln wieder stärker an ethischen Werten orientieren solle. In der kapitalistischen Wirtschaft haben wir es in der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen mit einem Werteverlust zu tun gehabt, indem das Profitstreben über alles andere gestellt wurde: Es hat dazu geführt, dass in Unternehmen die menschliche Arbeitskraft als Humankapitel angesehen wird, das es zu optimieren gilt. Eine Optimierung desselben kann entweder durch Freisetzung der Beschäftigten, den Einsatz von Leiharbeitern oder befristet Beschäftigten („Randbelegschaft“), Verrentung oder Ausgliederung der Arbeitsplätze ins Ausland erfolgen. Daneben kann das Gewinnstreben auch durch geringe Sozialstandards oder die Missachtung von Menschenrechten gesteigert werden. Die gesellschaftlichen Folgen dieser ausschließlichen Gewinnorientierung wie Arbeitslosigkeit, Armut, Unterdrückung und das Aufkommen eines Prekariats spielten nur eine untergeordnete Rolle im Denken der heutigen Vorstände von Unternehmen. Doch „wir sind in der Regel nicht nur Arbeitnehmer und Bürger, sondern auch Verbraucher und in wachsendem Maße Anleger. (…) Immer häufiger sehen wir uns an erster Stelle als Verbraucher und Anleger und sind als solche unablässig auf der Suche nach den bestmöglichen Kaufangeboten und Anlagemöglichkeiten. Der Superkapitalismus hat unsere Spielräume als Verbraucher und Anleger radikal vergrößert und ermöglicht es uns, in aller Welt nach Schnäppchen zu suchen. Den Preis dafür bezahlen wir als Arbeitnehmer und Bürger. Unsere Arbeitsplätze und Löhne werden immer unsicherer, und wir sind immer weniger imstande, unsere Rolle als Bürger auszufüllen.“42 Das geringe gesellschaftliche Verantwortungsverhalten war auch maßgeblich für die derzeitige Finanzkrise. Die Prämisse der Banken war es, den Kunden so viel Rendite wie nur möglich zu versprechen. Die versprochenen Renditemöglichkeiten konnten aber nur realisiert werden, wenn wir es mit einer dauerhaft wachsenden und expandierenden Wirtschaft zu tun haben, wenn also genau die Spielregeln eingehalten werden, die einen Superkapitalismus versprechen. Die Erwartungen an eine ständig wachsende Wirtschaft und einen immer schneller prosperierenden Geld- und Finanzmarkt stehen letztlich in Widerspruch zu ethischen Anforderungen und gerechteren Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft. Wenn wir also Gerechtigkeit einfordern, müssen wir uns auch darüber bewusst sein, dass das wirtschaftliche Handeln in der Zukunft anders aussehen müsste. Die Einhaltung von Sozialstandards und Menschenrechten sowie die Arbeitsplatzsicherheit haben ihren „Preis“, Gewinnspannen heutiger Provenienz wären dann nicht mehr zu erwarten. Bescheidenheit wäre in dem Fall das prägende Schlagwort. Eine Wirtschaft des Weniger wäre angesagt.
42 R. REICH, Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt, Frankfurt a.M. / New York 2008, S. 10.
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Auf diese ökonomische Herausforderung gibt es zurzeit keine wirtschaftstheoretische Antwort. Welche Maßnahmen sollten eingeleitet werden, um der Globalisierung ein alternatives Wirtschaftskonzept entgegenzusetzen? Eine Hilfsbedürftigkeit der Banken dieses Ausmaßes hatten die Ökonomen nicht für möglich gehalten, sie war theoretisch bislang nicht vorgekommen, da immer davon ausgegangen wurde, die Marktwirtschaft würde über das freie Spiel der Kräfte ihr Gleichgewicht wieder finden. Die Verflechtungen zwischen den Industriemetropolen haben deutlich gemacht, dass mittlerweile kein Land mehr unabhängig ist, sondern Krisen in dem einen Land die anderen Länder mitreißen. Dies ist am Beispiel des Finanzmarktes den Menschen dieser Tage am deutlichsten vor Augen geführt worden. Was bislang fehlt, ist eine in sich konsistente ökonomische Alternative zur globalisierten Wirtschaft, die versucht, die globalen Strukturen mit einer regionalen Ökonomie zu verknüpfen. Die Wirtschaftstheorie jedoch hat auf die Entwicklungen nur ihre „alten“ Antworten parat. Gefordert werden entweder milliardenschwere Rettungspakete, Konjunkturprogramme oder eine Wirtschaftspolitik ohne staatliche Eingriffe in dem Glauben an das freie Spiel des Marktes. Von einer Neukonzeption der Wirtschaftstheorie sind wir derzeit weit entfernt. Auch in den Industrieländern sind die Zunahme des Prekariats und die wachsenden Einkommens- und Vermögensdisparitäten nicht zu übersehen. Überlegungen zur internationalen Gerechtigkeit sind daher nicht ohne Bezug zur nationalen Gerechtigkeit zu sehen. „Die neuen Formen sozialer Ausgrenzung und kollektiver Exilierung (…) habe die Dritte Welt in unsere Welt gebracht. Globale Preise für standardisierte Arbeit in der industriellen Produktion, aber auch bei den einfachen informationsbezogenen Dienstleistungen führen zu weltweiten Umverteilungen in der Beschäftigung.“43 Waren in der Vergangenheit weite Teile der Wertschöpfung von Internationalisierungsprozessen verschont, so deutet sich heute eine Wendung an: Inzwischen geraten auch jene Arbeitsbereiche unter den Druck der Globalisierung, die bislang als nicht verlagerbar angesehen wurden. Hierzu zählen insbesondere Dienstleistungsfunktionen, Verwaltungsbereiche sowie Forschung und Entwicklung. Dieser Prozess wird als „Offshoring“ oder „Nearshoring“ charakterisiert. Die Besonderheit der Diskussion um Offshoring liegt vor allem darin, dass gerade hoch qualifizierte Dienstleistungsjobs als wettbewerbsfähig betrachtet wurden. „Der in der Debatte um die Verlagerung von Industriearbeit immer wieder vorgebrachte Zusammenhang ‚Höherqualifizierung schütz vor Globalisierung‘ gilt nun offenbar nicht mehr uneingeschränkt. (…) Zugespitzt formuliert, folgt der Internationalisierung der ‚Handarbeit‘ mit der Diskussion um Offshoring nun die Internationalisierung der ‚Kopfarbeit‘. Nicht mehr nur die manuelle Arbeit der Industriebeschäftigten droht somit aus den ‚Hochlohnländern‘ verlagert zu werden. Vielmehr geraten nun die geistigen Tätigkeiten der ‚Wissensarbeiter‘ ebenfalls unter den zunehmenden Druck der Globalisierung.“44
43 H. BUDE / A. WILLISCH, Das Problem der Exklusion, in: DIES. (Hg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006, S. 9. 44 T. KÄMPF, Die neue Unsicherheit. Folgen der Globalisierung für hochqualifizierte Arbeitnehmer. Frankfurt a.M. / New York 2008, S. 13.
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Insgesamt hat die Zahl von Arbeitsplätzen mit geringer Arbeitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn, Teilzeitbeschäftigung, befristeten Verträgen und mangelndem Kündigungsschutz in den Industrieländern zugenommen und wird auch in Zukunft angesichts der beschriebenen Entwicklungen weiter zunehmen. Neue Arbeitsformen wie MiniJobs, Praktika, Ein-Euro-Jobs, Ich-AGs und Leiharbeit haben sich herausgebildet: Es wird von einer „neuen Stabilität des Instabilen"45 gesprochen. Mit der Gemütlichkeit46 ist es weitgehend vorbei, oder genauer: mit der Kombination eines Normalarbeitsverhältnisses, Jobsicherheit und gutem Einkommen. Nur noch eine immer kleiner werdende Minderheit wird in den Genuss von stabilen Beschäftigungsverhältnissen kommen. Wenn man die europäischen Länder (ohne Osteuropa) sowie USA, Kanada und Japan vergleicht, so ist in keinem dieser Länder die Schere zwischen den oberen 10 Prozent der Arbeitseinkommen und den untersten 10 Prozent soweit aufgegangen wie in Deutschland (vgl. Abb. 4). Besonders betroffen sind Arbeitslose, Migranten, Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Nicht überraschend kommen geringe Qualifikationen als ein benachteiligendes Querschnittsmerkmal hinzu.
Abb. 4: Anstieg der Einkommen der 10 Prozent bestbezahlten Arbeitnehmer gegenüber den 10 Prozent schlechtest bezahlten Arbeitnehmern von 1995 auf 2005, 1995 = 10047
Bereits seit Mitte der 80er Jahre wird deshalb verstärkt darüber nachgedacht, wie Beschäftigung und soziale Sicherung entkoppelt werden können. Verschiedene Vorschläge zielen darauf ab, jedem Bürger ein garantiertes Grundeinkommen zuzugestehen. Dane45 B. VOGEL, Biographische Brüche, soziale Ungleichheiten und politische Gestaltung. Bestände und Perspektiven soziologischer Arbeitslosigkeitsforschung, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Heft 2, 2008, S. 11–20. 46 Ein Titel des SPIEGELS lautete im Oktober 2008: „Das Ende der Gemütlichkeit. Was auf die Deutschen (noch) zukommt“ (DER SPIEGEL, Nr. 43 vom 20. Oktober 2008). 47 Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD Employment Outlook 2007, Paris 2007. Eigene Berechnungen. Im Internet unter www.oecd.org/els/employmentoutlook/2007, Stand: 16. Februar 2009.
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ben werden die Vorstellungen zum garantierten Grundeinkommen modifiziert, weiterentwickelt und mit neuen Akzentuierungen versehen, auch vor dem Hintergrund einer gewissen Skepsis gegenüber den allgemeinen Grundeinkommens-Konzepten. Erörtert werden gegenwärtig (1) Modelle eines Bürgergelds (Althaus48; Mitschke49; Borchard50), (2) Entwürfe für eine negative Einkommensteuer (Friedman51) und (3) Konzepte einer Grundsicherung (Kaltenborn52; Blaschke)53.
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48 Vgl. D. ALTHAUS, Solidarisches Bürgergeld, 2007. Im Internet unter http://www.thueringen.de/ imperia/md/content/buergergeld/bg_brosch__re_stand_nov07__ansicht_klein.pdf, Stand: 16. Februar 2009. 49 Vgl. J. MITSCHKE, Grundsicherungsmodelle – Ziele, Gestaltung, Wirkungen und Finanzbedarf. Eine Fundamentalanalyse mit besonderem Bezug auf die Steuer- und Sozialordnung sowie den Arbeitsmarkt der Republik Österreich, Baden-Baden 2000. 50 Vgl. M. BORCHARD (Hg.), Das Solidarische Bürgergeld. Analysen einer Reformidee, Stuttgart 2007. 51 Vgl. M. FRIEDMAN, Capitalism and Freedom, Chicago 1962. 52 Vgl. B. KALTENBORN, Modelle der Grundsicherung: Ein systematischer Vergleich, BadenBaden 1995. 53 Zu den verschiedenen Vorschlägen und Konzepten zur Grundsicherung vgl. R. BLASCHKE, Garantierte Mindesteinkommen. Aktuelle Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen im Vergleich, Dresden 2005. Im Internet unter http://www.die-linke-grundeinkommen.de/PDF/SynopseGrundeinkommen.pdf, Stand: 16. Februar 2009; sowie R. BLASCHKE, Bedingungsloses Grundeinkommen versus Grundsicherung, in: Standpunkte, Heft 15, 2008. Im Internet unter www.archiv-grundeinkommen.de/blaschke/rls-15-2008-bge-vs-grusi-200807.pdf, Stand: 16. Februar 2009.
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Die internationale Verschuldung und die Suche nach einer gerechten Welt HANS DIEFENBACHER Die Gerechten müssen unstet und flüchtig sein, weil es vertriebene Seelen gibt, die nur dadurch emporsteigen können. Und wenn ein Gerechter sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Haus. Es gibt Seelen wie Steine, die sind hingeworfen auf den Gassen. Aber wenn einst die neuen Häuser gebaut werden, dann fügt man ihnen die heiligen Steine ein. Rabbi Nachman von Bratzlaw (Breslov), 1772–1810, übersetzt von Martin Buber
Inhalt I. II. III. IV. V. VI.
Vorbemerkung Nicht gelernte Lektionen aus der internationalen Schuldenkrise Schulden und Schuld – zur ökonomischen Logik der Verschuldung Besonderheiten der internationalen Verschuldung Schulden und Strukturelle Gewalt des Weltwirtschaftssystems Lösungen?
I. Vorbemerkung Es ist eine Herausforderung, über Geld und internationale Verschuldung zu schreiben in den Tagen, da der Globus eine Finanzkrise erlebt, deren Ausmaß das menschliche Zahlenverständnis weitgehend sprengt, in der allein die Bundesregierung in atemberaubender Geschwindigkeit ein Finanzpaket von 500.000.000.000 Euro schnürt, mit dem angeblich wenigstens die deutschen Banken wieder zu Vernunft, gegenseitigem Vertrauen und rechtschaffener Betriebsamkeit geleitet werden kann – wer hätte da noch die Kraft wahrzunehmen, dass die einschlägigen UN-Organisationen etwa ein Hundertstel dieses Betrages benötigen würden, um die akut vom Hungertod bedrohten Menschen dieser Erde über das nächste Jahr zu bringen? Allein in Simbabwe ist derzeit etwa die Hälfte der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, aber das UN World Food Programme hat die notwendigen 140 Millionen US-Dollar nicht zur Verfügung, um in den kommenden sechs Monaten ausreichend Nahrungsmittelrationen verteilen zu können,
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und hat daher in einem dramatischen Appell zu Spenden aufgerufen, da ohne zusätzliche Zuwendungen die Vorräte genau auf dem Höhepunkt der Nahrungskrise ausgehen werden.1 Um eine erste Orientierung zu gewinnen, flüchtet sich der in volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung geübte Statistiker in makroökonomische Überschlagsrechnungen. Wenn allein die bis Oktober 2008 von den Regierungen verabschiedeten Hilfsmittel an die Finanzwelt von insgesamt rund 2.400 Milliarden Euro2 auf die derzeit rund 6,73 Milliarden Menschen3 verteilt würden, ergäbe dies 356,61 Euro pro Person, bei einem Wechselkurs wiederum vom Oktober 20084 einen Betrag von 487,56 US-Dollar – pro Kopf der Weltbevölkerung, wohlgemerkt. Für die über 1 Milliarden Menschen, die aktuell unter der Grenze der absoluten Armut leben,5 wäre das weit mehr als ein Jahreseinkommen. Diese Art der Rechnung ist natürlich nur grenzenlos naive Spielerei. Aber wenn so viel Geld benötigt wird, um ein System zu retten, von dessen komplettem Kollaps man weitaus schlimmere Folgen befürchtet, dann muss man davon ausgehen, dass viel mehr Geld als der Rettungsbetrag auf dem Spiel steht. Und in der Tat: Seit dem Ausbruch der Krise sind im Finanzsektor bis zum Ende des Jahres 2008 weit über 600 Milliarden USDollar endgültig abgeschrieben worden, der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass bis zum Ende – trotz Rettungspaketen – die Summe zwei- bis fünfmal so hoch ausfallen könnte. Die Fachleute in den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Banken gehen davon aus, dass sich die tatsächliche Höhe der Verluste auch ungefähr erst in einigen Jahren beziffern lassen wird. Das Geflecht zwischen Schuldnern und Gläubigern, die Wechselbeziehungen zwischen realem und virtuellem Vermögen erscheint so schnell nicht zu entwirren. Die Laien hingegen fragen sich, wo das ganze Geld geblieben ist. Die Antwort lautet: Es war nie vorhanden.
II. Nicht gelernte Lektionen aus der internationalen Schuldenkrise Dabei hätte man viel aus den vergangenen internationalen Schuldenkrisen lernen können. Seit dem Beginn der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts gerät das Problem der internationalen Verschuldung von Entwicklungsländern alle zwei bis drei Jahre in die Titelschlagzeilen der Zeitungen. Politik und Öffentlichkeit waren im Sommer 1982, als Mexiko mit einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit drohte, ebenso 1
So M. DARBOE, Presse-Erklärung in Johannesburg am 9.10.2008. Im Internet unter: http://www.wfp.org/german/?ModuleID=127&Key=504. 2 Eigene Berechnung, 17.10.2008. 3 Vgl. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, Weltbevölkerungsuhr. Im m Internet unter http://www.dsw-online.de/info-service/weltbevoelkerungsuhr.php?navanchor=1010037. 4 Vgl. Bundesverband Deutscher Banken, Währungsrechner – Wechselkurse für 160 Währungen. Im Internet unter http://www.bankenverband.de/waehrungsrechner/index-xi.asp. 5 Vgl. United Nations (Hg.), The Millennium Development Goals Report 2008, New York 2008, S. 34. Vgl. auch World Bank (Hg.), Global Data Monitoring Information System, 2008. Im Internet unter http://ddp-ext.worldbank.org/ext/GMIS/gdmis.do?siteId=2&goalId=5&menuId= LNAV01GOAL1.
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überrascht wie im Sommer 2008, als sich abzeichnete, dass der Kollaps von Banken einen Domino-Effekt bis hin zur Gefährdung des US-Dollars als globaler Leitwährung und die Möglichkeit eines Staatsbankrotts von Ländern wie Island, Portugal oder Spanien hervorrufen könnte. Ein ähnliches Szenario konnte im August 1982 abgewendet werden – kaum jemand erinnert sich heute noch daran. Im Herbst 1985 versuchten einige lateinamerikanische Länder, ein Schuldner-Kartell zu bilden. Diese Länder mussten damals einen Großteil ihrer Exporterlöse für ihren „normalen“ Schuldendienst und für die Begleichung von Zinseszinsen verwenden, die aufgelaufen waren, da sie immer wieder ihren Tilgungsverpflichtungen nicht oder nur zum Teil nachkommen konnten. Und diese Zinsen wurden immer höher, da die RatingAgenturen, die auch bei der Entstehung der heutigen Krise eine problematische Rolle spielen, die Länder-Risiken immer höher einstuften, und die Banken ihrem Rat folgten und exorbitante Risiko-Zuschläge für „frisches Geld“ verlangten. Die Zinsen stiegen generell auch deswegen, weil die Politik der USA seit Ende der Siebziger Jahre durch hohe Zinsen ausländisches Kapital ins Land holen wollte, um das Leistungsbilanzdefizit auszugleichen und den Dollar zu stabilisieren.6 Die Initiative blieb letztlich erfolglos, denn die internationalen Banken wollten lieber mit jedem Schuldner einzeln als mit einem viel mächtigeren Kartell verhandeln, und es gelang ihnen, wichtige Schuldnerländer aus der sich formierenden Allianz herauszulösen, indem sie ihnen scheinbar verlockende Konditionen der Umschuldung boten.7 Dies war ungefähr die Zeit, in der Banken begannen, zweifelhafte Kredite mit teilweise hohen Abschlägen auf dem internationalen Finanzmarkt zu handeln – ein neues Objekt der Spekulation war geboren. Im Herbst 1988 wurde die gemeinsame Jahreshauptversammlung des International Monetary Fund (IMF) und der Weltbank in Berlin abgehalten; sie wurde von großem öffentlichen Interesse und scharfer Kritik von Nicht-Regierungsorganisationen an der Politik der beiden Finanzinstitutionen begleitet.8 IMF und Weltbank hatten in den letzten Jahren die Vergabe von Krediten zu günstigeren Konditionen, als die Privatbanken sie boten, davon abhängig gemacht, dass die Nehmerländer sich bereit erklärten, so genannte Strukturanpassungsmaßnahmen durchzuführen. Vor allem die Maßnahmenkataloge der ersten Generation folgten einem strikt t marktwirtschaftlich orientierten Sanierungskurs, der die Zahlungsfähigkeit der Länder zur Bedienung ausländischer Schulden eindeutig in den Vordergrund stellte. Die Förderung der Exportwirtschaft zum Teil auf Kosten der Produktion für die heimische Nachfrage, der Abbau von Sozialleistungen, die Aufhebung der Preisbindungen auch im Grundnahrungsmittelbereich und Privatisierungen von Infrastruktur verhinderten zwar, dass sich Staaten bankrott erklären mussten, führten jedoch häufig zu dramatischen Verschlechterungen der Lebensbedingungen 6 Ausführlich analysiert bei L. Naka, Le Recours à l’emprunt extérieur dans le processus du développement. Abidjan 1986: Presses Universitaires et Scolaires d’Afrique. 7 Vgl. T. KUNANAYAKAM / H. DIEFENBACHER, The international debt crisis – whose crisis?, Den Haag 1990: Forum on Debt and Development (FONDAD), S. 15f. 8 Ein detaillierter Bericht findet sich bei A. G. GRAUWACKE [Pseudonym], Autonome in Bewegung – aus den ersten 23 Jahren, Göttingen 2003; vgl. auch Dissent! – Network of Resistance against the G8 (Hg.), We will disrupt this conferene – Resistance to the 1988 IMF and World Bank Conference in West Berlin. Im Internet unter http://www.daysofdissent.org.uk/berlin.htm.
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gerade der Ärmsten in der Bevölkerung – ohne dass die Krise damit bewältigt werden konnte. Das Interesse an der Problematik der internationalen Verschuldung sank in den Industrieländern wieder rasch – die Auswirkungen der Krise waren in deren Alltag im Grunde auch nicht bemerkbar. Zu Beginn der Neunziger Jahre wurde dann deutlich, dass die Akkumulation der Schulden in über siebzig Ländern der Erde ein Ausmaß erreicht hatte, das sich auch mittelfristig auf dem eingeschlagenen Weg der Strukturanpassungsstrategien nicht mehr bewältigen ließ – kurzfristig, wie man erhofft hatte, schon gar nicht. Im Frühjahr 1990 hatte Brasilien vorübergehend den Schuldendienst einstellen müssen. Insgesamt lag die Verschuldung der Entwicklungsländer Ende 1989 nach Schätzungen von IMF und Weltbank bei etwa 1.250 Milliarden US-Dollar; Berechnungen anderer Institutionen liegen bis zu 400 Milliarden höher.9 Es gab jedoch ganz erhebliche regionale Unterschiede. In manchen Regionen war dies ein Stillstand auf katastrophalem Niveau, denn die Schuldenhöhe hatte sich in den letzten drei Jahren kaum verändert: So hatten die lateinamerikanischen und karibischen Staaten Ende 1989 etwa 422 Milliarden USDollar Schulden, obwohl sie im Laufe des Jahres netto 22 Milliarden US-Dollar an internationale Finanzinstitutionen und Banken überwiesen hatten. 422 Milliarden USDollar entsprachen fast 40 Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes dieser Region, übertroffen noch von der Außenschuld Afrikas, die Ende 1989 mit etwa 220 Milliarden US-Dollar etwa 55 Prozent des afrikanischen Bruttosozialproduktes betrug. In manchen Ländern hatte die Saldenmechanik der Fortschreibung nicht gezahlter Schuldendienstverpflichtungen absurde Züge angenommen: Wenn die Schulden in Somalia 1.988 Prozent der Exporterlöse, in Mozambique 1.726 Prozent und im Sudan 1.562 Prozent ausmachten, war dies im Grunde nur noch ein Anzeichen für das Ausmaß, in dem sich das internationale Finanzsystem von der realen Ökonomie entfernen kann.10 Und eines wird klar ersichtlich: Diese afrikanischen Ländern sollten auch damals schon Geld zurückzahlen, das niemals vorhanden war, und bei dem niemals die Aussicht bestand, dass sie es auf den Exportmärkten hätten verdienen können. Die Absurdität verschärfte sich noch, weil – beginnend mit dem Ende der Achtziger Jahre – die Entwicklungsländer unter einem Netto-Kapitalabfluss in beträchtlicher Höhe litten und teilweise bis heute leiden: 1989 waren dies im Saldo 53 Milliarden USDollar. 1989 war gleichzeitig das erste Jahr, in dem die westliche Entwicklungshilfe wieder insgesamt sank, und zwar um 3,3 Prozent auf 46,5 Milliarden US-Dollar. Insgesamt flossen den Entwicklungsländern etwaa 110 Milliarden US-Dollar aus den Ländern des Nordens zu, Investitionen und Kredite der privaten Wirtschaftt eingerechnet. Dem stand jedoch ein Schuldendienst von 163 Milliarden US-Dollar gegenüber – also fast das Vierfache der Entwicklungshilfe-Zahlungen.11 So mussten die Philippinen und Indonesien Anfang der Neunziger Jahre fast 40 Prozent ihres Staatsbudgets allein für die Zahlung von Zinsen für Auslandsschulden aufwenden – mit drastischen Folgen für die 9
Vgl. H. DIEFENBACHER, Die internationale Verschuldung – Krise als Dauerzustand?, in: G. KRELL / E. BAHR / J. SCHWERDTFEGER (HG.), Friedensgutachten 1990, Münster 1990, S. 41–50. 10 Vgl. P. S. MISTRY, African Debt Revisited – Procrastination or Progress, Den Haag 1991. 11 Vgl. World Bank (Hg.), World Debt Tables, 1990–1991. Washington D.C. 1990; World Bank (Hg.), World Development Report. Washington D.C. 1991.
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Zusammensetzung der Staatsausgaben. In den Achtziger Jahren sanken in diesen Ländern wie auch in den HIPC-Ländern12 die staatlichen Ausgaben im Gesundheitssektor im Schnitt um fast 50 Prozent, im Bildungssektor um fast 25 Prozent.13 Bis zum heutigen Tag hat sich an diesem Zahlenverhältnis kaum etwas geändert. Im Jahre 2007 zahlten die Entwicklungsländer für jeden Dollar, den sie als Entwicklungshilfe erhalten haben, fünf Dollar für Schuldendienste an die Industrieländer zurück.14 Die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren in den verschuldeten Ländern insgesamt hatten sich zu Beginn der Neunziger Jahre noch einmal drastisch verschlechtert. Es gab eine ganze Reihe von Ländern, die Jahres-Inflationsraten von weit über 1.000 Prozent aufwiesen: Im Jahr 1990 betrug die Inflation in Brasilien über 5.000 Prozent, in Argentinien etwa 3.800 Prozent und in Bolivien bis zu 20.000 Prozent, um nur drei Beispiele zu nennen. Ein ähnliches Ausmaß der Hyperinflation hat in den letzten Monaten Simbabwe erreicht. Der monetäre Sektor der Volkswirtschaft dieser und anderer Länder funktionierte nicht mehr gemäß der Lehrbuchweisheit der Ökonomie. Weite Teile der Wertschöpfung fanden in der Schattenwirtschaft statt; der Staat war oftmals nicht mehr in der Lage, die soziale Infrastruktur – die Versorgung mit öffentlichen Gütern – aufrecht zu erhalten. Eine hohe formelle Arbeitslosigkeit, stagnierendes oder häufig sogar über längere Zeit deutlich sinkendes Realeinkommen, eine wachsende Ungleichverteilung der Vermögen, Kapitalflucht, f sinkende Investitionen – das waren und sind einige der typischen Charakteristika von Ökonomien mit hoher Außenverschuldung. Die Zustimmung zur „reinen Lehre“ der Strukturanpassung begann auch in der Mainstream-Ökonomie schwinden; eine Anfang der Neunziger Jahre publizierte Übersicht über Politik-Vorschläge zur Lösung der Schuldenkrise kam auf über 70 verschiedene Varianten.15 Obwohl der Begriff „verlorenes Jahrzehnt“ im Blick auf die Schuldenkrise häufig für die Achtziger Jahre verwendet wurde, passt er auf die Neunziger Jahre ebenso gut. Partielle Schuldenstreichungen in Einzelfällen und teilweise höchst komplizierte Umschuldungsaktionen ebenfalls für einzelne Länder, an denen bis zu 700 Banken beteiligten waren, haben sichergestellt, dass sich die Schuldner weder miteinander solidarisierten noch sich außerhalb einmal geschlossener Verträge stellten – die Fiktion der Rechtmäßigkeit sollte unter allen Umständen aufrecht erhalten werden, selbst wenn einige Streichungen oder Umschuldungen quasi erst „ex post“ die Einstellung von SchuldendienstZahlungen, die einfach nicht mehr geleistet werden konnten, legalisierten. Schon bei dieser Finanzkrise sollte, wie auch bei der jetzigen, die Illusion aufrecht erhalten werden, dass das System an sich funktioniert und deswegen Vertrauen verdient. Das ist partiell auch gelungen: Es kam weder zu einem Staatsbankrott noch zu einem Kollaps der Weltfinanz- oder -gütermärkte, jedoch mit paradoxen und verheerenden Folgen: Die 12
HIPC = Heavily Indebted Poor Countries South Commission (Hg.), The Challenge to the South, Oxford 1990. 14 European Network on Debt and Development (EURODAD), Unfinished Business – ten years of dropping the debt, 2008. Im Internet unter http://www.eurodad.org/debt/report.aspx? id=112&item=02298. 15 E. VERSLUYSEN, A Review of Alternative Debt Strategies, World Bank Working Paper WPS 196, Washington D.C. 1992, S. 14. 13
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Akteure im Weltfinanzsystem haben vor allem das Vertrauen aufgebaut, dass das System auch exorbitante Schulden managen kann, Schulden, die – wie natürlich auch die ihnen entsprechenden Gläubiger-Positionen – von keinerlei Vermögenswerten der realen Ökonomie gedeckt sind, da sie durch reine Rechentransaktionen wie der Fortschreibung von nicht eintreibbaren Zinseszinsen oder durch fiktive Neubewertungen bestimmter Bilanztitel entstanden sind. In den Neunziger Jahren hat das Weltfinanzsystem endgültig die „Bodenhaftung“ der realen Ökonomie verloren – und seine Akteure waren von den dadurch aufscheinenden neuen Instrumenten zu einer alchimistischen Vermehrung so begeistert, dass sie diese Loslösung als Erfolg triumphal feierten. Mitte der Neunziger Jahre setzte eine doppelte Entwicklung auf den globalen Finanzmärkten ein, die sich Anfang dieses Jahrzehnts dann weiter verstärkte. Diese Entwicklung besteht zum in einem veränderten Umgang mit den Schuldnern, zum anderen in einer Verlagerung der globalen Finanzströme. Zunächst wurde – erstens – in wichtigen internationalen Institutionen, vor allem in Teilen der „UN-Familie“ wie FAO, WHO, UNDP, UNEP und dann auch in der Weltbank, die Ansicht mehrheitsfähig, dass die Schuldenkrise in den ärmsten und den am stärksten betroffenen Ländern durch reine Strukturanpassungsmaßnahmen nicht oder nicht mehr zu bewältigen war. Damit setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Schuldenkrise auch ein Strukturproblem des globalen Finanzmarktes war. So wurden Programme wie die so genannte „HIPC-Initiative“ möglich: Auf dem Kölner G8-Gipfel im Jahre 1999 wurde auf Initiative der deutschen Bundesregierung und unter dem Druck zahlreicher Nicht-Regierungs-organisationen ein Vorschlag zur Ausweitung und Beschleunigung der Entschuldung hoch verschuldeter armer Länder unterbreitet, der schon seit 1996 debattiert wurde, aber nach der G8-Empfehlung dann sehr schnell von Weltbank und IWF verabschiedet wurde. Für die Entschuldung im Rahmen des HIPC-Programms konnten sich Länder qualifizieren, die einen Schuldenstand aufwiesen, der mehr als 150 Prozent der Exporterlöse oder mehr als 250 Prozent der Staatseinnahmen ausmachte. Diesen Ländern wurden alle Schulden erlassen, die über den genannten Grenzen lagen – sie mussten und müssen sich aber nach wie vor mit der Erfüllung bestimmter Auflagen zur Umstrukturierung dafür qualifizieren. Derzeit – also über neun Jahre nach dem Inkrafttreten des HIPC-Programms – stehen 41 (!) Länder auf der HIPC-Liste, was bedeutet, dass sie sich für einen Schuldenerlass nach diesem Programm qualifizieren können.16 Inzwischen gibt es drei verschiedene Stufen, in die die Weltbank die HIPC-Länder je nach ihrer Willfährigkeit, sich der externen Gestaltung der heimischen Politik zu unterwerfen, einteilt – in der Sprache der Bank gibt es einen „pre-decision point“, einen „decision point“ und einen „completion point“. Aber selbst die 23 Länder, die den completion point erreicht haben, sind noch immer hoch verschuldet. Bis zum Jahr 2007 hat sich Gesamt-Schuldenstand der Entwicklungsländer auf nunmehr circa 2.700 Milliarden US-Dollar gegenüber dem Stand von 1990 mehr als verdoppelt.17 Mindestens 15 Prozent dieser Gesamtsumme – also 16
Siehe World Bank (Hg.), Economic Policy and Debt. Washington D.C. 2008, Liste der HIPCLänder auch unter http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/TOPICS/EXTDEBTDEPT/ 0,,contentMDK:20260049~menuPK:528655~pagePK:64166689~ piPK:64166646~theSitePK: 469043,00.html 17 EURODAD (2008), op.cit., nach Berechnungen von Weltbank und IMF.
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400 Milliarden US-Dollar – gelten als derart notleidend, dass sie nach betriebswirtschaftlichen Regeln abgeschrieben werden müssten.18 Auch die HIPC-Initiative hat daher die der Schuldenkrise immanenten fundamentalen Denkfehler nicht bewältigt. Es ist allenfalls f gelungen, den Ländern kurzfristig ein Minimum an Liquidität zu sichern. Weder die radikalen Strukturanpassungsprogramme der ersten Generation noch deren „sanftere“ Varianten in späteren Jahren haben es zuwege gebracht, die heimische Kapitalbildung in den verschuldeten Ländern ausreichend zu befördern. Nach wie vor sind sie nicht in der Lage, ihre Zahlungsbilanz so zu verbessern, dass sie ihre Schuldendienst-Verpflichtungen erfüllen können, ganz zu schweigen von einer selbst tragenden Entwicklung zur Verbesserung des heimischen Konsumniveaus und zur notwendigen Umstellung auf eine dauerhaft umweltgerechte Wirtschaft. In den letzten zehn Jahren wurde der offene Konflikt um die internationale Verschuldung deutlich entschärft; er ist in der Tat zu einem „low-intensity-conflict“ geworden, wie Susan George schon zehn Jahre zuvor prognostiziert hatte.19 Obwohl über 40 Länder unter die HIPC-Kriterien fallen, ist von einer globalen Krise der internationalen Verschuldung schon lange nicht mehr die Rede. Es erweist sich, dass sowohl die kurzfristigen Überbrückungskredite zur Liquiditätssicherung als auch die längerfristigen Umschuldungsmaßnahmen in erster Linie den Interessen der internationalen Geschäftsbanken gedient haben. In den verschuldeten Ländern selbst zeitigen die Verschuldung und die Maßnahmen zu ihrem Management aber nach wie vor große Wirkungen. In den meisten hoch verschuldeten Ländern ist in den letzten zehn Jahren das reale NettoEinkommen der Bevölkerung deutlich gesunken, hat sich die Kindersterblichkeit erhöht, ist die Lebenserwartung gesunken. Das internationale Finanzsystem hat sich hingegen mit dieser schleichenden Katastrophe in den Ländern des Südens arrangiert. Denn neben dem veränderten Umgang mit den Schuldnern wurde seit dem Ende der Neunziger Jahre der zweite Punkt immer wichtiger: die Verlagerung der internationalen Finanzströme. (1) Neue Kredite wurden an arme Länder in den letzten zehn Jahren sehr viel vorsichtiger vergeben als zuvor. Die ärmsten Länder erfuhren seit den Neunziger Jahren zunehmend eine unfreiwillige Abkopplung vom Weltmarkt: nicht, wie von der afrikanischen Ujamaa-Bewegung oder den Theoretikern des self-reliant development gefordert, um in geschütztem Rahmen eine lokal oder regional tragfähige Ökonomie aufzubauen, sondern weil das internationale Kapital seine Rendite-Erwartungen in den ärmsten Ländern nicht mehr befriedigen konnte. (2) Die Goldgräbermentalität der Akteure auf den Finanzmärkten führte zu einer Verlagerung ihres Interesseschwerpunktes Mitte der Neunziger Jahre weg von den DritteWelt-Krediten zur „new economy“20, von dort, als diese Blase geplatzt war, um die 18 J. J. TEUNISSEN / A. AKKERMAN, Global Imbalances and Developing Countries – Remedies for a Failing International Financial System, Amsterdam 2007. 19 S. George, Debt – a kind of low intensity conflict, f in: IDOC Internazionale (Roma), Vol. 3, 1988, S. 23–26. 20 Der Begriff der „new economy“ ist nicht einheitlich definiert, in der Regel versteht man darunter jedoch überwiegend jene Bereiche neuer Technologien, Produkte und Dienstleistungen, die
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Jahrhundertwende zu den Hedge-Fonds21 und zum so genannten „sub-primemarket“22. Auf jeder dieser Etappe ist die Risikobereitschaft bei den Anlagestrategen weiter und jeweils deutlich gestiegen, für Laien kaum oder gar nicht nachvollziehbar, für Experten jedoch nur wenig kaschiert durch immer komplizierter verschachtelte Finanzmarkt-Produkte. (3) Parallel zu dieser geschilderten Entwicklung kam es zu einer immer intensiveren globalen Vernetzung aller Segmente der Weltfinanzmärkte. Es war deutlich geworden, dass hier exorbitante Gewinne zu erzielen sind, solange das spekulative System hält, mit anderen Worten: solange alle Anleger, oder zumindest der weit überwiegende Teil der Anleger, darauf vertraut, dass das System auch in der nächsten Zeit halten wird. Daher ist es für jene, die bereits im spekulativen System engagiert sind – die beste Strategie, auch ihre – zunächst – risikoaversen Zeitgenossen davon zu überzeugen, Vertrauen und Risikobereitschaft aufzubringen und in den Markt einzusteigen. Nur so sind die zum Teil aggressiven Vermarktungsstrategien internationaler Großbanken zu erklären, die ihre mit hohem Risiko behafteten Produkte dann auch erfolgreich bis in die Kreise von Kleinanlegern verkauften, die sonst in ihrer Anlagestrategie eher konservativ orientiert waren. Durch den geschilderten Leverageeinen nur äußerst geringen Anteil an realen Gütern und Stoffströmen beinhalten: Informationstechnologie, Telekommunikation und Multimedia, aber auch Bio- und Nanotechnologie. Da Ende der Neunziger Jahre hier die „Märkte der Zukunft“ k gesehen wurden, entstand auf den Finanzmärkten ein neues Segment für Risiko-Kapital, mit dem Investoren sich einen Vorsprung bei der Markterschließung sichern wollten. Da die Analysten weltweit die Finanzmarkt-Produkte in diesem Bereich über einige Jahre einheitlich und eindeutig positiv bewerteten, kam es zu einer hoch spekulativen Aufblähung der Kurse, die nach dem Scheitern einiger „new economy“-Unternehmen wieder in sich zusammenfielen. Vgl. D. HENWOOD, After the New Economy, New York / London 2003. 21 Unter dem Begriff „Hedge-Fonds“ werden sehr verschiedene Typen von Investmentsfonds zusammengefasst, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass die Fondsgelder hoch spekulativ angelegt werden. Damit hat sich die ursprüngliche Bedeutung des Hedging auf absurde Weise in sein exaktes Gegenteil verkehrt, denn in der traditionellen Finanzmarktstrategie bedeutete Hedging ein Absichern von offenen Positionen. Typische Hedge-Fonds-Produkte sind Derivate, also Finanzmarktprodukte, deren Wert sich infolge der Änderung eines bestimmten Basiswerts ändert – so werden etwa Zinssätze, Wechselkurse, Rohstoffpreise, aber auch das Wetter als derartige Basiswerte herangezogen. Unter einem Derivat 2. Ordnung versteht man ein Derivat, dessen Basiswert ein anderes Derivat ist. Typisch für Hedge-Fonds sind auch Leerverkäufe, also der Verkauf eines Finanzmarkt-Produktes, das man zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht besitzt. Meist versuchen Hedge-Fonds über den sogenannten Leverage-Effekt eine höhere Fonds-Rendite zu erzielen, indem die Hedge-Fonds-Management zu den von ihnen verwalteten Fonds-Einlagen weitere Kredite am Geldmarkt aufnehmen und in den Fonds einspeisen; dadurch steigt – im günstigen Fall – dessen durchschnittliche Einlagenrendite. Vgl. B. BERG, Die Welt der Hedge-Fonds, Saarbrücken 2006. 22 Der „Sub Prime Market“ besteht aus der Summe von Krediten an Kunden mit sehr geringer oder fehlender Bonität – niedrigem Einkommen, geringem Eigenkapital, bereits bestehender hoher Verschuldung, Vorstrafen oder einem bereits bestehenden Offenbarungseid – sowie aus Finanzmarktprodukten, die diese Kredite einzeln oder als Pakete zahlreicher derartiger Kredite international handelbar machen; vgl. u.a. Y. DEMYANYK / O. VAN HEMERT, Understanding the Subprime Mortgage Crisis, St. Louis / New York 2008. Im Internet unter http://ssrn.com/abstract=1020396.
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Effekt23 kann durch den Mechanismus der Giralgeldschöpfung der Privatbanken die im spekulativen System befindliche Geldmenge um ein Vielfaches der neu eingebrachten Euro, Yen oder Dollar erhöht werden; solange die Goldgräberstimmung hält, kann die Entfernung zur realen Ökonomie offenkundig fast über alle Grenzen wachsen – allerdings nur für eine begrenzte Zeit. Jedoch, wie gezeigt, besteht die Krise der internationalen Verschuldung der Entwicklungsländer nach wie vor. Die Krise wurde gemanagt, ohne das Weltfinanzsystem zu zerstören, im Gegenteil: Man hatte gelernt, mit einem weit höheren Risikopotenzial umzugehen. Die Krise der „new economy“ hatte einen ähnlich strukturierten Lerneffekt hervorgebracht: Auch hier kam es zu einer erheblichen Kapitalvernichtung, die beschönigend als „Bereinigung“ interpretiert wurde, und zu einer Verlagerung auf andere, noch spekulativere Finanzmarktsegmente.
III. Schulden und Schuld – zur ökonomischen Logik der Verschuldung Um die Frage zu untersuchen, ob sich das Management der derzeitigen Krise von den Bewältigungsstrategien der letzten dreißig Jahre unterscheidet oder gar unterscheiden muss, ist es angezeigt, die Fragen nach dem Sinn von Schulden überhaupt und nach dem Verhältnis von Schulden und Schuld zu stellen. Verschuldung macht ökonomisch nur dann einen Sinn, wenn mit der Aufnahme eines Kredits ein „positiver Schuldenzyklus“ aufgebaut werden soll: Die Schulden müssen für eine Anfangsinvestition verwendet werden, die genug Ertrag abwirft, damit nach Begleichung der laufenden Projektkosten, der Tilgung und der Zinszahlungen für den Kredit noch „etwas übrig bleibt“, das je nach Betrachtungsweise als Gewinn oder Risikoprämie des Unternehmers interpretiert werden kann, aus dem dieser wiederum seinen Lebensunterhalt bestreiten oder Geld für weitere Investitionen akkumulieren kann. Kredite dienen als Allokationsinstrument, um „Kapital“ mit „Ideen“ zusammenzubringen und um unternehmerische Risikobereitschaft f zu entlohnen. Ein positiver Schuldenzyklus erhöht daher die Wohlfahrt aller Beteiligter, ist zumindest pareto-optimal.24 Dabei ist allerdings noch nicht geklärt, ob eine Opportunitätskostenrechnung auf der Seite des Gläubigers nicht bessere Anlagemöglichkeiten – und auf der Seite des Schuldners nicht bessere Geldquellen – erbracht hätte. Zinsen, Zinseszinsen oder gar Wucher sind jedoch Tatbestände, deren moralische Beurteilung über viele Jahrhunderte zumindest in der Theorie unbestritten war. Wer die Notlage eines anderen ausnutzt, um ihm – womöglich zu Wucherzinsen – einen Konsumentenkredit anzubieten, anstelle ihm ohne finanzielle Gegenleistung zu helfen, han23
Vgl. Fußnote 21. Das nach Vilfredo Pareto benannte Prinzip der Pareto-Optimalität gilt in einem gesellschaftlichen Zustand, in dem es nicht möglich ist, ein Individuum besser zu stellen, ohne ein anderes gleichzeitig schlechter zu stellen. Vgl.V. PARETO, Manuale di Economia Politica, con una Introduzione alla Scienza Sociale. Milano: Societa Editrice Libraria 1906, Nachdr. Faksilime Düsseldorf 1972.; vgl. auch A. SEN, Development as Freedom. New York 1999, deutsch: Ökonomie für den Menschen, München / Wien 2000, hier S. 152 f. 24
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delt nach gängiger Auffassung mittelalterlicher und nach-mittelalterlicher Theologen, Moralphilosophen und vieler nicht neoklassisch inspirierter Ökonomen einfach unmoralisch, gleichgültig, ob dies national oder international stattfindet.25 Der Wucherer landet schon in der Divina Comedia im „girone quinto“, dem fünften von sieben Hitzegraden des Fegefeuers, zusammen mit den Verschwendungssüchtigen. Im Grunde erlaubt in der Ökonomie erst die Neoklassik eine Denkfigur, nach der auch die Frage der Zulässigkeit von Konsumentenkrediten im Rahmen eines allgemeinen Optimierungskalküls ohne Rekurs auf Moral betrachtet werden kann.26 Um eine erste Annäherung an das Verhältnis zwischen Verschuldung und Schuld zu erhalten, mag eine Erinnerung an die von der scholastischen Philosophie modifizierte Lehre des reinen Zinsverbots hilfreich sein:27 – Der Wucherer, der eine Notlage ausnutzen will, macht sich schuldig. – Gleichermaßen handelt verwerflich, wer aus Luxusstreben ohne Notlage einen Kredit aufnimmt, um mehr konsumieren zu können. – Die wirtschaftliche und soziale Lage beider Partner – des Käufers und des Verkäufers – muss bei der Festsetzung jedes Preises berücksichtigt werden.28 In bestimmten, eingegrenzten Fällen kann dies auch für den „Preis“ von investiv verwendeten Krediten, also für Zinsen – gelten: dann nämlich, wenn der Kreditgeber bereit ist, das Risiko des mit dem Kredit ermöglichten Geschäfts des Kreditnehmers mit zu tragen. Die Behandlung der Investivkredite ist bis heute der entscheidende Punkt bei der ethischen Bewertung des Schuldenmechanismus. Wenn bei einer kreditfinanzierten Investition der Gläubiger nur im Erfolgsfall eine Zahlung erhält, im Falle des Scheiterns er sich jedoch an den Verlusten des Kreditnehmers beteiligen muss, wäre eine Teilung der Verantwortung erreicht. Mit dieser Argumentationsfigur wird bereits von Thomas von Aquin und anderen Scholastikern der Grundstein zur Billigung von Umgehungsgeschäften gelegt: Skonto für die verfrühte Rückzahlung, Schadenersatz für verspätete Rückzahlung
25 Vgl. H. DIEFENBACHER, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Darmstadt 2001, Kap. 2: Eine kurze Geschichte der Idee von gerechten Preisen, S. 41–57. 26 Dazu muss man gedanklich zulassen, dass ein Individuum in seiner Präferenzfunktion eine bestimmte Zeitspanne in die Zukunft mit aufnimmt und seine Wohlfahrt über diese Zeitspanne optimieren möchte. In den Fällen, in denen Individuen ihren Konsum in der Gegenwart sehr viel höher bewerten als Konsum in der Zukunft, könnten auch Konsumentenkredite zur Erhöhung der Wohlfahrt insgesamt beitragen. 27 Vom Hl. Hieronymus (347–420) bis zum Decretum Gratiani (1140) finden sich, insbesondere für Geistliche, äußerst strenge Vorschriften: Nur den Laien sei es erlaubt, irdische Güter zu besitzen, aber auch nur zum Gebrauch; der Geistlichkeit ist es generell untersagt, Handel zu treiben; alles Zinsnehmen sei als Wucher zu betrachten. Auch das Zinsverbot hatte zunächst nur für den Klerus gegolten, wurde dann aber im 9. Jahrhundert auf die Laien ausgedehnt. Vgl. L. BRENTANO, Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte, München 1901.; A. DE TARDE, L’Idée du Juste Prix – Essai de Psychologie Economique, Paris 1907. Vgl. auch DIEFENBACHER (2001), op.cit., S. 44 f. 28 So bereits ca. 1250 bei Albertus Magnus, Ethicorum lib. V, in Auszügen übers. bei K. DIEHLL / P. MOMBERT, Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie, 4 Bde, Jena 3 1923, S. 32.
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eines zinslosen Kredits, stille Teilhaberschaften von Kapitalgebern. Diese Vergütungsformen sind bis heute feste Bestandteile der Geschäftspraktiken islamischer Banken.29
IV. Besonderheiten der internationalen Verschuldung Auf den ersten Blick ist es ohne Bedeutung, ob sich Kreditbeziehungen in einem Land oder über Ländergrenzen hinweg abspielen. Wenn der positive Schuldenzyklus intakt ist, ist es ziemlich gleichgültig, wo die Gläubiger und Schuldner beheimatet sind. Bei näherer Betrachtung gibt es aber einige strukturelle Besonderheiten der internationalen, das heißt grenzüberschreitenden Verschuldung, die unerfreulicherweise gerade dann wichtig werden, wenn der positive Schuldenzyklus nichtt funktioniert. Das gilt noch einmal in besonderer Weise, wenn Staaten als Akteure in den Schuldenzyklus einbezogen sind, entweder direkt als Kreditnehmer oder indirekt als Ausfallbürge für Kreditrisiken. Staatsverschuldung ist in gewisser Weise ein „öffentliches Gut“, oder, im Falle des Scheiterns, eher ein „öffentliches Ungut“. Um Schulden in Devisen zurückzahlen zu können, müssen Länder diese Devisen durch Exportüberschüsse erwirtschaften. Gelingt das nicht, müssen diese Länder versuchen, durch den immer billigeren Verkauf der heimischen Währung gegen Fremdwährung die Auslandsschulden zu bedienen, was sowohl einen Verfall der Wechselkurse als auch h sehr häufig eine Hyperinflation zur Folge hat. Daher müssen Schuldnerländer fast ohne jede Alternative versuchen, Importe zu verringern und Exporte zu steigern, mit anderen Worten: Sie richten die Ökonomie des Landes strukturell nicht mehr auf die Bedürfnisse der Landesbewohner, sondern auf die Bedürfnisse des Auslandes aus. Während der Schuldenkrise Ende des letzten Jahrhunderts betraf dies nahezu alle Schuldnerländer – nicht nur, wie bereits gezeigt, die HIPCLänder. Dieser Mechanismus führt in der Regel dazu, dass die Nutznießer der Kredite im Land nicht dieselben Menschen sind, die später negativ vom Umbau der Ökonomie durch Strukturanpassungsmaßnahmen zur Erzielung von Exportüberschüssen betroffen sind. Aufgrund dieser Diskrepanz bricht dem ökonomischen System eines seiner zentralen Legitimationsgrundlagen weg, nämlich das Verursacherprinzip, demzufolge derjenige die Kosten für eine wirtschaftliche Aktivität aufbringen muss, deren Nutznießer er auch ist oder gewesen ist. Und damit entsteht die Frage, wie hier das Kriterium der Gerechtigkeit in der Ökonomie erfüllt werden kann. Eine zentrale Minimal-Forderung war schon Mitte der achtziger Jahre, dass die Sicherung der Grundbedürfnisse unbedingten Vorrang haben muss vor dem Schuldendienst. Ein zweites zentrales Problem der Organisation internationaler Verschuldungsprozesse entsteht im Blick auf Kriterien der Gerechtigkeit immer dann, wenn die Kreditleistung und die Tilgungszahlungen zeitlich sehr weit auseinander fallen. Sollen Kinder die Schulden der Väter und Mütter zahlen müssen, wenn diese den Kredit bereits konsumtiv verwendet haben – oder wenn der positive Schuldenzyklus nicht funktioniert 29
H. IMRAN, Das islamische Wirtschaftssystem – Normen und Prinzipien einer alternativen Ökonomie, Bremen 22008; vgl. auch M. A. MANNAN, Islamic Economics – Theory and Practice, Cambridge 1986.
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hat? Zentrale Minimal-Forderung war ab Anfang der Neunziger Jahre: Schuldendienstzahlungen dieser Art müssen in Debt-Equity-Swaps30 oder in Gegenwertfonds zur Förderung einheimischer Entwicklungsprojekte transformiert werden, damit sie jenen direkt zu gute kommen, die den Schuldendienst aufbringen, ohne vorher selbst von den Krediten direkt zu profitieren. Ein drittes Problem hat umso gravierendere Auswirkungen, je länger die „NichtLösung“ der Schuldenkrise anhält. Nicht bediente Schulden führen zur Akkumulation von zu verzinsenden Zinsschulden, und darüber hinaus zu steigenden Zinssätzen, da, wie bereits gezeigt, ein „gefährlicher“ Kreditnehmer höhere Zinsen zahlen muss, da sein Kreditrisiko größer ist. Deswegen zahlen arme Länder immer höhere Zinsen als reiche Länder, sofern hier keine quasi-öffentlichen Subventionsprogramme greifen, zum Beispiel Hermes-Bürgschaften oder die Inanspruchnahme von Kreditsicherungsfonds, etwa der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Dieser betriebswirtschaftlich logische kontraphobische Abwehrmechanismus führt volkswirtschaftlich zu widersinnigen Resultaten, da er sich für arme Länder als extremes Entwicklungshindernis erweist, insbesondere für ökologisch und sozial sinnvolle Wirtschaftsprojekte. Der geschilderte Mechanismus führt im schlimmsten Fall dazu, dass eine einmalige Kreditzahlung extrem hohe, theoretisch unbegrenzte Rückzahlungsströme auslöst, wenn der Kreditnehmer weder „endgültig“ bankrott gehtt noch in der Lage ist, den Kredit völlig zu tilgen. Ein dauerhaft hoch verschuldetes aber (noch) solventes Land ist der liebste Kunde aller Banken. Genau dies traf bei den verschuldeten e armen Ländern schon Anfang der achtziger Jahre zu, sodass sich die beschriebene paradoxe Situation ergab, dass die hoch verschuldeten Länder zu Netto-Kapitalexporteuren geworden waren und dies dann über Jahrzehnte hinweg auch blieben, weil sie zwar zu Zinszahlungen noch in der Lage waren, aber die Tilgungsleistungen nicht aufbringen konnten. Fidel Castro hat in einer viel beachteten Rede Mitte 1984 zwischen „legitimer“ und „illegitimer“ Schuld differenziert; letztere bestanden für Castro im wesentlichen aus den Zinseszinsen; er forderte die Entwicklungsländer auf, diese nicht mehr zu bedienen.31 Die Anfrage nach Kriterien der Gerechtigkeit unterscheidet sich im Grunde hier aber kaum von der Wucherproblematik generell. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich hier jedoch ein gemeinsamer Nenner der Kritik von Kirchen und Nicht-Regierungsorganisationen an der Politik von Banken und internationalen Finanzinstitutionen etabliert, die hohe Schuldenstände, die sich vor allem aus der Akkumulation nicht gezahlter Zinsen ergeben, als illegitim bezeichnen.32 30 Unter einem Debt-Equity-Swap versteht man die Transformation von ausstehenden externen Schuldendienst-Zahlungen in inländische Investitionen oder Beteiligungen an einheimischen Unternehmen. Die Bank verkauft eine vermutlich uneinbringliche Forderung, häufig auch notleidende Anleihen, mit einem deutlichen Abschlag. Ein Unternehmen erwirbt einen solchen Titel und tauscht ihn bei der Regierung des verschuldeten Landes gegen dessen heimische Währung ein. Mit dem so erlösten Geld wird dann eine Investition in dem Schuldnerland getätigt. 31 F. CASTRO, War and Crisis in the Americas, in: M. TABER (HG.), FIDEL CASTRO, Speeches 1984–85, New York 1984; vgl. auch PH. O'BRIEN, ’The Debt Cannot Be Paid’: Castro and the Latin American Debt, in: Bulletin of Latin American Research, Vol.5, No.1., 1986, S. 18ff. 32 Vgl. Jubilee South (Hg.), The Injustice of the Debt Burden and the Problem of Illegitimate Debts, 2008. Im Internet unter http://www.jubileesouth.org/index.php?option=com_content& task=blogcategory&id=108&Itemid=97.
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Diese Kategorisierung von Schulden als illegitim wird noch auf einen zweiten Typ von Auslandsverbindlichkeiten angewendet. Auch Schulden zweifelhafter Herkunft und Schulden, bei deren Vergabe bereits erkennbar gewesen sein soll, dass die Gelder ganz oder zu einem erheblichen Teil in zweifelhafte Kanäle verschwinden werden, sollen nach dieser Auffassung weder zurückgezahlt noch bedient werden müssen. Eine der am häufigsten zitierten Behauptungen auf der Höhe der Schuldenkrise 1988 war, dass die Außenverschuldung von Zaire – damals 6 Milliarden US-Dollar – genauso hoch gewesen sei wie das Privatvermögen von Mobutu auf ausländischen Konten.33 Anfragen an Kriterien der Gerechtigkeit nehmen diesbezüglich sehr unterschiedliche Form an: Kann ein ganzes Land in Kollektivhaftung für einen korrupten Despoten genommen werden? Was aber heißt es, wenn die entsprechenden Schulden als illegitim bezeichnet werden: Entmündigt man dann nicht dieses Land? Kann man überhaupt in die Politik und letztendlich in demokratische Strukturen eines Landes eingreifen, um dort einen „besseren Umgang“ mit Geld durchzusetzen? Hieße das nicht letztendlich, die politischen Strukturen eines Landes durch die völlig undemokratischen und an eigenen Profitzielen orientierten Entscheidungsstrukturen des internationalen Bankensystems zu ersetzen? Eine besonders drängende Anfrage an die Gerechtigkeit des Systems macht sich dann an der Tatsache fest, dass die im Rahmen der Korruption „schwarz“ im internationalen Bankensystem geparkten Gelder besonders niedrig verzinst werden, eben weil die Schwarzgeldbesitzer das Geld nicht offen anlegen können. Da die Banken mit diesen Geldern aber im eigenen Namen ganz offiziell arbeiten – gar als neue Kredite ausgeben! – können, ist deren Verdienstspanne bei illegalem Schwarzgeld besonders hoch. Der „Fall Mobutu“ steht für das eine Extrem des Spektrums. Das andere Extrem sind Fälle, in denen demokratisch legitimierte Regierungen von Ländern durch das internationale Finanzsystem in extreme Schwierigkeiten gebracht wurden, weil den internationalen Bankern die kapitalismuskritische Politikk dieser Regierungen nicht gefiel: Jamaica unter Michael Manley34 und Tanzania unter Julius Nyerere35 sind eklatante Beispiele dieser Art.
V. Schulden und Strukturelle Gewalt des Weltwirtschaftssystems Die Anfrage und die Suche nach Kriterien der Gerechtigkeit des Systems der internationalen Verschuldung öffnet den Horizont hin zu einer Analyse des Weltwirtschaftssystems insgesamt. Der Vorwurf an die Adresse der reichen Länder geht dahin, von den 33 Z. B. H. ROTHENSPIELER, Zaires Tragödie heißt Mobutu, in: Graswurzelrevolution Nr. 214, Dezember 1996; Mobuto starb 1997 in Marokko und hinterließ ein Privatvermögen, das zwischen 4 Mrd. und 20 Mrd. US-Dollar geschätzt wurde; vgl. S. VOGEL, Am großen Fluss des Grauens, in: Berliner Zeitung vom 29.7.2006; M. BITALA, Im Dschungel des Kongo, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.1.2001. 34 M. MANLEY, Up the Down Escalator – Development and the International Economy, Washington 1987; H. HENKE, Between Self-Determination and Dependency – Jamaica's Foreign Relations, 1972–1989, Kingston 2000. 35 F. BLISS / F. SCHLICHTING, Julius Nyerere – Ideale eines dörflichen Sozialismus, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 12, Dezember 1999, S. 345–347.
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armen Ländern Dinge zu verlangen, die sie selbst durch ihr an ihrem Eigennutz orientiertes Verhalten unmöglich machen. Aufgrund ungleicher Macht- und damit Verhandlungspositionen auf den Weltmärkten gelingt es den reichen Ländern zu verhindern, dass die armen Länder ausreichend Geld auf den Weltmärkten verdienen können, um sich selbständig aus der Position des Schuldners zu befreien, ja vielleicht sogar einmal in die Position des Gläubigers zu kommen. Die reichen Länder verlangen Freihandel, aber öffnen selbst ihre Märkte nicht. Sie verlangen den Abbau von Handelshemmnissen, zerstören jedoch mit Exportsubventionen für ihre eigenen Produkte die heimischen Märkte der armen Länder. Sie predigen den freien Finanzmarkt, bestehen aber darauf, alle Rechnungen in ihren eigenen Währungen zu fakturieren, deren Wechselkurse sie nach ihren jeweiligen ökonomischen Interessen durch ihre Geldpolitik beeinflussen. Das herrschende Welthandels- und -finanzsystem mag einwandfrei kodifiziert sein, ist aber strukturell gewaltförmig zum Nachteil der Armen, die keine Chance haben, das System rechtlich oder über ihre Kaufkraft an den Märkten zu verändern. Solange ein bestimmtes Exportgut eines Landes auf dem Weltmarkt einen Marktanteil von 0,5 Prozent hat, für dieses Exportland aber 40 bis 70 Prozent seiner Deviseneinnahmen erbringt, solange ist ein solches Land strukturell abhängig. Die Veröffentlichung „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano hat eine ganze Generation von Entwicklungsökonomen von der Ungerechtigkeit derartiger globaler Strukturen auf der Basis der Dependenztheorie überzeugt.36 Interessanterweise ist die Denkfigur der strukturellen Gewalt, die von Forschern des International Peace Research Institute Oslo Anfang der Siebziger Jahre entwickelt wurde,37 bislang fast ausschließlich auf den Nord-Süd-Konflikt bezogen worden. Einige Funktionsmechanismen der eng vernetzten globalen Finanzmärkte könnten jedoch durchaus auch mit dieser Begrifflichkeit gefasst werden. So hat Richard Douthwaite gezeigt, dass die zunehmende Vernetzung der Märkte zu einer Veränderung der Allokation investiver und spekulativer Mittel führen, denn das Finanzkapital sucht nun weltweit – und nicht mehr auf Regionen oder Nationen beschränkt – die profitabelsten Anlagemöglichkeiten. Dies bedeutet, dass die Ersparnisse ärmerer Regionen von den lokalen Zweigstellen des internationalen Bankensystems eingesammelt und in der Regel sofort aus dieser Region abgezogen und in den Metropolen investiert werden.38 Dieser Mechanismus hat erheblich zu einer Verschärfung der regionalen und internationalen Ungleichverteilung beigetragen.
VI. Lösungen? Bis heute ist im Grunde völlig unklar, was im Fall einer endgültigen erklärten Zahlungsunfähigkeit eines Landes geschehen würde. Es gibt kein völkerrechtlich etabliertes 36
E. GALEANO, Die offenen Adern Lateinamerikas, München 1917. T. HØIVIK / J. GALTUNG, Structural and Direct Violence. A Note on Operationalization, in: Journal of Peace Research, Vol. 8, No. 1, 1971. S. 73–76; J. GALTUNG, Strukturelle Gewalt – Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. 38 R. DOUTHWAITE, The Growth Illusion – how economic growth has enriched the few, impoverished the many, and endangered the planet, Dublin 1996. 37
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Insolvenzrecht. In den letzten dreißig Jahren gab es dagegen immer wieder Fälle, in denen Banken eilig neue Kreditpakate schnürten, um einem eigentlich zahlungsunfähigen Land zu ermöglichen, überfällige Zinszahlungen alter Kredite an eben diese Banken zu leisten. Mit derartigen Bumerang-Transaktionen wurde nur das Ziel verfolgt, die Fiktion der Funktionsfähigkeit des Systems und damit das Vertrauen in seinen Fortbestand aufrecht zu erhalten. Parallelen zu den gerade geschnürten Rettungspaketen sind durchaus erkennbar. Das unbedingte Festhalten am System und die Findigkeit beim Entwerfen immer kostspieligerer Rettungsmaßnahmen haben paradoxerweise bislang dazu beigetragen, die Schuldenkrisen als Krisen zu stabilisieren. In der Tat könnte es aber sein, dass trotz der exorbitanten Beträge, die im Herbst und Winter 2008 für eine Rettung des Bankensystems notwendig werden, dies der Weg ist, der kurzfristig mit den noch geringsten (sic!) Kosten verbunden ist. In den 24 Stunden, nachdem im September 2008 der erste Versuch des US-amerikanischen Präsidenten Bush scheiterte, ein Budget von 700 Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen, ist auf den Aktienmärkten Kapital in Höhe von 1.200 Milliarden US-Dollar vernichtet worden.39 Ob eine teure, kurzfristige Rettungsaktion erfolgreich sein kann, entscheidet sich paradoxerweise zweimal. Die erste Hürde muss sehr schnell genommen werden – es könnte sich erweisen, dass entweder das bereit gestellte Kapital nicht ausreicht, oder das es von den Privatbanken gar nicht angenommen wird. So hat die Deutsche Bank bereits am 17.10.2008, dem Tag der Verabschiedung des deutschen Hilfspakets, erklärt, auf dieses Angebot nicht zurückgreifen zu wollen. In den darauffolgenden Wochen hat sich gezeigt, dass das Vertrauen in den Interbankenhandel nur sehr mühsam wieder herzustellen war – die Erklärung der Deutschen Bank deutete schon darauf hin, dass eine Bank, die das Hilfsangebot annahm, das Vertrauen der anderen Banken gerade deswegen vollends verlieren konnte. Ein zweites Mal wird sich der Erfolg oder Misserfolg der Rettungsaktion erst sehr viel später herausstellen – dann nämlich, wenn sich abzeichnen wird, ob die Begleitauflagen, die für die Gewährung von frischem staatlichen Geld erfüllt sein müssen, ausreichen, um die Rahmenbedingungen der Weltfinanzmärkte grundlegend zu ändern. Ist dies nicht der Fall, wird sich die Spirale nur eine Runde weiter drehen: Die Krise der internationalen Verschuldung und der Zusammenbruch der new economy waren jeweils von erheblicher Kapitalvernichtung begleitet, die zu einer Umorientierung der Finanzmärkte führte – auf höherem Risikoniveau und mit weiter steigender Entfernung von der realen Ökonomie. Auch der jetzigen Krise kann eine derartige Entwicklung folgen – dann als Drehbuch zu einem neuen Crash. Die einzige Veränderung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte, die sehr schnell, noch im Jahr 2008, umgesetzt wurde, ist bezeichnenderweise eine weitere Absurdität der Globalisierung: Auf Druck der USA wurde eine vernünftige Bewertungsmethode spekulativer Wertpapiere so geändert, dass diese in den Büchern wertvoller erscheinen, die Bilanzen der Banken sich damit freundlicher lesen. Die Aussetzung der so 39 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Sept. 2008: Finanzkrise in Amerika – 700 Milliarden Dollar für Rettungsplan?
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genannten „mark to market“-Bewertung von Futures und von Derivaten zugunsten einer fixen Bewertung zum Kaufpreis führt zu einer erheblichen und gewollten Verschleierung des Wertes risikobehafteter Portfolios. Es ist kein gutes Zeichen für den Willen zu ernsthaften Veränderungen, dass dieser Prozess mit einer Maßnahme begann, die im Grunde als das Gegenteil von Vertrauensbildung angesehen werden muss. Aber auch die deutsche Regierung muss weit über ihren eigenen Schatten springen, denn in Deutschland waren Hedge-Fonds bis zum Jahre 2004 generell nicht zum öffentlichen Vertrieb zugelassen; eine Lockerung erfolgte erst am 1. Januar 2004 mit dem so genannten Investment-Modernisierungsgesetz (sic!). Von dieser Moderne müsste man sich jetzt zumindest in Teilen wieder verabschieden – genauso wie von der Überzeugung, man habe es nur mit einzelnen, durch Gier fehlgeleiteten Banken, Fonds-Managern oder Investoren zu tun, die man nun wieder auf den rechten Weg bringen müsse. Es ist keine dauerhafte Lösung denkbar, ohne (1) die derzeitige Krise der Weltfinanzmärkte in Verbindung mit der schleichenden Krise der internationalen Verschuldung der Entwicklungsländer in Angriff zu nehmen; (2) hochspekulative Anlageformen durch eine entsprechende Besteuerung der Transaktionen unattraktiv zu machen; (3) in einem „neuen Bretton-Woods-Abkommen“ die Geldmenge der Leitwährungen an einen realen Standard zu koppeln und (4) auf der lokalen und regionalen Ebene durch ein System nicht konvertibler Komplementärwährungen gegenüber dem globalen Finanzmarkt ein „zweites Sicherungsnetz“ einzuziehen. ad (1): Die Weltfinanzkrise kann nicht unter Absehung der nicht gelösten Problematik der internationalen Verschuldung der Entwicklungsländer bewältigt werden. Die jetzige Krise bietet zugleich die Chance, die Rahmenbedingungen der globalen Finanzmärkte so zu ändern, dass sich die Entwicklungsländer aus der Schuldenfalle befreien können. Dazu könnten folgende Maßnahmen gehören. – Eine dauerhafte Begrenzung des Schuldendienstes sollte anhand von Indikatoren der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des verschuldeten Landes vereinbart werden, damit dessen Exporterlöse nicht zu einem permanenten Nettokapitaltransfer führen; – Reformen der internationalen Handelsordnung sind notwendig, damit die Exporterlöse für die Entwicklungsländer höher und vor allem kalkulierbarer werden; Fair Trade Initiativen sind sehr lobenswert, erreichen aber den Kern des Problems nicht. – Reformen in den verschuldeten Ländern müssen auf eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der ärmsten Bevölkerungsgruppen bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen zielen. – Die Eröffnung billiger und vor allem zinsstabiler neuer Kredite würde die Durchführung entwicklungspolitisch relevante Projekte ermöglichen. – Die Schulden der Länder, die die HIPC-Kriterien erfüllen, sollten völlig gestrichen werden. Von diesen Ländern ist nicht zu erwarten, dass sie ihren Schuldendienst in
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absehbarer Zeit leisten können. Ihre wirtschaftliche Lage ist derart katastrophal, dass ein Moratorium hier aus ethischen Gründen geboten ist. Dies betrifft insbesondere die afrikanischen Staaten. Wo immer sich entwicklungspolitisch sinnvolle Möglichkeiten bieten, sollten Schuldendienstzahlungen dekonvertibilisiert und die Rückzahlungssumme für entsprechende Projekte innerhalb der Länder verwendet werden. Als Richtschnur könnte angestrebt werden, mindestens die Hälfte der öffentlichen Schuldendienstzahlungen nicht mehr in „harten“ Währungen zu leisten. Die Regierungen der Gläubigerländer sollten nach Möglichkeit zu einer untereinander abgestimmten Politik finden, die die Gremien der Privatbanken (z. B. Pariser Club) veranlasst, Schuldenerleichterungen zu verabschieden, über die auf Regierungsebene Übereinstimmung erzielt worden ist. Die Gläubigerländer sollten die Schuldnerländer ermutigen, einem Plan der South Commision aus dem Jahre 1988 (!) folgend, ein „Schuldner-Forum“ als regelmäßig tagende Institution einzurichten. Ein solches Forum könnte zumindest dazu dienen, dass die Schuldnerländer ihre Politik und ihre Strategien offiziell miteinander abstimmen könnten. Es könnte die Schuldnerländer überdies befähigen, auf bestimmte Entwicklungen auf den Weltfinanzmärkten gemeinsam zu reagieren. So schnell wie möglich sollten die Industrieländer sämtliche Subventionen für Exporte in Schuldnerländer der Dritten Welt auslaufen lassen; es sollte außerdem zumindest ein Plan für die schrittweise Beseitigung aller nicht-tarifärer Handelshemmnisse erstellt werden. Das gleiche gilt für Zölle, die die Einfuhr höher verarbeiteter Produkte gegenüber der Einfuhr von Rohmaterialien diskriminieren. Es wäre ein nicht gering zu schätzendes symbolisches Zeichen, wenn sich die Industrieländer entschließen würden, zumindest einen kleinen Teil ihrer Sonderziehungsrechte und ihrer Stimmanteile beim IMF auf die armen Länder zu übertragen.
ad (2): In den letzten Jahren ist so intensiv wie ergebnislos die mögliche Einführung einer Besteuerung auf spekulative Finanzmarkt-Transaktionen diskutiert worden. Die TobinSteuer liegt als ausgearbeitetes Konzept vor. Es gibt detaillierte Pläne, wie die Erlöse aus einer solchen Steuer etwa im Rahmen eines neuen Global Marshall Plan für die Verwirklichung der Millennium Development Goals eingesetzt werden könnten. Es gibt keinen Grund, eine solche Besteuerung in den globalen Finanzmärkten nicht einzuführen. ad (3): Die langfristig für die Weltfinanzmärkte vielleicht folgenreichste strukturelle Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen ereignete sich exakt am Sonntag, dem 15. August 1971. Der US-amerikanische Präsident Nixon sah sich damals einer Reihe von Problemen gegenüber, die aus der Sicht von heute wie Lappalien erscheinen, damals aber als schier unüberwindliche Berge wahrgenommen wurden. Aufgrund eines Handelsdefizites von 4 Milliarden US-Dollar und des gleichzeitigen Anstiegs von Arbeitslosenquote und Inflationsrate in Richtung auf 5 Prozent wurde der Goldstandard in den USA abgeschafft, womit das letzte feste Bindeglied zwischen Papiergeld und realen Gütern beseitigt wurde. Nixons Entscheidung zerstörte das Währungssystem, das
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1944 auf der Basis des Goldstandards in Bretton Woods geschaffen worden war und das darauf beruhte, dass der US-Dollar in Gold und alle anderen bedeutenden Währungen wiederum in US-Dollar konvertibel waren. Innerhalb dieses Systems konnten die Länder ihre im Umlauf befindliche Geldmenge so lange ausweiten, wie sie ihre Wechselkurse mit dem Gold-US-Dollar-Standard aufrechterhalten konnten.40 Ohne dieses System stützt sich seitdem der Wert der Währungen auf nichts als auf das Vertrauen, das in sie gesetzt wird. Daher schwanken die Wechselkurse als Antwort auf die Launen des Marktes in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Die monetäre Welt hat seitdem kein Fundament mehr, keine Fixpunkte – sie ist zu einem „gleitenden Nicht-System“ geworden, wie es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal nannte.41 Eine Rückkehr zum System von Bretton Woods alter Prägung wird nicht möglich sein. Sinnvoller könnte in Anbetracht der ökologischen, ebenfalls globalen Krise sein, einen neuen Standard für die Geldmenge der Leitwährungen zu finden, der sich an einem ökologisch verträglichen Energie- und Ressourcenverbrauch orientiert. Ein ausgearbeiteter Vorschlag für ein solches System existiert noch nicht in einer Form, die als Blaupause übernommen werden könnte. Um so dringender erscheint der Vorschlag, in der jetzigen Situation der Krise so bald als möglich auf der Ebene der Vereinten Nationen eine Konferenz zur Erörterung von Rahmenbedingungen eines neuen Weltwährungssystems durchzuführen. ad (4): Vor zehn Jahren haben Richard Douthwaite und der Verfasser dieses Beitrags gemeinsam einen Vorschlag vorgelegt, der sich zum Ziel setzte, die Absicherung lokaler und regionaler Ökonomien gegenüber dem „Import“ von Krisen durch das globale Finanzsystem so weit wie möglich zu gewährleisten. Dieser Vorschlag bestand aus vier Einzelelementen:42 (a) Produktion von Energiedienstleistungen aus lokalen erneuerbaren Energieträgern, die die Bedürfnisse der Region soweit wie möglich befriedigen; (b) Produktion von naturbelassenen Nahrungsmitteln und von Kleidung ebenfalls ohne externe Inputs und in einem Umfang, mit dem die Bedürfnisse der Region soweit wie möglich befriedigt werden können; (c) Aufbau eines lokal unabhängigen Banken- und Kreditwesens, so dass Ersparnisse der Region auch Projekten in der Region zugute kommen – und zwar zu Kreditbedingungen, die diese Projekte durchführbar machen. Die Ersparnisse der Region sollten nicht durch Institutionen oder Unternehmen geleitet werden, die durch Krisen der Weltfinanzmärkte gefährdet sind;
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Eine prägnante Schilderung der Auswirkungen der Politik der USA findet sich auch bei T. KUNANAYAKAM, Die internationale Verschuldung der Entwicklungsländer – Ursachen und Interessen. Gewinner und Verlierer, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 36. Jg., Heft 1, 1992, S. 41–60. 41 Zit. bei J. KURTZMAN, The Death of Money, New York 1993, S. 51. 42 R. DOUTHWAITE / H. DIEFENBACHER, Jenseits der Globalisierung – Handbuch für lokale Ökonomie, Mainz 1988, S. 87f.
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(d) Aufbau einer unabhängigen lokalen Währung oder einer Verrechnungseinheit, so dass in einer Gemeinde oder einer Region der Austausch von Gütern und Dienstleistungen unabhängig vom Geldangebot in Landeswährung oder von „harten Devisen“ der Weltfinanzmärkte funktionieren kann – wenn auch vielleicht auf niedrigerem Niveau. Die vier Punkte sind nach zunehmendem Utopiegehalt geordnet. In Zeiten von Finanzkrisen wird es jedoch wahrscheinlicher, dass auch die beiden letzten Punkte ernsthaft diskutiert und Wege zu ihrer Verwirklichung gesucht werden. Auf der Suche nach einer gerechten Welt erscheint eine doppelte Strategie unverzichtbar: Eine Reform der internationalen Finanzmarktordnung muss verbunden werden mit dem Versuch, in der eigenen Region das jeweils Mögliche umzusetzen.
Bibliographie ALBERTUS MAGNUs, Ethicorum lib. V, in Auszügen übers. bei K. DIEHL / P. MOMBERt, Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie, 4 Bde, Jena 31923. B. BERG, Die Welt der Hedge-Fonds, Saarbrücken 2006. M. BITALA, Im Dschungel des Kongo, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.1.2001. F. BLISS / F. SCHLICHTING, Julius Nyerere – Ideale eines dörflichen Sozialismus, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 12, Dezember 1999, S. 345–347. L. BRENTANO, Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte, München 1901. Bundesverband Deutscher Banken, Währungsrechner – Wechselkurse für 160 Währungen. Im Internet unter http://www.bankenverband.de/waehrungsrechner/index-xi.asp. F. CASTRO, War and Crisis in the Americas, in: M. TABER (Hg.), Fidel Castro, Speeches 1984–85, New York 1984. M. DARBOE, Presse-Erklärung in Johannesburg am 9.10.2008. Im Internet unter: http://www.wfp.org/german/?ModuleID=127&Key=504. Y. DEMYANYK / O. VAN HEMERT, Understanding the Subprime Mortgage Crisis, St. Louis / New York 2008. Im Internet unter http://ssrn.com/abstract=1020396. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, Weltbevölkerungsuhr. Im Internet unter http://www.dswonline.de/info-service/weltbevoelkerungsuhr.php?navanchor=1010037. H. DIEFENBACHER, Die internationale Verschuldung – Krise als Dauerzustand?, in: G. KRELL / E. BAHR / J. SCHWERDTFEGER (Hg.), Friedensgutachten 1990, Münster 1990, S. 41–50. H. DIEFENBACHER, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Darmstadt 2001. K. DIEHL, / P. MOMBERT, Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie, 4 Bde, Jena 31923. Dissent! – Network of Resistance against the G8 (Hg.), We will disrupt this conferene – Resistance to the 1988 IMF and World Bank Conference in West Berlin. Im Internet unter http://www.daysofdissent.org.uk/berlin.htm.
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Ressourcen – Entwicklung – Internationale Gerechtigkeit ULRICH RATSCH
Inhalt I. II. III.
Einleitung: Rohstoffhandel als Gerechtigkeitsproblem Fallbeispiele Fazit
I. Einleitung: Rohstoffhandel als Gerechtigkeitsproblem Die Niederländische Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oost-Indische Compagnie, VOC) gilt als erster multinationaler Konzern. Von ihrem Hauptsitz in Batavia (heute Djakarta) betrieb sie seit Beginn des 17. Jahrhunderts Gewürzhandel. Besonders ertragreich war das Geschäft mit der Muskatnuss von den Molukken, deren Wert auf dem europäischen Markt damals den der gleichen Menge an Gold überstieg. Molukkenstämme, die auch mit Kaufleuten anderer Staaten Handel treiben wollten, um höhere Preise zu erzielen, wurden von der VOC mit Waffengewalt bestraft; so schützte sie ihr Monopol für dieses Gewürz.1 Schon damals ging es im internationalen Handel mit Ressourcen nicht immer gerecht zu und das gilt noch heute. Ungerechtigkeiten manifestieren sich zum einen als Ungleichgewichte und mangelnde Chancengleichheit im Vergleich von Staaten, insbesondere zwischen Staaten des Nordens und des Südens zum anderen in Form von Verelendung und verwehrten Entwicklungschancen für Individuen und substaatliche Kollektive. Im Blick auf das Verhältnis der Industriestaaten zu den so genannten Entwicklungsländern schreibt die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): „Die Nord-Süd-Problematik verschärft sich, die Kluft zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern wird in vielen Bereichen immer größer.“2 Trotz der geringeren Bevölkerungszahl hat der Norden einen erheblich höheren Anteil am Verbrauch globaler Ressourcen als der Süden. Wenn sich die terms of trade langfristig verschlechtern, erzielen rohstoffexportierende Länder bei gleichen Exportmengen sinkende Einnahmen, müssen jedoch zugleich für Industrieprodukte, die sie für ihre wirtschaftliche Entwick1 J. SARASWATI, Entwicklungspfade einer Übergangsgesellschaft am Beispiel Indonesiens, Diss. Phil Fak III Universität Regensburg 2002, S. 67f. 2 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007. S. 15.
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lung benötigen, steigende Preise bezahlen. Die Deviseneinnahmen aus dem Verkauf der landeseigenen Ressourcen reichen immer weniger aus, die angestrebte wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zu finanzieren. Auch in der Schuldenkrise sind ungerechte Strukturen zu beobachten: Ein Motor wachsender Verschuldung von Ländern der Dritten Welt ist, dass sie als säumige Schuldner immer höhere Zinsen auferlegt bekommen (Risikozuschläge), dadurch immer weniger in der Lage sind, den Schuldendienst zu erbringen: sie bewegen sich in einem Teufelskreis3. Der Handlungsspielraum vieler Länder des Südens wird durch diese Handelsund Zahlungsdisparitäten immer geringer, die Entwicklungschancen schwinden. Es ist plausibel, dass die Ungleichheiten zwischen Staaten, auch in Bezug auf die Ressourcenausstattung, die Gewinnung und den Handel mit Rohstoffen, als ungerecht erfahren werden. Die genannten Probleme sind ohne Zweifel entwicklungsrelevant, und es handelt sich offenbar um Defizite internationaler Gerechtigkeit. In diesem Band kommen sie in den Artikeln von Diefenbacher, Rademacher, Teichert und Valta zur Sprache. Ungerechtigkeiten auf der zwischenstaatlichen Ebene sollen nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Die Rede von der Entwicklung des Staates, wie sie sich in gesamtwirtschaftlichen statistischen Werten abbildet, verbirgt evtl. vorhandene Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaften. Sie kann den Blick auf entscheidende Zusammenhänge und Wechselwirkungen verstellen. Es lohnt, hinter dem Staat den Dschungel von Parteiinteressen, Wirtschaftsverbänden, streitenden Ethnien, ausländischen Lobbyisten, Hegemonialmächten etc. zu betrachten, deren mehr oder weniger gewaltförmige Einmischung erheblich zu den beklagenswerten ungerechten Entscheidungen dieses Staates beitragen. Das Bruttosozialprodukt eines Landes kann wachsen, das Pro-Kopf-Einkommen steigen und zugleich die Not der marginalisierten Bevölkerung sich verschärfen. Während dabei die Diskrepanz im Nord-Süd-Vergleich abnehmen kann, nimmt die interne Ungerechtigkeit zu. Es muss deshalb auch gefragt werden, welche schädlichen Auswirkungen die internationale Ressourcenwirtschaft auf Individuen und Gruppen innerhalb von Staaten, insbesondere des Südens, haben können. Darauf richtet sich das Augenmerk dieses Artikels. Diese Formen von Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, ist auch das Anliegen kirchlicher Hilfswerke in Deutschland, wie Brot für die Welt, EED oder Misereor. Gerechtigkeit ist für die Arbeit dieser Werke ein zentraler Begriff. Brot für die Welt betitelt sein Grundlagenpapier „Den Armen Gerechtigkeit“, und auch der Titel der Grundorientierung des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) „Frieden und Gerechtigkeit suchen – Schöpfung bewahren – voneinander lernen“, weist den Weg, den „Entwicklung“ gehen soll. In beiden Titeln steht das Wort „Gerechtigkeit“ sowohl für ein Ziel dieses Weges als auch für eine notwendige Bedingung, andere Teilziele zu erreichen. Im Detail streben Entwicklungsprogramme an, die verfügbare Nahrungsmenge zu steigern, die Versorgung mit sauberem Wasser zu sichern, angemessene Ausbildung und medizinische Betreuung zu ermöglichen etc. Das Ziel „Gerechtigkeit“ beinhaltet, den Menschen in den Ländern des Südens – zumindest den Zielgruppen der Projekte – die Chance zu eröffnen, alle diese Bedürfnisse auf menschenwürdige Weise zu befriedi3
Vgl. die Beiträge von DIEFENBACHER und TEICHERT in diesem Band.
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gen. Dazu aber, das ist die Erfahrung aus Jahrzehnten der Entwicklungszusammenarbeit, müssen zunächst Ungerechtigkeiten verschiedener Art beseitigt werden. Ein alter Leitspruch für den Entwicklungsansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ war naiv: Gib einem Menschen einen Fisch und er hat für einen Tag zu essen; lehre ihn fischen, und er hat sein Leben lang zu essen. Um nicht naiv zu sein, muss der Spruch um den Zusatz ergänzt werden: „… Sofern er nicht unter Androhung von Gewalt am Fischen gehindert wird und falls kein anderer seine Fischgründe mit industriellen Fangmethoden ausgeplündert hat.“ Denn in diesem – weiter unten im Beitrag zu explizierenden – Fall helfen ihm sein Wissen um die Fischgründe und seine Kenntnis der ihm verfügbaren Fangtechnik nicht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieser Typus von Ungerechtigkeiten, der mit der Gewinnung und Verteilung von Ressourcen sowie dem Rohstoffhandel einhergehen kann, soll an drei Beispielen dargestellt werden. Eine Auswahl aus der Vielfalt möglicher Beispiele zu treffen, fällt schwer. Für zu viele ökonomisch verwertbare Ressourcen gilt, dass ihre Gewinnung und Nutzung mit evidenten Ungerechtigkeiten verbunden ist: − Tropische Wälder werden zerstört, um Edelhölzer zu gewinnen, um Flächen für Rinderzucht freizulegen oder große Monokultur-Plantagen anzulegen. Gleich, für welchen Zweck die Abholzung erfolgt, sie ist eine Gefahr für die Artenvielfalt und sie zerstört Lebensräume von Menschen oder begrenzt sie auf so kleine Gebiete, dass die indigenen Völker häufig zu nicht nachhaltigen Formen landwirtschaftlicher Produktion gezwungen werden. Gewinne und Verluste sind extrem ungleich verteilt. − Nicht nur in Gebieten ehemaliger Tropenwälder, sondern auch in traditionell landwirtschaftlich genutzten Regionen verdrängt großindustrielle agrarische Produktion von Exportgütern in vielen Ländern des Südens die Nahrungsmittelerzeugung für den einheimischen Markt. Auch dies ist eine Ursache für Unterernährung und Armut. − Der unstillbare Durst der hochindustrialisierten Gesellschaften nach fossilen Energieträgern führt – seit mindestens 40 Jahren vorhersehbar – zur Erschöpfung der Vorräte, zu bereits spürbaren Klimaveränderungen und – im Zusammenwirken mit Spekulation an den Warenterminbörsen – zu teils dramatischen Preissprüngen. Im Bestreben, die fossilen Energieträger zu substituieren, werden auf Agrarflächen pflanzliche Energieressourcen angebaut – auch hierfür werden Tropenwälder gerodet –, was zu einer Verteuerung und Verknappung von Lebensmitteln führt.4 Die reichen Gesellschaften des Nordens sind von den Preissprüngen der fossilen Energieträger und steigenden Lebensmittelpreisen vergleichsweise wenig betroffen. Für die Armen in den Ländern des Südens sind sie existenzbedrohend. − Die Privatisierung der Wasserversorgung brachte zum Beispiel den Kunden in England Unannehmlichkeiten wegen steigender Preise und unzuverlässiger Lieferung, in einigen Großstädten des Südens hingegen führten die für Arme unerschwinglichen Preise zu existenzieller Not, die sich zum Teil in gewaltsamen Konflikten entlud.5 4 Vom Biodiesel zum Hungerdiesel, in: Rettett den Regenwald e. V., Regenwaldreport 2/2008, S. 6–8. 5 U. RATSCH, Privatisierung der Wasserversorgung als Konfliktursache, in: CHR. WELLER / U. RATSCH / R. MUTZ / B. SCHOCH / C. HAUSWEDELL, Friedensgutachten 2004, Münster 2004,
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Dies sind nur einige Beispiele, zusätzlich zu den bereits genannten generellen Themen der Verschuldung oder der terms of trade, die die Ressourcennutzung zum Gegenstand der Debatte internationaler (Un-)gerechtigkeit machen kann. Zwei Kriterien bestimmten die hier getroffene Auswahl: 1. Die Beispiele sollten geeignet erscheinen, verschiedene Aspekte internationaler Gerechtigkeit vor Augen zu führen und unterschiedliche Akteurskonstellationen zu illustrieren. 2. Mit den dargestellten Fällen soll verdeutlicht werden können, dass einfache Schuldzuweisungen nicht dazu taugen, die zu beobachtenden Ungerechtigkeiten zu erklären. Nicht nur die Kolonialherren haben bei ihrer Gewinnung von Rohstoffen in den südlichen Kontinenten die Prinzipien der Verteilungs- und der Chancengerechtigkeit missachtet, wenn auch das koloniale Erbe bis heute an vielen Orten Strukturen geprägt hat, die fortdauernde Ungerechtigkeiten begünstigen. Auch können als ungerecht erfahrene Disparitäten innerhalb der Gesellschaften von Entwicklungsländern und im globalen Nord-Süd-Vergleich weder allein dem Missbrauch der wirtschaftlichen Macht der Staaten des Nordens noch ausschließlich dem Gewinnstreben Transnationaler Unternehmen zur Last gelegt werden. In der Regel liegt vielmehr ein Zusammenspiel vieler sehr unterschiedlicher Akteure vor.
II. Fallbeispiele II.1 Zerstörung des Lebensraums indigener Völker durch Erdölförderung oder Bergbau a) Beispiele dafür, dass Staaten des Südens aus dem Rohstoffhandel Gewinn erzielen können, zugleich aber Bürger des Staates Grund haben, Ungerechtigkeiten zu beklagen, bietet, neben vielen anderen, die Erdölförderung. Im Nigerdelta und im Amazonasregenwald (z. B. in Ecuador oder in Bolivien) wird in ökologisch sensiblen Gebieten Öl gefördert und durch Pipelines abtransportiert. Betreiber sind Ölkonzerne, die im Rahmen von Konzessionen der Regierungen arbeiten. Für die Staatshaushalte sind die Konzessionsabgaben eine willkommene Einkommensquelle. Zumindest für einige dieser Projekte gibt es zusätzlich Abkommen mit der Weltbank. Sie unterstützt die Projekte finanziell unter Auflagen, die die ökologische und soziale Unbedenklichkeit sicherstellen sollen. Diese Auflagen werden aber nicht korrekt eingehalten6. Immer wieder tritt Öl aus Lecks in den Pipelines aus und verunreinigt Böden, Grundwasser und Flüsse in den Lebensräumen der Ureinwohner. Wegen der Vergiftung von Trinkwasser und der teilweisen Vernichtung von Nahrungsquellen leiden die Ureinwohner unter Gesundheitsschäden. Letztlich werden sie aus ihren angestammten Wohngebieten vertrieben, viele wandern in die Slums von Städten ab. Kompensationsleistungen werden nicht oder so schleppend erbracht, dass sie nicht helfen können, das Überleben der Betroffenen zu sichern. S. 234–242.; vgl. auch D. ZINNBAUER, Korruption gräbt Afrika das Wasser ab, in: Forum Nachhaltig Wirtschaften, 3/2008, S. 46. 6 Deutscher Bundestag fordert: Das Öl soll im Boden bleiben, in: Rettett den Regenwald e.V., Regenwaldreport 2/2008, S. 4–5.
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Die Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft kommen offenbar nicht oder nur höchst unzulänglich der gesellschaftlichen Entwicklung zugute. Das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung, die Förderung des Handwerks und kleinindustrieller Betriebe in ländlichen Gebieten ließen und lassen zu wünschen übrig. Diese Versäumnisse haben mit den Regierungssystemen und den hierarchischen Strukturen der Gesellschaft zu tun: Autoritäre Herrschaftsformen, Nepotismus, Korruption, Priorität für die Finanzierung des Sicherheitsapparats etc. Die Korruption ist das Einfallstor, durch das internationale Akteure drängen, um sich an der Stabilisierung innerstaatlicher Ungerechtigkeit zu beteiligen. Wollte man diese Strukturen richtig verstehen, dürfte man nicht bei simplen Dualen wie Oben-Unten (Diktator und Unterworfene, Reiche und Arme) oder Nord-Süd (korrumpierende Handelspartner und vergleichsweise machtlose Administration des Entwicklungslands) operieren. Man müsste auch die internen Verwerfungen zwischen Ethnien, Religionen und Regionen sowie die Geschichte (koloniales Erbe, Sukzession von Regierungen, die eine jeweils unterschiedliche Klientel zu bedienen haben) durchleuchten. Das ist hier nicht leistbar7. b) Strukturell ähnliche Gerechtigkeitsdefizite lassen sich anhand zweier Tagebaubergwerke in Papua Neuguinea (PNG) beschreiben. Die ältere ist die Panguna-Mine auf der Insel Bougainville, die zweite die Ok Tedi-Mine in der Westprovinz (Fly River Provinz), nahe der Grenze zu Irian Jaya (Indonesien). In beiden Bergwerken wird Kupfererz abgebaut, anfangs auch Gold. Betreiber der Minen sind Konsortien, denen ausländische (australische) Bergbaufirmen und die Regierung von PNG angehören. Einer der Hauptkunden ist die deutsche Metallhütte „Norddeutsche Affinerie“.8 Das Gebiet des heutigen Staates Papua-Neuguinea ( PNG) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter UN-Mandat von Australien verwaltet. Das Mandat erstreckte sich auch über die Insel Bougainville, deren Bevölkerung ethnisch nicht zur Majorität der Menschen in PNG gehört. Als PNG im Jahre 1975 die staatliche Unabhängigkeit erlangte, wurde Bougainville von PNG annektiert. Trotz der erklärten Absicht der Inselbewohner, einen von PNG unabhängigen Staat zu bilden, wurde diese Annektion von der Staatengemeinschaft akzeptiert. Wegen der Erfahrungen von Katanga und Biafra fürchteten die UN unfriedliche Folgen der Sezession und verweigerten sich dem Antrag. Während der Mandatszeit konzentrierte sich das Interesse Australiens auf die Verwertung der natürlichen Ressourcen der verwalteten Gebiete9, neben Kupfer waren es vor allem Holz und Früchte. Trotz UN-Mahnungen wurden auch keine Vorbereitungen für eine Unabhängigkeit getroffen. Ab Mitte der 1960er Jahre suchten Vertreter der Bevölkerung der Mandatsgebiete Gespräche über „besondere Beziehungen“ zwischen 7 Vgl. etwa die Ergebnisse der Arbeitsgruppe “Peace Building and Development Cooperation” der „Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung“ (GKKE), Zusammengefasst im Bericht „Hotspot Nigeria“, http://www3.gkke.org/publikationen/2006/. 8 Zur Panguna-Mine vgl. D. DENOON, Getting Under the Skin, The Bougainville Copper Agreement and the Creation of the Panguna Mine, Melbourne University Press 2000; zu Ok Tedi vgl. O. KREYE, Mining and Economic-ecological Development in Papua New Guinea, in: H.-M. SCHOELL (Hg.), g Environment and Development, Point series 18, Goroka, Papua Neu Guinea 1994. 9 KREYE, a.a.O., S. 33ff.
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der Region PNG und Australien. Sie erhielten die hinhaltende Antwort: Statusänderungen setzten eine wirtschaftliche Entwicklung voraus. Das ist grundsätzlich zwar richtig, die Mandatsmacht unternahm aber wenig, eine auf Selbständigkeit zielende Entwicklung anzustoßen.10 Erst ein Regierungswechsel in Canberra 1972 machte den Weg für Unabhängigkeitsverhandlungen frei. Im Fall Bougainville kommt hinzu, dass die Insel von Papua Neu Guinea gegen den Willen der Bewohner okkupiert wurde. Die Geschädigten klagten deshalb auch darüber, dass ein feindlicher Staat den Gewinn aus dem ihnen zugefügten Schaden zieht. So gesehen wurde für die Inselbewohner die seit dem 19. Jahrhundert erlebte wechselhafte koloniale Vergangenheit unter einer neuen Herrschaft fortgesetzt. Mitte der 1960er Jahre begannen die geologischen Erkundungen für das beabsichtigte Kupferbergwerk Panguna auf Bougainville. Die Bevölkerung in der Umgebung der Lagerstätte, mit nur einzelnen Ausnahmen, widersprach der Kupfer-Exploration aus Sorge, dass sie von der Förderung zu wenig Nutzen haben werden und später, wenn sie einen selbständigen Staat erhalten, kein Kupfer mehr vorhanden sein werde.11 Die Sorge nährte sich aus den Erfahrungen mit dem früheren Goldabbau (kurz nach dem zweiten Weltkrieg eingestellt, da er nicht mehr ergiebig war) und der Ausbeutung pflanzlicher Ressourcen. Die Opposition mündete 1966 in gewaltsame Zusammenstöße zwischen Eingeborenen und weißen Geologen-Teams. Der Widerstand nahm zu, als die Eingriffe in die Natur größer wurden. Für den Tagebau der Gold-/Kupferminen und die Transportwege wurden große Waldflächen abgeholzt. Außerdem wurden Böden und Flüsse in der Umgebung der Minen durch giftige Schlämme und Abwässer verunreinigt. Diese ökologischen Schäden hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Waldbewohner, die ihren Lebensunterhalt durch Nutzung der Produkte des Urwalds und durch Flussfischerei bestritten. Nutznießer sind die ausländischen Firmen, die Regierung von PNG und mittelbar die Käufer des Kupfers. Die lokale Bevölkerung, deren Lebensraum zerstört wurde, hat fast keinen Anteil am Gewinn der Mine. Sofern die Gewinnanteile der Regierung überhaupt in Entwicklungsmaßnahmen fließen, kamen sie den Geschädigten nur selten zugute. Vertreter der Bevölkerung um Panguna klagten, dass die Weißen die traditionellen Rechte „auf den Kopf stellen“.12 Nach ihrem traditionellen Rechtsverständnis gehörte der Boden, auf dem sie lebten und arbeiteten, ihnen und mit dem Boden alles, was sich darunter befindet. Die australische Administration und die beauftragte Bergbaufirma Conzinc Rio Tinto of Australia (CRA) hingegen stützten sich auf das britische Prinzip, dass Bodenschätze unter der Oberfläche der Krone gehören und somit die australische Regierung, stellvertretend für die Krone, berechtigt sei, sie nach Gutdünken auszubeuten. Geschehen konnte dies allerdings nicht, ohne den seit Jahrhundert dort Siedelnden auch die Oberfläche zu nehmen. Das von der australischen Regierung für die Mandatsgebiete geschaffene Bergrecht sah vor, dass die Bewohner, insbesondere wenn sie als 10
KREYE, a.a.O., S. 37. D. DENOON, Getting Under the Skin, The Bougainville Copper Agreement and the Creation of the Panguna Mine, Melbourne University Press 2000, S. 62, 64f. 12 DENOON, a.a.O., S. 77. 11
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Landbesitzer anerkannt waren, Einspruch gegen geplante Minen einlegen konnten. Die Verwaltung konnte diese Einsprüche aber ohne lange Verhandlungen übergehen. Die Bewohner hätten nach dem Wortlaut des Gesetzes über zu erwartende Schäden an ihrem Besitz informiert werden müssen; das geschah jedoch nicht. Auch sah das Gesetz Kompensationen und eine 5%-Beteiligung an den „royalties“ vor, welche die Bergbaufirma zu entrichten hatte. Aber nur in Einzelfällen erhielten Landbesitzer Entschädigungen von der CRA, ansonsten wurde diese Regelung missachtet.13 Schließlich wurden auch Höflichkeitsregeln übertreten: Explorationsteams drangen ohne Voranmeldung in Dörfer ein, um Messungen vorzunehmen. Auf diese Weise wurde den Einwohnern von Bougainville vermittelt, dass ihr eigenes Rechtssystem minderwertig und durch das System der Herrschenden zu ersetzen sei, und dass sie, darüber hinaus, auch nicht wert seien, in den vollen Genuss der Regelungen des für sie fremden Rechts zu gelangen oder auch nur höflich behandelt zu werden. Die lokale Administration und die Minenbetreiber handelten ausschließlich aus der Position des Stärkeren. Das koloniale Recht des Stärkeren führt notwendig zu Ungerechtigkeit, weil es die Untergebenen nicht nach ihren Fähigkeiten und Zielen unterscheidet, sondern nach ihrer Herkunft bewertet. Den als geringerwertig Eingestuften wird damit de facto das Recht auf selbstbestimmtes Leben verweigert. Im Falle konkurrierender Rechtsansprüche wird das Recht des Herrschenden nicht gegen die Erwartungen und Ansprüche der Unterworfenen abgewogen.14 Der zunächst passive, später auch aktive Widerstand der betroffenen Menschen wurde mit Polizeigewalt unter Einsatz von Tränengas und durch Verhaftungen überwunden. Davon erfuhr die australische Öffentlichkeit aus zum Teil übertriebenen Berichten australischer Journalisten. Sie lösten eine Welle der Empörung aus, die zum Ergebnis hatte, die Eskalation der Gewalt von Seiten der Verwaltung, der CRA und der Polizei zu unterbinden. Nachdem der Staat PNG unabhängig geworden war und Bougainville annektiert hatte, verband sich der Widerstand gegen die Pangunamine mit dem weiter bestehenden Sezessionswunsch der Bevölkerung von Bougainville. Beides kumulierte in einem Bürgerkrieg, der von 1989 bis 2001 dauerte.15 Die Friedensvereinbarung brachte der Insel den Status einer autonomen Provinz innerhalb PNGs. Während des Bürgerkriegs war die Panguna-Mine Ziel militärischer Angriffe. Sie wurde 1989 endgültig geschlossen. Die Bewohner Bougainvilles erlebten das typische Verhalten von Kolonialmächten: ausschließliches Interesse an den Ressourcen des Landes, geringer Respekt vor der Kultur und Ignoranz gegenüber dem traditionellen Rechtsverständnis der einheimischen Bevölkerung. Auch die Regierung von PNG wurde als derartige Fremdherrschaft erfahren. Man kann fragen, ob der Zugriff auf Ressourcen mit weniger Ungerechtigkeit verbunden ist, wenn er nicht durch eine Kolonialmacht und – gewaltförmige – Ausbeutung erfolgt, sondern durch eine „eigene“ Regierung, die sich Entwicklungsmöglichkeiten 13
DENOON, a.a.O., 49, 59. Weder Rechtssicherheit noch Verfahrensgerechtigkeit waren gegeben, wichtige Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung, s. den Beitrag von EBERHARD SCHMIDT-AßMANN in diesem Band. 15 Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF), Universität Hamburg, Internet-Archiv (http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/archiv_asien.htm. Stand vom 30.03.2009). 14
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aus der Rohstoffgewinnung und dem internationalen Handel mit Abnehmern in Industriestaaten verspricht. Eine Garantie für gerechtes Vorgehen bieten leider auch die nachkolonialen Verwaltungsstrukturen in Entwicklungsländern nicht. Das zeigt das Beispiel der anderen, oben genannten Kupfermine Ok Tedi. Nach der Schließung der Panguna-Mine war dieses neue Kupferbergwerk, dessen Betrieb 1984 begann, für PNG wirtschaftlich besonders wichtig. Dazu wird Ok Tedi Mining Ltd. (OTML) gegründet, ein Konsortium unter Leitung der australischen Broken Hill Proprietary Company (BHP) mit Beteiligung der Regierung von PNG. Die Betreiberfirma erhält 90% der Devisenerlöse aus dem Kupferverkauf, 10% gehen an den Staat. Für PNG sind das immerhin 40% seiner gesamten Deviseneinnahmen. Der Nutzen für die Bevölkerung blieb aber auch in diesem Fall gering. Einen finanziellen Vorteil hatten ausschließlich die Landbesitzer, deren Land direkt für den Minenbetrieb benötigt wurde; alle flussabwärts Lebenden erhielten nichts. Sie profitierten auch nicht von Entwicklungsprojekten, die aus den Kupfererlösen (royalties) von der Regierung durchgeführt wurden,16 aber von den ökologischen Schäden waren sie so stark betroffen, dass sie ihre Lebensgewohnheiten völlig umstellen mussten, um überleben zu können.17 Auch im Falle Ok Tedi wurden also Versprechungen, die den im Umland, vor allem flussabwärts am Ok Tedi und am Fly River wohnenden Menschen vor dem Betriebsbeginn gegeben wurden, gebrochen. Eine Umweltfolgenabschätzung (Environmental Impact Assessment) war davon ausgegangen, dass ein zu bauender Damm die AbraumSchlämme einschließt, so dass „…the greatest physical disturbance will occur only in the mining region“. Der Damm wurde nie gebaut, eine neue Umweltfolgenabschätzung gab es nicht.18 Die Regierung von PNG verfügte weder finanziell noch wissenschaftlich über die Mittel, eigene Untersuchungen zu machen, diese wurden von OTML geliefert. Die Regierung war auf die Einnahmen so dringend angewiesen und hatte so hohes Interesse an der ungestörten Operation der Ok Tedi Mine, dass sie nicht wagte, Druck auf OTML auszuüben. So landete der unbehandelte Abraum über viele Jahre an den Ufern der Flüsse und auf Schwemmlandgebieten. Für den Verlust der Nutzungsmöglichkeiten erhielten die Flussanrainer keine Kompensation von OTML, und zwar mit Einwilligung der Regierung; die Anrainer selbst waren von den Verhandlungen zwischen Regierung und OTML ausgeschlossen.19 Der Betrieb der Mine(n) schaffte Arbeitsplätze – in der Ok Tedi-Mine allerdings weniger für die lokale, also von den Schäden betroffene Bevölkerung als für Arbeiter aus anderen Provinzen oder dem Ausland.20 In der Panguna-Mine und den zugehörigen Infrastruktureinrichtungen waren es insgesamt bis zu 5000 Arbeitsplätzen.21 Dieser Nutzen hatte aber auch Schattenseiten: die großen Einkommensunterschiede zwischen Ausländern und Einheimischen und zwischen den Minenarbeitern und Arbeitern in anderen Sektoren von Bougainville (z. B. Plantagenarbeiter) lösten soziale Spannungen 16 17 18 19 20 21
KREYE, a.a.O. 94f. KREYE, a.a.O. 96f. KREYE, a.a.O. 91. KREYE, a.a.O., S. 93. KREYE, a.a.O., S. 84. DENOON, a.a.O., S. 151.
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aus. Hinzu kamen soziale Entwurzelung und steigender Alkoholismus. An den Rändern der Küstenorte entstanden Elendsviertel.22 c) Die geschilderten Konfliktabläufe in PNG liegen einige Jahre bis Jahrzehnte zurück. Aber auch heute gibt es Auseinandersetzungen und Rechtsstreitigkeiten zwischen Bergbaukonzernen und der Bevölkerung an prospektiven Minenstandorten. In dem kupferhöffigen Intag-Gebiet des ecuadorianischen Toisan-Gebirges leisten Menschen seit 1997 erfolgreich Widerstand gegen die Vertreibung aus ihren Dörfern. Der Erfolg gründet sich vor allem auf die internationale Unterstützung, die der lokalen NRO Defensa y Conservacion Ecologica de Intag (DECOIN)23 zuteil wurde. Die deutsche Organisation „Rettet den Regenwald“ kaufte ebenso wie DECOIN Sperrgrundstücke in dem Waldgebiet und übertrug sie an die betroffenen Dörfer.24 Nur zusammen mit der internationalen Aufmerksamkeit konnten die so erworbenen Rechtstitel wirksam werden. Im Dezember 2008 hat die ecuadorianische Regierung die Explorations- und Abbaukonzessionen des Konzerns in diesem Gebiet annulliert.25
II.2 Illegaler Rohstoffhandel und Bürgerkriegsökonomien Rohstoffe, mit denen sich auf dem Weltmarkt hohe Preise erzielen lassen (tropische Hölzer, Coltan, Diamanten) werden z. B. in afrikanischen Ländern illegal abgebaut und teilweise auf Schmuggelwegen in den Handel gebracht. Der Handel mit Drogen bildet das Vorbild für diese illegalen Wirtschaftsstrukturen. Aus dem Erlös finanzieren sich Rebellenarmeen, aber auch die Regierungen und das Militär der Ursprungsländer. Auch Regierungen und subnationale Gruppierungen von Nachbarländern sind in den Handel involviert. Diese Verflechtung wirtschaftlicher Aktivitäten mit daraus finanzierten kriegerischen Handlungen wird als „Bürgerkriegsökonomie“ bezeichnet.26 Berühmt wurden die „Blutdiamanten“, deren Verkauf es Milizen z. B. in Angola, Sierra Leone oder dem Kongo ermöglichte, Bürgerkriege über viele Jahre zu finanzieren. Die Grausamkeit, mit der sie Kindersoldaten rekrutierten und die Zivilbevölkerung zur Arbeit in den Abbaugebieten zwangen, ist hinlänglich bekannt. An zwei Stellen kann mit dem Ziel eingegriffen werden, die Kriegshandlungen einzudämmen. Zum einen wird versucht, den illegalen Handel zu unterbinden, um die Finanzierung der Milizen zu verhindern und die Bürgerkriegsökonomie „auszutrocknen“. Ein Weg ist die Zertifizierung der Herkunft und der Stationen des Handels. Es ist aber schwierig, die Handelswege nachzuzeichnen und die Abnehmer z. B. in Europa, Nordamerika oder China zu benennen, bei denen die Handelsströme in die legalen Wirtschaftskreisläufe münden, da Teile des Handelswegs illegal sind und glaubwürdige Zeugen kaum zu finden. Nur für den Handel mit Coltan hat eine UN-Expertenkommission 22
DENOON, a.a.O., S. 152, 165. http://www.decoin.org/ 24 Ökotourismus statt Kupfer, in: Evangelischer Entwicklungsdienst (Hg.), TourismWatch 41, Dezember 2005, S. 7. Abrufbar unter: http://www.tourism-watch.de/files/TourismWatch%20Nr. %2041.pdf (Stand: 01.07.2009). 25 http://www.decoin.org/, (zuletzt aufgerufen am 15.01.2009). 26 Vgl. etwa W.-Ch. PAES / B. AUST, Bürgerkriegsökonomien. Staatszerfall und Privatisierung von Gewalt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10 (2003), S. 1227–1233. 23
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die Handelsströme mit Erfolg nach verfolgt und Abnehmerfirmen in Industriestaaten benannt. Einige von ihnen haben daraufhin angekündigt, kongolesisches Erz nicht mehr zu erwerben. Die Firmen verwiesen im übrigen darauf, dass sie auf den Handel mit Coltan nicht gänzlich verzichten können, da die Elektronikmärkte – also die Masse der einzelnen Kunden – nach Tantal verlangen. Sie seien aber, so fügen sie ergänzend hinzu, wegen der Komplexität der Handelsverflechtungen nicht immer in der Lage, die Herkunft der verwendeten Rohstoffe zweifelsfrei zu ermitteln. Zweifel an den Ursprungsbezeichnungen sind also angebracht. Für Diamanten ist seit 2003 der sog. Kimberley-Prozess in Kraft. Führende Diamantenhändler haben sich verpflichtet, ausschließlich mit Diamanten zu handeln, deren Herkunft aus legalen Minen nachgewiesen sei. Dieser Weg hat sich für Diamanten als teilweise erfolgreich erwiesen. Für andere Rohstoffe ist eine naturwissenschaftlich gesicherte Identifikation der jeweiligen Herkunft bisher nicht gelungen.27 Die Diamanten oder wertvollen Erze gehen durch viele Hände: von den Schürfern über warlords, Schmuggler, Zwischenhändler, verarbeitende Unternehmen in Industriestaaten bis hin zu den Käufern der Endprodukte. Auch Nachbarstaaten der Demokratischen Republik Kongo, vor allen anderen ist Ruanda zu nennen, ziehen aus dem Kriegszustand und illegalen Handel ihren Gewinn.28 Diejenigen, die an den einzelnen Stationen dieses Wegs, wenn auch in unterschiedlichem Maße, profitieren, müssen als Verpflichtete der Gerechtigkeitserwartungen der Menschen angesehen werden, denen dabei Unrecht geschieht. Zu den Akteuren, die gefordert sind, dem illegalen Handel einen Riegel vorzuschieben, gehören auch die Regierungen aller Staaten, über deren Gebiet die Rohstoffe bewegt werden, aber auch Organisationen der UN sowie die Zivilgesellschaft. Bürgerkriegsökonomien bilden sich besonders leicht in zerfallenen Staaten (failed states). Deren Regierungen erweisen sich als unfähig, „… die durch den Abbau dieser Produkte (z. B. Erdöl oder Bergbauprodukte, UR) entstehenden Verteilungs- und Sicherheitsprobleme zu meistern.29 Gerade weil die Regierungen in den Kriegsgebieten zu schwach oder, wegen eigener Verwicklung in den illegalen Handel, unwillig sind, die Kriege zu beenden, sind die Kampagnen internationaler Akteure – Nichtregierungsorganisationen, externe Regierungen oder UN-Organisationen – sehr wichtig. Zu nennen sind beispielsweise das „Tschad-Kamerun-Pipelineprojekt“, der schon erwähnte „Kimberley-Prozess“, „Transparency International“ oder die „Extractive Industries Tranparency Initiative“ (EITI).30 27 Zu den Schwierigkeiten, Transnationale Unternehmen verbindlichen völkerrechtlichen Regeln zu unterwerfen s. den Beitrag von KATARINA WEILERT in diesem Band. 28 J.-C. KIBALA, Kongo wird ausgeweidet, Frankfurter Rundschau v. 31.10.2008, S. 8; vgl. auch U. RATSCH, Tantal, Gold und Diamanten. Der Krieg im Kongo finanziert sich selbst, in: C. HAUSWEDELL / Chr.WELLER / U. RATSCH / R. MUTZ / B. SCHOCH (Hgg.), Friedensgutachten 2003, S. 170–179. 29 M. BRZOSKA / W.-Ch. PAES, Die Rolle externer wirtschaftlicher Akteure in Bürgerkriegsökonomien und ihre Bedeutung für Kriegsbeendigungsstrategien in Afrika südlich der Sahara, in: Deutsche Stiftung Friedensforschung (Hg.), Forschung DSF No. 7, 2007. Abrufbar unter: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/berichtbrzoska.pdf p (Stand: 01.07.2009). 30 V. RITTBERGER, Transnationale Unternehmen in Gewaltkonflikten, in: Die Friedenswarte Jg. 79, Berlin 2004, S. 15–34.; zu EITI s. auch unten, Abschnitt III.
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Der zweite Ansatzpunkt ist, die Kriegshandlungen durch UN-mandatierte internationale Intervention zu unterbinden. Im Osten Kongos wie in den Bürgerkriegssituationen Westafrikas ist der Hauptgrund für die Existenz der hartnäckigen und brutalen Unrechtsordnung das Zusammenbrechen jeglicher staatlicher Ordnung. Gerechtigkeit setzt ein Minimum an Rechtssicherheit und Fähigkeit des Staats zur Ausübung des Gewaltmonopols voraus. Nur mit internationaler Hilfe kann diese Ordnung hergestellt werden. Das versuchen die Vereinten Nationen im Kongo mit der MONUC31. Aber diese Mission ist militärisch zu schwach. Außerdem werden ihre Erfolgsaussichten dadurch geschmälert, dass international vereinbarte Sanktionen gegen die beteiligten Nachbarländer (in erster Linie Ruanda) fehlen. Militärische Interventionen sind auch dann umstritten, wenn sie vom UN-Sicherheitsrat mandatiert sind. Darauf wird unten (Abschnitt III.) eingegangen.32 Beispiele wie die Bürgerkriegsökonomie im Osten Kongos oder das Kupferberg Ok Tedi zeigen, dass auch Nachkolonialsysteme, eingebunden in internationale Ketten der Ressourcenverwertung, ungerechte Strukturen erzeugen können. Diese Strukturen sind keineswegs allein durch das koloniale Erbe erklärbar. Die Chancen für ihr Entstehen sind immer dann groß, wenn sich Gruppen mit sehr ungleichen Startbedingungen, beabsichtigt oder unfreiwillig, nebeneinander auf dem Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung einer Region finden. Zu den Startbedingungen gehören Wissen, Kapitalausstattung, Teilhabe an politischen Entscheidungen. Das trifft nicht nur auf Entwicklungsländer zu. Selbst in Alaska oder Kanada ist die Exploration und die Gewinnung von Erdöl und Erzen begleitet von Klagen der Urbevölkerung über massive Ungerechtigkeiten. Und auch die Umsiedlung von Dörfern in deutschen Braunkohlegebieten ist nicht frei von Ungerechtigkeiten. Hier finden die Kläger allerdings in der Regel auch einen Weg formaler Klage in einem funktionierenden Rechtssystem. Das ist den Unterlegenen wirtschaftlicher „Entwicklung“ in Ländern des Südens meist verwehrt. Bürgerkriegsökonomien führen diese Ohnmacht auf besonders brutale Weise vor Augen.
II.3 Fischerei Fische und andere Meerestiere sind wichtige Proteinquellen für die menschliche Ernährung. Gegenwärtig sind 77% der globalen Fischbestände bis zur Grenze der Überfischung genutzt (52%) oder bereits überfischt (25%).33 In den EU-Gewässern sehen die Zahlen noch dramatischer aus: 88% der Bestände, für die Daten vorliegen, gelten als so stark überfischt, „dass die Fangerträge nur dann wieder steigen könnten, wenn weniger Fischfang betrieben würde“.34 Dadurch sind die Bestände wichtiger Arten (z. B. Kabeljau) bedroht. Wie kommt es zu dieser für die globale Nahrungsversorgung bedrohlichen Situation? Der pro-Kopf-Verbrauch an Fisch, die Weltbevölkerung und die Fangflotten sind über Jahrzehnte angewachsen. Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen die 31
Mission de l’ONU en RD Congo (MONUC), http://www.monuc.org. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Michael Empell in diesem Band. 33 FAO Fisheries and Aquaculture Department, The State of World Fisheries and Aquaculture 2006, Rom 2007, S. 29. 34 European Commission, Fishing Opportunities for 2009, Policy Statement from the European Commission, Brüssel 2008, S. 4. (Übers. aus dem Englischen durch den Verfasser). 32
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Zahlen nicht mehr zu steigen.35 Europäische Staaten haben über viele Jahre die Fischerei subventioniert und damit zu den Überkapazitäten beigetragen. Asiatische Staaten, allen voran China, haben ihre Produktionsmengen erheblich gesteigert. Die Konkurrenz ist also groß; der einzelne Trawler-Kapitän muss, um betriebswirtschaftlich überleben zu können, versuchen, maximale Fangmengen zu erzielen. Dabei wird auf biologische Notwendigkeiten (Nachhaltigkeit) keine Rücksicht genommen. Aber auch rechtliche Vorschriften werden missachtet. In internationalen Kommissionen, insbesondere im Rahmen der europäischen Common Fisheries Policy werden Fangquoten vereinbart, an die sich aber nicht alle nationalen Fischereiverbände halten. Die EU-Kommission spricht zurückhaltend von „ungenauen Berichten über die Fangquoten“ (inaccurate catch reports36), aufgrund derer eine Kontrolle und Steuerung kaum möglich ist. Obwohl eine Expertenkommission (Scientific, Technical and Economic Committee for Fisheries) seit Jahren regelmäßig über die sich zuspitzende Lage berichtet, werden die Fangmengen nicht im erforderlichen Maße reduziert, von einzelnen positiven Beispielen (Heringsfang) abgesehen. Geschädigt sind zum einen die „ehrlichen“ Fischer der Staaten des Nordens. Schaden wird aber auch den künftig lebenden Menschen zugefügt, die ihren Bedarf an Fisch nur noch schwer werden befriedigen können, wenn die Prognosen der Experten zutreffen.37 Nach den Prognosen der Meeresbiologen werden sich die Schäden allerdings nicht erst zu Lebzeiten der nächsten Generation, sondern viel früher manifestieren, wenn die globale Fischerei nicht energisch in Richtung auf Nachhaltigkeit umgesteuert wird.38 Schon jetzt leiden viele Menschen in den Ländern des Südens unter den Folgen der Überfischung.39 Da die Fischer aus Industriestaaten mit modern ausgerüsteten Schiffen auch in die Fanggebiete der Fischer aus Entwicklungsländern ausweichen, gehen deren Erträge zum Teil dramatisch zurück. Das ist ein Element im Syndrom der Unterernährung. Fischtrawler nutzen die Hoheitsgebiete von Entwicklungsländern nicht selten auf der Basis eines Fischereiabkommens zwischen den beteiligten Staaten. So werden auch hier nationale Ungerechtigkeitsstrukturen in den Entwicklungsländern international zu Gunsten reicherer Länder genutzt.40 Dem industriellen Fischfang fallen jährlich auch Hunderttausende von Seevögeln, Schildkröten, Walen, Delphinen und anderen Meeresbewohnern zum Opfer, die sich in den Netzen der großen Trawler oder an den Haken der Langleinenfischerei verfangen 35
FAO Fisheries and Aquaculture Department, The State of World Fisheries and Aquaculture 2006, Rom 2007, S. 6f. 36 European Commission, Fishing Opportunities for 2009, Policy Statement from the European Commission, Brüssel 2008, S. 4. 37 Im Blick auf Schäden, die künftigen Generationen durch heutiges Handeln aufgebürdet werden, ist der Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit geprägt worden. 38 S. LESTER, R. BROWN, Expanding Marine Protected Areas to Restore Fisheries, in: Earth Policy News, 13.11.2008. Abrufbar unter: http://www.earthpolicy.org/Books/Seg/PB3ch05_ss6.htm (Stand: 01.07.1009). 39 J. SCHINDLER, Die Fremden töten uns, Frankfurter Rundschau v. 13.11.2007, S. 24. 40 Vgl. zum Zusammenwirken von Mängeln des politischen Systems in Ländern des Südens mit rücksichtslosem Handeln durch Industriestaaten den Beitrag von EBERHARD SCHMIDTAßMANN in diesem Band.
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und tot oder verletzt in die See zurückgeworfen werden, darunter auch geschützte Arten. Beifang wird dieser Teil des Fangs im Deutschen genannt, im Englischen weniger zart trash fish/trash catch. Dazu gezählt werden auch Fische, die nur wegen ihrer zu geringen Größe wieder ins Meer „entsorgt“ werden, obwohl es sich um marktfähige Speisefische handelt: der Stauraum des Schiffes bleibt den größten Exemplaren vorbehalten, um bei voller Ladung einen möglichst großen Verkaufserlös zu erhalten – high grading heißt diese Methode.41 Wo aber nicht mehr genügend viele große Fische zu fangen sind, werden – zum Teil verbotswidrig – Netze mit kleineren Maschen verwendet, um jüngere Fische anlanden zu können. Dem Gedanken der Nachhaltigkeit widerspricht das in besonderem Maße, weil der natürliche Vermehrungszyklus dabei tangiert und die Regenerationsfähigkeit der Bestände gemindert wird. Dazu trägt ferner bei, dass die technisch „hochgerüsteten“ Trawler die Seeböden und die Brutgebiete von Fischen (Korallenriffe) zerstören. Von Ökologen wird deshalb gefordert, auch auf hoher See ein Netz von Reservaten einzurichten, in denen jede menschliche Nutzung untersagt ist. Es sollte 20 – 30% aller ozeanischen Lebensräume umfassen. Bisher gibt es ca. 4000 kleine Schutzzonen (Marine Protected Areas, MPA) in Küstennähe, in denen die Nutzung in unterschiedlichem Maße beschränkt ist.42 Wichtig wäre aber vor allem, illegales Fischen mit schärferen Kontrollen und Sanktionen zu unterbinden. Internationale Abkommen und Pläne zur Bekämpfung illegalen Fischens existieren, sie werden aber nicht effektiv implementiert.43 Ähnlich wie bei Holz und einigen mineralischen Rohstoffen wird versucht, durch Zertifizierung („ecolabeling“) Fisch aus nachhaltigem Fang zu markieren. Ein Beispiel ist das Zertifikat des Marine Stewardship Council (MSC), London, das es seit 2000 gibt. MSC wurde nach dem Vorbild des Forest Stewardship Council (FSC, 19993 vom WWF ins Leben gerufen) gegründet. Das MSC Zertifikat tragen heute mehr als 600 Produkte, die zusammen aber nur etwa 6% der globalen Fangmenge ausmachen. Der Gedanke dabei ist: Da die nationalen Regierungen und die internationalen Organisationen nicht in der Lage waren/sind, wenigstens das illegale Fischen und die besonders gravierenden Formen des Überfischens einzudämmen, sollen die Käufer von Meeresprodukten als kollektiver Akteur gegen die Ungerechtigkeiten vorgehen. Allerdings wird nicht mit den Ungerechtigkeiten argumentiert, sondern mit der ökologischen Zerstörung und dem Verlust der Artenvielfalt. Das lehrt etwas über die vermutete Wertepräferenz der Kunden. Die englische Supermarktkette Waitrose wird bestimmte Fischarten aus dem Angebot nehmen und die geographische Herkunft der angebotenen Sorten angeben. WalMart hat angekündigt, innerhalb von 3–5 Jahren nur noch „MSC certified“ Fische anzu-
41 WWF, Our Solutions to Marine Degradation, http://www.panda.org/about_wwf/what_we_do/ a marine/our_solutions. (Zuletzt aktualisiert 29.2.2008). 42 L.BROWN, a.a.O.; s. auch WWF, a.a.O. 43 U.a.: FAO Compliance Agreement, UN Fish Stocks Agreement, FAO Model Scheme for Port Control, FAO International plan to prevent, deter, and eliminate illegal, unreported, and unregulated fishing, S. etwa: FAO, The State of World Fisheries and Aquaculture 2006; FAO, International plan of Action to Prevent, Deter, and Eliminate Illegal, Unreported, and Unregulated Fishing, Rom 2001.
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bieten.44 Vorsicht ist bei der Öko-Kennzeichnung allerdings geboten: die Fischindustrie bietet Fisch aus Aquakulturfarmen als „nachhaltig produziert“ an. MSC zertifiziert Fischfarmen auch deshalb nicht, weil die Menge an Fisch, die – zu Fischmehl verarbeitet – in diesen Farmen verfüttert wird, die erzeugte Menge an Speisefischen übersteigt.
III. Fazit Die Auswahl der Fallbeispiele hat immer etwas Willkürliches. Aber die dargestellten Strukturen sind exemplarisch auch für andere Handlungsfelder: Nicht nur anhand der Fischerei sondern ebenso auch am internationalen Handel mit Futtermittel oder an der Substitution fossiler Energieträger durch Biotreibstoffe könnte man zeigen, wie die wirtschaftliche und technische Vormachtstellung des Nordens die Nahrungsversorgung des Südens – und damit auch die vom Norden akzeptierten Millenium Development Goals gefährdet. Anstelle des Kupferbergbaus könnte der Bau einer Ölpipeline vom Tschad an die Atlantikküste Kameruns geschildert werden – mit vergleichbaren Ergebnissen für die Gerechtigkeitsdefizite. Auf dem Feld der Ressourcennutzung – wie auf anderen Praxisfeldern, die in Beiträgen dieses Bandes angesprochen werden – sind die involvierten Akteure und Interessengruppen so vielfältig wie ihre Handlungen, die zu einer Teilung in Gewinner und Geschädigte führen. Kein „dezisionistisches Politikmodell“ ist in der Lage, die völlig verschiedenen Erscheinungsformen internationaler Gerechtigkeit zu erfassen.45 Aber eine über den konfligierenden Parteien stehende Institution, die Kontrolle ausübt und steuernd eingreift, um Ungerechtigkeiten zu beheben, wird dringend gebraucht. Es ist typisch für die hier skizzierten Konfliktfelder, dass es (mindestens) eine schwächere Partei und (mindestens) eine stärkere gibt, die bereit ist, die Schwäche der anderen skrupellos oder auch nur gedankenlos auszunützen.46 Verletzbar ist in diesen Konflikten meist nur die von Anfang an schwächere Gruppe. „Einsicht in ihre gegenseitige Verletzbarkeit“, eine der normativen Setzungen des Konsensmodells politischer Lösungen47 kann sich nur dann eine wirksame Handlungsmaxime werden, wenn keine übergeordnete Partei hinzutritt, die über Mittel verfügt, das Machtgefälle einzuebnen. Die Erfahrung zeigt, dass ungerechte Strukturen selten durch bessere Einsicht der Akteure in die Ungerechtigkeit ihres Handelns behoben werden. In den Ländern des Südens werden politische Umstürze häufig mit dem Hinweis auf Korruption der Herrschenden und auf von diesen verursachte Ungerechtigkeit begründet. Ist der Putschversuch erfolgreich, so ist das Ergebnis in den meisten Fällen, dass die Korruption der alten Clique durch die einer neuen ersetzt wird. Es gibt Verschiebungen zwischen den Gruppen der Begünstigten und Geschädigten, aber sonst bleibt alles beim Alten. Offenbar ist dies also nicht der 44
In der Liste der deutschen Anbieter, die MSC-zertifizierten Fisch führen, finden sich u.a. Aldi Süd, bofrost, Lidl, Plus und Iglo-Fischstäbchen, nicht aber der Frischfisch der Nordsee-Kette. 45 Vgl. HARTUNG / SCHAEDE, S. 36. 46 Gedankenlos ist es auch, in bester Absicht Entwicklungsprogramme zu oktroyieren, ohne die Zielvorstellungen der sogenannten Zielgruppe zu berücksichtigen. „Das Gegenteil von ‚gut‘ ist ‚gut gemeint‘“. 47 HARTUNG / SCHAEDE, S. 36.
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geeignete Weg zu einer „neuen Ordnung der Gerechtigkeit“. In allen Fällen, in denen Verbesserungen erzielt wurden, war die internationale Aufmerksamkeit, bis hin zu internationaler Intervention, entscheidend. Die anwendbaren Mittel reichen von militärischer Macht im Rahmen von UN-Einsätzen bis zu Diskreditierung beteiligter Akteure durch eine internationale Öffentlichkeit. Zwar kann die globale Öffentlichkeit „im besten Fall eine Korrektivfunktion“48 ausüben, aber so lange Wirkmächtigeres nicht zu Gebote steht, eröffnet f dieses Korrektiv einen Prozess der „Moralisierung“49 und führt dazu, dass die Forderung nach einer Verringerung des Ungleichgewichts sich artikulieren kann. Die von Amartya Sen geforderten Chancen der Verwirklichung grundlegender Rechte (politische Freiheit, Gewissensund Gedankenfreiheit, physische Unversehrtheit und Besitzrechte)50 können vielerorts nur mit externer Unterstützung eröffnet werden. Zumindest die im internationalen Rohstoffhandel operierenden Unternehmen sind nicht immun dagegen, als Beteiligte an Ausbeutungssystemen gebrandmarkt zu werden.51 Das zeigen die Reaktionen von Firmen, die am Handel mit „Blutdiamanten“ oder der Verhüttung von Kupfer aus Papua Neuguinea beteiligt sind oder waren. Auch dass sich ein Wandel in der europäischen Fischereipolitik abzeichnet, Fangquoten reduziert werden und die Kontrolle verschärft werden soll, hängt ohne Zweifel mit öffentlichen Kampagnen, etwa des WWF52, zusammen. Wichtige Akteure waren schon immer Journalisten, engagierte Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen, die in Berichten und Bildern das Leid der Opfer ungerechter Verhältnisse schilderten. Adressaten dieser Informationen waren zunächst die Öffentlichkeit und die Regierungen der jeweiligen Heimatstaaten dieser Akteure. Im Falle der Pangunamine bewirkten Zeitungsberichte eine Änderung der australischen Politik im Mandatsgebiet und eine Reduktion der Gewaltanwendung. Mit der wachsenden Einsicht in die internationalen Verflechtungen der Wirtschaftsunternehmen und der Handelsbeziehungen, stieg auch die Bedeutung globaler Netzwerke. Radikale Forderungen, wie den Handel mit einem Erz, in dessen Zusammenhang es zu Rechtsverstößen kommt, ganz einzustellen, sind nicht realistisch. Erfolg versprechend ist allein, die Stationen in der Kette von Gewinnung, Handel und Endnutzung zu identifizieren, die Anlass zu Ungerechtigkeiten geben, und die zugehörigen Verpflichteten von Gerechtigkeitserwartungen zu benennen. Dies Kette zieht sich in der Regel über mehrere Staaten, in denen verschiedene Unternehmen und Subunternehmen beteiligt sind. Das Beispiel des Handels mit den Rohstoffen aus dem Kongo zeigt, dass dabei legale und illegale Handlungen ineinandergreifen. Um die Verantwortlichen für Schmuggel, Korruption und schwerere Vergehen namhaft zu machen, muss es gelingen, möglichst viele, besser alle Teile der beitragenden wirtschaftlichen, administrativen und politischen Handlungen ins Auge zu fassen. Das kann nur im Rahmen internationaler Kooperation geschehen. NRO-Netzwerke, wie z. B. Greenpeace, Transparency International, Human Rights 48
HARTUNG / SCHAEDE, S. 38. HARTUNG / SCHAEDE, S. 29. 50 HARTUNG / SCHAEDE, S. 41. 51 K. BALLANTINE / H. NITZSCHKE, Unternehmen in Konfliktregionen: Problemfelder und Handlungsmöglichkeiten, in: Die Friedenswarte Jg. 79, Berlin 2004, S. 35–56. 52 WWF, a.a.O. 49
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Watch, Amnesty International oder Entwicklungshilfswerke haben sich dieser Aufgabe verschrieben. Durch ihre Kampagnen haben sie Einfluss auf Politik, aber auch auf wirtschaftliches Handeln erzielen können. Tiefgreifendere f Wirkung können sie erzielen, wenn sie auch mit Regierungsstellen zusammenwirken. Auf Anregung des damaligen britischen Premierministers Tony Blair wurde im Jahre 2002 die „Extractive Industries Tranparency Initiative“ ins Leben gerufen.53 Eine große Zahl von Organisationen der Zivilgesellschaft, von Wirtschaftsunternehmen und Regierungen arbeiten in dieser Initiative unter dem Schlagwort „Publish Whatt You Pay/Publish What You Receive“ zusammen. Ziel ist, die Finanzströme der Rohstoffwirtschaft öffentlich nachvollziehbar, transparent zu machen. Denn illegale Aktivitäten sind in der Regel mit Korruption verbunden, und bilden sich – zumindest im Prinzip – in Unregelmäßigkeiten der dokumentierten Zahlungen ab. So kann es gelingen, die Verantwortlichen für Rechtsverstöße zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Die Kombination von moralischem Appell und öffentlichem Druck durch namentliche Nennung der beteiligten Akteure greift allerdings kaum in Bürgerkriegssituationen, wie sie im Kongo oder in Westafrika herrschen. Hier muss massiverer internationaler Druck ausgeübt werden, von diplomatischen Interventionen, die sich gegen alle beteiligten Staaten richten müssen, im Falle des Kongo auch gegen die involvierten Nachbarstaaten, bis hin zu militärischen Aktionen der Vereinten Nationen, wie sie durch MONUC im Kongo versucht werden, wenn auch nur mit temporären Erfolgen. Humanitäre Interventionen sind stets mit Risiken verbunden. Die Erfolgsaussichten sind schwer abzuschätzen und es besteht die Gefahr, dass sich die militärischen Operationen lang hinziehen und zumindest zeitweise intensiver werden.54 Andererseits kann die Staatengemeinschaft aber auch nicht untätig zusehen, wenn massive Verletzungen der Menschenrechte begangen werden. In der Friedens- und Konfliktforschung wird in diesem Zusammenhang auf die „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect) verwiesen. Das Schlagwort wurde von der kanadischen International Commission on Intervention and State Sovereignty geprägt, die, angeregt von Kofi Annan, untersuchte, in welchen Fällen und mit welchen Mitteln internationale Interventionen zur Eindämmung kriegerischer Auseinandersetzungen geboten erscheinen können. Nur wenn eine Reihe von Kriterien erfüllt ist, kommt der Einsatz von Militär als letztes Mittel in Frage.55 In der Sprache der Friedensdenkschrift der EKD, die in ihren differenzierten Abwägungen der „Grenzen kollektiver Schutzverantwortung“ die friedenswissenschaftliche Diskussion der Responsibility to Protect reflektiert, heißen diese Kriterien:56
53
RITTBERGER, a.a.O., S. 27; s. auch www.eitransparency.org. Zu den völkerrechtlichen Problemen s. etwa H.-M. EMPELL, Die Staatengemeinschaftsnormen und ihre Durchsetzung. Die Pflichten erga omnes im geltenden Völkerrecht, in: Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. Texte und Materialien. Reihe A, Bd. 49, Heidelberg g 2004. 55 International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa, Dezember 2001. 56 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden eintreten, Denkschrift des Rates der EKD, Oktober 2007, Tzz. S. 110–116. 54
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– „ein Staat (erfüllt) nicht einmal seine primäre Funktion (nämlich die des Lebensschutzes der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung eines minimalen Rechtszustands)“; – es liegen „aktuelle, schwerste Unrechtshandlungen (vor), die die minimale Friedensfunktion einer politischen Ordnung überhaupt beseitigen und der Selbstbestimmung der Bevölkerung die Grundlage entziehen“; – „Erforderlich ist insbesondere eine Autorisierung durch die Weltorganisation, d.h. nach den Regeln des kollektiven Sicherheitssystems der UN“ – „Die Absicht einer bewaffneten Intervention muss eindeutig auf das Ziel bezogen sein, die Opfer vor lebensbedrohlichem schwerem Unrecht zu schützen, …“ – „der Einsatz militärischer Gewalt (darf) – wie in allen anderen Fällen des Gebrauchs rechtserhaltender Gewalt – nur als äußerstes Mittel erwogen werden.“ Besser als internationale Einwirkung auf bereits manifeste Ungerechtigkeiten ist es, präventiv zu handeln. Hier richtet sich der Blick unter anderen auf die Weltbank. Sie muss bei Großprojekten wie der Erschließung von Rohstoffen strenger als in der Vergangenheit überprüfen, ob Chancengleichheit für alle Betroffenen sichergestellt ist, ob unvermeidbare Schäden adäquat kompensiert werden, ob der betroffenen Bevölkerung ein wirksames Mitspracherecht gegeben und ihr Recht auf Selbstbestimmung geachtet wird. Das Konsensprinzip57 muss für die Diskurse zwischen Regierungen, Wirtschaftsunternehmen und autorisierten Vertretern der Zivilgesellschaft geltend gemacht werden. Nur dann kann die „sittliche Kompetenz einzelner Individuen und ihrer Vereinigung zu Kollektiven“58 manifest werden.
Bibliographie Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007. K. BALLANTINE / H. NITZSCHKE, Unternehmen in Konfliktregionen: Problemfelder und Handlungsmöglichkeiten, in: Die Friedenswarte Jg. 79, Berlin 2004, S. 35–56. M. BRZOSKA / W.-Ch. PAES, Die Rolle externer wirtschaftlicher Akteure in Bürgerkriegsökonomien und ihre Bedeutung für Kriegsbeendigungsstrategien in Afrika südlich der Sahara, in: Deutsche Stiftung Friedensforschung (Hg.), Forschung DSF No. 7, 2007. Abrufbar unter: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/berichtbrzoska.pdf (Stand: 01.07.2009). D. DENOON, Getting Under the Skin, The Bougainville Copper Agreement and the Creation of the Panguna Mine, Melbourne University Press 2000. Deutscher Bundestag fordert: Das Öl soll im Boden bleiben, in: Rettet den Regenwald e.V., Regenwaldreport 2/2008, S. 4–5.
57 58
HARTUNG / SCHAEDE, S. 37. HARTUNG / SCHAEDE, S. 37.
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H.-M. EMPELL, Die Staatengemeinschaftsnormen und ihre Durchsetzung. Die Pflichten erga omnes im geltenden Völkerrecht, in: Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. Texte und Materialien. Reihe A, Bd. 49, Heidelberg 2004. European Commission, Fishing Opportunities for 2009, Policy Statement from the European Commission, Brüssel 2008, 4. FAO, Fisheries and Aquaculture Department, The State of World Fisheries and Aquaculture 2006, Rom 2007. FAO, International plan of Action to Prevent, Deter, and Eliminate Illegal, Unreported, and Unregulated Fishing, Rom 2001. International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa, Dezember 2001. J.-C. KIBALA, Kongo wird ausgeweidet, Frankfurter Rundschau v. 31.10.2008. O. KREYE, Mining and Economic-ecological Development in Papua New Guinea, in: H.-M. SCHOELL (Hg.), Environment and Development, Point series 18, Goroka, Papua Neu Guinea 1994. S. LESTER, R. BROWN, Expanding Marine Protected Areas to Restore Fisheries, in: Earth Policy News, 13.11.2008. Abrufbar unter: http://www.earthpolicy.org/Books/Seg/PB3ch05_ss6.htm (Stand: 01.07.1009). Ökotourismus statt Kupfer, in: Evangelischer Entwicklungsdienst (Hg.), TourismWatch 41, Dezember 2005, S. 7. Abrufbar unter: http://www.tourism-watch.de/files/TourismWatch%20 f Nr.%2041.pdf (Stand: 01.07.2009). W.-Ch. PAES / B. AUST, Bürgerkriegsökonomien. Staatszerfall und Privatisierung von Gewalt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10 (2003), S. 1227–1233. U. RATSCH, Tantal, Gold und Diamanten. Der Krieg im Kongo finanziert sich selbst, in: C. HAUSWEDELL / Chr.WELLER / U. RATSCH / R. MUTZ / B. SCHOCH (Hgg.), Friedensgutachten 2003, S. 170–179. DERS.,
Privatisierung der Wasserversorgung als Konfliktursache, in: CHR. WELLER / U. RATSCH / R. MUTZ / B. SCHOCH / C. HAUSWEDELL, Friedensgutachten 2004, Münster 2004, S. 234–242.
V. RITTBERGER, Transnationale Unternehmen in Gewaltkonflikten, in: Die Friedenswarte Jg. 79, Berlin 2004, S. 15–34. J. SARASWATI, Entwicklungspfade einer Übergangsgesellschaft am Beispiel Indonesiens, Diss. Phil Fak III Universität Regensburg, 2002. J. SCHINDLER, Die Fremden töten uns, Frankfurter Rundschau v. 13.11.2007, S. 24ff. Vom Biodiesel zum Hungerdiesel, in: Rettet den Regenwald e. V., Regenwaldreport 2/2008, S. 6–8. WWF, Our Solutions to Marine Degradation, http://www.panda.org/about_wwf/what_we_do/marine/our_solutions. (Stand: 29.2.2008). D. ZINNBAUER, Korruption gräbt Afrika das Wasser ab, in: Forum Nachhaltig Wirtschaften, 3/2008.
Globale Erwärmung und globale Gerechtigkeit Überlegungen zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten 1 ökonomischer Analysen des Klimawandels JOHANNES B. OPSCHOOR Es ist nicht zu legitimieren, dass man darauf verzichtet, über ein … gerechteres Handeln und Gestalten weltweit nachzudenken. Gerald Hartung / Stephan Schaede 2008 Wir sind nicht berechtigt, den Mut zu verlieren. Nach Harry de Lange 1989 2
Inhalt I. II. III. IV. V. VI.
Einleitung Internationale Gerechtigkeit und die Ethik globaler Nachhaltigkeit Klimawandel Internationale Wirtschaftsordnung, Klimawandel und internationale Gerechtigkeit Generationenübergreifende Gerechtigkeit und Ökonomie des Klimawandels Bewertung
I. Einleitung Die FEST in Heidelberg fordert uns im Jahr ihres 50jährigen Bestehens – wozu ich dem Institut und seinen Mitarbeiten gleich zu Beginn gratuliere – zum Nachdenken über Folgendes heraus: Was können wir heute, im Kontext der Globalisierung, zur insbesondere internationalen Sicherstellung beziehungsweise Schaffung gerechterer Lebensverhältnisse sagen? Hans Diefenbacher richtet die Frage speziell an die Ökonomie: Was 1
Übersetzung aus dem Englischen von HANS DIEFENBACHER und ILSE TÖDT. Das Motto von Harry de Lange hat Witte-Rang zum Titel ihrer Monographie über de Lange gemacht; vgl. WITTE-RANG, GREETJE (2008): Geen recht de moed te verliezen – leven en werken van dr. H.M. de Lange. Utrecht: Uitgeverij Boekencentrum. 2
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Johannes B. Opschoor
trägt sie dazu bei, und was ist zu ihrem Beitrag zu sagen?3 Ich werde diese Frage aufgreifen und dabei von Überlegungen zu einigen ökonomischen Aspekten des Klimawandels ausgehen. Im Symposion zum Jubiläum der FEST wurde Gerechtigkeit bezogen auf Lebensverhältnisse innerhalb der Gesellschaftsordnung.4 Gerechtigkeit ist ein Handeln, ein Prozess, und ein normativer Begriff: Der Einzelne und die Gesellschaft sollen dazu beitragen, ein gutes Leben für alle herbeizuführen. Wenn Menschen darauf hinarbeiten sollen, dann – ich stimme Hartung und Schaede zu – brauchen sie eine Vision. Georg Picht, der frühere Leiter der FEST, sprach vom „Mut zur Utopie“, und Harry de Lange, ein früheres FEST-Kuratoriumsmitglied, pflegte zu sagen, den Mut zu verlieren haben wir kein Recht. Gerechtigkeit ist ein geistig voranzutreibender Prozess. Die Vision, die mich inspiriert, hat der Ökumenische Rat der Kirchen bei seiner Fünften Vollversammlung im Jahre 1975 in Nairobi proklamiert: die Vision einer gerechten, Teilhabe gewährenden und nachhaltigen internationalen Gesellschaft (Just, Participatory and Sustainable Society [JPSS]).5 Klima ist ein globales öffentliches Gut.6 Es gehört als lebensnotwendige Komponente zu dem, was seit 1992, dem Jahr der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, oder sogar bereits seit 1987, dem Erscheinungsjahr des sogenannten Brundtland-Berichts „Unsere gemeinsame Zukunft“, als internationale nachhaltige Entwicklung auf der Tagesordnung steht. Die Verknüpfung mit der Vision des Ökumenischen Rates der Kirchen ist offensichtlich.
II. Internationale Gerechtigkeit und die Ethik globaler Nachhaltigkeit Gerechtigkeit in ihrer internationalen Dimension möchte ich auffassen als eine bestimmte Formulierung generationeninterner Gerechtigkeit oder Billigkeit: was „recht und billig“ ist, wenn wir den Verteilungsaspekt betonen. Sie ist verschieden von der generationen- oder zeitübergreifenden Gerechtigkeit (oder Billigkeit: Gerechtigkeit für unsere Nachkommen. Es gibt noch eine dritte Dimension, die artenübergreifende Gerechtigkeit zwischen Mensch und nichtmenschlicher Natur: gerechte Lebensverhältnisse zwischen Homo sapiens und der übrigen Schöpfung – Lebensvielfalt, Biodiversität. Da dieses Dritte nicht in der uns vorgegebenen Problemstellung erscheint, lasse ich es beiseite, selbst wenn gerade darin die größte Herausforderung liegen mag. Ich konzentriere mich auf die generationeninterne und die generationenübergreifende Dimension im globalen Rahmen. In Vorbereitung des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung, der im Jahre 2002 in Johannesburg stattfand, publizierte die Heinrich-Böll-Stiftung ein Dokument mit einer 3
Vgl. DIEFENBACHER (2008). Vgl. Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft: Festakt zum 50-jährigen Jubiläum der FEST am 18. Juni 2008. Institutsreihe B: Texte und Materialien der FEST. Heidelberg 2008. 5 Vgl. den Beitrag von DIEFENBACHER / TEICHERT in diesem Band. 6 KAUL et al. (2003). 4
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Vision für die Zukunft,7 das eine zentrale Botschaft hatte: Es kann keine Ökologie geben ohne das, was recht und billig ist, und was recht und billig ist, kann ohne Ökologie nicht sein. Der erste Teil der Botschaft bringt zum Ausdruck, weshalb Umweltschützer und internationale Umweltpolitik auch die Entwicklungszusammenarbeit als ihr Anliegen betrachten sollten; der zweite Teil zeigt, weshalb Menschen, die sich für Entwicklung und Gerechtigkeit engagieren, auch künftige Generationen berücksichtigen sollten. Wir können sogar noch weiter gehen: Wenn wir uns sorgen um das, was international auf lange Sicht recht und billig ist, dann gilt unsere Sorge etwas Fundamentalerem und Vordringlicherem, nämlich dem Überleben der Menschheit. Die Menschheit jedoch kann nicht überleben, ob recht und billig oder nicht, wenn die Biosphäre nicht überlebt. Es kann keine Erhaltung der Soziosphäre, der Menschenwelt, geben ohne eine wiederum sie erhaltende, gesunde Biosphäre oder, wie ich dies in früheren Veröffentlichungen genannt habe,8 ohne einen entsprechenden Umweltraum. Die Zwickmühle des Klimawandels illustriert dies deutlich.
III. Klimawandel Untersuchungen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)9 kamen auf überzeugende Weise zu dem Schluss, dass die Welt eine globale Erwärmung der Atmosphäre infolge von, seit der Industriellen Revolution durch Menschen verursachten, Emissionen von Treibhausgasen durchmacht. Wird global so weiter gemacht wie bisher, könnten die Temperaturen bis zum Jahr 2100 um 6° Celsius steigen. Die Erwärmung bringt eine Reihe von Klimawandel-Phänomenen hervor: bereits jetzt, bei einem Temperaturanstieg von 0,7°, zum Beispiel ein Abschmelzen der Eiskappen an den Polen, eine Erwärmung der Ozeane, ein langsames Ansteigen des Meeresspiegels, Witterungsveränderungen wie Dürren und Überschwemmungen und immer häufigere extreme Wetterlagen. Von diesen Ereignissen werden vor allem Gesellschaften und Ökosysteme in anfälligen Gebieten heimgesucht. Die resultierenden Schäden und gesellschaftlichen Kosten sind sehr ungleich verteilt, und das wird so bleiben: Viele Entwicklungsländer – und insbesondere die ärmeren sozialen Schichten in diesen Ländern – müssen jetzt und in Zukunft vergleichsweise heftiger unter den Folgen des Klimawandels leiden. Gegen den Klimawandel anzugehen, indem die ihn verursachenden Emissionen von Treibhausgasen durch Vermeidungsstrategien auf ein als ungefährlich geltendes Niveau einer Erwärmung von 2° oder weniger gesenkt werden, ist möglich und verlangt ein tief greifendes und kostspieliges Umsteuern des Wirtschaftsprozesses: Erforderlich ist der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, erhebliche Anstrengungen zum Energiesparen und vieles andere mehr. Bei der Umsetzung der Vermeidungsstrategien tragen die bereits industrialisierten Länder die Hauptverantwortung, gefolgt von den so genannten „emerging economies“, also die sich entwickelnden Länder, die ebenfalls und zunehmend zu diesen Emissionen beitragen. Die bislang gemachten Erfahrungen mit 7 8 9
SACHS et al. 2002. OPSCHOOR 1992, 1993. IPCC 2007a, 2007b.
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der Bereitschaft der Länder, sich ernsthaften f Vermeidungsstrategien zuzuwenden – zum Beispiel im sogenannten Kyoto-Prozess –, sind, zurückhaltend ausgedrückt, enttäuschend. Was künftige Emissionen anbelangt, so beanspruchen sich entwickelnde Länder jetzt mit Recht einen fairen Anteil am verbleibenden „Kohlenstoff-Raum“. f Mit Gewissheit ist die Förderung dieses Anliegens ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der internationalen Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Welches Maß an Vermeidung von Kohlendioxid-Emissionen auch immer erreicht wird, die globale Erwärmung wird dennoch noch Jahrzehnte lang weitergehen. Die Verursacher der globalen Erwärmung, zu denen heutzutage die Wirtschaften in Schwellenländern wie China, Brasilien, Indonesien dazu kommen, schieben sehr schwere Belastungen kommenden Generationen zu, die unter schwierigeren Bedingungen leben werden. Künftige Gesellschaften – reiche und arme – werden sich unweigerlich an den Klimawandel anpassen müssen. Viele ärmere Entwicklungsländer – also gerade diejenigen, über die der Klimawandel hereinbricht – haben eine sehr niedrige Anpassungskapazität und müssen daher die bittersten Konsequenzen tragen. Das ist extrem ungerecht. Der Schaden fällt auf Gesellschaften und Gemeinschaften, deren Beitrag zur globalen Erwärmung eher unbedeutend war. Abgesehen von den historischen Hinterlassenschaften der Industrieländer infolge ihrer Emissionen besteht auch eine moralische Verpflichtung dieser Länder zur Übernahme eines sehr beträchtlichen Anteils am internationalen Lastenausgleich, bei der Vermeidung von Emissionen wie auch bei der Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungsländern, da die ökonomische und technologische Macht sehr asymmetrisch verteilt ist. Entwicklungsländer sind sowohl direkt als auch indirekt betroffen.10 Sie leiden vergleichsweise stärker unter den Auswirkungen wie zum Beispiel Dürren, Unwetter oder Überschwemmungen, und es steht zu befürchten, dass dies die Erreichung der von der internationalen Gemeinschaft gesteckten Millenniums-Entwicklungsziele ernstlich gefährden wird. Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels kann Milderung bringen, wird aber „Kosten“ nach sich ziehen dergestalt, dass Optionen zugunsten des sozio-ökonomischen Fortschritts sich in Luft auflösen. Gemäß den Aussagen der Klimakonvention der Vereinten Nationen könnten die Anpassungskosten in Entwicklungsländern sogar schon bei einem Temperaturanstieg um 2° bis 3° Celsius eine Höhe von 50 Milliarden US-Dollar jährlich erreichen, also ungefähr die Hälfte der augenblicklichen Zahlungen für Entwicklungszusammenarbeit ausmachen. Das ist die erste indirekte Auswirkung. Die zweite sind negative Rückwirkungen von Klimaaktivitäten der Industrieländer. Man bedenke die möglichen Auswirkungen der Reduzierung von Entwicklungshilfe-Budgets, des Drucks auf die Energiepreise, des Konkurrenzkampfs um Land, falls Biotreibstoff in großem Ausmaß angebaut werden soll und anderes mehr. Alle diese Effekte würden sich natürlich bei einem höheren Temperaturanstieg noch verstärken. Auf diese langfristigen Folgewirkungen komme ich in meinen weiteren Darlegungen zurück.
10
CDP 2008.
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IV. Internationale Wirtschaftsordnung, Klimawandel und internationale Gerechtigkeit Seit Adam Smiths Untersuchung zu Natur und Ursachen des Volkswohlstandes aus dem Jahr 1776 und trotz der Vorbehalte, die er selbst und viele seiner Nachfolger hegten, hat sich die fundamental-ökonomistische Auffassung – oder die Auffassung fundamentalistischer Ökonomen – durchgesetzt, zur Förderung des Gemeinwohls von Gesellschaften beziehungsweise der globalen Gesellschaft sei soziale Interaktion durch Marktvorgänge der beste Weg – oder könne dazu gemacht werden: Der Einzelne „ist nur auf den eigenen Gewinn bedacht und … wird durch eine unsichtbare Hand gelenkt, [das] Interesse … der Gesellschaft … zu fördern“.11 Hans Diefenbacher12 „problematisiert“ den Umgang der Ökonomie und der herrschenden Wirtschaftsordnung mit der internationalen Gerechtigkeit. Unter anderem stellt er eine Diskrepanz fest zwischen den Macht-Asymmetrien in der wirklichen Welt und der Vernachlässigung von Ungleichheit im ökonomischen Denken. Auf Grund meiner eigenen Analyse der ideologischen und institutionellen Faktoren, die insbesondere für Nicht-Nachhaltigkeit und Ungleichheit ausschlaggebend sind,13 möchte ich folgende Unzulänglichkeiten in diesem Denken hervorheben: (a) Man verlässt sich auf – oder gar: glaubt an – unkontrolliertes Wirtschaftswachstum, das von Kräften des Marktes als Generatoren menschlicher Wohlfahrt angetrieben wird; (b) Märkte sind unfähig, mit den gesellschaftlichen Konsequenzen von zeitlicher und räumlicher Distanz zwischen Ursache und Wirkung umzugehen; (c) Marktvorgänge haben kein Sensorium für Ungleichheiten und Asymmetrien im Machtbesitz und im Zugang zu Ressourcen. Der Glaube der Wissenschaftsdisziplin Ökonomie an den Marktmechanismus erweist sich als ungerechtfertigt angesichts der weltweit zunehmenden Ungleichheiten und der beharrlichen Nicht-Nachhaltigkeit, die ein auf dem Markt basierendes globales System hervorgebracht hat und immer weiter hervorbringt. Eine deutliche Gegenbewegung gegen internationale Gerechtigkeit ist die Tendenz zur Überwälzung von Kosten.14 Diejenigen, die am Entscheidungsprozess für den Markt beteiligt sind, schieben die Kosten anderen Menschen und Gruppen zu, die keine Entscheidungen fällen können, weil sie davon ausgeschlossen sind: sogenannte „externe Effekte“. Sie umfassen die Auswirkungen von Umweltschädigungen und Klimawandel besonders auf heutige Arme, künftige Generationen und die nichtmenschliche Natur. Menschen und Gruppen mit geringerer Stimme, geringerer Durchsetzungskraft, geringeren Finanzen und ohne Wahlrecht lässt man leiden – externe Effekte, einschließlich der Effekte globaler Erwärmung, erzeugen, national und international, Ungerechtigkeit.
11 12 13 14
SMITH [1776], IV.Ch2. Vgl. den Beitrag von H. DIEFENBACHER in diesem Band. Zum Beispiel OPSCHOOR 1993. Der Ausdruck stammt von dem deutschen Ökonomen Kapp.
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Wie können solche Externalitäten begrenzt werden? Im Wesentlichen geht das nur durch Änderung vorherrschender Einstellungen und Verhaltensweisen, so dass man es zu diesen externen Effekten halb-freiwillig nicht mehr kommen lässt, oder durch Interventionen zur Verhinderung der externen Effekte, zum Beispiel durch Regulierung der Marktkräfte. Das erstere Vorgehen ist nicht sehr viel versprechend – darauf gehe ich hier nicht weiter ein. Beim letzteren Vorgehen wird politische Macht angewandt. Falls das in einem demokratischen Umfeld erfolgt, nimmt man stillschweigend an, solche Interventionen hätten Rückhalt durch den politischen Willen, aber der ist nicht immer vorhanden. Überdies gibt es im internationalen Rahmen, etwa bei den globalen öffentlichen Gütern wie Klima und Biodiversität, nicht a priori eine Autorität, die intervenieren könnte. Es gibt keine juristische oder administrative Ermächtigung, derartige Anliegen auf globalem Niveau zu verfolgen, abgesehen von den Verfahren, auf die sich die internationale Gemeinschaft geeinigt hat, zum Beispiel in der Klimarahmenkonvention von 1992 samt den daraus abgeleiteten Protokollen wie dem Kyoto-Protokoll. Aber diese Verfahren sind bislang abstrakt geblieben, Wunschträume ohne Biss. Und obwohl die Weltgemeinschaft der Staaten sich seit 1992 und insbesondere dann noch einmal in der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen das Prinzip der „gemeinsamen aber differenzierten Verantwortlichkeit“ zu eigen gemacht hat, das vorsieht, klimabezogene Belastungen denen aufzuerlegen, die sie verursacht haben und die sich ihre Finanzierung nun leisten können, gibt es noch keinen international vereinbarten Weg, auf gerechte Weise die Klima-Herausforderung anzugehen und Verantwortlichkeiten, einschließlich der finanziellen, zuzuweisen. Die neoliberalen Weltmärkte warnen vor der Erwärmung nicht, und vor dem Verbrauch fossiler Brennstoffe nur sehr unzulänglich. Und die politischen Mächte führen einen Verhandlungszirkus auf, in dem Staaten halbgare und halbwahre Ansichten darüber äußern, wie notwendig die Eindämmung der globalen Erwärmung sei, und nicht wirklich willens und offensichtlich fast machtlos sind, sich auch nur zu einigen, um wie viel die globale Erwärmung denn zurück gedrängt werden solle. Die derzeit herrschende Weltordnung kann mit der Situation nicht fertig werden, und der neoliberale Globalisierungsprozess hat die Unfähigkeit noch verschlimmert. Die Stellungnahme des Reformierten Weltbundes in Accra 2004 und das AGAPE-Dokument des Ökumenischen Rates der Kirchen sagen hierzu Stichhaltiges.15
V. Generationenübergreifende Gerechtigkeit und Ökonomie des Klimawandels Der Klimawandel ist ein Prozess, der seine Geschwindigkeit mit großer Trägheit beibehält. Selbst wenn die Emissionen jetzt gestoppt würden, stiegen die Temperaturen weiter an. Wir werden aber die Emissionen nicht rasch und nicht angemessen stoppen; also werden die Temperaturen noch länger ansteigen. Die Auswirkungen werden sich künftig stärker als heute bemerkbar machen. Je länger die Emissionsvermeidung aufgeschoben wird, desto höher werden die Anpassungskosten an den Klimawandel sein. Hier 15
WARC 2004, WCC 2005; vgl. DIEFENBACHER / TEICHERT, S. 98 und 99.
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liegt sehr deutlich ein internationales Gerechtigkeitsproblem vor, bei dem der Zeitablauf wichtig ist. Wie gehen wir um mit diesen künftigen Kosten und Schäden? Das Verhalten von Menschen zeigt, dass sie einem Ereignis um so weniger Wert beimessen, je weiter es zeitlich entfernt ist. In der ökonomischen Analyse spricht man von „Zeit-Präferenzen“, die in eine sogenannte „Diskontierung“ übersetzt werden. Ein Gegenstand oder ein Schaden, der in 50 Jahren mit einem Wert von 100 bewertet würde, wird heute bloß mit 5,4 bewertet, wenn wir einen Zinssatz von durchschnittlich 6 Prozent zugrunde legen. Anders betrachtet: Nach 10 bis 20 Jahren ist die Hälfte des Wertes eines Ereignisses verschwunden. Bei langfristiger Diskontierung löst sich Wert also in Luft auf. Diskontraten spiegeln die Werte und Prioritäten der gegenwärtigen Generation; die Werte und Prioritäten künftiger Generationen berücksichtigen sie von sich aus nicht. Darin steckt eine Schieflage im Blick auf die Fairness, wenn nicht gar eine krasse Ungerechtigkeit. Die sich im Standard-Denken spiegelnde Moralität hat (Groucho) Marx einmal karikiert: „Künftige Generationen haben nichts für mich getan; weshalb sollte ich irgendetwas für sie tun?“ Der Wohlfahrtsökonom Pigou verglich vor fast einem Jahrhundert die Vorstellung von Zeit-Präferenzen mit den Eigenschaften eines fehlerhaften Teleskops. Er war der Ansicht, dass künftig lebende Menschen als den gegenwärtig lebenden Menschen ebenbürtig behandelt werden sollten. Und er zog den Schluss: Angelegenheiten generationenübergreifender Gerechtigkeit sind nicht einfach über Marktkräfte zu regeln, vielmehr fällt dem Staat eine entscheidende Rolle zu. Der Moralphilosoph Rawls hat im Blick auf Gerechtigkeit – gemeint ist hier Verfahrensgerechtigkeit, ausgerichtet auf Fairness im distributiven Sinn – eine Perspektive entwickelt, die ihn zur Schlussfolgerung führte, gesellschaftliche und wirtschaftliche Wohlfahrt müsse so verteilt werden, dass die am wenigsten begünstigte Person oder Gruppe den höchsten akzeptablen Anteil bekäme. Das ist faktisch eine Weiterführung liberalen Denkens à la John Stuart Mill in Kantischer Perspektive.16 Sie unterscheidet sich radikal von Anschauungen des Utilitarismus, die irgendwie – jedoch raffinierter ausgearbeitet – immer noch die ökonomische Analyse durchtränken. Die Analyse von Rawls ließe sich ausweiten auf ein generationenübergreifendes Verteilungsspiel. Dabei würde Ähnliches, und mit dem Weg-Diskontieren der Anteile künftiger Generationen ganz Unvereinbares, herauskommen. Das weckt berechtigten Zweifel an der Vorstellung von Zeit-Präferenzen, wie sie in ökonomischen Bewertungen üblich ist. J. de Santa Ana geht weiter: Um der Gerechtigkeit zu dienen, sei die Umsetzung dieser Kritik in soziale Aktion erforderlich: „…damit die Gerechtigkeit deutlich fortschreitet, muss das System transformiert werden“17. Was heißt das unter den Bedingungen des Klimawandels? Will man über Vermeidungsmaßnahmen gegen die globale Erwärmung gemäß derjenigen Logik entscheiden, derzufolge sogar ein aufgeklärter und sozial verantwortlicher homo oeconomicus folgen würde, der übrigens aus mehreren Gründen nicht wirklich vertrauenerweckend ist, dann 16 Im Sinne von Kants Grundgedanken der Achtung vor Personen und der Bereitschaft vernunftbegabter Wesen, einem einheitlich für alle gültigen moralischen Gesetz zu folgen, dem „kategorischen g Imperativ“. 17 SANTA ANA 1993, S. 292.
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muss man die Kosten derartiger Maßnahmen mit ihren Nutzen in Gestalt vermiedener Schäden vergleichen. Die meisten ökonomischen Analysen würden Wirkungen, die nach einer Generation oder später in der Zukunft eintreten, wegdiskontieren. Der britische Ökonom Nicholas Stern hat anders gerechnet. Er blieb im Rahmen des KostenNutzen-Kalküls der traditionellen Ökonomie, rechnete jedoch viele Auswirkungen herein, die normalerweise nicht monetarisiert werden, und gewichtete die Kosten und Nutzen, die den Menschen entstehen, auf eine faire Weise neu; er diskontierte die künftigen Wirkungen mit der fast vernachlässigbaren Diskontrate von 0,1% statt der normalen 5 bis 10%, und dies in einem Zeithorizont von 200 (sic!) Jahren. Seine Rechnung ergab, dass die Nutzen in Gestalt vermiedener Schäden um das Fünf- bis Zwanzigfache die Kosten übersteigen würden, die in ein Vermeidungsprogramm zu investieren wären, das den Klimawandel auf unter 3° Celsius begrenzt. Die erforderlichen Investitionen lägen auf dem Niveau von durchschnittlich 1% des Bruttoinlandprodukts; sie würden rasch ansteigen, wenn die Begrenzung der Erwärmung näher bei 2° liegen soll.18 Mit diesen Ergebnissen sind die typischeren ökonomischen Analysen zu vergleichen, nach denen radikale Vermeidungsstrategien jetzt häufig für zu teuer oder für wirtschaftlich zu riskant gehalten werden, um sie in Betracht zu ziehen. Unterschiedliche Diskontraten in ökonomischen Bewertungen von Programmen zur Begrenzung des Klimawandels entscheiden also darüber, ob empfohlen wird, Emissions-Vermeidungsstrategien spät oder gar nicht – oder sofort und sehr nachdrücklich ins Werk zu setzen. Internationale Gerechtigkeit hätte höchstwahrscheinlich eine stärkere Neigung zum Eingehen auf die Klima-Anpassungsbedürfnisse armer Länder und zu Strategien, die das zeitliche Profil der Anpassungskosten niedrig halten.
VI. Bewertung Was sagt uns all das? Die Hauptlektion ist schon ziemlich alt, wurde aber von den Verfechtern der vorherrschenden ökonomischen Theorie vergessen: In Fällen ernstlichen Marktversagens führt Marktwirtschaft nicht automatisch oder auf irgendwie spezifische Weise, sui generis, sozial erstrebenswerte Gesellschaftszustände herbei. Die unsichtbare Hand ist nicht notwendigerweise wohltätig. Das hat systemische Rückwirkungen, und akademische Institutionen einschließlich der FEST tun gut daran, sie zu bedenken. Die Herausforderungen des Klimawandels geben einen nützlichen Anhaltspunkt, wenn man sich mit dieser Aufgabe beschäftigt, denn dieser Wandel bedroht die soziale Gerechtigkeit international und generationenübergreifend. Dem Klimawandel muss international begegnet werden, gestützt auf Regimes, die fähig sind, Marktkräfte zu steuern und im Zaum zu halten. Dabei müssen externe Effekte und Kosten berücksich18
Vermeidungsstrategien für die Erwärmungs-Begrenzung von 3° bis 2° würden sich nach IPCC-Untersuchungen im Durchschnitt um 1,3% bis 5,5% auf das Bruttoinlandprodukt auswirken. Nach Diefenbachers Ansatz würde der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft die Industrienationen 15% bis 20% ihres Bruttoinlandprodukts kosten. Das klingt ziemlich düster im Vergleich mit den IPCC-Zahlen und Sterns 1%. In den Berechnungen von Stern und IPCC kommen mögliche sektorale Rückschläge und Auswirkungen auf das Konsumniveau nicht vor, die Diefenbacher vermutlich eingerechnet hat.
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tigt werden, die andere belasten, gleichviel, wo und wann auch immer diese anderen Menschen leben. Das erfordert viel Analyse, die Umsetzung in gangbare Wege der internationalen Politik, eine erhebliche Erneuerung des politischen Wollens und eine ganze Menge Zivilcourage bei allen Handelnden und Beteiligten, die es angeht. Die Wissenschaft der Ökonomie ist im Nachteil, wenn es um Probleme wie Ungleichheit und Klimawandel geht. Ihr Handicap ist: Sie hat beim Analysieren das Achten auf Billigkeit abgeschafft – sogar beim m bloßen Verteilen. Als um 1870 diese Wissenschaft sich „Ökonomie“ statt „Politische Ökonomie“ zu nennen begann, verlor sie mehr als nur ein Adjektiv – sie brachte sich selberr um den Status einer relevanten Sozialwissenschaft. Positiver ausgedrückt: Um gesellschaftliche Dilemmata verstehen und Auswege vorschlagen zu können, bedarf die moderne Wissenschaft der Ökonomie per definitionem der Ergänzung durch komplementäre Problemzugänge, und es wäre klug gehandelt, wenn die Berufsökonomen viel bescheidener vorgehen würden, als es jetzt scheint. Dennoch hat die ökonomische Analyse wichtige Funktionen zu erfüllen. Vor allem kann eine unabhängige ökonomische Wissenschaft viel beitragen zum Verständnis von Prozessen wie dem Wirtschaftswachstum und dessen Stärken und Schwächen in Anbetracht einer angestrebten menschlichen und nachhaltigen globalen Entwicklung. Sie kann viel zum Verständnis von Mechanismen wie etwa der Alternative von Markt und Intervention beitragen. Und sogar in ihrem konventionellen Modus gibt sie auf belangvolle Fragen nützliche Antworten. Ökonomen haben ihre Rolle zu spielen. Es steht mit ihnen glücklicherweise wie mit den Christen und Muslimen: Nicht alle sind Fundamentalisten. Doch: Viele von ihnen sind Gläubige – sie erlagen der Versuchung der neoklassischen Ideologie, der Brillanz ihrer Klarheit und ihres Scheins – glänzend und verblendend. In der Tat: „Es ist nicht zu legitimieren, dass man darauf verzichtet, über ein … gerechteres Handeln und Gestalten weltweit nachzudenken“. Ich wünsche mir, dass wir in den kommenden Jahrzehnten zur Entwicklung sachdienlicher und daher multidisziplinärer und kritischer sozialer einschließlich ökonomischer Analysen beitragen und weiterhin Gedanken in Maßnahmen investieren, die zu sozialer Gerechtigkeit führen – national, international, unter Zeitgenossen und Generationen überspannend.
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Das Ziel der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts HANS-MICHAEL EMPELL
Inhalt I. II. III. IV.
Zur Einführung „Internationale Gerechtigkeit“ im klassischen Völkerrecht „Internationale Gerechtigkeit“ in der UN-Charta Die Bedeutung der Friedenswahrung nach dem Willen der Verfasser der UNCharta V. Dekolonisierung und Gewaltverbot VI. „Aufwertung“ der Menschenrechte VII. Zwingendes Recht und Pflichten erga omnes VIII. Entwicklungen des Menschenrechtsschutzes nach dem Ende des Kalten Krieges IX. Einschätzung
I. Zur Einführung In der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die 2007 unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ erschienen ist, kommt dem Begriff des Friedens zentrale Bedeutung zu. Friede ist danach kein Zustand, sondern ein gesellschaftlicher Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender politischer und sozialer Gerechtigkeit. Als „Dimensionen des gerechten Friedens“ werden genannt: der Schutz vor Gewalt, die Förderung der Freiheit, der Abbau von Not und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit.1 Das „ethische Leitbild des gerechten Friedens“, so heißt es weiter, „ist zu seiner Verwirklichung auf das Recht angewiesen.“2 Das Völkerrecht bedürfe einer Friedensethik, um völkerrechtliche Institutionen und Normen auf ihren moralischen Gehalt hin zu beurteilen. Eine Völkerrechtsethik sei auch zur Erwägung derjenigen moralischen Konflikte erforderlich, die bei Regelungslücken, Interpretationsspielräumen oder Kollisionen völkerrechtlicher Bestimmungen auftreten könnten. Im Hinblick auf diese Feststellungen drängen sich zwei kritische Überlegun1
Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen (2007), S. 53 ff. Dies entspricht im Wesentlichen dem an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft bereits in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten Friedenskonzept, wonach Frieden ein Prozess ist, der darauf abzielt, Not, Gewalt und Unfreiheit zu minimieren; vgl. z. B. PICHT (1971), S. 177. 2 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen (2007), S. 57.
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gen auf. Zum einen: Sicher besteht ein enger Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit. Ohne ein Mindestmaß an Gerechtigkeit wird Frieden nicht dauerhaft und stabil sein. Im Unfrieden, insbesondere im offenen Krieg, kommt es zu Ungerechtigkeit. Gleichwohl ist problematisch, ob das Verhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit wirklich derart harmonisch, ja sogar symbiotisch ist, wie es durch die Formel vom „gerechten Frieden“ nahegelegt wird. Bedenkenswert ist insbesondere, ob unfriedliche, gewaltsame Mittel erlaubt sind, um gerechte Ziele durchzusetzen. Zum anderen: Die zitierte Feststellung legt die Frage nahe, welche Bedeutung einer theologisch oder philosophisch fundierten Friedensethik, wie sie in der Denkschrift skizziert wird, im Blick auf das Völkerrecht zukommt. Zu den Aufgaben von Theologen und Philosophen gehört es nicht, völkerrechtliche Probleme mit Hilfe einer von ihnen konzipierten Friedensethik zu lösen. Es bildet vielmehr das Alltagsgeschäft eines jeden Völkerrechtlers, die angesprochenen Aufgaben zu bewältigen. Auch ist nicht erforderlich, moralische Prinzipien durch eine Friedensethik gewissermaßen von außen an das Völkerrecht heranzutragen. Solche Prinzipien sind bereits im Völkerrecht enthalten, wenn es auch zutrifft, dass diese Grundsätze häufig philosophische und theologische Wurzeln haben. Es ist aber eine genuin völkerrechtliche Aufgabe, herauszufinden, welchen Inhalt und welches Gewicht die dem Völkerrecht immanenten moralischen Prinzipien haben.3 Im Folgenden wird untersucht, wie das Verhältnis zwischen Frieden und internationaler Gerechtigkeit im Völkerrecht selbst gesehen wird.
II. „Internationale Gerechtigkeit“ im klassischen Völkerrecht Das klassische Völkerrecht, das sich in Europa während des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, regelte nahezu ausschließlich die Beziehungen zwischen Staaten. Seine Aufgabe bestand darin, die einzelstaatlichen Interessen aufeinander abzustimmen (Koordinationsrecht). Darüber hinausgehende, gemeinsame Ziele wurden nur in geringem Umfang anerkannt.4 Die Staaten bildeten keine „Staatengemeinschaft“, sondern eine „Staatengesellschaft.“5 Im Zentrum des Völkerrechts stand die Souveränität der Staaten. Sie waren nahezu die einzigen Völkerrechtssubjekte.6 Wesentlicher Bestandteil dieser 3
Zum Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie einerseits und einzelnen Fachdisziplinen wie dem Völkerrecht andererseits vgl. den Beitrag von S. SCHAEDE und G. HARTUNG in diesem Band. 4 Die „Humanitätsinterventionen“ des 19. Jahrhunderts sind ein solches Beispiel. In zahlreichen Fällen griffen Staaten diplomatisch oder sogar militärisch ein, um (angebliche) Verstöße gegen das Prinzip der Humanität durch andere Staaten zu beenden. Ob sich ein derartiges Vorgehen mit dem Völkerrecht vereinbaren ließ, war allerdings immer umstritten; vgl. GREWEE (1984), S. 575 ff. 5 Die Unterscheidung zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ geht auf den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies zurück. Eine Gesellschaft ist danach eine Assoziation zur Förderung der Interessen ihrer Mitglieder, in der die Individuen wesentlich von einander getrennt auf friedliche Art nebeneinander leben; eine Gemeinschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die Individuen auf Grund gefühlsmäßiger Bindung oder gemeinsamer Wertvorstellungen in einer umfassenden Einheit verbunden zusammen leben; vgl. PAULUS (2001), S. 10 ff. und 45 ff. 6 Als Völkerrechtssubjekte wurden auch der Heilige Stuhl und der Malteser Ritterorden anerkannt.
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Souveränität war das Recht, Krieg zu führen (ius ad bellum). Aber auch humanitäre Normen wurden anerkannt, etwa zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Kombattanten im Kriege (ius in bello). In Friedenszeiten galt das Fremdenrecht, dessen Zweck darin bestand, Einzelpersonen vor Übergriffen eines fremden Staates zu schützen, in dem sie sich aufhielten. Individuen waren jedoch nicht Träger von Rechten und Pflichten, sie wurden nicht als Völkerrechtssubjekte qualifiziert. Falls eine Norm missachtet wurde, die Einzelpersonen zugute kommen sollte, waren nicht diese rechtlich verletzt, sondern deren Heimatstaat (Mediatisierung des Menschen).7 Zu den grundlegenden Normen des Völkerrechts gehörten das Prinzip der Staatengleichheit und das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (Interventionsverbot). Internationale Gerechtigkeit wurde nahezu ausschließlich im Verhältnis zwischen Staaten angestrebt – mit Hilfe des Prinzips der Staatengleichheit.8 Im 20. Jahrhundert trat ein grundlegender Wandel ein. Die Erfahrung zweier Weltkriege und damit verbundener Menschheitsverbrechen, insbesondere des Völkermordes an den europäischen Juden, führten dazu, das traditionelle Völkerrecht und die damit verbundene, überragende Bedeutung der staatlichen Souveränität prinzipiell in Frage zu stellen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf die USA und die Sowjetunion zu Weltmächten aufstiegen, sollte eine neue internationale Ordnung errichtet werden. Internationale Organisationen wurden gegründet, allen voran die Vereinten Nationen (UN).9 Am 26.6.1945 trat die UN-Charta in Kraft; sie bildet die Basis des modernen Völkerrechts. Internationale Gerechtigkeit wird nicht mehr nur im Verhältnis zwischen Staaten angestrebt, sondern auch gegenüber den einzelnen Menschen (Menschenrechte), ferner gegenüber ethnischen, rassischen, religiösen und anderen Gruppen (Genozidverbot, Minderheitenschutz) sowie gegenüber Völkern (Selbstbestimmungsrecht, Recht auf Entwicklung) und schließlich im Hinblick auf die Menschheit insgesamt (der Meeresboden als „gemeinsames Erbe der Menschheit“10). Ziele, die über einzelstaatliche Inter7 Das Fremdenrecht und das humanitäre Völkerrecht begründeten keine Rechte und Pflichten für Individuen, sondern für deren Heimatstaaten. Dadurch, dass die verpflichteten Staaten die Normen respektierten, wurden Einzelpersonen lediglich faktisch begünstigt. Falls eine Norm verletzt wurde, stand es im Ermessen des Heimatstaates der betroffenen Person, ob er gegenüber dem rechtswidrig handelnden Staat vorgehen wollte, um seinen Bürger zu schützen. Dies ist, was das Fremdenrecht angeht, heute noch geltendes Recht. 8 In einem engen Zusammenhang mit dem Grundsatz der Staatengleichheit stand das Prinzip der Gegenseitigkeit (Reziprozität). Die Gegenseitigkeitserwartung bildete das Motiv für die Erzeugung völkerrechtlicher Normen (Verträge, Völkergewohnheitsrecht). Die Erwartung und Verwirklichung gegenseitiger Vorteile führte dazu, dass die Staaten die völkerrechtlichen Normen in der Regel befolgten. Das Fehlen einer solchen Erwartung konnte dazu beitragen, dass völkerrechtliche Normen missachtet wurden. Dieser Grundsatz diente im klassischen Völkerrecht ebenfalls dazu, internationale Gerechtigkeit herzustellen. Auch im modernen Völkerrecht ist das Reziprozitätsprinzip von grundlegender Bedeutung; vgl. Verdross/Simma (1984), S. 48 ff. = §§ 64 ff. Aus dem Grundsatz der Staatengleichheit folgt ferner das Konsensprinzip: Normen entstehen durch Konsens der Staaten, die sich an die Normen gebunden haben (durch Vertrag oder die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht). Das Konsensprinzip ist auch im modernen Völkerrecht maßgeblich. 9 Die UN bildeten die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes (1920–1946). 10 Vgl. Art. 136 des Seerechtsübereinkommens der UN (10.12.1982).
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essen hinausgehen, werden völkerrechtlich anerkannt. Um diese Ziele zu erreichen, sind die Staaten aufgefordert, auf der Basis des Völkerrechts zusammenzuarbeiten (Kooperationsrecht). Eine „Staatengemeinschaft“ ist entstanden, die vornehmlich in den UN organisiert ist.
III. „Internationale Gerechtigkeit“ in der UN-Charta Der UN-Charta liegt das Ziel zu Grunde, die Gerechtigkeit international zu fördern, und das heißt im Sinne des modernen Völkerrechts: dafür zu sorgen, dass die Rechte von Individuen, Gruppen und Völkern anerkannt werden.11 Was dies im Einzelnen bedeutet, lässt sich vor allem der Präambel sowie Art. 1 UN-Charta entnehmen. Danach sind die Staaten verpflichtet, − „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“ (Art. 1 Ziff 1 UNCharta); − „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln" (Art. 1 Ziff. 2 UN-Charta) sowie − „internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“ (Art. 1 Ziff. 3 UN-Charta). Das umfassende Ziel der Förderung von internationaler Gerechtigkeit wird in der UN-Charta demnach in mehrere Teilziele gegliedert, insbesondere in die Wahrung von Frieden und Sicherheit, in den Menschenrechtsschutz und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Im Folgenden wird untersucht, welches Gewicht der Friedenswahrung im Verhältnis zum Menschenrechtsschutz und zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zukommt. Da sich die Auffassung in dieser Frage seit 1945 erheblich gewandelt hat, ist die Untersuchung historisch angelegt. Einige wenige, besonders folgenreiche Entwicklungsschritte werden exemplarisch dargestellt.
IV. Die Bedeutung der Friedenswahrung nach dem Willen der Verfasser der UN-Charta In der Präambel der UN-Charta wurde betont, die Völker der Vereinten Nationen seien „fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat.“ 11
In der UN-Charta werden die Worte „Gerechtigkeit“ und „gerecht“ mehrfach verwendet, allerdings nur, um auf einen ethischen Maßstab außerhalb des Völkerrechts zu verweisen, der neben völkerrechtlichen Regelungen herangezogen werden sollte. So heißt es in Abs. 3 der Präambel, es gelte, „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können“, vgl. auch Art. 1 Ziff. 1, Art. 2 Ziff. 3, Art. 32 und Art. 73 UN-Charta. Die Worte „Gerechtigkeit“ und „gerecht“ („justice“, „just“) werden in der UN-Charta nicht näher erläutert.
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Die zitierten Worte, die an den Anfang der Präambel (Abs. 1) gestellt und dadurch besonders hervorgehoben wurden, bildeten nicht bloß ein plakatives, aber unverbindliches, moralisches Bekenntnis, sondern waren Ausdruck einer grundsätzlichen Entscheidung, die auch im operativen Teil der UN-Charta ihren Niederschlag gefunden hat.12 So wurden die Staaten verpflichtet, Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen (Art. 2 Ziff. 3 UN-Charta). Vor allem jedoch wurde ein Gewaltverbot statuiert (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta):13 „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Das Verbot sollte umfassend sein: Jede Androhung und Anwendung von Gewalt zwischen Staaten wurde untersagt.14 Eine zwischenstaatliche Gewaltanwendung, die dem Zweck dient, schwere Menschenrechtsverletzungen zu beenden, also eine humanitäre Intervention,15 war nicht vorgesehen. Die einzige in der UN-Charta erlaubte Ausnahme bildete das Recht eines jeden Staates zur Selbstverteidigung gegenüber einem bewaffneten Angriff (Art. 51 UN-Charta).16 In untrennbarem Zusammenhang mit dem Gewaltverbot stand die Einrichtung des UN-Sicherheitsrates, bestehend aus 15 Mitgliedern, darunter die fünf ständigen Mitglieder (USA, Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien, China), denen ein Vetorecht eingeräumt wurde. Der UN-Sicherheitsrat wurde in Kap. VII der UN-Charta für zuständig erklärt, verbindlich festzustellen, dass „eine Bedrohung 12
Vgl. RIEDEL (1997), S. 34 ff. Ausführliche Darstellungen der historischen Entwicklung vom ius ad bellum über die Satzung des Völkerbundes (28.4.1919) und den Briand-Kellog-Pakt (27.8.1928) zum Gewaltverbot der UN-Charta bieten KIMMINICH (1973), S. 295 ff.; FASSBENDER (2008), S. 99. 14 Die Worte: „gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare (Androhung oder Anwendung von Gewalt)“ bezeichneten nach dem Willen der Verfasser der UN-Charta keine Einschränkung des Gewaltverbots – etwa in dem Sinne, dass eine mit den Zielen der UN vereinbare Gewalt erlaubt sei. Diese Worte sollten vielmehr die Bedeutung des Schutzes kleiner Staaten hervorheben: Kleine Staaten unterliegen n einem besonderen Risiko, durch größere Staaten in ihrer territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit beeinträchtigt zu werden; vgl. RANDELZHOFER (1995), 117 f. = RN 35. 15 Häufig werden auch solche militärischen Maßnahmen als „humanitäre Interventionen“ bezeichnet, die vom UN-Sicherheitsrat autorisiert sind (Kap. VII der UN-Charta). In der vorliegenden Untersuchung bezieht sich der Terminus allein auf militärische Einsätze, die von einzelnen Staaten oder Staatengruppen ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat durchgeführt werden. Der Ausdruck „humanitäre Interventionen“ bezeichnet in der vorliegenden Untersuchung auch keine Maßnahmen, die zur Rettung eigener Staatsangehöriger gegenüber einem fremden Staat getroffen werden. Kritisch zum Terminus „humanitäre Intervention“ lässt sich anführen, dass der gewaltsame Charakter der Maßnahme damit nicht zum Ausdruck gebracht und der Einsatz militärischer Mittel einschließlich seiner Folgen dadurch verharmlost wird. Deshalb ist zu betonen, dass nicht die Mittel der Intervention humanitär sind, sondern dass ihre Motive und Ziele es sein sollen. 16 Als weitere Ausnahme vom Gewaltverbot ist noch die Feindstaatenklausel (Art. 107 UN-Charta) zu erwähnen. Danach sind militärische Maßnahmen gegen Deutschland oder einen seiner Verbündeten im Zweiten Weltkrieg von der UN-Charta nicht betroffen. Die Klausel ist heute obsolet. 13
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oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ vorliegt (Art. 39 UN-Charta), und auf dieser Grundlage Zwangsmaßnahmen zu beschließen, die bis zu militärischen Interventionen reichen konnten (Art. 41 und 42 UN-Charta).17 Nach dem Willen der Verfasser der UN-Charta sollte eine Friedensbedrohung oder ein Friedensbruch gegeben sein, falls ein zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikt zu entstehen drohte oder bereits ausgebrochen war. Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates nach Kap. VII der UN-Charta dienten somit nahezu ausschließlich dem Zweck, das Gewaltverbot durchzusetzen, um den Weltfrieden zu wahren oder wiederherzustellen. Diese Regelung war allerdings mit einer praktischen Einschränkung versehen: Die Siegermächte waren sich darin einig, jegliche Ausübung militärischer Gewalt durch andere Staaten zu unterbinden, während sie selbst militärisch freie Hand behalten wollten.18 Bei der Ausarbeitung der UN-Charta verständigten sie sich zwar darauf, ein umfassendes Gewaltverbot in die UN-Charta aufzunehmen; dies aber nur, weil klar war, a dass sie vom UN-Sicherheitsrat auf Grund ihres Vetorechts nicht zur Rechenschaft würden gezogen werden können, falls sie einmal das Verbot missachten sollten. Insofern war (und ist) selbst das Gewaltverbot nur eine „lex imperfecta“.19 Was die Menschenrechte angeht, so wurden die Mitgliedsstaaten der UN verpflichtet, „gemeinsam und jeder für sich mit der Organisation“ zusammenzuarbeiten, um die „allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zu erreichen (Art. 55 c und 56 UN-Charta). Den Staaten wurde damit nicht unmittelbar die Pflicht auferlegt, die Menschenrechte zu respektieren, sondern lediglich, zu kooperieren mit dem Ziel, die Achtung der Menschenrechte zu erreichen,20 und das hieß in erster Linie: einen Vertrag auszuarbeiten, auf dessen Grundlage Pflichten zur Beachtung der Menschenrechte für die Vertragsstaaten entstehen sollten.21 Das Ziel, die Achtung der Menschenrechte zu erreichen, bildete eine geradezu revolutionäre Neuerung. Im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes wurde in der Folge zum ersten Mal das Individuum als Völkerrechtssubjekt anerkannt.22
17 Der UN-Sicherheitsrat kann auch Regionalorganisationen ermächtigen, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um regional begrenzte Probleme zu lösen; vgl. Art. 52 f. UN-Charta. 18 FASSBENDER (2004), S. 252. 19 WEHBERG (1953), 65. Unter einer „lex imperfecta“ ist eine Rechtsvorschrift zu verstehen, deren Verletzung keine Rechtsfolge nach sich zieht - weder eine Strafe oder sonstige Sanktion noch die rechtliche Unwirksamkeit der Handlung. Zu Reformplänen im Hinblick auf eine Einschränkung des Vetorechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates vgl. S. 207ff. 20 Vgl. GOODRICH / HAMBRO (1949), S. 323: Die Verfasser der UN-Charta konnten keinen Konsens in dieser Frage erreichen. 21 Dies führte zunächst zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10.12.1948), die nur eine (rechtlich nicht unmittelbar verbindliche) Empfehlung bildet, und später zu den beiden UN-Menschenrechtspakten (19.12.1966) sowie zu einer Reihe weiterer, auf einzelne Menschenrechte bezogener Abkommen. 22 Die Individuen wurden durch die universellen Menschenrechtsverträge Träger von Rechten und damit als Völkerrechtssubjekte anerkannt. Vgl. auch den Beitrag von STEPHAN SCHAEDE und GERALD HARTUNG, S. 32.
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Zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker wurde ein internationales Treuhandsystem geschaffen, um abhängige Gebiete (zum Beispiel Kolonien, Protektorate, Mandatsgebiete) nach und nach in die Unabhängigkeit zu führen (Art. 75 ff. UN-Charta). Das Ziel der Friedenswahrung unterschied sich von den anderen, in Art. 1 UN-Charta festgelegten Zielen in einigen wichtigen Punkten: – Indem die Mitgliedsstaaten verpflichtet wurden, Streitigkeiten friedlich beizulegen und das Gewaltverbot zu respektieren (Art. 2 Ziff. 3 und 4 UN-Charta), wurden die Staaten unmittelbar auf ein bestimmtes Verhalten anderen Staaten gegenüber verpflichtet. Im Hinblick auf die übrigen Ziele wurden solche Pflichten nicht begründet – weder anderen Staaten noch sonstigen Rechtssubjekten (zum Beispiel einzelnen Menschen) gegenüber. – In Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta wurde festgelegt, die UN hätten dafür Sorge zu tragen, dass auch solche Staaten, die nicht Mitglieder der UN sind,23 das Prinzip der Friedenswahrung und damit das Gewaltverbot respektieren.24 Eine vergleichbare, auf andere Ziele der UN bezogene Regelung fehlt in der UN-Charta. – Für den Fall einer Verletzung des Gewaltverbots wurden rechtsverbindliche Entscheidungen und Zwangsmaßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat vorgesehen. Bei allen anderen Zielen der UN erhielten die UN-Organe lediglich die Befugnis, Untersuchungen durchzuführen, Berichte zu verfassen und Empfehlungen auszusprechen.25 Zur Durchsetzung des Gewaltverbots wurden somit weiterreichende Kompetenzen begründet als im Hinblick auf andere gemeinsame Ziele. Die Verfasser der UN-Charta haben die Friedenswahrung demnach als das bedeutsamste Ziel eingestuft. Sie hatten zwei Weltkriege erlebt und waren deshalb entschlossen, für eine Welt ohne Kriege zu sorgen. Weitere gemeinsame Ziele wurden zwar in die UN-Charta aufgenommen. Die Umsetzung dieser Zielbestimmungen sollte aber (anders als die Friedenswahrung) weitgehend den einzelnen Staaten überlassen bleiben. Insofern wollten die Verfasser der UN-Charta an den Grundsätzen des klassischen Völkerrechts festhalten. Das Prinzip der Staatengleichheit und das Interventionsverbot wurden in der UN-Charta in vollem Umfang anerkannt (vgl. Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta). Selbst UN-Organen (vom UN-Sicherheitsrat abgesehen) wurde untersagt, sich in die wesentlich inneren Angelegenheiten der UN-Mitgliedsstaaten einzumischen (Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta). Dies galt sogar für Menschenrechtsfragen: Es sollte den Staaten überlassen bleiben, die (noch auszuarbeitenden) Menschenrechtsstandards umzusetzen. Ein internationaler Menschenrechtsgerichtshof oder vergleichbare Kontrollorgane wur23
Nicht Mitglieder der UN sind heute: die Vatikanstadt, die Demokratisch-Arabische Republik Sahara, die Türkische Republik Nordzypern, die Republik Kosovo, die Cook-Inseln und die Republik China (Taiwan). 24 Umstritten ist, ob durch Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta auch solche Staaten verpflichtet werden, die nicht zu den Mitgliedern der UN gehören, oder ob dadurch lediglich eine Verpflichtung der UN begründet wird, auf Nicht-Mitgliedsstaaten im Sinne einer friedlichen Konfliktlösung einzuwirken; vgl. GRAF VITZTHUM (1995), S. 132 ff. = RN 1 ff. zu u Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta. 25 Die Urteile des Internationalen Gerichtshofs f (IGH), der ein UN-Organ ist, sind ebenfalls verbindlich, vgl. Art. 92 und 94 UN-Charta.
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den nicht geplant. Die Tätigkeit solcher Institutionen wäre als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der betroffenen Staaten aufgefasst worden. Die einzige Norm, die mittels Kontrolle und Sanktionen von Seiten der UN sollte durchgesetzt werden können, bildete das Gewaltverbot.
V. Dekolonisierung und Gewaltverbot Die während des Zweiten Weltkrieges hergestellte Einheit zwischen den USA, der Sowjetunion und den übrigen Alliierten zerfiel in den Jahren nach 1945, es begann die Epoche des Kalten Krieges. Gleichzeitig verstärkte sich der Kampf nationaler Befreiungsbewegungen gegen den Kolonialismus und gegen rassistische Regime. Betroffen waren die Kolonialmächte Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal, Großbritannien und die Niederlande sowie das Apartheidregime in Südafrika. Die antikolonialen Befreiungskämpfe waren zugleich „Stellvertreterkriege“, in denen sowohl die Sowjetunion als auch die USA finanziell und militärisch die Befreiungsbewegungen unterstützten und auf sie einwirkten. Die antikolonialen Bewegungen beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Recht wird in der UN-Charta zwar erwähnt (vgl. Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 UN-Charta), aber weder als eigenständiges Ziel der UN formuliert noch definiert, sondern nur im Zusammenhang mit dem Ziel angesprochen, friedliche und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern zu erreichen. Im Verlauf des Prozesses der Dekolonisierung erlangte dann aber gerade dieses Recht zentrale Bedeutung. In der UN-Generalversammlung wurden wichtige Resolutionen verabschiedet, die sich auf den antikolonialen Kampf bezogen. Möglich wurde dies, weil zahlreiche neue Staaten entstanden waren und die Zusammensetzung der UN-Generalversammlung sich geändert hatte, so dass die Länder der sog. Dritten Welt zusammen mit den sich als sozialistisch verstehenden Staaten die Mehrheit bildeten. In der „Deklaration über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker“ (Res. 1514 vom 14.12.1960) „verkündet die Vollversammlung feierlich, dass dem Kolonialismus in allen seinen Formen und Erscheinungen unverzüglich und ohne jede Einschränkung ein Ende gemacht werden muss“ (Präambel, Abs. 12). In der „Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen“ („Friendly-Relations-Declaration“), einer Resolution der UN-Generalversammlung vom 24.10.1970, heißt es: „Bei ihren Aktionen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmaßnahmen in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung sind diese Völker berechtigt, in Übereinstimmung mit den Zielen und Prinzipien der Vereinten Nationen um Unterstützung nachzusuchen und diese zu erhalten.“ Wenn die Unterstützung von Widerstandsaktionen rechtmäßig ist, wie hier ausdrücklich festgestellt wird, muss auch der Widerstand selbst legal sein. Die zitierten Resolutionen sind allerdings nur Empfehlungen, die rechtlich nicht unmittelbar verbindlich sind. Auch haben westliche Staaten der „Deklaration über die Gewährung der Unabhän-
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gigkeit an die kolonialen Länder und Völker“ nicht zugestimmt.26 Die Frage, ob der antikoloniale Kampf als völkerrechtskonform eingestuft werden kann, war (und ist bis heute) umstritten.27 Die dargestellte Entwicklung dürfte nicht ohne Auswirkungen auf den Rang des Gewaltverbots (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) geblieben sein. Folgt man dem Wortlaut der Vorschrift, soll allein die Androhung und Anwendung von Gewalt zwischen Mitgliedern der UN, und das heißt: zwischen Staaten, verhindert werden. Antikoloniale Befreiungsbewegungen verstoßen daher nicht unmittelbar gegen das Gewaltverbot, ihr Kampf steht jedoch in einem engen Zusammenhang mit dem Verbot. Der Sinn und Zweck von Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta besteht darin, organisierte militärische Gewalt zu unterbinden, um den Frieden in der Welt zu erhalten. Dieses Ziel wurde durch die antikolonialen Befreiungskriege in Mitleidenschaft gezogen, zumal die beteiligten Parteien von Staaten militärisch unterstützt wurden. Zweifelhaft ist daher, ob das Gewaltverbot seine Stellung als wichtigste Norm des Völkerrechts hat behaupten können oder ob (weitere) Ausnahmen vom Verbot erlaubt oder doch zumindest diskutiert wurden, um gemeinsame Ziele durchsetzen zu können.
VI. „Aufwertung“ der Menschenrechte Aus der Pflicht der UN-Mitgliedsstaaten zur Zusammenarbeit, um „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ zu erreichen (Art. 55 c) und 56 UN-Charta), wurde zunächst nur eine Pflicht der Staaten zur Kooperation abgeleitet.28 In den folgenden Jahren setzte sich jedoch eine neue, weitergehende Interpretation durch.29 Danach sind die Mitgliedsstaaten der UN zwar nicht verpflichtet, alle Menschenrechte zu respektieren, wohl aber setzen sie sich in Widerspruch zu ihrer Kooperationspflicht, wenn sie Menschen auf Grund von Rasse, Geschlecht, Sprache oder Religion diskriminieren.30 Auf dieser Basis hat die UN-Generalversammlung zum Beispiel das Apartheidregime in Südafrika verurteilt.31 Die Menschenrechte erhielten zudem dadurch größeres Gewicht, dass die antikolonialen Bestrebungen nicht nur als Kampf für die nationale Selbstbestimmung verstanden wurden, sondern auch als Kampf für die Menschenrechte, insbesondere für die Beseitigung rassischer Diskriminierung. Der enge Zusammenhang zwischen dem 26
Das Abstimmungsergebnis lautete: 89 Stimmen dafür, keine Gegenstimme, 9 Stimmenthaltungen: USA, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal, Südafrika, Belgien, Australien, Dominikanische Republik; vgl. Völkerrecht. Dokumente, Teil 2 (1950-1969). 1980, S. 484 Anm. 1. Zur Diskussion über die Legalitätt des gewaltsamen Kampfes gegen den Kolonialismus vgl. RANDELZHOFER (1995), S. 121 = RN 45 f. zu Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta. 27 Vgl. DOEHRING (1995), S. 69 ff. = RN 54 ff. zu „Self-determination“. 28 Vgl. S. 196. 29 Res. 616 B (5.12.1952); vgl. WOLFRUM (1995), S. 795 = RN 8 zu Art. 56 UN-Charta. 30 Vgl. PARTSCH (1995), S. 780 = RN 12 zu Art. 55 c) UN-Charta; WOLFRUM (1995), S. 794 = RN 2 zu Art. 56 UN-Charta. 31 Vgl. z. B. Res. 2671 F (8.12.1970).
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Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Menschenrechten wurde in den beiden UN-Menschenrechtspakten (19.12.1966) zum Ausdruck gebracht. Im gleichlautenden Art. 1 der Pakte wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt und erläutert. Der dadurch dokumentierte Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ermöglicht es, ein wichtiges Argument zugunsten der Legalität humanitärer Interventionen zu entwickeln: Wenn Staaten berechtigt sind, antikoloniale Befreiungsbewegungen in ihrem Kampf für Selbstbestimmung und für die Menschenrechte militärisch zu unterstützen, lässt sich dies als Sonderfall einer humanitären Intervention qualifizieren. Dann aber, so kann argumentiert werden, müssen humanitäre Interventionen generell erlaubt sein, zumal es Regime gibt, in denen die Menschenrechte in einem Ausmaß missachtet werden, das den Menschenrechtsverletzungen in Kolonien oder rassistischen Regimen zumindest vergleichbar ist. In der Debatte zur Frage der Legalität humanitärer Interventionen hat diese Argumentation, wenn auch erst sehr viel später, Bedeutung erlangt.32
VII. Zwingendes Recht und Pflichten erga omnes Noch eine weitere völkerrechtliche Entwicklung hat sich auf die Stellung des Gewaltverbots ausgewirkt. Diese Entwicklung vollzog sich nicht auf der Basis der UN-Charta, sondern im ungeschriebenen Völkerrecht, das heißt: im Völkergewohnheitsrecht. Drei Phasen lassen sich unterscheiden: Als erstes bildete sich eine Reihe von Normen heraus, die völkergewohnheitsrechtlich als für ausnahmslos alle Staaten („universell“) verbindlich anerkannt wurden: das Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes,33 einige Menschenrechtsnormen, zum Beispiel das Verbot der rassischen Diskriminierung, der Folter und der willkürlichen Tötung; ferner die Prinzipien des humanitären Völkerrechts, etwa das Verbot von militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, sowie der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker.34 Während auf der Basis der UN-Charta allein das Gewaltverbot universell verbindlich ist (Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta),35 gibt es im Völkergewohnheitsrecht nun eine Reihe weiterer Normen, die ebenfalls von allen Staaten zu beachten sind. Das Gewaltverbot hat insofern seine einzigartige Stellung eingebüßt. In einem zweiten Schritt wurde die Kategorie des zwingenden Rechts (ius cogens) ins Völkerrecht eingeführt. Am 22.5.1969 verabschiedete eine von der UN-Generalversammlung einberufene Staatenkonferenz das Wiener Übereinkommen über das Recht 32
Vgl. TESÓN (1988), S. 142 ff. mit weiteren Nachweisen. Umstritten ist, ob das Völkermordverbot außer in der Konvention gegen Völkermord (9.12.1948) auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, und, sollte dies der Fall sein: seit wann etwa das Verbot gewohnheitsrechtlich verbindlich ist; vgl. RAGAZZI (1997), S. 94; EMPELL (2003), S. 245. 34 Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, anzugeben, wann genau die Entstehung dieser Normen jeweils abgeschlossen war. Im Hinblick auf das Aggressionsverbot ist Ragazzi (1997), S. 76 der Auffassung, bereits zur Zeit der Annahme der UN-Charta sei das Verbot völkergewohnheitsrechtlich anerkannt gewesen.; vgl. auch Randelzhofer (1995), S. 125 = RN 56 zu Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta. 35 Vgl. S. 196f. 33
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der völkerrechtlichen Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention, t WVK). Darin wurde festgelegt, dass Normen zwingenden Rechts Vorschriften sind, die von der Staatengemeinschaft als Ganzer angenommen und anerkannt sind als solche, von denen unter keinen Umständen abgewichen werden darf (Art. 53 Satz 1 WVK). Verträge, die gegen eine ius-cogens-Norm verstoßen, sind nichtig (Art. 53 Satz 2 WVK). Einseitige Maßnahmen, zum Beispiel Vorbehalte,36 die einer Vorschrift zwingenden Rechts widersprechen, sind ebenfalls unwirksam. In der WVK wurde zwar nicht erläutert, welche völkerrechtlichen Bestimmungen nach Auffassung der Verfasser dieses Vertrages zum ius cogens gehörten. Die Staaten stimmten aber darin überein, dass das Aggressionsverbot zwingendes Recht sei,37 mehrere Staaten nannten zudem das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, das Verbot des Völkermordes und grundlegende Menschenrechtsnormen.38 In der völkerrechtlichen Diskussion werden auch die Grundsätze des humanitären Völkerrechts, das Folterverbot und das Verbot willkürlicher Tötungen zum ius cogens gerechnet.39 Im Wesentlichen sind dies die gleichen Normen, die zuvor als universell verbindliche, völkergewohnheitsrechtliche Vorschriften anerkannt worden waren. Die ius-cogens-Normen haben einen rechtlich höheren Rang als die übrigen völkerrechtlichen Bestimmungen. Untereinander sind sie gleichrangig: Sie alle dienen dem Zweck, Staatengemeinschaftsinteressen, letztlich Menschheitsinteressen, zu schützen. Das Aggressionsverbot hat somit keinen höheren Rang als andere ius-cogens-Normen. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zur Stellung des zwischenstaatlichen Gewaltverbots im Rahmen der UN-Charta. Schließlich ist, drittens, eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) anzusprechen, das Urteil im Fall „Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited“ (5.2.1970). Das Gericht stellte darin fest, es gebe Pflichten, die nicht nur gegenüber einzelnen Staaten bestehen, sondern auch gegenüber der Staatengemeinschaft als Ganzer. Derartige Pflichten seien allen anderen Staaten gegenüber einzuhalten – sie seien Pflichten erga omnes („obligations erga omnes“). Als Beispiele für Normen, die solche Pflichten begründen, nannte der IGH das Aggressionsverbot, das Verbot des Völkermordes sowie grundlegende Menschenrechtsbestimmungen, etwa das Verbot der rassischen Diskriminierung und das Sklavereiverbot.40 Später hat das Gericht auch das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker41 und die Grundsätze des humanitären 36 Ein Vorbehalt ist die einseitige Erklärung eines Vertragsstaates, durch welche die Verbindlichkeit einzelner Bestimmungen eines Vertrages für diesen Staat ausgeschlossen werden soll. 37 Es wurde entgegen der herrschenden Meinung nicht das Gewaltverbot, sondern das Aggressionsverbot als zwingendes Recht anerkannt; vgl. EMPELL (2003), S. 252 ff. Der Begriff der Aggression ist enger als der Gewaltbegriff. t Nur eine besonders intensive Gewaltanwendung wird als Aggression eingestuft. Eine (allerdings nicht verbindliche) Definition des Aggressionsbegriffs ist in einer Empfehlung der UN-Generalversammlung vom 14.12.1974 enthalten (Res. 3314); vgl. FROWEIN (1991), S. 563 ff. = RN 13 ff. zu Art. 39 UN-Charta. 38 Vgl. HANNIKAINEN (1988), S. 163 39 Vgl. HANNIKAINEN (1988), S. 499 ff.; 514 ff.; 596 ff. 40 Vgl. International Court of Justice (ICJ). Reports (1970), S. 32; vgl. auch EMPELL (2003), S. 50 ff. 41 ICJ. Reports (1986), “Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua”, Judgment (27.6.1986), S. 108; ICJ. Reports (1995), “Case Concerning East Timor”,
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Völkerrechts42 dazu gerechnet. Weitere Bestimmungen, zum Beispiel das Folterverbot, werden in der völkerrechtlichen Literatur als erga-omnes-Normen genannt.43 Pflichten erga omnes sind nicht, wie der Terminus nahe zu legen scheint, Pflichten, die von jedem Staat allen anderen Staaten gegenüber einzuhalten und damit universell verbindlich sind. Als Pflichten erga omnes werden vielmehr nur solche universell verbindlichen Pflichten bezeichnet, die jeden Staat berechtigen, zu verlangen, dass jeder andere Staat diese Pflichten allen den Rechtssubjekten gegenüber beachtet, die von den entsprechenden Normen geschützt werden.44 So ist jeder Staat befugt, von jedem anderen Staat nicht nur zu verlangen, dass eine Aggression ihm selbst gegenüber unterbleibt, sondern auch, dass alle anderen Staaten von einer Aggression durch diesen Staat verschont werden. Missachtet ein Staat eine erga-omnes-Pflicht, ist nicht allein das unmittelbar betroffene Subjekt rechtlich verletzt, sondern auch jeder (andere), nicht direkt betroffene Staat. Jeder Staat hat dann einen Anspruch darauf, dass der rechtswidrig handelnde Staat die Rechtsverletzung einstellt. Die Vorschriften, die Pflichten erga omnes begründen, sind (nach allerdings umstrittener Auffassung) mit den ius-cogensNormen identisch.45 Alle diese Normen dienen dem Zweck, Interessen der Staatengemeinschaft zu schützen; insofern sind sie gleichrangig. Die Frage, welche Befugnisse einem Staatt zustehen, um sein Recht auf Beachtung einer erga-omnes-Norm durchzusetzen, wurde vom IGH zwar nicht ausdrücklich beantwortet. Aus dem Zusammenhang ergibt sich aber, dass jeder Staat befugt ist, Klage beim IGH zu erheben.46 In den meisten Fällen dürfte eine solche Klage allerdings bei weitem nicht ausreichen, um eine Rechtsverletzung zu beenden, so dass der Schluss naheliegt, jeder Staat müsse befugt sein, wirksam einzuschreiten, falls eine erga-omnesNorm missachtet wird. Da zum Beispiel jeder Staat von jedem anderen Staat verlangen kann, Völkermord zu unterlassen oder zu beenden, könnte geschlossen werden, dass Judgment (30.6.1995), S. 102, Abs. 29; ICJ, „Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory“, Advisory Opinion (9.7.2004), S. 199, Abs. 155 f.; Fundstelle (Internet): www.icj-cij.org/docket/index.php; vgl. auch EMPELL (2003), S. 58 ff., 62 ff. 42 Vgl. das IGH-Gutachten „Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory“ (9.7.2004), S. 199, Abs. 157; zur Fundstelle vgl. Anm. 42. 43 Vgl. EMPELL (2003), S. 212 ff. mit weiteren Nachweisen. Der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien stellt im Urteil vom 10.12.1998 (Prosecutor v. Furundzija) fest: „the prohibition of torture imposes upon States obligations erga omnes, that is, obligations owed towards all the other members of the international community, each of which then has a correlative right.“ g Fundstelle: International Legal Materials (1999), 348, Abs. 151. 44 Es gibt auch Pflichten erga omnes, die vertraglich begründet sind und daher nur für den Kreis der Vertragsstaaten verbindlich sind (Pflichten erga omnes contractantes); vgl. z. B. Art. 105 des Seerechtsübereinkommens der UN (10.12.1982), wonach alle Vertragsstaaten befugt sind, Piratenschiffe mit Hilfe von Kriegsschiffen aufzubringen. 45 Vgl. EMPELL (2003), S. 409 ff. 46 Das Gericht hat damit ein traditionelles Prinzip seiner Rechtsprechung preisgegeben, wonach ein Staat nur aktivlegitimiert ist, falls er geltend macht, vom rechtswidrigen Handeln eines anderen Staates unmittelbar tatsächlich betroffen und dadurch in einem eigenen Recht verletzt zu sein. Gemäß dem IGH-Urteil im Fall „Barcelona Traction“ kann dagegen jeder Staat geltend machen, zwar nicht unmittelbar tatsächlich betroffen, wohl aber in einem eigenen Recht verletzt zu sein, weil der beklagte Staat eine erga-omnes-Norm missachtet habe.
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jedem Staat auch die Befugnis zustehen muss, andere, über eine Klage beim IGH hinausgehende Mittel einzusetzen und notfalls sogar militärisch zu intervenieren, falls friedliche Mittel versagt haben oder von vornherein aussichtslos sind. Dieser Schluss ist jedoch problematisch. Als ius-cogens-Normen sind nicht nur das Genozidverbot und andere Menschenrechtsbestimmungen zu qualifizieren – auch das Aggressionsverbot gehört dazu, auch von dieser Norm darf „nicht abgewichen werden“ (Art. 53 Satz 1 WVK). Eine Vorschrift, mit deren Hilfe der Konflikt gelöst werden kann, ist im geltenden Völkerrecht nicht nachweisbar.
VIII. Entwicklungen des Menschenrechtsschutzes nach dem Ende des Kalten Krieges Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktsystems (1.7.1991) bildeten die USA die einzig verbliebene Weltmacht. Die vom USamerikanischen Präsidenten Bush senior propagierte „neue Weltordnung“, in der Frieden, Demokratie und Menschenrechte herrschen,47 kam nicht zustande. Bewaffnete Konflikte, auch Bürgerkriege, wie im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia und in Ruanda, waren mit schweren Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts verbunden, in Ruanda sogar mit einem Völkermord. Gleichzeitig sind Weiterentwicklungen des Menschenrechtsschutzes zu verzeichnen, die auf Grund des OstWest-Gegensatzes zuvor so nicht möglich gewesen wären. In der Epoche des Kalten Krieges hatte der UN-Sicherheitsrat den Begriff des Friedens (Kap. VII der UN-Charta) restriktiv, im Sinne der Abwesenheit von zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten, interpretiert.48 Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist dagegen die Tendenz zu verzeichnen, den Begriff zu erweitern und humanitäre Notlagen als Friedensbedrohung auch dann einzustufen, wenn sie nicht mit der Gefahr solcher Konflikte verbunden sind.49 Das erste deutliche Beispiel ist Res. 794 (3.12.1992), die den Bürgerkrieg und die Hungerkatastrophe in Somalia betrifft.50 Der UN-Sicherheitsrat konstatierte, „das Ausmaß der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie, die noch weiter verschärft wird durch die Hindernisse, die der Verteilung der humanitären Hilfsgüter in den Weg gelegt werden“ stelle eine „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ dar. Unter ausdrücklicher Berufung auf Kap. VII der UNCharta ermächtigte er sodann den UN-Generalsekretär und die „kooperierenden Mitgliedsstaaten“, „alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um so bald wie möglich ein sicheres Umfeld für die humanitären Hilfsmaßnahmen in Somalia zu schaffen“, und forderte zudem „alle Mitgliedsstaaten, die dazu in der Lage sind, auf, Streitkräfte bereit zu stellen“. Diese Entscheidung bildete die Grundlage für ein militärisches Eingreifen 47 So zum Beispiel in einer Rede vom 11.9.1990 mit dem Titel: „Toward a New World Order“, vgl. g FRÖHLICH (1992), S. 191. 48 Vgl. S. 195. 49 Vgl. OETER (2008), S. 190 ff. 50 Fundstelle: Vereinte Nationen, 41 (1993), S. 65 f. Vorangegangen war Res. 733 (23.1.1992), vgl. EMPELL (1994), S. 59.
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der USA und anderer Staaten. Der UN-Sicherheitsrat wurde damit zum ersten Mal eindeutig auf der Basis von Kap. VII der UN-Charta tätig, ohne dass eine Gefahr von bewaffneten Konflikten mit anderen Staaten bestand, und ohne dass überhaupt Auswirkungen auf andere Staaten zur Begründung herangezogen wurden. Auf der gleichen Linie liegen spätere Resolutionen, etwa zu den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien,51 in Haiti52 und in Ruanda.53 Außerdem hat der UN-Sicherheitsrat im Hinblick auf Somalia zum ersten Mal den Einsatz militärischer Mittel beschlossen, um eine humanitäre Notlage zu beenden. Die Intervention der USA und ihrer Verbündeten in Somalia („Operation Restore Hope“) erfolgte auf der Basis einer Resolution des UNSicherheitsrates, in der die Mitgliedsstaaten zum Einsatz militärischer Mittel ermächtigt wurden. Die „Operation Restore Hope“ endete mit einem Desaster: Die USA mischten sich in die innenpolitischen Verhältnisse Somalias ein und brachten die Bevölkerung gegen sich auf. Unterstellt wurde, es ginge ihnen letztlich nicht um humanitäre Hilfe, sondern um Ölfelder und die Einrichtung von Militärbasen. Schließlich mussten die USamerikanischen Streitkräfte das Land verlassen. Der UN-Sicherheitsrat hat den Begriff des Friedens im Sinne von Kap. VII der UNCharta zwar neu interpretiert, in keinem Fall aber die Verletzung von Menschenrechtsnormen und erst recht nicht die Kategorie des zwingenden Rechts angeführt, um zu begründen, dass der internationale Frieden bedroht oder gebrochen sei.54 Er hat sich vielmehr allein auf die konkrete Situation im m Einzelfall berufen, etwa auf „das Ausmaß der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie“55, und manchmal noch zusätzlich die Einzigartigkeit der Situation betont.56 Der Grund für derartige Formulierungen dürfte darin zu sehen sein, dass er eine Präzedenzwirkung der jeweiligen Entscheidung ausschließen wollte, um vollständige Freiheit darüber zu behalten, ob er in einem anderen, vergleichbaren Fall erneut intervenierte. Dies führte zu der Kritik, der UN-Sicherheitsrat gehe selektiv vor. Angesichts des Völkermordes in Ruanda habe er vollständig versagt. 1999 kam es dann zu einer militärischen Intervention, die nicht vom UN-Sicherheitsrat autorisiert war. Acht Mitgliedsstaaten der NATO, darunter die Bundesrepublik Deutschland, bombardierten Ziele in Jugoslawien mit der erklärten Absicht, ethnische Säuberungen und andere Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu beenden (24.3.– 10.6.1999). Dabei wurde das humanitäre Völkerrecht verletzt: zahlreiche Zivilpersonen wurden getötet und oder sonst in Mitleidenschaft gezogen. Jugoslawien erhob Klage 51 Nur die Anfangsphase des Konflikts in Jugoslawien kann als Bürgerkrieg eingestuft werden, nur während dieser Phase fehlte ein Bezug zum zwischenstaatlichen Gewaltverbot; vgl. GADING (1996), S. 105 ff. 52 S/Res/841 (1993) vom 16.6.1993 (Beschluss eines Handelsembargos); Fundstelle: International Legal Materials 32 (1993), S. 1206. 53 Vgl. GADING (1996), S. 119 ff. 54 In der völkerrechtlichen Diskussion wird die Auffassung vertreten, die Verletzung einer erga-omnes-Pflicht könne zu einer Friedensbedrohung führen; vgl. EMMERICH-FRITSCHE (2007), S. 949 ff. mit weiteren Nachweisen Anm. 1749. 55 Res. 794 (3.12.1992) zu Somalia. 56 So heißt es in Res. 794 (Präambel): „in Erkenntnis der Einmaligkeit der derzeit in Somalia herrschenden Situation.“
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gegen die beteiligten Staaten beim IGH. Die beklagten Mitgliedsstaaten der NATO machten geltend, im vorliegenden Fall seien sie der Gerichtsbarkeit des IGH nicht unterworfen. Das Gericht gab ihnen im Ergebnis Recht, so dass es zu einer Entscheidung in der Sache nicht gekommen ist. Seit den militärischen Maßnahmen gegen Jugoslawien wird in der völkerrechtlichen Diskussion verstärkt der Frage nachgegangen, ob humanitäre Interventionen nach dem geltenden Völkerrecht erlaubt sind.57 Zahlreiche Völkerrechtler verneinen dies mit der Begründung, gemäß der UN-Charta sei (vom Selbstverteidigungsrecht abgesehen) allein der UN-Sicherheitsrat befugt, eine Gewaltanwendung zu beschließen. Vernachlässigt wird dabei jedoch die Entwicklung des Völkerrechts seit 1945: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenrechte dürfen auf der Basis der UN-Charta (gegen Kolonialismus und gegen rassistische Regime) gewaltsam durchgesetzt werden.58 Im ungeschriebenen Völkerrecht hat sich zudem eine Entwicklung vollzogen, in deren Verlauf das Gewaltverbot seinen höchsten Rang eingebüßt hat. Konsequent wäre es, wenn erga-omnes-Normen mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden dürften.59 Dies muss bei der Interpretation der UN-Charta berücksichtigt werden.60 Die UN-Generalversammlung hat zur Frage der Kompetenzen des UN-Sicherheitsrates Stellung bezogen (Resolution vom 16.9.2005)61 und dabei die Vorschläge der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), einer von der kanadischen Regierung eingesetzten Expertenkommission,62 teilweise berücksichtigt. Zunächst heißt es, die Verantwortung, die Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbre57
Vgl. EMPELL (2003), S. 11f., 364ff. Vgl. S. 198ff. 59 Vgl. S. 200. 60 Vgl. Art. 31 Abs. 3 c) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (23.5.1969), wonach bei der vertraglichen Auslegung auch „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien einschlägige Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen ist. In den Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten der UN sind auch die universell verbindlichen, gewohnheitsrechtlichen Normen des ius cogens maßgeblich. Die diesen Normen zu Grunde liegende Wertung (Gleichrangigkeit der ius-cogens-Normen) sollte bei der Interpretation der UN-Charta berücksichtigt werden. 61 Res. A/RES/60/1, Abs. 138; Fundstelle (Internet): www.un.org/Depts/dhl/resguide/r60. htm. Der Resolution der UN-Generalversammlung vorausgegangen war der Bericht eines „High-Level Panel on Threats, Challenges an Change“, der 2004 unter dem Titel „A more secure world: our shared responsibility“ veröffentlicht wurde; Fundstelle (Internet): www.un.org/secureworld. Darin wurde festgestellt, es bilde sich eine Norm heraus, wonach „a collective international responsibility to protect“ bestehe, die vom UN-Sicherheitsrat im Fall von Völkermord und anderen massenhaften Tötungen, ethnischen Säuberungen und schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts auch mit militärischen Mitteln gelltend gemacht werden dürfe; vgl. insbesondere S. 57 Anm. 203 und S. 85 Abs. 55. 62 Die ICISS veröffentlichte 2001 einen Bericht unter dem Titel: „The responsibility to protect“. Um zu verhindern, dass ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates von seinem Vetorecht willkürlich Gebrauch macht, wird vorgeschlagen, Verhaltensregeln festzulegen. Die ständigen Mitglieder sollten verpflichtet werden, auf ein Veto zu verzichten, falls die sachlichen Voraussetzungen für eine Intervention (Völkermord, ethnische Säuberung) vorlägen, die Mehrheit aller im UN-Sicherheitsrat vertretenen Staaten für eine Intervention plädiere und keine bedeutenden, eigenen nationalen Interessen einer Intervention entgegenstünden. Wenn ein ständiges Mitglied gleichwohl sein Veto einlege, sollte es verpflichtet sein, diesen Schritt zu begründen. 58
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chen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, liege zwar vorrangig bei den einzelnen Staaten. Aber auch die UN seien befugt, mit friedlichen Mitteln dazu beizutragen, dass die Bevölkerungen von solchen Menschenrechtsverletzungen verschont bleiben. Sollten derartige Mittel versagen und der zuständige Staat seiner Verantwortung nicht nachkommen, sei der UN-Sicherheitsrat befugt, Zwangsmaßnahmen zu beschließen. Die UN-Generalversammlung hat damit die neue, extensive Interpretation des Friedensbegriffs durch den UN-Sicherheitsrat unterstützt. Durch Angabe einzelner Interventionstatbestände hat sie zudem den Begriff der Friedensbedrohung präzisiert und den UN-Sicherheitsrat implizit aufgefordert, künftig in allen Fällen einzuschreiten, in denen die genannten Tatbestände erfüllt sind. Dadurch hat sie der Kritik Rechnung getragen, der UN-Sicherheitsrat sei bisher selektiv vorgegangen. Humanitären Interventionen hat die UN-Generalversammlung indirekt eine Absage erteilt. In den letzten Jahren hat der UN-Sicherheitsrat den Begriff des Friedens in einigen Fällen erneut extensiv interpretiert. So debattierte a er über die Folgen von AIDS in Afrika (10.1.2000)63 und über den Klimawandel (17.4.2007) als Probleme des internationalen Friedens und der Sicherheit.64 Dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass er verbindliche Entscheidungen oder sogar Zwangsmaßnahmen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta zu den genannten Themen beschloss.
IX. Einschätzung Einerseits lässt sich ein Fortschritt in Richtung auf internationale Gerechtigkeit verzeichnen: Der Menschenrechtsschutz und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben größeres Gewicht erlangt, als in der UN-Charta ursprünglich vorgesehen war. Andererseits sind auch Nachteile sichtbar geworden: Die Friedenswahrung bildet nicht mehr eindeutig das vorrangige Ziel der UN und des Völkerrechts insgesamt. Neue völkerrechtliche Begründungen wurden daher anerkannt oder werden diskutiert, mit deren Hilfe Gewaltanwendung zur Durchsetzung internationaler Gerechtigkeit (Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht der Völker) gerechtfertigt werden kann. Die Entwicklung des modernen Völkerrechts zeigt, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Förderung internationaler Gerechtigkeit und der Anwendung von Gewalt. Um die Risiken zu verringern, die mit einer gewaltsamen Durchsetzung von Menschenrechten und anderen gemeinsamen Zielen verbunden sind, sollten neue Regeln geschaffen werden. So wäre es zu begrüßen, wenn die Ausübung des Vetorechts durch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt würde, um einer selektiven Praxis dieses UN-Organs entgegenzuwirken, so wie es die International Commission on 63
Fundstelle (Internet): www.unis.unvienna.org/unis/pressrels/2000/sc1173.html. Fundstelle (Internet): www.un.org/News/Press/docs/2007/sc9000.doc.htm. Was die Entwicklung des universell verbindlichen Völkergewohnheitsrechts betrifft, so ist anerkannt, dass auch das Umweltrecht universell verbindliche Vorschriften enthält; zweifelhaft ist allerdings, ob diese Normen zwingenden Rechts sind, vgl. KADELBACH (1992), S. 316ff. 64
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Intervention and State Sovereignty (ICISS) vorgeschlagen hat.65 Im Hinblick auf humanitäre Interventionen wäre es sinnvoll, die Eingriffstatbestände zu präzisieren und eine obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH für derartige Fälle einzuführen. Die Chancen, dass solche Bestimmungen auch von denjenigen Staaten akzeptiert werden, die davon in erster Linie betroffen sind, müssen allerdings skeptisch beurteilt werden.
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65
Vgl. S. 210.
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Transnationale Unternehmen zwischen Völkerrecht und soft law Eine juristische Untersuchung im Rahmen der Forderung nach internationaler Gerechtigkeit KATARINA WEILERT
Inhalt I. II.
Transnationale Unternehmen und internationale Gerechtigkeit Charakterisierung transnationaler Unternehmen in ihrer Bedeutung für Staat und Mensch III. Völkerrechtliche Verpflichtung der Staaten zur Reglementierung transnationaler Unternehmen IV. Direkte Bindung der Unternehmen durch das Völkerrecht V. Völkerrechtliche Durchsetzungsmechanismen VI. Soft law VII. Codes of Conduct VIII. Einflussnahme durch Konsumenten IX. Transnationale Unternehmen und internationale Gerechtigkeit in Rückbindung an das theologisch-philosophische Ausgangskonzept X. Ausblick und Schlussthesen
I. Transnationale Unternehmen und internationale Gerechtigkeit „Transnationale Unternehmen“ und „internationale Gerechtigkeit“ sind einander fremde Größen. Unternehmen werden gegründet zu dem Zweck, unter ökonomischen Gesichtspunkten profitabel zu sein. Die Steigerung des Shareholder Value, Befriedigung der Aktionäre, ganz allgemein Gewinnoptimierung sind die Ziele, an denen sich der Erfolg eines Unternehmens misst. Und doch haben Unternehmen zugleich eine wichtige soziale Funktion, dienen sie als Arbeitgeber dem Lebensunterhalt zahlreicher Menschen und sind Voraussetzung dafür, dass der Staat im Sinne einer iustitia distributiva überhaupt etwas zu verteilen hat. Sie stehen damit in der Verantwortung, ihre faktische Macht nicht ausschließlich zugunsten von Gewinnoptimierung einzusetzen.1 1 R. KREIDE, Welche Verpflichtungen haben transnationale Unternehmen? Gerechtigkeit in internationalen Beziehungen, in: P. IMBUSCH (Hg.), Gerechtigkeit – Demokratie – Frieden. Eindäm-
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Worum geht es aber, wenn transnationale Unternehmen im Lichte internationaler Gerechtigkeit betrachtet werden? Der Begriff „internationale Gerechtigkeit“ schließt die Ebene des Völkerrechts maßgeblich mit ein.2 Hier wurde insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg der Ruf nach einer effektiven Ausgestaltung des Menschenrechtsschutzes laut. Seit 1945 hat sich der Blickwinkel zunehmend von den Staaten als nahezu einzigen Völkerrechtssubjekten hin zum Individuum verschoben. Während das Völkerrecht früher vor allem versuchte, ein friedliches Nebeneinander der Staaten als gleichrangiger Partner zu gewährleisten, tritt heute immer deutlicher die Forderung nach der Garantie menschenwürdiger Lebensverhältnisse hinzu. Es wird behauptet, das Völkerrecht sei nicht mehr nur als Recht der Staaten anzusehen, sondern auch als Recht der Menschen.3 An dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie sich transnationale Unternehmen in das Völkerrecht einfügen, welche Position sie dort einnehmen, und welche Verantwortung und darüber hinaus völkerrechtliche Verpflichtung sie im Hinblick auf menschenrechtliche, arbeitsrechtliche und umweltrechtliche Bestimmungen tragen. II. Charakterisierung transnationaler Unternehmen in ihrer Bedeutung
für Staat und Mensch
Transnationale Unternehmen sind zentrale Akteure auf internationalem Parkett. Mit ihrem weltweiten Umsatz können sie ohne weiteres mit dem wirtschaftlichen Volumen von Staaten gleichziehen, ja dieses teilweise noch übertreffen.4 Internationale Unternehmen treten als mächtige Verhandlungspartner auf und sind den Staaten als Vertragst auf weitreichende Zugepartner faktisch ebenbürtig.5 Staaten lassen sich in Verträgen ständnisse gegenüber Unternehmen ein (wie z. B. die Übertragung hoheitsähnlicher Funktionen und die Erlangung gewisser sonst Diplomaten vorbehaltener Privilegien gegenüber der nationalen Gerichtsbarkeit)6. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Staamung oder Eskalation von Gewalt?, S. 192 (206) spricht insoweit von einer „Pflichtenkollision“ eines Unternehmens zwischen den Rechten der Shareholder und den Pflichten im Hinblick auf die Gastländer. 2 Vgl. die Beiträge in diesem Band: G. HARTUNG / S. SCHAEDE, S. 29; E. SCHMIDT-AßMANN, S. 73; H.-M. EMPELL, S. 190. 3 Vgl. nur S. HOBE / O. KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, S. 160 f.: Menschenrechte als vorstaatliche Rechte, die der Verfügung der Staaten entzogen sind. (Anderer Ansicht: EPPING, in: K. IPSEN, Völkerrecht, § 7 Rn. 4). Vgl. auch die Konstruktionen der Erga-omnes-Verpflichtungen und des ius cogens (H.-M. EMPELL, Das Ziel der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts, S. 198). 4 Im Jahr 2006 befanden sich bei einer Gesamtschau von Staaten und Unternehmen gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (BIP) bzw. Umsatz unter den ersten 100 Plätzen 45 Unternehmen. Die erfolgreichsten Unternehmen waren Wal Mart, ExxonMobil und Royal Dutch Shell. Aktuelle und umfassende Informationen zu transnationalen Unternehmen finden sich im World Investment Report der United Nations von 2007, Transnational Corporations, Extractive Industries and Development p (http://www.unctad.org/en/docs/wir2007_en.pdf). 5 Vgl. hierzu auch R. KREIDE, Welche Verpflichtungen haben transnationale Unternehmen? Gerechtigkeit in internationalen Beziehungen, in: P. IMBUSCH (Hg.), Gerechtigkeit – Demokratie – Frieden. Eindämmung oder Eskalation a von Gewalt?, S. 192 (199 f.). 6 K. NOWROT, Normative Ordnungsstruktur und private Wirkungsmacht, S. 366 f.
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ten von Unternehmen tritt in Spannung zu ihrer rechtlichen Überlegenheit, so dass die Staaten, die durch Gesetze und völkerrechtliche Verträge Unternehmen einseitig verpflichten können, dies aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit in vielen Bereichen nicht tun. Eine Definition transnationaler Unternehmen ist ein vielfach unternommenes und sehr mühseliges Unterfangen, das oft in zu großer Detailgenauigkeit mehr verwirrt als erhellt.7 Charakteristisch und entscheidend ist vor allem, dass die Unternehmen durch Niederlassungen bzw. Tochtergesellschaften in anderen Ländern grenzüberschreitend agieren und dabei Einflussmöglichkeiten8 auf die in ihren Rechtsformen ganz unterschiedlich ausgeprägten im Ausland befindlichen Produktionseinheiten bestehen. Der Anreiz für die Verlagerung der Produktion hinter die eigene Landesgrenze liegt maßgeblich in den ökonomisch wesentlich preisgünstigeren Produktionsbedingungen, wie sie vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern zu finden sind.9 Dabei sind die Entwicklungsländer oft sehr an der sich ansiedelnden Industrie interessiert. Transnationale Unternehmen bringen dringend benötigtes Kapital in das Land, schaffen Arbeitsplätze und leisten einen wichtigen Entwicklungsschub durch ihr Knowhow und durch neue Technologien und steigern so den Wohlstand und den Lebensstandard10. Positive Nebeneffekte für die heimische Industrie sind z. B. der Bedarf an Zulieferbetrieben sowie der Ausbau der Infrastruktur und die Ausbildung von Arbeitnehmern.11 Zugleich kommt es aber zu einer Reihe ökonomischer Nachteile, wie z. B. das durch große Produktionsstätten entstehende soziale und wirtschaftliche f Ungleichgewicht in einzelnen Regionen sowie sich neu entwickelnde Abhängigkeiten. Die maßgeblichen
7 Grundlegend ist die Umschreibung der OECD „Es handelt sich gewöhnlich um Unternehmen oder andere in mehreren Ländern niedergelassene Unternehmensteile, die so miteinander verbunden sind, dass sie ihre Geschäftstätigkeit auf unterschiedliche Art und Weise koordinieren können. Einer oder mehrere dieser Unternehmensteile können u.U. in der Lage sein, einen wesentlichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit der anderen Unternehmensteile auszuüben, doch wird ihr Autonomiegrad innerhalb des Gesamtunternehmens je nach dem betreffenden multinationalen Unternehmen sehr unterschiedlich sein. Das Gesellschaftskapital kann privat, öffentlich oder gemischt sein.” (Die OECD–Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Teil 1 (Leitsätze), I. Begriffe und Grundsätze Rn. 3). Ausführliche Übersicht über unterschiedliche Definitionsansätze bei NOWROT, Normative Ordnungsstruktur und private Wirkungsmacht, S. 51 ff. 8 Das Merkmal der Möglichkeit der Kontrolle fehlt jedoch bei der Definition der UN-Unterkommission zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte (2003) („wirtschaftliche Einheit, die in mehr als einem Land tätig ist, oder eine Gruppe von wirtschaftlichen f Einheiten, die in zwei oder mehr Ländern tätig sind – ungeachtet dessen, welche Rechtsform sie besitzen, ob sie sich in ihrem Sitzland oder ihrem Tätigkeitsland befinden und ob sie einzeln oder gemeinschaftlich betrachtet werden.“) – kritisch zu dieser Definition daher NOWROT, Die UN-Norms, S. 19. 9 Vgl. zur Motivation für Auslandsinvestitionen und der Ausdehnung auch auf mittlere und kleine Unternehmen KREBBER, Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, S. 53 f. 10 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, S. 97. 11 Vgl. Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Einführung Rn. 4.
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Probleme liegen aber in der Verfestigung geringer arbeitsrechtlicher und menschenrechtlicher Standards12 sowie in der Missachtung grundlegender Umweltbelange.13 So berichtet Oxfam International über die Situation der aufstrebenden Wirtschaft in Chile, dass diese bei den ärmsten, insbesondere den sozial benachteiligten Frauen, keine positiven Effekte hervorbringe. Vielmehr würden die Frauen, die 75% der arbeitenden Bevölkerung im Sektor der Fruchternte ausmachten, für geringste Löhne bei Arbeitszeiten von mehr als 60 Stunden in der Woche ohne arbeitsrechtliche Absicherungen wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder etwaigen Urlaubsanspruch arbeiten. Die Beschäftigungsverhältnisse sind saisonal begrenzt, oft ohne Arbeitsvertrag.14 Transnationale Unternehmen sind in Chile gerade auch im agroindustriellen Sektor vertreten und daher mitverantwortlich für diese Situation.15 Berichte über niedrigen Lohn und schlechte Arbeitsbedingungen sind dabei kein Einzelfall.16 Durch transnationale Konzerne verursachte Schäden im Umweltbereich werden in der Öffentlichkeit noch immer oft mit dem verheerenden Chemieunfall im indischen Bhopal in Verbindung gebracht, der sich im Dezember 1984 ereignete. Dieser Unfall, der Tausende von Menschenleben forderte, sowie weitreichende Folgen für die Überlebenden hatte,17 war auf die Nichtbeachtung elementarer Sicherheitsvorkehrungen zu12
Dabei ist zu beachten, dass es zur Zeit nicht realistisch ist, weltweit das vergleichsweise hohe arbeitsrechtliche Niveau einiger Industriestaaten zu etablieren – gleichwohl müssen gewisse Mindeststandards auch heute gelten. Vgl. KREBBER, Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, S. 58 f. 13 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, S. 97 sowie zuvor schon Frieden, Menschenrechte, Verantwortung, Die Denkschriftt der Evangelischen Kirche in Deutschland (1985), Band I, Teil 4; HERDEGEN, Internationales Wirtschaftsrecht, § 3 Rn. 66. HÖRTREITER, Die Vereinten Nationen und Wirtschaftsunternehmen, S. 17 ff. 14 Chilean fruit-picking workers’ story, abrufbar über: http://www.oxfam.org/en/campaigns/trade/ real_lives/chile. 15 FISCHER R/PARNREITER, Integration, Vernetzung, Kontrolle Ŧ Sind Santiago de Chile und México D.F. global cities? http://www.ila-bonn.de/artikel/ila288/mexicosantiago.htm („In Mexiko werden die globalen Güterketten in der Auto-, Computer-, und Textilproduktion von transnationalen Unternehmen kontrolliert, während in Chile TNK [Transnationale Konzerne, d. Verf.] bei der Produktion, dem Export und der Vermarktung von agroindustriellen Produkten vorherrschend sind. In beiden Ländern sind die Sektoren Telekommunikation, Energie und Finanzdienstleistungen größtenteils transnationalisiert, was vor allem auf das Bestreben globaler Anbieter zurückzuführen ist, Zugang zum nationalen oder regionalen Markt zu erlangen. Obwohl private chilenische Unternehmenskonglomerate weiterhin ihre dominante Position am inländischen Markt behaupten konnten, sind joint ventures mit ausländischen Investoren zur Regel geworden.“) 16 Vgl. z. B. den Bericht über die Produktion von Nike und adidas in Indonesien vom 28. Mai 2002 http://www.evb.ch/index.cfm?page_id=1373&archive=none: „Das deutsche Südwind Institut hat für die CCC [Clean Clothes Campain, d. Verf.] einige Fabriken der Textil-Multis in Indonesien besucht: Ingeborg Wick (55) berichtet: ‚Überall war Stacheldraht, standen Wachtürme. Die Fabrik in Indonesien, wo Adidas produzieren lässt, sieht aus wie ein KZ.‘“ Erwähnt werden soll hier aber auch, dass sich adidas in letzter Zeit bemüht hat, sich bei den Zulieferbetrieben für die Einhaltung von sozialen Mindeststandards und Kernarbeitsnormen einzusetzen. 17 Vgl. die Studie zur Sanierung des Betriebsgeländes, die zur Vermeidung weiterer schwerer Umweltschädigungen notwendig wäre (Recommendations of the International Team of Experts on the remediation of the former Union Carbide site in Bhopal (India), http://archivo.greenpeace.org/bhopal/informes/Summary%20of%20Study.pdf.
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rückzuführen.18 Neben grob fahrlässig verursachten „Unfällen“ sind es vor allem die ganz bewusst in Kauf genommenen Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Unternehmen, die anzuprangern sind, wie die wissentlich von Unocal19 tolerierten Verbrechen (Vertreibung, Zwangsarbeit, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung bis hin zu Tötungen), die im Zusammenhang mit der Absicherung einer Gaspipeline von burmesischen Soldaten, die von Unocal u.a. durch Geld und Lebensmittel unterstützt wurden, verübt wurden und zu einem Prozess in den USA führten.20 Gegenwärtig steht besonders der transnationale Konzern Monsanto, der genverändertes Saatgut und Agrochemikalien herstellt, in der Kritik. Negative Schlagzeilen hat der Konzern schon in der Vergangenheit durch das dioxinhaltige Herbizid „Agent Orange“ während des Vietnamkriegs gemacht. Die amerikanischen Streitkräfte setzten dieses von Monsanto produzierte Mittel in großem Umfang ein, um die Wälder zu entlauben und auf diese Weise die Versorgungswege und Unterschlupfmöglichkeiten ihrer Gegner zu erschweren. Noch heute leidet die dritte Generation in Vietnam an den Spätfolgen. Im Jahr 2002 wurde Monsanto zu Schmerzensgeldzahlungen verurteilt, da das Unternehmen jahrelang bis 1977 wissentlich die Bewohner von Anniston (Alabama, U.S.A.) Gesundheitsgefahren ausgesetzt hatte, die durch die Produktion von gifttigen polychlorierte Biphenylen (PCB) verursacht worden waren. Neben der möglichen Verletzung elementarer Menschen-, Arbeitnehmer- und Umweltrechte durch transnationale Unternehmen ist auch ihr Einfluss auf die politischen Verhältnisse von großer Tragweite. Durch Unterstützung politischer Parteien und Systeme kann insbesondere in politisch instabilen Ländern Macht ausgeübt werden. Sofern hierdurch undemokratische Strukturen befördert werden, hat dies gravierende Folgen für die grundlegenden Freiheitsrechte der Bevölkerung. So soll die International Telephone und Telegraph (ITT) den Putsch gegen Salvador Allende in Chile (1970) unterstützt haben, um Augusto Pinochet an die Macht zu bringen.21
III. Völkerrechtliche Verpflichtung der Staaten zur Reglementierung transnationaler Unternehmen III.1 Völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten Angesichts solcher weitreichenden Folgen des Verhaltens transnationaler Konzerne für Mensch und Umwelt stellt sich die Frage, ob diese Unternehmen völkerrechtlich eingebunden sind bzw. verpflichtet werden können und sollten. Völkerrecht – das meint neben 18 KEIFFENHEIM, “In der Todeszone”, Greenpeace Magazin, Heft 6/2002, wonach die Toten sich auf 20.000 belaufen sollen. S. zu den Klagen vor amerikanischen Gerichten Feldberg, Der Alien Tort Claims Act, S. 82. 19 Union Oil Company of California, seit 2005 übernommen durch Chevron Corporation. 20 Ausführlich hierzu: FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 60, HILLEMANNS, Transnationale Unternehmen und Menschenrechte, S. 104 ff. KUBE, Chancen globaler Gerechtigkeit, Forum Recht Online 4/2006. 21 DER SPIEGEL 15/1973 vom 09.04.1973, Seite 108; HILLEMANNS, Transnationale Unternehmen und Menschenrechte, S. 3. Darüber hinaus steht auch Unocal in dem Verdacht, den Taliban in Afghanistan unterstützend d zugewandt gewesen zu sein.
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dem ebenfalls rechtsbindenden Völkergewohnheitsrecht vor allem die Verpflichtungen, die die Staaten in völkerrechtlichen Verträgen eingegangen sind.22 Von diesem Völkerrecht im engeren Sinne muss das sogenannte soft law unterschieden werden. Dieser eigentümliche Begriff des „weichen Rechts“, an sich ein Widerspruch in sich selbst, umfasst im Völkerrecht die Vielzahl nicht verbindlicher Deklarationen, Beschlüsse und Empfehlungen von internationalen Organisationen oder auch Staatenkonferenzen, die zwar von der politischen Öffentlichkeit gesteigert wahrgenommen werden, deren Nichtbeachtung aber kein völkerrechtswidriges Verhalten im engeren Sinne bedeutet, da die Staaten hier keinen eindeutigen Rechtbindungswillen hatten.23 Damit ergibt sich die eigene Situation, dass sich Staaten auf Regelungen verständigen und ihre Absicht erklären, diese auch einzuhalten, ohne sich gleichzeitig rechtlich binden zu wollen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, das Völkerrecht zu brechen.24 Anstelle des missverständlichen Begriffs des soft law könnte man daher diese Regeln wohl auch als „Verhaltenskodex“ bezeichnen, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich hier nicht um eine Rechtsquelle des Völkerrechts handelt,25 wenngleich eine gesteigerte rechtspolitische Bedeutung anzuerkennen ist. Die Unterscheidung zwischen bindendem Völkerrecht und unverbindlichem soft law ist insofern nicht sofort einsichtig, als selbst die Verletzung bindender Normen in vielen Fällen keine Sanktionen nach sich zieht.26 Dies ist in der viel bemängelten Durchsetzungsschwäche des Völkerrechts, die der Souveränität der Staaten geschuldet ist, begründet.27 Neben allgemeinen Druckmitteln (sog. „countermeasures“)28, bestehen nur wenige institutionalisierte Wege der Rechtsdurchsetzung. Vor dem Internationalen Gerichtshof sind allein Staaten parteifähig. Verklagt werden können sie aber nur, wenn sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkannt haben.29 Für die völkerrechtlichen 22 Vgl. zu den Quellen des Völkerrechts VON HEINEGG, in: IPSEN, Völkerrecht, § 9 ff (völkerrechtliche Verträge), § 16 (Gewohnheitsrecht), § 17 ff. zu den weiteren Quellen des Völkerrechts. 23 Vgl. zum Begriff „soft law“ statt vieler HERDEGEN, Völkerrecht, S. 145. 24 KUNIG, in: GRAF VITZTHUM (Hg.), Völkerrecht, Abschnitt 2, Rn. 166. 25 GRAF VITZTHUM, in: ders. (Hg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 152: „Keine Rechtsquelle des Völkerrechts ist auch das soft law. Recht ist Recht, wenn es von einem zur Rechtsetzung befugten Organ als rechtlich geltend gesetzt wird. Entwederr gilt es, oder es ist eben zum jeweiligen Zeitpunkt kein Recht; ‚stärkere‘ oder ‚schwächere‘ Geltung kann es logisch nicht geben.“ 26 Insgesamt wird die Abgrenzung zwischen bindendem Völkerrecht und soft law zunehmend schwieriger, vgl. DAHM/DELBRÜCK K/WOLFRUM, Völkerrecht I/3, S. 517 („Allgemeine Kriterien, nach denen die Rechtsverbindlichkeit oder Unverbindlichkeit zwischenstaatlicher Übereinkünfte bestimmt werden kann, gibt es nach allgemeiner Auffassung nicht“); NOWROT, Die UN-Norms, S. 12; GRAF VITZTHUM, in: DERS. (Hg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 15: „Diese neueren Entwicklungen ebnen den qualitativen Unterschied zwischen Recht und Nicht-Recht tendenziell ein.“; VERDROSSS/SIMMA, Universelles Völkerrecht, § 656 f., RUGGIE, Report 2007, S. 18 Rn. 61. 27 Hierzu näher auch unten V. 28 Repressalie als völkerrechtswidrige, aber gewaltfreie Reaktion auf einen Völkerrechtsbruch hin; Retorsion als unfreundlicher, aber nicht völkerrechtswidriger Akt (vgl. zur Begrifflichkeit HERDEGEN, Völkerrecht, § 59 Rn. 6f.) 29 Art. 36 IGH-Statut. Dabei kann diese Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit für den einzelnen Streitfall oder generell erklärt werden (näher hierzu HERDEGEN, Völkerrecht, § 63 Rn. 3 ff.). S. auch unten V.1.
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Rechte von Individuen gibt es lediglich vereinzelte Beschwerdemöglichkeiten, prominent vor allem der Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (für Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention) sowie, schwächer ausgeprägt, das im universellen Völkerrecht bestehende Individualbeschwerdeverfahren unter dem 1. Zusatzprotokoll des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2008 ein Zusatzprotokoll mit dem Ziel der Stärkung der Durchsetzung dieser Rechte zur Ratifikation freigegeben. Eine Rechtsweggarantie, wie sie mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz30 im deutschen Recht existiert, gibt es im Völkerrecht nicht. Unter den völkerrechtlichen Verträgen zum Schutze der bürgerlich-politischen Freiheiten und arbeitsrechtlichen Bedingungen sind hier auf der Ebene der Vereinten Nationen besonders zu nennen der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt)31 sowie spezielle Abkommen, darunter das UN Abkommen gegen Frauendiskriminierung32 (von 1979) und die UN-Kinderkonvention33 (von 1989). Bedeutung haben auch die durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) aufgesetzten und von den Staaten ratifizierten Abkommen zum Schutz der Arbeitnehmer.34 Unter den ILO-Abkommen sind folgende Übereinkommen hervorzuheben: Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes (1948), Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen (1949), Zwangsarbeit (1930), Abschaffung der Zwangsarbeit (1957), Gleichheit des Entgelts (1951), Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf (1958), Mindestalter (1973), Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (1999).35 30 Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben…“ 31 Im Einzelnen verbürgt der UN Sozialpakt folgende Rechte: Art. 3 (Gleichberechtigung von Mann und Frau); Art. 7 (gerechte Arbeitsbedingungen, insbesondere angemessener Lohn, gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und angemessene Begrenzung der Arbeitszeit), Art. 8 (Recht auf Bildung von Gewerkschaften), Art. 9 (Recht auf Soziale Sicherheit), Art. 10 (Mutterschutz und Verbot der Kinderarbeit) sowie Art. 12 (Verbesserung g der Umwelt- und Arbeitshygiene etc.). 32 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979. Zurzeit haben 185 Staaten das Abkommen ratifiziert, das sind mehr als 90 Prozent der Mitgliedstaaten g der UN. 33 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989. Zurzeit haben 193 Staaten das Abkommen ratifiziert. 34 Vgl. zum Problem zu weniger Staaten, die die Verträge auch ratifizieren KREBBER, Aufgabe, Möglichkeiten g und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, S. 58. 35 Vgl. hier auch die im „Verzeichnis der in der Dreigliedrigen Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik aufgeführten internationalen Arbeitsübereinkommen und -empfehlungen" genannten 17 Übereinkommen, abrufbar über http://www.econsense.de/ _CSR_INFO_POOL/_INT_VEREINBARUNGEN/images/Dreigliedrige%20Grundsatzerkl%C3% A4rung%20der%20ILO.pdf. Vgl. zu den Kernarbeitsnormen und ihrer Bedeutung KREBBER, Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, S. 58.
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Immer drängender wird – gerade auch angesichts zunehmender Industrialisierung – der Umweltschutz. Die Ursprünge des völkerrechtlichen Umweltschutzes liegen in der Regelung grenzüberschreitender „nachbarrechtlicher“ Verschmutzungen. Die Staaten haben sich mittlerweile in vielfältigen bi- und multilateralen Verträgen dem Umweltschutz im Hinblick auf Meer, Land und Luft verpflichtet.36 Besondere Beachtung findet derzeit der Klimaschutz, der über die nachbarrechtliche Perspektive weit hinausreicht und als globales Problem behandelt werden muss. Wissenschaftler erwarten, vor allem aufgrund zu hohen Ausstoßes von Treibhausgasen (insbesondere Kohlendioxid und Methan), in naher Zukunft eine globale Erwärmung mit weitreichenden Folgen für die Umwelt.37 Auf völkerrechtlicher Ebene konnte ein erster wichtiger Schritt mit dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (in Kraft seit März 1994) erzielt werden. Dieses bedurfte jedoch dringend der Konkretisierung, die erst mit dem Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz-Übereinkommen (in Kraft seit Februar 2005) erzielt werden konnte.38 Diese völkerrechtlichen Verträge verpflichten zunächst nur die Staaten, auch wenn sie ihrem Inhalt nach die Tätigkeit von transnationalen Unternehmen mit betreffen. Die Staaten dürfen also durch ihr Verhalten, sei es durch Legislative, Exekutive oder Judikative, nicht die Verträge verletzen (Achtungspflicht). Inwieweit sie darüber hinaus die positive Verpflichtung trifft, den Bürger vor Verletzung durch private Dritte zu schützen (Schutzpflicht), muss jeweils durch Auslegung der Verträge ermittelt werden. In einzelnen Fällen besteht eine solche Schutzpflicht schon nach dem klaren Wortlaut: So heißt es beispielsweise im UN Abkommen gegen Frauendiskriminierung in Art. 2e: „Sie [Die Vertragsstaaten] kommen überein, mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen, und verpflichten sich zu diesem Zweck, alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau durch Personen, Organisationen und Unternehmen zu ergreifen.“39 Aber auch dort, wo dies nicht so klar zum Ausdruck kommt, lässt sich gerade bei Schutzbestimmungen von Arbeitnehmern darauf schließen, dass der Vertragsstaat dazu aufgerufen ist, entsprechende nationale Rechtsregeln zur Umsetzung dieser Vorgaben zu erlassen, an die Unternehmen gebunden sind.
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Für eine Übersicht über die völkerrechtlichen Verträge s. BEYERLIN, Umweltvölkerrecht, S. 83 ff. sowie KLOEPFER, Umweltrecht, S. 647 ff. 37 Vgl. den Beitrag von OPSCHOOR in diesem Band. 38 Näher zu den einzelnen Verpflichtungen BEYERLIN, Umweltvölkerrecht, S. 176 ff. 39 Vgl. auch Ausschuss zur Beseitigung von Diskriminierungen der Frau (Committee on the Elimination of Discrimination against Women), Violence against women (Eleventh session, 1992), U.N. Doc. A/47/38 at 1 (1993), Rn. 9: “It is emphasized, however, that discrimination under the Convention is not restricted to action by or on behalf of Governments (see articles 2 (e), 2 (f) and 5). For example, under article 2 (e) the Convention calls on States parties to take all appropriate measures to eliminate discrimination against women by any person, organization or enterprise. Under general international law and specific human rights covenants, States may also be responsible for private acts if they fail to act with due diligence to prevent violations of rights or to investigate and punish acts of violence, and for providing compensation”.
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III.2 Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch Heimatund Gaststaaten III.2.1 Gaststaaten Die Heimatstaaten, also in der Regel die Industriestaaten, deren Staatszugehörigkeit das Mutterunternehmen hat, sind nicht die Sorgenkinder, wenn es um die Einhaltung elementarer Menschenrechtsstandards geht. Problematisch sind vielmehr die Gaststaaten, die es Unternehmenstöchtern ermöglichen, ihre Produktion ohne Beachtung elementarer Standards durchzuführen.40 Die Gaststaaten, die nicht selten sogar Vertragsparteien der wichtigen völkerrechtlichen Verträge sind, setzen die völkerrechtlichen Vorgaben oft nicht um, weil sie im Wettbewerb um Standortvorteile nicht das Nachsehen haben wollen, da man sich von den Unternehmen wichtige Impulse für Wirtschaft und Entwicklung des Landes erhofft.41 Überdies fehlt den Gaststaaten nicht selten die institutionelle Struktur, um allen internationalen Verpflichtungen hinreichend nachzukommen.42 III.2.2 Heimatstaaten Die Heimatstaaten trifft nach gegenwärtigem Völkerrechtsverständnis wohl keine Pflicht, sich über ihr Hoheitsgebiet hinaus a für die Einhaltung rechtlicher Standards durch Unternehmen zu engagieren.43 Selbst wenn sich die Heimatstaaten auch für die Produktionsweise der Tochterunternehmen in den Gaststaaten interessieren, ist aus völkerrechtlicher Sicht aufgrund der Souveränitätsrechte des Gaststaates problematisch, inwieweit der Heimatstaat überhaupt einwirken r darf. Der Heimatstaat braucht nämlich einen „Anknüpfungspunkt“ für jedes hoheitliche Einwirken auf das Tochterunternehmen im Territorium des Gaststaats. Ein solcher liegt z. B. in der Nationalität des Tochterunternehmens. Jedoch ist es häufig so, dass die Tochterunternehmen die Staatszugehörigkeit des Gaststaates besitzen. Besitzt das Tochterunternehmen nicht die Staatszugehörigkeit des Heimatstaates, kann der Heimatstaat allenfalls durch eine mittelbare Regulierung einwirken, indem er den heimischen Mutterkonzernen rechtliche Vorgaben macht, um bestimmte Standards auch beim Tochterunternehmen zu gewährleisten.44 40 KREBBER, Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, S. 58: „Die Niedriglohnländer sehen ihre niedrigen Produktionskosten im Wettbewerb gleichermaßen zu den Hochlohnländern wie untereinander als ihren entscheidenden, ja oft als ihren einzigen komparativen Wettbewerbsvorteil an, den sie nutzen müssen und nutzen dürfen.“ 41 Vgl. hier auch KREBBER, a.a.O., S. 59, der am Beispiel der Kinderarbeit darauf hinweist, dass es nicht selten weniger an nationaler Gesetzgebung mangelt als an der tatsächlichen Umsetzung g der Vorschriften. 42 EMMERICH-FRITSCHE, Zur Verbindlichkeit der Menschenrechte für transnationale Unternehmen, S. 545. 43 Report of the Special Representative of the Secretary-General on the issue of human rights and transnational corporations and other business enterprises, “Business and Human Rights: Mapping International Standards of Responsibility and Accountability for Corporate Acts”, UN-Doc. A/HRC/4/035 vom 9. Februar 2007, S. 6 Rn. 15. Für eine Entwicklung des Völkerrechts hin zu einer Verpflichtung der Heimatstaaten JOSEPH, An Overview of the Human Rights Accountability of Multinational Enterprises, in: KAMMINGA/ZIA-ZARIFI (Hg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 75 (85 ff.). 44 Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. S. aber zur Auslegung des Interventionsverbots in diesem Zusammenhang SCHMALENBACH, Multinationale Unternehmen und Men-
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Praktisch besonders bedeutsam ist vor allem die Frage, inwieweit die Heimatstaaten im Falle gravierender Verstöße der Tochterunternehmen Klagemöglichkeiten für Ausländer gegen das ansässige Mutterunternehmen vorsehen. Derartige Haftungsfragen können von jedem Heimatstaat individuell geregelt werden. Die Verantwortlichkeit des Mutterunternehmens für seine Unternehmenstöchter ist dabei kein Automatismus. Rechtlich ist es vielmehr so, dass Mutter- und Tochterunternehmen eigenständige juristische Personen sind und eine Haftung, ebenso wie bei natürlichen Personen, nur dann eintritt, wenn ein rechtlicher Grund dafür besteht. Dieser kann in zweierlei Hinsicht gegeben sein: In Betracht kommt erstens, dass das Tochterunternehmen gerade zu dem Zweck gegründet wurde, um Betrug zu verschleiern oder bestehenden rechtlichen Verpflichtungen zu entgehen. Zweitens, und im Kontext arbeits- umwelt- und menschenrechtlicher Mindeststandards besonders relevant, kann eine Haftung des Mutterunternehmens bestehen, wenn dieses eine Mitschuld trägt (aus vorwerfbarer Fahrlässigkeit oder Vorsatz). Im US-amerikanischen Recht gibt es eine Möglichkeit, Unternehmen für Völkerrechtsverstöße zur Verantwortung zu ziehen.45 Grundlage für derartige Klagen ist der Alien Tort Claims Act (ATCA). Ziel der Klagen ist eine Wiederherstellung des vor der Schädigung bestehenden Zustandes sowie die Zahlung von Strafschadensersatz.46 Nach dem ATCA sind amerikanische Gerichte unter anderem für Klagen von Ausländern gegen das US-amerikanische Mutterunternehmen zuständig, wenn das ausländische Tochterunternehmen völkerrechtliche Standards verletzt hat. Auf diese Weise wird eine Möglichkeit der dezentralen Rechtsdurchsetzung des Völkerrechts geschaffen. Im Einzelnen sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Klage zwischen den amerikanischen Gerichten noch strittig und werden daher nicht einheitlich beurteilt. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung Sosa v. Alvarez – Machain (29. Juni 2004)47 die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schadensersatzklage Ŧ im Vergleich zu anderen amerikanischen Gerichten Ŧ enger gezogen. Danach gilt folgendes: Der ATCA bestimme zunächst nur, ob ein U.S. Gericht für den konkreten Fall zuständig ist (Zuweisungsnorm). Amerikanische Gerichte sind danach für Klagen von Ausländern zuständig, wenn die Verletzung von Völkerrecht (Gewohnheitsrecht oder für die U.S.A. verbindliches Vertragsrecht) geltend gemacht wird, und zwar unabhängig davon, ob eine Verletzung durch Private oder Staatsbedienstete gerügt wird.48 Ist diese Hürde der Gerichtszuschenrechte, S. 71 ff. In den USA gibt es unter dem Alien Tort Claims Act auch die Möglichkeit, gegen ausländische Unternehmen vorzugehen. Aus völkerrechtlicher Sicht kritisch hierzu: FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 199 ff. 45 Im US-amerikanischen Recht gibt es eine Haftung nach dem Alien Tort Claims Act. Vgl. Fallbesprechungen bei JOSEPH, Taming the Leviathans: Multinational Enterprises and Human Rights, (1999) 46 Netherlands International Law Review, S. 171 (179 f.); SEIBERT-FOHR / WOLFRUM, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 153ff. WESCHKA, Human Rights and Multinational Enterprises, S. 634 ff. sowie ferner KUBE, Chancen globaler Gerechtigkeit, Forum Recht Online 4/2006 (Kube führt den Präzedenzfall „Unocal“ eindrücklich aus). 46 FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 4. 47 Supreme Court Case No. 03-339 (June 29, 2004), 124 S.Ct. 2739 (2004). 48 Anerkennung erstmals in Bezug auf transnationale Unternehmen im Fall Doe v. Unocal, US District Court California, Urt. v. 25. März 1997, 963 F. Supp. 880.
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ständigkeit genommen, fragt das Gericht, ob ein Anspruch auf Schadensersatz tatsächlich besteht. Hierfür ist das nationale Recht maßgeblich. Sollen also völkerrechtliche Normen durchgesetzt werden, müssen diese zuvor in das nationale Recht transformiert worden sein. Dies gelte nach dem Urteil Sosa für einen eng gezogenen Kreis völkergewohnheitsrechtlicher Normen, der automatisch Teil des nationalen Rechts sei. Dazu zählen internationale Verbrechen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Folter, Kriegsverbrechen und Sklaverei sowie auch die grausame und unmenschliche Behandlung, willkürliche Tötung und Rassendiskriminierung.49 Auch völkerrechtliche Verträge können Teil des einklagbaren nationalen Rechts sein.50 Dies gilt aber nur bei self-executing treaties, also solchen, die ohne weiteren nationalen Umsetzungsakt anwendbar sind, d.h. unmittelbare Wirkung entfalten, was in den USA eher selten angenommen wird.51 Bei Arbeitnehmerrechten wird diese unmittelbare Wirkung meist in Frage gestellt. Für diese Rechte ist die Chance der Anerkennung als Anspruchsgrundlage unter dem ATCA jedoch dann gegeben, wenn angenommen werden kann, dass es sich bei den völkervertraglichen Bestimmungen um kodifiziertes und ggf. konkretiesierendes Völkergewohnheitsrecht handelt. In Anlehnung an die Identifizierung der Kernarbeitsnormen durch die ILO könnten die Verbote der Zwangsarbeit, der Kinderarbeit, der Diskriminierung sowie die Anerkennung der Vereinigungsfreiheit und des Rechts zu Kollektivverhandlungen möglicherweise mit Erfolg unter dem ATCA eingeklagt werden.52 Klagen aber, die sich auf Enteignung, Betrug, vorsätzliche oder fahrlässige Tötung, Verleumdung und Kindesentzug oder etwa auch Überwachung, Todesdrohungen und Vertreibung beziehen, werden derzeit wenig Aussicht auf Erfolg haben.53 Insgesamt mahnt der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung Sosa zur Zurückhaltung bei der Anerkennung privater Rechtsansprüche aus dem Völkerrecht. Auf diese Weise soll Nachteilen für die Außenpolitik der USA vorgebeugt und das Nichteinmischungsprinzip gewahrt werden, indem der amerikanische Grundrechtsstandard nicht auch zum Maß extraterritorialen Handelns gemacht wird.54 Eine Haftung des Mutterunternehmens besteht auch unter dem ATCA überdies nur, wenn dieses in irgendeiner Weise eine relevante Mitschuld trägt.55 Weiterhin können nicht hoheitlich handelnde Akteure unter dem ATCA nicht für alle Völkerrechtsverstöße haftbar gemacht werden. Manche Völkerrechtsverstöße können nur Hoheitsträger begehen. Für andere können zwar normalerweise auch nur Hoheitsträger verantwortlich gemacht werden, jedoch können Private hier aufgrund ihres Handelns einem Hoheitsträger gleichgestellt werden. Schlagwort für diese zweite Kategorie ist ein Handeln des Unternehmens „under the color of law“, also ein Handeln als ob der Private ein Hoheits-
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Näher hierzu SEIBERT-FOHR R/WOLFRUM, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 153 (157; 158). Vgl. Art. VI Abs. 2 der US-Verfassung. 51 Näher hierzu FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 124 f. 52 FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 143. 53 FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 146 f. 54 SEIBERT-FOHR R/WOLFRUM, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 153 (160 ff.). 55 Vgl. zu Fragen der Unternehmenseinheit bzw. Trennungsprinzip im amerikanischen Recht FELDBERG, Der Alien Tort Claims Act, S. 191 ff. 50
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träger wäre.56 Überdies können private Akteure als Mittäter oder sonstige Beteiligte an einem von Hoheitsträgern begangenem Völkerrechtsverstoß haftbar gemacht werden.57 Auf der Grundlage des ATCA können sogar ausländische Unternehmen (sowohl ausländische Unternehmenstöchter als auch sonst ausländische Unternehmen) verklagt werden.58 Da in solchen Fällen der für eine Klage notwendige Bezug zu den USA nur noch marginal zu sein braucht Ŧ weder Kläger noch Beklagter müssen in den USA ansässig sein oder die US-Staatsangehörigkeit besitzen, noch muss die Tat auf dem Boden der USA begangen worden sein, sondern es reichen gewisse „Mindestkontakte zum Staat des Gerichtsstandes“59 aus Ŧ, gewinnen amerikanische Gerichte eine „Weltrichterfunktion“ die bei aller Notwendigkeit einer Kontrolle der Unternehmen auch kritisch betrachtet werden muss.60 Der Beklagte kann zwar die prozesshindernde Einrede „forum non conveniens“ erheben, wenn er der Ansicht ist, dass ein anderes (z. B. ausländisches) Gericht geeigneter erscheint.61 Auch wenn Gerichte dieser Einrede in der Praxis nicht selten Gehör schenken, ist doch aber die Entscheidung darüber, ob die Annahme der Klage aus diesem Grunde abgelehnt wird, in das Ermessen des Gerichts gestellt und bedeutet somit keine gravierende Einschränkung seiner Kompetenz. Für die Kläger ist es natürlich vorteilhaft, wenn die Forum-non-conveniens-Einrede restriktiv ausgelegt wird, da die beklagten Unternehmen mittels dieser Einrede versuchen, einem Prozess zu entkommen. Neben einer Klage auf der Grundlage des ATCA gibt es auch die Möglichkeit, Schadensersatz wegen Folter und willkürlicher Tötung auf der Grundlage des Torture Victim Protection Act von 1991 (TVPA) einzufordern. Erfolgreich ist danach eine Klage allerdings nur, wenn in irgendeiner Weise staatliches Handeln vorliegt. Für rein privates Handeln ohne staatliches Zutun vermittelt der TVPA keinen Schadensersatzanspruch.62 Schließlich besteht auch die Möglichkeit, einen Schadensersatzprozess direkt auf das Haftungsrecht des common law zu stützen.63 Der Zuspruch von Schadensersatz bemisst sich dann nach dem Recht des jeweiligen Bundesstaates.64 Auch nach englischem Recht kann eine Schadensersatzklage gegen ein heimisches Mutterunternehmen vor britischen Gerichten anhängig gemacht werden für den Fall, 56
FELDBERG, a.a.O., S. 154 ff. FELDBERG, a.a.O., S. 169 ff. 58 SEIBERT-FOHR / WOLFRUM, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 153. 59 FELDBERG, a.a.O., S. 217. Im einzelnen reichen sogar Werbemaßnahmen auf dem US-amerikanischen Markt aus (FELDBERG, S. 5). 60 S. hierzu FELDBERG, a.a.O., S. 199. 61 Details hierzu: FELDBERG, a.a.O., S. 267 ff. FELDER, Die Lehre vom Forum Non Conveniens. Voraussehbarkeit des Ergebnisses ihrer Anwendung und prozessuale Aspekte für Verfahrensparteien vor den U.S. Federal Courts und den State Courts in New York bei class actions unter besonderer Berücksichtigung deutscher alternativer Foren oder Parteien, 1. Auflage 2005. 62 Näher hierzu SEIBERT-FOHR / WOLFRUM, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 153 (176 f.). 63 Dazu SEIBERT-FOHR / WOLFRUM, a.a.O., S. 153 (178). 64 Aufgrund des Auslandsbezugs des Sachverhaltes entscheidet sich die Anwendbarkeit des Deliktsrechts des common law nach dem internationalen Privatrecht, also nationalem amerikanischen Recht, das im Falle der Kollision zweier Rechtsordnungen (hier der amerikanischen und der des Gaststaates) entscheidet, welche Rechtsregeln auf den Fall anzuwenden sind. 57
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dass das Mutterunternehmen für den konkreten Schaden (mit)verantwortlich ist.65 Dafür muss ein spezielles „Versagen“ des Mutterunternehmens handfest gemacht werden können, was sowohl in einem Tun (z. B. Konzernentscheidungen etc.) oder in einem Unterlassen liegen kann. Auch im englischen Recht bestehen juristische Hürden der Verantwortlichkeit des Mutterunternehmens für ein Tochterunternehmen, da rechtlich betrachtet beide eigenständige juristische Personen sind. Entscheidend für die Haftung des Mutterunternehmens ist am Ende nicht allein die spezifische Unternehmensstruktur, die Mutter und Tochter verbindet. 66 Vielmehr kommt es darauf an, welches Fehlverhalten der Mutterkonzern begangen hat und ob aufgrund der Unternehmensstruktur dieses Fehlverhalten zum konkreten Schaden in relevanter Weise beigetragen hat.67 Nach englischem Kollisionsrecht gilt als Haftungsmaßstab das Recht des Ortes, wo die unerlaubte Handlung begangen wurde. Allerdings wird darüber hinaus das Völkergewohnheitsrecht herangezogen, welches automatisch Teil der nationalen englischen Rechtsordnung ist.68 Probleme bereitet die Forum-non-conveniens-Doktrin, die jedoch von den englischen Gerichten mittlerweile zurückhaltend angewendet wird. In der Rechtssache Thor Chemicals Holdings Ltd. ging es um einen Chemiekonzern mit Sitz in Großbritannien.69 Nachdem erhebliche Mängel in der Arbeitssicherheit (Umgang mit Quecksilber) ans Licht drangen, verlagerte Thor seine Produktion von Großbritannien nach Südafrika. Dort verfuhr das Unternehmen in gleicher Weise, so dass es auch hier zu Quecksilbernachweisen im Körper der Beschäftigten kam. Man „löste“ das Problem, indem die Arbeitskräfte regelmäßig durch andere ersetzt wurden. Schließlich kam es zu Todesfällen und weiteren Quecksilbervergiftungen. Daraufhin wurde Klage gegen das englische Mutterunternehmen erhoben mit dem Vorwurf, dass dieses für den Schaden Verantwortung trage „because of its negligent design, transfer, set-up, operation, supervision and monitoring of an intrinsically hazardous process“70. Thor berief sich auf die Doktrin „forum-non-conveniens“, wonach den Richtern ein Ermessen darüber eingeräumt ist, eine Entscheidung zu verweigern, wenn ein anderes
65 WESCHKA, Human Rights and Multinational Enterprises, S. 634: “All cases show the special characteristic that the damage was directly caused either by decisions or by omissions and negligence of the English head office company…” 66 MEERAN, in: KAMMINGA / ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 251 (252). 67 MEERAN, a.a.O., S. 251 (261): “It is suggested thatt provided there is sufficient involvement in, control over and knowledge of the subsidiary operations by the parentt there is no reason why the general principles of negligence should not apply so that in certain circumstances such a duty should exist.” 68 MICHAEL BYERS, in: KAMMINGA / ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 241 (245). 69 Vgl. die Darstellung des Falles bei WESCHKA, Human Rights and Multinational Enterprises, S. 631 f. sowie bei MEERAN, in: KAMMINGA / ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 251 (255 f.) 70 MEERAN, in: KAMMINGA / ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 251 (256).
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Gericht sachnäher ist oder sonst geeigneter erscheint.71 Das Gericht akzeptierte diesen Einwand jedoch nicht. Am Ende flossen über eine Millionen Pfund Schadensersatz. Im Falle Conelly v. RTZ Corporation Plc and Others72 befasste sich the House of Lords mit der Klage eines Arbeiters, der infolge seiner Tätigkeit bei Rossing Uranium Ltd. („R.U.L.“) in Namibia (1977–1982) aufgrund des hohen Uran-Staubgehalts an Kehlkopfkrebs litt. Trotz der gesundheitsgefährlichen Arbeitsumstände wurden für die Arbeiter keine Gesichtsmasken bereitgestellt. RTZ, das englische Mutterunternehmen, war unmittelbar verantwortlich für unternehmerische Entscheidungen im Zusammenhang mit der mangelnden Arbeitssicherheit. The House of Lords entschied, dass die Klage von Herrn Conelly in England zulässig sei und dass die Forum-non-conveniensDoktrin in diesem Falle nicht gebiete, dass die Klage direkt gegen R.U.L. in Namibia gerichtet werden müsse. Entscheidend für die Zulässigkeit der Klage in England war hier die Tatsache, dass der Kläger in Namibia keinerlei Prozesskostenhilfe zu erwarten hatte, dass aber eine Erfolgsaussicht für die Klage in diesem Falle nur bestand, wenn eine professionelle anwaltliche Vertretung gesichert war. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass durch eine Konvention der Europäischen Union die Anwendbarkeit der Forum-non-conveniens-Doktrin eingeschränkt worden ist.73 Daher sollten auch in England Klagen, die sich gegen einen Mutterkonzern in deren Heimatstaat richten, nicht abgewiesen werden, sofern der Mutterkonzern im Heimatstaat in irgendeiner Weise Kontrolle oder Verwaltungsaufgaben ausübt.74 III.2.3 „Schwellenländer“ Die hier vorgenommene Einteilung in Heimat- und Gaststaaten wird zunehmend nicht mehr der globalen Realität gerecht, da der „klassische“ Dualismus von Industriestaaten und Entwicklungsländern aufzubrechen beginnt. Vielmehr haben einige Entwicklungsländer in den letzten Jahren einen Sprung hin zu technologisch hoch entwickelten Nationen gemacht. Allen voran ist hier die Volksrepublik China zu nennen, die sich nach der Lockerung der kommunistischen Wirtschaftsmaximen auf dem Weltmarkt stark positioniert hat. Unternehmen wie Suntech Power Holdings, der weltweit größte Produzent von Solarmodulen, Nanjing Automobile Group, im Juli 2005 wegen der Übernahme der MG Rover Group in der Presse, sowie China Electronics Corporation zeigen, wie weitgefächert China auf Weltniveau industriell mittlerweile aufgestellt ist. So ver71
In den Einzelheiten unterscheidet sich hier das britische vom amerikanischen Recht, vgl. RI-
CHARD MEERAN, a.a.O., S. 251 (254). 72 CONELLY v. R.T.Z. Corporation
Plc and Others, House of Lords, Urt. vom 24. Juli 1997, [1997] UKHL 30. Vgl. zu diesem Fall die Zusammenfassung bei WESCHKA, Human Rights and Multinational Enterprises, S. 632. 73 The Brussels Convention on Jurisdiction and the Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters v. 27. September 1968. Konkretisierung durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Andrew Owusu v. N.B. Jackson, trading as „Villa Holidays Bal-Inn Villas” and Others, Urt. vom 1. März 2005 (C-281/02). Bedeutung der Konvention für das englische Recht: MEERAN, in: KAMMINGA/ ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 251 (261 f.). 74 MEERAN, in: KAMMINGA/ ZIA-ZARIFI, Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 251 (262).
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fügt China sowohl über „Mutterunternehmen“ wie auch als Niedriglohnland über Produktionsstätten ausländischer transnationaler Konzerne. Damit tritt zu den Interessenlagen der „klassischen“ Industrie- und „Entwicklungsländer“ eine Gruppe von „Schwellenländern“ hinzu, die wieder andere Bedürfnisse haben und Zielsetzungen verfolgen.
IV. Direkte Bindung der Unternehmen durch das Völkerrecht IV.1 Wirkung völkerrechtlicher Verträge in der nationalen Rechtsordnung Erfolgt also die Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben durch die Staaten nur sehr zögerlich, ist von Bedeutung, ob das Völkerrecht r die Unternehmen bereits unmittelbar, d. h. ohne Erlass von Gesetzen, die die völkerrechtlichen Verträge konkretisieren, verpflichtet. Zunächst einmal muss entsprechend der Theorie des „gemäßigten Dualismus“ (d. h. des grundsätzlichen „Nebeneinanders“ der beiden Rechtsordnungen des Völkerrechts und nationalen Rechts) jedem Vertrag von der nationalen Rechtsordnung innerstaatliche Geltung verschafft werden.75 Die Unterzeichnung des völkerrechtlichen Vertrags bedeutet in aller Regel noch nicht, dass dieser bereits innerstaatlich Rechtswirkungen entfaltet. Das Völkerrecht bestimmt nur, dass der Staat verpflichtet ist, den Vertrag zu befolgen (vgl. Art. 27 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge). Es ist dann Sache jeder nationalen Rechtsordnung, die innerstaatliche Rechtsgültigkeit herbeizuführen. Im deutschen Recht wird Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz innerstaatliche Geltung verschafft (Zustimmungsgesetz des Parlamentes). Ist diese Hürde genommen, kann der Vertrag ein Unternehmen nur direkt binden, wenn die entsprechende Vertragsbestimmung unmittelbar anwendbar ist, also kein weiterer Umsetzungsakt erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn sich aus der Bestimmung eine eindeutige Pflicht ableiten lässt und nicht nur die Aufforderung an die Staaten gegeben ist, gesetzgeberisch tätig zu werden. Ob eine Vertragsbestimmung unmittelbar anwendbar ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Gerade im Hinblick auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte kann nicht ohne weiteres von ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit ausgegangen werden. Insbesondere ist umstritten, ob die Bestimmungen des UN-Sozialpaktes weiterer konkretisierender staatlicher Maßnahmen bedürfen. In Art. 2 Abs. 1 UN-Sozialpakt heißt es: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere wirtschaftlicher und technischer Art, unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.“ Sieht man Art. 2 Abs. 1 UN-Sozialpakt im Zusammenhang mit den oft eher vage formulierten Bestimmungen des Paktes, so sprechen wohl die besseren Argumente dafür, dass zunächst nationale Ausgestaltungsmaßnahmen erfolgen müssen, bevor unmittelbar Rechte abgeleitet werden können. 75 Anschaulich zu diesem sehr theoretischen Konzept: HOBE / KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, S. 224ff.
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Allein die „unmittelbare Anwendbarkeit“ des Vertrages reicht jedoch noch nicht aus, um auch Private durch einen zwischen Staaten geschlossenen Vertrag zu verpflichten. Die einzelne Vertragsbestimmung muss vielmehr „drittwirksam“ sein, muss also auch Private als „Dritte“ in die Pflichten f einbeziehen. Der Begriff der „Drittwirksamkeit“ entstammt dem Staatsrecht und steht dort für die Frage, ob und in welchem Umfang die Grundrechte neben dem Staat auch Private binden können.76 Die Frage der Drittwirksamkeit völkerrechtlicher Verträge wird kontrovers diskutiert.77 Die Beurteilung, ob auch Private direkt verpflichtet werden, muss durch Auslegung für jeden Vertrag gesondert geprüft werden. Insgesamt gehen die meisten Stimmen in der Literatur davon aus, dass eine Drittwirkung einer völkerrechtlichen Vertragspflicht nur im Ausnahmefall besteht. Dies steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das konkrete Handlungs- oder Verhaltenspflichten Privater aus völkerrechtlichen Verträgen nur annimmt, „wenn und soweit dies der Vertragstext unzweideutig zum Ausdruck bringt.“78 Beispielsweise heißt es in Art. 137 des UN-Seerechtsübereinkommens79: „Kein Staat darf über einen Teil des Gebiets oder seiner Ressourcen Souveränität oder souveräne Rechte beanspruchen oder ausüben; ebenso wenig darf sich ein Staat oder eine natürliche oder juristische Person einen Teil des Gebiets oder seiner Ressourcen aneignen. Weder eine solche Beanspruchung oder Ausübung von Souveränität oder souveränen Rechten noch eine solche Aneignung wird anerkannt.“ Eine solche explizite Einbeziehung Privater ist jedoch sehr selten.80 Für die beiden großen Menschenrechtspakte der UN (Sozial- und Zivilpakt), die sich an die Vertragsstaaten richten, dürfte nach konservativer Auslegung die unmittelbare Bindung von Unternehmen nicht in den Vertrag „hineinzulesen“ sein.81 76 Siehe für das deutsche Staatsrecht PIETZCKER, Drittwirkung – Schutzpflicht – Eingriff, in: f für Günter Dürig, München 1990, MAURER (Hg.), Das akzeptierte Grundgesetz, Festschrift S. 345ff. 77 HÖRTREITER, Die Vereinten Nationen und Wirtschaftsunternehmen, S. 58 ff.; WIESBROCK, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 31 ff. (mit umfangreichen Literaturnachweisen in Fn. 4). 78 BVerfGE 43, S. 203 (209), s. auch davor schon BVerfGE 40, S. 141 (164f.), wobei es hier nicht konkret um die Verpflichtung zwischen zwei Privaten ging, sondern allgemein um die Frage, wann ein völkerrechtlicher Vertrag überhaupt eine Handlungs- oder Verhaltenspflicht eines Bürgers begründen kann. 79 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, BGBl. 1994 II, S. 1798. 80 Vgl. zur Diskussion um weitere teils für drittwirksam erachtete völkerrechtliche Verträge: HÖRTREITER, Die Vereinten Nationen und Wirtschaftsunternehmen, S.62f. HÖRTREITER weist auch darauf hin, dass etwaige Drittwirkungen „im Verfahrensrecht auf völkerrechtlicher Ebene keinen rechten Widerhall finden“. 81 Anderer Ansicht: EMMERICH-FRITSCHE, Zur Verbindlichkeit der Menschenrechte für transnationale Unternehmen, S. 560: „Im Zeitalter der Entstaatlichung ist es nicht mehr sachgerecht, Menschenrechte auf die Beziehung Individuum-Staat zu verengen. Auf die ursprüngliche Intention der Vertragsparteien kann es deshalb nicht überwiegend ankommen.“ - Diese Meinung, die zunächst sehr menschenrechtsfreundlich erscheint, geht allerdings zum einen davon aus, dass die Nationalstaaten schon jetzt keine die anderen Akteure überragende Bedeutung mehr inne hätten; zum anderen bedeutet die progressive Vertragsauslegung eine Festschreibung der propagierten Entstaatlichung. Dem von Emmerich-Fritsche anvisierten Weltrecht (vgl. dieselbe., Vom Völker-
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IV.2 UN Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations and Other Business Enterprises With Regard to Human Rights (2003) Die Prüfung jeden einzelnen Vertrages daraufhin, ob er Unternehmen direkt aus sich selbst heraus verpflichtet, ist mühsam. Diese Schwierigkeit umgeht ein Vorstoß der Subkommission zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte, eines Unterorgans der ehemaligen UN-Menschenrechtskommission.82 Es handelt sich hier um einen unverbindlichen Entwurf, der 2003 von der Subkommission angenommen und zur weiteren Diskussion an die Menschenrechtskommission verwiesen wurde.83 Inhaltlich greift er bekannte Menschen- und Arbeitnehmerrechte auf. Namentlich werden angesprochen: das „Recht auf Chancengleichheit und nichtdiskriminierende Behandlung“, das „Recht auf Sicherheit der Person“ (gerichtet gegen die Beteiligung oder das Profitieren transnationaler Unternehmen an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Zwangs- oder Pflichtarbeit etc.), die „Rechte der Arbeitnehmer“ (Kinder, Arbeitsumfeld, Entgelt, Vereinigungsfreiheit), die „Achtung der nationalen Souveränität und der Menschenrechte (gerichtet gegen Korruption sowie für die Achtung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie der bürgerlichen und politischen Rechte), die „Verpflichtungen in Bezug auf den Verbraucherschutz“ sowie „Verpflichtungen in Bezug auf den Umweltschutz“. Ziel ist es also nicht, neue Rechte zu definieren, sondern vielmehr, den bekannten Rechten zu mehr Geltung zu verhelfen. Dabei wird die Bekanntmachung allein schon dadurch gestärkt, dass hier die sonst in vielen einzelnen Verträgen enthaltenen Rechte zusammengetragen werden.84 Daher werden bereits in den UN-Norms „Umsetzungsbestimmungen“ aufgeführt. Hier werden sowohl direkt die Unternehmen als auch die Staaten in die Pflicht genommen, wobei eingangs unter den „Allgemeinen Verpflichtungen“ den Staaten ausdrücklich die „Hauptverantwortung“ zugewiesen wird. Unter den Umsetzungsbestimmungen sind besonders die vorgeschlagenen Überwachungsmechanismen von Interesse. Neben einer „Berichtspflicht“ sieht der Entwurf vor allem ein weitgefächertes Überwachungssystem auf der Ebene der Vereinten Nationen sowie weitere internationale und nationale Mechanismen vor. Der Bericht betont dabei die Notwendigkeit von Transparenz und Unabhängigkeit. Abgerundet wird das System durch eine Selbstevaluierung der Unter-
recht zum Weltrecht) stehen die in diesem Beitrag ausgeführten fundamentalen Bedenken im Hinblick auf Demokratie und Machtmissbrauch entgegen. 82 Seit Juni 2006 wurde die UN-Menschenrechtskommission aufgrund vielfältiger Kritik an ihrer Staatenzusammensetzung, Organisation und damit verbundener Handlungsunfähigkeit vom UN Menschenrechtsrat abgelöst. Die Subkommission ist mittlerweile durch das Human Rights Council Advisory Committee ersetzt worden. 83 Deutsche Übersetzung der UN-Norms: Deutsche Gesellschaft f für die Vereinten Nationen e.V. (Hg.), Normen der Vereinten Nationen für die Verantwortlichkeiten transnationaler Unternehmen und anderer Wirtschaftsunternehmen im Hinblick auf die Menschenrechte. Informativ zu den einzelnen Positionen gegenüber den UN-Norms s. STROHSCHEIDT, UN-Normen zur Unternehmensverantwortung, Vereinte Nationen 4/2005, S. 138 ff. 84 Die Zusammenfassung von Menschen- und Arbeitsrechten mit Verbraucher- und Umweltschutz ist ein Novum. Vgl. zum Inhalt der Norms auch NOWROT, Die UN-Norms, S. 16 („Zielsetzung hin zu einem allgemeinen und umfassenden Verhaltenskodex für Unternehmen“).
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nehmen. Darüber hinaus werden die Staaten aufgefordert, durch Rechtsprechung und Verwaltung zu gewährleisten, dass die Unternehmen die Rechte einhalten. In welche rechtliche Form dieser Entwurf der Subkommission genau münden sollte, blieb offen. Eine Möglichkeit bestand darin, die Bestimmungen zum Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen Staaten werden zu lassen, durch den die Unternehmen direkt verpflichtet würden.85 Welche Zukunft der Entwurf haben wird, ist nach wie vor unklar.86 Er ist aber allein schon deshalb von Bedeutung, weil sich an ihm zeigt, ob die Staaten wirklich eine direkte Verpflichtung der Unternehmen herbeiführen wollen mit der rechtlichen Konsequenz, dass dies auch die völkerrechtliche Stellung der Unternehmen beeinflussen würde.87
IV.3 Direkte Bindung durch Unternehmen als Vertragspartner Die Problematik der Einbindung transnationaler Unternehmen in das völkerrechtliche Gesamtgefüge führt zu der Frage, ob Unternehmen Vertragspartner völkerrechtlicher Verträge sein können. Es geht um eine rechtsbindende Selbstverpflichtung der Unternehmen auf der Ebene des Völkerrechts. Verträge zwischen Staaten und Unternehmen gibt es bereits. Problematisch ist aber ihre rechtliche Einordnung. Völkerrechtliche Verträge können nur von Völkerrechtssubjekten geschlossen werden.88 Sind nun aber Unternehmen Völkerrechtssubjekte – sollen sie es sein? An dieser Stelle herrscht großer dogmatischer Streit.89 Befürworter verweisen auf die bestehenden Rechte und Pflichten sowie die starke Stellung der Unternehmen bei Vertragsverhandlungen mit Staaten. Andere warnen davor, Unternehmen auch rechtlich den Staaten gleichzustellen, gerade weil die wirtschaftliche Macht bereits der von Staaten angenähert ist bzw. diese im Einzelfall sogar übertreffen kann. Praktisch bedeutsamer als dieser akademische Streit ist aber die Entwicklung im Bereich des soft law (dazu sogleich unten VI).
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NOWROT, Die UN-Norms, S. 6 ff. u. 26. HÖRTREITER, Die Vereinten Nationen und Wirtschaftsunternehmen, S. 180. 87 Vgl. NOWROT, Die UN-Norms, S. 26: „Unter diesen Bedingungen, also bei Vorliegen eines zwischenstaatlichen Vertrags, durch dessen Regelungen unmittelbar Pflichten für transnationale Unternehmen begründet werden, wären gegenwärtig möglicherweise noch bestehende Zweifel an einer zumindest partiellen Völkerrechtssubjektivität transnationaler Unternehmen abschließend ausgeräumt.“ Für eine solche Verpflichtung der Unternehmen und eine damit einhergehende Schwächung der Nationalstaaten (allerdings nicht konkret auf die UN-Norms bezogen) JOSEPH, An Overview of the Human Rights Accountability of Multinational Enterprises, in: KAMMINGA/ZIA-ZARIFI (Hg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 75 (88). 88 HEINEGG, in: IPSEN, Völkerrecht, § 10 Rn. 1; HERDEGEN, Völkerrecht, § 15 Rn. 1. 89 Gegen Völkerrechtssubjektivität von transnationalen Unternehmen sprechen sich aus: HAILBRONNER, in: GRAF VITZTHUM (Hg.), Völkerrecht, Abschnitt 3, Rn. 44. Für (partielle) Völkerrechtssubjektivität: HÖRTREITER, Die Vereinten Nationen und Wirtschaftsunternehmen, S. 205f. Allgemein zum Streitstand: DOLZER, in: GRAF VITZTHUM (Hg.), Völkerrecht, Abschnitt 6, Rn. 58; NOWROT, Normative Ordnungsstruktur und private Wirkungsmacht, S. 367 mit ausführlichen Nachweisen zum Streitstand in Fn. 1526. 86
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V. Völkerrechtliche Durchsetzungsmechanismen Da jede völkerrechtliche Verpflichtung im Hinblick auf Unternehmen dann besonders erfolgversprechend ist, wenn diese auch durchgesetzt werden kann, soll unter dem Aspekt der Unternehmensverantwortlichkeit ein kurzerr Blick auf institutionalisierte Durchsetzungsmaßnahmen des Völkerrechts geworfen werden.
V.1 Verantwortlichkeit des Gaststaates vor dem Internationalen Gerichtshof Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sind nur Staaten parteifähig (Art. 34 Abs. 1 IGH-Statut), sodass daran gedacht werden könnte, dass ein Staat (der Heimatstaat oder ein Drittstaat) den Gaststaat verklagen könnte. Allerdings scheint dieser Weg wenig zielführend zu sein. Zum einen kann der IGH nur dann in der Sache urteilen, wenn der klagende und der verklagte Staat sich der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterworfen haben (Art. 36 IGH-Statut). Des Weiteren gibt es keine spezifische Möglichkeit außerhalb allgemeiner völkerrechtlicher Druckmittel wie Repressalie und Retorsion, ein erwirktes Urteil zwangsweise durchzusetzen.90 Problematisch ist auch, inwieweit diese allgemeinen Druckmittel überhaupt bei völkerrechtlichen Pflichten von nicht direkt betroffenen Staaten (der Heimatstaat oder Drittstaat ist in aller Regel nicht verletzt) zulässig sind. Vorstellbar wäre dies nur für erga-omnes-Verpflichtungen.91
V.2 Verantwortlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs war das Ergebnis eines Rufes nach Gerechtigkeit, der international seit den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen, die zur Aufarbeitung von Verbrechen während des Dritten Reiches einberufen worden waren, hörbar war. Der ihm zugrunde liegende völkerrechtliche Vertrag („Rom-Statut“) ist im Jahr 2002 in Kraft getreten. Der Gerichtshof soll sowohl einen Beitrag zur Aufarbeitung von Unrecht als auch zur Prävention von Verbrechen leisten. Überdies gibt es die Möglichkeit einer Wiedergutmachung für die Opfer.92 Vor dem Internationalen Strafgerichtshof müssen sich nach Art. 25 Abs. 1 seines Statuts nur natürliche Personen verantworten. Unternehmen können damit nicht als solche verklagt werden. Es könnten allerdings einzelne Gesellschafter bzw. Unternehmensverantwortliche zur Verantwortung gezogen werden. Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist zunächst, dass die Person einen der im Statut genannten Straftatbestände 90
FISCHER, in: IPSEN, Völkerrecht, § 62 Rn. 48. S. zu den Begriffen „Retorsion“ und „Repressalie“ oben Fn. 28. 91 HOBE / KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, S. 237; HERDEGEN, Völkerrecht, § 59 Rn. 8; Art. 54 des Entwurfs der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit lässt dieses Problem ausdrücklich ungeklärt. 92 Art. 75 Abs. 1 Rom-Statut: „Der Gerichtshof stellt Grundsätze für die Wiedergutmachung auf, die an oder in Bezug auf die Opfer zu leisten ist, einschließlich Rückerstattung, Entschädigung und Rehabilitierung. Auf dieser Grundlage kann der Gerichtshof in seiner Entscheidung entweder auf Antrag oder unter außergewöhnlichen Umständen aus eigener Initiative den Umfang und das Ausmaß des Schadens, Verlustes oder Nachteils feststellen, der den Opfern oder in Bezug auf die Opfer entstanden ist, wobei er die Grundsätze r nennt, auf Grund deren er tätig wird.“
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verwirklicht hat. Strafbar ist nach Art. 5 des Statuts der Völkermord, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Kriegsverbrechen und die Aggression. Relevant ist im Zusammenhang mit der Gesellschafterhaftung vor allem das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Art. 7 des Statuts näher bestimmt wird. Danach ist dieser Tatbestand dann verwirklicht, wenn unter anderem folgende Handlungen „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs“ begangen werden: vorsätzliche Tötung, Ausrottung, Versklavung, Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung, Freiheitsentzug, Folter, sexuelle Gewalt, Verbrechen der Apartheid sowie „andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.“ Es zeigt sich, dass bereits die konkreten tatbestandlichen Handlungen bezogen auf die Gesellschafterhaftung nur sehr extreme Ausuferungen sanktionieren. Überdies müssen die Handlungen –als kumulative Voraussetzung Ŧ im Rahmen eines „Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ ausgeführt worden sein. Dies bedeutet „eine Verhaltensweise, die mit der mehrfachen Begehung …[der genannten Handlungen] gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung f oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat.“ Diese Anforderungen vermindern noch einmal mehr die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verhaltensweise eines Gesellschafters der Strafbarkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof unterliegt, wenngleich – wie im jüngsten Fall vor einem New Yorker Gericht gegen Shell – mitunter tatsächlich so schwere Verbrechen im Raume stehen.93 Es könnte erwogen werden, ob sich beispielsweise Entscheidungsträger privater Fluggesellschaften, die Kriegsgefangene an Orte verbringen, wo ihnen Folter droht, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig machen.94 Im Ergebnis wird eine solche Haftung schwierig sein. Insbesondere realistisch ist die Verwirklichung eines der vom Statut geahndeten Delikte und damit eine Gesellschafterhaftung jedoch in Bezug auf bestimmte Unternehmen wie private Sicherheitsfirmen oder private Militärfirmen, die unter anderem auch in bewaffneten Konflikten aktiv operieren. Die Frage nach der Einordnung und rechtlichen Behandlung solcher Firmen stellt ein Sonderproblem dar, auf welches hier lediglich hingewiesen werden kann. Denkbar ist auch die Begehung eines Kriegsverbrechens durch Gesellschafterhandeln. Art. 8 des Statuts definiert, dass unter bestimmten Umständen auch die Zerstörung, Aneignung bzw. Beschlagnahme von Eigentum ein Kriegsverbrechen darstellen 93
Darüber hinaus kann eine Anklage nur erfolgen, wenn entweder der Staat, in dem das vorwerfbare Verhalten stattgefunden hat oder der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die verdächtige Person besitzt, die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof anerkannt hat (vgl. Art. 12 Abs. 2 des Statuts). Die Anerkennung kann dabei entweder durch Beitritt als Vertragspartei zum Statut erfolgen (Art. 12 Abs. 1 des Statuts) oder durch Anerkennung im konkreten Fall (Art. 12 Abs. 3 des Statuts). 94 Vgl. hierzu Report of the International Commission of Jurists, Expert Legal Panel on Corporate Complicity in International Crimes, Corporate Complicity and Legal Accountability, Vol. 2 (Criminal Law and International Crimes), S. 5.
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kann95. An dieser Stelle sei an den Alfried-Krupp-Fall erinnert, der im Nachkriegsdeutschland in Nürnberg verhandelt wurde.96 Krupp wurde verurteilt, da er Fabriken, Maschinen und anderes Gut übernommen hatte, das zuvor von den Nazis nach Okkupation konfisziert worden war. Nach außen hin wurden diese Transfers als „freiwillig“ und „legal“ zertifiziert, was freilich nicht der Wahrheit entsprach. Obwohl Krupp aus rein wirtschaftlichen Interessen handelte und die politische Situation „nur“ ausnutzte, ohne selbst in das Kriegsgeschehen verwickelt zu sein, wurde er verurteilt. Da der Internationale Strafgerichtshof gerade auch aufgrund der Erfahrungen der Aufarbeitung des Dritten Reiches entstanden ist, können die in Nürnberg verhandelten Fälle als Auslegungshilfe für die im Statut genannten Tatbestände dienen.
VI. Soft law Je nachdem, wie weit man den Kreis des soft law97 zieht, gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Modelle, um Unternehmen anzuhalten, gewisse Mindeststandards zu achten. Prominent sind vor allem die Tripartite Declaration of Principles Concerning Multinational Enterprises and Social Policy von 1977 (aktuelle Fassung von 2000), die OECD Guidelines for Multinational Enterprises von 1976 (überarbeitete Version 2000) sowie der Global Compact (2000).
VI.1 Tripartite Declaration of Principles i Concerning Multinational Enterprises and Social Policy Die Tripartite Declaration of Principles Concerning Multinational Enterprises and Social Policy ist ein vom International Labour Office, dem „permanenten Sekretariat“ der ILO, aufgesetztes internationales Dokument98, das sich als „Richtlinie für multinationale Unternehmen, Regierungen und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in Bereichen
95
Art. 8 2. a) iv Rom-Statut: [Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Kriegsverbrechen“ als Verletzung der Genfer Abkommen: ]: „Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt sind und rechtswidrig und willkürlich vorgenommen werden“; Art. 8 2. b) xiii [Kriegsverbrechensbegriff im Rahmen international bewaffneter Konflikte]: „die Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Eigentums, sofern diese nicht durch die Erfordernisse des Krieges zwingend geboten ist“; Art. 8 2. e) xii [Kriegsverbrechensbegriff im nationalen bewaffneten Konflikt]: „die Zerstörung oder Beschlagnahme gegnerischen Eigentums, sofern diese nicht durch die Erfordernisse des Konflikts zwingend geboten ist“. 96 Vgl. Zusammenfassung der hierr wesentlichen Gesichtspunkte in: Report of the International Commission of Jurists, Expert Legal Panel on Corporate Complicity in International Crimes, Corporate Complicity and Legal Accountability, Vol. 2 (Criminal Law and International Crimes), S. 42. 97 Zum Begriff s. oben III.1. 98 Vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes r auf seiner 204. Tagung in Genf im November 1977 angenommene Erklärung, in der auf der 279. Tagung in Genf im November 2000 abgeänderten Fassung.
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wie Beschäftigung, Ausbildung, Arbeits- und Lebensbedingungen und Arbeitsbeziehungen“ versteht.99 Die Besonderheit der Tripartite Declaration liegt darin, dass diese übereinstimmend von Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern verabschiedet wurde.100 Diese konnten sich am Ende allerdings vor allem deswegen einigen, weil die Erklärung nur empfehlenden Charakter hat und kein verbindliches Völkerrecht darstellt.101 Andererseits werden gerne Deklarationen und Erklärungen, die einen breiten zwischenstaatlichen Konsens gefunden haben, auf ihre Entwicklung vom soft law zum Völkerrecht hin überprüft und haben das Potential, bei entsprechender Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung der Staaten zum hard law (in Form des Völkergewohnheitsrechts) zu erstarken.102 Eine übereinstimmende Praxis der Staaten ist, wie bereits bei den Defiziten der staatlichen Umsetzung festgestellt, hier aber gerade nicht zu beobachten.103 Die Erklärung berücksichtigt dabei neben den bekannten Schwierigkeiten auch das Potential, das Unternehmen zur Sicherung der sozialen Rechte und des wirtschaftlichen Aufschwung leisten können.104 Gerichtet ist die Erklärung entsprechend der Struktur der ILO an die staatlichen Regierungen, die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände sowie die multinationalen Unternehmen.105 Trotz dieser Adressierung auch an die Unternehmen selbst werden die Hoheitsrechte der Staaten betont und die Unternehmen aufgefordert, die nationalen Vorschriften zu achten und die örtlichen Gewohnheiten zu respektieren.106 Damit werden auch hier die Staaten vorrangig in die Verantwortung genommen. Die Deklaration umfasst die Ziele der Beschäftigung (Beschäftigungsförderung, Chancengleichheit und Gleichbehandlung, Sicherheit der Beschäftigung), Ausbildung, Arbeits- und Lebensbedingungen (Löhne, Leistungen und Arbeitsbedingungen, Mindestalter, Arbeitsschutz) sowie der Arbeitsbeziehungen (Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsrecht, Kollektivverhandlungen). Bei unverbindlichen Instrumenten wie der Tripartite Declaration erhebt sich noch mehr als sonst im Völkerrecht die Frage nach ihrer Wirkung. Um den Empfehlungen Nachdruck zu verleihen, wurde ein Follow-up-Programm ins Leben gerufen. Es umfasst Seminare zum Erfahrungsaustausch sowie zur Problemidentifizierung, zu Umfragen bei den Mitgliedstaaten sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie ein Verfahren zur Auslegung der einzelnen Bestimmungen. Insgesamt fällt die Bilanz dieser Maßnahmen jedoch eher verhalten aus. So sind die Ergebnisse der Umfragebögen wenig
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Internationales Arbeitsamt Ŧ International Labour OfficeŦ Genf (2001) , Einleitung zur dreigliedrigen g Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik. 100 Vgl. HILLEMANNS, Transnationale Unternehmen und Menschenrechte, S. 71. 101 HILLEMANNS, a.a.O., S. 72. 102 Vgl. RUGGIE, Report 2007, S. 15 Rn. 49. 103 Im Ergebnis so auch HILLEMANNS, Transnationale Unternehmen und Menschenrechte, S. 75. 104 Dreigliedrige Grundsatzerklärung, Rn. 2: „Das Ziel … ist es, den positiven Beitrag, den multinationale Unternehmen zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt leisten können, zu fördern und die Schwierigkeiten … zu vermindern und zu beheben…“. 105 Dreigliedrige Grundsatzerklärung, Rn. 4. 106 Dreigliedrige Grundsatzerklärung, Rn. 8.
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aussagekräftig, da Unternehmen nicht konkret genannt werden und diese somit auch keine negative Öffentlichkeit zu befürchten haben.107
VI.2 OECD Guidelines for Multinational Enterprises Die OECD Guidelines for Multinational Enterprises sind Empfehlungen der staatlichen Regierungen von 33 Teilnehmerstaaten an die transnationalen Unternehmen. Mit ihnen verpflichten sich die Regierungen, die Anwendung der Leitsätze durch die Unternehmen zu fördern, indem sie diese den Unternehmen empfehlen und nationale Kontaktstellen einrichten, um „die Umsetzung der Leitsätze zu fördern, Anfragen zu beantworten sowie mit den beteiligten Parteien alle Fragen zu erörtern, die unter die Leitsätze fallen, um so zur Lösung der auf diesem Gebiet möglicherweise auftretenden Probleme beizutragen“108. Die Verpflichtung der Staaten bleibt insgesamt sehr allgemein gehalten.109 Aufgrund des Charakters der Leitsätze als „Empfehlungen“ an die Unternehmen handelt es sich also nur um soft law. „Die Beachtung der Leitsätze durch die Unternehmen beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und hat keinen rechtlich zwingenden Charakter.“110 Da es sich bei der OECD um ein zwischenstaatliches Forum vor allem von Industriestaaten handelt, sind die Leitsätze mit dem Ziel verfasst, neben der Reduzierung problematischer Verhaltensweisen „den positiven Beitrag zu fördern, den die multinationalen Unternehmen zum ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritt leisten können“111. Ausländische Investitionen werden ausdrücklich begrüßt und sollen gestärkt werden.112 Die strikt intergouvernementale Verfasstheit der OECD lässt die Leitsätze ausdrücklich einen die Souveränität der Staaten achtenden Charakter tragen. Dies zeigt sich zunächst darin, dass die Leitsätze über die einzelnen Regierungen den Unternehmen empfohlen werden sollen und trotz der Formulierung („Die Unternehmen sollen“ oder „Die Unternehmen werden dazu angehalten“) keine direkten Empfehlungen der OECD als internationale Organisation darstellen.113
107
HILLEMANNS, Transnationale Unternehmen und Menschenrechte, S. 74. Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Teil 2 (Umsetzungsverfahren), I. (Nationale Kontaktstellen). 109 Vgl. Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Teil 1 (Leitsätze), Einführung Rn. 10. 110 Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Teil 1 (Leitsätze), I. Begriffe und Grundsätze Rn. 1. 111 Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Teil 1 (Leitsätze), Einführung Rn. 10. 112 Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Erklärung des Vorsitzenden der Ministerratstagung (Juni 2000), 3. Absatz („internationale Investitionsklima verbessern“); Erklärung der Regierungen der Teilnehmerstaaten über internationale Investitionen und multinationale Unternehmen, 3. Erwägung sowie IV.1; Teil 1 (Leitsätze), Einführung Rn. 1. 113 Vgl. Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Erklärung des Vorsitzenden der Ministerratstagung (Juni 2000), 2. Absatz: „Die Leitsätze stellen Empfehlungen … dar, die die Regierungen der 33 Teilnehmerstaaten an die in ihren Ländern oder von ihren Ländern aus operierenden multinationalen Unternehmen richten“. 108
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Die Auslegung der Leitsätze und ihre Überwachung fallen in die Kompetenz des OECD-Ausschusses für internationale Investitionen und multinationale Unternehmen (CIME).114 Im Einzelnen beziehen sich die Leitsätze auf folgende Aspekte: Grundpflichten, Informationspolitik, Beschäftigungspolitik, Umweltschutz, Korruptionsbekämpfung, Verbraucherinteressen, Wissenschaft und Technologie, Wettbewerb und Besteuerung. Dabei fällt auf, dass die Empfehlungen sehr weich formuliert sind.
VI.3 Global Compact Der Global Compact wurde im Jahr 2000 in New York von dem damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, ins Leben gerufen und ist aus völkerrechtlicher Sicht ein Novum. Entstanden ist eine direkte Beziehung zwischen den Vereinten Nationen und Unternehmen, die nicht durch die Nationalstaaten vermittelt wird. Damit sollen die Unternehmen direkt in die Verantwortung gerufen werden. Es handelt sich dabei nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, sondern um eine „wertorientierte Plattform“. Auch deutsche Unternehmen haben sich von Anbeginn beteiligt, namentlich BASF, Bayer, die Deutsche Bank, die Deutsche Telecom AG sowie die Gerling Versicherungsgruppe. Unternehmen sind jedoch nicht die einzigen Teilnehmer. Vielmehr sind etwa auch Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen an diesem Netzwerk beteiligt. Wie aber funktioniert der Global Compact? Die Vereinten Nationen definieren in zehn Prinzipien grundsätzliche Werte bezüglich Menschenrechten (Prinzip 1–2), Arbeitsnormen (Prinzip 3–6), Umweltschutz (Prinzip 7–9) und Korruptionsbekämpfung (Prinzip 10). Die Menschenrechte werden dabei sehr allgemein adressiert, ohne nähere Bezeichnung einzelner Rechte oder einen Verweis auf ein bestimmtes völkerrechtliches Dokument. Etwas konkreter werden die Arbeitnehmerrechte genannt. Hier werden mit dem Recht auf Vereinigungsfreiheit, Kollektivverhandlungen, Abschaffung der Zwangsarbeit und Kinderarbeit sowie dem Diskriminierungsverbot die schon von der ILO als Kernarbeitsnormen bezeichneten Rechte wiedergegeben. Die drei den Umweltschutz konkretisierenden Prinzipien betreffen den vorsorgenden Ansatz, die Verantwortungsbereitschaft sowie etwas konkreter das Engagement bei der Entwicklung umweltfreundlicher Technologien. Die Unternehmen sind nun aufgerufen, sich diesen Prinzipien zu verpflichten und sie in ihrem Unternehmen umzusetzen. Die Teilnahme erfolgt nicht durch eine etwaige Vertragsurkunde, sondern nur durch einen Brief des Unternehmens an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, in dem die Unternehmen ihre Unterstützung für die Prinzipien zum Ausdruck bringen und sich verpflichten, regelmäßig über die Umsetzung der Prinzipien zu berichten (Global Reporting Initiative).
114
Die OECD – Leitsätze für multinationale Unternehmen (Neufassung 2000), Erklärung des Vorsitzenden der Ministerratstagung (Juni 2000), 6. Absatz sowie näher Teil 2 (Umsetzungsverfahren) II. (Der Ausschuss für internationale Investitionen und multinationale Unternehmen).
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Diese jährlichen Nachhaltigkeitsberichte115 bilden das Kernstück des Global Compact. Hiermit wird erreicht, dass es nicht bei einer bloßen Absichtserklärung bleibt, sondern sich die Unternehmen aktiv mit den Prinzipien auseinandersetzen. Dadurch wird das Defizit, das aufgrund der fehlenden Durchsetzungsmechanismen besteht, etwas abgefedert. Insbesondere dienen die Berichte aber zum Aufbau einer Datenbank, mit Hilfe derer Unternehmen unter anderem voneinander lernen können, wie man die Prinzipien konkret umsetzen kann. Mittlerweile gibt es einen detaillierten Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, der eine gewisse Qualität und Vergleichbarkeit der Berichte sicherstellen soll. Auf deutscher Seite sind unter den führenden GlobalCompact-Berichten diejenigen von BASF116 und Bayer zu nennen. Primär sind die Unternehmen dazu aufgerufen, f im Rahmen ihres Betriebs zu wirken. Jedoch ermutigt der Global Compact darüber hinaus auch ein weiterreichendes Engagement in der Form von Entwicklungsprojekten in Entwicklungsländern. Die Unternehmen erhoffen sich von dieser einseitigen Verpflichtung eine positive Öffentlichkeitswirkung, die – im Unterschied zu firmeneigenen Codes of Conduct – durch die Autorität der UN gesteigert ist. Das teilnehmende Unternehmen darf sogar das UN Global Compact Logo für Aktivitäten in diesem Zusammenhang verwenden. Die Vereinten Nationen haben damit erreicht, dass die gesamte Problematik noch mehr in das Bewusstsein der Unternehmensverantwortlichen und Konsumenten dringt, dass die Unternehmen zu mehr Selbstverantwortung angeleitet werden (und nicht nur die Staaten auf internationaler Ebene als Verantwortliche gelten), dass die Probleme des fehlenden Eingriffs der Staaten angegangen werden sowie eine intensivere des Unternehmens durch die jährliche Berichtspflicht stattfindet. Trotz dieser anvisierten positiven Effekte ist die Wirksamkeit des Global Compact heftig umstritten.117 Plastisch wird die Kritik durch das Schlagwort „bluewashing“ ausgedrückt, was so viel bedeutet wie, dass sich die Unternehmen mit der Integrität der Vereinten Nationen schmücken, ohne wirklich etwas zu ändern. Hintergrund ist die Tatsache, dass der Beitritt jedes Unternehmens ungeprüft möglich ist, dass die Berichte nicht verifiziert werden und bis auf den Ausschluss des Unternehmens insbesondere bei Nichterfüllung der Berichtspflicht keine spürbaren Sanktionen drohen. Zu denken gewesen wäre hier etwa an „Strafzahlungen“ in einen Fond, der beispielsweise für Maßnahmen verbesserten Umweltschutzes oder auch Korruptionsbekämpfung hätte eingesetzt werden können. Es gibt zwar Maßnahmen im Rahmen der integrity measures, jedoch wurden diese, wie der Namen bereits andeutet, mit dem Ziel geschaffen, in erster Linie die Integrität des Paktes zu bewahren und nicht primär die teilnehmenden Unternehmen zu kontrollieren. Insgesamt ist die wissenschaftliche Evaluation des Nutzens des Global Compact bei weitem noch nicht abgeschlossen.118
115 Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird hier in weiterem Sinne verstanden und umfasst ökonomische, ökologische sowie gesellschaftliche und soziale Auswirkungen. 116 Der Nachhaltigkeitsbericht von 2005 wurde auf der Webside des Global Compact als „notable“ gekennzeichnet. 117 Zur Kritik der NGOs s. WEIß, Transnationale Unternehmen – weltweite Standards?, S. 87. 118 S. auch http://www.unglobalcompact.org/HowToParticipate/academic_network/index.html.
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Es handelt sich – rechtsdogmatisch gesehen Ŧ bei diesem globalen Pakt nicht um völkerrechtlich bindendes Recht, wahrscheinlich noch nicht einmal um soft law im herkömmlichen Sinne,119 da ihm kein Gründungsbeschluss einer internationalen Organisation oder Staatenkonferenz zugrundeliegt.120
VII. Codes of Conduct Firmeneigene Codes of Conduct, also Selbstverpflichtungen von Unternehmen (Verhaltenscodices), verbreiten sich zunehmend.121 Unternehmen sind sich bewusst, dass ethische Standards auch ökonomisch positive Auswirkungen haben können. Die darin liegende Anerkennung von Arbeitnehmerrechten und nachhaltiger Entwicklung ist zu begrüßen. Im Gegensatz zum Global Compact stellen die Unternehmen die Liste der Codes of Conduct allerdings selbst zusammen und können daher die Konsumenten durch Weglassen unliebsamer Aspekte über ihr „commitment“ täuschen. Desweiteren bedeuten diese Selbstverpflichtungen meist nur Zielvorstellungen, die firmenintern in ihrer Umsetzung in der Regel unreflektiert bleiben. Eine gewisse, wenngleich unzureichende, Kontrolle bietet die Öffentlichkeit, die das Unternehmen an ihren eigenen Standards messen kann. Solche Selbstverpflichtungen können im Einzelfall mehr Eigenwerbung als Engagement bedeuten. Die Verantwortungsbereitschaft der Unternehmen sollte aber nicht pauschal in Misskredit gebracht werden. So muss die Motivation für ethische Standards vor allem nicht bei einem ökonomischen Kalkül von Kosten und Nutzen stehenbleiben. Die Unternehmensgruppe Deichmann, vertreten in 17 vorwiegend europäischen Ländern, hat sich beispielsweise in einem umfangreichen, vor allem an den ILO-Konventionen und Empfehlungen ausgerichteten, Verhaltenskodex verpflichtet, grundlegende Menschen- und Arbeitnehmerrechte sowie den Umweltschutz zu achten.122 Diese strengen Maßstäbe werden auch auf die Lieferanten und Subunternehmer angewandt.123 Arbeitnehmer haben z. B. ein Recht auf eine Vergütung, die „die grundlegenden Bedürfnisse“ befriedigt und „ein gewisses frei verfügbares Einkommen“ gewährleistet.124 Die Arbeitszeiten 119 Vgl. auch EMMERICH-FRITSCHE, Zur Verbindlichkeit der Menschenrechte für transnationale Unternehmen, S. 551. 120 Vgl. aber die Resolution der Generalversammlung der UN (A/Res/60/215) „Towards global partnerships“ vom Dezember 2005 sowie zuvor die Resolutionen (A/Res/55/215) vom Dezember 2000, (A/Res/56/76) vom Dezember 2001, (A/Res/58/129) vom Dezember 2003. Siehe auch die Übersicht unter http://www.unglobalcompact.org/docs/news_events/9.1_news_archives/2004_01_20/ gc_governments.pdf. g 121 JOSEPH, An Overview of the Human Rights Accountability of Multinational Enterprises, in: KAMMINGA/ZIA-ZARIFI (Hg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 75 (82). 122 Codes of Conduct: http://www.deichmann.com/website/pdf/code_of_conduct.pdf. Damit entspricht das Unternehmen dem Appell der Ev. Kirch, vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift (2008), S. 99. 123 Einleitung Codes of Conduct: „Es ist eine nicht verhandelbare Forderung unsererseits, dass alle Lieferanten und deren Subunternehmer ohne Ausnahme diesen Code of Conduct befolgen.“ 124 Codes of Conduct, II. 5.2.
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dürfen „regelmäßig mehr als 48 Stunden pro Woche“ nicht überschreiten, „pro SiebenTage-Periode muss mindestens ein freier Tag gewährt werden“125. Deichmann kündigt weiterhin die Überprüfung dieser Standards durch unabhängige sowie auch unterneha wiederholt und trotz Ablauf menseigene Prüfer an.126 Erfüllen Lieferanten die Standards einer angemessenen Frist nicht und sind auch keine Bemühungen um „entsprechende korrigierende Schritte“ sichtbar, sieht sich Deichmann „dazu verpflichtet, die Zusammenarbeit mit diesem Lieferanten zu beenden.“ Diese Codes of Conduct entspringen dem Unternehmensleitbild, das sich „dem christlichen Menschenbild verpflichtet“ sieht.127 Das Unternehmen stellt den Menschen (Kunde, Mitarbeiter, Lieferanten sowie Menschen in Not) in den Mittelpunkt und sieht Gewinnerzielung daher nicht als Selbstzweck an.128 Neben den firmeneigenen Codes of Conduct gibt es weitere private Initiativen, die sich die Verbreitung und firmeninterne Anerkennung bzw. Umsetzung von Arbeitnehmer- und Umweltstandards zum Ziel gesetzt haben. Ein Beispiel ist ein Projekt der Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels (AVE) „AVE-Sektorenmodell Sozialverantwortung“129 sowie auf europäischer Ebene die Business Social Compliance Initiative (BSCI). Hier geht es vor allem um die bessere Kontrolle der Zulieferbetriebe. Insgesamt gibt es im Rahmen des Konzepts der „Corporate Social Responsibility“ (CSR) vielfältige private Initiativen.130 Der aus dem angloamerikanischen Recht stammende Begriff meint im europäischen Raum so viel wie „das freiwillige, über das gesetzliche Maß hinausgehende gesellschaftliche f Engagement von Unternehmen.“131 Für den Kunden im täglichen Leben sichtbar ist auch das „Fair-Trade“-Gütesiegel, ins Leben gerufen von dem gemeinnützigen Verein „TransFair“.132 Mit ihm werden Waren ausgezeichnet, die „zu festgelegten fairen Bedingungen gehandelt wurden“133. Speziell für den Teppichhandel gibt es das „Rugmark-Label“ der gleichnamigen Initiative, das Waren auszeichnet, die vor allem ohne Kinderarbeit hergestellt wurden.134
125
Codes of Conduct, II. 6.1. Codes of Conduct, III. 127 http://www.deichmann.com/website/unternehmen_unternehmensleitbild.php. / 128 Vgl. zur Umsetzung die Gründung des Hilfswerks „wortundtat“. Zu finanziellen Zuwendungen an Stiftungen durch Unternehmen siehe „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift“ (2008), S. 103. 129 http://www.ave-koeln.de/doc/doc/ave_jahresbericht_2008.pdf. 130 CSR Germany (http://www.csrgermany.de/www/CSRcms.nsf/ID/home_de); einzelne Initiativen z. B. Business for Social Responsibility (BSR); CSR Europe; Global Leadership Network; Ceres - Investors and Environmentalists for sustainable Prosperity; Responsible Care. 131 „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift", S. 104. 132 In Deutschland wurde ursprünglich das „TransFair-Logo“ verwendet, das 2003 abgelöst wurde von dem Fair-Trade-Logo. 133 http://www.transfair.org/ueber-transfair/ueber-uns.html. 134 http://www.rugmark.de/index.php?id=19. 126
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VIII. Einflussnahme durch Konsumenten Codes of Conduct sowie vor allem auch die Anprangerung von menschenverachtenden Unternehmensaktivitäten durch NGOs zielen darauf ab, dass eine Steuerung durch den Konsumenten erfolgt. Der Konsument soll durch sein Kaufverhalten die Nachfrage nach den Produkten beeinflussen, so dass ein Unternehmen bei negativen Schlagzeilen empfindliche Umsatzeinbußen zu befürchten hat. Diese Praxis von NGOs hat in der Vergangenheit auch Wirkung gezeigt. Ein Beispiel ist der Konzern Nike, der aufgrund negativer Presse durch den CEO ankündigen ließ, dass das Mindestalter der Arbeiter angehoben würde, Arbeitsbedingungen verbessert und Gelder für Forschungszwecke im Hinblick auf verantwortungsvolle globale Produktion zur Verfügung gestellt würden.135 Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass gerade bei transnationalen Unternehmen, bei denen die Nationalstaaten die Kontrolle nicht mehr hinreichend ausüben können, sich eine globale Zivilgesellschaft mitverantwortlich zeigt. Diese Erkenntnis ist in den Global Compact eingeflossen, wo auch die Zivilgesellschaft aufgerufen ist, sich zu engagieren.136 Es ist jedoch zu bedenken, dass den Kosumenten nicht die Hauptlast bzw. -verantwortung aufgebürdet werden kann. Zwar sind Gütesiegel oder Einkaufslisten (Greenpeace) sowie auch das „Schwarzbuch Markenfirmen“ informativ und geeignet, dem Konsumenten bei der Auswahl der Produkte hilfreich zur Seite zu stehen. Während es für den Konsumenten noch relativ leicht möglich ist, bestimmte Marken zu meiden, bei denen ausreichend Alternativen am Markt zu Verfügung stehen, wird es bei anderen Gütern des täglichen Lebens schon schwieriger. Ebenso endet das Engagement der Verbraucherkontrolle oft dann, wenn sich die Lebenshaltungskosten durch den „nachhaltigen Einkauf“ empfindlich erhöhen oder wenn das gesamte Einkaufsverhalten umgestellt werden müsste. Es ist überdies den Verbrauchern nicht zuzumuten, jedes Produkt erst einer Prüfung zu unterziehen, sondern die Verbraucherkontrolle ist eher dort wichtig, wo im Einzelfall eine Marke oder ein Produkt „boykottiert“ werden sollen. Die Steuerung über das Konsumverhalten kann insgesamt nicht die maßgebliche Kontrolle sein, sondern nur ein flankierendes Instrument, das andere Maßnahmen begleitet.
IX . Transnationale Unternehmen und internationale Gerechtigkeit in Rückbindung an das theologisch-philosophische Ausgangskonzept Betrachtet man transnationale Konzerne im Lichte internationaler Gerechtigkeit aus völkerrechtlicher Perspektive, so geht es vor allem um die Frage ihres Einflusses auf die Verwirklichung von Menschenrechten, insbesondere von menschenwürdigen Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen. Wenn Gerechtigkeit eingangs als „die zentrale Leit-
135 JOSEPH, An Overview of the Human Rights Accountability of Multinational Enterprises, in: KAMMINGA / ZIA-ZARIFI (Hg.), Liability of Multinational Corporations under International Law, S. 75 (81). 136 “I call on civil society and labour leaders to remain vigilant and engaged, and continue to hold businesses accountable to their commitment.”, United Nations Secretary-General, Ban Kimoon, Global Compact Leaders Summit, Geneva, July 2007.
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idee der politischen Philosophie“ beschreiben wurde137, dann konkretisiert sich dies für das Völkerrecht in der Idee, grundlegenden Menschenrechten weltweit Geltung zu verschaffen. Dabei wird auch immer wieder zu prüfen sein, welche Menschenrechte „universell“ Geltung beanspruchen können und welche Rechte (vor allem Arbeitnehmerrechte) in bestimmter Ausprägung Errungenschaften eines bestimmten Entwicklungsstandes oder Kulturkreises sind, die sich jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt, nicht ohne weiteres auf alle Gesellschaften übertragen lassen138. Hierin besteht gleichzeitig die zentrale Herausforderung, wenn es um die Verwirklichung gerechterer Lebensverhältnisse im Hinblick auf transnationale Unternehmen geht: Es wird nicht gelingen, durch einen völkerrechtlichen Vertrag denselben Standard weltweit zu erreichen, und doch kann und darf der Verweis auf unterschiedliche Kultur, politische Systeme und Entwicklungsstand nicht dazu führen, dass Menschen durch Konzerne unkontrolliert ausgebeutet werden. Wie es bereits im Alten Testament „Appelle und gesellschaftlich kommunizierte Korrekturen“ gab und geben musste139, muss auch heute darüber nachgedacht werden, welche Maßnahmen notwendig sind, um die Konzernmacht nicht unbeschränkt über den Menschen herrschen zu lassen. Es geht nicht darum, völlig gerechte Lebensumstände im Sinne des Reiches Gottes140 zu schaffen, ebenso geht es nicht um eine völlige Gleichverteilung, sondern völkerrechtlich kann es nur darum gehen, elementare Standards zu sichern. Dennoch muss auch immer eine Vision Richtschnur sein, die sich nicht mit dem zufrieden gibt, was ist, sondern Engagement für mehr Gerechtigkeit fordert. Das Völkerrecht muss die planlos, „vorrangig durch ökonomische, politische und ökologische Faktoren provozierte Einigung“ 141 behutsam in eine Struktur bringen, die sowohl die negativen Folgen dieser Globalisierung mindert und die Globalisierung in ihrer Eigendynamik gewissermaßen kontrolliert als auch dem Versuch widersteht, überregulativ in Richtung Weltstaatsutopien zu reagieren. Selbstverständlich könnte eine Weltmacht der Macht transnationaler Konzerne mehr entgegensetzen und diese besser kontrollieren als ein Geflecht aus souveränen Nationalstaaten, die sich in ihrer Staatsmacht gegenseitig begrenzen. Genauso aber, wie unbeschränkte Macht von Konzernen nahezu zwangsläufig zu Missbrauch führt, würde unbeschränkte Weltmacht kein Garant für eine gerechtere globalisierte Welt sein142.
X. Ausblick und Schlussthesen 1. Transnationale Unternehmen sind aufgrund ihrer ökonomischen Macht schon jetzt in der Lage, mit Staaten ebenbürtig zu verhandeln und weitreichende Zugeständnisse zu erringen. Aufgrund dieser Spannungslage, nämlich der hohen wirtschaftlichen Macht einerseits und der Schwierigkeit der dogmatisch-völkerrechtlichen Einordnung ande137 138 139 140 141 142
HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 15. Vgl. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 20. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 23. Vgl. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S.26f. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 32. Vgl. HARTUNG / SCHAEDE, in diesem Band, S. 36f.
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rerseits, gepaart mit dem Bedürfnis nach rechtlicher Rückbindung, konnte sich das soft law weit ausdehnen. 2. Das Völkerrecht wird durch die transnationalen Unternehmen, die als Global Player auftreten, herausgefordert und erlebt durch sie einen Wandel. Eine umfangreiche direkte Verpflichtung von Unternehmen in völkerrechtlichen Verträgen würde nach weit verbreiteter Ansicht jedenfalls die partielle „Völkerrechtssubjektivität“ dieser Akteure nach sich ziehen und sie damit auch rechtlich aufwerten. Erfolgversprechend wäre eine direkte Verpflichtung vor allem dann, wenn auch internationale Durchsetzungsmechanismen geschaffen würden. Mehr „weltstaatliche“ Zentralgewalt kann zwar zu internationaler Gerechtigkeit beitragen, da auf diese Weise gleiche Standards weltweit geschaffen und durchgesetzt werden könnten. Jedoch gälte es, viele Probleme bei der Realisierung einer solchen Gerichtsbarkeit zu lösen, begonnen bei der zu erwartenden Prozessflut bis hin zu Fragen der Vollstreckung. Die Nationalstaaten, die allein ein solches Gericht institutionalisieren könnten, würden überdies zögerlich sein, einer solchen Gerichtsbarkeit zuzustimmen, haben sie doch wirtschaftliche Nachteile bei der Sanktionierung „ihrer“ Unternehmen zu befürchten. Ebenso bestehen Bedenken im Hinblick auf die Schaffung einer derart mächtigen Instanz auf globaler Ebene, die demokratisch unzureichend legitimiert sein würde und nur wenig Kontrolle durch die Staaten zulassen dürfte, wollte sie effektiv gegen die Unternehmen vorgehen. Daher muss gut abgewogen werden, inwieweit die bestehenden Defizite, die nach einer globalen Lösung verlangen, durch global zentrierte staatsähnliche Macht (hier vor allem Judikative und Exekutive) gelöst werden können oder ob nicht vielmehr die Demokratie am Ende durch so mächtige globale Instanzen Schaden nimmt. 3. In jedem Falle ist eine differenzierte Betrachtung im Hinblick auf die völkerrechtliche Einbindung von Unternehmen geboten, um das positive Potential der Unternehmen auch in einer globalisierten Welt nutzbar zu machen und negativen Folgen der ökonomischen Globalisierung entgegenzuwirken. Das Geflecht aus Staatenverantwortlichkeit und der Verantwortung von Unternehmen kann aufgrund der ineinandergreifenden Abhängigkeiten nur schwer entwirrt werden. Vor diesem Hintergrund ist der Appell an freiwillige Selbstverpflichtungen, gerade auch in Form des Global Compact, eine bereichernde Form, um unternehmerisches Handeln auch jenseits nationaler Grenzen einzubinden.143 Die Tatsache, dass Unternehmen bereit sind, sich durch Selbstverpflichtungen in verschiedenen Formen zu binden, sollte dabei, trotz berechtigter Kritikpunkte, positiv bewertet werden. 4. Da nicht durchsetzungsfähigen Selbstverpflichtungen naturgemäß ein hohes Missbrauchsrisiko innewohnt, sollte darüber hinaus darauf hingewirkt werden, dass im Anschluss an englisches und US-amerikanisches Recht eine nationale Prozessmöglichkeit gegen Mutterkonzerne vor den Gerichten des Heimatstaates im Rahmen der völkerrechtlichen Möglichkeiten gestärkt wird. 143
Vgl. hier auch Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift, S. 98: „Gerade weil die nationalen Regelungsmöglichkeiten und die internationalen Institutionen nur begrenzt die Rahmenbedingungen für die Globalisierung bestimmen können, ist die Verantwortung für die unternehmerische Gestaltung umso höher.“ Nicht klar ist allerdings, in welcher Form sich die Denkschrift dann (S. 101) die „Etablierung … internationaler Institutionen“ vorstellt.
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5. Ebenso sind zivilgesellschaftliche Aktionsformen wichtig, da sie nicht zuletzt dazu beigetragen haben, das Bewusstsein der Konsumenten gegen „unfairen Handel“ oder auch gegen Kinderarbeit zu schärfen und auf diese Weise die Produktionsbedingungen mit zu beeinflussen. Allerdings können – und sollten Ŧ diese nicht demokratisch legitimierten Vereinigungen die Regulierungen durch die Staaten nur ergänzen.
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Aufgaben, Grenzen, Dysfunktionen des Patentrechts zur Förderung Internationaler Gerechtigkeit TIMO RADEMACHER
Inhalt I. II. III. IV. V.
Einführung in die Grundlinien des Patenrechtsschutzes Patentrecht und Innovation Patentrecht und Gesundheit Patentrecht und „Biopiraterie“ Schlussbemerkungen
I. Einführung und Grundlinien des Patentrechtsschutzes Mit der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag Patente leisten können auf dem Weg hin zu nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung und bei der Bekämpfung von Armut und Krankheiten. Im Zentrum der Betrachtung werden deshalb die Entwicklungs- und Schwellenländer1 stehen. Zwar beschränken sich die in jüngster Zeit wieder lauter vorgetragenen Bedenken hinsichtlich einer tatsächlich oder vermeintlich entwicklungsschädlichen Ausweitung des Patentschutzes nicht auf die Entwicklungsländer.2 Allerdings wird kaum jemand der Feststellung wiedersprechen, dass die Folgekosten eines misslungenen Patentrechts umso höher ausfallen werden, je weniger entwickelt die Wirtschaft und vor allem das Rechtssystem eines Landes sind. Die meisten Industrieländer verfügen überr hoch entwickelte Rechtsmechanismen, um den Missbrauch von Monopolen – und Patente sind nichts anderes als eben solche auf Zeit – effektiv zu bekämpfen. In den meisten Entwicklungsländern ist das nicht der Fall. Ich werde also das Patentrecht ein Instrument zur Förderung Internationaler Gerechtigkeit nennen, sofern es den wirtschaftlichen und sozialen Aufholprozess der Entwicklungsländer insgesamt fördert sowie übermäßige Härten für die Gesellschaften und möglichst auch den Einzelnen vermeidet. Ziel ist es, aufzuzeigen, wie ein Patentrecht im Kontext der von zahlreichen Entwicklungsländern übernommenen internationalen Verpflichtungen aussehen kann, das diesen Ansprüchen genügt.
1
Entwicklungs- und Schwellenländer im Sinne des vorliegenden Beitrags sind die Länder mit der Weltbankklassifikation „low income“, „lower middle income“ und „upper middle income“. 2 SCHMIEDCHEN / SPENNEMANN, Nutzen und Grenzen geistiger Eigentumsrechte“, 2007, S. 22, 25.
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Timo Rademacher
I.1 Was ist, welche Rechte gibt ein Patent? Patente werden erteilt für Erfindungen, kurz definierbar als Lehren zur Lösung konkreter Probleme durch den Einsatz beherrschbarer Naturkräfte.3 Ein einmal erteiltes Patent gewährt seinem Inhaber ein subjektives Ausschlussrecht dergestalt, dass für einen bestimmten Zeitraum ihm allein die Entscheidung darüber zusteht, wer die patentierte Erfindung benutzen darf; eventuell also nur er selbst. Ist Gegenstand des Patents ein Erzeugnis, ist somit (zumindest grundsätzlich) kein Dritter befugt, das patentierte Erzeugnis ohne Zustimmung des Rechtsinhabers herzustellen, zu benutzen, anzubieten, zu verkaufen oder zu einem dieser Zwecke zu importieren. Ist Gegenstand des Patents ein Verfahren, etwa ein besonders effizientes Herstellungsverfahren für ein bereits bekanntes, aber nicht (mehr) selbst patentiertes Erzeugnis, kann der Rechtsinhaber Dritten untersagen, das Verfahren anzuwenden oder das aus seiner Anwendung unmittelbar resultierende Erzeugnis auf eine der eben genannten Arten zu verwenden.4 Im Gegenzug ist der Rechtsinhaber verpflichtet, die Erfindung bei ihrer Anmeldung zum Patent so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass fachkundige Dritte sie jederzeit umsetzen, d.h. vor allem praktisch verwertbar machen können. Eine unzureichende Offenbarung kann mit Widerruf und Nichtigerklärung des Patents sanktioniert werden. Nicht jede Erfindung ist patentierbar. Zwarr bestehen international Unterschiede im Detail, doch lassen sich drei gemeinsame Voraussetzungen der Patentierbarkeit festhalten5: Erstens muss die Erfindung „neu“ sein. Neu ist eine Erfindung dann nicht mehr, wenn die patentgemäße Lösung für das zugrunde liegende Problem bereits öffentlich bekannt ist. Eine solche Lehre zählt zum sogenannten Stand der Technik. Zweitens erfordert eine Patentierung eine „erfinderische Tätigkeit“: Die Erfindung darf sich für einen Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben. Man spricht auch von „erfinderischem Schritt“ oder kurz von „Erfindungshöhe“. Die beiden Kriterien Neuheit und Erfindungshöhe dienen dazu, den Bereich technischer Erkenntnis zu identifizieren und von Exklusivrechten freizuhalten, der bereits ohne das Zutun des Antragstellers allgemein zur Verfügung stand bzw. aus dem Verfügbaren ohne belohnenswerten Aufwand ableitbar und damit Teil der sogenannten public domain war. Zudem – drittens – muss das in Rede stehende Erzeugnis oder Verfahren gewerblich anwendbar sein. Diese Voraussetzung dient in Ergänzung dessen, was schon die Erfindung als solche kennzeichnet, dazu, unausführbare f oder nicht wiederholbare Prozesse vom Patentschutz auszunehmen.6
I.2 Das internationale Patentrecht Mit dem Pariser Verbandsübereinkommen (PVÜ) von 1883 und dem Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums (TRIPs) von 1994 bestehen zwei geogra3 KRAßER, Patentrecht, 5. Auflage, 2004, S. 2, 119ff.; BGHZ 143, 255; grundl. BGH GRUR 1969, 672 (673) „Rote Taube“. 4 Z. B. § 9 des Dt. Patentgesetzes (PatG), Art. 28 I TRIPs (Abkommen über handelsbezogene Aspekte p geistigen Eigentums). 5 Vgl. etwa §§ 1 I, 3ff. PatG; 35 U.S.C. Sect. 101ff. (US Patent Act) und Art. 27 I TRIPs. 6 Zum Ganzen KRAßER (Fn 3), S. 186ff.
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phisch weitreichende völkerrechtliche Verträge, die zwar nicht zu einer Vereinheitlichung des materiellen Patentrechts, aber doch zu allen Unterzeichnerstaaten7 gemeinsamen Mindeststandards geführt haben. Insbesondere TRIPs, das alle für Patente wesentlichen Bestimmungen des PVÜ aufgreift, kann daher als Grundlage der Analyse dienen und soll im Folgenden kurz vorgestellt werden. Zunächst galt und gilt für Patente der völkerrechtliche Grundsatz der Territorialität: Jeder Staat kann das Schutzrecht allein mit Wirkung für sein eigenes Hoheitsgebiet zuerkennen.8 Exportorientierte Nationen haben aber seit jeher ein Interesse daran, dass der Schutz heimischer Erfindungen nicht an der eigenen Grenze Halt macht. Ab etwa 1985 waren die USA bestrebt, durch Mittel der Handelspolitik andere Staaten zu einem umfassenderen Schutz geistigen Eigentums zu bewegen.9 Auf ihre Initiative hin wurde TRIPs verbindlicher Teil des Übereinkommens zur Errichtung der WTO von 1994. Der Wunsch, Mitglied der WTO zu werden und scheinbar großzügige Übergangsfristen10 haben zahlreiche Entwicklungsländer bewogen, dieses Übereinkommen und damit auch TRIPs zu ratifizieren. Die beiden bedeutendsten allgemeinen Rechtsinstitute von TRIPs und PVÜ sind das der Inländergleichbehandlung sowie das der Priorität. Inländergleichbehandlung (Art. 3 TRIPs) bedeutet, dass Bürger oder Unternehmen eines Mitgliedsstaates in jedem anderen Mitgliedsstaat Patente unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer erlangen und rechtlich durchsetzen können. Damit gilt der Grundsatz der Territorialität eines Patents zwar weiterhin. Jedoch können Erfinder durch den Erwerb eines „Bündels“ nationaler Patente ihre patentgeschützten Absatzmärkte international ausweiten. Dank des Instituts der Priorität (Art. 4 PVÜ) hat ein Anmelder 12 Monate Zeit, laufend ab der ersten Anmeldung (in der Regel in seinem Heimatland), die Erfindung auch in den anderen Mitgliedsstaaten anzumelden. Eine etwaige Veröffentlichung oder die Benutzung der Erfindung innerhalb der Frist wirkt sich nicht neuheitsschädlich und damit nicht patenthindernd aus. Patentierbar müssen grundsätzlich alle technischen Erfindungen sein, ob Verfahren oder Erzeugnisse, und zwar mindestens für 20 Jahre (Artt. 27 I 1, 28 I, 33 TRIPs). Nach dem Ort der Erfindung oder der Verwendung der Erfindung darf nicht diskriminiert werden (Art. 27 I 2 TRIPs). Ausnahmen sind eng begrenzt: nicht patentiert werden müssen Erfindungen, deren Verwertung gegen den ordre public oder die guten Sitten verstieße, human- und tiermedizinische Behandlungsverfahren sowie Pflanzen, Tiere und im Wesentlichen biologische Züchtungsverfahren, wohl aber Mikroorganismen (Art. 27 II, III TRIPs). Zudem müssen Pflanzensorten wenn nicht durch Patent, dann durch ein Schutzrecht sui generis geschützt werden können (Art. 27 III b TRIPs). Aus7 Zu denen zahlreiche Entwicklungsländer zählen; das PVÜ hat aktuell 172, das TRIPsAbkommen 151 Mitgliedsstaaten. 8 PIERSON / AHRENS / FISCHER, Recht des geistigen Eigentums, 2007, S. 16. 9 S. JOOS / MOUFANG, GRUR INT. 1988, 887 (897). 10 Art. 66 I TRIPs: für Entwicklungsländer beträgt die Frist zur Umsetzung von TRIPs sechs, für LDCs 11 Jahre, gerechnet ab 1994. Für den Bereich Arzneimittel wurde diese Frist für LDCs vom Rat für TRIPs bis 2016 verlängert, Abs. 7 der WTO Declaration on the TRIPs Agreement and Public Health, WTO-Doc. WT/MIN(01)/DEC/2; 20.11.01.
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nahmen von den Rechten aus dem Patent sind nur zulässig, wenn sie nicht die normale Verwertung des Patents oder die berechtigten Interessen seines Inhabers und von Dritten beeinträchtigen (Art. 30 TRIPs). Ist keine dieser allgemeinen Ausnahmen einschlägig, dann dürfen Staaten eine Benutzung der patentierten Erfindung gegen den Willen des Patentinhabers (Zwangslizenzierung) nur unter und zu den in Art. 31 TRIPs sehr detailliert und restriktiv festgelegten Bedingungen zulassen. Die WTO-Staaten haben sich mit TRIPs auf einen hohen und umfassenden Erfindungsschutz geeinigt. Durch die Institutionalisierung eines Streitschlichtungsmechanismus vermittels bindender und sanktionsbewehrter11 Panel-Entscheidungen (Art. 64, vgl. Annex 1 (B) Dispute Settlement Understanding) erhält das Abkommen zudem eine erhebliche rechtliche Durchsetzungskraft – gerade im Vergleich zu dem in jeder Hinsicht „bescheideneren“ Pariser Verbandsübereinkommen.
I.3 Legitimation des Patentrechtsschutzes Ein spezifisches Charakteristikum einer Erfindung – von Wissen schlechthin – ist es, dass nicht weniger davon zur Verfügung steht, nur weil viele davon Gebrauch machen. Jeder, der die erfinderische Lehre kennt, kann sie anwenden, unabhängig von der Zahl bisheriger Nutzer. Wissen ist ein zumindest potentiell ubiquitäres, ein non rival public good.12 Das scheint zunächst im vorbehaltlosen öffentlichen Interesse zu sein: je mehr Menschen sich weitgehend ohne eigene Kosten fortschrittlicher Techniken bedienen können, umso besser. In dem Maße aber, in dem eine Erfindung Verbreitung und Anwendung findet, verliert sie für ihren Erfinder selbst an Tauschwert.13 Er verliert die Möglichkeit, die gegebenenfalls erheblichen finanziellen Belastungen für Forschung und Entwicklung (F&E) am Markt auszugleichen. Einige Ökonomen sehen darin ein Marktversagen14: Erfordert die Entwicklung eines neuen Produkts erheblichen finanziellen Aufwand, kann es dann aber wesentlich kostengünstiger von anderen imitiert werden (Stichwort reverse engineering), dann scheint jedenfalls wahrscheinlich, dass der Anreiz, nennenswerte Mittel in F&E zu investieren, unzureichend ausfallen wird. Patente stellen einen Versuch dar, diesem Problem zu begegnen. Indem sie ein Exklusivrecht an neuen, erfinderischen Erzeugnissen und Verfahren gewähren, erlauben sie Marktteilnehmern aufgrund des zeitigen Monopols, F&E-Kosten auszugleichen – im Gegenzug für die Offenbarung ihrer Erfindung. Dabei kommt eine kurze Dauer des Rechts, eine enge Auslegung der Patentierungsvoraussetzungen oder die Zulassung vieler Ausnahmen dem Interesse der Öffentlichkeit an einem möglichst freien Zugang zu neuen Technologien, d.h. einer möglichst breiten public domain entgegen. Eine lange Schutzdauer, Patente auf allen Gebieten der Technik oder ein umfassender Schutz mögen hingegen helfen, das Interesse der Öffentlichkeit an starken Bemühungen von priva11
Z. B. in Form von Entschädigungen, s. TRIPs-KAISER, Kommentar, BUSCHE / STOLL (Hg.), 2007, Art. 64 Rn. 9. 12 J. STIGLITZ, Knowledge as a Global Public Good, zitiert nach CIPR, UK Commission on Intellectual Property Rights: Report of the UK Commission on Intellectual Property Rights, 3. Auflage, 2002, S. 14. 13 KRAßER (Fn 3), S. 3. 14 Vgl. CIPR (Fn 12), S. 14.
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ter Seite um technologischen Fortschritt zu befriedigen. Im Kern geht es darum, das Schutzniveau so auszubalancieren, dass beiden Aspekten ein und desselben, nämlich des öffentlichen Interesses so weit als möglich entsprochen wird. Eine solche Fundierung des Patentrechts allein im Gemeinwohl sieht sich gleichwohl gewissem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Es verdient die Frage Beachtung, ob Patentschutz nicht einem Menschenrecht entspricht, dessen Gewährung eine Frage individueller Gerechtigkeit und damit im Grundsatz staatlichem Belieben entzogen ist.15 Denn nach Art. 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder „das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft […] erwachsen“. Ein Patent scheint genau diesem (Menschen-)Recht zu entsprechen. Allerdings bedient das Patent die legitimen materiellen Interessen eines Urhebers auf Kosten ebenfalls materieller Interessen Dritter. Wo diese Dritten arm sind, kann es etwa im Zusammenhang mit Medikamenten zu sehr konkreten Konflikten mit ganz grundlegenden Menschenrechten, etwa dem Recht auf Gesundheit kommen. Die alte naturrechtliche Vorstellung, dass Eigentumsrechte im Kollisionsfall jedem anderen Recht gleichrangig sein könnten, verträgt sich schon mit der deutschen Verfassungswirklichkeit nicht. Erst recht nicht übertragbar ist sie auf die internationale Ebene mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen über das Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Gemeinnützigkeit von Eigentum.16 Da Wissen ein Gut ist, das sich anders als eine Sache durch Gebrauch nicht abnutzen kann, gibt es keinen zwingenden Grund, den Interessen eines Erfinders ausgerechnet mit der Gewährung eines Exklusivrechts zu entsprechen. Eine individualrechtliche Argumentation allein kann dem Patentrecht zumindest international also kaum hinreichende Legitimation verschaffen. International konsensfähig hingegen ist eine utilitaristische Begründung, die das Patentrecht als ein gestaltungsbedürftiges und -fähiges Instrument der Technologiepolitik begreift. Es soll Innovation anreizen und durch die Offenbarungspflicht vermeiden helfen, dass das Rad stetig neu erfunden werden muss. Der durch ein Patent vermittelte (Investitions-)Schutz ist lediglich Mittel zum Zweck.17 Daraus folgt freilich, dass Patente dort ihre Legitimität verlieren, wo sie allein Partikularinteressen zu befriedigen vermögen. Andersherum stellt sich also die Frage, ob es Kategorien von „technischen Lehren“ gibt, die der Patentierung von vornherein entzogen sein sollten. In konsequenter Fortsetzung eines utilitaristischen Ansatzes wären das zunächst die Erfindungen, hinsichtlich derer die Ausschließlichkeitswirkung eines Patents von vornherein kein ausgewogenes Kosten-Nutzen-Verhältnis realisieren kann. Ein solch prinzipiell negativer Saldo wird zumeist mit Blick auf Pflanzensorten und Tierrassen konzediert.18 Der Weg utilitaristischer Argumentation wird verlassen, wo der Patentierung als solcher rechtsethische 15 Zu den sog. Naturrechts- und Belohnungstheorien GODT, Eigentum an Information, 2007, S. 515ff. 16 Vgl. UN Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights, Intellectual Property Rights and Human Rights, 2001, Dok. Nr. E/CN.4/Sub.2/2001/12,S. 6. 17 So auch GODT (Fn 15), S. 570ff.; dieser utilitaristische Ansatz entspricht dem ökonomischen, die Leitlinie heißt: „Soviel Anreiz wie nötig, soviel freie Nutzung wie möglich“, O’ROURKE, 100 Columbia Law Review 2000, 1177 (1183: Fn 15). 18 Vgl. statt vieler CIPR (Fn 12), S 59ff, S 66.
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Bedenken entgegengehalten werden. Der ethisch motivierte Diskurs beschränkt sich dabei nicht auf die Patentierung von Pflanzensorten und Tierrassen. Er erfasst den Bereich der Biotechnologien insgesamt.19 Eine breite Öffentlichkeit begegnet den modernen life sciences teils aus ethisch-religiösen Gründen, teils aus Furcht vor heute noch unerkannten Konsequenzen biotechnischer und genetischer Manipulationen mit großem Unbehagen. Man denke an die zweifelhafte ethische Vertretbarkeit des Klonens oder der Stammzellenforschung. Das Unbehagen überträgt sich auf die damit verbundenen Patente. Und es gipfelt in der Forderung, „die Privatisierung von Leben“ durch Patentierung generell nicht zuzulassen. Diese Forderung fußt häufig auf einer Überschätzung von Radius und Wirkmacht eines Patents: Zum Einen kann die Ausschließlichkeitswirkung eines Patents etwa an einer Gensequenz niemals dessen schiere Existenz erfassen. Ein Naturstoff als solcher ist schon nie Erfindung, sondern nur Entdeckung. Erfindung ist der in seiner künstlich isolierten Form vorgelegte Naturstoff und das entsprechende künstliche Reproduktionsverfahren. Ein Patent entfaltet seine negatorische Wirkung daher nicht gegen Personen (oder Tiere oder Pflanzen), die den Stoff im Körper tragen, etwa weil sie bestimmte Proteine mittels ihres eigenen Genoms exprimieren.20 Von einer „Aneignung“ der Natur durch Patente kann daher schwerlich die Rede sein. Umgekehrt erlaubt das Patentrecht auch nicht die Eingriffe in natürliche Prozesse (cloning, Genmanipulation), die mit ihm gemeinhin in Verbindung gebracht werden. Denn zwar gibt das Patent seinem Inhaber das Recht, Dritten die Nutzung der Erfindung zu verbieten. Die Befugnis zur positiven Nutzung des patentierten Gegenstands hingegen besteht nur im Rahmen des geltenden Rechts. Und das Patent verleiht gerade kein Recht zur unumschränkten Nutzung. Das Patentrecht ist für die Bewertung der ethischen Vertretbarkeit bestimmter Forschungsverfahren und -ergebnisse also eigentlich unzuständig. Eine solche Entscheidung treffen zu müssen – die politisch häufig umstritten und stetem Wandel unterworfen ist – würde den Prozess der Patenterteilung völlig überfordern. Das macht aber nichts: denn Gefahren drohen wenn, dann von der Verwertung einer Erfindung, kaum je von ihrer Patentierung. Die Frage nach der Patentierbarkeit biologisch basierter Erfindungen hat für die Entwicklungsländer auch jenseits der Problematik um Patente auf Pflanzen und Tiere große Bedeutung: Denn vor allem in der südlichen Hemisphäre findet sich nach wie vor eine bemerkenswerte Vielfalt vor allem pharmazeutisch nutzbaren biologischen Materials. 1992 wurde den Geberländern genetischer Ressourcen und damit vor allem den Entwicklungsländern mit der UN Convention on Biological Diversity (CBD) das Recht auf Teilhabe an den wirtschaftlichen Vorteilen aus der Nutzung der Ressourcen eingeräumt. Dabei betrachten viele Patente mittlerweile als ein wesentliches Mittel zur Umsetzung dieser Teilhabeansprüche. Das kann aber nur funktionieren, wenn BiotechErfindungen grundsätzlich patentierbar bleiben. Für die vorliegende Arbeit möchte ich daher von der Maxime ausgehen, dass Patente an biotechnologischen Erfindungen nicht von vornherein „ungerecht“ sind. Dem entspricht auch der internationale Rahmen: Zwar stellt es TRIPs den Unterzeichnerstaaten frei, ob sie für Pflanzen und Tiere als solche 19 20
Grundlegende Darstellung der Bezüge von Ethik und Patentrecht BEYER, GRUR 1994, 541. HAEDICKE, JuS 2002, 113 (116).
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sowie entsprechende Züchtungsverfahren Patentschutz zulassen oder nicht (Art. 27 III b TRIPs). Der Ausnahmecharakter dieses Gestaltungsspielraums bedeutet aber im Gegenzug, dass sonstige biologisch basierte Erfindungen, etwa auf Gene, Gensequenzen oder Körpersubstanzen und entsprechende Verfahren, dem Patentschutz zugänglich sein müssen.21 Damit lassen sich aus Sicht der Entwicklungsländer drei Schlüsselfragen an ein entwicklungsorientiertes und folglich legitimes Patentrecht formulieren: 1. Erfüllt das Patentrecht seine Grundfunktion, nämlich technische Innovation und dadurch wirtschaftliche Entwicklung zu stimulieren? Vor allem: Welche Instrumente der Innovationsförderung, welches Maß der Anpassung des nationalen Patentrechts an die wirtschaftsstrukturellen Besonderheiten der Entwicklungsländer lässt der internationale Rechtsrahmen (also TRIPs) zu? (dazu unter B.) 2. Wie muss das Patentrecht ausgestaltet sein, um Engpässe im Bereich der Gesundheitsversorgung eines Landes zu vermeiden? (dazu unter C.) 3. Ist das Patentrecht in der Lage, dem in der CBD verfassten Ziel gerechter Beteiligung indigener Wissensträger an einer kommerziellen Nutzung biologischer Ressourcen zu entsprechen? Anders gewendet: kann das Patentrecht der Bekämpfung der sog. Biopiraterie dienen? (dazu unter D.)
II. Patentrecht und Innovation Die im Zusammenhang mit vielen Entwicklungsländern misslichste Unterstellung, die jedem Patentrechtssystem zu Grunde liegt, ist die, dass es ausreichend Innovationspotential gibt, das nur darauf wartet, durch die Gewährung eines privaten Schutzrechts freigesetzt zu werden. Wo es dieses Potential nicht gibt, läuft der Anreiz offenkundig ins Leere. Es verbleiben jenen Ländern allein die höheren Kosten aus der administrativen Einrichtung eines Patentrechtsregimes,22 dem nunmehr entgeltlichen Import ausländischer Technologien sowie etwaige Versorgungsengpässe wegen der künstlichen Verknappung des patentierten Produkts. Es ist ein dem Patentrechtssystem inhärentes Element, dass es zunächst den wirtschaftlich begünstigt, der über Wissen und Kreativität verfügt und die Kosten für die erhöht, die das nicht tun. Aufgrund ihrer nach wie vor geringen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit sind letztere meist die Entwicklungsländer. Die Frage, ob TRIPs mit seinen verbindlichen Mindeststandards für diese Länder nicht viel zu früh gekommen ist, erscheint deshalb berechtigt. Die tatsächliche ökonomische Wirkung, die das Patentrecht auf Entwicklungs- und Schwellenländer hat, ist nach wie vor nur unzureichend geklärt. Die Einschätzung, dass das Vorhandensein geistiger Schutzrechte stets einen wesentlichen Katalysator für 21 Soweit ersichtlich unumstr. Auffassung, vgl. statt vieler TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 27 Rn. 88. 22 Z. B. ca. $1,1 Mio. p.a. in Bangladesch, $ 837.000 p.a. in Chile; weitere Bsp. WIPO, Impact of the international Patent System on Developing Countries: Study by Getachew Mengistie, 2003, S. 33. S. a. World Bank, Global Economic Prospects: Making Trade Work for the World’s Poor, 2001, S. 133: Der Vorteil für die USA wird auf $19 Milliarden geschätzt.
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Technologietransfer etwa durch Lizenzen oder Direktinvestitionen darstellt,23 dürfte in dieser Pauschalität zweifelhaft sein. Studien zeigen, dass strengerer Patentschutz vor allem den Import des patentierten Guts fördert. Was die Bereitschaft zu Direktinvestitionen betrifft, so ist für F&E-intensive Branchen (etwa die Pharmaindustrie) effektiver Technologieschutz tatsächlich ein entscheidendes Kriterium; für die meisten Industriebereiche sind andere Faktoren um ein Vielfaches bedeutsamer.24 Beispielhaft sei China genannt: Ein noch ungesättigter Markt hat hier Bedenken hinsichtlich fehlenden Technologieschutzes anfangs überspielt. Auch der Aufbau einer heute wettbewerbsfähigen Pharmaindustrie in Indien erfolgte zunächst dank Produktimitationen (reverse engineering): Auf Medikamente wurden bis 2005 keine Erzeugnispatente gewährt. Die Erfahrung vieler entwickelter Länder zeigt, dass der Aufbau eines umfassenden Patentschutzes eher am Ende eines Entwicklungsprozesses stehen sollte, der über Kontraktproduktion und Imitation, also über den Aufbau eigener grundständiger Forschungskapazitäten führt. Bezeichnenderweise sind die heutigen Industriestaaten und weit entwickelte Schwellenländer wie Korea und Taiwan nach eben diesem Muster verfahren. Sie gewährten in ihrer Entwicklungsphase keinen oder nur sektoralen Patentschutz.
II.1 Rechtlicher Gestaltungsspielraum zur Innnovationsförderung Den WTO-Entwicklungsländern ist der Weg sektoraler Ausnahmen zur Patentierbarkeit weitestgehend verbaut: TRIPs fordert nicht nur die Einrichtung eines Patentrechtssystems überhaupt, sondern für alle Technikbereiche, für Verfahren und für Erzeugnisse (Art. 27 I 1 TRIPs). Sonderbestimmungen für Entwicklungsländer enthalten die Artt. 27ff. nicht. Das heißt aber nicht, dass TRIPs jedem WTO-Land ein uniformes Patentrechtssystem bar jeder Flexibilität aufoktroyiert. Das Abkommen bekennt sich gerade auf Drängen der Entwicklungsländer25 in seinen Artt. 7 und 8 zu einer vorwiegend utilitaristischen Begründung der Rechte geistigen Eigentums: „Der Schutz […] der Rechte an geistigem Eigentum soll zur Förderung der technischen Innovation sowie zum Transfer und zur Verbreitung von Technologie beitragen […] (und) auf eine dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohl zuträgliche Weise erfolgen […].“ Art. 7 [Ziele] Art. 8 [Grundsätze] erlaubt „Maßnahmen“ beliebiger Art, die „zur Förderung des öffentlichen Interesses in den für (die) sozio-ökonomische und technische Entwicklung (eines Landes) lebenswichtigen Sektoren“ notwendig sind; vorausgesetzt, sie sind „mit diesem Übereinkommen vereinbar“. Immerhin hat die Ministerkonferenz von Doha in ihrer Declaration on the TRIPs Agreement and Public Health26 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jede Vorschrift von TRIPs im Lichte der Ziele und Zwecke, also der Artt. 7 und 8 angewandt und ausgelegt werden soll. Ausgehend von dieser utilitaristischen Grundausrichtung bietet das Abkommen nicht unerheblichen Spielraum zur Anpassung des Rechtssystems an die nationalen Interessen auch der Entwicklungsländer. 23
HILPERT, GRUR Int. 1998, 91 (94f.) m.w.N. Z. B. außenwirtschaftliche Offenheit, niedrige Abgabenlast, stabile Währung, s. CIPR (Fn 12), S. 20ff, 23. 25 Insb. Brasiliens, vgl. GATT-Doc. MTN.GNG/NG11/10 vom 30.11.88, para. 8. 26 WTO-Doc. WT/MIN(01)/DEC/2 Abs. 4f. 24
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II.2 Technologietransfer aus den Industrieländern Um dem Auftrag gerecht zu werden, zum „Transfer von Technologie beizutragen“, setzt TRIPs zunächst auf Art. 66 II: Demnach sind Industrielandmitglieder verpflichtet, Anreize zu schaffen, damit Unternehmen und Einrichtungen in ihrem Gebiet den Technologietransfer in die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) fördern. TRIPs anerkennt also, dass jedenfalls den LDCs eine „tragfähige technologische Grundlage“ (Art. 66 II, letzter Hs. TRIPs) zumindest derzeit fehlt.27 Ob aus dieser Einsicht angemessene Konsequenzen gezogen wurden, mag indes bezweifelt werden.28 Zwar ist Art. 66 II TRIPs eine verpflichtende Vorschrift und kein reiner Programmsatz; sie verpflichtet die Industrieländer aber allein zur Schaffung von Anreizen, nicht zum Technologietransfer selbst. Außerdem erscheint die Beschränkung auf LDCs im engen Sinn von Art. XI Abs. 2 WTO-Abkommen zu restriktiv. Auch „normale“ Entwicklungsländer verfügen häufig genug über nur mangelhafte technologische Grundlagen. Man sollte daher in Erwägung ziehen, den Begriff der „am wenigsten entwickelten Länder“ in Art. 66 II TRIPs wegen und unter Berücksichtigung der Wertungen von Artt. 7 und 8 autonom auszulegen: unter dem Gesichtspunkt, ob ein Land über die wissenschaftlichen Kapazitäten verfügt, um von einem Patentrechtssystem effektiv profitieren zu können. Ein maßgebliches Differenzierungskriterium bietett das Rechtssystem selbst: Werden fast alle Patente eines Landes von Ausländern gehalten, spricht einiges dafür, dass eigene nationale Forschungskapazitäten unterentwickelt sind. Die Ratio des Patentrechts (s. I.3) legt es nahe, auch solchen Ländern besonders zur Seite zu stehen. Zur Förderung der Wirksamkeit von Art. 66 II TRIPs hat die schon erwähnte Ministerkonferenz von Doha beschlossen, ein Berichtssystem zu etablieren29: Die Industrieländer müssen nun jährlich über ihre Bemühungen zur Umsetzung der Norm berichten. Zwar bleibt den Staaten nach wie vor weitestgehend selbst überlassen, wie (wirksam) sie ihrer Verpflichtung nachkommen (etwa durch Steuervorteile, Forschungs- oder Trainingsprogramme). Aber zumindest schafft bzw. erhöht das Berichtssystem den Rechtfertigungs- und Umsetzungsdruck auf die Industrieländer.
II.3 Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Art. 27 II und III TRIPs Nach Art. 27 II TRIPs müssen solche Erfindungen nicht patentierbar sein, deren Verwertung gegen den ordre public oder die guten Sitten eines Landes verstößt. Es entspricht der Tradition auch der westlichen Patentrechtssysteme, dass solche Erfindungen a priori vom Patentschutz ausgenommen werden sollen. Zwar gibt das Patent gerade kein Nutzungsrecht (s.o., I.3). Gleichwohl soll bereits dem Anschein der Legitimität und Legalität einer Erfindung, den die Gewährung eines Schutzrechtes in der öffentlichen Wahrnehmung mit sich bringen kann, in bestimmten Fällen vorgebäugt werden. Das deutsche PatG macht von dieser Ausnahme dann aber auch denkbar restriktiven Gebrauch: Demnach werden in § 2 II PatG als Regelbeispiele nur „Extremfälle“ ge27
30 der 50 gem. Art. XI Abs. 2 WTOÜ von den VN als LDCs anerkannten sind WTO-Staaten. „(T)he evidence suggests that the provisions in Article 66.2 have been ineffective.“ CIPR (Fn 12), S. 26. 29 Decision on Implementation-Related Issues, WTO-Doc. WT/MIN(01)/17 vom 20.11.01. 28
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nannt, etwa Verfahren zum Klonen von Menschen oder zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des Menschen. Eine vergleichbar enge Auslegung ist zwar durch TRIPs nicht vorgegeben,30 so dass Art. 27 II theoretisch nennenswerte Ausnahmen vom Patentschutz trägt. Als Mittel der Technologiepolitik wäre das aber völlig ungeeignet: denn neben der Patentierung muss die Verwertung gleich mit verboten werden. Die (gegebenenfalls) unerwünschte Monopolisierung von Wissen würde mit dem Verbot der Verwendung dieses Wissens in ihrer (gegebenenfalls) gemeinschädlichen Wirkung noch potenziert. Technologiepolitisch motiviert und insoweit zielführend können allein die Ausnahmen nach Art. 27 III b TRIPs sein. Die Ausnahmen erfassen einen Gutteil landwirtschaftlich relevanter Erfindungen. Wie bereits erwähnt, werden jedenfalls Patente auf Nutzpflanzen, Tierrassen und -arten weit überwiegend kritisch betrachtet31: Denn diese führen dazu, dass Bauern die Verwendung der eigenen Ernte zur erneuten Aussaat bzw. die Vermehrung bestimmter Nutztiere verwehrt werden kann, solange sie nicht (erneut) Lizenzgebühren an den Inhaber des Sorten- bzw. Artenpatents entrichten. In den vielfach von Subsistenzwirtschaft geprägten Entwicklungsländern kann das schuldenträchtige Abhängigkeiten der Bauern bedeuten.32 Patente (wie auch das gemäß Art. 27 III b TRIPs für Pflanzen zumindest vorzusehende, aber wesentlich flexiblere Sortenschutzrecht) dienen hingegen den Interessen von Züchtern. Weil die wenigsten Entwicklungsländer hier besondere Kompetenz haben – und wenn sie keine solche entwickeln wollen –, sollten auf Pflanzen und Tiere im Interesse einer unabhängigen Nahrungsmittelproduktion keine Patente gewehrt werden. Das gilt auch bezüglich der Möglichkeit, „im Wesentlichen biologische Züchtungsverfahren“ von der Patentierbarkeit ausnehmen (ebenfalls Art. 27 III b TRIPs): Zweck der Ausnahmeermächtigung ist es, traditionelle Züchtungsmethoden wie die Kreuzung, die Rassenmischung oder das Selektivzuchtverfahren vom Patentschutz auszuschließen.33 Für die Entwicklungsländer ist das besonders sinnvoll, da sich Patente auf Züchtungsmethoden als Verfahrenspatente auf mehrere unterschiedliche Sorten und Arten erstrecken können und somit eine viel größere Breitenwirkung als Erzeugnispatente entfalten. Im Gegenzug stellt Art. 27 III b TRIPs aber klar, dass auf nicht-biologische und mikrobiologische Verfahren wie zum Beispiel die Fermentierung Patentschutz gewährt werden muss. Die Ausnahmeermächtigung reicht also keinesfalls soweit, als dass der gesamte Sektor „landwirtschaftsbezogene Biotechnologie“ vom Patentschutz ausgenommen werden könnte.
II.4 Verpflichtung zur Patentausübung im Inland Für Entwicklungsländer von großem Interesse dürfte die oft verneinte Frage sein, ob es zulässig ist, eine sanktionsbewehrte Verpflichtung zur Patentausübung im Inland aufzustellen (sog. Ausübungszwang). Dahinter steht die Überlegung, dass das Erfordernis lokaler Herstellung regelmäßig den Transfer von Technologie bedeutet, entweder durch 30 31 32 33
TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 27 Rn 64. Z. B. THEN, Rundbrief Forum Umwelt & Recht, 2/2008, 14f. Dazu eingehend CIPR (Fn 12), S. 57ff. TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 27 Rn 91.
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Lizenzvergabe oder durch den Aufbau einer Produktion vor Ort.34 Nun verbietet Art. 27 I 2 TRIPs, bei Erteilung oder Ausübung eines Patents danach zu diskriminieren, ob das patentierte Produkt in den Schutzstaat importiert oder dort hergestellt wird. Vielfach wird daraus auf die Unzulässigkeit der Sanktionierung des bloßen Imports geschlossen.35 So pauschal ist das aber wohl nicht richtig: Ungleichbehandlung ist nicht gleich Diskriminierung. Wie gesagt erlaubt Art. 8 I TRIPs Maßnahmen, die zur sozio-ökonomischen Entwicklung lebenswichtiger Bereiche eines Landes notwendig und mit den weiteren Bestimmungen von TRIPs vereinbar sind. Die Förderung der Ökonomie mit Mitteln des Patentrechts – und nur auf solche kann Art. 8 I TRIPs seinem Regelungszusammenhang nach abstellen – ist nur möglich, wenn die Patentierbarkeit von Erfindungen entweder ganz ausgeschlossen (Verstoß gegen Art. 27 I 1 TRIPs) oder ein Anreiz zum Aufbau inländischer Produktion oder zur Lizenzierung geboten wird. Einen solchen Anreiz stellt die Besserstellung inländischer bzw. Sanktionierung importierter Produkte dar. Um nicht gegen Art. 27 I 2 TRIPs zu verstoßen, darf diese Ungleichbehandlung lediglich nicht diskriminierend sein. Wendet man die vom StreitschlichtungsPanel der WTO entwickelten Grundsätze an, liegt dann keine Diskriminierung vor, wenn sachliche Gründe die Ungleichbehandlung rechtfertigen.36 Den Aufbau von Industrie in lebenswichtigen Sektoren „segnet“ Art. 8 I TRIPs als einen solchen Grund ab. Welches lebenswichtige Sektoren sind, steht prinzipiell im Ermessen eines jeden Landes (wohl vor allem Gesundheit und Ernährung). Einen generellen Ausübungszwang kann Art. 8 I TRIPs seinem Wortlaut nach aber genauso wenig rechtfertigen wie die Förderung bereits entwickelter Sektoren.37 Vor allem aber sind die Staaten gut beraten, für den Fall der Nichtausübung eines Patents auf moderate Sanktionen zu setzen, zum Beispiel die Erteilung einer Zwangslizenz.38 Stünde die Drohung des Patentverfalls im Raum, käme dies meines Erachtens einem faktischen Importverbot doch sehr nahe. Das wiederrum würde mit dem eigentlichen Gedanken der Schutzrechtsharmonisierung durch TRIPs kollidieren: der Barrierefreiheit des Handels.39
II.5 Umfang und Grenzen von Patentansprüchen TRIPs stellt es den WTO-Staaten frei, ob sie Ansprüche aus dem erteilten Patent weit oder eng auslegen. So kann der rechtliche Schutz auf die im Patent ausdrücklich genannte Anwendung einer Erfindung beschränkt werden (sog. Verwendungspatent) oder darüber hinaus gehen und zukünftige, noch unbekannte Verwendungsmöglichkeiten einer Erfindung umfassen.40 Vor allem Japan hat es verstanden, die Reichweite der Patentansprüche zum eigenen Vorteil zu gestalten: Durch eine enge, auf den Wortlaut 34
Dazu auch HEATH, GRUR Int. 1996, 1169 (1176). So HEATH, GRUR Int. 1996, 1168 (1176) m.w.N, der dieses Ergebnis aber selbst bedauert. 36 Panel Canada – Pharmaceutical Products, WTO-Doc. WT/DS114/R vom 17.03.00, para. 7.101. 37 So auch ROTT, GRUR Int. 2003, 103 (111), der als Bsp. die Pharmaindustrie in Indien nennt. 38 Moderat ist eine Zwangslizenz, da dem Patentinhaber eine Vergütung zusteht, Art. 31 lit. h TRIPs. 39 Vgl. TRIPs-BUSCHE (Fn 11), Einl. 2, Rn 4; a.A. offenbar ROTT, GRUR Int. 2003, 103 (111). 40 TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn 7. 35
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des Patentantrags beschränkte Auslegung der Ansprüche war es der anwendungsorientierten japanischen Industrie möglich, Verbesserungserfindungen um das ursprüngliche, häufig ausländische Patent herum anzumelden.41 Das oft aus der Grundlagenforschung stammende Urpatent wurde so am besten seiner Funktion gerecht, durch Offenlegung der erfinderischen Lehre weitere Erfindungen anzuregen; ohne dass der Nachfolgeerfinder befürchten musste, wegen einer weiten Auslegung des Urpatents noch in dessen Schutzbereich zu agieren. Eine entsprechende Regelung findet sich heute etwa in § 1a IV PatG: Die Reichweite eines Patents auf menschliche Gene ist auf die in der Anmeldung explizit genannte Funktion der Sequenz beschränkt.42 „Erfindet“ jemand eine andere Funktion derselben Gensequenz, so ist er durch das Erstpatent nicht gehindert, daneben ein neues Patent anzumelden. Die Breitenwirkung des Patentschutzes wird dadurch erheblich reduziert. Gleichzeitig sieht sich der Anmelder genötigt, nicht allein die Erfindung als solche offenzulegen, sondern – will er effektiven Schutz – alle ihm bekannten Verwendungsmöglichkeiten. Der gesellschaftlich positive informatorische Gehalt einer Patentschrift wird auf diese Weise optimiert und erleichtert Folge- und Parallelentwicklungen. Anerkannt ist ferner, dass auf Grundlage von Art. 30 TRIPs „Ausnahmen von den ausschließlichen Rechten aus einem Patent“ vorgesehen werden können gerade zu Forschungszwecken.43 Davon erfasst ist keineswegs nur Forschung aus rein akademischer Neugier; die Ausnahmeerlaubnis betrifft vor allem auch Forschung zur Weiterentwicklung und Verbesserung von Erfindungen.44 Dieser Gebrauch von Art. 30 TRIPs kann die wortlautgebundene Auslegung von Patentansprüchen im Interesse einer möglichst ungehemmten Folgeforschung ergänzen und dafür sorgen, dass bereits im Moment des Ablaufs des Patentschutzes kostengünstige Nachahmungen bereitstehen (man denke vor allem an Generika).
II.6 Zusammenfassung für den Bereich Innovation Die vorangegangene Zusammenstellung zum Bereich Innovation ist nicht abschließend. Der Versuch einer solchen Darstellung würde den Rahmen des Beitrags sprengen. Trotzdem zeigt sich, dass TRIPs ein erhebliches Maß an Flexibilität aufweist, um den Interessen der Entwicklungsländer nach zu kommen. Durch die Einrichtung des Streitschlichtungsmechanismus trägt das Abkommen vor allem auch zur Stärkung von Rechtssicherheit bei. Das kommt gerade den Entwicklungsländern entgegen, wenn und weil sich die Koordinaten des internationalen Patentrechts weg vom „Recht des Stärkeren“ hin zur rule of law verschieben – wie stabil diese Verschiebung angesichts des Scheiterns der Doha-Runde im Juli 2008 sein kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum absehen. Eine „Rückbesinnung“ der Industriestaaten und der neuen Wirtschafts41
HEATH, GRUR Int. 1996, 1169 (1178) m.w.N. Vgl. zum für das dt. Recht neuen (nurr noch) „funktionsbezogenen“ Stoffschutz SCHNEIDER, GRUR 2007, 831 (834). 43 Forschung wurde vom EU-Kanada-Panel als einer der wichtigsten Fälle des Art. 30 TRIPs genannt, Canada-Patent Protection off Pharmaceutical Products, WTO-Doc.WT/DS114/R, para. 7.69. 44 TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 30 Rn 28 m.w.N. 42
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mächte auf bilaterale Abkommen außerhalb der WTO würde zwangsläufig zu Lasten kleiner und wirtschaftlich schwacher Nationen gehen.
III. Patentrecht und Gesundheit Außerordentlich kontrovers diskutiert wird die Rolle des Patentrechts bei der Versorgung von Entwicklungsländern mit Medikamenten. Es liegt auf der Hand, dass die Verknappung und Verteuerung eines Produkts durch Patentierung hier zu Missständen führen kann (es sei daran erinnert, dass Art. 27 I 1 TRIPs die Ausklammerung von Medikamenten aus dem Patentschutz nicht zulässt, s. I.2).
III.1 Reaktionsmöglichkeiten des Patentrechts Die vor allem wegen AIDS/HIV teils emotional aufgeladene Diskussion führte 2001 zu der bereits erwähnten Doha Declaration on the TRIPs Agreement and Public Health. Die Erklärung bekräftigt das Recht der Länder, auf Gesundheitskrisen auch mit Mitteln des Patentrechts zu reagieren – etwa durch die Erteilung einer Zwangslizenz an die Hersteller kostengünstiger Generika (Art. 31 lit f TRIPs). Offen blieb in Doha, wie auf Versorgungsengpässe in solchen Ländern reagiert werden sollte, die nicht in der Lage sind, Medikamente selbst und in ausreichender Zahl zu produzieren. Die Möglichkeit, Generika etwa aus Indien oder Brasilien einzukaufen, ist seit Einführung eines umfassenden Patentschutzes in diesen Ländern erheblich eingeschränkt. Mittlerweile hat das TRIPs-Council eine Lösung gefunden. Sie soll zunächst vorgestellt werden. Danach möchte ich kurz auf einen weiteren Ansatz zur Bekämpfung von Arzneimittelengpässen eingehen: die sog. Parallelimporte.
III.2 Zwangslizenz zur Bedarfsdeckung in Drittländern Nach Art. 31 lit f TRIPs ist eine Zwangslizenz „vorwiegend für die Versorgung des Binnenmarkts eines Mitglieds zu gestatten, das (die Zwangslizenz) gestattet“. Ziel der Norm ist es, Zwangslizenzen zum Aufbau einer Exportindustrie auf der Basis von Imitationen zu verhindern.45 Die Eigenversorgung hingegen wird gestattet, auch wenn dafür über den nationalen Bedarf hinaus hergestellt werden muss; etwa, weil die Produktion sonst unwirtschaftlich wäre (Wortlaut: „vorwiegend“). Ungeachtet der genauen Interpretation von „vorwiegend“ als starrer oder der Wertung von Art. 8 I TRIPs folgend flexibler Mengenbeschränkung heißt das, dass nach Wortlaut und Ratio von Art. 31 lit f TRIPs der zur Erteilung der Lizenz führende Grund, die Patentausübung und die beabsichtigte Versorgung stets auf das eigene Land bezogen sein müssen.46 Das geht an der Realität vieler Entwicklungsländer vorbei: Gerade wegen AIDS liegen in vielen Ländern legitime Gründe für die Erteilung von Zwangslizenzen vor. Es fehlen aber die infrastrukturellen Voraussetzungen einer bedarfsdeckenden Produktion der patentierten Arznei. Die Folge: Viele Entwicklungsländer dürfen, können aber nicht von Zwangs45 46
Vgl. CORREA, EIPR 1994, 327 (333); HERRMANN, EuZW 2002, 37 (42). TRIPs-HÖHNE (Fn 11), Art. 31 Rn. 28.
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lizenzen Gebrauch machen; interessierte Industrie- und Schwellenländer könnten es zwar, dürfen aber nicht. Nach zähen Verhandlungen hat der Rat für TRIPs am 30.08.2003 einen Beschluss zur Problembewältigung gefasst: Es wird ein neues System etabliert, welches Mitglieder von der Exportbeschränkung des Art. 31 lit f TRIPs befreit, soweit das notwendig ist, um einfuhrberechtigte Mitgliedsstaaten, die über unzureichende Produktionskapazitäten verfügen,47 mit Arzneimitteln zu beliefern. Ist das Medikament in beiden Staaten patentiert, müssen also zwei Zwangslizenzen erteilt werden, muss nur der Exportstaat eine „angemessene Entschädigung“ nach Art. 31 lit h TRIPs zahlen. Bei der Berechnung der Entschädigung kann die Tatsache, dass Erteilungsgrund der Lizenz ein nach Art. 8 I TRIPs besonders zu berücksichtigendes öffentliches Interesse (Gesundheitsversorgung der Bevölkerung) ist, zu einer Minderung des Betrags führen. Zu bedenken ist auch, dass der nach Art. 31 lit h TRIPs zu berücksichtigende „wirtschaftliche Wert“ der Lizenz am Maßstab des Ziellandes zu messen ist und daher in der Regel niedriger ausfallen wird. Das erste Industrieland, das von dem Beschluss Gebrauch machte, ist Kanada: Die kanadische Firma Apotex Inc. liefert unter Zwangslizenz das AIDS-Medikament TriAvir nach Ruanda.48
III.3 Parallelimporte Parallelimporteure nutzen die Preisunterschiede zwischen Ländern, indem sie Medikamente in einem Niedrigpreisland einkaufen, in ein Hochpreisland importieren und dort den Patentinhaber mit seiner eigenen Ware preislich unterbieten. Rechtlich bedeutet das eine Ausnahme zum Recht des Patentinhabers aus Art. 28 TRIPs, andere von der Einfuhr „seiner“ Produkte ausschließen zu können. Das ist deshalb möglich, weil es jedem Staat selbst überlassen ist, ein System nationaler, regionaler oder internationaler Erschöpfung der Rechte des geistigen Eigentums vorzusehen (Art. 6 TRIPs).49 Wählt ein Land eine regionale (zum Beispiel die EG-Mitglieder) oder eine internationale Erschöpfung (viele Entwicklungsländer), so enden die Rechte des Patentinhabers grundsätzlich mit dem ersten freiwilligen Inverkehrbringen des Produkts in irgendeinem Staat der Region bzw. weltweit und Parallelimporte sind zulässig. Um den Patentinhaber von der Aufstellung eines Einheitspreises zur Unterbindung von Parallelimporten abzuhalten, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ein Land reagiert mit Mitteln des Wettbewerbsrechts auf derart motivierte Preiserhöhungen und droht etwa mit der Erteilung einer Zwangslizenz. Oder das Land setzt auf das sog. differential pricing: Parallelimporte von Entwicklungs- in Industrieländer werden verhindert, um dort ein hohes Preisniveau und damit global betrachtet einen ausreichenden Profit des Patentinhabers zu sichern. Letztere Variante erfordert zwar internationale Kooperation, hat aber den Vorteil, dass sie im Einvernehmen mit der Industrie möglich ist.50 47
Das wird für LDCs fingiert, WTO-Doc WT/L/540, Para. 2 (a) (ii). S. www.wto.org/english/news_e/news07_e/trips_health_notif_oct07_e.htm. 49 TRIPS-HÖHNE (Fn 11), Art. 6 Rn. 8ff, 11; vgl. auch Doha-Erklärung Para 5 d: „The effect of the provisions […] is to leave each Member free to establish its own regime for […] exhaustion […].“ 50 Entsprechende Bsp. existieren nämlich bereits für Westafrika, vgl. GODT (Fn 15), S. 442ff. 48
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III.4 Zusammenfassung für den Bereich Gesundheit Der Bereich Gesundheit zeigt besonders gut die Grenzen der Wirkung des Patentrechts auf: Auch völlig freier Zugang zu Medikamenten könnte häufig mangels eines Verteilungssystems, grundlegender Basisvoraussetzungen und ausreichender Anwendungskenntnisse in vielen Ländern seinen Zweck nicht erfüllen. Immerhin versucht das internationale Patentrecht auf Engpässe im Bereich Gesundheit mit verstärkter Flexibilität zu reagieren. Ob die Generikaproduktion unter Zwangslizenzen ausreichen wird, um die „Verluste“ aufgrund des Wegfalls der freien Generikaproduktion vor allem in Indien zu ersetzen, wird sich erst zeigen müssen.
IV. Patentrecht und „Biopiraterie“ Unter der Überschrift „Biopiraterie“ wird regelmäßig eine Diskussion geführt, in der die Interessen von Entwicklungs- und Industrieländern an der Nutzung biologischer Ressourcen und des damit verbundenen traditionellen Wissens als fundamental gegensätzlicher Natur dargestellt werden.51 Unbefangen betrachtet ist zunächst das Gegenteil der Fall: während es vor allem die Entwicklungsländer sind, auf deren Boden sich bislang unbekannte bzw. ungenutzte biologische Ressourcen befinden, so sind es die in den Industrieländern ansässigen Unternehmen, die über das zur Verwertung notwendige Know-How verfügen. Der Interessenkonflikt bricht da auf, wo die Forschung an genetischen Ressourcen und die Übernahme korrespondieren Wissens (bioprospecting) gegen oder ohne den Willen des die indigene Gruppe repräsentierenden Staates erfolgen und eine finanzielle Beteiligung der ursprünglichen Wissensträger an der kommerziellen Verwertung ausbleibt. Dann wird gemeinhin von Biopiraterie gesprochen. Diese nicht rechtsförmliche Negativ-Definition gründet in der 1992 angenommenen Convention on Biological Diversity (CBD). Danach soll der Zugang Dritter zu genetischen Ressourcen nur nach einer in voller Kenntnis der Sachlage abgegebenen Zustimmung ((prior informed consent, Artt. 8 lit j, 15 V CBD) sowie nach Abschluss einer Vereinbarung zulässig sein, die einen ausgewogenen Vorteilsausgleich gewährleistet (benefit sharing, Artt. 8 lit j, 17 VII CBD). In bewusster Abkehr von der bis dato geltenden Einstufung genetischen Materials als common heritage of mankind d statuiert Art. 15 I CBD daher auch ausdrücklich die Souveränität der Nationalstaaten über derartige auf ihrem Boden vorfindliche Ressourcen. In Zusammenhang mit dem Patentrecht tritt der Komplex „Biopiraterie“ an zwei Stellen: Erstens geht es um die Vermeidung sog. „falscher“ Patente – das heißt von Schutzrechten, die eine Adaption traditionellen Wissens oder nicht honorierungswürdige, da lediglich minimale Weiterentwicklungen davon darstellen. Zweitens stellt sich die Frage, ob und wie das Patentrecht – international oder national – helfen kann, die priorinformed-consent- und benefit-sharing-Regeln der CBD durchzusetzen.
51
In diese Richtung wohl THÜMMEL, StudZR 2005, 505ff.
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IV.1 Der Schutz gegen falsche Patente Zu Recht wird als untragbar empfunden, wenn Unternehmen Erfindungen anmelden, die eine Eins-zu-eins-Adaption oder marginale Weiterentwicklung traditionellen Wissens darstellen, somit eigener Forschungsleistung entbehren. Es bedarf keines Rückgriffs auf die CBD, um ein daraufhin erteiltes Patent als „falsch“ zu klassifizieren: Eine solche Erfindung ist entweder schon nicht neu, oder es fehlt ihr an der notwendigen Erfindungshöhe. Jedenfalls ist sie nicht patentierbar; wird sie doch eingetragen, so ist das erteilte Patent anfechtbar. Einen Sonderweg geht allein das US-Recht: Es kennt einen relativen Neuheitsbegriff, wonach außerhalb der USA nur in mündlicher Form überliefertes Wissen nicht neuheitsschädlich ist.52 Anders wäre es etwa nicht möglich gewesen, auf die Wirkstoffe des indischen Neem-Baumes US-Patente zu erlangen; dessen Wirkweise war in der ayurverdischen Volksmedizin längst bekannt. Das US-Recht regt insoweit nicht zu Innovation, sondern zum Import, zur Adaption ausländischen Wissens an. Aufgrund des protektionistischen Untertons wird die Regelung zu Recht als kaum mit TRIPs vereinbar angesehen.53 Diametral stehen dem die Patentgesetze gegenüber, die traditionelles Wissen und dessen Derivate von vornherein von der Patentierbarkeit ausnehmen: So bestimmt beispielhaft der Indian Patent Act 2002, dass das Patent versagt wird, wenn „the invention […] is anticipated having regard to the knowledge, oral or otherwise, available within any local or ingenious community in India or elsewhere“.54 Das bedeutet, traditionelles Wissen und Weiterentwicklungen davon per definitionem nicht mehr als Erfindungen, sondern als Teil des Standes der Technik zu betrachten. Basierend auf der Annahme, dass in solchen Fällen Neuheit und / oder erfinderischer Schritt fehlen werden, dürfte das eine gerade noch TRIPs-konforme Fiktion sein.55 Freilich geht mit dieser Fiktion die Gefahr einher, dass Wissen, das nicht bereits verbreitet ist, mangels Anreizes nicht zur kommerziellen Verwertung aufgearbeitet und weiterentwickelt wird. Eine internationale Rezeption der indischen Rechtslage würde traditionellem Wissen daher einen Gutteil seines wirtschaftlichen Wertes und der CBD damit ihre wirtschaftliche Komponente teilweise entziehen.
IV.2 Eine Umsetzung der CBD über das Patentrecht? Interessanter, gleichzeitig heftig umstritten ist die Frage, ob und wie das Patentrecht als regulatives Vehikel zur Durchsetzung der Ziele der CBD positiv nutzbar gemacht werden kann. Artt. 8 lit j und 15 VII CBD – die den Anspruch auf eine gerechte Teilhabe an kommerzieller Verwertung traditionellen Wissens respektive genetischen Materials gewähren wollen – zwingen im Grunde dazu, eine dritte Kategorie neben patentgeschütztem und solchem Wissen zu schaffen, dass der public domain zugeordnet ist. Denn die genetische Information ist per se nicht patentierbar, sie soll aber gerade nicht frei von (Kollektiv-)Rechten Dritter jedermann gehören, also nicht public domain im 52 53 54 55
Sec. 102 a Patents Actt 35 U.S.C. So auch GODT (Fn 15), S. 398. Sec. 64 (1, v, q) Patent Actt 1970 in der Fassung gemäß Patent Act (Amendment) 2002. So auch TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn 22; vgl. auch o., II.5.
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klassischen Sinne sein. Dieses von der CBD geforderte Tertium einer weitreichenden kollektiven Rechtsinhaberschaft ohne individualisierbare Einzelleistung lässt sich meines Erachtens nur bedingt in die traditionelle, mit TRIPs völkerrechtlich verfestigte Dichotomie des Patentrechtssystems integrieren.
IV.3 Integrationsversuche: der Indian Patent Act 2002 TRIPs selbst kennt eine Verklammerung der prior-informed-consent- und derr benefitsharing-Regeln der CBD mit der Wirksamkeit von Patenten nicht. Einige Staaten versuchen dieser als Missstand empfundenen Situation durch Modifikationen ihrer nationalen Patentsysteme abzuhelfen. Wieder sei der Indian Patent Act 2002 als Beispiel56 herangezogen: Ein Patent kann demnach widerrufen oder für nichtig erklärt werden, wenn die Anmeldung die Quelle oder den geographischen Ursprung des genetischen Materials, das für die Erfindung verwendet wird, nicht oder unzutreffend benennt. Der Indian Patent Actt macht die Angabe der Herkunft genetischen Materials damit zu einer materiellen Gültigkeitsvoraussetzung des Patents, die durch Antrag of any person interested d während der gesamten Laufzeit mit der Rechtsfolge der Patentnichtigkeit aktualisiert werden kann.57 Zweck der Norm ist es, durch ein Mehr an Transparenz die Einhaltung der benefit-sharing-Regeln der CBD kontrollieren und gegebenenfalls durch die Sanktion des Patentverfalls erzwingen zu können. Die Offenbarungspflicht ist im Sinne einer besseren Durchsetzung der CBD-Regeln eine gute Idee; die Sanktion nach indischem Vorbild ist es nicht.58 Sie ist nicht nur nicht zielführend, sondern potentiell kontraproduktiv: Denn wer eine Erfindung wegen Verstoßes gegen eine Formvorschrift der Anfechtbarkeit durch jedermann aussetzt, ignoriert, dass gerade der Patentschutz dazu anreizt, indigenes Wissen für die Bedürfnisse der breiten Öffentlichkeit aufzuarbeiten und damit einer kommerziellen Verwertung zuzuführen. Und nur wenn dank des Patentschutzes im großen Stil Gewinn erwirtschaftet wird, können Fragen der Gewinnbeteiligung überhaupt aktuell werden. Mit dem wirksamen Patent steht dann ein namentlich bekanntes Individuum als Adressat von Beteiligungsansprüchen zur Verfügung.59 Sind die ursprünglichen Wissensträger an einer Partizipation an den Patentgewinnen interessiert, dann ist nicht einsichtig, warum jedem Dritten, also insbesondere Konkurrenten des Patentinhabers, die Anfechtung gestattet werden sollte. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich, dass oft überhaupt erst durch die Patentierung auffällt, dass von traditionellen Ressourcen kommerziell Gebrauch gemacht wird. Ist ein Biotech-Patent hingegen weitreichender Zerstörbarkeit ausgesetzt, würde ein Unternehmen sogar dazu angehalten, sein Wissen unter einem Betriebsgeheimnis zu verwerten – zum Schaden aller.
56
Ähnliche Regelungen sehen viele Staaten vor, vor allem die sog. megadiverse countries; vgl. für eine den indischen Regelungen entspr. Erweiterung des TRIPs Indien, Brasilien, China, Venezuela u.a.; s. IP/C/356, 24.06.02 und IP/C/W/403, 24.06.03. 57 S. Sec. 64 (1, v, p) Patent Act 19700 in der Fassung des Patent Act (Amendment) 2002. 58 A.A. zahlreiche NGOs. Vgl. statt vieler FREIN / MEYER, Rundbrief Forum Umwelt & Recht, 2/2008, 16f. 59 Zust. STRAUS / KLUNKER, GRUR Int. 2007, 91 (94f.); SANTAMAURO, E.I.P.R. 2007, 91 (95ff.).
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IV.4 Rechtliche Inkompatibilität mit TRIPs? Bedenken gegen eine an der Wirksamkeitt von Patenten anknüpfenden Integration der CBD-Ziele bestehen auch mit Blick auf deren Vereinbarkeit mit der derzeitigen Fassung von TRIPs. Die Bedenken machen regelmäßig an Art. 27 I 1 TRIPs fest60: Demnach müssen Erfindungen patentierbar sein, sofern sie neu, von einer gewissen Erfindungshöhe und gewerblich anwendbar sind, vorbehaltlich der in Abs. 2 und 3 genannten Ausnahmen. Schon der Wortlaut der Norm ist einer Auslegung dahingehend, es handele sich lediglich um die Benennung der Mindestvoraussetzungen von Patentierbarkeit61 – und folglich bestehe Raum für eine vierte Gültigkeitsvoraussetzung –, kaum zugänglich. Vor allem aber würde dadurch die Grundintention von TRIPs konterkariert, einen internationalen Mindestbestand schutzfähiger Immaterialgüter zu schaffen. Diesem Ziel wird nur eine Lesart von Art. 27 I 1 TRIPs gerecht, die sicherstellt, dass jedenfalls solche Gegenstände, die die genannten Voraussetzungen erfüllen, als patentierbar vorzusehen sind.62 D.h., dass zwar ein Unterschreiten der Grenze des Art. 27 I 1 TRIPs – also weniger enge Voraussetzungen –, nicht aber ein Überschreiten durch das Aufstellen neuer Voraussetzungen zulässig sein kann. Wenn nun eine nationale Regelung eine vierte Gültigkeitsvoraussetzung schafft, so erscheint deren Rechtmäßigkeit höchst zweifelhaft. Auch lässt sich die Herkunftsangabe nicht einfach aus dem Regelungsbereich von Art. 27 I TRIPs lösen und dem von Art. 29 I TRIPs zuweisen – mit dem Ziel, die Pflicht zur Offenbarung der Herkunft genetischen Materials als Teilaspekt der in Art. 29 I TRIPs geregelten Pflicht zur vollständigen Offenbarung der Erfindung als solcherr zu legitimieren.63 Denn der Regelungszweck von Art. 29 I TRIPs steht in unmittelbarem Konnex zur Grundintention des Patentrechts. Die vollständige Offenbarung der Erfindung ist conditio sine qua non dafür, dass zu guter letzt die Allgemeinheit bereichert wird. Der Regelungszweck der Pflicht zur Herkunftsangabe hingegen ist ein anderer, nicht erfindungsbezogen, sondern gerichtet auf eine Neujustierung des Patentrechts, weg von einem reinem Instrument zur Stimulation technischen Fortschritts und hin zu einem verhaltenssteuernden Instrument der Entwicklungshilfepolitik. Art. 29 I TRIPs sperrt diese Funktionssplittung zwar nicht. Die Norm lässt sie aber auch nicht positiv zu.64
IV.5 „Patentrechtsschonende“ Integrationsansätze Wie kann also eine Verschränkung von CBD und TRIPs aussehen, die die divergierenden Regelungsziele systemkohärent ausgleicht und dabei die als legitim anerkannten Interessen der Geberländer genetischer Ressourcen ernst nimmt?65 Wie gesagt ist es nicht die Offenbarungspflicht als solche, die mit Art. 27 I 1 TRIPs kollidiert, sondern die Ausgestaltung als vierte Gültigkeitsvoraussetzung. Die Idee als solche ist eine gute, 60
Vgl. die Nachweise bei GODT (Fn 15), S. 342ff. So GODT (FN 15), S. 342F. 62 TRIPs-NEEF (Fn 11), Art. 27 Rn. 3ff m.w.N. 63 So TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn. 22 a.E. und Rn. 32. 64 A.A. offenbar TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn. 22 a.E. und Rn. 32. 65 Ausf. Bsp. bei KARIYAWASAM, E.I.P.R. 2007, 325ff. und TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn. 23ff. 61
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durch die Herkunftsgabe Transparenz und Überprüfbarkeit zu steigern. Und freilich wäre eine solche Pflicht Makulatur, bliebe ihre Nichtbeachtung ohne Sanktion. Wenn also eine Sanktion notwendig, diese sinnvoller Weise aber nicht in der Anfechtbarkeit des Patents zu sehen ist, worin dann? Ein Beispiel für eine gelungene Regelung liefert Sec. 3 des dänischen Patentgesetzes von 2000: Wird die dem Anmelder bekannte Herkunft biologischen Materials, das seiner Erfindung zugrundeliegt, nicht offenbart, bleibt die Wirksamkeit des Patents unberührt. Allerdings macht sich der unredliche, weil vorsätzlich schweigende Anmelder strafbar nach Sec. 163 des dänischen Strafgesetzbuches, weil er gegenüber einer Behörde wissentlich falsche Angaben macht.66 Diese strafrechtliche Haftung des Anmelders muss freilich zivilrechtlich flankiert sein, soll der zunächst umgangene Vorteilsausgleich nachlaufend erzwungen werden können. Neben regulären Schadenersatz- und Gewinnabschöpfungsansprüchen kann – bezogen auf das Patent – auch eine verfahrensrechtliche Sanktion nach dem Beispiel der US-amerikanischen unclean hands doctrine in Betracht gezogen werden: Demnach wären die Rechte aus einem Patent so lange nicht gerichtlich durchsetzbar, wie der Patentinhaber vorwerfbare Fehler im Vorfeld, d.h. in unserem Fall eine Beschaffung und Verwendung des Forschungsmaterials unter Verletzung der entsprechenden nationalen Regelungen, nicht beseitigt hat.67 Die Lösung über das Verfahrensrecht kommt der materiellrechtlichen Vorgehensweise (Anfechtbarkeit des Patents) in der Wirkung nahe, ist aber TRIPs- und systemkonform, da das Patent in seiner Existenz bestehen bleibt.
IV.6 Zusammenfassung für den Bereich „Biopiraterie“ Die Pflicht zur Herkunftsoffenbarung kann die nötige Transparenz schaffen, um den Rechtsinhabern im Sinne der CBD die Rechtsverfolgung zu ermöglichen. Dabei sollten die genannten Sanktionen den Patentinhaber aus Rechtsstaatsgründen nur dann treffen, wenn er die ihm bekannte Herkunft verschwiegen hat oder wenn er selbst das Forschungsmaterial bösgläubig in seinen Besitz brachte. Das Patentrecht ist damit in Maßen taugliches Vehikel zur Umsetzung der CBD. Es kann als Ausgangspunkt der von der Konvention geforderten Ansprüche und Rechtsschutzoptionen dienen. Der Schwerpunkt der rechtlichen Konstruktion hat aber außerhalb des materiellen Patentrechts zu liegen. Eine Verklammerung dergestalt, dass die Wirksamkeit von Patenten von der Einhaltung der Vorgaben der CBD abhängt, ist wegen TRIPs unzulässig und grundsätzlich nicht wünschenswert. Auch ungeachtet der prinzipiellen Bedenken, die als ein Beharren auf der reinen Patentrechtslehre abzutun leicht fällt,68 wäre es wie dargestellt nicht zielführend, TRIPs in einer der indischen Rechtslage entsprechenden Weise zu reformieren. Der in der Reforminitiative69 zum Ausdruck kommende Wunsch, indigenes Wissen und seine Fortentwicklungen mit aller Macht gegen Patente zu „schützen“, lässt sich mit dem in den Missbrauchsfällen der 66
Zitate von TRIPs-REYES-KNOCHE (Fn 11), Art. 29 Rn. 25. Dafür nachdrücklich N. P. DE CARVALHO, Washington University Journal of Law and Policy, vol. 2, 2000, 371ff. 68 Nicht mit solcher Wortwahl, aber in der Sache GODT (Fn 15), S. 4ff. 69 Vgl. WTO-Doc. IP/C/W/368/Rev.1, 8.02.06 und WIPO-Doc. SCP/7/7. 67
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Vergangenheit gründenden Misstrauen gegen das Patentrecht überhaupt zwar erklären, sollte aber nicht Richtschnur nationaler oder internationaler Rechtssetzung sein.
V. Schlussbemerkungen Die keinesfalls abschließende Zusammenstellung zeigt, dass das (internationale) Patentrecht – teils im Zusammenspiel mit anderen Rechtsbereichen – hinreichende Flexibilität bietet, um auch den Entwicklungsländern Handlungsperspektiven zu eröffnen. Es erlaubt durch seine utilitaristische Grundkonzeption eine Ausgestaltung der nationalen Rechtssysteme, die weniger patentinhaberfreundlich als die meisten westlichen Patentrechte und mehr an technologiepolitischen Interessen orientiert ist. Vor allem sei erinnert an die Möglichkeiten des Ausübungszwangs sowie der Beschränkung auf Verwendungspatente. Dass hierbei der Gestaltungsfreiheit Grenzen gesetzt sind, kann positiv betrachtet werden: Es zwingt, Prioritäten zu setzen. Durch die für die völkerrechtliche Ebene weitgehende Verrechtlichung der Materie verfügen auch Entwicklungsländer über Druckmittel, die Industriestaaten zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen (man denke an Art. 66 II TRIPs) zu bewegen. Freilich sollten die Entwicklungsländer darauf achten, nicht vorschnell im Rahmen bilateraler Abkommen („TRIPs-Plus“) die Flexibilität aufzugeben, die TRIPs ihnen lässt.
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Doppelbesteuerungsabkommen als Instrument zur Förderung internationaler Steuergerechtigkeit MATTHIAS VALTA
Inhalt I. II. III. IV. V.
Die Rechtfertigung der Besteuerung Abstimmung der Besteuerungskonkurrenz durch das Völkerrecht Interessenkonflikte zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern in den Doppelbesteuerungsabkommen Analyse der rechtlichen Instrumente Fazit und Ausblick
Wer nach Gerechtigkeitsfragen zum Thema Steuern sucht, wird schnell fündig. Die regelmäßige Lektüre des Politik- und Wirtschaftsteils einer Zeitung genügt, insbesondere vor Wahlen. Lautstark wird diskutiert, wer wie viel beitragen muss und kann – von den steuerfreien Zuschlägen der Nachtschwester bis zu einer „Reichensteuer“ auf besonders hohe Einnahmen. Empörung brandet auf, wenn bekannte Unternehmen oder wohlhabende Persönlichkeiten aus „steuerlichen Gründen“ ins Ausland ziehen oder der Steuerhinterziehung überführt werden. Weniger lautstark ist die Dankbarkeit über die staatlichen Leistungen, die durch die Steuern finanziert werden. Im Wahlkampf versprechen die Parteien in der Regel mehr Leistungen bei weniger Steuern. Zwei Grundfragen durchziehen diese Diskussionen. Der Steuerpflichtige möchte selbst nicht zu viel an Steuern zahlen. Gleichzeitig hat er ein Interesse daran, dass die anderen Steuerpflichtigen ebenfalls einen angemessenen Anteil an den Lasten des Gemeinwesens tragen. Die gerechte Lastenverteilung wird durch die zunehmende Mobilität von Unternehmen und Kapital in Frage gestellt: Ist es gerecht, wenn multinationale Unternehmen Gestaltungen wählen, um ihre Steuern möglichst im günstigeren Ausland zu zahlen? Ist es gerecht, wenn Großanlegerr ihr Kapital in Fonds weltweit und natürlich „steueroptimiert“ investieren und nur im Ausnahmefall Steuern in Deutschland oder anderswo zahlen, während der Arbeitnehmer nur zusehen kann, wie sein Arbeitgeber die Steuern direkt an das Finanzamt überweist? Der gerechten Lastenverteilung unter den Steuerschuldnern entspricht als Kehrseite die gerechte Ertragsverteilung unter den Staaten als Steuergläubigern. Die Bedeutung dieses Konflikts lässt sich an der im Jahr 2005 erfolgten Kündigung des Doppelbesteue-
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Matthias Valta
rungsabkommens zwischen Deutschland und Brasilien illustrieren.1 Dieses stimmt – wie noch näher darzustellen sein wird – die Besteuerungszugriffe Deutschlands und Brasiliens miteinander ab. Die Kündigung als ultima ratio des Völkervertragsrechts wurde aus deutscher Sicht zum ersten Mal notwendig, da zahlreiche einseitige Regelungen zu Gunsten Brasiliens nicht mehrr der deutschen DBA-Praxis und Politik – auch nicht gegenüber Entwicklungsländern – entsprachen.2 Nach Scheitern der Neuverhandlungen kam es trotz massiver Proteste der deutschen Wirtschaft zur Kündigung durch Deutschland. Die Fronten sind so verhärtet, dass Deutschland erst dann wieder in neue Verhandlungen um ein „ausgewogenes“ Abkommen eintreten möchte, wenn Brasilien Zugeständnisse signalisiert. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die Gerechtigkeitsprobleme der internationalen Besteuerungspraxis, insbesondere auf die damit verbundenen Konflikte zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. Anschließend skizziert er, wie das Internationale Steuerrecht über völkerrechtliche Verträge, sogenannte Doppelbesteuerungsabkommen, Form und Verfahren zur Lösung oder Milderung der auftretenden Gerechtigkeitsprobleme bereitstellt.
I. Die Rechtfertigung der Besteuerung I.1 Begriff und Rechtfertigung der Steuer Steuern sind Geldleistungen, die keine Gegenleistung zu einer besonderen Leistung darstellen und von einem öffentlichen Gemeinwesen all denen zwangsweise auferlegt werden, die den Tatbestand der Steuernorm erfüllen.3 Diese Definition weist drei konstitutive Strukturmerkmale der Steuer aus. Erstens dient sie der Finanzierung des Gemeinwesens, insbesondere des Staates. Zweitens ist sie an keine individuelle Leistung des Staates gekoppelt und unterscheidet sich dahingehend von anderen Abgaben, wie Gebühren und Beiträgen. Drittens wird sie zwangsweise nach allgemeinen Merkmalen auferlegt und ist damit auf eine Belastungsgleichheit ausgerichtet, die dem Grundsatz nach keine privilegierte Behandlung Einzelner duldet. Die Steuer ist damit gleichermaßen voraussetzungsarm wie Ertrag bringend und ermöglicht es so dem demokratischen Gesetzgeber, die Aufgaben des Staates sicher zu finanzieren und die Mittel ohne Vorbindungen nach seinem Entschluss einzusetzen. Droht ein hauptsächlich gebührenfinanzierter Staat nur für die Bürger da zu sein, die es sich leisten können, kann der hauptsächlich steuerfinanzierte Staat gestaltend und umverteilend tätig werden, um allen Einwohnern zu dienen. Die Steuerfinanzierung ist zugleich freiheitsschonend, da sich der Staat seine allgemeinen Mittel nicht durch Be-
1 BMF, Schreiben vom 06.01.2006 (IV B 3 – S 1301 – BRA - 77/05) an die obersten Finanzbehörden der Länder. Das Ab kommen trat damit zum 1.1.2006 außer Kraft. 2 H. R. WEGGENMANN, Auswirkungen der Kündigung des DBA Brasilien und Handlungsempfehlungen, RIW 2005, S. 519. 3 Vgl. die Definition in § 3 Abgabenordnung, die nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt, vgl. BVerfGE 3, S. 407, 435; BVerfGE 67, S. 256, 282.
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schlagnahmen und Enteignungen sichern muss. Ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat muss demnach auch Steuerstaat sein.4 Die Rechtfertigung der Steuer ist damit mit der staatlichen Verwendung der Steuermittel verknüpft. Die Erhebung der Steuer rechtfertigt sich aus der Gesamtheit der Leistungen des Staates. Auch der Steuer liegt somit wie den Gebühren oder vertraglichen Zahlungspflichten der Gedanke der Äquivalenz zu Grunde, allerdings keine Einzeläquivalenz, sondern eine Globaläquivalenz. 5 Die Erhebung einer Steuer ist damit nur dann gerecht, wenn ein Zusammenhang zwischen den Leistungen des steuererhebenden Staates und dem besteuerten Wert hergestellt werden kann. Die Beiträge des Staates zu der von ihm besteuerten Wertschöpfung sind so grundlegend und vielfältig wie die Aufgaben des Staates selbst: z. B. die Bereitstellung einer Friedens- und Rechtsordnung, die Gewährleistung innerer wie äußerer Sicherheit, die Bereitstellung von Infrastruktur und eines Marktes. Mit seiner Tätigkeit bemüht sich der Staat in aller Regel um die Schaffung einer gewissen Gerechtigkeitsordnung, wie sie als Ideal in den philosophischen Perspektiven aufscheint.6 Durch das Recht fördert der Staat die Chancengleichheit seiner Bewohner, deren Bedeutung Rawls hervorgehoben hat. Durch Sach- und Geldmittel sichert er zudem das Existenzminimum und eine staatliche Grundinfrastruktur, um die materiellen Mindestvoraussetzungen zur Inanspruchnahme der Chancengleichheit zu schaffen. Je höher die Leistungen des Staates sind und je größer damit seine Beiträge an der Wertschöpfung der Bürger, desto höher wird in der Regel die Gegenleistung sein, die er in Form der Steuer beansprucht. Der Anspruch ist bei einer gerechten Besteuerung jedoch in der Höhe begrenzt, da die Wertschöpfung neben der Bereitstellung staatlicher Voraussetzungen maßgeblich auf der Leistung des Steuerpflichtigen beruht. Die Besteuerung darf den Gewinn des Steuerpflichtigen aus seiner Wertschöpfung daher nicht vollständig beanspruchen, sondern muss ihm einen angemessenen Teil belassen.
I.2 Die Besteuerung grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit Die bisherigen Ausführungen gingen von einer rein nationalen Perspektive aus: einem Steuerpflichtigen steht sein Ansässigkeitsstaat als Steuergläubiger und Leistungserbringer gegenüber. Wird der Steuerpflichtige jedoch grenzüberschreitend wirtschaftlich tätig, nutzt er auch die Leistungen anderer Staaten zur Einkünfteerzielung. Bezieht er folglich Einkünfte aus ausländischen Quellen, haben auch die Quellenstaaten Anspruch auf eine Besteuerung als Gegenleistung für ihren Beitrag zur Erzielung der Einkünfte. Das Besteuerungsrecht des Ansässigkeitsstaats bleibt jedoch weiterhin legitim, da er als typischer Lebens- und damit Wirtschaftsmittelpunkt auch zu den ausländischen Ein4 Zum Steuerstaat vgl. J. ISENSEE, Steuerstaat als Staatsform, in: R. STÖDTER, Hamburg – Deutschland – Europa, FS für Hans Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 409; K. VOGEL, Der Finanzund Steuerstaat, in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, Heidelberg 3 2004, § 30 Rn. 51ff. und P. KIRCHHOF, Die Steuern, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, Heidelberg 32007, § 118 Rn. 2 f. 5 K. VOGEL, Rechtfertigung der Steuern, eine vergessene Vorfrage, in: Der Staat 31, 1986, S. 481, 504, 516. 6 Vgl. den Beitrag zu von G. HARTUNG / S. SCHAEDE zu den philosophischen Perspektiven in diesem Band, zu Rawls S. 39.
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künften und damit zum gesamten Welteinkommen mit seinen staatliche Leistungen beiträgt. Der Ansässigkeitsstaat ist folglich nicht mehr als ein typisierter Hauptquellenstaat, neben den andere Quellenstaaten treten.7 Der grenzüberschreitend tätig werdende Steuerpflichtige sieht sich damit plötzlich zwei oder mehreren Staaten als Steuergläubigern gegenüber, die einen legitimen Anspruch auf Besteuerung haben. Es kommt zu einer Doppelbesteuerung: dieselbe Steuerart auf denselben Steuergegenstand wird von zwei oder mehr Staaten gegenüber demselben Steuerpflichtigen für denselben Steuerzeitraum erhoben.8 Die kumulierte Steuerbelastung wird in der Regel die Steuerlast übersteigen, die bei einem reinen Inlandssachverhalt und der daraus folgenden Besteuerung durch nur einen Staat anfällt. Grenzüberschreitende Tätigkeiten werden in der Folge stärker belastet als rein inländische Tätigkeiten. Die Nutzungen der Leistungen mehrerer Staaten kann die volle Mehrbelastung jedoch nicht rechtfertigen. Die Besteuerung ist wie bereits ausgeführt der Höhe nach nur gerecht, wenn sie dem Steuerpflichtigen einen angemessenen Anteil seines Leistungserfolgs belässt. Kumulieren sich die Steuerbelastungen mehrerer Staaten, wird die Besteuerung hingegen übermäßig, wenn nicht gar durch Entzug der gesamten Einkünfte konfiskatorisch. Neben der Doppelbesteuerung ist auch eine Doppelnichtbesteuerung denkbar. Die beteiligten Staaten besteuern die Einkünfte nicht mehrfach, sondern überhaupt nicht, da sie die Einkünfte wechselseitig dem jeweils anderen Staat zuordnen. Vergleichbar sind auch Fälle, in denen Abzüge oder Vergünstigungen doppelt von verschiedenen Staaten gewährt werden. Diese Fälle sind für den Steuerpflichtigen günstig, da er seine Steuerlast durch Auslandstätigkeiten reduzieren kann. Die daraus entstehende Privilegierung gegenüber nur inländisch tätig werdenden Steuerpflichtigen ist jedoch ungerecht, da sich der grenzüberschreitend tätig werdende Steuerpflichtige der solidarischen Finanzierung der von ihm in Anspruch genommenen Staatsleistungen entziehen kann. Viele Staaten verbinden das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit der Besteuerung mit einer Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit und damit einer Steuerprogression.9 Mit zunehmendem Einkommen erhöht sich der Steuersatz. Die Bemessung der Progression soll dabei nicht nur das inländische Einkommen, sondern auch das ausländische Einkommen miteinbeziehen, damit sich grenzüberschreitend tätige Steuerpflichtige nicht durch die gleichmäßige Verteilung des Einkommens auf mehrere Länder der Progression entziehen können. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bedeutet aber auch in umgekehrter Richtung die Gewährung des Existenzminimums und verschiedener Abzüge. Zur Bemessung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist der Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen aufgrund seiner Personennähe und seines legitimen Anspruchs auf die Besteuerung des Welteinkommens in besonderem Maße berufen. Die Konkurrenz von Welteinkommensbesteuerung im Ansässigkeitsstaat und terri7 Vgl. E. REIMER, Der Ort des Unterlassens, München 2004, S. 301ff, K. VOGEL, “State of Residence” may as well be “State of Source” – There is no Contradiction, BIFD 2005 , S. 420, 421. 8 OECD, Offizieller Kommentar zum Musterabkommen, Einleitung Rn. 1.; K. VOGEL, in K. VOGEL / M. LEHNER, DBA, 52008, Einführung Rn. 2. 9 Vgl. V. THURONYI, Comparative Tax Law, 2003, S. 244 und die Länderdarstellungen in H. AULT / B. ARNOLD, Comparative Income Taxation, A Structural Analysis, New York 2004.
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torialer Quellenbesteuerung im Quellenstaatt dient folglich einer gerechten Besteuerung. Die Konkurrenz kann daher nicht durch generellen Verzicht auf einen der Besteuerungszugriffe, sondern nur durch gegenseitige Abstimmung gelöst werden. Eine gerechte und gleichmäßige Besteuerung aller Steuerpflichtigen erfordert die Zusammenarbeit und Abstimmung der Staaten. Schließlich ist eine Abstimmung der Steuerzugriffe auch aus wirtschaftlichen Gründen geboten. Wirtschaftlich eigentlich sinnvolle grenzüberschreitende Tätigkeiten verlieren durch eine gesteigerte Steuerlast an Attraktivität oder werden sogar vollständig sinnlos. Doppelbesteuerungen verzerren und behindern den internationalen Wirtschaftsverkehr, drohen ihn sogar weitgehend zum Erliegen zu bringen. Die Verzerrungen stören aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht die effiziente Ressourcenallokation und verhindern damit eine Wohlfahrtsmaximierung.
II. Abstimmung der Besteuerungskonkurrenz durch das Völkerrecht Auf der Grundlage der geschilderten Maßstäbe gerechter Besteuerung und der Probleme, diese im internationalen Kontext zu erreichen, werden im Folgenden die Beiträge des Völkerrechts, insbesondere der Doppelbesteuerungsabkommen, zur Lösung oder Milderung der Gerechtigkeitsprobleme dargestellt.
II.1 Völkergewohnheitsrecht Die Besteuerung grenzüberschreitender Tätigkeiten unterliegt den völkerrechtlichen Vorgaben über die Abgrenzung der Hoheitsbereiche der souveränen Staaten. Alle Staaten sind nach Völkergewohnheitsrecht10 gleich und souverän. Ihre Gebietshoheit genießt folglich Schutz vor der Intervention fremder Staaten. Der Vollzug staatlicher Rechtsakte (jurisdiction to enforce) ist exklusiv auf das jeweilige Staatsgebiet des handelnden Staates beschränkt. Die Regelung von Sachverhalten (jurisdiction to prescribe) ist hingegen nicht auf das Gebiet des handelnden Staates begrenzt. Ein Staat kann daher auch im Ausland erzielte Einkünfte im Tatbestand seiner Steuerrechtsnormen erfassen und daran die Pflicht zur Steuerzahlung im Inland knüpfen. Die Erfassung ausländischer Einkünfte bedarf nur eines sachlichen und originären Bezugs („genuine link“) zum eigenen Staatsgebiet.11 Zwangsweise vollziehen kann er seinen Anspruch aber nur auf seinem Staatsgebiet. Nach diesen Maßstäben ist die Quellenbesteuerung ohne Weiteres rechtmäßig, da der Quellenstaat Vorgänge auf seinem eigenen Hoheitsgebiet erfasst. Aber auch die Welteinkommensbesteuerung steht im Einklang mit dem Völkerrecht. Die Ansässigkeit des Steuerpflichtigen im Inland bildet einen hinreichenden „genuine link“ zur Besteuerung seiner weltweiten und damit auch seiner ausländischen Einkünfte. Dies gilt auch für die
10
Vgl. auch den Hinweis in Art. 2 UN-Charta. Vgl. StIGH, Entscheidung vom 6.4.1955 „Lotus“ (Frankreich vs. Türkei), PCIJ Ser. A No. 10, S. 4, 18ff; IGH, Entscheidung vom 6.4.1955 „Nottebohm“ (Liechtenstein vs. Guatemala), ICJ Reports 1955, S. 4, 23. 11
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alternative Anknüpfung an die Staatsbürgerschaft wie im US-amerikanischen Steuerrecht. Das Völkergewohnheitsrecht verbietet die Doppelbesteuerung nicht, da es keine Festlegungen enthält, welcher Staat im Einzelfall den Vorrang bei der Besteuerung haben soll.12 Für diese Festlegungen können völkerrechtliche Verträge, sogenannte Doppelbesteuerungsabkommen, genutzt werden.
II.2 Doppelbesteuerungsabkommen Die Verteilungsnormen der Doppelbesteuerungsabkommen r (=DBA) teilen die Einkünfte nach ihrer Art auf (Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen, Unternehmensgewinne, Zinsen, Dividenden, Lizenzgebühren, nichtselbständige Arbeit etc.). Für jede dieser Einkunftsarten wird ausgehandelt, ob die Einkünfte nur vom Quellenstaat, nur vom Ansässigkeitsstaat oder von beiden gemeinsam besteuert werden sollen. Diese vertragliche Zuordnung von Besteuerungszugriffen legt sich wie eine Schablone über die nationalen Steuerrechtsordnungen und erlaubt nur noch die Ausübung abkommenskonformer Besteuerungszugriffe.13 Der Steuerpflichtige kann sich direkt auf das DBA berufen, so dass es keiner weiteren nationalen Umsetzung bedarf. Wird die Besteuerung einer Einkunftsart Quellen- und Ansässigkeitsstaat gemeinsam zugewiesen, bedarf es einer Ausgleichsregelung, die das Verhältnis der Quellenstaatsbesteuerung gegenüber dem der Besteuerung im Ansässigkeitsstaat festlegt. Bei der Anrechnungsmethode rechnet der Ansässigkeitsstaat die im Ausland gezahlte Quellensteuer auf die von ihm festgesetzte Welteinkommensteuerschuld an. Bleibt eine Tätigkeit im Ausland steuerfrei, wird sie vom m Ansässigkeitsstaat voll besteuert. Sind die Quellensteuern im Ausland niedriger als die entsprechende Steuerbelastung im Ansässigkeitsstaat, wird die Differenz durch den Ansässigkeitsstaat nacherhoben, so dass es zu einer Aufteilung der Besteuerung kommt. Die Hauptalternative zur Anrechnungsmethode besteht in der Freistellung der Quelleneinkünfte von der Welteinkommensbesteuerung des Ansässigkeitsstaates. Der Ansässigkeitsstaat verzichtet fast vollständig auf seine Besteuerung und begnügt sich in der Regel mit der Einbeziehung der ausländischen Einkünfte in die Berechnung des Steuersatzes (Progressionsvorbehalt), um eine leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung sicherzustellen. Dem Problem einer Doppelnichtbesteuerung begegnen „subject-to-tax“-Klauseln. Sie versagen die Freistellung und ordnen die Anrechnung an, wenn die Einkünfte im Quellenstaat nicht besteuert werden, um völlig steuerfreie Einkünfte zu verhindern. Die Gefahr der Doppelnichtbesteuerung lässt sich also nicht nur mit der Anrechnungsmethode vermeiden.14
12
Vgl. O. BÜHLER, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, Amsterdam 1964 , S. 34, 36f K. VOGEL in: K. Vogel / M. LEHNER, DBA, 52008, Einleitung Rn. 90. 14 K. VOGEL, Die Zukunft der deutschen Abkommenspolitik Befreiung- oder Anrechnungsmethode?, in: LANG, Die Zukunft des Internationalen Steuerrechts, Wien 1999, S. 61, 67f. 13
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III. Interessenkonflikte n zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern in den Doppelbesteuerungsabkommen Die Verteilung der Besteuerungsrechte muss jeweils vertraglich ausgehandelt werden. Hier entstehen Konfliktfelder zwischen Staaten unterschiedlicher wirtschaftlicher Lage, insbesondere zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern.
III.1 Vorstellung der Hauptkonfliktfelder III.1.1 Der Umfang der Quellensteuern Der erste Hauptkonflikt betrifft den Umfang der Quellensteuern. Im Normsystem der Doppelbesteuerungsabkommen gilt die Besteuerung im Ansässigkeitsstaat als technischer Grundsatz, das Besteuerungsrecht des Quellenstaats als besonders anzuordnende Ausnahme. Im Gegenzug hat das Quellenbesteuerungsrecht bei den gemeinschaftlich zugewiesenen Einkunftsarten im Rahmen der Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung den Vorrang. Je mehr Quellenbesteuerungszugriffe zugelassen werden, desto mehr verschiebt sich die Besteuerung vom Ansässigkeits- zum Quellenstaat. Das Interesse am Umfang von Quellenbesteuerungsrechten hängt davon ab, ob der Staat häufiger Ansässigkeitsstaat oder häufiger Quellenstaat ist. Dies bemisst sich nach den internationalen Wirtschaftsbewegungen, insbesondere den Kapitalströmen. Ist ein Staat häufiger Empfänger solcher Ströme, also der Staat des Gläubigers bzw. des Investors, fließen ihm die Einkünfte im Rahmen der Ansässigkeitsbesteuerung quasi automatisch zu. Ist ein Staat eher Quellenstaat solcher Ströme, also der Staat des Schuldners bzw. Investitionsstandort, fließen die Einkünfte aus seinem Staat ab und in den Ansässigkeitsstaat. Um die Ströme besteuern zu können, ist er auf ein Quellenbesteuerungsrecht angewiesen. Die entwickelten Länder haben untereinander in der Regel ausgeglichene Kapitalströme: sie sind einander in ähnlichem Maße Schuldner wie Gläubiger, Investor wie Investitionsziel. Sie können zu Gunsten der Leichtigkeit des Wirtschaftsverkehrs auf die Quellenbesteuerung und die mit ihr verbundenen Rechtsbefolgungskosten für die Steuerpflichtigen weitgehend verzichten. Den Verlust, den sie jeweils durch den Verzicht auf die Quellenbesteuerung erleiden, wird durch das entsprechende jeweilige Plus im Rahmen der Ansässigkeitsbesteuerung ausgeglichen.15 Im Verhältnis zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern sind die Kapitalströme hingegen in der Regel einseitig. Die entwickelten Länder investieren häufiger in den Entwicklungsländern als umgekehrt, so dass sich in den entwickelten Ländern mehr Gläubiger und in den Entwicklungsländern mehr Schuldner befinden. Aus dem Entwicklungsland fließen daher mehr steuerbare Gewinne ab, als ihm zufließen. Ein Verzicht auf die Quellenbesteuerung wird folglich auch nicht durch ein Mehr an Ansässigkeitsbesteuerung ausgeglichen. Die Entwicklungsländer sind für eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerung daher auf Quellenbesteuerungsrechte angewiesen,
15 Vgl. H. DEBATIN, Das internationale Steuerrecht in der Entwicklung, DStZ/A 1967 , S. 9, 11; D. ENDRES, Direktinvestitionen in Entwicklungsländern, München 1986, S. 100.
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wohingegen entwickelte Länder untereinander durch die ausgeglichenen Kapitalströme mit weniger Quellensteuern ebenfalls eine ausgewogene Aufteilung erreichen. Das rechte Maß zwischen Ansässigkeits- und Quellenbesteuerung bestimmt sich daher nach der spezifischen Lage der beiden Abkommenspartner. Durch die Regelung dieser Fragen in einem bilateralen Vertrag, können die spezifischen Interessen beider Länder in die Verhandlung eingebracht und daraus eine angepasste Lösung entwickelt werden. III.1.2 Die Wahl der Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung Der zweite Hauptkonflikt besteht in der Wahl der Methode zur Ausgleichung der Besteuerungszugriffe von Quellen- und Ansässigkeitsstaat bei einer beiden Staaten gemeinsam zugewiesenen Einkunftsart. Die Anrechnungsmethode schleust, wie bereits dargestellt, die Steuerbelastung der ausländischen Einkünfte auf das Belastungsniveau der inländischen Einkünfte hoch. Aus Sicht des Ansässigkeitsstaats ist dies aus zwei Gründen vorteilhaft. Zum einen wird die Steuerbelastung zwischen In- und Ausland nivelliert, so dass die Steuerbelastung am Investitionsort die Investitionsentscheidung nicht beeinflussen kann (Kapitalexportneutralität aus Sicht des Herkunftsstaats).16 Zum anderen bekommt der Ansässigkeitsstaat bei niedrigeren Steuersätzen im Quellenstaat (die im Abkommen teilweise auch entsprechend begrenzt werden) einen Besteuerungsanteil. Aus der Sicht der Quellenstaaten ist der „Hochschleusungs“-Effekt fatal, da Investitionsanreize durch niedrige Quellensteuern spätestens bei einer Ausschüttung vom Ansässigkeitsstaat „aufgefressen“ und somit wirkungslos werden.17. Dieser Effekt mag von Seiten der entwickelten Staaten zur Verhinderung von als schädlich oder unfair empfundenem Steuerwettbewerb gerechtfertigt werden, seine Auswirkungen gehen jedoch weit darüber hinaus. Begreift man die Steuern als Preis für öffentliche Güter und Dienstleistungen eines Staates, wird der Markt der Investitionsstandorte zu Ungunsten der Entwicklungsländer verfälscht: Sie können ihre Wettbewerbsnachteile im Bereich der staatlichen Infrastruktur nicht mehr über die niedrigere Besteuerung ausgleichen und sind somit nicht konkurrenzfähig. Die Anrechnungsmethode wirkt wie ein restriktiver Zoll zu Lasten der Entwicklungsländer. Somit verwundert es nicht, dass ein Beharren auf der Anrechnungsmethode, wie es insbesondere für die USA typisch ist, mitunter als „fiskalischer Imperialismus“ bezeichnet wurde.18 Dieser kontroverse Effekt kann in DBAs mit Entwicklungsländern entweder durch die Freistellung oder durch die Anrechnung fiktiver Quellensteuern (englisch: tax sparing) verhindert werden. Durch die Freistellung verzichtet der Ansässigkeitsstaat weitestgehend auf sein Besteuerungsrecht. Aus Sicht des Ansässigkeitsstaats ist dies sinnvoll, um Auslandsinvestitionen der eigenen Industrie zu fördern. Die Tochterunternehmen oder Betriebsstätten 16
Vgl. R.A. MUSGRAVE, Fiscal Systems, New Haven 1969 , S. 254, S. HOMBURG, Allgemeine Steuerlehre, München 5200 7, S. 304. 17 Vgl. statt aller: K. VOGEL, in K. VOGEL / M. LEHNER, DBA, 52008, Art. 23 Rn.192. 18 K. VOGEL, Which Method Should the European Community Adopt for the Avoidance of Double Taxation?, BIFD 2002 , S. 4, 5 mit weiteren Nachweisen.
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im Ausland können dann zu den gleichen steuerlichen Wettbewerbsbedingungen wie die heimischen Unternehmen tätig werden. Aus Sicht des Quellenstaates herrscht Kapitalimportneutralität.19 Die Herkunft spielt keine Rolle. Deutschland sieht daher in allen seinen Abkommen die Freistellung ausländischer Einkünfte von der deutschen Besteuerung vor, um die eigene Exportwirtschaft zu stärken. Dies kommt gleichzeitig den Quellenstaaten zu Gute, da sich die Investitionsanreize ohne „Hochschleusung“ direkt auf die Investoren auswirken. Da die Freistellungsmethode vom Besteuerungsrecht des Ansässigkeitsstaats fast nichts übrig lässt, kommt es allerdings zu keiner Teilung des Steuersubstrats. Das macht die Freistellung auch für Staaten wie Deutschland bei den Einkünften aus Zinsen, Dividenden und Lizenzgebühren weitgehend unannehmbar,20 da der Ansässigkeitsstaat durch die Zurverfügungstellung des Kapitals bzw. des Wissens einen essentiellen Beitrag zur Einkünfteerzielung geleistet hat. Ein Mittelweg zwischen Anrechnung und Freistellung bietett die Anrechnung fiktiver Quellensteuern. Der Ansässigkeitsstaat rechnet einen vereinbarten Quellensteuersatz an, ohne dass dieser vom Quellenstaat tatsächlich erhoben werden muss. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem fiktiv angerechneten Quellensteuersatz kommt dem Investor als steuerlicher Anreiz zugute, so dass dem Quellenstaat eine eigenständige steuerliche Investitionspolitik ermöglicht wird.21 Die sogenannten „tax sparing credits“ sind auf einzelne Steuersubventionen gerichtet und damit wenig transparent sowie komplex zu vollziehen. Beim sogenannten „matching credit“ wird hingegen allgemein eine höhere fiktive Steuer angerechnet als sie der ausländische Staat erhebt und teilweise sogar eine höhere als er sie nach dem DBA erheben darf. Die Anrechnung fiktiver Quellensteuern war mit Ausnahme der Abkommen der USA, die dieses Instrument strikt ablehnt,22 feste Praxis in Abkommen mit Entwicklungsländern.23 Brasilien beispielsweise fordert in ständiger DBA-Politik die Anrechnung fiktiver Steuern ein und vertritt dies insbesondere gegenüber Industrieländern mit Nachdruck.24 Die Anrechnung fiktiver Quellensteuern sah sich jedoch von Anfang an Kritik ausgesetzt, die seit den 1990er Jahren in einem Politikwechsel der entwickelten Länder gegen die Aufnahme und für die Abschaffung entsprechender Vorschriften kulminierte. Auch die deutsche DBA-Politik hat sich mittlerweile von der Anrechnung
19
Vgl. R.A. MUSGRAVE, Fiscal Systems, New Haven 1969, S. 254. Eine Ausnahme bilden z. B. Schachtelprivilegien für Dividenden, um die Bildung grenzüberschreitender Konzernstrukturen zu erleichtern. 21 Vgl. statt aller K. VOGEL, in: K. VOGEL / M. LEHNER, DBA, 52008, Art. 23 Rn. 192 ff. 22 Insbesondere beeinflusst durch S. SURREY, The United States Taxation of Foreign Income, The Journal of Law and Economics, Vol. 1, 1958, S. 72ff. 23 E.J. THIEN, Die Beurteilung der „Fiktiven Steueranrechnung“ unter besonderer Berücksichtigung ihrer Verwendung in Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) der Bundesrepublik Deutschland mit Entwicklungsländern, Frankfurt a. M. 1975, S. 81. 24 Vergleiche M. FLORET DE SILVA, Tax Treaty Policy in Latin America, in: M. STEFANER / M. ZÜGER, TaX Treaty Policy and Development, in: Schriftenreihe zum internationalen Steuerrecht 39, Wien 2005 , S. 203, 218f. 20
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fiktiver Quellensteuern abgewandt. Dieser Konflikt wurde in der deutschen Kündigung des Abkommens mit Brasilien 2005 offenbar.25 Die Kritik konzentriert sich auf den angeblichen Subventionscharakter der Anrechnung fiktiver Quellensteuern und der sich daraus a ergebenden Verzerrung der Investitions26 Die Anrechnung fiktiver Quellensteuern könne der Wirtschaft der entscheidungen. Entwicklungsländer schaden, da sie ein Anreiz zur schnellen Rückführung von Gewinnen in den Ansässigkeitsstaat (Repatriierung) bilde, die ansonsten langfristig im Land reinvestiert worden wären. Hinzu komme, dass die Anrechnung fiktiver Quellensteuern für den gewährenden Ansässigkeitsstaat weder beeinflussbar noch im Voraus berechenbar sei, sondern in ihren Auswirkungen allein von der Steuergesetzgebung des Entwicklungslandes abhängig sei. Schließlich könnten die Entwicklungsländer sich zu einem schädlichen Steuerwettbewerb animiert sehen, der auch das Steuersubstrat der entwickelten Länder erodieren könnte.27 Diese Kritik geht von der Prämisse aus, dass die Anrechnung fiktiver Quellensteuern als Geschenk und freigiebiger Akt der Entwicklungshilfe zu verstehen ist. Zudem wird der Wunsch der Entwicklungsländer, über niedrige Steuersätze Investitionen zu werben, als Subvention angesehen. Diese Sichtweise vergisst aber, dass die Steuern eine globaläquivalente Gegenleistung zur staatlichen Infrastruktur sind und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Staates mitbestimmen.28 „Matching credits“ unterhalb oder gleich den in den DBA vereinbarten Besteuerungsraten erlauben den Quellenstaaten ihre staatlichen Standortbedingungen abzubilden, ohne Gefahr zu laufen, Investitionsentscheidungen in ihrer Wirtschaft durch Einzelförderungen zu verzerren. Die Gefahr schnellerer Repatriierung von Gewinnen ist dabei nur die Kehrseite des bei der normalen Anrechnungsmethode drohenden gegenteiligen „lock-in“-Effekts: Kapital wird durch die drohende Mehrbelastung im Ansässigkeitsstaat entgegen der wirtschaftlichen Vernunft nicht repatriiert, sondern thesauriert oder reinvestiert. Ob der Investitionsanreizeffekt den Repatriierungseffekt überwiegt, muss letztendlich der wirtschaftspolitischen Abwägung des Quellenstaats überlassen werden, wenn man sich nicht den Vorwurf paternalistischer Bevormundung gefallen lassen will.29 Schließlich gibt es auch keine Nachweise für eine besondere Missbrauchsanfälligkeit. Die allen vorteilhaften Abkommensnormen gemeinen Missbrauchsgefahren können mit den üblichen Abwehrklauseln bekämpft werden.30 Die Anrechnung fiktiver Quellensteuern in Form des transparenten „matching credits“ sollte daher weiterhin als Instrument in Erwägung gezogen werden, um den Quellen25
Vgl. M. LEHNER / E. REIMER, IFA-Generalthema 1: Quelle versus Ansässigkeit – Wie sind die grundlegenden Verteilungsprinzipien im internationalen Steuerrecht austariert?, in IStR 2005, S. 542, 550. 26 OECD, Tax Sparing – A Reconsideration. 1999, S. 19, 22, 25. 27 OECD, Tax Sparing – A Reconsideration. 1999, S. 19, 27; S. SURREY, The United States Taxation of Foreign Income, The Journal of Law and Economics, Vol. 1, 1958, S. 72, 89. 28 Vgl. K.B. BROWN, Harmful Tax Competition: The OECD View, in Geo. Wash. J. Int’l L. & Econ. 32 (1999) , S. 311, 314. 29 Vgl. D.R. TILLINGHAST, Tax Treaty Issues, University of Miami Law Review 50, 1996, S. 455, 476. 30 Z. B. Aktivitätsklauseln oder limitation on benefits-Bestimmungen gegen treaty-shopping.
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staaten auch unter der Anrechnungsmethode ein Mindestmaß an Steuerautonomie als Entwicklungschance im internationalen Standortwettbewerb zu gewährleisten. Überschreitet die Anrechnungsrate wie im Fall des DBA Brasilien den dem Quellenstaat überhaupt zugeteilten Höchstsatz, geht es nicht mehr um die Respektierung nationaler Steuerautonomie, sondern um eine Subventionierung von Investitionen in den anderen Vertragsstaats. Solche Förderungsentscheidungen können je nach Entwicklung des anderen Staates wie im Fall Brasiliens Anpassungsbedarf hervorrufen.
III.2 Abbildung der Konflikte in den Musterabkommen der OECD und der UNO Die Doppelbesteuerungsabkommen sind komplex, auf Präzision angelegt und das Ergebnis mitunter langwieriger und schwieriger Verhandlungen über die Verteilung der Besteuerungsrechte. Um den Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen zu erleichtern und deren Struktur zu vereinheitlichen, publizieren internationale Organisationen Musterabkommen, die als Grundlage der Vertragsverhandlungen dienen. Das wichtigste Musterabkommen wird von der OECD herausgegeben und durch einen ausführlichen offiziellen Kommentar ergänzt. Das Musterabkommen verwirklicht die Vorstellungen der OECD-Mitgliedsstaaten, die ausschließlich entwickelte Industriestaaten sind.31 Es geht daher von zwei entwickelten Ländern mit ausgewogenen Wirtschaftsbeziehungen und Handelsbilanzen als Vertragspartnern aus. Für die asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen einem entwickelten Land und einem Entwicklungsland werden die Vorschriften als weniger geeignet angesehen.32 Während die Entwicklungsländer von der OECD zwar beteiligt und gehört werden, aber letztlich Nichtmitglieder bleiben, bietet die UNO ein Forum gleichberechtigter Diskussion zur Kompromissfindung, das 1980 zur Ausarbeitung und Publizierung eines eigenen UN-Musterabkommens genutzt wurde. Der im UN-Musterabkommen gefundene Kompromiss geht vom OECD-Musterabkommen aus, modifiziert die Verteilungsentscheidungen aber zu Gunsten weitergehender Besteuerungsrechte des Quellenstaates, also typischerweise des Entwicklungslandes. Die meisten Entwicklungsländer übernahmen das UN-Musterabkommen als Grundlage r ihrer nationalen DBA-Politik. Als Ergänzung zu ihrem Musterabkommen gibt die UNO ein Handbuch für DBAVerhandlungen zwischen Entwicklungsländern und entwickelten Ländern heraus.33 Dieses versucht dem Wissens- und Informationsunterschied in den Verhandlungen entgegenzuwirken. Entwickelten Staaten stehen in der Regel funktionierende wie spezialisierte Finanzverwaltungen mit Fachabteilungen für das Internationale Steuerrecht zur Verfügung. OECD-Staaten partizipieren zudem an dem Wissensmonopol der OECD in Fragen der Doppelbesteuerungsabkommen. Entwicklungsländer besitzen in der Regel kein vergleichbares Spezialwissen. Das UN-Handbuch versucht dieses „intellektuelle“ Verhandlungsungleichgewicht abzumildern. 31 Durch die Aufnahme Koreas und Mexikos öffnete f sich die OECD in gewissem Maße in Richtung der aufstrebenden Schwellenländer und ihren Interessen. 32 Vgl. aus jüngerer Zeit B. KOSTERS, The United Nations Model Tax Convention and its recent developments, APTB 2004, S.4. 33 UN, Manual for the Negotiation of Bilateral Tax Treaties between Developed and Developing Countries, 2003; erhältlich unter http://www.unpan.org/analytical_report.asp.
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III.3 Empirische Analysen der Konfliktlösung in der Vertragspraxis Der empirische Vergleich der Abkommenspraxis mit den beiden Musterabkommen in ihren unterschiedlichen Gewichtungen als Referenz zeigt auf, in welchem Maße die Entwicklungsländer anhand des UN-Musters ihre Interessen durchgesetzt haben. Verschiedene Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Modifikationen des UN-Musterabkommens gegenüber dem OECD-Musterabkommen auch in der Vertragspraxis breite Anwendung finden (je nach Einzelnorm zwischen 20-65%).34 Dies gilt insbesondere auch für die deutsche Abkommenspolitik, die zwar vom OECD-Musterabkommen ausgeht, aber gegenüber Entwicklungsländern eine große Anzahl von Regelungen aus dem UN-Musterabkommen ohne große Vorbehalte akzeptiert.35
IV. Analyse der rechtlichen Instrumente IV.1 Der völkerrechtliche Vertrag Die Doppelbesteuerungsabkommen sind völkerrechtliche Verträge, die in aller Regel bilateral geschlossen werden. Das Internationale Steuerrecht profitiert davon, dass es sich über die Doppelbesteuerungsabkommen die Rechtstechnik des parteiautonomen Vertrags zu Eigen gemacht hat. Durch die Vertragsform können beide Staaten ihre gegenseitigen Interessen einbringen und konsensual zu einem Kompromiss führen. Da es beiden Staaten offen steht, die Verhandlungen abzubrechen, eine Revisionsverhandlung zu fordern oder den Vertrag notfalls zu kündigen, bleibt es beiden Staaten unbenommen ein Mindestmaß ihrer Interessen durch unilaterale Alternativmaßnahmen (z. B. einseitige Anrechnung oder Abzug) zu wahren. Die Alternativmöglichkeiten beider Seiten begrenzen den Kompromisskorridor und sorgen für ein gewisses Mindestmaß an Gerechtigkeit im Verhandlungsergebnis. Dass ungleiche Verhandlungsgewichte diese „Vertragsgerechtigkeit“ beeinträchtigen, ist Gemeinplatz des zivilrechtlichen Vertragsrechts. Die Abkommenspolitik der USA mit ihrer Betonung der Ansässigkeitsbesteuerung und insbesondere dem autonomiefeindlichen Beharren auf der Anrechnungsmethode mag man als Beispiel dafür sehen. Die empirische Betrachtung der Abkommenspraxis Deutschlands zeigt aber, dass stärkere Verhandlungspartner auch auf die Belange der schwächeren Rücksicht nehmen, auch bzw. gerade wenn sie nicht völlig uneigennützig, sondern zu Gunsten ihrer Exportwirtschaft handeln. Entwicklungs- und Schwellenländer haben durch ihre bestehende oder zu erwartende (export)wirtschaftliche Bedeutung daher keine völlig unbedeutende Verhandlungsposition,36 die sie über die Vertragsform zu ihren Gunsten einbringen können. Sehr schwach entwickelte „least developed countries“, an denen auf absehbare 34
W.F.G. WIJNEN / M. MAGENTA, The United Nation Double Taxation Convention between Developed and Developing Countries in Practice, BIFD 1997, S. 574ff.; E. VAN DER BRUGGEN, Tax Treaty Renegotiations by Developing Countries: A Case Study Using Comparative Analysis to Assess the Feasibility of Achieving Policy Objectives, APTB 2002, S. 255ff. 35 D. ENDRES, Direktinvestitionen in Entwicklungsländer, München 1986, S. 171, 174ff. 36 Vgl. J. HÖFER, Deutsche Doppelbesteuerungsabkommen, in: Unternehmen Steuern, Festschrift für Hans Flick, Köln 1997, S. 805, 808.
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Zeit kaum wirtschaftliche Interessen bestehen, können diesen Vorteil natürlich nicht in Anspruch nehmen. Bei diesen Ländern ist der Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen allerdings auch nicht erste Priorität, da in aller Regel erst ein funktionierendes Steuer- und Steuerverwaltungssystem aufgebaut werden muss. Hier sollte Entwicklungshilfe in Form von Politik- und Verwaltungsberatung im Vordergrund stehen.37
IV.2 Vertragsmuster und Musterkommentare: „Soft law“ internationaler Organisationen Neben den völkerrechtlichen Verträgen spielen die Musterabkommen der OECD und der UNO und die jeweiligen offiziellen Kommentare oder Handbücher eine große Rolle. Beide Musterabkommen sind unverbindliche Empfehlungen. Hinsichtlich des OECDKommentars wird eine eingeschränkte Berücksichtigungspflicht zwischen OECD-Mitglieder angenommen, bei Nicht-OECD Mitgliedern kann der Kommentar im Rahmen der juristischen Auslegung Berücksichtigung finden.38 Musterabkommen und Kommentare sind damit völkerrechtliches „soft law“, also Recht ohne direkte Verbindlichkeit. Trotzdem oder gerade deswegen sind sie von großer Bedeutung für den Abschluss der Doppelbesteuerungsabkommen. Die Musterabkommen senken den angesichts der komplexen Materie hohen Aufwand der Vertragsverhandlungen und ermöglichen damit auch kleineren und ärmeren Staaten Aufbau und Pflege von Abkommensnetzen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen des OECD- und des UN-Musterabkommens beschreiben den Kompromissrahmen, in dem die Interessen von entwickelten Ländern und Entwicklungsländern artikuliert und zum Ausgleich gebracht werden. Hierin bestätigt sich die Beobachtung SchmidtAßmanns, dass „soft law“ ein sinnvolles Instrument ist, um in konsensualen Verfahren „eine strukturierte Interessendarstellung zu ermöglichen, Beobachtungsebenen einzuziehen und Argumentationslasten zu verteilen.“39 Eine zweite wichtige Funktion der Musterabkommen ist die weitgehende Harmonisierung des Vertragsinhalts und vor allem der Rechtstechniken. Den Vertragspartnern stehen weitgehende standardisierte Rechtstechniken zur Verfügung, die „nur noch“ mittels der beschriebenen Stellschrauben an die spezifische Interessenlagen angepasst werden müssen. Dies erleichtert die Rechtsanwendung und das Zusammenspiel der Abkommen in Mehrstaatenfällen. Die Musterabkommen erfüllen damit auch den Zweck des „soft law“, als Instrument zur flexiblen Rechtsbildung im polyzentrischen System des Völkerrechts zu dienen.40 Die offiziellen Kommentare und Handbücherr sind weitere essentielle Bausteine für den Erfolg der Doppelbesteuerungsabkommen. Zum einen bündeln sie Spezialwissen und stellen dieses auch gerade kleineren und ärmeren Ländern zur Verfügung, denen es an entsprechenden Spezialisten mangelt. Zum anderen bieten sie eine Grundlage für eine autonome und damit in beiden Vertragsstaaten gleichmäßige Auslegung der Verträge, 37 38 39 40
Vgl. H. EDLING / E. FISCHER, Steuerverwaltung und Entwicklung, Baden-Baden 1991 , passim. Vgl. statt aller K. VOGEL in K. VOGEL / M. LEHNER, DBA, 52008, Einleitung Rn. 124b ff. E. SCHMIDT-AßMANN in diesem Band, S. 88. E. SCHMIDT-AßMANN in diesem Band, S. 88.
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um Doppelbesteuerung in Folge von unterschiedlichen Auslegungen (Qualifikationskonflikte) zu vermeiden. Der Bedeutung dieses „soft law“ entspricht die Bedeutung ihrer Urheber, der OECD und der UNO, so dass auch schon von der „Entstaatlichung des Rechts der Doppelbesteuerungsabkommen“ geschrieben wurde.41 Sowohl bei den Musterabkommen als auch bei den Kommentaren handelt es sich um eine stark technisch geprägte Sekundärrechtsetzung, die in beiden Organisationen durch Experten ausgearbeitet und von Fachausschüssen beschlossen wird. Die OECD hat sich durch ihr Expertenwissen eine machtvolle Alleinstellung erarbeitet, so dass sich die UN auf reagierende Modifikationen der OECD Vorschläge beschränken musste. Da die OECD nur entwickelte Länder aufnimmt und nur diese Stimmrechte haben, ist ihre demokratische Legitimation angesichts der weltweiten Folgen ihrer Arbeit gering. Das Musterabkommen der UNO hat hier trotz seiner Beschränkungen ein heilsames Gegengewicht gebildet. Gerade weil die OECD zunehmend auch auf die Mitarbeit der Entwicklungsländer in der Eindämmung von Steueroasen und „unfairen“ Steuerwettbewerbs angewiesen ist, bemüht sie sich um zusätzliche Legitimation durch eine Beteiligung von Nichtmitgliedern und der Öffentlichkeit im Normsetzungsverfahren und einem Eingehen auf einzelne Positionen der Schwellen- und Entwicklungsländer.42 Eine Kontrolle der Rechtssetzung der internationalen Organisationen findet schließlich in den Abkommensverhandlungen statt, in denen auf die Übernahme bestimmter Positionen verzichtet und dies im Text klargestellt werden kann. Eine entsprechende Korrektur des Abkommensmusters sorgt allerdings für Argumentationslasten in den Verhandlungen und ist damit letztlich nur konsensual möglich. Angesichts dieser faktischen Wirkmächtigkeit bleibt die begrenzte Legitimation der OECD ein Problem. Da sich die OECD entsprechend ihrer primären Rolle als Interessenvertretung der Industriestaaten nur begrenzt weiter öffnen kann, wäre eine Verstetigung und Stärkung der Arbeiten der UNO zu begrüßen.
IV.3 Erweiterung des Völkergewohnheitsrechts als Perspektive? Avi-Yonah fordert angesichts des weltweit anerkannten Erfolgs der Doppelbesteuerungsabkommen und ihres dank der Musterabkommen harmonisierten Inhalts die Anerkennung der Grundzüge des sich herausbildenden Regelungsmusters als Völkergewohnheitsrecht.43 Dazu bedürfe es einer „opinio juris“ der Staaten, also eines Abschlusses entsprechender Vertragsbestimmungen aus der Annahme rechtlicher Verpflichtung. Da die Stärke der konsensualen Vertragsform gerade darin liegt, dass auf die spezifischen Interessen und Bedürfnisse beider Parteien eingegangen werden kann, dürfte das Völkergewohnheitsrecht nur die Grundzüge und Rahmenvorgaben eines Minimalkonsenses enthalten, wie er beispielweise in den gemeinsamen Grundlagen des OECD- und 41
E. REIMER, Transnationales Steuerrecht, in C. MÖLLERS / A. VOSSKUHLE / C. WALTER, Internationales Verwaltungsrecht, Tübingen 2007 , S. 181, 187. 42 Vgl. am Beispiel der Ausweitung der Betriebsstättendefinition S. BENDLINGER, Die Dienstleistungsbetriebsstätte im DBA-Recht, SWI 2007 , S. 151, 157f. 43 R.S. AVI-YONAH, International Tax as International Law, Cambridge 2007 , S. 5, 187 f.
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des UN-Musterabkommens sichtbar wird. Der Nutzen eines Minimalkonsenses unter Ausklammerung aller Konflikte ist jedoch fraglich. Das durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge in Kraft gesetzte „soft law“ der Musterabkommen wird daher weiterhin der wesentliche Beitrag des Rechts zur Förderung einer gerechten internationalen Besteuerung darstellen. III. Fazit und Ausblick Das Internationale Steuerrecht hat mit Hilfe f des „soft law“ der Musterabkommen den „klassischen“ völkerrechtlichen Vertrag als Form und die bilaterale Vertragsverhandlung als Verfahren etabliert, die ein gewisses Mindestmaß an Verteilungsgerechtigkeit ermöglichen. Die empirische Auswertung der Vertragspraxis belegen den Erfolg der Doppelbesteuerungsabkommen: in einem weltumspannenden Netz vermindern sie die verzerrenden steuerlichen Benachteiligungen und Bevorzugungen grenzüberschreitenden Wirtschaftens. Die Auswertung zeigt auch, dass die Belange der Entwicklungsländer trotz ihres grundsätzlich geringeren Verhandlungsgewichts berücksichtigt werden. Die Bedeutung der steuerpolitischen Autonomie der Entwicklungsländer und die damit verbundene Entwicklungschancen werden jedoch in vielen Fällen verkannt, auch wenn sie teilweise im Interesse der Exportwirtschaft der entwickelten Länder gewahrt wird. Die eher positive Bilanz der Vergangenheit muss sich in Gegenwart und Zukunft im Angesicht neuer Herausforderungen an das internationale Steuerrecht bewähren. Die zunehmende Mobilität des Kapitals und die Erleichterung weltweiter Arbeitsteilung durch billigere Transport- und Telekommunikationsmöglichkeiten verschärfen den Standortund damit auch den Steuerwettbewerb zwischen den Staaten. Da es jedoch mobilere und weniger mobilere Produktionsfaktoren gibt, ist der Steuerwettbewerb verzerrt.44 Mobile Faktoren wie Kapital und Wissen können sich durch Verlagerung relativ einfach dem staatlichen Solidarverband entziehen, während eher immobile Faktoren wie Arbeit dies nicht können. Die Folge ist nicht nur eine ungerechte Umverteilung der nationalen Steuerlast zu Lasten der immobilen Faktoren, die Staaten untereinander können auch gegenseitig in einem Gefangenendilemma um die niedrigste Steuerbelastung ausgespielt werden. Der weltweite Trend zu einer niedrigeren Unternehmens- und Kapitalbesteuerung verschärft die Verteilungskonflikte zwischen den Staaten. „Steuerdumping“ auch entwickelter Länder beschränkt die Möglichkeit der Entwicklungsländer, ihre schlechteren Infrastrukturbedingungen in der Steuerbelastung abzubilden. Die Doppelbesteuerungsabkommen mildern die sich verschärfenden Verteilungskonflikte, da die Vertragsform die gemeinsamen Interessen bündelt und die stabilisierende vertragliche Bindung nicht leichtfertig gekündigt wird. Das Verhandlungsgewicht der Schwellen- und Entwicklungsländer ist durch die zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtung und das Kooperationsinteresse der entwickelten Länder zur Ein44 Vgl. P. KIRCHHOF, Die Steuern, in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 32007, § 118 Rn. 4; H.W. SINN The selection principle and market failure in systems competition, in: Journal of Public Economics 66, 1997 , S. 247, 262ff; B. HOHAUS, Steuerwettbewerb in Europa, Frankfurt a. M. 1996, S. 140, 154f, 161, 183ff.
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dämmung des Steuerwettbewerbs und von Steueroasen tendenziell gestiegen. Die Vertragsform kanalisiert und konsolidiert die Interessenkonflikte und trägt so zu deren Lösung oder Milderung bei. Das Bedürfnis nach einer Wettbewerbsordnung, die einerseits einen verzerrten und zu Lasten aller Staaten gehenden Steuerwettbewerb vermeidet, andererseits ärmeren Ländern über einen auf steuerlicher Autonomie basierenden Standortwettbewerb Entwicklungschancen eröffnet, bleibt jedoch eine offene Herausforderung für das Internationale Steuerrecht.
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Religionsbasierte Akteure auf dem Feld internationaler Gerechtigkeit MARKUS WEINGARDT
Inhalt I. II. III. IV.
Einleitung Internationale Gerechtigkeit: Handlungsbereiche religionsbasierter Akteure Internationale Gerechtigkeit: Interventionsmöglichkeiten religionsbasierter Akteure Fazit und Ausblick
Si vis pacem cole iustitiam1
I. Einleitung Es ist wahrlich kein neuzeitliches Phänomen, dass Religionen zu Unfrieden und Ungerechtigkeit in der Welt beitragen. Schon die Jahrtausende alten heiligen Schriften und Überlieferungen aller großen Religionen berichten von Gewalt im Auftrag Gottes, von Unterdrückung und Ausbeutung in seinem Namen. Über alle Jahrhunderte und bis heute ist zu beobachten, wie religiöse Überzeugungen Herrschaftsf und Gesellschaftssysteme prägen, wie sie politische Entscheidungen beeinflussen – auch und gerade jene über Krieg und Frieden, über Gleichberechtigung oder Diskriminierung, über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Politischen Extremisten bietet sich „Religion“ noch besser als säkulare Ideologien an, Anhänger zu mobilisieren, deren Opferbereitschaft zu steigern und ihre Ziele „im Namen Gottes“ rascher oder effektiver zu erreichen.2 Religiöse Eiferer können sich umgekehrt der Politik bedienen, um im Namen der Freiheit, der nationalen Sicherheit, Wohlfahrt oder Ehre ihre religiösen Vorstellungen zu verbreiten und konkurrierende Religionsgemeinschaften zu schwächen, sie gar zu vernichten.
1 „Wenn du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit.“ Inschrift auf dem Friedenspalast zu Den Haag (1913) sowie auf dem Grundstein des Gebäudes der International Labour Organization ILO (gegr. 1919) in Genf. 2 Vgl. V. RITTBERGER, / A. HASENCLEVER, Religionen in Konflikten – Religiöser Glaube als Quelle von Gewalt und Frieden, in: Politisches Denken: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens 2000, Stuttgart 2000, S. 35–60.
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Die heiligen Schriften berichten aber ebenso, dass im Namen desselben Gottes zu Frieden und Gerechtigkeit aufgerufen und diesem Aufruf gefolgt wird. Auch die politische Geschichte ist voller Beispiele, dass religiöse Werte oder Überzeugungen ein gewaltloses, friedliches Verhalten bewirkten und zu gerechteren Herrschafts- oder Gesellschaftsstrukturen beitrugen: Dank religiöser Akteure wurden Kriege abgewendet oder beendet, inner- und zwischenstaatliche Versöhnung gestiftet, Systemwechsel ermöglicht oder friedlich gestaltet, gewaltlosen Widerstandsbewegungen gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zum Erfolg verholfen. Strikte Gewaltlosigkeit zeichnet die historischen Friedenskirchen ebenso aus wie den gegenwärtigen Dalai Lama. Die Herausbildung der Demokratie und Sozialgesetzgebung in Mitteleuropa steht in engem Zusammenhang mit der abendländischen Religionsgeschichte und dem Einfluss der christlichen Kirchen in Europa. Mahatma Gandhi schließlich ist weltweit zum Synonym geworden für einen religiös geprägten, gewaltlosen Kampf für Frieden und Gerechtigkeit. Diese Ambivalenz von Religionen – ihr Konflikt- und Friedenspotential – hat im wissenschaftlichen wie im politischen Raum prinzipielle Anerkennung gefunden, gleichwohl ist der Fokus weitgehend auf das Konfliktpotential gerichtet. Dem lange postulierten Bedeutungsverlust von Religionsgemeinschaften folgte die nur scheinbar überraschende „Rückkehr der Religionen“3 in die politische Arena. Weltweit betrachtet sind Religionsgemeinschaften stets auch politisch relevante Kräfte gewesen; ihre „Rückkehr“ ist darum weniger ein politisches Wiedererstarken als vielmehr erstarkte Wahrnehmung von Religion durch Medien, Wissenschaft und Politik. Die Hauptgründe der wachsenden Aufmerksamkeit für die politische Relevanz religiöser Akteure liegen allerdings in deren negativen Ausdrucksformen: die Errichtung eines totalitären ‚Gottesstaates‘ durch die iranische Revolution unter Ayatollah Khomeini, die Kriege zwischen römisch-katholischen Kroaten, serbisch-orthodoxen Serben und muslimischen Bosniaken im zerfallenden Jugoslawien, der Anschlag von Islamisten auf das World Trade Center in New York im September 2001 und zahlreiche weitere religiös begründete Terroranschläge in aller Welt.4 So ist es weder zufällig noch verwunderlich, dass sich die mediale und wissenschaftliche Auseinandersetzung auf das Gewalthandeln religiöser Akteure konzentriert und Religionen überwiegend im Ruf politisch gefährlicher, destruktiver und konfliktverschärfender Kräfte stehen. „Keine Kriege ohne Religionen“ und „Eine gefährliche Kraft“ überschrieb selbst die friedensorientierte „Zeitung kritischer Christen“ – Publik-Forum – jüngst Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik.5 Doch indem „Religion als besonders effektiv für die Legitimation von Gewalt wahrgenommen 3 Vgl. M. RIESEBRODT, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der ‚Kampf der Kulturen‘, München 22001. 4 Vgl. Th. MEYER, Religion und Politik. Ein neu belebtes Spannungsfeld, Berlin 2007. S. 3; S. SCHMIDT, Ursachen und Konsequenzen des Aufstiegs religiöser Orientierungen in der internationalen Politik, in: M. BROCKER / H. BEHR / M. HILDEBRANDT (Hg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik, Wiesbaden 2003, S. 295–318, hier S. 295f. 5 Th. SEITERICH, Keine Kriege ohne Religionen, in: Publik-Forum Nr. 2/2008: 19; B. BAAS, / Th. SEITERICH, Eine gefährliche Kraft, in: ebd., S. 20–23. Mit dem Titel „Die Macht der Angst“ (BRITTA BAAS, ebd., S. 18f.) war auch der dritte Beitrag negativ überschrieben.
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wird“,6 drängt sich zugleich die Frage nach der Effektivität von Religion in Friedensund Entwicklungsprozessen auf. Dieser Frage weicht die Forschung jedoch aus, ignoriert oder marginalisiert sie. Solche Nichtachtung oder Geringschätzung des konstruktiven Einflusses von Religion auf (nichtt nur gewaltförmige) politische Konflikte trägt dazu bei, dass religiöse Akteure ihr Friedens- und Gerechtigkeitspotential nicht weiterentwickeln und häufiger bzw. effektiver in entsprechende Prozesse einbringen können. Im Folgenden soll darum das Augenmerk auf signifikante Beiträge religiöser bzw. religionsbasierter Akteure zu (mehr) Gerechtigkeit auf internationaler Ebene gerichtet werden.7
II. Internationale Gerechtigkeit: H Handlungsbereiche religionsbasierter Akteure Die in diesem Band versammelten Beiträge verdeutlichen, wie vielschichtig der Begriff der „Gerechtigkeit“ ist, und wie schwierig, vielleicht unmöglich es ist, ein umfassendes Begriffsverständnis zu formulieren. In der politik- und religionswissenschaftlichen Forschung lassen sich jedoch drei zentrale gerechtigkeitsrelevante Handlungsbereiche bzw. Wirkungsfelder religiöser Akteure unterscheiden: a) Gerechtigkeit und Frieden/konstruktive Konfliktbearbeitung: Frieden sei hier zuerst verstanden als die Abwesenheit physischer Gewalt oder Gewaltdrohung, darüber hinaus aber als ein Zustand, der jedem Menschen den Genuss von grundlegenden Freiheiten, unveräußerlichen Rechten und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten erlaubt („positiver Frieden“). Konstruktive Konfliktbearbeitung bedeutet gewaltlose Methoden der Konfliktlösung, die solche Elemente positiven Friedens bereits während der Bearbeitungsprozesse berücksichtigen. b) Gerechtigkeit und sozioökonomische Entwicklung: Die Entwicklung wirtschaftlicher, sozialer und damit auch kultureller Bedingungen in einer Gesellschaft muss idealiter so gestaltet werden, dass jeder Mensch die Möglichkeit bekommt, seine persönlichen Interessen und Potentiale zu entfalten (ohne dabei die Rechte Anderer zu verletzen).8 6 A. GRIESER, „Frieden, Konfliktlösung und Religion: Plausibilisierungsprozesse in modernen Friedensbewegungen“, in: V. N. MAKRIDES / J. RÜPKE (Hg.), Religionen im Konflikt. Münster 2005, S. 181–199, hier S. 182. 7 Unter religionsbasierten Akteuren (hier synonym mit ‚religiöser Akteur‘ verwendet) werden dabei über anerkannte Religionsgemeinschaften aus den Weltreligionen und (inter-) religiöse Institutionen bzw. deren Vertreter hinaus auch Institutionen, Initiativen, Bewegungen oder Einzelpersonen verstanden, deren Friedensarbeit ausdrücklich und umfassend auf religiösen Grundlagen basiert (d. h. auf Schriften, Überlieferungen, Lehren und Traditionen anerkannter Weltreligionen) und notwendig aus den jeweiligen Glaubensüberzeugungen resultiert, ohne dass sie durch institutionelle, personelle, materielle oder finanzielle Abhängigkeit an andere religiöse Institutionen gebunden wären. 8 Ausführlicher zum Zusammenhang von Frieden, Gerechtigkeit und Entwicklung vgl. Evangelischer Entwicklungsdienst EED (Hg.), Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein. Arbeitsbericht 2002/2003, Bonn 2003; ferner B. BOUTROS-GHALI, Agenda für den Frieden, Agenda für Entwicklung. Berlin 1995; T. PAFFENHOLZ / L. REYCHLER, Aid for Peace. A Guide to Planning and Evaluation for Conflict Zones, Baden-Baden 2007. S. 7f., 104ff.
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c) Gerechtigkeit und Recht(e): Dies umfasst eine Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung, die auf Basis der Gleichheit „an Würde und Rechten“ jeder Person – ungeachtet deren „Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“9 – die Wahrnehmung unveräußerlicher Menschenrechte ermöglicht, wie sie beispielsweise in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 formuliert wurden.10 Fragen der Gerechtigkeit werden in den genannten politischen Kontexten dann als Problem wahrgenommen, wenn sie – wie auch immer geartete – Konflikte hervorrufen: Konflikte um Herrschaftssysteme, Rechtsauffassungen, Güterverteilung, politische Partizipation und anderes mehr. Entsprechend lenkt die Untersuchung von politisch relevanten Gerechtigkeitsdefiziten den Blick unausweichlich auf Konfliktkonstellationen, die zwar nicht zwangsläufig gewaltförmig ausgetragen werden, jedoch ein erhebliches Gewaltpotential bergen oder entwickeln können. Darum ist eine scharfe Trennung der drei Handlungsbereiche nicht immer möglich und es mag der Eindruck der ‚Konfliktlastigkeit‘ der folgenden Erörterungen entstehen. Dennoch erweist sich diese Differenzierung als hilfreich, um religionsbasierte Gerechtigkeitsbeiträge zu erklären.11
III. Internationale Gerechtigkeit: Interventionsmöglichkeiten religionsbasierter Akteure Die Untersuchung konstruktiver religionsbasierter Einflussnahme in politischen Gewaltund Gerechtigkeitskonflikten offenbart eine enorme Bandbreite von Interventionsarten, -methoden und -instrumenten.12 Welche Vorgehensweise den größten Erfolg verspricht, hängt neben den verschiedenen Handlungsfeldern wesentlich von den jeweiligen Konflikt- und Akteurskontexten ab. Darum ist weder eine allgemeingültige Typologisierung 9
Aus Art. 1 und 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948. URL: http://www.unhchr.ch/udhr/lang/ger.htm r (Rev. 20.10.2008). Die von Beginn an kontroverse Diskussion über die in der UNO-Menschenrechtsdeklaration genannten Rechte und ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit soll hier nicht referiert werden, da in diesem Beitrag nicht der Inhalt einzelner Rechte, sondern das Politikfeld der Menschenrechte behandelt wird (vgl. F. W. GRAF, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. Bonn 2004, S. 210ff.; vgl. auch den Beitrag von MICHAEL EMPELL in diesem Band). 10 Otfried Höffe nennt eine Reihe von Gerechtigkeitsprinzipien in Legislative und Judikative, die über Zeiten, Kulturen und Religionen hinweg Gültigkeit besitzen, und erkennt darin einen „Kern der Gerechtigkeit als gemeinsames Erbe der Menschheit“: „Der unvoreingenommene Blick ignoriert nicht ... zahlreiche Gemeinsamkeiten. Er sieht vielmehr, dass die Gerechtigkeit als gemeinsames Erbe der Menschheit noch weit größer ist. ... Die Liste der Gemeinsamkeiten ist lang, die eine Gerechtigkeitswelt erstaunlich groß.“ (O. HÖFFE, Normative Modernisierung in der einen Welt mit Recht auf Distanz, in: H. KÜNG / D. SENGHAAS (Hg.), Friedenspolitik. Ethische Grundlagen g internationaler Beziehungen, München 2003, S. 145–160, hier S. 154). 11 Vgl. J. GALTUNG, Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998. 12 Vgl. M. WEINGARDT, RELIGION MACHT FRIEDEN. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 373–394.
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der effektivsten Instrumente noch des Zusammenhangs von Konflikt, Akteur und Methode möglich. Gleichwohl lassen sich wiederum drei Vorgehensweisen religionsbasierter Akteure unterscheiden: 1) Religiös-theologische Stellungnahmen, 2) politische Stellungnahmen und Aktivitäten, und 3) die Übernahme politischer Ämter und hoheitlicher Funktionen. Diese Interventionsarten sollen im Folgenden erläutert und anhand konkreter Beispiele (auf den genannten Handlungsfeldern) veranschaulicht werden.
III.1 Religiös-theologische Stellungnahmen Religionsvertreter genießen vielfach den Ruf einer moralischen Autorität, auch über die Grenzen der eigenen Religionsgemeinschaft hinaus. Als solche beruht ihre Macht nicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt, sondern auf ihrer Glaubwürdigkeit und Überzeugungsfähigkeit. Die ‚Kraft des Wortes‘ dient religionsbasierten Akteuren in besonderer Weise als Instrument, innerreligiöse, gesellschaftliche und politische Diskussionen und Entscheidungen zu beeinflussen: durch die Auslegung religiöser Schriften, durch (Neu-) Interpretation religiös-kultureller Traditionen, durch mündliche oder schriftliche Erklärungen – sei es ‚kraft Amtes‘ oder als unabhängige Initiative (zum Beispiel ‚Kirche von unten‘). Solche Stellungnahmen können aktuelle Probleme oder prinzipielle Fragestellungen behandeln, an eine konfliktspezifische Zielgruppe gerichtet oder von allgemeinem Charakter sein. Abhängig von Thema, Autor, Adressat, Inhalt, medialer Rezeption u.a.m. können solche Verlautbarungen von langfristig-mittelbarer wie unmittelbarer, spontaner Bedeutung für politische Entscheidungs- bzw. Willensbildungsprozesse und gesellschaftliches Zusammenleben sein.13 III.1.1 Religiös-theologische Stellungnahmen im Bereich des Friedens Grundsätzliche Erklärungen friedenstheologischen oder friedensethischen Inhalts sind naturgemäß zumeist weniger auf akute Einzelkonflikte bezogen, sondern sollen primär innerreligiöse Diskussionen anregen und beeinflussen. Dies trifft beispielsweise für die Dekade des Weltrates der Kirchen (WCC) „Überwindung von Gewalt“ (2001–2010) oder die EKD-Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (Berlin 2007) zu, ebenso für frühere Denkschriften oder Hirtenbriefe der evangelischen bzw. katholischen Kirche in Deutschland.14 Wesentlich mehr Aufmerksamkeit erregte allerdings die umstrittene „Regensburger Rede“ (12. September 2006) von Papst Benedikt XVI., in der er einen spätmittelalterlich-byzantinischen Kaiser mit despektierlichen Äußerungen über den Islam zitierte und damit große Empörung auf islamischer Seite provozierte.15 In der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden hingegen die sehr besonnenen Reaktionen einflussreicher muslimischer Geistlicher aus aller Welt, so etwa 13
Vgl. dazu auch den Beitrag von HANS DIEFENBACHER R und VOLKER TEICHERT T in diesem Band. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland EKD (Hg.) 1994: Schritte auf dem Weg des Friedens. EKD-Texte 48, Hannover; Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) 2000: Gerechter Friede. Erklärung der katholischen Bischöfe der Bundesrepublik Deutschland im September 2000. Bonn. 15 Vgl. BENEDIKT XVI., „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen.“ Rede an der Universität Regensburg am 12.09.2006. URL: http://www.vatican.va/holy_father/ benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20060912_university-regensburg_ t ge.html (Rev. 20.10.2008). 14
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ein Offener Brief von knapp 40 Gelehrten und Großmuftis16 oder der ein Jahr später veröffentlichte „Brief der 138“, dessen hochrangige Unterzeichner verschiedenste muslimische Strömungen und Staaten repräsentieren.17 Ähnlich ignoriert wurde auch die „Sensation von Istanbul“:18 In der ‚Topkapi-Erklärung‘ (Istanbul, 2. Juli 2006) distanzierten sich fast alle führenden europäischen Muslime in äußerster Klarheit und theologisch begründet von aller Gewalt im Namen des Islam, verurteilten diese vielmehr als Missbrauch und „Verdrehung“ der Lehre des Islam.19 Im Gegensatz zu solchen sehr grundsätzlichen Stellungnahmen, beziehen sich Deklarationen auf regionaler oder nationaler Ebene meist auf konkrete und akute Gewaltkonflikte. Dies gilt insbesondere für interreligiöse Initiativen der Konfliktbearbeitung, denen seit einigen Jahren zunehmende friedenspolitische Bedeutung zukommt. Die zumeist von der World Conference off Religions for Peace (WCRP) initiierten, jedoch selbständigen nationalen Interreligious Councils beziehen sich zwar auf konkrete Gewalt- oder Gerechtigkeitskonflikte in ihrem Land, doch sind ihre Stellungnahmen und Aktivitäten immer zuerst und explizit religiös begründet.20 Alleine der Umstand, dass sich hochrangige Geistliche verschiedener, vielleicht einst verfeindeter Religionsgemeinschaften auf eine gemeinsame theologische Erklärung verständigen, hat eine große Symbolkraft. In religiös aufgeladenen Konflikten wie in Sri Lanka, Liberia oder im ehemaligen Jugoslawien wurde damit gezeigt, dass auch mit Andersgläubigen durchaus eine Verständigung möglich und von der religiösen Führung gewünscht ist. In anderen Konflikten (in religiös oder konfessionell gemischten Gesellschaften) konnte mit interreligiösen Initiativen einer religiösen Aufladung vorgebeugt werden, beispielsweise in Sierra Leone oder Albanien. Zudem machen sich Religionsgemeinschaften durch interreligiöse Zusammenarbeit bewusst zu „Anwälten der Andersgläubigen“,21 was vor allem bei ethnischen oder religiösen Minderheiten sehr vertrauensbildend wirken kann.
16 „Offener Brief islamischer Gelehrter an Papst Benedikt XVI.“, veröffentlicht am 12. Oktober 2006; vgl. http://www.al-sakina.de/inhalt/artikel/vernunft_glaube/offener_brief/offener_brief.html (Rev. 20.10.2008) 17 „Ein Gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch“, URL: http://www.acommonword.com (Rev. 20.09.2008); deutsche Übersetzung unter http://www.acommonword.com/lib/downloads/ gemeinsames_wort.pdf (Rev. 20.10.2008) 18 J. LAU, „Keine Gewalt“, in: Die Zeit vom 06.07.2006, URL: http://www.zeit.de/2006/28/ Tagung-Muslime?page=all g (Rev. 20.10.2008) 19 Text der Topkapi-Erklärung (engl.) unterr http://ammanmessage.com/index.php?option= com_content&task=view&id=39&Itemid=34&lang=en; vgl. http://volksgruppen.orf.at/diversity/ stories/52857/ (Rev. jeweils 20.10.2008). 20 Vgl. die „Statements of Shared Moral Commitment“ der Interreligiösen Räte von BosnienHerzegowina oder Albanien. Darin bekennen sich diese zu gemeinsamen moralischen Werten – „while recognizing their unique faith traditions“ – und zu der Verpflichtung „to promote tolerance, coexistence and the positive development of a vibrant, open civil society“ (WCRP – International Secretariat, Quarter Summary Report 2005/I: 15; vgl. N. KLAES, Peace and Multireligious Co-operation: The World Conference of Religions für Peace (WCRP), in: P. SCHMIDTLEUKEL, War and Peace in World Religions, London 2004. S. 199–224, hier S. 210ff.). 21 V. RITTBERGER, Werkzeug Glaube, in: Zeitschrift für Kulturaustausch Nr. 2/2001, URL: http://cms.ifa.de/index.php?id=rittberger (Rev. 20.10.2008).
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Den nationalen interreligiösen ‚statements‘ entspricht auf weltweiter Ebene die „Erklärung zum Weltethos“ des 2. Parlaments der Weltreligionen (Chicago 1993). Darin bekannten sich rund 6500 Delegierte verschiedenster Religionsgemeinschaften aus aller Welt auf einen „Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen“.22 Dieser interreligiöse Grundkonsens beruht vor allem auf den vier Säulen Gewaltlosigkeit und Lebensschutz, Gerechtigkeit und Solidarität, Toleranz und Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung zwischen Staaten sowie zwischen Mann und Frau.23 Auf diesem religionsübergreifenden ethischen Fundament eröffnet sich eine „realpolitische Perspektive für einen interreligiösen Dialog“ jenseits religiöser „Verwestlichungsbemühungen und entgegen der amerikanischen Präventivkriegsdoktrin“24 gegenüber willkürlich definierten ‚Schurkenstaaten‘. Anliegen dieses Dialogs ist es, „von dem derzeitigen Wertekonflikt zu einem Wertekonsens zu gelangen – einem Werte-Konsens für eine friedliche Koexistenz der Weltreligionen“25 als notwendiger, aber freilich nicht hinreichender Voraussetzung für ein dauerhaft friedliches Zusammenleben von Ethnien und Nationen. Eine Sonderform religiös-theologischer Stellungnahmen zu Problemen von Gerechtigkeit und Frieden ist die Formulierung einer spezifischen Theologie wie etwa der ‚Theologie der Befreiung‘, die sich seit den 1960er-Jahren vor allem in Lateinamerika, aber beispielsweise auch auf den Philippinen, herausbildete. Dort litten (und leiden noch heute) die Menschen unter den ‚traditionellen‘ autoritär-feudalen Strukturen, unter politischer Benachteiligung und Ausgrenzung, rechtlicher Ungleichbehandlung, wirtschaftlicher Ausbeutung, kurzum: unter Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Unterdrückung durch wenige dominierende Großfamilien. Die Befreiungstheologie prägte maßgeblich den sich allmählich formierenden politischen Widerstand gegen die herrschenden Strukturen und Regime, und initiierte zugleich basisgemeindliche Positiventwürfe gesellschaftlichen Zusammenlebens. Trotz dezidierter Ablehnung durch Papst Johannes Paul II. äußerten katholische Theologen wie Leonardo Boff und Gustavo Guttierrez sowie einzelne Bischöfe wie Carlos Belo (Ost-Timor), Oscar Romero (El Salvador), Samuel Garcia (Mexiko), Francisco Claver (Philippinen) oder Dom Helder Camara (Brasilien) in Predigten, Hirtenbriefen und anderen öffentlichen Statements ihre befreiungstheologischen Ansichten und daraus resultierende politische Forderungen. Obschon diese Bischöfe in der Regel eine kleine Minderheit innerhalb der nationalen Bischofskonferenzen blieben, war (und ist) die politische Wirkung der Befreiungstheologie und ihrer Vertreter enorm. Sie mobilisierten die Menschen, unterstützten Oppositionsbewegun22 H. KÜNG, Parlament der Weltreligionen: Erklärung zum Weltethos, in: DERS. (Hg.), Dokumentation zum Weltethos. München 2002, S. 15–35, hier S. 22. 23 Ausführlicher vgl. H. KÜNG (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002. 24 W. RÖHRICH, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, München 2004, S. 270. 25 Ebd. Dabei darf ‚Dialog‘ selbstverständlich nicht auf den theologischen Austausch verengt werden, sondern umfasst auch Aspekte des alltäglichen Zusammenlebens, der interreligiösen Zusammenarbeit oder der unterschiedlichen religiösen Erfahrungen und Spiritualität (vgl. E. GRUNDMANN, Einführung, in: A. Th. KHOURY, u.a. (Hg.), Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Freiburg i.Br. 2003, S. 7–10).
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gen, begründeten zahllose soziale, (land-) wirtschaftliche oder Menschenrechts-Initiativen, setzten Feudalherren und Regierungen unter Druck: Wer anderen theologischen Interpretationen oder politischen Praktiken folgte als die populären Würdenträger, musste dies – gerade in streng katholischen Ländern – in der Öffentlichkeit umso überzeugender begründen, sowohl politisch wie ethisch-religiös. Dies bedeutete einen erheblichen Legitimationsdruck auf Befürworter einer gewaltförmigen Konfliktbearbeitung oder ungerechter Strukturen – ein Druck, dem leider jedoch vielfach mit brutaler militärischer Gewalt begegnet wurde. III.1.2 Religiös-theologische Stellungnahmen im Bereich der Entwicklung Am Beispiel der Befreiungstheologie werden die Überschneidungen zwischen den Handlungsbereichen Frieden, Entwicklung und Recht sehr deutlich. Weltweit setzte sie innerkirchliche Prozesse in Gang oder beeinflusste sie, die bis heute nachwirken und angesichts zunehmender wirtschaftlicher Globalisierung neue Aktualität gewinnen: Ein Nachdenken über international gerechte Machtverteilung und Wirtschaftsstrukturen, über das Verhältnis der Kirchen in Nord und Süd, über den politischen Anspruch des Evangeliums und daraus resultierende friedens- wie entwicklungspolitische Verantwortung der Kirchen. Auch in Fragen sozioökonomischer Entwicklung ist das Anliegen religiös-theologischer Stellungnahmen zumeist langfristig angelegt, d.h. auf (intra- wie inter-) religiöse und gesellschaftliche Diskussionsprozesse und ein Umdenken zumindest bei Anhängern der eigenen Religionsgemeinschaft gerichtet. Der ‚Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung‘ – ein Thema, das in besonderer Weise an Bedeutung für die ökonomische Entwicklung bzw. Benachteiligung gewonnen hat (man denke an die Diskussion über eine faire Regelung hinsichtlich nationaler Schadstoffemissionen) – ist primär eine konfessionsübergreifende theologische Auseinandersetzung mit den namensgebenden Aufgaben, gleichwohl von politischen Aktivitäten und Stellungnahmen begleitet.26 Ähnliches gilt für kirchliche Entwicklungsdienste, die ihre Arbeit als Ausdruck religiös begründeter Verantwortung begreifen. So folgt beispielsweise der Evangelische Entwicklungsdienst EED einer spezifischen theologischen Interpretationen der Heiligen Schrift, indem er sich in seinem Handeln explizit gebunden sieht „an den biblischen Auftrag, sich für eine gerechte, friedliche und das Leben in allen seinen Formen achtende Welt einzusetzen. Die Arbeit des EED gründet in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, die gerade in dem entrechteten und armen Nächsten ihrem Herrn begegnet und in der Hoffnung, die in der Erwartung einer von Gott getragenen gerechteren Welt handelt.“27
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Vgl. den Beitrag von Hans Diefenbacher und Volker Teichert in diesem Band, Kirchliche Aussagen zur internationalen Gerechtigkeit. 27 Aus der „Grundorientierung“ des EED, URL: http://www.eed.de/de/de.eed/de.eed.eed/ de.eed.eed.basics/index.html, Rev. 20.10.2008). Ähnlich auch die ‚Mission’ der US-amerikanischen Catholic Relief Services: „We are motivated by the Gospel of Jesus Christ to cherish, preserve and uphold the sacredness and dignity of all human life, foster charity and justice ...“ (URL: http://crs.org/about/mission-statement.cfm; Rev. 20.10.2008).
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III.1.3 Religiös-theologische Stellungnahmen im Bereich des Rechts Das Prinzip der Religionsneutralität des Staates hatte dazu geführt, dass der Bereich der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung dem unmittelbaren Einfluss von Religionsgemeinschaften entzogen ist. Religiös begründete Erklärungen zu Fragen von Recht und (sozialer) Gerechtigkeit haben demnach weitgehend appellativen Charakter, so zum Beispiel das gemeinsame Sozialwort von katholischer und evangelischer Kirche in Deutschland.28 Der große Einfluss der katholischen Soziallehre auf die deutsche Sozialgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert jedoch daran, dass solche Stellungnahmen durchaus erhebliche politische Relevanz und Wirkung entfalten können. Doch die Trennung von Religion und Politik ist ein über Jahrhunderte herausgebildetes „Spezifikum der westlichen Christenheit“.29 Die östlichen christlich-orthodoxen Konfessionen sind hingegen stets nationale Kirchen, und „sowohl der Islam (‚Scharia‘) als auch das orthodoxe Judentum halten das Recht für einen Teil der Religion“.30 In streng islamischen Gesellschaften basiert die Rechtsprechung noch heute weitgehend auf der Auslegung religiöser Schriften und Überlieferungen. Muslimische ‚Schriftgelehrte‘ sind zugleich ‚Rechtsgelehrte‘, und ihr Wort ist auch in weltlichen Auseinandersetzungen maßgebend. So sind beispielsweise Fatwas religiös fundierte Rechtsgutachten zu verschiedensten religiösen und weltlichen Fragen – und entgegen landläufiger Meinung keineswegs per se ‚Gewaltaufrufe‘ (wie etwaa im Fall der Fatwa von Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie). Im Gegenteil: Im Jahr 2004 sprach der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani eine Fatwa gegen Gewaltanwendung im Irakkonflikt aus. Al-Sistani ist der gegenwärtig wohl bedeutendste und angesehenste schiitische Geistliche. Von Diktator Saddam Hussein jahrelang unter Hausarrest gestellt, wurde der gebürtige Iraner nach Husseins Sturz „der unumstrittene Führer der Schiiten“31 und darüber hinaus: Al-Sistani „konnte sich (…) binnen weniger Wochen eine einzigartige Position als eine über dem Streit partikularistischer Partei-, Clan- und Gruppeninteressen stehende Figur sichern.“32 Als die Gewalt im Irak – gegenüber den Besatzungsar28
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland / Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Hannover 1997. Im Internet unter http://www.ekd.de/ EKD-Texte/sozialwort/sozialinhalt.html (Rev. 20.10.2008). 29 O. KALLSCHEUER, „Die Trennung von Politik und Religion und ihre ‚Globalisierung’ in der Moderne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 42–43/2002, S. 3–5, hier S. 3. 30 O. HÖFFE, a.a.O., S. 155. Dabei wird freilich nicht übersehen, dass – obschon auf indirektere Weise – auch „in modernen, verfassungsstaatlichen Demokratien ... Religion Einfluss auf die verfassungsrechtliche Ordnung eines Staates bzw. politischen Systems“ und auf die Gesetzgebung nimmt (A. LIEDHEGENER, Religion in der vergleichenden Politikwissenschaft: Begriffe – Konzepte – Forschungsfelder, in: M. HILDEBRANDT / M. BROCKER (Hg.), Der Begriff der Religion: Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2008, S. 179–196, hier S. 187; ferner W. ZAGER (Hg.), Die Macht der Religion. Wie die Religionen die Politik beeinflussen. Neukirchen-Vluyn 2008.). 31 U. LADURNER, Aufruhr im Paradies, in: Die Zeit Nr. 11/2004. URL: http://www.zeit.de/ 2004/11/Nadschaf?page=1 (Rev. 20.10.2008). 32 W. BUCHTA, Sayyid Ali al-Husain al-Sistani: Irakischer Grossayatollah, in: Orient – Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients (Zeitschrift des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg). Jg. 45, Nr. 3/2004, S. 343–355, hier S. 349.
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meen, aber auch zwischen Sunniten und Schiiten, ja selbst innerhalb der Konfessionen – im Frühjahr 2004 zu eskalieren drohte, griff al-Sistani zu dem vielleicht wirkungsvollsten Instrument, das ihm als Geistlichem zur Verfügung stand, und erließ eine Fatwa. Darin verurteilte er einerseits das Vorgehen der Besatzungskräfte, geißelte andererseits aber auch den gewaltsamen Widerstand und die innerirakische Gewalt, insbesondere die religiös begründeten Spaltungs- und Eskalationsbestrebungen des extremistischen Schiitenführers Muktada al-Sadr. Stattdessen rief die Fatwa zu gewaltlosem Handeln gegenüber jedermann auf, um jegliches weitere Blutvergießen t zu vermeiden. Schließlich, auch dies war eine wichtige Botschaft, verteidigte al-Sistani darin die Zusammenarbeit der offiziellen irakischen Kräfte mit den Besatzern, bezeichnete sie gar a als deren „Pflicht“.33 Diese Fatwa war folglich nicht alleine ein ethisch-moralischer Aufruf, sondern – von einem so hohen islamischen Rechtsgelehrten ausgesprochen – über seine unmittelbare Anhängerschaft hinaus „im privaten wie im öffentlichen Bereich bindend“.34 Dass dieser Auslegung dennoch nur ein Teil der schiitischen Gläubigen folgte (wie freilich auch kaum ein katholischer Soldat der päpstlichen Ablehnung des Irakkrieges Folge leistete), ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass al-Sistani sich primär als Geistlicher versteht und darum scheute bzw. weigerte, noch aktiver in das politische Geschehen einzugreifen. Vielmehr zog err sich mit den Jahren sogar wieder weitgehend aus allen politischen Angelegenheiten zurück und gab damit auch seinen unmittelbaren politischen Einfluss auf.
III.2
Politische Stellungnahmen und Aktivitäten
Religion ist ein wesentliches Element aller Kulturen. Entsprechend finden sich religionsbasierte Akteure in allen Ländern der Erde, auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen, bis in die entlegensten Winkel und Dörfer. Religiöse Akteure sind dadurch gerade in Konflikten nah am Geschehen, kennen Hintergründe und Zusammenhänge, Protagonisten und die Probleme der betroffenen Bevölkerung. So haben sie einerseits Einfluss auf die Bevölkerung, andererseits auch Einfluss auf und durch politische Entscheidungsträger.35 Durch ihre mehr oder weniger intensive Vernetzung und organisatorische Struktur (am ausgeprägtesten bei den christlichen Großkirchen) bündeln sie eine Konfliktexpertise wie kein anderer politischer oder gesellschaftlicher Akteur. Auf der Grundlage einer religiös begründeten Verantwortung für die Mitmenschen 33
Englische Übersetzung der Fatwa vom 7. April 2004 von Prof. Juan Cole (Univ. of Michigan): „We condemn the methods of the Occupation Forces in dealing with the events that have occured, just as we cricitize the transgressions against public and private property and all acts that lead to the collapse of order and prevent the Iraqi authorities from fulfilling their duties in serving the people. We call for the use of wisdom in treating this situation, through peaceful means, and for avoiding any escalatory step that will lead to more anarchy and bloodshed. It is the duty of the political and social forces to participate in an effective f manner, and to put an end to these tragedies. God grants success. 16 Safar 1425/7. April 2004.“ (www.juancole.com/2004/04/sistanifatwa-on-insurgency-trans.html; vgl. auch http://www.shiachat.com/forum/index.php?Showtopic =29191, jeweils Rev. 20.10.2008) 34 F. SARKOHI, Heilige Wende, in: Die Zeit Nr. 12/2004, S. 44. 35 J. FOX, Religion as an overlooked Element of International Relations, in: International Studies review 3, 3 / 2004, S.53–74, hier S. 59ff.
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bringen sie ihre Expertise auch durch unmittelbar politische Stellungnahmen und Aktivitäten in Konflikt- bzw. Friedensprozesse ein. Diese umfassen so unterschiedliche Aktivitäten wie die Wahl- oder Menschenrechtsbeobachtung, die Initiierung, Begleitung oder tatkräftige Unterstützung sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Veränderungsprozesse (insbesondere in autoritär-feudalen oder totalitären Systemen) sowie Konfliktvermittlung durch „Gute (diplomatische) Dienste“ im Hintergrund oder als offiziell berufener Mediator. Diese Formen religionsbasierten Eintretens für Frieden und Gerechtigkeit erweisen sich vor allem in akuten Konflikten als effektiv und rasch wirksam, sind aber ebenso in langfristigen Veränderungsprozessen (bspw. inner- oder zwischenstaatliche, insbesondere interethnische oderr interreligiöse Versöhnungsprozesse) hilfreich und notwendig. III.2.1 Politische Stellungnahmen und Aktivitäten im Bereich des Friedens Von April bis Juli 1994 war Ruanda Schauplatz eines wohl beispiellosen Genozids: Innerhalb von hundert Tagen ermordeten Angehörige des Stammes der Hutu bis zu einer Million Menschen, vorwiegend Tutsi und gemäßigte Hutu. Nur eine einzige Bevölkerungsgruppe in diesem nominell christlichsten t afrikanischen Land widersetzte sich fast kollektiv der Gewalt: die ruandischen Muslime. Sie hatten als Minderheit ausreichend Distanz zum politischen System, um schon lange vor der Eskalation die fatale politische Entwicklung zu erkennen. Frühzeitig warnten sie vor der Hass- und Gewaltpropaganda und führten entsprechende Sensibilisierungsprogramme an muslimischen Schulen durch. Während des Völkermordes verurteilten muslimische Geistliche mutig die Gewalt als Unrecht und koranwidrig, nicht selten um den Preis ihres Lebens. Auf Dorfplätzen und in Moscheen, im Radio und in Zeitungen erklärten sie, dass der Koran Gewaltlosigkeit lehre und Mord als Sünde verurteile, dass nach dem Koran alle Menschen gleich seien und er den Schutz der Schwachen und Unterdrückten lehre. Darüber hinaus leisteten Muslime vielfach aktiven Widerstand und organisierten Not- und Fluchthilfe, die allen Bedürftigen zukam, gleich welcher Stammes- oder Religionszugehörigkeit. Sie spionierten Hutu-Milizen aus und verhinderten deren Einsätze, versteckten und schützten Flüchtlinge, versorgten sie mit Lebensmitteln, führten sie in sichere Gebiete und vieles mehr. Kein einziger muslimischer Geistlicher (im Gegensatz zu zahlreichen christlichen Kirchenvertretern) wurde wegen des Genozids vor ein Gericht gestellt. Vielmehr bat der ruandische Präsident nach dem Bürgerkrieg die muslimische Bevölkerung, „to teach other Rwandans how to live together“.36 Zweifellos handelt es sich dabei um ein seltenes, herausragendes Beispiel gewaltloser politischer Oppositionstätigkeit. Häufiger sind Konflikte, in denen religionsbasierte Akteure als Vermittler agieren: Der Vatikan verhinderte 1978 mit akuter Krisenintervention einen Krieg zwischen Argentinien und Chile und führte die Kontrahenten zu einem Friedens- und Freundschaftsvertrag (1984). Die katholische Laienbewegung Sant’ Egidio handelte im mosambikanischen Bürgerkrieg ein stabiles Friedensabkom36 K. C. DOUGHTY / D. M. NTAMBARA, Resistance and Protection: Muslim Community Actions During the Rwandan Genocide. Case Study of the Collaborative for Development Action, Cambridge (Mass.), February 2003. URL: http://www.cdainc.com/publicati / ons/steps/casestudies/ stepsCase02Rwanda.pdf (Rev. 20.10.2008), hier S. 8.
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men aus (1992). In Nigeria (Biafra-Konflikt 1967–70), Kaschmir (1965/66), Uganda (1990er-Jahre) und anderen Staaten vermittelten Mitglieder der Quäker. In Nadschaf (Irak 2004) wurde eine Eskalation zwischen Alliierten und islamistischen Aufständischen erst durch Intervention des erwähnten Großayatollah Ali al-Sistani abgewandt. Im Sudan handelte der Ökumenische Rat der Kirchen ÖRK bereits 1972 eine Friedensvereinbarung aus, die immerhin elf Jahre Bestand hatte; in den letzten Jahren vermittelte der All African Council of Churches und der New Sudanese Council of Churches erfolgreich zwischen Nord- und Südsudan sowie in blutigen Konflikten zwischen verschiedenen Stämmen im Südsudan. In anderen Fällen bestand die politische Positionierung und Aktivität hingegen nicht in neutraler Vermittlung, sondern in eindeutiger Parteinahme: Der friedliche Widerstand gegen den philippinischen Diktator Marcos wurde wesentlich von Teilen der katholischen Kirche zum Erfolg geführt (1986), in Ost-Timor war Bischof Belo der „spiritual leader“37 der gewaltlosen Unabhängigkeitsbewegung gegen die indonesische Besatzung, und auch in etlichen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern führten katholische Bischöfe und andere religiöse Funktionsträger die Opposition gegen repressive Regime an (1980er-/90er-Jahre), in besonderer Weise in Südafrika. Nicht zu vergessen sei auch die dezidierte Ablehnung der US-amerikanischen Irak-Intervention (2003) durch den damaligen Papst Johannes Paul II. Sie beruhte sowohl auf der Ablehnung militärischer Gewalt als auch auf einer genauen Kenntnis der irakischen Verhältnisse, die sich – frei von macht- oder wirtschaftspolitischen Ambitionen – nicht aus Geheimdienstquellen speiste, sondern aus Berichten der katholischen (und anderskonfessionellen) Priester und Ordensleute im Irak. Diese international Aufsehen erregende Stellungnahme des Papstes hatte einen bestimmten Konflikt zum Anlass und damit auch konkrete Adressaten – und dies umso mehr, als sich der damalige amerikanische Präsident George W. Bush öffentlich als ‚wiedergeborenen Christ‘ bezeichnete und gezielt religiöser Rhetorik bediente.38 Auch Versöhnungsprozesse in Nachkriegsgesellschaften (post-conflict peacebuilding) wurden vielfach von religionsbasierten Akteuren initiiert und gestaltet. In Kambodscha begann der buddhistische Mönch Maha Ghosananda nach der Herrschaft der Roten Khmer (1979) eine umfassende Friedens- und Versöhnungsarbeit, die maßgeblich zur inneren Befriedung beitrug und als Vorbild für die gesamte zivilgesellschaftlichpluralistische Entwicklung des Landes nach den Jahrzehnten von Krieg, Bürgerkrieg und Unterdrückung diente.39 Auch die deutsch-französische Annäherung und Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg nahm ihren Anfang in einer religionsbasierten Insti37
J. RAMOS-HORTA, Taiwan and East Timor: Human Rights, Rule of Law, Self-Determination, in: The International Journal of Peace Studies Vol. 4 / No. 1 (January 1999). URL: http://www.gmu.edu/academic/ijps/vol4_1/ramos_ho.htm i (Rev. 20.10.2008). Ramos-Horta, einst Widerstandsführer und aktueller Präsident von Osttimor, war 1996 zusammen mit Bischof Belo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. 38 Vgl. J. BRAML, Zur Sprengkraft religiöser Werte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 5-6/ 2008, S. 21–27, hier S. 23f. 39 Vgl. H. LÖSCHMANN, Buddhismus und gesellschaftliche Entwicklung in Kambodscha seit der Niederschlagung des Pol-Pot-Regimes im Jahre 1979, in: Asien Nr. 40 / Juli 1991, S. 13–27.
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tution: Die Bewegung Moralische Aufrüstung des protestantischen Pastors Frank Buchman (früher Oxford-Bewegung) organisierte in Caux (Schweiz) die ersten Begegnungen von Vertretern aus Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kirchen aus den beiden Ländern – und stellte dabei auch den zunächstt informellen Kontakt zwischen Konrad Adenauer und Robert Schuman her, die später den Annäherungsprozess entscheidend gestalteten. III.2.2 Politische Stellungnahmen und Aktivitäten im Bereich der Entwicklung Die Arbeit von Religionsgemeinschaften reichtt in der Regel über Seelsorge und religiöse Unterweisung hinaus in soziale, erzieherische und diakonische Bereiche. Geistliche und ehrenamtliche Mitarbeiter, Katecheten und Diakone wirken vielfach durch ihr Amt, ihren höheren Ausbildungsstand und ihre Außenkontakte als „Transmissionsriemen des sozialen und politischen Wandels“.40 Dieser Wandel wird unterstützt durch schulische und berufliche Bildungsangebote in religiösen Einrichtungen. Naturgemäß kommt in diesem Handlungsfeld auch religionsbasierten Entwicklungsdiensten besondere Bedeutung zu. Dabei sind diese nicht nur um sozioökonomische Verbesserungen innerhalb der jeweiligen Zielländer bemüht, sondern auch um Bewusstmachung und Bearbeitung ökonomischer Hintergründe und Zusammenhänge in den Heimatländern. So gehörten kirchliche Organisationen wie Misereor, Brot für die Welt oder die Christliche Initiative Romero zu den ersten Organisationen, die den Fairen Handel unterstützten und auch entsprechende Zertifizierungssiegel mitbegründeten.41 Indem den Erzeugern ein fairer, das heißt den realen Produktionskosten entsprechender und damit über dem Weltmarktpreis liegender Preis gezahlt wird, soll ihre eigenständige Existenz gesichert, Armut abgebaut und eine nachhaltige ökonomische wie soziale Entwicklung gefördert werden. Die Erzeuger(organisationen) verpflichten sich im Gegenzug zu bestimmten ökologischen und sozialen Mindeststandards wie etwa der Gleichberechtigung von Frauen, der Gewerkschaftsfreiheit, dem Verzicht auf Kinderarbeit oder den Einsatz besonders umwelt- und gesundheitsschädigender Pestizide. In den 1990er-Jahren führten billige EU-Importe zum kompletten Zusammenbruch der überwiegend kleinbäuerlichen Geflügelproduktion in Kamerun. Daraufhin formierte sich eine breite Protestbewegung aus Bauern, Gewerkschaften und Kirchen. Da die Importe aber unmittelbar mit den europäischen Märkten und Ernährungsgewohnheiten zusammenhingen, übernahmen europäische Partnerorganisationen die Lobbyarbeit innerhalb der EU. In Deutschland startete der Evangelische Entwicklungsdienst EED eine groß angelegte Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto „Keine Chicken schicken“.42 Über Medienberichte und politischen Druck gelang es, die europäische Geflügelindustrie zum Einlenken zu bewegen. Die Billigexporte von Fleischresten nach Kame40
I. WEHR, Die katholische Kirche Mexikos im Chiapas-Konflikt, in: G. VON FÜRSTENBERG Die Kirche als Anwältin des Friedens. Möglichkeiten und Grenzen kirchlichen Friedenshandelns in regionalen und globalen Konflikten, Mülheim / Ruhr 2002. S. 40–54, hier S. 45f. URL: http://www.bistum-essen.de/wolfsburg/Gerechter%20Frieden.pdf (Rev. 18.08.2005). 41 Vgl. http://www.transfair.org 42 Evangelischer Entwicklungsdienst/Association Citoyenne de Défense des Intérêts Collectifs (Hg.) 2007: Keine Chicken schicken. Bonn. U.A.,
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run wurden eingestellt, und innerhalb weniger Jahre konnte sich in Kamerun wieder eine eigene Geflügelwirtschaft entwickeln, die zahllosen Familien ein eigenständiges Überleben sichert. Ein weiterer entwicklungspolitischer Schwerpunkt ist die Armutsbekämpfung durch Förderung von Landwirtschaft und Kleingewerbe. Schon seit vielen Jahren vergeben kirchliche Institutionen wie der Ökumenische Darlehensfonds (ECLOF) größere und kleine Kredite („Mikrokredite“) für „Projekte, die wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Eigenständigkeit fördern“,43 vor allem in Ländern des Südens. Insbesondere Frauen oder Frauengruppen bekommen dadurch die Möglichkeit, sich eine eigene Existenz aufzubauen und damit über das eigene Leben und die eigene Familie hinaus die Lebensbedingungen und Sozialstrukturen eines ganzen Dorfes nachhaltig zu verbessern. III.2.3 Politische Stellungnahmen und Aktivitäten im Bereich des Rechts (Un-)Gerechtigkeit manifestiert sich in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung in einer Vielzahl von Gesetzen und Maßnahmen – in rechtlicher Gleichbehandlung (von Arm und Reich, von Mann und Frau, Schwarz und Weiß …), in Rechtsstaatlichkeit und gleichem Zugang zu Gerichten, in der Unabhängigkeit von Richtern, in Verfahrensgerechtigkeit u.a.m. Im Kern geht es zumeist um Fragen der Menschenwürde und Menschenrechte, etwa beim Prinzip der Unschuldsvermutung oder des Willkürverbots, oder wenn Kleinbauern durch staatliche Enteignungen die Lebensgrundlage entzogen wird oder Angehörige bestimmter Ethnien in der Wahrnehmung ihrer Rechte von Legislative und Judikative benachteiligt werden. Wie viele säkulare Nichtregierungsorganisationen, so engagieren sich auch viele religiöse Initiativen in der Beobachtung und Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen das Völkerrecht. Religionsbasierte Akteure haben dabei den Vorteil, dass sie häufig ein größeres Vertrauen bzw. einen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung genießen. Als vertrauenswürdigere Gesprächspartner erfahren sie eher von Rechtsverstößen, da die Informanten keine negativen Konsequenzen fürchten. Zudem verfügen Religionsgemeinschaften durch Geistliche, Katecheten, Ordensgemeinschaften oder ehrenamtliche Mitarbeiter über ein dichtes und dauerhaftes Informationsund Kommunikationsnetz, auch und gerade in Spannungs- oder Kriegsgebieten, zu denen ausländische Nichtregierungsorganisationen oder Journalisten kaum Zugang haben. Menschenrechtsbeobachtung geschieht dadurch flächendeckend und nicht nur in einzelnen Brennpunkten, die vielleicht kurzfristige mediale bzw. politische Aufmerksamkeit erfahren. So genießen die Berichte oder Aktivitäten religionsbasierter Institutionen große Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit bei Öffentlichkeit und Politik. Beispielsweise erweist sich die Arbeit der Rabbis for Human Rights im Nahostkonflikt ebenso als wichtige Informationsquelle wie das von Bischof Samuel Ruiz Garcia gegründete diözesane Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas in Mexiko. Auch die zwar kurzfristige, aber starke internationale Empörung im Jahr 2007 über die birmesische Unterdrückungspolitik war nicht unwesentlich dem Umstand geschuldet, dass es sich bei den Aufständischen nicht etwa um eine ideologisch-extremistische 43
http://www.eclof.org/archiv/german/umlafond.html (Rev. 20.10.2008).
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Widerstandsbewegung, sondern um buddhistische Mönche und Nonnen handelte, die im Ruf ausgesprochener Friedfertigkeit stehen. Auf den Philippinen gaben insbesondere die Berichte kirchlicher Wahlbeobachtungsteams (neben anderen) über Manipulationen und Fälschungen den Ausschlag, dass sich 1986 zunächst eine Mehrheit der einflussreichen nationalen Bischofskonferenz und später die USA als Schutzmacht des Regimes von Diktator Ferdinand Marcos distanzierten und damit sein politisches Ende herbeiführten. Auch der kirchlich unterstützte Protest in der ehemaligen DDR richtete sich zunächst nicht gegen das System als Ganzes, sondern forderte weiterreichende Freiheitsrechte für die Bevölkerung wie Reisefreiheit, Informationsfreiheit, Versammlungs- und Pressefreiheit. Erst die offensichtliche Reformunfähigkeit oder -unwilligkeit der politischen Funktionäre provozierte die generelle Ablehnung des ‚real existierenden Sozialismus‘.
III.3 Übernahme politischer Ämter und hoheitlicher Funktionen Das unterschiedliche Engagement führt religionsbasierte Akteure mitunter unausweichlich in die Brennpunkte der Gerechtigkeitskonflikte, f in extreme Armutsgebiete, in Krisenregionen ohne staatliche Ordnungsmacht – oder auch in das Zentrum eines Gewaltkonfliktes, mitten in die Auseinandersetzungen der politischen Gruppierungen und Machtkonkurrenten. Insbesondere religiöse Würdenträger können dadurch in Situationen geraten, in denen sie als einzige von allen Konfliktparteien als (hinreichend) unabhängig und vertrauenswürdig angesehen werden und damit als geeignet gelten, politische Funktionen wahrzunehmen. Dies kann als Berater, Kurier oder Vermittler geschehen, oder eben in offiziellen politischen Ämtern – als Staatspräsident oder Regierungschef (oder auch Oppositionsführer), als Minister oder Bürgermeister, als Delegierter in Friedensverhandlungen oder als Vorsitzender konfliktspezifischer f Kommissionen (für Demobilisierung, für Landreformen, für die Ausarbeitung einer Verfassung oder bestimmter Gesetze etc.). Die Übernahme solcher Ämter durch Religionsvertreter kann dann als einzige oder zumindest größte Chance erscheinen, unmittelbar drohende Gewaltausbrüche zu vermeiden, einen Konflikt zu beenden oder einen befriedeten Zustand zu stabilisieren. Allerdings bedeutet der Schritt in offizielle politische Ämter in der Regel den Verlust des Status als primär religionsbasierter Akteur. Durch den Eintritt in den politischen Herrschaftsapparat wird zugleich die Grundlage und Voraussetzung dieses Schrittes – die Reputation als unabhängige, moralisch integre Autorität und der damit verbundene Vertrauensbonus – aufs Spiel gesetzt und droht langfristig wegzubrechen. III.3.1 Politische Funktionen im Bereich des Friedens Am Beispiel des Systemwandels in der DDR 1989/90 wird deutlich, wie (vor allem evangelische) Kirchenvertreter in Situationen geraten können, in denen sie nolens volens zur Übernahme politischer Funktionen gedrängt werden, um Konflikte zu entschärfen oder konstruktiv zu bearbeiten. Pfarrer und andere Kirchenvertreter galten weithin als politisch unbelastet und vertrauenswürdig, verfügten über gewisse materielle wie zeitliche Ressourcen und waren nicht zuletzt aufgrund der innerkirchlichen Strukturen mit demokratischen Willensbildungsprozessen vertraut. Dadurch waren sie prädestiniert, leitende Funktionen zuerst in Oppositionsgruppen und Dachorganisationen einzunehmen, dann an den zahllosen ‚Runden Tischen‘ im ganzen Land mitzuwirken, und
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schließlich Regierungsämter auf föderaler und nationaler Ebene wahrzunehmen – und dies in einem Maße, dass manche bereits eine „Pfaffenrepublik“ befürchteten.44 Auch im afrikanischen Benin stand 1989/90 ein Systemwandel an. Die amtierende kommunistische Regierung war zu schwach und auch ideologisch nicht in der Lage, diesen Wandel friedlich zu gestalten. Demokratische Kräfte waren aber noch kaum entwickelt. Das multiethnische und multireligiöse Land befand sich in einer Phase extremer Spannungen und Instabilität. Es drohten Anarchie und Stammeskriege, ein Militärputsch oder auch Übergriffe aus den Nachbarstaaten, insbesondere aus Nigeria. Ohne lange Vorbereitungszeit wurde darum von 19.–28. Februar 1990 die ‚Conférence Nationale des Forces Vives de la Nation‘ mit fast 500 Delegierten abgehalten. Die Initiative und den Vorsitz in dieser Nationalkonferenz übernahm Isidore de Souza, damaliger Koadjutor für die Erzdiözese Cotonou und später deren Bischof. Unter seiner Führung und dank seiner „courage, sa patience, sa sensibilité et sa fermeté, et surtout … sa lucidité et sa clairvoyance“45 gelang es in nur zehn Tagen, dass sich alle maßgeblichen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen des Landes auf die wichtigsten demokratischen und wirtschaftlichen Reformen verständigten, vor allem aber auf den Verzicht von Gewaltanwendung. Die Nationalkonferenz erarbeitete dann eine neue Verfassung und Richtlinien für den friedlichen Wandel, etablierte eine Übergangsregierung und berief einen ‚Haut Conseil de la République‘, der, mit gesetzgebenden Vollmachten ausgestattet, einen geordneten und kontrollierten Übergang zur Demokratie ermöglichen und sichern sollte. Erster Präsident dieses Hohen Rates war bis 1993 – also in den entscheidenden Jahren – wiederum Isidore de Souza.46 Durch ‚hauptamtliche‘ Übernahme dieser hochrangigen politischen Funktionen konnte de Souza unmittelbar zwischen den Konfliktparteien vermitteln und integrieren und so den Systemwandel von Anfang an in friedliche Bahnen lenken. Diese Entwicklung wurde zum Vorbild für andere afrikanische Staaten in vergleichbaren Transitionsprozessen.
44
E. NEUBERT, Protestantische Kultur und DDR-Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1991 / Bd. 19, S. 21–29, hier S. 21. So betrug alleine der Anteil der Pastoren (also ungeachtet anderer kirchlicher Mitarbeiter), die nach der ‚Wende‘ politische Ämter übernahmen, je nach Landeskirche zwischen 15 und 42 Prozent (Pommersche Evang. Kirche). Der im März 1990 gewählten Volkskammer gehörten 19 ordinierte Pfarrer an, im Kabinett von Ministerpräsident (und vormaligem Vize-Präses der evangelischen Synode auf nationaler Ebene) Lothar de Maizière saßen wiederum vier Pastoren. Vgl. P. ZILLMANN, Darstellung der Kirchengeschichte der DDR von 1945–1990 in vier Teilen, 2004. URL: http://www.seggeluchbecken.de/kirche/ddrkirche.htm#aaa (Rev. 20.10.2008), hier Teil IV, Kap. 4.1.6 und Anm. 47; Chr. SCHULZKIHADDOUTI, Kirchenpolitik in der DDR, 2005. URL: http://schulzki-haddouti.de/index.php? option=com_content&task=view&id=66&Itemid=53 (Rev. 20.10.2008), hier Kap. 5.2. 45 „ ... Dieu merci, la solution a été trouvée grâce au président du présidium“ (gemeint war de Souza) Rede des damaligen kommunistischen Staatspräsident Mathieu Kérékou am Schlusstag der Nationalversammlung (28.02.1990), URL: http://www.gouv.bj/textes_rapports/rapports/discours_mathieu.php, Rev. 20.10.2008). 46 Bemerkenswert ist de Souzas führende Position in der Übergangsphase auch angesichts der katholischen Bevölkerungsminderheit von 15 bis maximal 35 Prozent (durch die Vermischung von Christentum bzw. Islam mit dem Voodoo-Kult und anderen ‚Naturreligionen‘ sind Angaben zur Religionszugehörigkeit schwierig und schwanken erheblich).
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III.3.2 Politische Funktionen im Bereich der Entwicklung Eine andere Form der Übernahme politischer bzw. staatlicher Funktionen ergibt sich aus dem karitativen und gesellschaftspolitischen Engagement mancher Religionsgemeinschaften. In vielen Regionen liegt bspw. die Gesundheitsversorgung oder schulische Erziehung weitgehend in der Hand von Religionsgemeinschaften. In gewaltsamen Auseinandersetzungen, sofern sie nicht wesentlich auf religiösen Differenzen beruhen, werden diese Einrichtungen oftmals gar nicht oder zuletzt angegriffen. Entwicklungsprogramme kirchlicher (wie auch säkularer) Träger können überdies politische Bildung, den Aufbau von Handwerksbetrieben und Genossenschaften, landwirtschaftliche Beratung und Unterstützung, Straßenbau, Infrastruktur, Zugang zu Technologien, Forschungsprogramme, Kleinkredite, Finanzberatung u.a.m. umfassen. Zudem organisieren Religionsgemeinschaften „an oftmals untätigen oder hilflosen Staaten vorbei rudimentäre soziale Sicherungssysteme“.47 Gerade in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten stellen sie dann häufig die einzigen Institutionen dar, die neben gewissen Finanzmitteln auch über Personal, eigene Medien, eine funktionierende Infrastruktur und andere Mittel verfügen, die zur Erfüllung dieser eigentlich staatlich-hoheitlichen Aufgaben nötig sind. Indem sie aber diese Funktionen übernehmen, gewährleisten sie ein zumindest leidliches Funktionieren dieser Sektoren und erschweren es regionalen Warlords, sich ‚staatslose‘ Einflussbereiche anzueignen. Stattdessen erwerben sich die Religionsgemeinschaften selbst erheblichen gesellschaftlichen und politischen Einfluss. In etlichen afrikanischen Ländern hatte oder hat sich der Staat zumindest regional aus bestimmten hoheitlichen Aufgaben weitestgehend zurückgezogen oder in diesen Aufgaben schlicht versagt. So standen in Madagaskar (vor allem während der 1980erJahre) oder in Teilen des Kongo die medizinische Versorgung und das Erziehungswesen lange Zeit fast vollständig unter kirchlicher Trägerschaft (Christlicher Rat der Kirchen von Madagaskar FFKM bzw. katholische Kirche im Kongo). In Bürgerkriegsgebieten Kolumbiens, insbesondere in den Provinzen Antioquia und Chocó, ersetzen seit Jahren regionale Friedens- und Entwicklungsprogramme unter Leitung der Caritas den passiven Staat. In ähnlicher Weise übernahm die buddhistisch geprägte Sarvodaya Shramadana-Initiative in Konfliktzonen Sri Lankas Staatsaufgaben und führte Alphabetisierungskampagnen oder Dorfentwicklungsprogramme durch. In anderen buddhistischen Ländern bieten Klöster (ähnlich wie in manchen islamischen Ländern mitunter die Koranschulen)48 oftmals die einzige Möglichkeit für Jugendliche und junge Erwachsene, als ‚Mönche/Nonnen auf Zeit‘ eine schulische Grundausbildung zu bekommen. Selbstverständlich kann der auf diese Weise gewonnene Einfluss in jeder Hinsicht, also auch in Fragen sozialer und politischer Gerechtigkeit, nicht nur konstruktiv und deeskalierend, sondern auch konfliktverschärfend genutzt werden. So erwarb sich die radikalislamische Hamas in den besetzten palästinensischen Gebieten großes Ansehen, indem sie zunächst mit externen, millionenschweren Spendengeldern umfangreiche 47 V. RITTBERGER, Werkzeug Glaube, in: Zeitschrift für Kulturaustausch Nr. 2/2001, URL: http://cms.ifa.de/index.php?id=rittberger p (Rev. 20.10.2008). 48 Vgl. B. ZAND, Wissen und Wahn, in: K. ANDRESEN / S. BURGDORFF (Hg.), Weltmacht Religion. Wie der Glaube Politik und Gesellschaft bestimmt, München, S. 143–150.
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Sozial- und Nothilfeprogramme aufbaute, einschließlich finanziell erschwinglicher Schulen und Krankenstationen. Je dramatischer das ‚Staatsversagen‘ der palästinensischen Führung war und je länger es anhielt, desto mehr führte dieses Ansehen auch zu politischer Unterstützung, die der Hamas schließlich eine absolute Mandatsmehrheit bei den demokratischen Parlamentswahlen im Jahr 2006 bescherte. III.3.3 Politische Funktionen im Bereich des Rechts Das bekannteste Beispiel der Übernahme judikativer Funktionen ist die Beteiligung an Wahrheitsfindungs- und Versöhnungskommissionen. Derartige Kommissionen wurden – aus verschiedenen Anlässen und mit unterschiedlich weitreichenden Kompetenzen – in den vergangenen zwanzig Jahren in mehreren Ländern eingerichtet (z. B. Sierra Leone, Marokko, El Salvador, Liberia, Chile, Peru, Osttimor). Am prominentesten ist zweifellos die Truth and Reconciliation Commission TRC in Südafrika, die unter dem Vorsitz des anglikanischen Erzbischofs Desmond Tutu von 1996-1998 tätig war. Dieser hatte schon in der Vergangenheit, besonders als Generalsekretär des South African Council of Churches SACC, maßgeblich zur Überwindung des Apartheidregimes auf gewaltlosen Wegen beigetragen und war dafür 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Seinem hohen Ansehen und seiner Führungskunst ist der Erfolg der TRC zu einem wesentlichen Teil geschuldet. Die gelegentlich geäußerte Kritik bezieht sich in erster Linie auf die kurze Aufarbeitungsphase, auf die geringen und lange ausbleibenden Entschädigungszahlungen an die Opfer, und insbesondere auf die Amnestie für jene Täter, die sich in den Kommissionen zu ihren Taten bekannten. Allerdings ging es der TRC nicht um ‚Rechtsprechung‘ im Sinne von Schuld und Strafe: „Wir in Südafrika (konnten) aber nicht die ganze weiße Bevölkerung bestrafen, so wenig wie sie in Deutschland das ganze Volk nach Nürnberg schicken konnten [gemeint sind die Nürnberger Prozesse 1945-49; Anm. MW]. Bei uns ging es um die Zukunft unserer Gesellschaft. Und mit Gerechtigkeit im kriminologischen Sinne war die nicht zu erreichen.“49 Anliegen der TRC war vielmehr ‚Gerechtigkeit‘ im Sinn von Wahrheit und Reue – und ‚Belohnung‘ in Form strafrechtlicher Amnestie und gegebenenfalls der Vergebung durch die Opfer.50 Trotz mancher Defizite gilt die TRC als beispielhaft in der Weise, wie sie nach jahrzehntelanger Gewalt und Unterdrückung ein hinreichendes Maß an 49
P. GOBODO-MADIKIZELA, Angst vor dem Geruch von Blut, in: Der Spiegel Nr. 19/2006, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,414833,00.html (Rev. 20.10.2008). Pumla GobodoMadikizela ist Professorin für Psychologie an der Universität Kapstadtt und war Mitglied der Wahrheitskommission. Vgl. auch N. MANDELA, Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, in: P. HÄMMERLE / Th. ROITHNER (Hg.), Dem Rad in die Speichen fallen, Wien 2003, S. 79–91. 50 Diesem Ansatz liegt das Prinzip der ‚Restorative Justice‘ (Wiedergutmachende Gerechtigkeit) zugrunde: „Bei der Art von Gerechtigkeit (...) geht es anders als bei der Vergeltung nicht in erster Linie um Bestrafung. Strafe ist nicht das grundlegende Prinzip. ‚Restorative Justice‘ legt großen Wert auf Heilung. (...) [Sie] betrachtet den Täter als Person, als Subjekt mit einem Sinn für Verantwortung und einem Sinn für Scham; er muss wieder in die Gemeinschaft eingegliedert werden und darf nicht aus ihr ausgeschlossen werden.“ D. TUTU, Einzigartige Versöhnung in Südafrika, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.01.2006. 2. Zum Spannungsfeld von Wahrheit, Versöhnung und Gerechtigkeit vgl. D. BLOOMFIELD, Reconciliation, in: V. RITTBERGER / M. FISCHER (Hg.): Strategies for Peace, Opladen / Farmington Hills 2008, S. 261–269.
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Gerechtigkeit und Versöhnung herbeiführte und so die gewaltsame Vergeltung an den einstigen Peinigern oder eine Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden half. In anderen Ländern wie Sambia oder Benin waren religionsbasierte Akteure – vor allem in Phasen des Systemwandels – beauftragt, an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung oder bestimmter Gesetze mitzuwirken. In Bosnien-Herzegowina erarbeitete ein nationaler Interreligiöser Rat einen Gesetzentwurf über Religionsfreiheit und das Verhältnis von Staat und Religion. In Eigenregie und in relativ kurzer Zeit war es den Vertretern des Rates gelungen, sich über diese politisch hoch komplexen und konfliktträchtigen Fragen zu verständigen und sehrr detaillierte Regelungen zu formulieren.51 Der Gesetzentwurf war so überzeugend, dass er im Jahr 2004 von allen drei – ansonsten selten konsensfähigen – Ethnien bzw. Teilstaaten von Bosnien-Herzegowina mit einhelliger Zustimmung als Gesetz verabschiedet wurde. Diese Leistung verdient angesichts der gewalt- und hasserfüllten Vorgeschichte besondere Würdigung. Es ist zu bezweifeln, dass es unter der Federführung säkularer Politiker oder Staatsbeamter von Bosnien-Herzegowina oder des Hohen Repräsentanten der EU gelungen wäre, eine ethnisch und politisch sensible Materie so reibungslos zu bearbeiten, wie es dem Interreligiösen Rat gelang.
IV. Fazit und Ausblick Aus den Erörterungen ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der gerechtigkeits- und friedenspolitischen Einflussnahme religionsbasierter Akteure auf internationaler Ebene: Übernahme politischer Ämter und hoheitlicher Funktionen
Religiös-theologische Stellungnahmen
politische Stellungnahmen und Aktivitäten
– WCC-Dekade „Überwindung von Gewalt“ 2001– 2010 – EKD-Denkschriften, z. B. „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ – Hirtenbriefe – ‚Brief der 138‘, TopkapiErklärung führender Muslime – ‚Erklärung zum Welt-ethos‘ des 2. Parlaments der Weltreligionen (Chicago 1993) – Nationale Interreligiöse Räte: ‚Statements of Shared Moral Comittment‘ – ‚Theologie der Befreiung‘
– Ablehnung der US-Irak-Invasion 2003 – Evang. Kirchenvertreter in der DDR in Oppositionsgruppen, an durch Papst Joh. Paul II. ‚Runden Tischen‘ und in Regie– Widerstand der ruandischen Muslime rungsämtern 1994 – Bischof de Souza als Vorsitzender – Vermittlung des Papstes im argentieiner ‚Übergangsregierung‘ (Benin nisch-chilenischen Beagle-Konflikt 1990–93) (1978–84) – Vermittlung von Sant’ Egidio im – Maha Ghosananda (Kambodscha) mosambikanischen Bürgerkrieg als Delegierter bei den UNOFriedensverhandlungen – Vermittlung und ‚Gute Dienste‘ der Quäker u.a. in Nigeria, Kaschmir und Uganda – Vermittlung von Ali al-Sistani in Nadschaf/Irak (2004) – Vermittlung von WCC, AACC und NSCC im Sudan – gewaltlose ‚Rosenkranz-Revolution‘ (1986) gegen den philippinischen Diktator Marcos
51 Vgl. E. KOVACEVIC, Legal Position of Churches and Religious Communities in Bosnia-Herzegowina. URL: http://www.wcrp.org/RforP/Conflict/SEE/0603_publication.html (Rev. 20.10.2008).
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Markus Weingardt politische Stellungnahmen und Aktivitäten
Übernahme politischer Ämter und hoheitlicher Funktionen
– Bischof Belo als ‚spiritual leader‘ der gewaltlosen Unabhängigkeitsbewegung in Osttimor (bis 2002) – Friedens- und Versöhnungsarbeit von Maha Ghosananda in Kambodscha (1979–2008) – Annäherung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945 durch ‚Moralische Aufrüstung‘ – WCC/,Konziliarer Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‘ – theologische Basis kirchlicher Entwicklungsdienste
– kirchliche Entwicklungsdienste – Mitbegründung der Initiative ‚Fairer Handel‘ – EED-Kampagne ‚Keine chicken schicken‘ – (Mikro-)Kredite z. B. des Ökumenischen Darlehensfonds (ECLOF)
– medizinische Versorgung und Schulwesen in kirchlicher Trägerschaft (Madagaskar, Kongo) – schulische Erziehung in buddhistischen Klöstern und Koranschulen – Sozialarbeit/-hilfe und Entwicklungsprogramme (Wirtschaftsförderung, Technologiezugang, Infrastruktur …) durch Caritas (Kolumbien) oder Sarvodaya Shramadana (Sri Lanka)
– Menschenrechtsbeobachtung (z. B. – Fatwa (Rechtsgutachten) Rabbis for Human Rights, Fray Bartvon Ali al-Sistani (Irak) olomé de las Casas) gegen Gewaltanwendung – Wahlbeobachtung (u.a. Philippinen) – katholische Soziallehre – Menschenrechte, Gleichbe- – Einforderung von Freiheitsrechten rechtigung und Gewaltlo(Evang. Kirche in der DDR) sigkeit als (gemeinsames) religiös-ethische Basis (vgl. Weltethos)
– Wahrheits(findungs)- und Versöhnungskommissionen (Südafrika u.a.m.) – Verfassungskommissionen (Benin, Sambia) – Gesetzentwürfe (Bosnien-Herzegowina)
Es versteht sich, dass sich sowohl die Interventionsarten als auch die Handlungsbereiche überlappen können und eine scharfe f Unterscheidung nicht immer möglich noch sinnvoll ist. Gleichwohl wird aus der Matrix deutlich, dass das Schwergewicht religionsbasierter Interventionen auf politischen Stellungnahmen und Aktivitäten liegt. Dies gilt insbesondere im Bereich des Friedens und der konstruktiven Konfliktbearbeitung, aber auch für die weniger Aufsehen erregenden, doch weltweit sehr umfangreichen entwicklungspolitischen Dienste. Engagiert und effektiv wird hier auf das Versagen von Regierungen oder säkularen Konfliktvermittlern reagiert, und die Zahl und Art der Erfolge lassen das große Friedenspotential religionsbasierter Akteure erkennen. Religiös-theologische Stellungnahmen hingegen sind, wie bereits erwähnt, in der Regel als langfristige Prozesse angelegt, durch die individuelle oder kollektive Wertvorstellungen, Haltungen und schließlich Verhaltensweisen verändert werden sollen. Hinzu kommt, dass theologische Erklärungen die eben nicht Konflikte schüren oder ein Gewaltpotential offenbaren, in der Regel auf wenig öffentliches Interesse stoßen, wie am
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Beispiel des ‚Briefes der 138‘ oder der ‚Topkapi-Erklärung‘ erkennbar wird.52 Allerdings herrscht in vielen Religionsgemeinschaften erheblicher Nachholbedarf hinsichtlich einer ‚religiösen Alphabetisierung‘, die auch jene – in allen Religionen vorhandenen – Überlieferungen, Traditionen und Initiativen unter den Gläubigen bekannt macht, in denen Gewaltverzicht, Gleichberechtigung, soziale und ökonomische Gerechtigkeit, Toleranz oder Solidarität ihren Ausdruck finden.53 Hinsichtlich der Übernahme politischer Ämter ist Zurückhaltung angebracht. Zu leicht geht der Ruf eines vertrauenswürdigen, unabhängigen Akteurs verloren, was nicht nur die eigene Reputation beschädigt, sondern auch andere religionsbasierte Akteure in Misskredit bringen kann. Häufig sind Religionsvertreter beim Wechsel in politische Führungspositionen völlig unrealistischen und unerfüllbaren Erwartungen und Hoffnungen ausgesetzt; rasch wird aus dem einstigen ‚Heilsbringer‘ dann ein ‚Scharlatan‘.54 Dies wiegt bei religiösen Akteuren umso schwerer, als sie höheren ethisch-moralischen Ansprüchen und besonderem Augenmerk ausgesetzt sind. Darum sollte die Übernahme unmittelbar politischer (Regierungs-) Funktionen für religiöse Akteure der Ausnahmefall in alternativlosen Konfliktsituationen bleiben und nur vorübergehend erfolgen. Hinsichtlich der Übernahme hoheitlicher Funktionen im Entwicklungsbereich (Bildung, medizinische Versorgung, Wirtschaftsförderung etc.) scheint ein langfristiges Engagement bei Bedarf allerdings durchaus sinnvoll, ohne jedoch den jeweiligen Staat aus seiner eigentlichen Verantwortung zu entlassen. Zweifellos ist die Befriedung eines Gewaltkonfliktes eine Voraussetzung für umfassende sozioökonomische und rechtsstaatliche Fortschritte, und jedes Engagement für Frieden und gewaltlose Konfliktbearbeitung ist zu begrüßen und zu fördern. Eine stabile Entwicklung hin zu umfassendem, positivem Frieden bedarf aber ebenso notwendig des dauerhaften Engagements für sozioökonomische Entwicklung und juristische Gerechtigkeit. Auch religionsbasierte Akteure stellen ihren Einsatz häufig zu früh wieder ein, 52 Auch an jüngeren Verlautbarungen der EKD wird dieser Effekt deutlich: Während viele Medien aus der Erklärung zum christlich-islamischen Verhältnis das konflikthafte herausgriffen und damit ihrerseits verschärften, wurde die EKD-Friedensdenkschrift mangels ‚Skandalpotential’ wenig diskutiert (vgl. Evangelische Kirche in Deutschland EKD (Hg.), Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. EKD-Texte 86, Hannover 2006; Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh 2007). 53 Der Begriff des ‚religiösen Analphabetismus‘ bzw. „religious illiteracy“ wurde von Scott Appleby geprägt und definiert als „the low level or virtual absence of second-order moral reflection and basic theological knowledge“ (R. S. APPLEBY, Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence and Reconciliation. Lanham (Mass.) 2000. S. 69). Religiöse Bildung ist also von reinem religiösem Wissen zu unterscheiden, über das auch Militärs, Rebellenkämpfer oder (Selbstmord-) Attentäter häufig in beachtlichem Maß verfügen, wenngleich bei ihnen der Fokus auf Gewalt befürwortende Quellen und Überlieferungen gerichtet ist. 54 Dieses Schicksal widerfuhr bspw. dem haitianischen katholischen Priester Jean-Bertrand Aristide: Er genoss zunächst quer durch die Bevölkerung größtes Ansehen und führte die Opposition gegen Diktator Jean-Claude Duvalier an, wurde nach dessen Sturz Regierungschef, sah sich dann jedoch Vorwürfen der Misswirtschaft und Korruption ausgesetzt, verlor an Ansehen und wurde schließlich durch massiven Widerstand von Bevölkerung und revisionistischen Milizen seinerseits aus dem Amt und Land gedrängt.
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etwa nach der unmittelbaren Gewaltbeendigung oder nach dem angestrebten Regierungs- oder Systemwechsel. Doch erst nach der Bewältigung dieser scheinbaren Hauptprobleme beginnt die eigentliche, tiefgreifende und strukturelle Konfliktbearbeitung. Dann aber fehlen oftmals der politische Wille, die Ausdauer, die Fähigkeit oder schlicht die Ressourcen, eine weitergehende Bearbeitung von Gerechtigkeitskonflikten zu leisten. Es gelingt dann nicht mehr, den Menschen in ihrem trügerischen ‚Alles-wird-gut‘Glücksgefühl den bleibenden Ernst der Lage zu vermitteln und sie zu mobilisieren; selbst religiöse und politische Aufklärung und Bildungsarbeit sind dann kaum noch zu leisten. So werden grundlegende Korrekturen der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie des Rechtssystems einem in der Regel noch längst nicht handlungsfähigen, instabilen, wenig demokratischen Staatsapparat überlassen – mit der Folge, dass diese Korrekturen allzu oft fehlschlagen und damit über kurz oder lang auch Frieden und Sicherheit wieder gefährdet sind.55 Gerald Hartung und Stephan Schaede weisen in ihrem Beitrag zu diesem Band darauf hin, dass umfassende und dauerhafte Gerechtigkeit nicht ‚per ordre de mufti‘, sondern nur durch den Konsens der tragenden zivilgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kräfte zu erreichen ist. Mit der „Kraft der Geduld, der vehementen Bitte, des Appells, des Protestes,“ und, so ist zu ergänzen, mit der konstruktiven Tat tragen Religionsgemeinschaften zur Veränderung ungerechter Verhältnisse bei. Gerade letzteres, die Gerechtigkeit und Frieden stiftende Tat religiöser Akteure, wird weithin unterschätzt und bleibt darum weit hinter ihren Möglichkeiten. Religionsbasiertes Engagement für Gerechtigkeit und Frieden entspringt vielfach individuellen, ungeplanten und oftmals späten Initiativen einzelner Personen oder Personengruppen. Diese begreifen die politische Betätigung in den genannten Politikfeldern als wesentliche, religiös-theologisch begründete Aufgabe und Verantwortung und rücken sie konsequent ins Zentrum ihres eigenen Redens, Handelns und Wirtschaftens. Um die religiösen Friedenspotentiale zu stärken, weiterzuentwickeln und auszuschöpfen wäre aber eine Professionalisierung und Institutionalisierung nach Vorbild etwa der kirchlichen Entwicklungsdienste hilfreich. Dauerhafte, effektive Strukturen und frühzeitige Kriseninterventionen unabhängig von staatlich-politischen Organisationen, aber in enger Abstimmung mit ihnen, wären geeignet, staatliches Handeln zu ergänzen und zu kontrollieren oder auch Staatsversagen zu kompensieren. Durch ihre geografische Ausbreitung, Basisverbundenheit und Infrastruktur sind Religionsgemeinschaften schon heute in der Lage – gerade im Zusammenwirken mit Entwicklungsdiensten – Konflikte f bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung zu erkennen. So könnten sie mit qualitativ wie quantitativ belastbaren Aussagen als ‚Frühwarnsysteme‘ für die Politik fungieren.56 Durch engere interreligiöse und
55
Vgl. A. SPELTEN, Entwicklungszusammenarbeit als Instrument der Krisenprävention und des nachhaltigen Wiederaufbaus, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): g Zivile Konfliktbearbeitung: Eine internationale a Herausforderung, Münster 2001, S. 110–125. 56 Unter anderem die Erfahrung des ‚plötzlich’ ausgebrochenen Bürgerkrieges bzw. Genozids in Ruanda (1994) machte deutlich, dass rein quantitative Frühwarnsysteme nicht ausreichen, um Gewaltentwicklungen zu erkennen (vgl. T. PAFFENHOLZ / L. REYCHLER, Aid for Peace. A Guide to Planning and Evaluation for Conflict Zones, Baden-Baden 2007, S. 31).
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transnationale Vernetzung ließe sich diese Kompetenz noch erheblich ausbauen.57 Dies kann in Form von regelmäßig tagenden Arbeitsgruppen, gemeinsamen Bildungseinrichtungen und Lehrveranstaltungen (etwa im Rahmen der Ausbildung von Geistlichen), einem intensiveren und kontinuierlichen Dialog von religiösen Entscheidungsträgern, Jugendaustauschprogrammen und anderem mehr geschehen. Für weitergehende Aktivitäten fehlen zumeist jedoch die personellen und materiellen Ressourcen der Religionsvertreter vor Ort; die Warnungen verhallen ungehört – bis Gewalt eskaliert. Finanziell wie personell gut ausgestattete, professionelle Friedensdienste könnten hingegen selbständig und unabhängig aktiv werden, sowohl als Konfliktbearbeiter als auch im Sinne von ‚Lobbyisten des Friedens‘ in den politischen Machtzentren. Auf der anderen Seite haben politische Akteure – wiederum auf nationaler wie internationaler Ebene – vielfach noch nicht erkannt, welche wichtigen Friedens- und Stabilisierungsdienste religiöse Akteure leisten könnten. Aus der einseitigen Erfahrung des konfliktverschärfenden Missbrauchs von Religion wird vielfach die Lehre gezogen, dass Religion besser gänzlich aus der Politik herauszuhalten sei. Das Gewaltpotential von Religionen, wie es sich in Terroranschlägen oder der Indoktrination von Kämpfern zeigt, schreckt ab und macht blind für die möglichen konstruktiven Beiträge anderer religiöser Akteure in Konfliktsituationen. Die Massenmedien leisten solchen Ansichten Vorschub und prägen politische wie gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse, indem sie zwar ausführlich über religiös begründete Gewalt berichten, aber religionsbasierte Friedensinitiativen oder gemäßigte Stimmen weitgehend ignorieren oder unterschlagen. Da sich auch die Friedens- und Konfliktforschung noch immer auf die Konfliktpotentiale von Religionen konzentriert und nur zögerlich deren Friedenspotentialen zuwendet, scheinen die Religionsgemeinschaften weitgehend auf sich selbst gestellt, um sich der nationalen und internationalen Politik als Helfer und Berater in Friedensprozessen zu empfehlen und anzubieten. Dies setzt allerdings wieder voraus, dass sich Religionsgemeinschaften der eigenen Friedenskompetenzen bewusst werden oder diese weiterentwickeln. Sie müssen den Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit als eine zentrale religiös-theologische Verantwortung begreifen und fördern – und bereit sein, auch das Risiko des friedenspolitischen Misserfolges einzugehen.
Bibliographie R. S. APPLEBY, Retrieving the Missing Dimension of Statecraft: Religious Faith in the Service of Peacebuilding, in: D. JOHNSTON (Hg.), Faith-Based Diplomacy: Trumping Realpolitik, New York / Oxford 2003, S. 231–258. R. S. APPLEBY, Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence and Reconciliation, Lanham (Mass.) 2000. Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst AG KED (Hg.), Frieden muss von innen wachsen. Zivile Konfliktbearbeitung in der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Werkstattbe57 Vgl. K. DIETRICH, Interreligiöse Entwicklungszusammenarbeit. Erfahrungen der Hilfswerke und Literaturstudie über Indonesien, Malaysia, Philippinen, Münster 2005.
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Kulturelle Vielfalt im Völkerrecht im Horizont internationaler Gerechtigkeit FABIANA DE OLIVEIRA GODINHO
Inhalt I. II. III. IV.
Kulturelle Vielfalt und Internationale Gerechtigkeit Das UNESCO-Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen: kulturelle Vielfalt als ein Konzept des positiven Völkerrechts Kulturelle Vielfalt und Menschenrechte Abschließende Bemerkungen – Kulturelle Vielfalt im Völkerrecht: internationale Gerechtigkeit?
I. Kulturelle Vielfalt und Internationale Gerechtigkeit Kultur und Völkerrecht sind untrennbar miteinander verbunden.1 Die Kultur stellt einerseits ein integrales Element des Völkerrechts dar. Als menschliches Konstrukt ist aber andererseits das Völkerrecht selbst Kultur. Zusätzlich zu dieser Konstellation setzen kulturelle Kontexte noch schwer überwindbare Schranken zur Entfaltung und Realisierung völkerrechtlicher Werte2. Die Frage nach der Verwirklichung internationaler Gerechtigkeit durch das Völkerrecht kann nicht ohne Rücksicht auf diese Tatsache betrachtet werden.3 Das Konzept der „Gerechtigkeit“4 ist genauso umfassend wie das der „Kultur“.5 1 Vgl. dazu C. KESSEDJIAN, in: P. MEERTS (ed.), Culture and International Law, New York 2008, hier: S. 23 ff. 2 Die Wertbezogenheit der Menschenrechtsnormen (zugrundeliegend die Menschenwürde) inspiriert die Diskussionen um ihren Status von „Jus cogens“ (zwingendes Recht) im Völkerrecht. Zur Diskussion siehe S. OETER, Jus Cogens und der Schutz der Menschenrechte, in: S. BREITENMOSER ET AL (Hg.), Human Rights, Democracy and the Rule of Law, Zürich 2007, S. 499–521. Für eine kritische Meinung, siehe E. KLEIN, Menschenrechte und ius cogens, in: J. BRÖHMER (Hg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Köln 2005, S. 151–163. Für einen Überblick über „Jus Cogens“ im Völkerrecht, R. KOLB, Théorie du jus cogens international, Quebec 2001. 3 K. SCHMALENBACH, ‚Recht und Gerechtigkeit im Völkerrecht’, Juristenzeitung, 60 (2005) 13, S 637–644, hier S. 637 (640 f.). In ähnlicher Sinne auch E.-U. PETERSMANN, International Trade Law, Human Rights and Theories of Justice, in: S. CHARNOVITZ, Law in the Service of Human Dignity, Cambridge 2005, S.44–57, hier: S. 45 f. Vgl. noch K.G. BALLESTREM, Probleme der Internationalen Gerechtigkeit, München 1993, S. 2 ff. THÜRER untersucht und identifiziert Elemente einer neuen Einstellung im Völkerrecht vor allem seit Ende des letzten Jahrhunderts. Diese neue Einstellung fügt neue oder erneuerte Züge im völkerrechtlichen System, welches moralische
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Vor diesem Hintergrund stellt die weltweite kulturelle Vielfalt die allgemeine Funktion und Struktur des Völkerrechts insbesondere seit den neunziger Jahren auf die Probe.6 Auf der einen Seite ist es der internationalen Gemeinschaft aus verschiedenen Gründen klar geworden, dass das Völkerrecht den verschiedenen kulturellen Realitäten, sowohl zwischen als auch innerhalb der Staaten, für die Durchsetzung seiner Ziele Rechnung tragen muss.7 Auf der anderen Seite haben der Prozess der Globalisierung und die darauf folgende Intensivierung der Kontakte und Dialoge zwischen den Kulturen eine adäquate Antwort des Völkerrechts vor allem auf die potenzielle Gefährdung der kulturellen Vielfalt herausgefordert. Auf einer universellen Ebene haben insbesondere die Debatten im Rahmen der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) die Entwicklung des Konzepts der kulturellen Vielfalt bestimmt.8 Die UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt aus dem Jahr 2001 hat den Gedanken der kulturellen Vielfalt ausformuliert.9 Sie wird „als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität“10sowie als gemeinsames Erbe der Menschheit11 verstanden und als Entwicklungsfaktor bezeichnet, indem sie eine „erfülltere intellektuelle, emotionale, moralische und geistige Existenz“ fördert.12 Schließlich, erklärt das Dokument, dass „die Verteidigung kultureller Vielfalt (…) untrennbar mit der Achtung der Überzeugungen immer stärker mit einbezieht – eine Entwicklung zugunsten der Realisierung von menschlichen Grundrechten und entsprechend zuungunsten von staatlicher Souveränität. Siehe THÜRER, Modernes Völkerrecht: Ein System im Wandel und Wachstum – Gerechtigkeitsgedanke als Kraft der Veränderung?, ZaöRV 2000, S. 557–604, hier: 557 ff. 4 “Justice is often invoked but rarely defined” – T. KELLY/M. DEMBOUR, Paths to International Justice, Cambridge 2007, S. 8. 5 Der Begriff “Gerechtigkeit” wird zum Beispiel in der UN-Charta verwendet. In Artikel 1 wird gefordert, dass die Staaten die Ziele der Vereinten Nationen „nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts“ erfüllen. Diese Formulierung bietet einen Hinweis darauf, dass „Justice“ etwas mehr als Bindung an internationalen Verträgen, Gewohnheitsrecht und Allgemeine Rechtsprinzipien. Siehe R. WOLFRUM, Präambel und Ziele, in: B. SIMMA (Hg.) The Charter of the United Nations, Oxford 2002, S 33–47, hier: S. 36 und S. 43. 6 Vgl., z. B., M. IOVANE, The Universality of Human Rights and the International Protection of Cultural Diversity: Some Theoretical and Practical Considerations, International Journal on Minority and Group Rights, 14(2007), S. 231–262. 7 Diese Einsicht wurde sowohl von punktuellen innerstaatlichen Erfahrungen mit der Entwicklung hin zu multikulturellen Staaten als auch von theoretischen Reflexionen über Gruppenrechte und Multikulturalität provoziert und begleitet. Für einen Überblick siehe G. NOLTE, Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für das Völkerrecht, in: NOLTE / KELLER / VON BOGDANDY / MANSELL / BÜCHLER / WALTER (Hg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, Heidelberg 2008, S. 1–37, hier: S. 1ff. Vgl. noch A. VON BOGDANDY, Die Europäische Union und das Völkerrecht kultureller Vielfalt – Aspekte einer wunderbaren Freundschaft, in: NOLTE / KELLER / VON BOGDANDY / MANSEL / BÜCHLER / WALTER (Hg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 69–108, hier: S. 69 ff. 8 Überblick in S. VON SCHORLEMER, Cultural Diversity, in: R. WOLFRUM (Hg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford 2008, im Erscheinen. 9 UNESCO Universal Declaration on Cultural Diversity, Paris, 2 November 2001, UNESCO Doc. 31C/Res.25, Annex I; ILM 41, 57 (2002). 10 Artikel 1. 11 Ibid. 12 Artikel 3.
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Menschenwürde“ verbunden ist. Sie erfordert also „die Verpflichtung auf Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Rechte von Personen, die Minderheiten oder indigenen Volksgruppen“.13 Im Einklang mit dieser Anerkennung sind Entwicklungen zugunsten einer ausgewogeneren Entfaltung der Kulturen in der völkerrechtlichen Ordnung zu beobachten. Von großer Bedeutung ist der Abschluss des UNESCO-Übereinkommens über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im Jahr 2005 (II). Dieses Dokument kommt in erster Linie bei einem Konflikt f zwischen „innerstaatliche Kulturpolitik“ und „Welthandel“, also in einem überwiegenden wirtschaftlichen Kontext, zur Anwendung. Trotzdem bildet es einen übergreifenden bindenden Rahmen für die unmittelbare Förderung und für den gezielten Schutz der kulturellen Vielfalt auf der Welt. Die Konvention stärkt zwei Tendenzen, zum einen die Tendenz zur Anerkennung der kulturellunterschiedlichen Existenz von Individuen, Gruppen und Völker, und zum anderen die Tendenz zur Berücksichtigung ihrer kulturellen Verschiedenheiten bei der Anwendung und der Entstehung völkerrechtlicher Normen und Prinzipien im Völkerrecht (III). In präzise diesem Sachzusammenhang zeigt und verlangt die völkerrechtliche Dynamik eine neue Einstellung der internationalen Gemeinschaft beim Umgang mit der kulturellen Vielfalt. Diese Dynamik birgt Potenzial zur Bildung ausgeglichenerer Verhältnisse, ohne dass sie auf sich gestellt bereits für solche Verhältnisse sorgen könnte.
II. Das UNESCO-Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen: kulturelle Vielfalt als ein Konzept des positiven Völkerrechts Am 20. Oktober 2005 wurde das UNESCO-Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen bei der UNESCO-Generalkonferenz (nachstehend bezeichnet als das UNESCO-Übereinkommen) angenommen.14 Hintergrund dieses Ereignisses waren die langjährigen Diskussionen um den Status der kulturellen Güter und der Dienstleistungen im Rahmen der Normen der Welthandelsorganisation (WTO).15 Der Debatte liegt ein Grundkonflikt zwischen Kultur und Welthandel zugrunde, welcher durch die Globalisierung und die daraus resultierende Intensivierung des kulturellen Austauschs verstärkt wird.16 Vor allem die negativen Auswirkungen dieses Phänomens auf nicht-dominante Kulturen und auf schwächere Kulturindustrien haben Bewegungen gegen die Einbeziehung kultureller Güter und Dienstleistungen in den schrankenfreien Welthandel provoziert. Diese Gegenbewegungen haben den Weg 13
Artikel 4. UNESCO Doc. 33C/23, 4.8.2005, Paris 2005, Annex V. 15 Für einen Überblick siehe S.V. SCHORLEMER, Kulturpolitik im Völkerrecht verankert, in: DEUTSCHE UNESCO-KOMMISSION E.V. (Hg.) Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, 2006, S.40–61, hier: S. 40ff. 16 Für einen Überblick über den allgemeinen Konflikt zwischen Kultur und Welthandel, T. VOON N, Cultural Products and the World Trade Organization, Cambridge 2007, S. 3 ff. Siehe auch R. J. NEUWIRTH, United in Divergency: A Commentary on the UNESCO Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, ZaöRV 66(2006), S. 820–862 (821 ff.). 14
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zu einem verbindlichen völkerrechtlichen Instrument geebnet.17 Im UNESCO-Übereinkommen geht es darum, angesichts der Anerkennung eines (neben der wirtschaftlichen) identitätsbezogenen Charakters von kulturellen Gütern und Dienstleistungen, die Souveränität der Staaten bei der Definition von Politik und Maßnahmen bezüglich kultureller Ausdrucksformen in ihren Territorien zu bestärken, mit dem Ziel, die kulturelle Vielfalt auf der Welt zu schützen und zu fördern. Obwohl das UNESCO-Übereinkommen auf den ersten Blick die Anerkennung des speziellen Charakters der kulturellen Güter und Dienstleistungen im Rahmen der Welthandelsordnung etabliert,18 liegt die Besonderheit des Dokuments vor allem darin, kulturelle Vielfalt als Eigenwert zu bestimmen. Die kulturelle Vielfalt wird zum ersten Mal in einem rechtsverbindlichen Dokument als ein „bestimmendes Merkmal der Menschheit“ und „gemeinsames Erbe der Menschheit“ umfasst – ohne Bindung an die Anerkennung der Rechte von bestimmten Gruppen oder an spezifischen thematischen Aspekten. Es lässt sich nicht ganz leicht beantworten, ob der Gedanke zur Förderung von Gerechtigkeit zwischen den Kulturen oder beim Umgang mit den Kulturen und ihren Ausdrucksformen dem UNESCO-Übereinkommen zugrunde liegt. Letztendlich hat der Widerstand gegen übermächtige Kulturindustrien – vorwiegend die US-audiovisuelle Industrie – und ihre negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Konkurrenz auch eine Rolle bei den Bemühungen der Vertragsparteien gespielt.19 Jedoch motiviert die Konvention womöglich darüber hinaus ein allgemeiner Gerechtigkeitsansatzpunkt. Er lässt sich an derBezugnahme auf die Bestimmungen der Allgemeinen Erklärung über die Kulturelle Vielfalt (UNESCO-2001) festmachen.20
II.1 Kulturelle Vielfalt und Gerechtigkeit in der UNESCO-Konvention Die UNESCO-Erklärung verbindet die Bedeutung der kulturellen Vielfalt für die Menschheit mit der wesentlichen Bedeutung der biologischen Vielfalt für die Natur.21 Der Dialog zwischen beiden Themengebieten lässt sich in verschiedenen Aspekten im UNESCO-Übereinkommen wieder erkennen. Auch wenn der Verweis auf die Frage der 17
Die Bewegungen haben im Rahmen der Doktrin der „cultural exception“ ihren ersten pragmatischen Ausdruck gefunden. Siehe I. BERNIER R, A UNESCO International Convention on Cultural Diversity, in: C. B. GRABER (Hg.) Free Trade versus Cultural Diversity, Zürich 2004, S. 65–77 (68f.). Auch J. MUSITELLI, L’Invention de la Diversité Culturelle, Annuaire Français de Droit International, 51(2005), S. 512–523. 18 A. KOLLIOPOULOS, La Convention de L’UNESCO sur la Protection et la Promotion de la Diversité des Expressions Culturelles , S. 48–511. 19 Vgl. G. NOLTE, Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für das Völkerrecht, S. 6. Zur Debatte in diesem Rahmen siehe C. B. GRABER, Audio-visual policy: the stumbling block of trade liberalisation?, in: D. GERADIN (Hg.), The WTO and global convergence in telecomunications and audio-visual services, 2004, S. 165–214. 20 Die Präambel des UNESCO-Übereinkommens nimmt im letzten Absatz ausdrücklich Bezug auf die UNESCO-Erklärung über die Kulturelle Vielfalt aus dem Jahr 2001. 21 Artikel 1 der Erklärung lautet: „Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur. Aus dieser Sicht stellt sie das gemeinsame Erbe der Menschheit dar und sollte zum Nutzen gegenwärtiger und künftiger Generationen anerkannt und bekräftigt werden“.
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biologischen Vielfalt eine eher problematische Basis für die Bedeutung der kulturellen Vielfalt gründet,22 verweist er auf einen möglichen Gerechtigkeitsgedanken, der die auch die UNESCO-Konvention mit bestimmt. Nicht zuletzt weil das Dokument, ähnlich wie im Kontext des Umweltrechts, im Ganzen versucht, normativen und prinzipiellen Widerstand gegen die Vernichtung oder Verschlechterung vitaler Elemente zur vollständigen Entfaltung der menschlichen Existenz und damit auch der Vielfalt der Kulturen zu leisten. Darüber hinaus kann man aus der Konvention Überlegungen ableiten, welche sich Gerechtigkeitsgedanken im Kontext des Umweltschutzes annähern. In Bezug auf das Ziel des Übereinkommens, der Gefahr einer Homogenisierung der Kulturen entgegenzuwirken, kann man in der UNESCO-Konvention auch einen Aspekt einer Verteilungsgerechtigkeit erkennen. Dies lässt sich zumindest im Blick auf das Problem ausmachen, dass die durch die Globalisierung entstandenen kulturellen Lasten international ungleich verteilt sind.23 Die Intensivierung des Kulturaustausches gefährdet vor allem die spezfischen kulturellen Eigenarten und damit die spezifische kulturelle Entfaltung wirtschaftlich und technologisch benachteiligter Länder. Da diese Gefahr durch staatliche Maßnahmen für die Liberalisierung des Welthandels potenziert wird, erweisen sich gegen den Markt schützende staatliche Maßnahmen als gerechtigkeitsund verteilungsbezogene Maßnahmen.24 Der Grundsatz eines gleichberechtigten Zugangs zu Lebensgrundlagen, welcher den Gedanken um Umweltgerechtigkeit prägen,25 ist auch in der UNESCO-Konvention zu finden. Dort ist der gleichberechtigte Zugang zu der als Grundlage der menschlichen Existenz dargestellten kulturellen Vielfalt festgesetzt und gefordert.26 Der gleichberechtigte Zugang zu Lebensgrundlagen wird um die Forderung zur intergenerationellen Ausgleich ergänzt.27 Kulturelle Vielfalt wird im Übereinkommen als Voraussetzung zur nachhaltigen Entwicklung zugunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen verstanden.28 Auf dieses ethische Postulat sollten sich staatliche Maßnahmen zum Schutz auch kultureller Ausdrucksformen stützen. 22
Argumente gegen den Beitrag dieses Verweises in G. NOLTE, Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für das Völkerrecht, S. 12 ff. 23 Über die ungerechten „Umweltlasten“ als Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit im Rahmen der Umweltgerechtigkeit siehe M. KLOEPFER, Umweltgerechtigkeit, Environmental Justice in der deutschen Rechtsordnung, Berlin 2006, S. 30. Vgl. noch BOSSELMANN /SCHRÖTER in dem Sinne, dass die intragenerationelle Gerechtigkeit eine gerechte Verteilung von (Umwelt)Nutzungen und (Umwelt)Belastungen anstrebt. K. BOSSELMANN / M. SCHRÖTER, Umwelt und Gerechtigkeit, Baden-Baden 2001, S. 48. 24 Ähnlich im Kontext der Umweltgerechtigkeit, M. KLOEPFER, Umweltgerechtigkeit, S. 31. 25 Ibid, S. 39. 26 Artikel 2, 7 der UNESCO-Konvention. Da wird „Vielfalt“ sowohl als Prozess als auch als Resultat eines Prozesses betrachtet. In diesem Sinne werden sowohl der gleichberechtigte Zugang zu einem „reichen und vielfältigen Spektrum kultureller Ausdrucksformen aus der ganzen Welt“ als auch der Zugang der Kulturen „zu den Mitteln des Ausdrucks und der Verbreitung“ festgeschrieben. 27 Zum Konzept intergenerationeller Gerechtigkeit im Rahmen des Umweltschutzes siehe BOSSELMANN/SCHRÖTER, Umwelt und Gerechtigkeit, 49ff. 28 Artikel 2, 6 der UNESCO-Konvention. Vgl. U. BEYERLIN, Gedanken zur ethischen Fundierung internationaler Umweltschutznormen am Beispiel des Konzepts „nachhaltige Entwicklung“, in: A. FISCHER-LESCANO (Hg.) Frieden in Freiheit, Baden-Baden 2008, S. 581–594.
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Den Staaten wird in der Konvention ein ziemlich breiter Ermessensspielraum zur Erfüllung dieser Gerechtigkeitsansätze eingeräumt.29 Dabei sind die entsprechenden Maßnahmen auf der Basis der Betrachtung einzelner Situationen zu definieren. Trotzdem bieten die den gesamten operativen Teil der Konvention prägenden Ziele und Grundsätze des UNESCO-Übereinkommens leitende Orientierung für die Ausbildung ausgeglichener Verhältnisse in der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der Vielfalt der Kulturen. Da die gleiche Würde aller Kulturen anerkannt wird30, ist ein die Menschenrechte achtender31, solidarischer und auf Zusammenarbeit bedachter Ausgleich durch Dialog32 und Interkulturalität33 zu realisieren. Auf dieser Basis sollen alle Länder in die Lage versetzt werden, die kulturelle Vielfalt auf ihren Territorien zu stärken und somit die Vielfalt auf der Welt als wichtiges Lebensfundament zu fördern34. Diese ersten Überlegungen bieten eine Basis, auf der nun der praktische Beitrag des UNESCO-Instruments zur internationalen Gerechtigkeit skizziert werden kann.
II.2 Realisierung Internationaler Gerechtigkeit mittels der UNESCOKonvention über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen? Sind Momente internationaler Gerechtigkeitt in der UNESCO-Konvention identifiziert, so sagt das noch wenig über das effektive Potential dieses Rechtsinstrumentes zur konkreten Realisierung dieses Gedanken aus. Für dieses Potential sind von Bedeutung (a) der Charakter der vereinbarten Pflichten der Vertragsparteien, (b) die Möglichkeiten des UNESCO-Instrumentes zur Beeinflussung der internationalen Gemeinschaft und der Völkerrechtsordnung sowie (c) zum Ausgleich verschiedener Interessen der unterschiedlichen Akteure der kulturellen Vielfalt. a) Die Pflichten der Vertragsparteien Ein erster Blick auf den Text des Übereinkommens genügt, um den offenen und weichen Charakter der vereinbarten „Pflichten“ der Vertragsparteien festzustellen. Die Mehrheit der Normen enthalten eher Vorhaben, ohne eine stärkere Verpflichtung mit einem höheren Grad an Verbindlichkeit einzufordern. Die Formulierung „die Vertragsparteien bemühen sich“ dominiert in diesem Zusammenhang den operativen Teil des Dokumentes.35 Diese Tatsache alleine wäre jedoch kein Grund für größeren Pessimismus bezüglich der praktischen Wirkungen und der Bedeutung dieses Übereinkommens. Es gehört zur Dynamik der Vertragsverhandlungen und Vertragsgestaltungen im Völkerrecht einen ersten breiten Konsensus zu finden, um flexible Kompromisse zwischen
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Im Vgl. Artikel 6 bis 8 der UNESCO-Konvention. Artikel 2, 3. 31 Artikel 2, 1. 32 Artikel 1, c). 33 Artikel 1, d). 34 Artikel 1, i) und Artikel 2, 4. 35 Wie, zum Beispiel, in den Artikeln 7, 1 und 2, Artikel 10, c), Artikeln 12, 13, 14. Zu beobachten sind aber auch Formulierungen wie “erleichtern” (Artikel 16) oder “anerkennen” (Artikel 11). 30
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den Parteien zu erreichen und, in einem vielleicht darauf folgenden weiteren Schritt konkretere Pflichten zu definieren.36 Der entscheidende Punkt in dem UNESCO-Übereinkommen liegt in der Feststellung, dass seine weiche Formulierung das zentrale wirtschaftliche Interesse der Staaten widerspiegeln könnte: nämlich hauptsächlich Widerstand gegen die überwältigende USKonkurrenz im Bereich audiovisueller Kulturindustrie zu leisten.37 Die Vertragsparteien wären in diesem Sinne nicht bereit gewesen, sich im Namen der Erhaltung der kulturellen Vielfalt weiter zu verpflichten.38 Diese Tatsache stellt die Existenz einer Gesinnung um das Konzept der kulturellen Vielfalt als letztes Ziel der internationalen Gemeinschaft zumindest in Frage. Können das Dokument und seine „guten Ziele“ die Völkerrechtsordnung und die Verhältnisse im Rahmen dieser Ordnung in Richtung mehr internationaler Gerechtigkeit trotzdem weiter beeinflussen? b) Der Einfluss des UNESCO-Übereinkommens auf die internationale Gemeinschaft und auf die Völkerrechtsordnung Der mögliche Beitrag des UNESCO-Übereinkommens zur Förderung internationaler Gerechtigkeit im Kontext der kulturellen Vielfalt hängt nicht zuletzt von dem Einfluss dieses Instrumentes auf die internationale Gemeinschaft ab. Diesen Einfluss signa lisiert bei einer ersten Betrachtung die Zahl der Staaten, die den Vertrag signiert und ratifiziert haben. Vor allem im Fall der UNESCO-Konvention spielt diese Anzahl eine Rolle, weil deren Normen und Prinzipien auch als Gegengewicht zu den Regeln der WTO konzipiert worden sind. Eine möglichst hohe Zahl an Vertragsparteien stärkt (und spiegelt gleichzeitig wider) den Grad an Konsensus im Blick auf die Regelungen der Konvention und potenziert ihre Anerkennung und Auswirkungen als gemeinsames bedeutendes Anliegen der internationalen Gemeinschaft. Bisher sind es 98 Staaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben. Ob dies eine ausreichende Gegenkraft zum WTO-System darstellt, ist zwar fraglich, aber zumindest stellt das Inkrafttreten des Übereinkommens am 18. März 2007 einen gewissen Grund für Optimismus dar.39 Der Anwendungsbereich der Konvention umfasst die staatliche Politik und Maßnahmen, die die kulturellen Ausdrucksformen direkt und unmittelbar betreffen.40 In Artikel 20 ist der übergreifende Charakter der Konvention und ihr NichtUnterordnungsverhältnis zu anderen bereits bestehenden oder neu entstehenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten ausdrücklich vorgesehen. Dieses zurückhaltend bestimmte Verhältnis stützt sich auf „wechselseitige Unterstützung“ und „Komplementarität“ zwischen den unterschiedlichsten Übereinkünften.41 Es ist durch die Berücksichtigung des UNESCO-Übereinkommens von den Vertragsparteien bei der Auslegung und 36
Allgemein dazu siehe U. BEYERLIN, Umweltvölkerrecht, München 2000, S. 37 ff. Vgl. hierzu G. NOLTE, Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die Kulturelle Vielfalt, S. 6. 38 C. B. GRABER, The New UNESCO Convention on Cultural Diversity: A Counterbalance to the WTO?, in: Journal of International Economic Law, 9, no. 3, (2006): S. 553–574, hier: S. 563. 39 Siehe aktuelle Liste der Ratifikationen in http://portal.unesco.org/la/convention.asp?KO= 31038&language=E&order=alpha. 40 Vgl. SCHORLEMER, in: Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, S. 59. 41 Artikel 20, (1), a). 37
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Anwendung anderer Verträge zu konkretisieren42, ohne die aus den anderen Verträgen entstehenden Rechten und Pflichten zu verändern.43 Diese Bestimmung stellt sicherlich ein Plus für die Wirkungskraft der UNESCOKonvention dar, indem sie erstmals eine mögliche rechtliche Unterordnung des Dokuments durch die Regeln des WTO-Systems von vornherein ausschließt.44 Auch gegenüber anderen Verträgen erweitert das „Komplementaritätsverhältnis“ die Möglichkeiten zur Argumentation im Rahmen der UNESCO-Konvention. Infolgedessen werden Verhaltensweisen deutlich identifiziert, die gemessen an den Zielen dieses Übereinkommens unerwünscht sind. Gerade darin könnte man ein konkreteres Potenzial zur positiven Veränderung der internationalen Verhältnisse zugunsten des Schutzes und der Förderung der kulturellen Vielfalt im Rahmen der innerstaatlichen Kulturpolitiken erkennen. Trotzdem bleibt noch die Frage, wie offen andere normative Kontexte – wie zum Beispiel der des WTO-Systems – für den Schutz der kulturellen Vielfalt innerhalb ihrer Regelungssysteme sind.45 Hier wird klar, dass eine weitere Auslegungs- und Anwendungsorientierung notwendig ist. Ohne die Entwicklung oder die Anpassung prozeduraler Rahmen, durch welche die UNESCO-Konvention in weiteren Kontexten effektiv berücksichtigt werden kann, ist das Gerechtigkeitspotenzial des Übereinkommens verfallen oder zumindest geschwächt. c) Zusammenarbeit als Mittel zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt Das UNESCO-Übereinkommen erkennt die Tatsache, dass kulturelle Vielfalt erst mittels der Relation zwischen einer Vielzahl von Akteuren möglich ist. Es ist das (ausgeglichene) Zusammenwirken der Kulturen – vor allem durch die kulturellen Ausdrucksformen – von Einzelpersonen, Gruppen und Gesellschaften, das vom Übereinkommen geschützt und gefördert wird.46 Das Dokument betont ausdrücklich als grundlegend, dass zur Erlangung dieses Ziles die Zivilgesellschaft aktiv beteiligt sein muss.47 Nichtsdestotrotz sind die Hauptaufgaben und die Pflichten zur Förderung eines Umfeldes zur freien und ausgewogeneren Entfaltung der Vielfalt der Kulturen den souveränen Staaten auferlegt. Die Staaten sind die Adressaten der Rechte und der Pflichten, durch welche sie ihre Rolle als Garant der kulturellen Vielfalt erfüllen sollen.48 Man könnte behaupten, dass die Konvention deswegen einen Rückschritt im Kontext der internationalen Gerechtigkeit darstellt, weil sie die Mediatisierung der menschlichen
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Artikel 20, (1), b). Artikel 20, (2). 44 Siehe R. J. NEUWIRTH, „United in Divergency“: A Commentary on the UNESCO Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, ZaöRV 66(2006), S. 820–862 (844f.). 45 Zur Beziehung zwischen WTO-System und UNESCO-Konvention siehe T.VOON, Cultural Products and the World Trade Organization, S. 183 ff. Erste Wirkungen hat schon das UNESCOÜbereinkommen auf die späteren WTO-Verhandlungen gezeigt. Siehe SCHORLEMER, in: Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfaltt kultureller Ausdrucksformen, S. 60. 46 Vgl. Artikel 4 (1) und Artikel 7 (1). 47 Artikel 11. 48 Artikel 5 bis 19 enthalten die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien. 43
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Ansprüche und Existenz durch souveräne Staaten verstärkt.49 Im Kontext des Konfliktes zwischen Kultur und Markt wurde gezeigt, dass der Rücktritt der staatlichen Präsenz gegenüber der Marktkraft jedoch eine Gefahr für die kulturelle Vielfalt bedeutet. Die UNESCO-Konvention stellt eine neue Perspektive vor, die ein aktives Engagement der Staaten für die Ausbildung realer Bedingungen zur Entfaltung und Ausübung kultureller Vielfalt verlangt. Jedoch kann dieses Engagement erst positiv zu gerechteren Verhältnissen beitragen, wenn es mit den nicht immer konvergenten Interessen und Rechten der Einzelnen und der Gruppen konfrontiert wird und diesen auch Rechnung trägt. Die Achtung der internationalen Menschenrechte, welche in der UNESCO-Konvention betont wird, begrenzt in diesem Zusammenhang staatliche Aktivitäten und bietet gleichzeitig eine Strategie zur Versöhnung unterschiedlichen Gerechtigkeitsempfindens und divergierender Gerechtigkeitsansprüche im Rahmen der Vielfalt der Kulturen an.50 Angesichts des anerkannten (und gewünschten) Zusammenwirkens der Kulturen erweist sich die Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene als ein zentrales Element, dem Zweck des Übereinkommens näher zu kommen.51 Die Verstärkung verschiedener Partnerschaften – zwischen den Parteien, a mit der Zivilgesellschaft, mit nichtstaatlichen Organisationen und mit dem privaten Sektor – bzw. die Förderung des Einsatzes neuer Technologien zu diesem Zweck ist ausdrücklich gefordert.52 Die internationale Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien durch Dialog, Kultur- und Informationsaustausch soll gegenseitige Hilfe zum Schutz und zur Erhaltung kultureller Ausdrucksformen leisten, insbesondere in Situationen ihrer „ernsthaften Gefährdung“.53 Von Belang ist vor allem das in der Konvention geforderte besondere Verhältnis der Vertragsparteien zu den Entwicklungsländern. Die kulturelle Vielfalt wird in dem Übereinkommen als „entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung“ bestimmt.54 Das Verhältnis zwischen Kultur und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung der Länder stellt in der Konvention einen Grundsatz dar.55 Vor diesem Hintergrund sind die besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer von den Vertragsparteien zu achten und ein positives Engagement zur Entstehung eines dynamischen und verstärkten „Kultursektors“ in diesen Ländern wahrzunehmen.56 Vorgesehen sind verschiedene Maßnahmen, die insbesondere auf die Stärkung der Kulturwirtschaft, den Aufbau von Kapazitäten und die Aufbringung finanzieller Mittel, einschließlich der Errichtung eines internationalen Fonds für diesen Zweck abzielen. Die Unterstützung der soziokulturellen Dimension der Entwicklungsländer soll auch durch die Ausbildung institutioneller und rechtlicher Rahmenbedingungen geschehen, innerhalb derer Künstlern und kulturel49
Vgl. hierzu O. KIMMINICH, Probleme der internationalen Gerechtigkeit. Eine völkerrechtliche Perspektive, in: K. BALLESTREM (Hg.), Probleme der internationalen Gerechtigkeit, München 1993, S. 69–96, hier: S. 69ff. 50 Die Achtung der Menschenrechte wird auch in der Konvention ausdrücklich erfordert. Siehe Artikel 2, 1. 51 Schon im Artikel 2, 4, als leitender Grundsatz. 52 Vgl. Artikel 12, c) und d). 53 Artikel 17. 54 Artikel 2, 6. 55 Artikel 2, 5. 56 Artikel 14.
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len Gütern und Dienstleistungen aus diesen Ländern eine „Vorzugsbehandlung“ in den entwickelten Ländern einzuräumen ist.57 Das UNESCO-Übereinkommen bietet auf diese Weise eine neue Perspektive auf internationale Gerechtigkeit im Rahmen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Es wird in der Konvention anerkannt, dass diese Problematik sich nicht auf das klassische Feld fehlender Ressourcenverteilung beschränkt, sondern andere Faktoren mit einbeziehen kann – wie den einer fehlenden Grundlage zur kulturellen Entfaltung. Deshalb kann die Antwort zum Problem auch anders formuliert werden: Internationale Gerechtigkeit ist angesichts kultureller Vielfalt im Rahmen sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung nicht nur durch Notmaßnahmen in Form kurzfristiger finanzieller Unterstützung zu fördern58; vielmehr erfordert sie Maßnahmen zur Entstehung oder Stärkung eines funktionierenden und permanenten Kulturfeldes in den Entwicklungsländern. Diese Herausforderung erhöht die Notwendigkeit der gezielten und permanenten Bereitschaft der entwickelten Länder in Richtung Solidarität. Der Umgang mit der Vielfalt der Kulturen beschränkt sich jedoch nicht auf den Anwendungsbereich des UNESCO-Übereinkommens. Insbesondere im Kontext der Menschenrechte und des damit verbundenen Minderheitenschutzes hat sich der Versuch etabliert, unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten auf verschiedenen Weisen Rechnung zu tragen.
III. Kulturelle Vielfalt und Menschenrechte Schon die erwähnte UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt aus dem Jahr 2001 formulierte eine aktuelle Perspektive für den Umgang des Völkerrechts mit der kulturellen Vielfalt, welche den klassischen, internationalen Schutz der Menschenrechte vor neue Herausforderungen stellt.59 In dieser Perspektive soll kulturelle Vielfalt nicht als Gefahr für die staatliche Einheit, sondern als Reichtum angesehen werden.60 Dazu reicht die in den menschenrechtlichen Normen übliche Dichotomie Individualrechte vs. staatliche Pflichten als Schutz kultureller Merkmale nicht mehr aus. Kulturelle Vielfalt wird als Reichtum geschützt und gefördert, indem über eine formelle und materielle Gleichheit hinaus das Recht der Individuen und kulturell divergierender Gruppen auf freie Entfaltung ihrer Unterschiede geltend gemacht wird. Nun könnte die Anerkennung der kulturellen Vielfaltund die damit einhergehende Anerkennung kultureller Verschieden57
Artikel 16. A. KOLLIOPOULOS, La Convention de L’UNESCO sur la Protection et la Promotion de la Diversité des Expressions Culturales, S. 494ff. 59 Vgl., z. B., M. IOVANE, The Universality of Human Rights and the International Protection of Cultural Diversity: Some Theoretical and Practical Considerations, International Journal on Minority and Group Rights, 14(2007), S. 231–262. Auch W. SCHMALE, Human Rights in the Intercultural Perspective and The Reorganisation of the International Debate, in: W. SCHMALE (Hg.), g Human Rights and Cultural Diversity, Goldbach 1993, S. 3–27. 60 In der Präambel der UNESCO-Erklärung wird bekräftigt, dass „Respekt vor der Vielfalt der Kulturen, Toleranz, Dialog und Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens und Verstehens zu den besten Garanten für internationalen Frieden und Sicherheit gehören“ (7. Absatz). Vgl. Artikel 1 und 3 der Erklärung. 58
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heiten und Unterschiede die Universalität der Menschenrechte in Frage stellen.61 Nach der UNESCO-Erklärung sind die Menschenrechte jedoch als Mindeststandard für den Schutz der Menschenwürde und dadurch als Garantie a für kulturelle Vielfalt anzusehen.62 Im Rahmen des Menschenrechtsschutzes ist Gerechtigkeit im Kontext der kulturellen Vielfalt entsprechend erst durch den Respekt und die Abwägung von drei Aspekten praktisch zu erreichen: erstens des Schutzes der kulturellen Identität von Einzelpersonen (durch die individuellen Menschenrechte); zweitens des Interesses am Schutz der kulturellen Identität abweichender Gruppen;63 drittens des Respekts gegenüber der verfassungsrechtlichen Kultur der Staaten, insofern diese kulturelle Interessen und dominante kulturelle Identitäten verkörpert.64 Durchzuführen ist diese Abwägung erstens bei der völkerrechtlichen Setzung von Standards, zweitens bei der Anwendung von internationalen Normen und Prinzipien durch verschiedene internationale Instanzen und schließlich drittens bei der Durchsetzung dieser Normen. Die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker aus dem Jahr 2007 ist ein Beispiel für die Entwicklung der Standardsetzung unter Voraussetzung dieses Ansatzes.65 Deren Prinzipien und Richtlinien66 verweisen auf die Konvergenz der drei genannten 61 Dieser potentielle Konflikt k liegt den Diskussionen über Universalismus x Relativismus zugrunde. Auf das Argument des kulturellen Hintergrunds berufen sich Staaten oft mit dem Ziel, Menschenrechtseinschränkungen und Verletzungen zu rechtfertigen. Vgl. M. BEUKES, Cultural Relativism versus Universal Human Rights discourse on customary “female genital mutilation”: approach with caution, South Africa Yearbook of International Law, 22(1997), S. 85–94. Zur allgemeinen Diskussion siehe A. BAYEFSKY, Cultural sovereignty, relativism, and international human rights: new excuses for old strategies, in: E. BULYGIN (Hg.), Changing structures in Modern Legal Systems and the Legal State Ideology, Berlin 1998, S. 249–267. Auch J. TILLEY, Cultural Relativism, Human Rights Quarterly, 22 (2000) 2, S. 501–547. 62 Ausdrücklich in Artikel 4 der UNESCO-Erklärung. 63 Siehe D. KUGELMANN, The Protection of Minorities and Indigenous Peoples Respecting Cultural Diversity, Max Planck Yearbook of United Nations Law, 11(2007), S. 233–263. Die Auswirkung des Konzepts der kulturellen Vielfalt auf die Entwicklung von Gruppenrechten ist noch unklar. Verschiedene Tendenzen sind zu beobachten: sowohl zur Stärkung des individualrechtlichen Charakters der kulturellen Rechte im Rahmen des Artikels 27 des IPbpR und zu ihrer Ausdehnung auf kulturelle Gruppe in manchen Fällen; als auch zur Entwicklung von spezifischen Völkerrechtsrahmen für den Schutz und die Förderung dieser Gruppe. Vgl. S. VON SCHORLEMER, Cultural Diversity, in: R. WOLFRUM (Hg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford 2008, im Erscheinen. 64 Allgemein über diese Abwägung im Rahmen des Verhältnisses zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht siehe N. WENZEL, Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht, Berlin / Heidelberg 2008. 65 Diese Deklaration, die auf Studien aus dem Jahre 1983 zurückgeht, wurde nach langjährige Diskussionen, mit starker Beteiligung von Vertretern indigener Völker im September 2007 endgültig angenommen. A/RES/61/295 of 13 September 2007. 66 Die Deklaration soll den Minimumsstandard von Rechten und Prinzipien umfassen, welche indigenen Völkern physische und kulturelle Integrität ermöglicht. Eine der Innovationen dieses Instruments ist die Anerkennung der Rechtssubjektivität indigener Völker und des entsprechenden Anspruchs auf individuelle und kollektive Rechte. Die UN-Deklaration erklärt außerdem das Recht der indigenen Völker auf Selbstbestimmung (Selbstverwaltung und politische Partizipation). Für einen Überblick siehe V. PRASAD, The UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, Chicago Journal of International Law, 9(2008)1, S. 297–322. Auch J. GILBERT, Indige-
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Aspekte, vor allem bei der Ausgestaltung der Autonomierechte indigener Völker.67 Diese Autonomie soll durch Kooperation und Dialog nach den speziellen Gegebenheiten eines jeden Staates und jeder indigenen Gruppe unter Berücksichtigung der Rechte der indigenen Individuen näher definiert werden.68 Obwohl es sich um ein nicht-verbindliches völkerrechtliches Instrument handelt, repräsentiert dieser Text paradigmatisch die weltweiten Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren um das Thema. Die Deklaration stößt weitere praktische Entwicklungen an, welche zur konkreten Stärkung der Existenz von (repräsentativ)schwachen Kulturen beitragen können.69 Hier treten die Bemühungen einer ausgleichenden Gerechtigkeit zugunsten dieser Kulturen in den Vordergrund. Im Rahmen der Interpretation und der Anwendung der völkerrechtlichen Standards bei den internationalen Instanzen trägt vor allem die Anerkennung eines Einschätzungsspielraums („margin of appreciation“) der Staaten bei der Durchsetzung der Menschenrechte der kulturellen Vielfalt Rechnung.70 Sie ermöglicht die Berücksichtigung kultureller Abweichungen zwischen den Staaten und gleichzeitig die Achtung divergenter kultureller Realitäten innerhalb ihrer Territorien, ohne dass der Kern der universellen Standards für die Menschenwürde berührt wird. Jedoch wird in diesem Zusammenhang der unüberbrückbare Unterschied zwischen Rechtsverletzung und Ungerechtigkeit (oder zwischen Recht und Gerechtigkeit) deutlicher gemacht. Die Ausnutzung eines Ermessensspielraums bei den Staaten kann zu unterschiedlichen und nicht immer vorhersehbaren völkerrechtskonformen Ergebnissen führen. Das ermöglicht leichter eine realitätskonforme Gerechtigkeit. Das führt jedoch auch möglicherweise dazu, dass individuellen Gerechtigkeitsempfindungen nicht immer entsprochen wird.71
IV. Abschließende Bemerkungen – Kulturelle Vielfalt im Völkerrecht: internationale Gerechtigkeit? Ohne die Absicht, diese Thematik in allen ihren Aspekten erfassen zu wollen, erlaubt das bereits skizzierte Bild positive Überlegungen. Wenn die Menschenrechte als eine nous rights in the making, International Journal on Minority and Group Rights, 14(2007) 2/3, S. 207–230, und A. XANTHAKI, Indigenous Rights and UN Standards, 2007. 67 Vgl. Artikel 2 bis 5 der UN-Erklärung. 68 Vgl. F. OLIVEIRA GODINHO, The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples and the Protection of Indigenous Rights in Brazil, Max Planck Yearbook of United Nations Law, 12(2008), S. 247–286 (55f.). 69 Länder wie Bolivien, Ecuador und Kolumbien diskutieren bereits weitere Koordinationsgesetze zur Durchsetzung der Autonomie der indigenen Völker in ihren Territorien. 70 Allgemein dazu siehe S. GREER, The margin of appreciation: interpretation and discretion under the European Convention on Human Rights, 2000. Vgl. noch J.A. BRAUCH, The margin of appreciation and the jurisprudence of the European Court of Human Rights, The Columbia Journal of European Law, 11(2004–2005) 1, S. 113–150. Für eine umfassendere Diskussion um die Bedeutung des staatlichen Ermessensspielraums (in verschiedenen Bereichen) für das gesamte Völkerrecht siehe Y. SHANY, Towards a general margin of appreciation doctrine in international law?, European Journal of International Law, 16(2005)5, S. 907–940. 71 Vgl. dazu die verschiedenen Entscheidungen der Menschenrechts-Konventionsorgane in N. WENZEL, Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht, S. 407 ff.
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Art universelle Gerechtigkeitsvorstellung verstanden werden können, sind die aus ihnen entstandenen Gebote und Verbote nicht als kulturell-statischer und geschlossener normativer und prinzipieller Rahmen zu sehen. Solch ein skeptischer prinzipialistischer Ansatz würde bedeutende Entwicklungen im Völkerrecht zugunsten internationaler Gerechtigkeit im Kontext der Vielfalt der Kulturen zumindest übersehen. Die Anerkennung der kulturellen Vielfalt prägt das gegenwärtige Völkerrecht und zwar nicht nur als Herausforderung für die Struktur und die Anwendung bzw. Auslegung dieser Rechtsordnung. Die Existenz kultureller Vielfalt in der Welt erweist sich vielmehr als ein mögliches direktes Ziel des Völkerrechts. Trotzdem ist ihr Bezug zur Problematik der internationalen Gerechtigkeit komplex. Das UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt aus dem Jahr 2005 bietet Ansatzpunkte für eine Einbindung von Gerechtigkeitsüberlegungen im Rahmen der kulturellen Vielfalt. Das Übereinkommen gibt einen bindenden Rahmen vor, innerhalb dessen Wege und Prinzipien zu einer ausgeglichenen Entfaltung der Kulturen aufgezeigt und auch verfolgt werden sollen. Es ermöglicht nicht zuletzt auch deshalb weitere Entwicklungen und fruchtbare Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Staaten. Darüber hinaus legitimiert das Übereinkommen diese Entwicklungen und verdeutlicht vorhandene Abweichungen. Das Völkerrecht kann also zur Förderung internationaler Gerechtigkeit im Rahmen kultureller Vielfalt beitragen. Nichtsdestotrotz zeigt gerade der Kontext des Konflikts zwischen Kultur und Welthandel – zwischen kulturellen Werten und wirtschaftlichen Interessen, der – dem Übereinkommen zugrunde liegt, die Komplexität der Faktoren an, die bei der praktischen Realisierung internationaler Gerechtigkeit von Bedeutung sind. Alleine deswegen sind Gerechtigkeitserwartungen, welche unmittelbar aus der Tatsache des Abschlusses dieses internationalen Vertrages entstehen würden, unangemessen. Angesichts der strukturellen und funktionellen Merkmale des Völkerrechts als Rechtsordnung, insbesondere der Durchsetzungskomplexität, sind solche voreiligen Gerechtigkeitserwartungen kaum zu erfüllen. Die Berücksichtigung der kulturellen Vielfalt bei der Setzung von Standards und der Anwendung des Völkerrechts in anderen Bereichen – insbesondere im Bereich der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes – stärken den Ausgleich in den interkulturellen Verhältnissen. Zusammengenommen spiegeln diese Entwicklungen das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft um den Reichtum kultureller Vielfalt wider. Dieses Bewusstsein wird durch die Auseinandersetzungen im Rahmen des Völkerrechts geschärft und weiter ausgebildet. Gerade durch diese Entwicklungen, in deren Zuge das Völkerrecht als umfassender Prozess begriffen wird, liegt vielleicht die fruchtbarste Basis für die weitere Durchsetzung der völkerrechtlichen Grundlagen der internationalen Gerechtigkeit. Eine gute Anmerkung für die Debatte um internationale Gerechtigkeit geben Tobias Kelly und Marie-Bénédicte Dembour im Rahmen ihrer Untersuchung nach Wegen zu diesem Ideal: „To discuss international justice meaningfully, we must always ask who is involved in it, as well as why, where and when, rather than envisaging what it is and does in the abstract. International justice operates on a ground produced by multiple overlapping and conflicting coalitions and networks, where states, international organisations, NGOs and other actors all play an important role in shaping the
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possibilities for action and inaction. As international justice is invoked, understood and takes hold, it is produced through competing political agendas and normative claims.“ 72
Bibliographie K. G. BALLESTREM, Probleme der Internationalen Gerechtigkeit, München 1993. A. BAYEFSKY, Cultural sovereignty, relativism, and international human rights: new excuses for old strategies, in: E. BULYGIN (Hg.), Changing structures in Modern Legal Systems and the Legal State Ideology, Berlin 1998, S. 249–267. I. BERNIER, A UNESCO International Convention on Cultural Diversity, in: C. B. GRABER (Hg.), Free Trade versus Cultural Diversity, Zürich 2004, S. 65–77. M. BEUKES, Cultural Relativism versus Universal Human Rights discourse on customary “female genital mutilation”: approach with caution, South Africa Yearbook of International Law, 22(1997), S. 85–94. J.A. BRAUCH, The margin of appreciation and the jurisprudence of the European Court of Human Rights, The Columbia Journal of European Law, 11(2004-2005) 1, S. 113–150. U. BEYERLIN, Gedanken zur ethischen Fundierung internationaler Umweltschutznormen am Beispiel des Konzepts „nachhaltige Entwicklung“, in: A. FISCHER-LESCANO (Hg.) Frieden in Freiheit, Baden-Baden 2008, S. 581–594. A.
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Kulturelle Vielfalt im Völkerrecht
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Fabiana de Oliveira Godinho
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Autorenverzeichnis Fabiana de Oliveira Godinho hat das Jura-Studium an der Bundesuniversität von Minas Gerais in Brasilien abgeschlossen. Ein Magister Legum hat sie in den Jahren 2002–2004 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit Schwerpunkt Völkerrecht absolviert. Seit 2006 promoviert sie an der Universität Heidelberg über die Förderung kultureller Identität im Schulwesen. Sie ist seit 2007 am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in den Gebieten Internationaler Schutz der Menschenrechte, Kultur und Menschenrechte, Minderheitenschutz und Indigene Rechte als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum tätig. Hans Diefenbacher ist Leiter des Arbeitsbereichs Frieden und Nachhaltige Entwicklung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST) und deren stellvertretender Leiter. Als apl. Professor unterrichtet er Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ökonomie und Ökologie, vor allem der lokalen/ regionalen Ökonomie. Zu seinen aktuellen Forschungsprojekten zählen die Untersuchung von Indikatoren nachhaltiger Entwicklung, Fragen des Wirtschaftswachstums und die Erforschung lokaler Ökonomie unter den Bedingungen der Globalisierung. Hans-Michael Empell ist Diplom-Bibliothekar und promovierter Jurist, mit dem Arbeitsschwerpunkt Völkerrecht, an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Im Mittelpunkt seiner Veröffentlichungen stehen Fragen des internationalen Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts. Gerald Hartung ist habilitierter Philosoph, mit Schwerpunkten in den Bereichen Kulturphilosophie, philosophische Anthropologie und Religionsphilosophie. Er leitet den Arbeitsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Burkhard Liebsch ist apl. Professor für Philosophie an der Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Praktische Philosophie und Sozialphilosophie in kulturwissenschaftlicher Perspektive und die Geschichte der Philosophie. Hans B. Opschoorr ist Professor für Umweltökonomie an der Freien Universität Amsterdam und für die Ökonomie nachhaltiger Entwicklung am Institut für Soziale Studien (ISS) in Den Haag. Er leitete das ISS von 1996 bis 2005. Er wirkte mit am zweiten, dritten und vierten Gutachten der zwischenstaatlichen Expertengruppe zum Klimawandel (Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC]). Gegenwärtig ist er Mitglied des Komitees der Vereinten Nationen für Entwicklungspolitik. Bis 1995 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Kuratoriums der FEST. Timo Rademacher ist Student der Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg.
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Autorenverzeichnis
Ulrich Ratsch ist promovierter Physiker und arbeitete bis 2008 als Leiter des Arbeitsbereichs Theologie und Naturwissenschaft und stellvertretender Institutsleiter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Friedens- und Konfliktforschung wie auch in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz. Stephan Schaede ist promovierter Theologe. Er leitet den Arbeitsbereich Religion und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Bioethik und ethischen Begründungsfragen zur Bestimmung des Lebens wie auch in der Philosophie der Antike und der Mittelalterlichen Theologie. Eberhard Schmidt-Aßmann ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind das deutsche, das europäische und das internationale Verwaltungsrecht, mit Schwerpunkten im Umweltrecht, im Wissenschaftsrecht und zu Fragen des Rechtsschutzes. Er war von 1993 bis 1999 Mitglied des Wissenschaftsrats. Nach seiner Emeritierung 2006 hat er nebenamtlich die Leitung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST) übernommen. Volker Teichert ist seit 1996 wissenschaftlicher Referent für Ökonomie im Arbeitsbereich Frieden und Nachhaltige Entwicklung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Von 1986 bis 1990 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Theorie privater und öffentlicher Unternehmen der Universität Kassel, von 1990 bis 1996 stellvertretender Leiter des Regionalbüros Baden-Württemberg für das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Heidelberg und Lehrbeauftragter an den Fachhochschulen Karlsruhe und Mainz sowie der Berufsakademie Mannheim. Matthias Valta ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Ekkehart Reimer am Institut für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg. Katarina Weilert, LL.M. hat das erste juristische Staatsexamen in Berlin mit dem Schwerpunkt Völker- und Europarecht abgelegt. Im Anschluss absolvierte sie einen Masterstudiengang am University College London (UCL) und das Rechtsreferendariat mit begleitender Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am deutschen Bundestag. In ihrer rechtswissenschaftlichen Dissertation analysiert sie unter Beachtung des Völkerrechts das Folterverbot in Deutschland, Israel und Pakistan. Sie ist wissenschaftliche Referentin im Arbeitsbereich Religion und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST). Markus A. Weingart ist promovierter Politik- und Verwaltungswissenschaftler. Er arbeitet als Referent für Friedens- und Konfliktforschung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST), mit dem Schwerpunkt Religion und Konflikt/Frieden. Er ist u.a. Koordinator des Forschungsverbundes Religion und Konflikt und Mitglied im Arbeitsausschuss der EKD-Friedenskonferenz.